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German Pages 226 Year 2023
Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists
Kay Herrmann Barbara Neißer Hrsg..
Grete Henry-Hermann: Sittlichkeit und Vernunft Kritik der Ethik Nelsons und Erinnerungen an Leonard Nelson. Texte zur Frage der Ethik als Wissenschaft
Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists
Women Philosophers and Scientists The history of women’s contributions to philosophy and the sciences dates back to the very beginnings of these disciplines. Theano, Hypatia, Du Châtelet, Lovelace, Curie are only a small selection of prominent women philosophers and scientists throughout history. The research in this field serves to revise and to broaden the scope of the complete theoretical and methodological tradition of these women. The Springer Series Women Philosophers and Scientists provide a platform for scholarship and research on these distinctive topics. Supported by an advisory board of international excellence, the volumes offer a comprehensive, up-to-date source of reference for this field of growing relevance. The Springer Series Women Philosophers and Scientists publish monographs, handbooks, collections, lectures and dissertations. For related questions, contact the publisher or the editor. Frauen in Philosophie und Wissenschaft Die Geschichte der Philosophinnen und Wissenschaftlerinnen reicht so weit zurück wie die Wissenschaftsgeschichte selbst. Theano, Hypatia, Du Châtelet, Lovelace, Curie stellen nur eine kleine Auswahl berühmter Frauen der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte dar. Die Erforschung dieser Tradition dient der Ergänzung und Revision der gesamten Theorie- und Methodengeschichte. Die Springer Reihe Frauen in Philosophie und Wissenschaft stellt ein Forum für die Erforschung dieser besonderen Geschichte zur Verfügung. Mit Unterstützung eines international ausgewiesenen Beirats soll damit eine Sammlung geschaffen werden, die umfassend und aktuell über diese Tradition der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte informiert. Die Springer Reihe Frauen in Philosophie und Wissenschaft umfasst Monographien, Handbücher, Sammlungen, Tagungsbeiträge und Dissertationen. Bei Interesse wenden Sie sich an den Verlag oder die Herausgeberin. Advisory Board Prof. Dr. Federica Giardini (Università Roma Tre) Prof. Dr. Karen Green (University of Melbourne) PD Dr. Hartmut Hecht (Humboldt Universität Berlin) Prof. Dr. Sarah Hutton (University of York) Prof. Dr. Katerina Karpenko (Kharkiv National Medical University) Prof. Dr. Klaus Mainzer (Technische Universität München) Prof. Dr. Lieselotte Steinbrügge (Ruhr-Universität Bochum) Prof. Dr. Sigridur Thorgeirsdottir (University of Iceland) Prof. Dr. Renate Tobies (Friedrich-Schiller-Universität Jena) Dr. Charlotte Wahl (Leibniz-Forschungsstelle Hannover) Prof. Dr. Mary Ellen Waithe (Cleveland State University) Prof. Dr. Michelle Boulous Walker (The University of Queensland)
Kay Herrmann · Barbara Neißer (Hrsg.)
Grete Henry-Hermann: Sittlichkeit und Vernunft Kritik der Ethik Nelsons und Erinnerungen an Leonard Nelson. Texte zur Frage der Ethik als Wissenschaft
Hrsg. Kay Herrmann Technische Universität Chemnitz Chemnitz, Deutschland
Barbara Neißer Köln, Deutschland
ISSN 2524-3640 ISSN 2524-3659 (electronic) Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists ISBN 978-3-658-41992-9 ISBN 978-3-658-41993-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-41993-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Frank Schindler Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Grete Henry-Hermann im Jahre 1970, Archiv der sozialen Demokratie, Signatur 6/FOTA177735�
Inhalt Vorwort ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� IX Die Überwindung des Zufalls ������������������������������������������������������������������������������� 1 Im Gespräch mit Leonard Nelson und mit Kameraden der Akademie ���������� 99 Gedanken zum Abwägungsgesetz in der Ethik Leonard Nelsons ������������������� 147 Erinnerungen an Leonard Nelson ����������������������������������������������������������������������� 169 Leonard Nelson und die Grundlagen des Freiheitlichen Sozialismus ������������ 195 Grete Henry, geborene Hermann – Zur Person (Susanne Miller) ������������������ 201 Bibliographie (Klaus-Rüdiger Wöhrmann) �������������������������������������������������������� 205 Namenverzeichnis �������������������������������������������������������������������������������������������������� 211 Anhang Zur Begründung der Ideallehre ���������������������������������������������������������������������������� 213
Vorwort Der vorliegende Band befasst sich mit Grete Henry-Hermanns Überlegungen zur Ethik, die als kritische Reflexion auf die Ethik ihres Lehrers Leonard Nelson zu verstehen sind. Ihre Auseinandersetzung mit der Ethik Nelsons begann mit der Frage nach den Gesichtspunkten, nach denen eine vollkommen gebildete Person ihre Entscheidungen fällt (vgl. dazu Anhang ‚Zur Begründung der Ideallehre‘). Mit dieser Frage beschäftige sich Hermann in ihrer frühen Schrift ‚Zur Begründung der Ideallehre‘, die nach eigenen Angaben auf Gesprächen mit Nelson aus den Jahren 1926/27 basiert. Diese nur als maschinenschriftliches Manuskript vorliegende Schrift führt in das Zentrum von Nelsons Ethik, nämlich zu der Frage „nach einer objektiven praktischen Auszeichnung unter Handlungen.“ Hier deuteten sich bereits die Schwierigkeiten an, auf die die Frage nach objektiven Maßstäben für mögliche Handlungen stößt. Grete Hermann ließen die in den Gesprächen mit Nelson aufgeworfenen Probleme nicht mehr los. Von ihrem Ringen um Antworten zeugt, dass ihre Lösungsvorschläge erst mehr als 25 Jahre nach Leonard Nelsons Tod folgten. Erst 1953 erschien in dem Gedenkband ‚Leonard Nelson zum Gedächtnis‘ Grete Hermann Schrift ‚Die Überwindung des Zufalls. Kritische Betrachtungen zu Leonard Nelsons Begründung der Ethik als Wissenschaft‘ , in der sie sich kritisch mit der Ethik Leonard Nelsons auseinandersetzte. Im Jahre 1985 wurde Grete Henry-Hermanns Schrift von Gustav Heckmann und Susanne Miller im Auftrag der Philosophisch-Politischen Akademie mit einem Vorwort von Gustav Heckmann und zusätzlichen Texten aus dem Nachlass von Grete Henry-Hermann vom Felix Meiner Verlag neu herausgegeben. Wir haben uns entschieden, diesen Band unverändert wieder abzudrucken. Gustav Heckmann stellt in seinem Vorwort zum Band von 1985 heraus, worum es Grete Henry Hermann in ihrer jahrzehntelangen kritischen Auseinandersetzung mit Nelson Ethik ging, und zitiert sie: Ich möchte verstehen, durch welche Modifikation der Wahrheitskern der Nelsonschen Philosophie von irreführenden Absolutheitsansprüchen befreit werden und sinngemäß geltend gemacht werden kann. Nelsons „irreführende Absolutheitsansprüche“ sah sie vor allem in dem von Nelson geforderten „Gebot des Charakters“, das besagt, dass gebildete Menschen durch einen einmaligen Erkenntnis- und Willensakt die sittlichen Grundsätze erkennen und diesen bedingungslos folgen könnten.
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Vorwort
Auch Nelsons Konzeption der Ethik „als praktische Naturlehre“ stellte sie in Frage. Nelson unterschied zwischen „theoretischer Naturlehre“, der Naturwissenschaft, und „praktischer Naturlehre“. Beide Betrachtungsweisen haben es mit der Erfahrung zu tun. Grete Henry-Hermann zeigte, dass Nelson – entgegen seiner ursprünglichen Absicht – die Ethik nicht als „praktische Naturlehre“, sondern als „strenge Wissenschaft“ (analog der Mathematik) konzipiert hatte. Nelson bemühte sich, wie es bereits Kant und Fries getan hatten, die sittliche Freiheit als absolutes Vermögen zu erweisen, das nicht den Schranken der Natur unterworfen ist. Gustav Heckmann schrieb dazu in seinem Vorwort von 1985, dass sich dadurch für Grete Henry-Hermann die Frage stellte, „ob diese so entwickelte strenge Wissenschaft irgendetwas aussagt über die Realität, in der wir leben.“ Nelsons Grundsatz der Interessenabwägung liefert ein Prüfkriterium, nach dem die Legitimation und Geltung moralischer und sittlicher Normen und empirischer Rechte, Gesetze und Handlungen beurteilt werden können und sollen. Für die naturwissenschaftlich geschulte Philosophin Grete Henry-Hermann, die es gewohnt war, dass Theorien mit der Erfahrung zu vergleichen sind, konnten ethische Fragestellungen nur durch Hinzunahme von Erfahrung geprüft werden. Ihr philosophisch-methodisches Vorgehen war durch die von Nelson übernommene Methode der regressiven Abstraktion geprägt. Hinzu kam für sie die Analyse eigener und fremder Handlungen. Sie folgerte, dass bei jeder sittlichen Entscheidung bzw. Handlung stets Sinnlichkeit und Vernunft zusammenwirken müssen. Reine sittliche Vernunft und Reflexion ohne sinnliche Anreize oder Auslöser – wie sie Nelson voraussetzte – seien nicht möglich. Empirische sittliche Normen und Grundsätze seien bei jeder Entscheidung bzw. Handlung mitbeteiligt. Grete Henry-Hermann gelangte zu dem Schluss, dass die sittliche Vernunft nie ohne sinnliche Anregung (z. B. äußere Anreize und Umstände) tätig sein könne. Die Ethik bekommt dadurch einen prozessualen Charakter, sie ist der Prozess der beständigen Prüfung von Normen, Gesetzen und Handlungen an den sittlichen Grundsätzen der Vernunft. Ihre Revision der Nelson’schen Ethik veröffentliche Grete Henry-Hermann zuerst 1953 mit ihrer Schrift ‚Die Überwindung des Zufalls‘, in der sie erstmals ihre eigenen Überlegungen zur Ethik als praktische Wissenschaft zusammenfasste. Sie war 1946 aus dem Exil in London nach Bremen zurückgekehrt. Dort leitete sie von 1947 bis 1950 den Aufbau der Pädagogischen Hochschule. 1950 bis 1966 war sie Stellvertretende Leiterin der Pädagogischen Hochschule und Professorin für Philosophie und Physik. Außerdem engagierte sie sich beim Aufbau der Gewerkschaft (GEW) und befasste sich mit sozialdemokratischer Politik. Wie die meisten der ehemaligen ISK-Mitglieder hatte sie sich von Nelsons Idee einer „Vernunftpartei als Führungselite“ nach 1945 abgewandt und vertrat nun das Konzept eines freiheitli-
VorwortXI
chen und demokratischen Sozialismus. Ab 1957 war sie Mitglied des kulturpolitischen Ausschusses der SPD und gemeinsam mit Willi Eichler an der Vorbereitung des Godesberger Programms der SPD von 1959 beteiligt. In den Jahren 1961 bis 1978 war sie die Vorsitzende der Philosophisch-Politischen Akademie und hat bei zahlreichen Veranstaltungen der Akademie Gespräche mit deren Mitgliedern geführt (z. B. bei den Tagungen „Geist und Tat“). In den Band von 1985 haben die damaligen Herausgeber Gustav Heckmann und Susanne Miller zusätzlich die Arbeit ‚Im Gespräch mit Leonard Nelson und mit den Kameraden der Akademie‘ aufgenommen. Diesen Text hat die Autorin in den letzten Jahren ihres Lebens (zwischen 1978 bis 1984) verfasst. Er gibt kein Gespräch wieder, aber setzt sich mit einzelnen Aspekten der Nelson’schen Ethik aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Erfahrungen und Einsichten detailliert auseinander. An der Herausgabe von ‚Leonard Nelson. Gesammelten Schriften‘ in neun Bänden war sie in den Jahren 1970 bis 1977 maßgeblich beteiligt. Die Anfänge ihrer intensiven und fast lebenslangen Auseinandersetzung mit der Philosophie Nelsons werden deutlich in ihren – ebenfalls im vorliegenden Band enthaltenen – ‚Erinnerungen an Leonard Nelson‘, die sie von 1926 bis 1929 niederschrieb. Im Band von 1985 noch nicht enthalten ist ihr Text ‚Zur Begründung der Ideallehre‘. Er stammt aus Grete Henry-Hermanns Nachlass und wurde von uns aufgenommen, weil er die frühen Zweifel der Autorin an Nelsons Begründung der Ethik dokumentiert. Grete Henry-Hermann hat ihn 1929 niedergeschrieben. Diese frühen Einwände und Lösungsansätze haben ihr späteres Werk nachhaltig beeinflusst. Alle Texte wurden unverändert übernommen. Nur offensichtliche Schreibfehler wurden stillschweigend verbessert. Ergänzungen der Herausgeber erscheinen in eckigen Klammern (z.B.[.]). Unterstreichungen in Texten wurden durch Kursivierungen ersetzt. Die Originalpaginierung erscheint in Doppelstrichen (z. B. //133//). Die Fußnoten der Autorin wurden übernommen. Editorische Anmerkungen der Herausgeber werden als Fußnoten mit arabischen Ziffern, auf jeder Seite neu beginnend, dargestellt. Wir bedanken uns bei allen, die zum Gelingen des Editionsvorhabens beigetragen haben. Für die Kooperation im Hinblick auf den erneuten Abdruck des Bandes von 1985 bedanken wir uns beim Felix Meiner Verlag, vertreten durch Herrn Johann Meiner. Besonders bedanken möchten wir uns bei der Philosophisch-Politischen Akademie e. V., die dieses Projekt beauftragt und finanziell unterstützt hat.
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Vorwort
Zu Dank verpflichtet sind wir den Mitarbeitern des Archivs der sozialen Demokratie in Bad Godesberg, insbesondere der Leiterin Frau Anja Kruke sowie den Herrn Olaf Guercke und Peter Pfister für die Digitalisierung der Texte. Für die mühevolle Gestaltung der Druckvorlage und das nachfolgende Korrekturlesen sei in besonderer Weise Herrn Arnd Hartung sowie Frau Kira Just de la Paisières gedankt. Für die Erteilung der Abdruckrechte an Nachlass- und Archivmaterialien danken wir den zuständigen Mitarbeitern des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie dem Vorstand der Philosophisch-Politischen Akademie e. V. Unser Dank gebührt auch der Herausgeberin der Reihe ‚Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists‘, Frau Ruth Hagengruber, für die Gelegenheit zu einer Veröffentlichung im Rahmen dieser Reihe. Besonders gedankt sei Herrn Schindler vom Verlag für Sozialwissenschaften des Springerverlages für die ausgezeichnete Betreuung des Buchprojekts. Chemnitz, im September 2023
Köln, im September 2023
Kay Herrmann
Barbara Neißer
Die Überwindung des Zufalls*
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Von GRETE HENRY-HERMANN
Kritische Betrachtungen zu Leonard Nelsons Begründung der Ethik als Wissenschaft
* Nachdruck von: Henry-Hermann, Grete: Die Überwindung des Zufalls: kritische Betrachtungen zu Leonard Nelsons Begründung der Ethik als Wissenschaft / Grete Henry-Hermann. Beiträge zusammengestellt von Gustav Heckmann und Susanne Miller im Auftrag der Philosophisch-Politischen Akademie e.V., Frankfurt a.M.– Hamburg : Meiner, 1985. ISBN 3-7873-0658-7. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. Herrmann und B. Neißer (Hrsg.), Grete Henry-Hermann: Sittlichkeit und Vernunft, Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41993-6_1
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Die in dem vorliegenden Band abgedruckten Beiträge wurden zusammengestellt von Gustav Heckmann und Susanne Miller im Auftrag der Philosophisch-politi schen Akademie e.V., Frankfurt a.M. Der Aufsatz „Die Überwindung des Zufalls – Kritische Betrachtungen zu Leonard Nelsons Begründung der Ethik als Wissenschaft“ wurde zuerst veröffentlicht in: Leonard Nelson zum Gedächtnis, hrsg. von Minna Specht und Willi Eichler (1953), S. 25-111; neu bezogen wurden die Quellenhinweise auf Leonard Nelson, Gesammelte Schriften in neun Bänden. Alle übrigen Beiträge stammen aus dem Nachlaß von Grete Henry-Hermann.
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„Durch Nelsons Herausforderungen habe ich es allmählich gelernt, mir Schritt für Schritt den Mut zur Wahrheit zu erkämpfen, der dazu gehört, sich einer als zwingend anerkannten Denkmethode nun auch rücksichtslos im eigenen Denken anzuvertrauen.“ Grete Henry-Hermann, in: „Erinnerungen an Leonard Nelson“, S. 179.1
1 s. S. 171.
INHALT5
INHALT Vorwort. Von Gustav Heckmann //XI// ................................................................ 7 Die Überwindung des Zufalls. Kritische Betrachtung zu Leonard Nelsons Begründung der Ethik als Wissenschaft //3//........................................................ 17 Einleitung //3//...................................................................................................... 17 I. Vom Ursprung des sittlichen Gefühls //8//.................................................... 22 II. Reine und sittliche Interessen //23//............................................................... 34 III. Die Möglichkeit des besonnenen Handelns //34//........................................ 44 IV. Das Gebot der Gerechtigkeit //45//................................................................. 53 V. Die Freiheit des Willens //61// ........................................................................ 68 § 1. Die metaphysische Freiheit //61//........................................................... 68 § 2. Das Gebot des Charakters //73// ............................................................ 78 § 3. Praktische und theoretische Notwendigkeit //81// .............................. 85 Schlußbetrachtung // 93//........................................................................................ 95 Im Gespräch mit Leonard Nelson und mit Kameraden der Akademie [Über die einer wissenschaftlichen Ethik angemessene Methode] //99//......... 101 § 1. Ethik als Wissenschaft //99//.................................................................... 101 § 2. Praktische und theoretische Naturlehre //100//................................... 102 § 3. Das Apriori und der Skeptiker //104//.................................................... 105 § 4. Lernen aus Tradition und aus praktischer Erfahrung? //108//............ 109 § 5. Ethik der Pflicht und Ethik der sozialen Anteilnahme //113//............ 112 § 6. Im Gespräch mit Kameraden der Akademie //116//............................ 115 [Über den Pflichtimpuls] //120//............................................................................ 119 § 1. Vom Begriff der Pflicht //120//................................................................ 119 § 2. Die philosophisch begründete und die historisch gewachsene Ethik //123//.......................................................................................................... 121 //X// § 3. Vom Gebot des Charakters //127//......................................................... 125 § 4. Zusammenbruch der Ethik//131//.......................................................... 128
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INHALT
Wie verhalten sich zueinander Tradition, praktische Erfahrung und philosophische Besinnung auf dem Weg zu Gerechtigkeit und Menschlichkeit? //135//......................................................................................................................... 131 § 1. Der Mensch als vernunftbegabtes soziales Wesen //135//................... 131 § 2. Bedeutung und Grenzen der Tradition auf dem Weg zu ethischer Bildung //138//........................................................................................... 134 § 3. Bedeutung und Grenzen der praktischen Erfahrung auf dem Weg zu ethischer Bildung //141//..................................................................... 136 § 4. Bedeutung und Grenzen philosophischer Besinnung auf dem Weg zu ethischer Bildung //144//..................................................................... 139 § 5. Ethik als praktische Naturlehre //150//.................................................. 144 Gedanken zum Abwägungsgesetz in der Ethik Leonard Nelsons //154//......... 147 § 1. Der kategorische Imperativ //154//......................................................... 147 § 2. Sollen und Müssen //159//....................................................................... 151 § 3. Praktische Erfahrung //165//................................................................... 156 § 4. Pflichtbewußtsein und Gerechtigkeitsliebe //172//.............................. 162 Erinnerungen an Leonard Nelson //179//................................................................ 169 Erster Abschnitt: 1921-1925 //179//................................................................... 169 Zweiter Abschnitt: 1926/1927 //195//................................................................. 182 Leonard Nelson und die Grundlagen des freiheitlichen Sozialismus //211//....... 195 Grete Henry, geborene Hermann – zur Person. Von Susanne Miller //219// ..................................................................................... 201 Bibliographie //225//................................................................................................. 205 Namenregister //231//.............................................................................................. 211
VORWORT7
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VORWORT Im Dezember 1925 forderte Leonard Nelson Grete Hermann – sie war damals 24 Jahre alt – auf, mit ihm zusammen seine Vorlesungen über Ethik für den Druck zu bearbeiten. Während dieser Zusammenarbeit, im Oktober 1927, starb Nelson. Grete Hermann hat seitdem ständig an den ihr durch die Nelsonsche Philosophie gestellten Problemen gearbeitet, bis in ihre letzten klaren Stunden. Sie starb im April 1984. Ihr Problem hat sie in einem Brief vom Juli 19831 so formuliert: „Ich möchte verstehen, durch welche Modifikation der Wahrheitskern der Nelsonschen Philosophie von irreführenden Absolutheitsansprüchen befreit werden und sinngemäß geltend gemacht werden kann.“ Einen solchen Absolutheitsanspruch spürte sie, als sie an Nelson die Frage stellte: „Ist es möglich, das Gebot des Charakters in einem einmaligen Willensakt endgültig zu erfüllen?“2 Das Gebot des Charakters bedeutet: Da ich einerseits nicht sicher sein kann, daß bei einer künftigen Entscheidung meine Neigungen der Pflicht günstig sind; da ich andererseits einer solchen Situation nicht hilflos ausgeliefert bin, sondern durch Reflektieren auf Werte die der Pflicht entgegenstehenden Neigungen schwächen, die sie stützenden stärken kann, habe ich die Pflicht, dies immer zu tun; den einmaligen, sich auf alle künftigen Situationen beziehenden Entschluß zu dieser in der Zukunft liegenden wiederholten inneren Handlung nennt Nelson die Stiftung des Charakters. Auf ihre ihm ein paar Mal gestellte Frage hat Grete Hermann nie eine Antwort von Nelson erhalten. Nelsons Hauptproblem war die wissenschaftliche Begründung von Ethik. Dabei knüpft er an Fries an, der Ethik als „praktische Naturlehre“ verstanden hat. „Naturlehre“ bezeichnet hier den Gegensatz zur „Ideenlehre“, der Lehre von Ideen wie Gott, Unsterblichkeit, „Sein an sich“, ei//XII//ner Lehre also von etwas, das wir in unserer Erfahrung nicht kennenlernen. Naturlehre hingegen ist die Lehre von etwas, das wir erfahren. Fries und Nelson unterscheiden theoretische und praktische Naturlehre. Die theoretische Naturlehre erforscht das Sein der uns in der Erfahrung zugänglichen 1 Der Adressat bin ich, G. H. 2 „Erinnerungen an Leonard Nelson“ S. 184.
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VORWORT
Dinge, die praktische Naturlehre deren Zweck oder Zwecke. Die theoretische Naturlehre ist Naturwissenschaft. Die praktische Naturlehre ist die Lehre von den Zwecken, die wir in unserer Erfahrung kennenlernen. Das Problem des “Weltzwecks“ gehört nicht in die Naturlehre, sondern in die Ideenlehre. Die praktische Naturlehre ist die Lehre von den Zwecken, die Menschen sich setzen, und den Zwecken, die Menschen sich setzen sollten. Beide Naturlehren sind Erfahrungswissenschaften. Wie die Naturwissenschaft sich auf unsere Erfahrung von den Dingen und Vorgängen in der Natur gründet, so muß die Ethik sich gründen auf unser Erfahren von Zwecken und unser Erfahren der Art und Weise, wie Zwecke unser Handeln bestimmen. Diese Friessche Konzeption von wissenschaftlicher Ethik als praktischer Naturlehre war Nelson geläufig; er verstand sich als Nachfolger von Fries. Jedoch hat nicht diese Konzeption, sondern eine ganz andere Idee von Wissenschaft Nelson bei seinem Aufbau der Ethik bestimmt. Seinem Hauptwerk, der „Kritik der praktischen Vernunft“, hat Nelson folgende Widmung gegeben: „Seinem Freunde und Lehrer David Hilbert widmet diesen Versuch, dem Herrschaftsbereich der strengen Wissenschaft eine neue Provinz zu erschließen, in Dankbarkeit und Verehrung der Verfasser.“ In Hilberts axiomatischer Begründung der Mathematik fand Nelson das von ihm angestrebte Vorbild „strenger Wissenschaft“. Was macht diese wissenschaftliche Strenge aus? Dies, daß die logische Konsequenz das einzige Kriterium dieses Aufb aus ist: In diesem Aufbau wird klar, auf welchen Voraussetzungen ein Lehrsatz ruht. Und es wird klar, welches die letzten, nicht mehr aus anderen ableitbaren Voraussetzungen sind, die Axiome. Dazu sind zwei Dinge erforderlich: Erstens, daß man sich alle Voraussetzungen einer Aussage bewußtmacht, auch die, die man, weil allzu selbstverständlich, leicht übersieht. „Mit Bewußtsein denken, die Voraussetzungen alle nennen, von denen man Gebrauch macht“ – so charakterisierte Hilbert in einer //XIII// Vorlesung seine axiomatische Methode. Zweitens: Daß Sätze, die aus bereits genannten Axiomen bewiesen werden können, auch bewiesen werden; daß als Axiome nur Sätze gelten, die nicht aus den anderen Axiomen bewiesen werden können, und daß diese Nichtbeweisbarkeit ihrerseits bewiesen wird. Wie Hilbert die Geometrie, so baut Nelson seine wissenschaftliche Ethik so auf, daß zunächst wenige Voraussetzungen bzw. Axiome eingeführt werden und alle bereits aus diesen ableitbaren Folgerungen abgeleitet werden. So ist Nelsons erste Voraussetzung in seiner Ethik, daß es überhaupt eine Pflicht für uns gibt. Sie muß einen bestimmten Inhalt haben, muß etwas Bestimmtes von uns verlangen – das liegt im bloßen Begriff der Pflicht. Nelson zeigt, daß sich bereits aus der Voraussetzung, daß es für uns eine Pflicht gibt, wichtige Konsequenzen ergeben, von ihrem Inhalt noch ganz abgesehen. Und so schöpft er zunächst diese Konsequenzen aus,
VORWORT9
ehe er eine weitere Voraussetzung, die über den Inhalt der Pflicht etwas aussagt, hinzunimmt. Dieser Aufbau, der bei Hilbert den Sinn hat, deutlich zu machen, auf welchen Axiomen bestimmte Stücke des geometrischen Lehrgebäudes ruhen und von welchen sie unabhängig sind, hat bei Nelson darüber hinaus eine praktische Bedeutung: Die ethischen Aussagen sind umstritten, die geometrischen nicht. Es wird eher gelingen, die Aussagen aus dem Streit herauszuholen, die von weniger Voraussetzungen abhängig sind. Über die Voraussetzung, daß es überhaupt eine Pflicht für uns gibt, könnte Einigkeit erreicht werden, auch wenn der Inhalt der Pflicht noch umstritten ist. Also ist es im Hinblick auf die Verwirklichung der Ethik wichtig, die Konsequenzen zu erkennen, die sich bereits aus jener inhaltärmeren Voraussetzung ergeben. Soviel über den logisch strengen Aufbau der Geometrie und der Ethik. Für diese wissenschaftliche Strenge muß ein Preis gezahlt werden, ein hoher Preis: Dieser Aufbau läßt es, da er Erfahrung nicht benutzt, offen, ob die so entwickelte strenge Wissenschaft irgendetwas aussagt über die Realität, in der wir leben. Ob sie das tut oder nicht, muß unabhängig von dieser strengen Wissenschaft erst noch geprüft werden. Hilbert wollte, wie er im Vorwort zu seinen „Grundlagen der Geometrie“ sagt, mit seiner Axiomatik ein Stück Realität erfassen: die uns vertrau//XIV//ten räumlichen Beziehungen in unserer Umgebung. Es ist nicht schwer zu prüfen, ob ihm das gelungen ist. Nehmen wir z.B. das für das Messen von Strecken grundlegende Axiom: Gegeben seien zwei Punkte A und B auf einer Geraden sowie eine bestimmte Strecke. Wird diese Strecke, vom Punkte A ausgehend, in Richtung B wiederholt auf der Geraden abgetragen, so wird nach endlich vielen Abtragungen der Punkt B überschritten. Unsere Erfahrung mit den Dingen unserer Umgebung bestätigt dieses Axiom: Wenn ich in der Ferne einen Baum sehe, weiß ich, daß ich ihn mit endlich vielen Schritten erreichen kann. Die Konfrontation der von Hubert axiomatisch dargestellten Euklidi schen Geometrie mit räumlichen Verhältnissen, die über die uns vertraute Umgebung hinausreichen in astronomische Dimensionen, hat jedoch gezeigt, daß hier die Euklidische Geometrie nicht mehr gilt. Die Frage, ob eine axiomatisch entwickelte „strenge Wissenschaft“ etwas aussagt über die Realität, in der wir leben, kann nur an der Erfahrung geprüft werden. Soviel zunächst zu Nelsons Versuch, die Ethik nach Hilberts Vorbild als strenge Wissenschaft aufzubauen. Grete Hermann spürte in Nelsons Philosophie „irreführende Absolutheitsansprüche“; ihre Frage zum Gebot des Charakters wies auf einen solchen hin. Sie spürte solche Absolutheitsansprüche jedoch auch in Nelsons Naturphilosophie, in
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VORWORT
seiner Auffassung, daß die klassische Newtonsche Mechanik die einzig mögliche physikalische Theorie sei; daß, wenn man die Probleme der Quantentheorie und der Relativitätstheorie erst voll verstanden haben würde, diese sich als Probleme der klassischen Mechanik würden formulieren und lösen lassen: Was konnten denn die Vorgänge in der unbelebten Natur anderes sein als Bewegungen von Massen unter der Einwirkung von Kräften? Das war Fries-Nelsonsche Auffassung. Grete Hermann hatte immer beides im Blick: die Ethik als praktische Naturlehre und die Physik als theoretische Naturlehre. Die Parallelität der beiden Naturlehren war ihr methodischer Leitfaden bei der Prüfung der Nelsonschen Philosophie auf „irreführende Absolutheitsansprüche“ hin. Und so nahm sie, kaum daß sie mit Minna Specht zusammen Nelsons „System der philosophischen Ethik und Pädagogik“ für die Herausgabe //XV// bearbeitet hatte, das Gespräch mit philosophisch interessierten Physikern auf, 1931 oder schon 1930. Etwas später hat sie diese Probleme in eingehenden Gesprächen mit Heisenberg durchdiskutiert, bis die beiden sich über eine Interpretation der Quantenmechanik verständigt hatten, eine Interpretation, die Grete Hermanns Anspruch, „den Wahrheitskern der Nelsonschen Philosophie sinngemäß geltend zu machen“, genügte. Über diese Arbeit mit Heisenberg schrieb Grete Hermann im Juni 1934 aus Leipzig an ihre Mutter: „Daß es möglich ist, einen solchen Streitfall auszutragen, bis die Wahrheit ans Licht tritt und entscheidet, das ist mir – so sehr ich für jeden Streitfall grundsätzlich diese Möglichkeit voraussetze – in jedem Fall, wo es wirklich gelingt, von neuem ein so befreiendes und beglückendes Erlebnis, daß es mich stark erfüllt.“3 Dann folgt eine lange Pause in Grete Hermanns Publikationen zur Nelsonschen Philosophie. Obwohl ihre schon früh an Nelson gestellte Frage zum Gebot des Charakters auf einen „irreführenden Absolutheitsanspruch“ in Nelsons Ethik hinwies, hat sie doch erst in ihrer großen Arbeit von 1953 „Die Überwindung des Zufalls. Kritische Betrachtung zu Leonard Nelsons Begründung der Ethik als Wissenschaft“ die Frage der irreführenden Absolutheitsansprüche in der Nelsonschen Ethik untersucht. Die lange Pause deutet darauf hin, daß Grete Henry-Hermann – so hieß sie jetzt – bei ihrer kritischen Untersuchung der Nelsonschen Ethik mit viel 3 Der Brief ist im Besitz von Grete Hermanns Schwester Maria Schmolling. Heisenberg hat über seine Gespräche mit Grete Hermann, an denen auch Carl Friedrich von Weizsäcker teilgenommen hat, in dem Kapitel „Quantenmechanik und Kantsche Philosophie“ seines Buches „Der Teil und das Ganze“ berichtet. Grete Hermann hat die Ergebnisse, die die Gespräche ihr gebracht haben, in dem Aufsatz „Die naturphilosophischen Grundlagen der Quantenmechanik“, Abhandlungen der Friesschen Schule, Neue Folge, Sechster Band, 2. Heft, 1935, dargestellt.
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größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hatte als bei ihrer kritischen Untersuchung der Fries-Nelsonschen Naturphilosophie. Die Arbeit von 1953 benutzt die Methoden der Nelsonschen Vernunftkritik: der begrifflichen Analyse unseres Urteilens und Wertens einerseits, der Selbstbeobachtung andererseits. Der Selbstbeobachtung: Was geht in uns vor, wenn wir Handlungen, eigene und die anderer, wertend beurteilen? Was ist z.B. Empörung? Welche Wertung, welche Gewißheit steckt in ihr, welchen Zweifel läßt sie noch zu? Mit diesen von Nelson entwickel//XVI//ten Methoden der Vernunftkritik arbeitet Grete Henry-Hermann in ihrer Arbeit „Die Überwindung des Zufalls“. Ihr wesentliches Ergebnis betrifft das Zusammenwirken von Vernunft und Sinnlichkeit: In all unserer geistig-seelischen Tätigkeit und also in unserem Verhalten, das ja aus geistig-seelischer Tätigkeit entspringt, wirken Sinnlichkeit und Vernunft immer zusammen. Außer in Grenzfällen wie der sinnlosen Panik gibt es kein Verhalten, das allein durch Sinneseindrücke, allein durch äußere Eindrücke bestimmt wäre; in jedem sinnlich angeregten Verhalten ist mindestens ein Ansatz vernünftiger Verarbeitung des sinnlich Gegebenen bereits enthalten. Andererseits: Vernünftige innere Tätigkeit ist immer sinnlich angeregt worden. Diese These ist der Kern ihrer Kritik an Nelson. Denn dieser glaubte, daß die sittliche Vernunft rein für sich zur Tätigkeit kommen könne, ohne sinnliche Anregung; ohne Abhängigkeit von dem Zufall äußerer Anreize und äußerer Umstände. „Dem Zufall entziehen“ ist eine charakteristische Nelsonsche Formulierung. Er wollte es dem Zufall entziehen, daß die sittliche Vernunft unser Handeln bestimmt. Er glaubte an die Möglichkeit eines ausschließlich durch die sittliche Vernunft bestimmten Handelns, sowohl im Leben des Einzelnen als auch in Gesellschaft und Staat. Das ist, nach Grete Henry-Hermann, Nelsons grundlegender „irreführender Absolutheitsanspruch“. Aus ihm folgen weitere. Das Gebot des Charakters verlangt Unmögliches vom Menschen. Das von ihm verlangte, in der Zukunft liegende Reflektieren über die auf mich einwirkenden Neigungen bedürfte, wie jede geistige Tätigkeit, sinnlicher Anregung; müßte durch einen in jenem zukünftigen Augenblick auf mich einwirkenden äußeren Eindruck in Gang gebracht werden. Ich bin aber nicht Herr darüber, ob in der zukünftigen Situation diese sinnliche Anregung stattfindet. Nelsons Glaube, die sittliche Vernunft rein, unabhängig von den Zufälligkeiten äußerer Einwirkung zur Geltung bringen zu können, führt in seiner politischen Theorie zu der Konzeption eines „Zustandes der Gesellschaft, der seinerseits das Unrecht ausschließt“4, des Rechtszustandes, und zur Konzeption einer „Partei des 4 Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 148.
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Rechts“ oder „Partei der Vernunft“, //XVII// einer Partei, deren Entscheidungsstruktur es gewährleistet, daß ihre Entscheidungen bestimmt sind ausschließlich durch die Erkenntnis, was das durch Vernunft erkennbare Recht in der gegebenen Situation verlangt. All das kann es nicht geben, all das sind „irreführende Absolutheitsansprüche“. Die Zurückweisung solcher Ansprüche ist das Thema jener Arbeit von 1953. Die Frage nach dem Wahrheitskern, der gleichwohl in der Nelsonschen Philosophie steckt, wird in jener Arbeit nicht explizit gestellt. Aus jeder Zeile der Arbeit spricht aber die Überzeugung der Verfasserin, daß Nelsons Versuch der Begründung der Ethik als Wissenschaft ein großer Wurf ist, der nicht preisgegeben werden darf. In ihrem oben zitierten Brief hat Grete Henry-Hermann die Aufgabe, wie sie sah, präzise formuliert: „Durch welche Modifikation kann der Wahrheitskern der Nelsonschen Philosophie von irreführenden Absolutheitsansprüchen befreit und sinngemäß geltend gemacht werden?“ Grete Henry-Hermann hat ihre Antwort, soweit sie die Ethik betrifft, in den vier in diesem Bande veröffentlichten Aufsätzen „Im Gespräch mit Leonard Nelson und mit Kameraden der Akademie“5 entwickelt. Sie sieht die Lösung ihres Problems im Hineinnehmen der „praktischen Erfahrung“ in die wissenschaftliche Ethik. Der Terminus „praktische Erfahrung“ bedarf der Erläuterung, in zweierlei Hinsicht. Einmal: Das Wort „praktisch“ ist hier im kantischen Sinne verstanden: „praktische Erfahrung“ bedeutet „sittliche Erfahrung“, wie „praktische Vernunft“ „sittliche Vernunft“ bedeutet. Sodann: Unter „Erfahrung“ versteht Grete Henry-Hermann das Vertrautwerden mit einem Wirklichkeitsbereich im lebendigen Umgang mit ihm. Wir lernen z. B., uns in unserer Umgebung, unter den uns umgebenden Gegenständen zurechtzufinden, lernen die räumlichen Verhältnisse dieser Gegenstände zueinander und zu uns kennen und bewegen uns sicher in unserer räumlichen Umgebung. Wir gewinnen diese Sicherheit, bevor wir //XVIII// uns klare Begriffe bilden über die geometrischen Beziehungen, die wir da erfahren. Begriffe wie den einer zwei Punkte verbindenden Geraden oder den eines Winkels bilden wir uns erst später. Oder: Wir sind vertraut mit Sonnenaufgang und -untergang, mit dem Wechsel der Jahreszeiten. Wir wissen, daß schwere Gegenstände zur Erde fallen, wenn sie nicht gehalten werden; daß ein Auto nach Abschalten des Motors erst nach einem 5 Philosophisch-Politische Akademie e. V., Sitz Frankfurt/M. Aus § 2 der Satzung: „Der Zweck des Vereins ist die Förderung und Fortentwicklung der wissenschaftlichen kritischen Philosophie, wie sie von Kant begründet und von J. F. Fries und Leonard Nelson methodisch weitergebildet worden ist, sowie die Herausarbeitung ihrer Bedeutung für Individuum, Gesellschaft und Staat.“
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Bremsweg, der bei großer Fahrgeschwindigkeit größer ist als bei kleiner, zum Stehen kommt. All dies wissen wir durch Erfahrung, vor begrifflicher Klärung dieser Erfahrung. Wir wissen es, ohne daß wir Klarheit darüber haben, was es heißt, daß das Naturgeschehen gesetzmäßig verläuft; ohne Kenntnis der Naturgesetze im einzelnen: des Gesetzes der Schwere oder des Trägheitsgesetzes. Dieses Vertrautwerden mit einem Wirklichkeitsbereich durch den lebendigen Umgang mit ihm, das zunächst ein vorbegriffliches Kennenlernen ist und erst allmählich zu begrifflichem Erfassen fortschreitet, versteht Grete Henry-Hermann unter Erfahrung. Mit dem Wirklichkeitsbereich „sittliche Wertungen und Motivationen“ verhält es sich ebenso. Auch von ihm erfahren wir zunächst dadurch, daß uns sittliche Werte, die uns in der Haltung, im Tun von Menschen lebendig entgegentreten, so ansprechen, daß sie unsere eigenen werden und unser Tun bestimmen. Wir begegnen in unserer Umwelt bestimmten Normen, bestimmten Imperativen. Wir wachsen in eine Kultur hinein, die sittliche Werte tradiert. Entscheidend für unsere Entwicklung ist, was wir in dieser Hinsicht als Kinder und junge Menschen von unseren Eltern erfahren. Wer ein enges persönliches Verhältnis zu Mutter oder Vater hat und an ihnen erfährt, daß ein Anspruch des Gewissens nicht beiseite geschoben werden kann, für den kann dieselbe Haltung so selbstverständlich werden, daß er sie als sein mütterliches oder väterliches Erbteil empfindet. Und das geschieht, ohne daß viel Worte gemacht würden. Das ist es, was Grete Henry-Hermann unter „praktischer Erfahrung“ versteht. Sie fängt früh an: mit dem ersten Lächeln des Säuglings, mit dem dieser auf den Zuspruch der Mutter antwortet. Dieses Lächeln markiert den Übergang von bloß physischer Wechselwirkung zwischen Mutter Kind zu einem Kontakt von Innerem zu Innerem, zum sozialen Kontakt. Wir kehren zu Grete Henry-Hermanns Problem zurück: Durch welche //XIX// Modifikation kann der Wahrheitskern der Nelsonschen Philosophie von irreführenden Absolutheitsansprüchen befreit und sinngemäß geltend gemacht werden? Grete Henry-Hermann sieht die Lösung darin, daß, da beide Ansätze: Nelsons philosophische Ethik einerseits, die praktische Erfahrung andererseits, ethische Wahrheit enthalten, beide ernstgenommen werden; daß von jedem der beiden Ansätze her der andere daraufhin geprüft wird, ob dieser eine notwendige Ergänzung oder Korrektur des ersten Ansatzes enthält. Zunächst stehen ja beide Ansätze unverbunden nebeneinander. Denn die praktische Erfahrung kommt in Nelsons philosophischer Ethik nicht vor. Nelson wollte den reinen Vernunftgehalt unserer sittlichen Vorstellungen und Überzeugungen in wissenschaftlicher Strenge darstellen. Grete Henry-Hermann bringt die beiden Ansätze gleichsam in einen Dialog: Sie stellt von Nelsons philosophischer Ethik
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her Fragen, die nur von der praktischen Erfahrung beantwortet werden können, und sie stellt von der praktischen Erfahrung her Fragen, die nur von Nelsons philosophischer Ethik beantwortet werden können. Ich gebe für jede der beiden Fragerichtungen ein Beispiel: Von Nelsons philosophischer Ethik her ergibt sich die Frage: Wie können die Vernunftforderungen: die Gerechtigkeit im Verhalten der Einzelnen und in Gesellschaft und Staat, und die vernünftige Selbstbestimmung der Einzelnen verwirklicht werden? Nur in der ethischen Realität, in der wir leben, in der praktischen Erfahrung. An diese ergibt sich also die Frage: Wo in dieser praktischen Erfahrung treten jene Vernunftforderungen ansatzweise hervor, natürlich vermischt mit anderen Interessen? Und wie können diese Ansätze gekräftigt und von Verfälschung durch vernunftfremde Interessen gereinigt werden? Eine Frage von der praktischen Erfahrung her an Nelsons philosophische Ethik: Die Wertvorstellungen, denen wir in unserer sozialen Umwelt begegnen, sind das Ergebnis der Geschichte und der Machtkämpfe unserer Umwelt. In diesen Wertvorstellungen kommen also auch die herrschenden Machtverhältnisse zum Ausdruck. Wir brauchen Kriterien zur Prüfung der Wertvorstellungen, um solche, die lediglich der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen dienen, zurückzuweisen. Solche Kriterien erwarten wir von Nelsons philosophischer Ethik. //XX// Ich habe für die beiden Fragerichtungen des Dialogs zwischen dieser Ethik und der praktischen Erfahrung nur je ein Beispiel gegeben. Grete HenryHermann spricht in diesem Dialog eine Fülle von Aspekten an. Dieser Dialog kommt nie zu Ende, weil die praktische Erfahrung weitergeht und uns immer wieder vor neue Probleme stellt. In diesem ständigen Dialog sieht Grete Henry-Hermann die „Modifikation, durch die der Wahrheitskern der Nelsonschen Philosophie von irreführenden Absolutheitsansprüchen befreit und sinngemäß geltend gemacht werden kann.“ Der Gedanke der Parallelität von theoretischer und praktischer Erfahrung war Grete Henry-Hermanns methodischer Leitfaden bei der Suche nach einer Lösung ihres Problems: Die Physiker schauen sich die für ihr Problem relevanten experimentellen Daten an und kommen zu den Aussagen der Quantenmechanik; zu der Gewißheit: So muß es sein; so lösen sich das Dunkel und die Widersprüche; jetzt haben wir Sicherheit – keine absolute, sondern eine, die immer mit der Notwendigkeit einer Modifikation der als gesichert geltenden Aussagen rechnet, dann nämlich, wenn ein Grund für neuen Zweifel in den Blick kommt. Das ist theoretische Erfahrung. Wir werten sittlich, unsere Handlungen und die anderer. Solche Wertungen bestimmen unser Handeln: Dies muß ich tun in dieser Situation. Oder: das kann ich auf keinen Fall tun. So gewinnen wir Sicherheit in unserem Handeln – keine
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absolute, sondern eine, die immer mit der Notwendigkeit einer Modifikation der bisher für gerechtfertigt gehaltenen Entscheidung rechnet; dann nämlich, wenn ein neuer relevanter Gesichtspunkt in den Blick kommt. Das ist praktische Erfahrung. Die Entdeckung des Bereichs „praktische Erfahrung“, seine Beschreibung und genaue begriffliche Bestimmung sowie die Erkenntnis, welche Bedeutung die praktische Erfahrung sowohl für unser Handeln als auch für die wissenschaftliche Bearbeitung ethischer Probleme hat, das ist, scheint mir, der wichtigste der Gedanken, mit denen Grete Henry-Hermann die Nelsonsche Ethik fortgebildet hat. Hannover, im August 1984
Gustav Heckmann
GRETE HENRY-HERMANN
DIE ÜBERWINDUNG DES ZUFALLS* Kritische Betrachtung zu Leonard Nelsons Begründung der Ethik als Wissenschaft Einleitung Aufgabe und Bedeutung der wissenschaftlichen Ethik Leonard Nelson hat seine „Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik“1 dem Mathematiker David Hilbert gewidmet als einen Versuch, „dem Herrschaftsbereich der strengen Wissenschaft eine neue Provinz zu erschließen“.
* [Grete Henry-Hermann stellte diesem Beitrag, der 1953 in dem Band „Leonard Nelson zum Gedächtnis“ erschien, die folgende Bemerkung voran:] Wenn ich in diesem Gedenkband einen Beitrag vorlege, der sich im wesentlichen kritisch mit dem Hauptwerk meines Lehrers Leonard Nelson auseinandersetzt, so weiß ich mich dabei im Einklang mit seiner eigenen Forderung nach einer schulmäßigen Ausbildung der Philosophie, in der der einzelne sich aufnehmend und fortbildend in die Reihe der Forscher stellt, mit denen er gemeinsam um die gleichen Grundfragen der Philosophie ringt. Die Gedanken der vorliegenden Arbeit sind erwachsen aus eigenen Erfahrungen mit den praktischen Konsequenzen, zu denen die Ethik Leonard Nelsons führt. Ihre philosophische Klärung ist weitgehend befruchtet worden durch die Beschäftigung mit den naturphilosophischen Aspekten, die sich in der modernen Physik aufgetan haben und von denen neues Licht auf entscheidende Ansätze und Lehren der kritischen Philosophie fällt. Leonard Nelson selber hat den Übergang von der klassischen zur modernen Physik nicht mehr zum Gegenstand der eigenen philosophischen Prüfung machen können. Die hier vorgebrachte Kritik betrifft in entscheidenden Punkten auch meine eigene frühere Arbeit „Politik und Ethik“, die im Jahre 1945 in London erschienen ist. 1 Leonard Nelson: „Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik“. Erster Band: „Kritik der praktischen Vernunft“, in: Leonard Nelson, Gesammelte Schriften, Band IV, im folgen den zitiert als: IV; Zweiter Band: „System der philosophischen Ethik und Pädagogik“, in: Gesammelte Schriften, Band V, zitiert als: V; Dritter Band: „System der philosophischen Rechtslehre und Politik“, in: Gesammelte Schriften, Band VI, zitiert als: VI. (Die arabischen Ziffern geben die Seitenzahl in dem betreffenden Band an.)
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Von dieser Wissenschaft, deren Grundlegung er sich zur Aufgabe macht, sagt Nelson, man könne sie definieren als die praktische Wissenschaft, als die einzige, die im strengen Sinne des Wortes praktisch zu heißen verdient. Diese beiden Ansprüche enthalten das zentrale Anliegen dieses Menschen und Forschers. //4//Ethik ist für Nelson praktische Wissenschaft. „Praktisch“ ist das, „was uns zu Entschlüssen verhilft, uns beim Handeln leitet“. (V, 29) Mit dem Aufbau der Ethik sagt Nelson dem Fatalismus den Kampf an. Der Fatalismus beherrscht unsere Zeit. Es ist nicht der Fatalismus, der resignierend den blinden Gewalten der Natur gegenübersteht. Der steile Anstieg, den Naturwissenschaft und Technik im Verlauf der vergangenen 150 Jahre genommen haben, hat die Menschen in den Besitz ungeahnter Möglichkeiten gebracht, die Kräfte der Natur menschlichen Zwecken dienstbar zu machen. Aber sie sind dadurch nicht vorangekommen auf dem Weg, das eigene Schicksal und das der Völker zu meistern. Gerade die Errungenschaften von Wissenschaft, Technik, Organisationskunst geben den Katastrophen unserer Zeit ihr Gepräge, und die Frage: Technik – Segen oder Fluch? lastet auf den Menschen unserer Zeit. Auf diese Frage antworten große Scharen unter ihnen mit dem Achselzucken des Fatalismus. Die angewandten Wissenschaften bieten diesem Fatalismus gegenüber keinen Schutz. Es sind die Wissenschaften, die dem Menschen Mittel zur Erreichung irgend welcher Zwecke in die Hand geben und die darum, im Gegensatz zur reinen wissenschaftlichen Theorie, als deren praktische Anwendung angesehen zu werden pflegen. Gewiß, auch sie helfen zu Entschlüssen und leiten beim Handeln. Aber sie leiten nur den, für den feststeht, was er erstrebt, nicht den, der noch mit der Entscheidung über Ziel und Zweck ringt. Auf die entscheidende Frage, ob und wofür es wert sei, die von ihnen aufgewiesenen Mittel anzuwenden, geben sie keine Antwort. Und eben darum ist keine von ihnen dagegen gesichert, für schlechte und verwerfliche Zwecke mißbraucht zu werden, statt aufbauend und fördernd zu wirken. Die Fähigkeit und die Bereitschaft der Menschen, das eigene Leben und das Schicksal der Völker an Werten zu messen und nach ihnen zu gestalten, hat mit den technischen Errungenschaften nicht Schritt gehalten. Wir brauchen die Besinnung auf das, was für die Bildung des einzelnen und das Zusammenleben der Menschen gut ist. Das ist das Thema der Ethik im weitesten Sinne des Wortes, in dem sie nicht nur nach den Zwecken fragt, die der einzelne sich setzen sollte – Nelson spricht dabei von der Tugendlehre oder der Ethik im engeren Wortsinn –, sondern – in der Rechtslehre – //5// auch nach den Maßstäben, an denen die Form menschlichen Zusammenlebens gemessen werden sollte.
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Dieses praktische Interesse ist die treibende Kraft auch in Nelsons For scherarbeit. Gerade dieses Interesse drängt ihn, die Ausbildung der Ethik als Wissenschaft zu fordern. Teilt er den Glauben des Sokrates, daß Wissen allein genüge, den Menschen sittlich zu machen? Keineswegs! Nelson weiß, daß ethisches Wissen, begriffliche Klarheit also über das, was gut und erstrebenswert ist, weder notwendig noch hinreichend ist, Menschen zu sittlichem Handeln zu bewegen. Auch ohne begriffliche Klarheit kann das lebendige sittliche Gefühl den Menschen über die Grenzen des blinden Eigennutzes erheben. Und auf der anderen Seite sichert solche Klarheit nicht dagegen, im eigenen Handeln von Trieben und Kräften bestimmt zu werden, die sich der Disziplin des mahnenden sittlichen Gefühls entziehen. Warum also das Bemühen, den Maßstab der strengen Wissenschaft an einen Bereich heranzutragen, in dem das Gefühl herrscht? Nelson antwortet: darum, weil es einen Konflikt der sittlichen Gefühle gibt. „Es kommt vor, daß, was der eine auf Grund seines Gefühls als das Höchste erstrebt, dem anderen auf Grund seines Gefühls als verabscheuungswürdig gilt. Ja, weit mehr: Es kommt vor, daß ein solcher Konflikt der Gefühle in unserer eigenen Person sich abspielt, daß wir hin- und hergerissen werden durch einander widerstreitende Gefühle, die einen Kampf mit einander führen.“ (V, 10) Und auf die Frage, wovon Wandlung und Zwiespalt der sittlichen Gefühle abhängen, findet er „als einen der allermächtigsten Hebel die Macht der Doktrinen, der ethischen Doktrinen und also der Versuche ethischer Theorien, ethischer Lehrgebäude. Gerade dieser Einfluß der Doktrinen, der ihnen die Herrschaft erobert auf dem Gebiet der Erziehung, auf dem Gebiet der Staatseinrichtungen, dieser Einfluß ist es, der die Gefühle in der einen oder anderen Richtung entwickelt. … Das sittliche Gefühlsleben der Menschen nimmt eine andere Wendung je nach dem Charakter der Doktrinen, unter deren Herrschaft seine Erziehung gestanden hat. … Und jene Lehre von der Machtlosigkeit der Doktrinen im Gebiet der Ethik, sie ist selber nichts anderes als eine Dok//6//trin, und zwar eine falsche, wie ein Blick auf die Tatsachen der Geschichte beweist. Wenn aber diese Lehre falsch ist, … dann kann es uns offenbar nicht gleichgültig sein, ob es nicht unter all den ethischen Doktrinen doch eine gibt, die sich mit wissenschaftlichen Methoden vor allen anderen auszeichnen läßt als die allein gültige und verbindliche, als eine solche Lehre, der dann, wenn einmal im Kampf
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der Meinungen Gründe entscheiden, der Sieg zufallen muß. Der tiefer denkende Mensch, der Überlegungen dieser Art anstellt, … kann nicht mehr stehenbleiben bei den bloßen sittlichen Gefühlen. Er wird suchen, einen tieferen und festeren Boden für seine Überzeugungen zu gewinnen, einen Boden, auf den er sich stellen muß, um sich freizumachen von der Herrschaft des Zufalls über die Bildung seiner sittlichen Überzeugungen und damit auch seiner sittlichen Entschließungen. Diesen Boden kann ihm nur die Wissenschaft liefern.“ (V, 10 f.) Selbst wenn aber dieses Unterfangen gelingt, wenn eine philoso phischwissenschaftliche Forschung eindeutig Rechenschaft geben kann über die Maßstäbe, die dem unverbogenen sittlichen Gefühl zugrunde liegen, so bleibt doch die zweite Frage: Was ist damit für die Verwirklichung des als gut Erkannten erreicht angesichts der Tatsache, daß auch das Wissen um das, was gut und was böse ist, keine Gewähr dafür bietet, daß der Mensch sich zum Guten entschließt? Die Auseinandersetzung mit dieser Frage durchzieht wie ein roter Faden das ganze System der Ethik, wie Nelson es entwirft. Der immer wiederkehrende methodische Leitgedanke beim Aufbau dieses Systems ist die Überlegung, daß es an keiner Stelle menschlicher Auseinandersetzung mit dem Guten eine prästabilierte Harmonie gibt zwischen dem, was faktisch geschieht, und dem, was ethisch-rechtlichen Anforderungen gemäß geschehen sollte. Es gibt allerdings auch keine prästabilierte Disharmonie zwischen beiden! Das Verhältnis zwischen dem, was geschieht, und dem, was geschehen sollte, bleibt nach Naturgesetzen zufällig. Es gibt weder ein Naturgesetz, nach dem das, was geschehen sollte, darum auch geschehen müßte, noch gibt es ein Gesetz, nach dem etwas darum, weil es geschehen sollte, nicht geschehen könnte. In immer neuen Formen stellt Nelson diesen Gedanken der praktischen Bedeutung ethischer Grundvorstellungen gegenüber und //7// schließt daraus auf inhaltliche Grundforderungen, die selber der Ethik angehören. So kommt er in der Tugendlehre zum Gebot des Charakters, das vom Menschen die Stiftung der Bereitschaft verlangt, dem als Pflicht Erkannten zu folgen, und in der Rechtslehre zu den Postulaten gewisser Grundformen menschlicher Beziehungen, die erst einen rechtlichen Verkehr ermöglichen. Darüber hinaus nötigt der gleiche Grundgedanke ihn dazu, über diese beiden Disziplinen hinauszugehen mit der Frage nach den Bedingungen ihrer Anwendbarkeit. So schließt sich an die Tugend lehre die Pädagogik an, die Lehre von der Erziehung des Menschen zum Guten. Und die Rechtslehre findet ihre Anwendung in einer Politik, die ihre Maßnahmen prüft an der Aufgabe, das öffentliche Leben den aufgestellten rechtlichen Forderungen zu unterstellen, unabhängig von dem Zufall, wie weit jeder einzelne aus eigener Einsicht und Bereitschaft freiwillig tut, was recht ist.
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In diesem Ansatz taucht die gleiche Vorstellung auf, die für Nelsons Forderung des wissenschaftlichen Aufbaus der Ethik maßgebend ist. Es soll etwas dem Zufall entzogen werden. In der Begründung jener Forderung ging es um den Zufall, dem die Bildung des sittlichen Gefühls eines Menschen ausgesetzt ist, die offensichtliche Beeinflussung dieses Gefühls durch Einwirkungen der verschiedensten Art, insbesondere durch die ethische Haltung und die herrschenden ethischen Überzeugungen der Umgebung, in der der Mensch heranwächst und sich entwickelt. Wissenschaftliche Kritik soll diesem Schwanken gegenüber einen Maßstab liefern für das, was echt, und für das, was verbogen ist. Im System der Ethik sucht Nelson dann planmäßig die Stellen auf, an denen zufällige Einflüsse die Entwicklung des menschlichen Handelns und der menschlichen Verhältnisse in Frage stellen, und leitet daraus die Aufgaben ab, durch bewußte Einwirkung die Entwicklung am objektiven Maßstab dessen, was gut ist, zu messen und sie zum Guten zu lenken. Gewiß, wir stehen, wenn dieses Werk der wissenschaftlichen Ethik gelingt, wieder nur vor der Aufgabe, die damit aufgewiesenen Maßstäbe im eigenen Leben und dem der Gesellschaft anzuwenden. Die Erfüllung dieser Aufgaben bleibt dem handelnden Menschen überlassen. Daher ist die wissenschaftliche Arbeit am Gebäude der Ethik auch nicht Selbstzweck für Nelson. Sie gibt ihm das Rüstzeug für die praktische Arbeit, der in den //8// letzten Jahren seines Lebens seine Kraft in erster Linie gewidmet war, eine Erziehungsarbeit ins Leben zu rufen und eine politische Organisation aufzubauen, die beide die Schaffung rechtlicher Zustände dem Zufall entziehen sollten. „Schwerer als den tiefsten Gedanken zu finden, ist es, den Menschen zu finden, der bereit ist, mit ihm ernst zu machen. Und was helfen uns die besten Gedanken ohne solche Menschen?“ So heißt es in einem Brief Nelsons, in dem er vorher berichtet hatte, unter welchen Schwierigkeiten er die Arbeit am Kernstück seiner Ethik, die Begründung des Sittengesetzes, zum Abschluß gebracht hatte. Und sein dreibändiges Werk über die Grundlagen der Ethik, dessen letzter Abschnitt die Frage erörtert, wie im öffentlichen Leben der Rechtszustand der Gesellschaft dem Zufall entzogen werden könne, klingt aus in dem Satz: „Ein Zufall nur bleibt unerläßlich, damit dieses Werk in Gang kommen kann: daß ein von hinreichender Einsicht in das Rechtsideal bestimmter Wille sich entschließt, es in Gang zu setzen.“ (VI, 517)
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Die Aufgabe der folgenden Untersuchungen ist es, in einer inneren Kritik der Nelsonschen Ethik und ihrer Begründung zu prüfen, ob und wieweit Nelson mit ihr dem Anspruch gerecht wird, den er an die Ethik stellt: den Boden zu gewinnen, auf dem der Mensch sich freimachen kann „von der Herrschaft des Zufalls über die Bildung seiner sittlichen Überzeugungen und damit auch seiner sittlichen Entschließungen.“
I.
Abschnitt Vom Ursprung des sittlichen Gefühls
Die entscheidende Grundlage, von der aus Nelson den Aufbau der Ethik unternimmt, ergibt sich für ihn in der Behauptung, daß es unmittelbare, wenn auch ursprünglich dunkle reine vernünftige Interessen gibt, und in der Begründung dieser Behauptung durch die „Kritik der praktischen Vernunft“. In zwei Abschnitten führt er diesen Nachweis. Der erste geht aus von den faktischen ethischen Urteilen, wie wir sie im täglichen Leben fällen, //9// und sucht die Gründe auf, auf die sich solche Urteile stützen, auch wenn sie impulsiv und gefühlsmäßig gefällt sind. Auch bei einem spontanen ethischen Urteil können wir uns nachträglich darauf besinnen, woran wir uns in unserer Stellungnahme faktisch orientiert haben. Auf diesem Weg der Abstraktion gelingt schrittweise eine Selbstverständigung des Menschen mit den eigenen ethischen Vorstellungen und Maßstäben, die ihn geleitet haben, auch wenn er sich ihrer zunächst nur in der Form ihrer Anwendung auf die vorliegende konkrete Situation bewußt war, ohne daß er abstrakt über sie hätte Rechenschaft geben können. Auf dem zweiten Teil des Weges, in der Theorie der praktischen Vernunft, sucht Nelson nach einer psychologischen Deutung dieses Phänomens des Gefühls, das sich in solchen ethischen Urteilen äußert, ja darüber hinaus aller der Vermögen, die den Menschen im Werten und im Handeln bestimmen. Dabei geht es um die Frage, ob sich für die im ersten Abschnitt aufgewiesenen ethischen Begriffe und Maßstäbe ein Rechtsgrund in der menschlichen Vernunft aufweisen läßt. Erhebt die menschliche Vernunft selber unmittelbar und damit unaufhebbar den Anspruch, der in diesen Maßstäben ausgesprochen wird? Nelson bejaht diese Frage: Nach seiner psychologischen Theorie des sittlichen Gefühls liegt ein solcher Anspruch der Vernunft vor, obwohl wir uns seiner nicht unmittelbar bewußt sind, sondern ihn nur im denkenden Zergliedern faktischer Urteile vorfinden. In der Deduktion des Sittengesetzes – dem wohl schwierigsten Abschnitt seiner Kritik – kommt er zu dem Ergebnis, daß der dem sittlichen Gefühl zugrunde liegende unmittelbare
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Anspruch der Vernunft kein anderer sein kann als der aufgewiesene Maßstab: das Gebot der Gerechtigkeit, und das heißt: der kategorische Imperativ, die von unserer Handlung betroffenen Interessen anderer bei der Entscheidung zu dieser Handlung so zu berücksichtigen, als ob sie auch unsere eigenen seien. In einer entsprechenden Deduktion weist er daneben das Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung auf, das dem Menschen Richtlinien für die positiv wertvolle Gestaltung des eigenen Lebens zeigt. Ich beschränke mich im folgenden im wesentlichen auf das erste, auf Nelsons Untersuchung des sittlichen Gefühls also, im Gegensatz zu der idealer Antriebe und ästhetischer Gefühle. Ich will hier zunächst weder auf die tiefliegenden Schwierigkeiten der //10// Deduktion, noch auf die des mit ihr begründeten Sittengesetzes eingehen. Fragen wir erst, ob, wenn diese Untersuchung im übrigen zugestanden werden kann, mit ihr die Aufgabe gelöst ist, die Nelson der Kritik der praktischen Vernunft stellt. Hat er damit den Grund gelegt für die Ethik, die als die praktische Wissenschaft uns beim Handeln leitet, und zwar bei einem Handeln, das dem Zufall entzogen ist, ob seine Zwecke die rechten sind? Es spricht manches dafür, daß dieses Ziel damit erreicht ist. Wenn es gelingt, die Grundsätze der Ethik durch die Aufweisung eines unmittelbaren Anspruchs der praktischen Vernunft zu begründen, dessen Gehalt sie nur wiedergeben, dann scheint der Weg frei zu sein für die Anwendung dieser Grundsätze. Und doch wäre für das eigentliche Anliegen Nelsons das Entscheidende noch nicht gewonnen. Solche Grundsätze reichen für sich allein bestenfalls hin, den systematischen Aufbau ethischen Wissens zu ermöglichen. Wir haben aber bereits festgestellt, daß für Nelsons System der Ethik der Gedanke maßgebend ist, daß ethisches Wissen allein nicht genügt, den Menschen zum ethisch guten Handeln zu bewegen. Soll uns die Theorie der Vernunft also wirklich den Boden aufweisen, auf dem der Mensch sich freimachen kann von der Herrschaft des Zufalls nicht nur über die Bildung seiner sittlichen Überzeugungen, sondern auch über die seiner sittlichen Entschließungen, dann muß sie uns mehr in die Hand geben als die Begründung ethischen Wissens. In der Tat geht Nelson in seiner Theorie der praktischen Vernunft davon aus, „die praktischen Vermögen unseres Geistes zu untersuchen“, die Vermögen, die sich aufs Handeln beziehen. Zu ihnen gehört der Wille. „Wir müssen aber in den Gegenstand unserer Betrachtungen mehr einbeziehen als das bloße Vermögen zu handeln: wir müssen auch die B estimmungsgründe des Willens untersuchen. Wir finden dann, daß die Bestimmungsgründe des Willens nicht in bloßen Erkenntnissen liegen können. Sie liegen in dem, was man die Antriebe des Willens nennt. Zur
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Möglichkeit eines Antriebes wird mehr erfordert als die Erkenntnis eines Gegenstandes. Damit eine Vorstellung zu einem Antriebe werden kann, muß zu der Vorstellung des Gegenstandes das hinzukommen, was man das Interesse an dem Gegenstande nennt.“ (IV, 344) //11//Die Aufgabe, die er der Theorie der Vernunft stellt, ist demnach die, ein unmittelbares, wenn auch ursprünglich dunkles sittliches Interesse aufzuweisen, über das wir durch Nachdenken klar werden können. Nelson nennt ein solches Interesse ein „diskursives“ Interesse, und er ist überzeugt, diese Aufgabe durch die Deduktion gelöst zu haben: „Durch fortgesetzte Ausschließung aller anderen Möglichkeiten haben wir gefunden, daß dem sittlichen Gefühl ein unmittelbares reines, diskursives Interesse zugrunde liegt.“ (IV, 499) Die praktische Bedeutung dieser Behauptung tritt im systematischen Aufbau besonders hervor bei der Frage, woran die sittliche Erziehung im Menschen anknüpfen und appellieren könne: „Bei der Ausbildung des sittlichen Interesses handelt es sich also um gar nichts anderes als um eine Aufklärung des Menschen über das eigene wahre Interesse. Nur eine solche Methode wird pädagogisch Erfolg haben; denn da die Pflicht nicht mehr verlangt, als dem wahren Interesse zu folgen, soll sie ihm auch nicht anders vorgestellt werden.“ (V, 469 f.) Es kommt hier zunächst darauf an, aufzufassen, was Nelson selber unter „Interesse“ verstanden hat im Gegensatz zur „Erkenntnis“, um dann zu prüfen, ob ihm – wiederum vorerst unter der Annahme, daß seine psychologischen Erörterungen im übrigen zutreffen – die Aufweisung nicht nur unmittelbarer sittlicher Erkenntnis, sondern die eines unmittelbaren sittlichen Interesses gelungen ist. Seine Behauptung: „Zur Möglichkeit eines Antriebes wird mehr erfordert als die Erkenntnis eines Gegenstandes“ gibt darauf noch keine eindeutige Antwort. Je nach dem, ob wir in diesem Satz betonen: es wird mehr erfordert als die Erkenntnis eines Gegenstandes, oder: es wird mehr erfordert als die Erkenntnis eines Gegenstandes, drängen sich zwei verschiedene Deutungen auf. Im ersten Fall liegt der Nachdruck auf dem, was erkannt wird, ein Gegenstand nämlich, und es fragt sich, ob wir auch etwas anderes erkennen können als Gegenstände und ob solche anderen Erkenntnisse unter den Begriff des Interesses fallen
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könnten. Diese Deutung wird nahegelegt durch die Überlegung, mit der Nelson unmittelbar im Anschluß an die zitierte Stelle seinen Gedanken fortführt: „Man kann sich ohne Widerspruch ein Wesen denken, das auf das //12// bloße Vermögen der Erkenntnis des Daseins der Dinge beschränkt wäre, und das über seine Erkenntnis des Daseins der Dinge hinaus kein Interesse am Dasein oder Nichtsein irgend welcher Dinge nehmen könnte.“ (IV, 344 f.) Der Ausdruck „Erkenntnis eines Gegenstandes“ wird hier ersetzt durch den anderen „Erkenntnis des Daseins der Dinge“. Und da liegt es nahe, und zwar gerade im Sinn Nelsonscher Unterscheidungen, der Erkenntnis des Daseins der Dinge die Erkenntnis ihres Wertes gegenüberzustellen und sich zu fragen, ob eine solche Werterkenntnis selber schon ein Interesse am Dasein der Dinge bedeutet. Betonen wir dagegen: Es wird mehr erfordert als die Erkenntnis eines Gegenstandes, dann scheint der Satz zu besagen, daß bloße Erkenntnis noch nicht zum Antrieb für den Willen werden könne, unabhängig davon, ob sie sich auf das richtet, was da ist und faktisch geschieht, oder auf das, was wertvoll ist und geschehen sollte. Bei dieser Deutung müssen wir also unterscheiden zwischen der bloßen Erkenntnis eines Wertes und dem Interesse an ihm. Von der Entscheidung zwischen diesen beiden Deutungen hängt die Antwort auf unsere Frage ab. Wenn Werterkenntnis selber schon ein Interesse ist, dann genügt in der Tat zur Aufweisung des sittlichen Interesses der Nachweis, daß unsere Vernunft unmittelbar den Anspruch erhebt, der im Sittengesetz ausgesprochen wird. Wenn dagegen Erkenntnis und Interesse verschiedene Verhaltensweisen sind, dann muß, zur Aufweisung eines sittlichen Interesses, dieser Nachweis ergänzt werden durch den anderen, daß dieser Vernunftsanspruch mehr ist als die Erkenntnis des Sittengesetzes, daß ihm selber schon die Merkmale zukommen, die das Interesse von einer bloßen Erkenntnis unterscheiden. Nelsons eigene Erörterung des Begriffs des Interesses entscheidet diese Alternative eindeutig im Sinn der zweiten Möglichkeit. Halten wir uns an seine eigenen Worte: „Nun müssen wir uns bestimmter darüber erklären, was wir unter dem Ausdruck ›Interesse‹ begreifen wollen. Da es sich hier um eine elementare Qualität handelt, kann dies nicht durch eine Definition geschehen. Wir müssen also versuchen, das Eigentümliche des Interesses durch Beispiele deutlich zu machen, sowie durch Gegenüber//13//stellung anderer Phänomene, denen das Eigentümliche des Interesses fehlt. … Ich sagte vorhin,
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das Interesse sei dasjenige, wodurch Vorstellungen zu Antrieben werden. Nur insofern Vorstellungen mit Interessen verbunden sind, wirken sie auf den Willen. Hier haben wir also ein bestimmtes Kausalverhältnis, das des Interesses zum Willen, wodurch wir schon eine Charakteristik für das, was wir Interesse nennen, erhalten. Was auf den Willen wirkt, ist immer ein Interesse. Aber dieser Satz darf nicht als eine Definition des Interesses angesehen werden; denn wir wissen noch nicht, ob er sich auch umkehren läßt. … Ich verstehe unter ›Interesse‹ alles das, was nach dem allgemeinen Sprachgebrauch unter diesem Wort verstanden wird. Man bedient sich in der Psychologie des Ausdrucks ›Interesse‹ oft in engerem Sinne. Ich finde es dagegen ratsam, ihn in dem weitesten irgend möglichen Sinne zu gebrauchen. Denn wir haben zwar manche Worte, die engere Begriffe bezeichnen; es würde uns aber ein Wort fehlen, das den weiteren Begriff bezeichnet, und ein solches brauchen wir, um uns über den Begriff, auf den es uns hier ankommt, zu verständigen. … Jedes Wohlgefallen ist nach meiner Bezeichnung ein Interesse. Ich verstehe also unter ›Interesse‹ nicht nur das, was man Lust oder Unlust nennt. An den Phänomenen der Lust oder Unlust läßt sich jedoch besonders leicht das Eigentümliche des Interesses überhaupt aufweisen. Diese Phänomene zeigen nämlich, wie schon der Sprachgebrauch andeutet, eine Gegensätzlichkeit oder Polarität des Verhaltens. Der Lust steht die Unlust gegenüber, dem Wohlgefallen das Mißfallen, der Neigung die Abneigung, der Freude das Leid. Diese Polarität ist für das Interesse wesentlich. Sie findet sich aber andererseits auch nur bei dem Interesse. Eben darum kann sie uns als ein Kriterium des Interesses dienen. … Auf dieses Kriterium muß ich etwas näher eingehen; denn es kann in der Psychologie nicht als allgemein zugestanden gelten. Man hat das Kriterium bisher allgemein verkannt infolge einer Verwechslung dessen, was ich als Inhalt und Gegenstand eines psychischen Aktes unterscheide. Ich nenne den Gegenstand eines psychischen Aktes //14// das, worauf er sich als solcher bezieht. Wir erkennen etwas, wir interessieren uns für etwas, wir wollen etwas. Dieses Etwas, was wir erkennen, wofür wir uns interessieren und was wir wollen, müssen wir vom Erkennen, Interessieren und Wollen selber unterscheiden. … Nun behaupte ich, daß unter den psychischen Akten das Interesse und nur das Interesse eine Polarität des Verhaltens zeigt, eine Polarität, die sich freilich nur durch Beispiele bezeichnen, nicht aber begrifflich definieren läßt. Dem Unterschied der Lust und Unlust, des Gefallens und Mißfallens, der Neigung
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und Abneigung, der Freude und des Leides entspricht nicht ein analoger Unterschied in den Gebieten des Erkennens und des Wollens. Man hat dies zwar dennoch behauptet. Man hat eine Analogie zu dieser Polarität im Gebiet des Erkennens vorzufinden geglaubt, nämlich in dem Unterschied der bejahenden und verneinenden Urteile. Und man hat sie ebenso im Gebiet des Wollens vorzufinden geglaubt in dem Unterschied eines sogenannten positiven und negativen Wollens. Wenn wir aber genauer zusehen, worin der Unterschied zwischen bejahenden und verneinenden Urteilen besteht und worin der angebliche Unterschied des positiven und negativen Wollens besteht, so zeigt sich, daß er das Verhalten des Urteilens und Wollens selbst überhaupt nicht betrifft. Ein Urteil ist bejahend, wenn es einen positiven Sachverhalt behauptet, und verneinend, wenn es einen negativen Sachverhalt behauptet. Der Unterschied betrifft also das, worauf sich das Urteil bezieht, und nicht das Verhalten des Urteilens als solches. … Ebenso verhält es sich beim Wollen. Wem es Vergnügen macht, von positivem und negativem Wollen zu sprechen, mag dies vergönnt sein. Verständigerweise kann damit aber nichts anderes gemeint sein als entweder der Unterschied des Wollens und Nicht-Wollens, oder der Unterschied des Wollens, daß etwas geschehe, und des Wollens, daß es nicht geschehe. Der Unterschied betrifft also wieder nicht das Verhalten des Wollens selbst. … Beim Interesse verhält es sich ganz anders. Der Unterschied be trifft hier nicht nur den Gegenstand, sondern Lust und Unlust, Neigung und Abneigung, Freude und Leid sind wirklich innerlich verschiedene Weisen unseres Verhaltens selber. Wir können zwar hier //15// auch einen dem Unterschiede des Verhaltens entsprechenden Unterschied der Gegenstände bezeichnen, aber dieser Unterschied ist von ganz anderer Art als der des Positiven und Negativen auf den Gebieten des Urteilens und Wollens. Wir bezeichnen den hier in Betracht kommenden Unterschied der Gegenstände des Interesses dadurch, daß wir ihnen einen Wert oder Unwer t zuschreiben. Der Unwert ist aber etwas anderes als das bloße Fehlen eines Wertes. Er ist selber etwas positiv Bestimmtes, wenn auch dem positiven Wert Entgegengesetztes, so wie etwa die Qualität des Kalten der des Warmen positiv entgegengesetzt ist.“ (IV, 346 ff.) Es könnte scheinen, als sei es ein recht formales Kennzeichen, durch das hier das Interesse im Gegensatz zu anderen psychischen Grundphänomenen ausgezeichnet wird. Bei genauerer Prüfung wird man aber zugeben müssen, daß mit dieser Charakterisierung des Interesses der entscheidende Wesenszug getroffen
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ist, der auch für unsere Frage, was den Willen als Antrieb bestimmen könne, ausschlaggebend wird. Was in dieser Polarität des Interesses spürbar wird, ist die persönliche Anteilnahme an dem, wofür wir uns interessieren. Wer sich für etwas interessiert, ist innerlich beteiligt. Diese Anteilnahme, dieses Beteiligtsein kann ein Sich-Hinwenden oder Sich-Abwenden sein, ein Billigen oder Mißbilligen, ein Streben oder Widerstreben. Der polare Charakter, den Nelson als Kriterium des Interesses nimmt, wird also gerade in diesem Moment der Anteilnahme und des Beteiligtseins deutlich. Mit diesem Wesenszug der persönlichen Anteilnahme hängt eng ein anderer Zug zusammen, der ebenfalls für Nelsons Untersuchungen entscheidend wird und auf den darum hier schon hingewiesen werden soll. Diese Anteilnahme kann stärker oder schwächer sein. Wir können daher nach dem Grad der Stärke eines Interesses fragen. Auch diese Frage hat weder beim Urteilen und Erkennen, noch beim Entschluß und Willensakt einen Sinn. „Man kann aber nicht von größerer oder geringerer Stärke eines Urteils reden“, sagt Nelson. (IV, 596) Urteile können sich nach dem Grad ihrer Gewißheit unterscheiden. Das ist aber etwas anderes als der Grad der Stärke, mit dem wir im Interesse an etwas Anteil nehmen. Auch bei Entschlüssen ist die Frage nach dem Grad ihrer Stärke nicht angemessen. Man kann zwar in einem gewissen Sinn von kraftvollen oder schwäch//16//lichen Entschlüssen sprechen. Damit ist aber im Grunde nichts gemeint, was den einzelnen Entschluß selber charakterisiert, sondern wir beziehen uns damit auf den Unterschied, den wir zwischen einem willensstarken und einem willensschwachen Menschen machen. Darunter aber verstehen wir nicht so sehr die Arten der Entschlüsse, die der eine und die der andere faßt, sondern entweder den verschiedenen Grad der Beharrlichkeit, mit dem der eine und der andere an einmal gefaßten Entschlüssen festhält, oder aber das Maß der inneren Bereitschaft, überhaupt Entschlüsse zu fassen. Gewiß kann die Art, in der ein Mensch im Leben handelnd eingreift, uns auch darüber etwas verraten, wie stark er innerlich beteiligt ist an dem, was um ihn herum geschieht. Aber auch damit erfahren wir nicht etwas über die besondere Art seiner Entschlüsse, sondern über die Bestimmungsgründe, die ihn zum Entschluß bewegen, und das heißt wieder: über die Art und Stärke seiner Interessen. Interesse und Erkenntnis sind damit in der Tat als qualitativ verschiedene Verhaltensweisen charakterisiert. Man könnte höchstens fragen, ob sich denn nicht an den Erkenntnissen, die sich auf den Wert einer Sache beziehen im Gegensatz zu deren Dasein, auch das charakteristische Merkmal des Interesses findet. Nelson spricht davon, daß wir dem Gegenstand eines Interesses einen Wert oder Unwert zuschreiben. Läßt sich das umkehren, so daß wir sagen können: Da, wo wir einer Sache einen Wert oder Unwert zuschreiben, wo wir also etwa ein Werturteil fällen, da liegt auch immer ein Interesse vor? Mit anderen Worten: Ist die in einem
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Werturteil ausgesprochene Wertung ein Interesse in dem hier aufgewiesenen Sinn? Darauf antwortet Nelson selber: „Ob man die in dem Werturteil enthaltene Wertung ihrerseits ein Interesse nennen soll, ist an und für sich eine bloß terminologische Frage und kann als solche nur nach Zweckmäßigkeitsrücksichten entschieden werden. Wenn man das Moment des Wertens für die Bestimmung des Begriffs des Interesses als hinreichend ansieht, muß man auch das Werturteil als ein Interesse bezeichnen. Es wird aber dadurch über das Verhältnis des Werturteils zu den Interessen im engeren Sinne, d.h. zu denjenigen Wertungen, die nicht die Form eines Urteils haben, nichts ausgemacht. Der Unterschied, ob ein Interesse die Form eines Urteils hat oder nicht, bildet ein Problem, über das //17// wir hier nichts im voraus entscheiden dürfen und das es als wichtig erscheinen läßt, diesen Unterschied auch terminologisch festzuhalten. Wir wollen deshalb das Werturteil ein uneigentliches Interesse nennen, im Unterschied von den eigentlichen Interessen, d.h. denjenigen, die nicht die Form eines Urteils haben. Der Grund, weshalb ich das Werturteil als ein uneigentliches Interesse bezeichne, liegt darin, daß das Kriterium der Polarität darauf nicht anwendbar ist. Die Unterscheidung der Werturteile danach, ob sie ihrem Gegenstand einen Wert oder Unwert beilegen, betrifft nur den Gegenstand der Werturteile. Das Verhalten des Urteilens selber zeigt hier aber so wenig eine Polarität wie sonst, und insofern ist in der Tat das Werturteil kein eigentliches Interesse.“ (IV, 351 f.) Das Werturteil, in dem wir das Sittengesetz denken, ist demnach kein eigentliches Interesse, und das heißt: es ist kein Interesse in dem Sinn, der durch das von Nelson angegebene Kriterium gekennzeichnet ist. Und das ist auch klar. Es kann jemand dieses Sittengesetz denken, ja er kann ihm zustimmen und es für richtig halten, ohne ihm damit die persönliche und lebendige Anteilnahme entgegenzubringen, die das Kennzeichen des eigentlichen Interesses ist. Ist nun das ursprünglich dunkle reine Vernunftinteresse, das, nach Nelsons Behauptung, dem sittlichen Gefühl zugrunde liegt und dessen Inhalt im Sittengesetz ausgesprochen wird, selber ein eigentliches Interesse oder ein uneigentliches? Ist es ein Interesse im Sinn des Nelsonschen Kriteriums? Nelson stellt sich diese Frage nicht. Halten wir uns nur an seine Untersuchungen in der Theorie des sittlichen Gefühls und insbesondere in der Deduktion des Sittengesetzes, so müssen wir jedenfalls feststellen, daß sie keinen Versuch enthalten, das aufgewiesene Interesse als eigentliches Interesse zu erweisen, d.h. zu zeigen, daß diesem Interesse das Merkmal der Polarität zukommt.
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Ja, wir können mehr sagen: Beim Übergang zur Kernaufgabe der Deduktion, das Gebot der Gerechtigkeit als den Inhalt des unmittelbaren sittlichen Interesses zu erweisen, formuliert Nelson das Ziel der kommenden Untersuchungen nur so, daß hier die Grundurteile der Ethik dadurch begründet werden sollen, daß in einer unmittelbaren Erkenntnis ein Grund für sie aufgewiesen wird. Er fügt dann hinzu: „Wenn ich hier von einer unmittelbaren Erkenntnis spreche, so ma//18// che ich dabei von dem Wort ›Erkenntnis‹ in einem weiteren Sinne Gebrauch, wonach die Erkenntnis dem Interesse nicht entgegengesetzt ist, wonach es vielmehr möglich wird, das sittliche Interesse selbst als eine Art der Erkenntnis zu bezeichnen. … Man trägt auch sonst kein Bedenken, von sittlicher Erkenntnis zu sprechen; aber freilich denkt man dabei gewöhnlich nur an die sittlichen Urt eile. Sofern indessen diesen Urteilen ein objektives Interesse zugrunde liegt, d.h. ein solches, das unmittelbar auf objektive Geltung Anspruch macht, und das uns berechtigt, von einer sittlichen Wahrh eit zu sprechen, kann man dieses Interesse als den Erkenntnisg rund der sittlichen Urteile und insofern füglich selbst als eine Erkenntnis bezeichnen. Wir bezeichnen damit das Moment an dem sittlichen Interesse, auf das es uns hier ankommt, nämlich seine objek tive Bedeutung, die ihm als Erkenntnisgrund der sittlichen Wahrheit innewohnt. Versteht man das Wort in diesem weiteren Sinne, so ist es kein Widerspruch, von einer „praktischen Erkenntnis“ zu sprechen. Das Unterscheidende liegt nur darin, daß die unmittelbare Erkenntnis, mit der wir es hier zu tun haben, als praktische, sich auf den Wert der Dinge bezieht und nicht, wie die spekulative, auf ihr Das ein.“ (IV, 504 f.) Wenn sich aber wirklich das sittliche Interesse nur dadurch von einer spekulativen Vernunfterkenntnis unterscheidet, daß es sich auf den Wert statt auf das Dasein der Dinge bezieht, dann ist es gewiß ebensowenig ein eigentliches Interesse wie das Werturteil, in dem wir das Sittengesetz aussprechen. Nun haben wir bereits festgestellt, daß der Unterschied zwischen dem eigentlichen und dem uneigentlichen Interesse entscheidend ist bei der Frage, was den Willen zum Handeln bewegen kann. Nur dem eigentlichen Interesse kommt das Moment der persönlichen Anteilnahme zu, die in der Polarität des Interesses ihren Ausdruck findet. Ohne persönliche Anteilnahme, ohne wirkliches Beteiligtsein aber ist ein Antrieb, der den Willen bestimmt, nicht möglich. Das ist auch durchaus Nelsons Meinung. Und so kommt er in seiner „Untersuchung des Wollens“, die sich
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an die „Untersuchung der Interessen“ anschließt, erneut auf dieses auszeichnende Merkmal des eigentlichen Interesses zurück. //19//„Der Ausdruck ›Wollen‹ wird in verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Man versteht unter Wollen oft nur das B egehren einer Sache. Wollen ist in diesem Sinne gleichbedeutend mit Wünschen, Verlangen, Erstreben. Alles, was man Drang, Hang, Trieb, Begierde, Bedürfnis nennt, gehört in diesem Sinne zum Wollen. In dieser Bedeutung ist das Wollen aber nur eine Äußerung des Interesses und kein eigenes, ursprüngliches Vermögen, das zu dem Vermögen des Interesses noch hinzukäme, wie manche Psychologen angenommen haben. Was zum Interesse noch hinzukommt, um das Handeln zu ermöglichen, ist erst der Wille, auf den das Interesse wirkt, und dessen Äußerung wir in bestimmterer Bedeutung, zur Unterscheidung vom bloßen Begehren, Entschluß nennen. … In der Bedeutung des Wortes ›Wollen‹, in der es mit dem Worte ›Begehren‹ denselben Sinn hat, spricht man ferner auch von Unwillen oder Widerwillen. Dieses bedeutet dann nur soviel wie Abneigung oder Widerstreben. Beim Entschluß gibt es keine solche Polarität des Verhaltens. Wir können uns zu etwas entschließen oder auch nicht dazu entschließen, wir können uns zu einer Handlung entschließen und wir können uns auch zu der Unterlassung der Handlung entschließen, aber einen negativen Entschluß in einem anderen Sinne gibt es nicht. Beim Begehren gibt es dagegen wirklich einen eigenen dem positiven Begehren entgegengesetzten Akt. Es zeigt sich als Streben und Widerstreben, Wünschen und Verwünschen und wie die ähnlichen Ausdrücke lauten. Das Widerstreben ist weder nur das Unterlassen eines Strebens noch auch nur das Streben nach einem Unterlassen. Ich habe schon früher gezeigt, daß diese Polarität beim Begehren auf seine Zugehörigkeit zum Interesse schließen läßt. Auch das Verhältnis von Antrieb und Begehrung hatten wir schon klargestellt. Im engeren Sinne des Wortes bedeutet Antrieb dasselbe wie Begehrung. Das Wort ›Antrieb‹ hat aber einen weiteren Sinn, wonach alles ein Antrieb genannt werden kann, was uns zum Handeln antreibt. In diesem Sinne ist jedes Interesse, sofern es auf den Willen wirkt, ein Antrieb. Aber auch eine bloße Vorstellung wird zum Antrieb, sofern sie nur mit einem solchen Interesse an ihrem Gegenstand verbunden ist. Antriebe brauchen hiernach nicht not//20//wendig Begehrungen zu sein. Sie können auch bestehen in Lust- oder Unlustgefühlen oder in bloßen Wertgefühlen ästhetischer oder sittlicher Art oder auch in bloßen Vorstellungen, auf deren Gegenstand sich ein solches Gefühl richtet. Wenn aber ein solcher
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Antrieb nicht selbst ein Begehren ist, kann er nur mittelbar auf den Willen wirken, nämlich nur durch Vermittlung eines Begehrens. Antriebe sind also ohne Begehrungen unmöglich.“ (IV, 591 f.) Jeder Antrieb ist danach entweder selber ein Begehren und damit ein eigentliches Interesse, oder er enthält doch mindestens ein eigentliches Interesse. Wie wichtig diese Charakterisierung des Antriebs als eines eigentlichen Interesses für den gesamten Bau der Nelsonschen Ethik ist, geht daraus hervor, daß Nelson die Antriebe nach ihrer Stärke unterscheidet und es als ein Naturgesetz ansieht, daß jeweils der stärkste Antrieb den Willen bestimmt. Nun spricht aber Nelson von sittlichen Antrieben und meint damit solche, die dem aufgewiesenen unmittelbaren sittlichen Interesse, und ihm allein, entspringen. Er setzt damit stillschweigend voraus, daß dieses aufgewiesene sittliche Interesse ein eigentliches Interesse ist, d.h. daß ihm das Merkmal der Polarität, der persönlichen Anteilnahme zukommt. Hier klafft also zum mindesten in Nelsons Beweisführung eine Lücke. Das, was er beim Aufbau der Ethik als erwiesen voraussetzt, hat er in der Kritik der Vernunft nicht nachgewiesen. Diese Lücke läßt sich aber auch nicht schließen. Denn das Merkmal der Polarität und damit der persönlichen Anteilnahme ist nicht vereinbar mit dem Charakter des reinen Interesses, in dem Nelson den Grund des sittlichen Gefühls aufzuweisen sucht. Nelson setzt das reine Interesse dem sinnlichen entgegen und erklärt: „Unter einem sinnlichen Interesse verstehe ich ein solches, dessen Besitz von den Umständen abhängt, unter einem reinen Interesse ein solches, dessen Besitz nicht von den Umständen abhängt, sondern durch die Natur des Geistes selbst bestimmt ist. Nur das B ewußtsein um ein reines Interesse kann von den Umständen abhängen, nicht aber das reine Interesse selbst. Die Eigenschaft unseres Geistes, wodurch ihm der ursprüngliche Besitz eines Interesses zukommt, nennen wir die reine praktische //21// Vernunft, die Eigenschaft dagegen, hinsichtlich des Besitzes bestimmter Interessen von den Umständen abzuhängen, praktische Sinnlichkeit. … Nur unter der Bedingung der Existenz reiner praktischer Vernunft ist eine zureichende Begründung praktischer Gesetze möglich. Praktische Gesetze sind allgemeingültige Werturteile, d.h. solche, die für alle Gegenstände einer bestimmten Art gelten. Von der Beurteilung einzelner Gegenstände ist aber kein schlüssiger Übergang zu einem streng allgemeingültigen Urteil möglich. Soll daher die Gültigkeit eines praktischen
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Gesetzes mit Grund behauptet werden, so muß es ein Interesse geben, das sich unmittelbar auf die Klasse von Gegenstände bezieht, für die das Gesetz gilt, und das also selbst schon die Form der Allgemeinheit an sich trägt. Ein solches Interesse kann aber, da es vom Gegebensein der einzelnen Gegenstände unabhängig ist, nur ein reines Interesse sein.“ (IV, 367) Allgemeine Werturteile richten sich als solche nicht unmittelbar auf einen Einzelfall, sondern auf die Gesamtheit der Fälle, die ein bestimmtes Merkmal gemeinsam haben. Wenn jemand Lügen für Unrecht hält, so verurteilt er damit alle Lügen, und wir werden es als eine Inkonsequenz empfinden, wenn er in einem konkreten Fall eine Ausnahme macht und eine Lüge gut heißt. Man sagt zwar: „Keine Regel ohne Ausnahme!“, aber damit ist im Grunde nur behauptet, daß es streng allgemeingültige Regeln nicht gebe, sondern daß anscheinend allgemeingültige Sätze in Wahrheit nur Verallgemeinerungen seien, bei denen offenbleibt, wie weit sie berechtigt sind. Ob das der Fall ist, brauchen wir hier nicht zu entscheiden. Durch solche Verallgemeinerungen werden wir sicher nie zu streng allgemeingültigen Urteilen kommen, die jede Ausnahme mit Sicherheit ausschließen. Insofern hat Nelson recht: streng allgemeingültige Werturteile können, wenn überhaupt, dann nur begründet werden durch eine unmittelbare und damit unerschütterliche Wert überzeugung, die selber schon den Charakter der Allgemeingültigkeit hat, d.h. die sich nicht auf Einzelgegenstände oder -vorgänge richtet, sondern von vornherein auf die Klasse aller derer, die in einem bestimmten Kriterium miteinander über einstimmen. Ebenso klar aber ist, daß eine solche unmittelbare Wertüberzeugung //22// kein eigentliches Interesse sein kann. Die persönliche Anteilnahme, die das eigentliche Interesse von der bloßen Werterkenntnis und dem Werturteil unterscheidet, richtet sich immer auf konkrete Einzelfälle. Wer sich über eine Lüge empört, wendet sich gegen die bestimmte Lüge, deren Zeuge er war oder von der er erfahren hat. Aber er empört sich nicht über die Klasse aller möglichen Lügen. Das bloße Werturteil: „Diese Lüge ist ein Unrecht!“ kann zwar seinen Grund haben in der allgemeinen Überzeugung, daß jede Lüge Unrecht sei. Die Empörung über die Lüge aber hat gewiß nicht ihren Grund in einer Empörung über alle Lügen. Gewiß kann man von einem Menschen sagen, daß er ein lebendiges Interesse an Wahrhaftigkeit oder Gerechtigkeit habe und man meint damit eigentliche Interessen und persönliche Stellungnahme, persönliches Beteiligtsein. Man denkt dabei an einen Menschen, der Unwahrhaftigkeit und Ungerechtigkeit nicht hinnimmt und duldet und auf dessen Aufrichtigkeit und Sachlichkeit man sich verlassen kann. Aber gerade das bedeutet, daß man einen solchen Menschen durch sein Verhalten in konkreten Lebenssituationen kennzeichnet. Selbst bei dem Fanatiker einer Theorie gelten
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seine eigentlichen Interessen den konkreten Vorkommnissen, auf die er seine Theorie anwendet und die er seiner Theorie gemäß zu gestalten versucht. Nie aber gehört seine Hingabe, seine Liebe, seine Leidenschaft, sein Eifer der abstrakten Klasse aller Ereignisse, die mit seiner Theorie im Einklang sind oder von ihr verworfen werden. Mit all dem soll nicht bestritten werden, daß solche Menschen sich durch allgemeine Wertüberzeugungen leiten lassen können, wohl aber, daß ihr Verhalten und ihre lebendige persönliche Anteilnahme an dem, was geschieht, sich allein aus solchen allgemeinen Wertüberzeugungen verstehen und auf sie allein zurückführen lasse. Auch die Frage nach dem Grad der Stärke der Interessen, die dem eigentlichen Interesse gegenüber angemessen ist, eben weil die in ihm liegende persönliche Anteilnahme am Geschehen stärker oder schwächer sein kann, verliert einem reinen Interesse gegenüber jeden Sinn. Den Erkenntnissen a priori gegenüber, denen der theoretischen und denen der praktischen Vernunft, können wir nur fragen, ob es sie gibt und ob sie sich aufweisen lassen, nicht aber, ob sie stark oder schwach sind. Und so ist es auch allein die Existenzfrage, die Nelson untersucht. //23// Daraus aber folgt, daß Nelsons Deduktion, selbst wenn wir ihre Unter suchungen im übrigen zugestehen, nicht weiterführen kann als zur Aufweisung einer praktischen Erkenntnis a priori, die nach Nelsons eigenem strengem Sprachgebrauch nicht als reines Interesse bezeichnet zu werden verdient. Ihr fehlt das entscheidende Merkmal, durch das Nelson das Interesse kennzeichnet. Die Zurückführung sittlicher Antriebe, denen Nelson dieses Merkmal zuspricht, allein auf ein unmittelbares reines Interesse, als den Grund ihrer Möglichkeit, ist also nicht gelungen und kann nicht gelingen.
II.
Abschnitt Reine und sinnliche Interessen
Nelsons Untersuchung des sittlichen Gefühls geht seltsame Wege, um all das auszuschalten, was, vom Merkmal des eigentlichen Interesses her, seiner Theorie den Aufstieg zu der Behauptung des reinen sittlichen Interesses, das als solches kein eigentliches Interesse mehr ist, versperren könnte. Die darin liegende Schwierigkeit ist ihm keineswegs entgangen; er setzt sich in langen Erörterungen mit ihr auseinander. Es lohnt sich daher, auf diese Erörterungen noch einzugehen, um nach dem tieferen Grund des Fehlers zu suchen. Das sittliche Gefühl soll auf ein reines sittliches Interesse als seinen Grund zurückgeführt werden. Dieses reine sittliche Interesse ist kein eigentliches Interesse
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und reicht infolgedessen auch nicht hin, ein eigentliches Interesse zu begründen. Und so finden wir Nelson in der Tat bemüht, auch dem sittlichen Gefühl den Charakter des eigentlichen Interesses abzusprechen. Aber wie ist das möglich, wenn wir an die Äußerungen des Gewissens denken, an die Gefühle der Achtung, Verachtung, Entrüstung, die Nelson als Beispiele für das sittliche Gefühl nennt? Nelson antwortet mit dem Hinweis auf eine Mehrdeutigkeit, die dem Ausdruck „Gewissen“ anhaftet. Auf der einen Seite sprechen wir von der Stimme des Gewissens und meinen damit entweder das mahnende Gewissen, das vor einer Handlung warnt oder zu einer Handlung auffordert, oder das gute bzw. schlechte Gewissen, das zustimmend oder ablehnend //24// nach einer Handlung auftritt. Nelson grenzt von diesem Sprachgebrauch einen anderen ab: „Die Ausdrücke ›Gewissen‹ und ›Reue‹ haben aber noch eine andere Bedeutung. Man kann nämlich ferner von gutem und schlechtem Gewissen sprechen im Sinne eines Lust- oder Unlustgefühls. Das gute Gewissen bedeutet die Zufriedenheit mit sich selbst, das schlechte die Unzufriedenheit mit sich selbst in Hinsicht auf die geschehene Tat. Das gute Gewissen ist hier die Befriedigung aus dem Bewußtsein der Pflichterfüllung, das schlechte die Unzufriedenheit aus dem Bewußtsein der Pflichtverletzung. In diesem Sinne versteht man unter ›Reue‹ nicht den Akt der Mißbilligung der Handlung, sondern Unlust, Schmerz. In diesem Sinne spricht man von Gewissenspein und Gewissensbissen … Diese verschiedenen Bedeutun gen des Ausdrucks ›Gewissen‹ müssen wir unterscheiden, insbesondere den Urteilsakt von dem Lustgefühl.“ (IV, 470) Der Urteilsakt, von dem Nelson hier spricht, ist allerdings ein bloßes Gefühl. Es wird kein begriffliches Urteil gefällt. Aber eben dieses Gefühl unterscheidet Nelson sorgsam von dem, was man im Sinne eines anderen Sprachgebrauchs „Gefühl“ nennt, wenn man etwa von den Gefühlen der Lust oder des Schmerzes spricht. Von dem Gefühl im ersten Sinne, so wie es sich also in der eine Handlung billigenden oder mißbilligenden Stimme des Gewissens äußert, sagt Nelson: „Dieses Gefühl ist ein dunkles Bewußtsein der Wahrheit. Es ist daher auch irreführend, dieses Gefühl, wie häufig geschieht, als einen Akt der Intuition zu bezeichnen. Man spricht von dem ‚intuitiven Erfassen‘ einer Wahrheit und meint damit doch nur das dunkle Bewußtsein, das als solches gerade aller anschaulichen Klarheit ermangelt … Das Gefühl ist also keine Anschauung, sondern ein Reflexionsakt, obgleich es vom Begreifen und Schließen verschieden ist. Wir haben z.B. gelegentlich
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beim Anhören oder Lesen einer Argumentation das Gefühl, daß sie einen Trugschluß enthält, ohne daß wir doch in der Lage wären, diesen Trugschluß anzugeben. Wir trauen uns aber zu, ihn bei hinreichendem Nachdenken aufzufinden … So könnte es sich nun auch im Gebiet der Interessen verhalten. Es könnte vorkommen, daß ein Interesse durch ein bloßes Ge//25//fühl ins Bewußtsein tritt: durch das Gefühl für den Wert oder Unwert eines Gegenstandes, analog dem Gefühl für die Wahrheit oder Falschheit eines Urteils.“ (IV, 360 f.) Die Stimme des Gewissens, im Unterschied von der Zufriedenheit des guten und dem Schmerz des bösen Gewissens, ist nach Nelson ein solches Gefühl. Und dieses Gefühl allein macht er zum Ausgangspunkt der Untersuchung des sittlichen Interesses, die ihn zur Aufweisung des reinen, wenn auch ursprünglich dunklen, unmittelbaren sittlichen Interesses führt. Dieses Gefühl ist nun in der Tat, Nelsons eigener Charakterisierung nach, ein uneigentliches Interesse. Nelson spricht das an verschiedenen Stellen direkt aus. „Was uns in diesem Gefühl vorschwebt, können wir erschöpfend wiedergeben durch ein begriffliches Urteil.“ (IV, 477) Eben das wäre bei einem eigentlichen Interesse unmöglich, da ja dem Urteil die Polarität, die persönliche Anteilnahme und das eigene Beteiligtsein nicht zukommt und es sie daher auch nicht zum Ausdruck bringen kann. Oder er sagt: „Das Pflichtgefühl ist, solange man wenigstens darunter das Bewußtsein des Sollens versteht, im Unterschied von den Lustgefühlen ein Urteilsakt. Man kann aber nicht von größerer oder geringerer Stärke eines Urteils reden.“ (IV, 596) Entsprechend charakterisiert Nelson das ästhetische Gefühl, so wie er es der Deduktion des Ideals der vernünftigen Selbstbestimmung zugrunde legt: „Das ästhetische Gefühl ist also überhaupt kein intuitives Int eresse, sondern ein bloßes Werturteil, wenn auch nicht ein solches von begrifflicher Form … Man mag es vorziehen, ein Werturteil nicht als Interesse zu bezeichnen. Wir haben in der Tat gefunden, daß Grund dazu vorliegt, das Werturteil nicht als ein eigentliches Interesse anzusehen, da ihm die dem Interesse eigentümliche Polarität des Verhaltens fehlt.“ (IV, 404 f.)
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Nun bestehen die sittlichen Gefühle gewiß nicht nur in solchen gefühlsmäßig erfaßten Werturteilen. Nelson selber unterscheidet ja schon das Gewissen im Sinn der Billigung oder Mißbilligung von der Zufriedenheit und dem Schmerz des guten und des bösen Gewissens. Diese Zufrie//26//denheit und diesen Schmerz erklärt er nun als Lust- und Unlustgefühl – und das heißt, nach seiner Theorie des Lustgefühls, als ein sinnliches Interesse –, das zu jenem gefühlsmäßigen Urteilsakt hinzutritt. Entsprechend untersucht er, nachdem er die Deduktion des Sittengesetzes aus einer Theorie des bloßen gefühlsmäßigen Werturteils zustande gebracht hat, auch die andern genannten sittlichen Gefühle: Achtung, Verachtung und Entrüstung, und kommt dabei zu dem Ergebnis, daß auch sie komplexe Erscheinungen seien, in denen sittliche Gefühle, im Sinne des uneigentlichen Interesses, bloße Akte der Billigung oder Mißbilligung also, und sinnliche Interessen nach der Art der Lust- und Unlustgefühle miteinander verbunden sind. Dieselbe Unterscheidung stellt er bei der Untersuchung des ästhetischen Gefühls an und trennt auch hier das ästhetische Gefühl im engeren Sinn des Wortes, in dem es ein uneigentliches Interesse und ein bloßes gefühlsmäßiges Werturteil bezeichnet, von Lust- und Unlustgefühlen. Und er behauptet auch hier, daß alles, was im ästhetischen Gefühl über die bloße Wertüberzeugung hinausgeht und was dieses Gefühl erst zum eigentlichen Interesse macht: die Liebe zum Schönen und Gefühlsstimmungen wie Begeisterung, Wehmut, Sentimentalität, Resignation und Andacht, aus sinnlichen Interessen entspringt, die mit bloßen Wertüberzeugungen verbunden sind. Nur an einer Stelle macht er eine Ausnahme von dieser Deutung: die sittlichen und ästhetischen Antriebe, die nach seiner Terminologie eigentliche Interessen sind, sucht er ohne die Zuhilfenahme von sinnlichen Interessen auf die reinen und damit uneigentlichen Interessen am Guten und am Schönen zurückzuführen.2 2 Eine Rechtfertigung für diese Ausnahme gibt Nelson nicht. Sie scheint sich seiner Auf merksamkeit überhaupt entzogen zu haben, und zwar dadurch, daß er in den Abschnitten, die der Untersuchung der ästhetischen und sittlichen Interessen gewidmet sind, als Beispiel fast durchweg Interessen nennt, die in der Form des Gefallens, nicht in der des Begehrens auftreten, die also keine Antriebe sind. (Wir haben „zwei Grundformen des Interesses zu unterscheiden. Jedes Interesse äußert sich entweder als ein Gefallen oder als ein Begehren. Diese Unterscheidung wird gelegentlich durch die Zweideutigkeit der Sprache erschwert. So kann das Wort ›Lust‹ gleichermaßen ein Gefallen wie ein Begehren bedeuten, ebenso das Wort ›Neigung‹ und verwandte Ausdrücke. Doch kommt auch schon im gewöhnlichen Sprachgebrauch der Unterschied beider Bedeutungen wieder zum Vorschein. Man unterscheidet die Lust an etwas von der Lust auf etwas. ‚Lust an etwas haben‘ drückt ein Gefallen aus, ‚Lust auf etwas‘ ein Begehren“, IV, 353). Nur bei der Untersuchung des ästhetischen Gefühls macht er davon eine Ausnahme durch die Untersuchung der Frage, ob es ästhetische Antriebe gibt. Die Frage, ob es sich dabei, im Gegensatz zur ästhetischen Wertüberzeugung, um eigentliche ästhetische Interessen
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//27// Wir werden auf diese Ausnahme noch eingehen. Zunächst fragt es sich, ob im übrigen, also abgesehen von Antrieben und Begehrungen, die Erklärung des sittlichen Gefühls durch ein Zusammentreten von bloßen Wertüberzeugungen mit sinnlichen Interessen, dem entspricht, was hier erklärt werden soll. Unter einem sinnlichen Interesse versteht Nelson ein Interesse, „dessen Besitz von den Umständen abhängt“. Beispiele dafür sind „Vergnügen und Mißvergnügen, Genuß und Leid, Behagen und Unbehagen, Freude und Schmerz, Wonne und Qual …, alles dieses gehört unter den allgemeinen Begriff der Lust und Unlust.“ (IV, 371) Lust wird erregt. Das lustvolle Erlebnis ist nicht etwa nur der Anstoß, uns darüber klar zu werden, daß wir Lust empfinden, sondern es gibt uns die Lust erst, und zwar so, daß wir uns nicht zu fragen brauchen, ob wir sie empfinden. Lust ist demnach ein Interesse, das durch die Umstände erregt wird, das nichts Dunkles enthält, sondern das uns unmittelbar, so wie es uns gegeben ist, auch bewußt wird. Worauf richtet sich dieses Interesse? Nelson antwortet: Sein Gegenstand ist die Empfindung selber, durch die die Lust ausgelöst wird. Es ist also immer der eigene innere Zustand, auf den sich die Lust bezieht: „Nehmen wir den Fall, daß wir ein unangenehmes Geräusch hören, und fragen wir uns, ob das, woran wir Unlust haben, das Geräusch oder die Empfindung des Geräusches ist. Wir nennen zwar das Geräusch unangenehm, aber dies besagt nur, daß es nicht sowohl der Gegenstand als vielmehr die Ursache unserer Unlust ist. In der Tat, das Geräusch als solches würde uns ganz gleichgültig sein, wenn wir es nur nicht hörten. Woran uns gelegen ist, ist nur, daß wir das Geräusch nicht hören, nicht aber, daß das Geräusch nicht da ist.“ (IV, 380) //28// Man mag die Deutung dieses Beispiels zugeben. Sehr bedenklich werden aber die Folgerungen, die Nelson daraus zieht. Er nimmt in der Tat für alle sinnlich angeregten Interessen in Anspruch, daß ihr Gegenstand die eigene Empfindung
handle, taucht dabei aber nicht auf. Die Untersuchung des Begehrens und der Antriebe unternimmt Nelson erst in dem Abschnitt „Untersuchung des Wollens“, der den Abschnitten, die der Untersuchung des Interesses gewidmet sind, folgt. Und in diesem Abschnitt geht Nelson nicht mehr auf die Frage ein, ob die aufgewiesenen Antriebe reine oder sinnliche Interessen sind.
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sei. Ein solches Interesse ist z.B. die Sympathie oder Teilnahme am Ergehen eines andern. „Sympathie liegt noch nicht vor, wo die Lust oder Unlust des einen vom andern ›geteilt‹ wird, in dem Sinne, daß, was dem einen wohl oder wehe tut, den anderen in gleicher Weise berührt … Was man im engeren Sinne Teilnahme nennt, besteht nicht sowohl darin, daß wir mit dem andern die gleiche Freude oder den gleichen Schmerz erleben, als vielmehr darin, daß unser Wissen um seine Freude uns zur Freude und unser Wissen um seinen Schmerz uns zum Schmerz wird … Aber eben auch hier ist es nur das B ewußtsein, daß der andere sich freut oder leidet, und nicht unmittelbar Freude und Leid des anderen, was den Gegenstand unserer Lust oder unseres Leides bildet.“ (IV, 384 f.) „Daß unsere Lust durch die Lust des anderen bewirkt wird, bedeutet nicht, daß sie sich auf die Lust des anderen bezieht. Der Gegens tand unserer Lust ist nicht der Zustand des anderen, sondern unser eigener Zustand, in den uns die Wahrnehmung des Zustandes des anderen versetzt.“ (IV, 478) Hier fällt schon auf, daß Nelson als Gegenstand der Lust nicht mehr eine Empfindung nennt, sondern das Bewußtsein, daß der andere Freude oder Leid empfindet. Wir wissen um etwas. Wissen ist aber keine Empfindung. Darüber hinaus aber widerspricht Nelsons Deutung offenbar dem, was wir in der Mitfreude mit dem andern erleben. Wir freuen uns daran, daß der andere sich freut, und leiden darunter, daß der andere Leid trägt. Gewiß müssen wir von seiner Freude oder seinem Leid wissen, um mit ihm fühlen zu können. Aber hier liegt es anders als beim Beispiel des unangenehmen Geräusches: Es ist uns nicht gleichgültig, ob der andere leidet, sofern nur wir davon nichts erfahren. Unser Wissen ist hier also gerade nur die Ursache unseres Mitempfindens. Dieses Mitempfinden selber richtet sich auf das, was dem anderen widerfahren ist. Ebensowenig entspricht Nelsons Deutung der Lust einem anderen Beispiel, an dem er sie erläutert: //29//„Gegen die Behauptung, daß die Lust sich auf die Empfindung bezieht, scheint der Umstand zu sprechen, daß die Empfindung, die den Gegenstand der Lust bildet, sich der Beobachtung oft entzieht, und daß sogar die Lust oder Unlust um so stärker ist, je weniger unsere Aufmerksamkeit der Empfindung zugewandt ist, je mehr wir uns vielmehr dem Gegenstand der Empfindung zuwenden. In der Tat, wenn z. B. ein zorniger Mensch seine Aufmerksamkeit von dem Verhalten des anderen
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ablenkt, das ihn zum Zorn reizt, um sie auf seine eigenen Empfindungen zu richten, so wird sein Zorn sehr bald an Heftigkeit nachlassen. Man kann aber aus solchen Beispielen nicht schließen, daß die Lust sich auf den Gegenstand der Empfindung bezieht. Je mehr wir unsere Aufmerksamkeit dem Gegenstand der Empfindung zuwenden, desto lebhafter wird die Empfindung. Gerade hierdurch wird verständlich, daß die Lust um so lebhafter wird, je mehr unsere Aufmerksamkeit dem Gegenstand der Empfindung zugewandt ist. Denn wenn wir die Lust an der Empfindung haben, so ist es begreiflich, daß wir auch an der lebhafteren Empfindung die lebhaftere Lust haben.“ (IV, 386) Es ist schon seltsam, Zorn eine Unlust zu nennen. Auf alle Fälle aber ist der zornige Mensch doch nicht über seine eigene, nicht einmal beobachtete Empfindung zornig, sondern über das Verhalten des andern, der ihn zum Zorn gereizt hat! Am deutlichsten wird die Diskrepanz zwischen Nelsons Deutung und dem, was er mit ihr erklären will, bei der Untersuchung dessen, was an den sinnlichen und ästhetischen Gefühlen eigentliche Interessen sind. „Ästhetischer Genuß ist das, was uns dazu treibt, uns der Betrachtung des Schönen hinzugeben und bei ihr zu verweilen, so wie uns auch die Unlust dazu treibt, uns von der Betrachtung des Häßlichen abzuwenden. Die Lust an der Betrachtung des Schönen ist aber noch nicht eine Lust am Schönen selbst, und die Unlust an der Betrachtung des Häßlichen ist noch nicht eine Unlust am Häßlichen selbst, sondern diese Lust und Unlust bezieht sich auf unseren eigenen Empfindungszustand. … Ähnlich, wenn auch nicht ebenso, verhält es sich mit der moralischen Befriedigung. Die Befriedigung, die wir bei der Erfüllung un//30//serer Pflicht haben, oder der Schmerz der Reue, der auf die Übertretung der Pflicht folgt, ist ein Verhalten, das sich auf unseren eigenen Zustand bezieht und nicht unmittelbar auf die Erfüllung oder Übertretung der Pflicht selber. Wir haben hier eine Lust und Unlust ganz von der Art, wie wir sie bisher beschrieben haben.“ (IV, 390 f.) Wenn das richtig wäre, dann gäbe es kein eigentliches Interesse, das sich auf das Schöne und das Gute bezieht. Das Phänomen des sittlichen Gefühls würde vielmehr zerfallen in zwei völlig verschiedene Teilphänomene, von denen das eine die Ursache des anderen ist: in ein bloßes, wenn auch nur gefühlsmäßiges Werturteil, dem die persönliche Anteilnahme und damit der Charakter des eigentlichen Interesses fehlt, und ein eigentliches Interesse, das in der Lust oder Unlust am eigenen
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Zustand besteht, wie er durch jenes Urteil in uns ausgelöst wird. Im Sinn dieser Zweiteilung meint Nelson die Zweideutigkeit der Worte „Gewissen“ und „Reue“ feststellen zu können. In Wahrheit verdient keins der beiden von ihm geschilderten Teilphänomene den Namen „Reue“. Reue ist weder die bloße Überzeugung, Unrecht begangen zu haben, noch ist es die schlechte Laune eines Menschen, der sich etwas vorzuwerfen hat und dem dieses Bewußtsein unangenehm und peinlich ist. Reue ist Leid über begangenes Unrecht. Das ist mehr als die Überzeugung, Unrecht getan zu haben, und etwas anderes als das Unbehagen, das mit einer solchen Überzeugung verbunden sein mag. Wie kommt Nelson, der sich so sorgsam um die Beachtung des Sprachgebrauchs und um die unvoreingenommene Beschreibung der Tatsachen der inneren Erfahrung bemüht, zu einer solchen Fehldeutung? Das wird verständlicher, wenn wir fragen, gegen welche Ansichten er sich mit dieser Lehre wendet. Es sind hier im wesentlichen zwei Meinungen, denen er seine eigene Begründung der Ethik entgegenstellt: der ethische Empirismus, der ethische Überzeugungen nur aus sinnlichen Anregungen erklären und ethische Werte auf Lust und Nützlichkeitserwägungen zurückführen will, und der ethische Mystizismus, der dem Menschen das Ver mögen zuschreibt, intuitiv, in reiner Anschauung das Wesen des Schönen und Guten zu erfassen, ohne dabei auf Nachdenken und Besinnung angewiesen zu sein. Dem Empirismus stellt Nelson den Nachweis entgegen, daß im sittlichen Gefühl faktisch – ob berechtigt oder nicht, ist hier bei der //31// psychologischen Beschreibung zunächst unwesentlich – der Anspruch auf Objektivität und Notwendigkeit auftritt, der bei einer nur sinnlichen Anregung des Gefühls nicht zu erklären ist. Und dem Mystizismus begegnet er wiederum mit dem psychologischen Hinweis, daß dieses Gefühl für sich keine klare Rechenschaft gibt über die Wertüberzeugungen, die in diesem Anspruch angemeldet werden. Es ist möglich, es ist aber auch notwendig für eine tiefere Verständigung mit dem eigenen Gefühl, dieses Gefühl nach seinen Gründen zu fragen und dadurch das, was ihm vorschwebt, klarer und tiefer zu erfassen. Wie weit diese Aufklärung in begrifflicher Form möglich ist, ist dabei noch von sekundärer Bedeutung. Eine solche begriffliche Aufklärung gelingt weitgehend dem sittlichen Gefühl gegenüber, während wir im Gebiet des Schönen im wesentlichen bei unauflösbaren Gefühlen stehen bleiben. Aber auch das ästhetische Gefühl verlangt Besinnung und aufmerksamen Umgang mit dem Schönen, wenn unser Verständnis für die Werte, die das Gefühl anmeldet, tiefer und sicherer werden soll. Diese Zusammenhänge lassen erkennen, daß die Vernunft an unseren faktischen Werten ihren Anteil hat, auch wenn dieser Anteil nicht ohne weiteres klar zu Tage tritt. Nelsons Untersuchungen, die dies zeigen, gehören zum Klarsten und Überzeugendsten in seiner psychologischen Theorie, sowohl in seinen eigenen
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Schlußfolgerungen wie in der Auseinandersetzung mit den genannten, der seinen entgegenstehenden Lehrmeinungen. Dieser Nachweis ist von ihm in der Tat erbracht. Aber Nelson sucht mehr zu erreichen. Erst dann meint er, Empirismus und Mystizismus endgültig überwunden zu haben, wenn es gelungen ist, den unmittelbaren Anteil, den Sinnlichkeit und Vernunft an der Bildung unserer Interessen haben, aufzuweisen in der Form unmittelbarer Interessen, die der einen und die der andern Quelle entspringen.3 Und so geht Nelson denn auch bei der Untersuchung der verschiedenen Gruppen von Interessen zunächst von der Frage aus, ob ein solches Interesse sich unmittelbar auf seinen Gegenstand bezieht, oder ob es sich auf ein anderes als //32// seinen Grund zurückführen läßt, auf ein tieferliegendes Interesse also, um dessentwillen wir uns nur für den Gegenstand des ersten interessieren. Liegt dieser zweite Fall vor, dann fragt Nelson nach dem unmittelbaren Interesse, auf das die Frage nach den Gründen des vorliegenden Interesses letzten Endes führen muß. Dieses unmittelbare Interesse mag sich selber der inneren Beobachtung entziehen. Aber Nelson meint, es auch dann aufweisen zu können durch den indirekten Weg, der von den Merkmalen des beobachteten Interesses aus Rückschlüsse zieht auf die des zugrunde liegenden unmittelbaren Interesses. Er bedient sich für diesen Rückschluß einer Einteilung der Interessen, die ihm die Sicherheit geben soll, jede nur mögliche Grundform unmittelbarer Interessen zu erfassen und damit zu einer eindeutigen Charakterisierung der aufgewiesenen unmittelbaren Interessen zu gelangen. „Darum ist es von äußerster Wichtigkeit, nur von logisch voll ständigen Einteilungen auszugehen, jede Einteilung also nach dem Satze des ausgeschlossenen Dritten vorzunehmen, so daß wir volle Sicherheit haben, keine Möglichkeit zu übersehen.“ (IV, 354) Dieses methodische Programm ruht auf einer Voraussetzung, über de ren Berechtigung Nelson keine Rechenschaft gibt: Es setzt voraus, daß der Prozeß des Aufsteigens vom Mittelbaren zum Unmittelbaren zu einem Abschluß führen müsse, zu etwas schlechthin Unmittelbarem, das aber im übrigen selber ein Interesse der gleichen Art ist wie das, dessen Anspruch es begründen soll. Diese Voraussetzung ist keineswegs logisch selbstverständlich. Sie ist, wie unsere bisherigen Überlegun3 „Unter einem mittelbaren Interesse verstehe ich ein solches, das sich nur vermittelst eines anderen Interesses auf seinen Gegenstand bezieht, unter einem unmittelbaren Interesse dagegen ein solches, das sich ohne Vermittlung eines anderen auf seinen Gegenstand bezieht.“ (IV, 355)
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gen zeigen, psychologisch falsch. Sie verführt Nelson dazu, das lebendige sittliche Gefühl zu deuten als ein Nebeneinander von zwei grundverschiedenen, nur kausal miteinander verbundenen Interessen: einem gefühlsmäßigen Werturteil, das als solches kein eigentliches Interesse ist, das aber den Anteil, den die praktische Vernunft am sittlichen Gefühl hat, enthält, und einem sinnlichen Interesse, dem als solchem jede Beziehung auf den sittlichen Wert fehlt. Gerade diese Trennung in zwei Teilphänomene, von denen das eine der praktischen Vernunft, das andere der praktischen Sinnlichkeit entspringt, wird aber dem Wesen des sittlichen Gefühls nicht gerecht. Im Grunde handelt es sich hier um dieselbe Voraussetzung, die Paul //33// Bernays in seiner Arbeit: „Über die Fries'sche Annahme einer Wiederbeobachtung der unmittelbaren Erkenntnis“4 in der Fries'schen Lehre von der Begründung aufweist und kritisiert. Nelson teilt mit seinem Lehrer Fries die Überzeugung, daß die Begründung unserer Urteile letzten Endes darin bestehe, sie mit der unmittelbaren Erkenntnis zu vergleichen. Zwar findet sich bei ihm nirgends ausdrücklich die Fries'sche Vorstellung, wonach das Ganze der uns – auf Grund der bisherigen Erfahrung – möglichen Erkenntnis im ganzen der unmittelbaren Erkenntnis, der „transzendentalen Apperzeption“, schon vorgebildet sei und im bewußten Urteil nur wiederholt werde. Aber er behält den Gedanken der bloßen Wiederholung der unmittelbaren Erkenntnis im Urteil bei für die aus anderen Urteilen nicht mehr beweisbaren Grundurteile der begrifflichen Erkenntnis. „Die Begründung eines Grundurteils besteht darin, daß wir eine andere Erkenntnis desselben Sachverhalts neben das Urteil stellen, die sich von dem Urteil dadurch unterscheidet, daß sie an und für sich gewiß ist.“ (IV, 57) Bernays hat in seiner Arbeit gezeigt, daß diese Annahme nicht notwendig aus der Feststellung folgt, daß unsere Erkenntnis in der vernünftigen Verarbeitung sinnlicher Anregungen besteht und daß sie weder den Wahrnehmungen des täglichen Lebens – die keine unmittelbaren sinnlichen Erkenntnisse im Sinne der kritischen Philosophie sind – noch den Entdeckungen der modernen Physik gerecht wird. Diese Annahme setzt gewissermaßen den atomaren Charakter unserer Erkenntnis voraus: nach ihr muß sich die Erkenntnis zurückführen lassen auf unmittelbare, nicht weiter zerlegbare sinnliche und vernünftige Elemente, die ihrerseits schon den Charakter der Erkenntnis tragen. Diese Annahme kann und muß losgelöst werden von dem entscheidenden Ansatz der kritischen Philosophie, 4 In: Leonard Nelson zum Gedächtnis, Frankfurt a.M. – Göttingen 1953 S. 113-131.
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sinnliche Anregungen und deren vernünftige Verarbeitung in einer Kritik der Vernunft als Momente – aber nicht notwendigerweise als selbständige Teilphänomene – menschlichen Erkennens aufzuweisen. Der gleichen Korrektur bedarf auch Nelsons Grundlegung der Ethik. Es fragt sich allerdings noch, wie weit diese Korrektur zu gehen hat. Bisher ist nur gezeigt worden, daß Nelsons Deduktion kein unmittelbares //34// sittliches Interesse – im Sinne des eigentlichen Interesses – aufweist und damit für die Begründung des sittlichen Gefühls nicht hinreicht, zumal das, was hier unerklärt bleibt, die persönliche Anteilnahme des Gefühls am sittlich Guten, auch nicht aus hinzutretenden nur sinnlichen Interessen verstanden werden kann. Aber leistet die Deduktion jedenfalls das, was Nelson ausdrücklich von ihr fordert: die Aufweisung einer unmittelbaren sittlichen Erkenntnis, die als solche zwar nicht eigentliche Interessen, wohl aber den obersten praktischen Grundsatz sittlicher Urteile zu begründen vermag? Oder trifft hier die Vermutung zu, die Bernays am Schluß seiner Arbeit äußert, daß die praktische Vernunft so wenig wie die theoretische uns eindeutig aufweisbare Maßstäbe an die Hand gibt, die wir nur auf die Daten der Erfahrung anzuwenden brauchten? Ich werde im übernächsten Abschnitt auf diese Frage eingehen, zunächst aber noch Nelsons Bemühen, die Ethik als praktische Wissenschaft zu begründen, einen Schritt weiter verfolgen.
III. Abschnitt Die Möglichkeit des besonnenen Handelns Es geht um die Frage, ob die „Kritik der praktischen Vernunft“ den Grund legt für eine wissenschaftliche Ethik, die, gemäß dem von Nelson erhobenen Anspruch, den sicheren Boden aufweist, auf dem der Mensch sich freimachen kann „von der Herrschaft des Zufalls über die Bildung seiner sittlichen Überzeugungen und damit auch seiner sittlichen Entschließungen“. Es ist nach den vorangegangenen Überlegungen klar, daß in diesem Anspruch die Worte: „… die Bildung der sittlichen Überzeugung und damit auch der sittlichen Entschließungen“ ein entscheidendes Problem enthalten. Aus bloßen Überzeugungen entstehen keine Entschließungen. Dazu bedarf es des eigentlichen Interesses und nicht der bloßen Wertüberzeugung, die kein solches eigentliches Interesse ist. Daß Nelson dieses Problem gesehen hat, trotz der Beschränkung seiner Deduktion auf die Aufweisung einer bloßen sittlichen Überzeugung, geht schon daraus hervor, daß er bei der Charakterisierung der sittlichen An//35//triebe daran fest-
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hält, daß sie eigentliche Interessen seien, denen das unmittelbare sittliche Interesse der Vernunft zugrunde liegt. Diese Ausnahme, die Nelsons Charakterisierung der sittlichen Antriebe im ganzen seiner Theorie des sittlichen Gefühls darstellt und die sich im Rahmen dieser Theorie nicht rechtfertigen läßt, ist daher wohl als eine Selbstkorrektur zu verstehen, in der sich Nelsons eigentliches Anliegen, die Ethik als praktische Wissenschaft zu begründen, durchsetzt gegenüber einer nur logi schen Konsequenz aus der versteckten Voraussetzung seiner Vernunftkritik. Gerade dadurch, daß Nelson die Annahme sittlicher Antriebe, die eigentliche Interessen sind, hinzunimmt zum Ergebnis seiner Deduktion, die nur eine unmittelbare sittliche Überzeugung aufweist, stellt sich ihm selber das Problem in voller Schärfe, ob und wie der Mensch sich der Herrschaft des Zufalls über seine sittlichen Entschließungen entziehen kann. Die sittlichen Antriebe sind, wie alle eigentlichen Interessen, nur auf Grund sinnlicher Anregungen möglich. Sie stimmen schon dadurch nicht notwendig mit der reinen sittlichen Vernunfterkenntnis überein. Einseitigkeiten, ja praktische Irrtümer sind möglich. Was aber mehr ist: Sie treten als eigentliche Interessen mit einer gewissen Stärke auf, mit der sie auf den Willen wirken. Und da ist es von Natur aus zufällig, ob ihre Stärke ausreicht, den Willen zum Entschluß zu bestimmen, oder ob sie von stärkeren Gegenantrieben überwunden werden. Sind wir nun diesem zufälligen Stärkeverhältnis der eigenen Antriebe einfach ausgeliefert oder gibt es ein Vermögen, hier regulierend einzugreifen? Ein solches Vermögen findet Nelson in der Fähigkeit des Menschen, sich besonnen zu entschließen. „Ein Entschluß kann entweder ›triebhaft‹ oder ›besonnen‹ sein. … Ein triebhafter Entschluß findet dann statt, wenn die Antriebe nach ihrer unmittelbaren Lebhaftigkeit den Willen bestimmen. Ein besonnener Entschluß liegt vor, wenn die Antriebe nicht nach ihrer unmittelbaren Lebhaftigkeit, sondern nur mittelbar, durch Dazwischentreten eines Reflexionsaktes den Willen bestimmen. Den besonnenen Entschluß nennen wir daher auch ref lektierten oder verständigen Entschluß. Damit soll nicht etwa behauptet sein, daß bei dem besonnenen //36// Entschluß nicht der stärkste Antrieb den Ausschlag gibt. Durch das Eingreifen der Reflexion kann nämlich das Stärkeverhältnis der Antriebe modifiziert werden. Ein Antrieb, der vorher der stärkste war, kann durch die Wirksamkeit der Reflexion zum schwächeren werden, und umgekehrt, der schwächere zum stärkeren. Dies geschieht durch die Lenkung der Aufmerksamkeit. Durch die Lenkung der Aufmerksamkeit auf den Gegenstand eines Antriebes kann dieser Antrieb verstärkt werden, und durch Ablenkung der Aufmerksamkeit von dem Gegenstand eines Antrie-
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bes kann dieser Antrieb geschwächt werden. Es gibt also eine ›Disziplin‹ der Antriebe: Wir haben die Möglichkeit, das Verhältnis der Stärke der in uns wirkenden Antriebe selbst zu ändern durch Ablenkung unserer Aufmerksamkeit von dem Gegenstande des einen und Hinlenkung auf den des anderen. … Es gibt also ein Eingreifen des Willens in den Mechanismus der Antriebe. … Dieser Willensakt ist eine innere Willenshandlung, durch die das Stärkeverhältnis der Antriebe modifiziert wird. Auch dann wird der Entschluß durch den stärksten Antrieb bestimmt; nur braucht dieser nicht von vornherein der stärkste gewesen zu sein, sondern wird es möglicherweise erst durch Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf seinen Gegenstand. Diese innere Handlung kann ihrerseits wieder besonnen sein. Sie kann aber auch auf einem triebhaften Entschluß beruhen, wie sich schon daraus erkennen läßt, daß sonst jeder besonnene Entschluß zu seiner Möglichkeit das Vorangehen eines anderen besonnenen Ent schlusses verlangen würde, durch den seine Antriebe reguliert werden und für den dann wieder dasselbe gelten würde, womit wir auf eine unendliche Reihe von einander bedingenden Entschlüssen kämen, so daß überhaupt kein besonnener Entschluß möglich wäre.“ (IV, 608 f.) Nun ist es sicher richtig, daß ein Mensch, der sich besonnen entschließt, eben damit nicht mehr Spielball der eigenen Triebe und Launen ist. Aber Nelsons Deutung dieses Vorgangs macht das noch nicht verständlich. Er charakterisiert den besonnenen Entschluß dadurch, daß ihm ein anderer Entschluß und eine dadurch bestimmte innere Willenshandlung voraus//37//geht. Das besagt aber nur, daß der besonnene Entschluß eine gewisse Vorgeschichte hat. Wir haben aber noch kein inneres Merkmal des besonnenen Entschlusses selber gewonnen, durch das dieser sich vom triebhaften Entschluß unterscheidet. Schließlich wird ja auch, Nelsons eigener Überlegung nach, die Kette innerer Willenshandlungen, in denen das Stärkeverhältnis der Antriebe modifiziert wird, doch nur durch einen triebhaften Entschluß ausgelöst. Sonst könnte sie gar nicht beginnen. Und da fragt es sich, was damit eigentlich gewonnen sein kann. Auf dasselbe Bedenken kommen wir durch die Überlegung, daß nach Nelsons Darstellung besonnenes Handeln nur da in Frage kommt, wo ein Mensch durch kollidierende Interessen in einen inneren Konflikt gerät. Denn nur dann hat es Sinn, in die eigenen Antriebe regulierend eingreifen zu wollen. Ein solcher Widerstreit der eigenen Interessen kann dazu anregen, nach einer besonnenen Entscheidung zu suchen, statt sich von der momentan stärksten Neigung einfach überrennen zu lassen. Aber besonnenes Handeln ist nicht an das Auftreten eines derartigen
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Konfliktes gebunden. Sonst müßten wir die Entschlüsse eines Menschen, der ohne inneren Konflikt seinen Weg ruhig und bestimmt geht, schon darum unbesonnen und triebhaft nennen. Das entspricht aber sicher nicht dem Sprachgebrauch. Mit Besonnenheit ist noch etwas anderes gemeint. In Nelsons Darstellung fehlt also das eigentliche Kennzeichen, das den besonnenen Entschluß selber charakterisiert und nicht nur das, was ihm zeitlich vorhergegangen ist. Wir werden dieses Kennzeichen am besten in dem suchen, was uns im Falle eines Interessenkonfliktes dazu bewegen kann, nicht blind dem gerade stärksten Antriebe zu folgen. Nelsons weitere Ausführungen geben uns Hinweise darauf, woran er selber sich faktisch orientiert. Er fährt im Anschluß an die eben wiedergegebenen Überlegungen fort: „Der innere Willensakt, der zwischen die Antriebe und den Entschluß tritt, und der das Stärkeverhältnis der Antriebe modifiziert, wird natürlich seinerseits wieder durch Antriebe, und zwar durch den stärksten von ihnen, bestimmt. So ist bekanntlich im allgemeinen bei einem sittlichen Entschluß der sittliche Antrieb, der schließlich den Entschluß bestimmt, nicht von vornherein stark genug, um den Entschluß zu bestimmen. Mit dem Bewußtsein der Pflicht, den frag//38//lichen Entschluß zu fassen, ist aber zugleich das Bewußtsein der anderen Pflicht verbunden, den sittlichen Antrieb, wenn seine Stärke noch nicht zur Bestimmung des Entschlusses hinreicht, durch eine innere Handlung so weit zu verstärken, daß er den Entschluß bestimmt. Davon, ob der auf die Stärkung des sittlichen Antriebs gerichtete Antrieb stark genug ist, hängt es ab, ob der Wille zu der inneren Handlung, der Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf den Gegenstand des sittlichen Antriebs oder ihrer Ablenkung von den Gegen ständen der konkurrierenden Antriebe, bestimmt wird und dadurch dem sittlichen Antriebe die zur Bestimmung des Entschlusses hinreichende Stärke erteilt.“ (IV, 609 f.) Nach dieser Schilderung ist es der erste sittliche Antrieb selber, der, gerade weil er zu schwach ist, ohne weiteres den Willen zu der Handlung zu bestimmen, auf die er zielt, den anderen, wiederum sittlichen Antrieb auslöst, eine Besinnungspause einzuschalten, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was die Pflicht fordert, oder sie abzulenken von dem, was ihrer Erfüllung entgegensteht, und damit Kraft zu gewinnen, das sittlich Gebotene zu tun. Das Bewußtsein der Pflicht, das sich in dem ersten Antrieb meldet und das die geforderte Handlung als notwendig und vordringlich hinstellt, wird in dem zweiten Antrieb der Beweggrund, in das Gefüge
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der eigenen Antriebe einzugreifen und den sittlichen Antrieb zu stärken gegenüber den widerstreitenden Neigungen, die ihm gegenüber minderwertig sind. Und so kommt Nelson denn auch zu einer zweiten Charakterisierung des besonnenen Entschlusses: „Der besonnene Entschluß ist gekennzeichnet durch eine Vergleichung der Antriebe mit einer Maxime vermittelst eines Aktes der Urteilskraft. Das darf nicht so verstanden werden, als ob sich dieser Reflexionsakt auf der Stufe deutlichen begrifflichen Denkens vollziehen müßte. Er kann vielmehr auch in einem mehr oder weniger dunklen Gefühl bestehen. Wesentlich ist für den reflektierten Entschluß nur, daß eine Vergleichung mit einer Maxime stattfindet, nicht aber der Grad der Klarheit des Bewußtseins, womit dies geschieht. Es ist sogar die Mehrzahl der besonnenen Entschlüsse, die nicht nach abstrakter begrifflicher Überlegung, sondern auf Grund einer gefühlsmäßigen Beurteilung gefaßt werden.“ (IV, 610 f.) //39// Diese neue Charakterisierung des besonnenen Entschlusses liegt anscheinend sehr nahe bei der ursprünglich von Nelson gegebenen. An die Stelle des Reflexionsaktes, durch den das Stärkeverhältnis der Antriebe modifiziert wird, tritt hier ein Akt der Urteilskraft, in dem die Antriebe mit einer Maxime verglichen werden. Nelson ist offenbar der Meinung, daß beides dasselbe ist, daß also die Vergleichung der Antriebe mit der Maxime eben die innere Handlung ist, die dem besonnenen Entschluß vorhergeht und das Stärkeverhältnis der Antriebe so modifiziert, daß der zunächst den Gegenantrieben unterlegene Antrieb zum stärksten wird und die Handlung bestimmt. Daß wir es hier trotzdem mit einer anderen Deutung zu tun haben als in der ersten Erklärung, wird deutlich, wenn wir beide Erklärungen auf das Beispiel der Pflichterfüllung anwenden, an dem Nelson den besonnenen Entschluß erläutert. Die Pflichterfüllung, zu der ein Mensch sich nach innerem Kampf mit widerstreitenden Neigungen durchgerungen hat, ist nicht etwa darum eine besonnene Handlung, weil dieser Kampf vorausgegangen ist. Wäre der sittliche Antrieb von vornherein stark genug gewesen, den Willen zu bestimmen, so wäre der Entschluß, das sittlich Gebotene zu tun, darum nicht weniger ein besonnener Entschluß gewesen. Und der Entschluß, den zunächst schwachen sittlichen Antrieb zu stärken, damit er die widerstreitenden Neigungen überwinden kann, ist nicht etwa darum nur ein triebhafter Entschluß, weil ihm nicht noch ein weiterer Entschluß vorhergeht, der das Stärkeverhältnis der Antriebe so reguliert, daß sich nun jedenfalls der zweite Antrieb widerstreitenden Neigungen gegenüber durchsetzen kann. Die Entschlüsse, von denen Nelson in seinem Beispiel spricht, sind vielmehr, seiner eigenen zweiten Erklärung nach, durchweg besonnene Ent-
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schlüsse darum, weil sie aus Pflichtbewußtsein gefaßt werden, und das heißt aus dem Bewußtsein, daß der, wenn auch noch so schwache sittliche Antrieb dem gilt, was dringlicher und wichtiger ist als das, wozu die widerstreitenden Antriebe drängen. Der sittliche Antrieb führt also „die Vergleichung der Antriebe mit einer Maxime“, von der in Nelsons zweiter Erklärung des besonnenen Entschlusses die Rede ist, schon mit sich. Sie braucht nicht in einem eigenen Willens- oder Urteilsakt erst hinzuzutreten, um die Befolgung des sittlichen Antriebs damit erst zu einer besonnenen Handlung zu machen. //40//Dieser Deutung entspricht es in der Tat, wenn Nelson in der Fortführung seiner Untersuchungen erklärt, daß jeder sittliche Entschluß ein besonnener Entschluß sei. „Die Einteilung der Entschlüsse in triebhafte und besonnene, also die Einteilung nach der Form des Entschlusses, ist wohl zu unterscheiden von der Einteilung der Entschlüsse nach den Arten der Antriebe, die ihren Bestimmungsgrund bilden. Ein triebhafter Entschluß kann allerdings nur durch einen sinnlichen Antrieb bestimmt werden. Denn dem nicht-intuitiven Charakter der reinen Interessen zufolge können diese nur einen reflektierten Entschluß bestimmen. Aber es gilt nicht umgekehrt, daß ein reflektierter Entschluß nur durch ein reines Interesse bestimmt werden könnte. … Der sittliche Entschluß ist charakterisiert durch die Art seines Bestimmungsgrundes. Ein sittlicher Entschluß ist nämlich ein solcher, der durch den Antrieb zur Pflichterfüllung bestimmt wird. Hieraus folgt allerdings für die Form des sittlichen Entschlusses, daß er nur ein besonnener Entschluß sein kann. Denn ein sittlicher Antrieb kann seiner Natur nach niemals als Affekt oder Leidenschaft den Willen bestimmen. Der sittliche Antrieb enthält nämlich das Bewußtsein der praktischen Notwendigkeit der Handlung und also das Bewußtsein, daß die Handlung, die den Gegenstand des sittlichen Antriebes bildet, jeder anderen noch so wertvollen an ihrer Stelle möglichen Handlung vorzuziehen ist. In diesem Bewußtsein ist aber bereits eine Vergleichung des Wertes der Handlung, auf die der sittliche Antrieb sich richtet, mit anderen möglichen Handlungen einge schlossen. Dieses Bewußtsein der Vorzugswürdigkeit der sittlichen Handlung gegenüber jeder anderen möglichen führt der sittliche Antrieb, wie wir bei der Analyse des sittlichen Gefühls zur Genüge festgestellt haben, a priori mit sich. Es ist daher zur Besonnenheit des Entschlusses nicht mehr erforderlich, daß die gerade auftretenden Gegenantriebe a posteriori mit dem sittlichen Antriebe verglichen werden; denn diese Vergleichung liegt
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schon a priori in dem sittlichen Antrieb als solchem. Deshalb ist der Entschluß aus sittlichen Antrieben immer auch ein besonnener Entschluß. Dies stimmt denn auch //41//mit der allgemeinen Auffassung überein. Man würde Anstoß daran nehmen, wenn jemand sagte, er habe sich unbesonnener Weise zu einer sittlichen Handlung hinreißen lassen.“ (IV, 614 f.) Diese Überlegungen geben uns zugleich einen Hinweis darauf, was Nelson verleitet hat, die beiden Erklärungen des besonnenen Entschlusses gleichzusetzen und damit anzunehmen, daß jeder besonnene Entschluß nur auf Grund eines vorhergehenden anderen Entschlusses möglich sei. Daß der sittliche Entschluß nur ein reflektierter, also besonnener Entschluß sein kann, folgt für ihn aus dem „nicht-intuitiven Charakter der reinen Interessen“. Der nicht-intuitive Charakter der reinen Interessen besteht darin, daß uns diese Interessen nicht unmittelbar bewußt sind. Erst in dem Bemühen um ein tieferes Verständnis dessen, was das sittliche Gefühl etwa uns sagt, decken wir die Gründe auf, an denen dieses Gefühl sich orientiert. Das war der Weg, den Nelson beschritten hat, um das, was er das reine Interesse der Vernunft nennt, aufzuweisen. Wenn er nun aber daraus, daß uns dieses reine sittliche Interesse nicht unmittelbar bewußt ist, darauf schließt, daß es nur „durch das Dazwischentreten eines Reflexionsaktes“ den Willen bestimmen könne und daß dieser Reflexionsakt eine eigene, dem sittlichen Entschluß vorhergehende Willenshandlung sei, dann hat er entweder den sittlichen Antrieb mit diesem reinen sittlichen Interesse überhaupt gleichgesetzt, oder er versteht unter einem sittlichen Antrieb doch nur einen solchen, der rein von diesem unmittelbaren Interesse bestimmt wird. Wir haben bereits gesehen, daß beides unmöglich ist. Der sittliche Antrieb ist ein eigentliches Interesse, er hat eine gewisse Stärke und meldet sich damit im Bewußtsein als das, was uns persönlich angeht. Schon damit unterscheidet er sich von dem unmittelbaren sittlichen Interesse, das im strengen Sinn des Wortes überhaupt kein Interesse ist, sondern eine sittliche Überzeugung und das damit rein für sich überhaupt nicht zum sittlichen Antrieb und zum Bestimmungsgrund für den Willen werden kann. Daß Nelson diesen Gegensatz übersieht, zeigen die Worte, mit denen er die Charakterisierung des besonnenen Entschlusses abschließt. „Hierbei ist aber wohl zu beachten, daß der Antrieb, der einen sittlichen Entschluß bestimmt, wirklich ein sittlicher Antrieb sein muß. Es gibt, wie wir sahen, gewisse Gefühle der Lust und Unlust, die mit //42// dem sittlichen Gefühle im engeren Sinne des Wortes verbunden sind. Wird eine Handlung durch ein solches Lust- oder Unlustgefühl bestimmt, so ist der
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Entschluß kein sittlicher Entschluß, wenn auch die Handlung, die er zur Folge hat, äußerlich mit der durch einen sittlichen Entschluß bestimmten übereinstimmen mag. Ein sittlicher Entschluß findet nur statt, wenn ein reines sittliches Interesse ohne Dazwischentreten irgend einer Lust oder Unlust den Willen bestimmt. Es kann jemand aus Rührung eine schöne Handlung tun. Es kann jemand ergriffen oder erschüttert sein durch irgend einen Eindruck und sich durch ein solches Gefühl zum Handeln bestimmen lassen. Eine solche Handlung mag noch so schön sein, so findet sie doch nicht auf Grund eines sittlichen Entschlusses statt. Es ist gewiß oft schwer und vielleicht sogar unmöglich, zu entscheiden, ob ein Entschluß gefaßt wird aus bloßer Achtung vor dem Gesetz im Sinne des reinen sittlichen Interesses oder ob der Entschluß bestimmt wird durch die mit einem solchen Interesse verbundenen Lustgefühle. Aber desto mehr müssen wir darauf sehen, daß wenigstens der begriffliche Unterschied beider Fälle nicht verwischt wird.“ (IV, 615 f.) Hier rächt sich die Inkonsequenz, mit der Nelson die Möglichkeit des sittlichen Antriebs im Gegensatz zur übrigen Theorie des sittlichen Gefühls eingeführt hat. Es gibt keine reinen, d.h. von der sinnlichen Anregung des Interesses unabhängigen, Antriebe. Jedes eigentliche Interesse ist sinnlich angeregt und trägt die Spuren dieser Anregung in der besonderen Art der persönlichen Anteilnahme, die es seinem Gegenstand zuwendet. Alle Versuche, die Zufälligkeiten dieser Anregungen durch vorgeschaltete Korrekturen völlig aus dem Weg zu räumen und bis zum reinen sittlichen Interesse vorzustoßen, scheitern schon daran, daß, wie Nelson selber im Sinne seiner ersten Erklärung des besonnenen Enschlusses feststellt, das Eingreifen in den Mechanismus der Antriebe durch einen Antrieb ausgelöst werden muß, der selber nicht mehr vorweg durch einen andern Willensakt am Maßstab des reinen Interesses gemessen sein kann. Ja, wenn wir uns hier nur an Nelsons erste Erklärung halten, so müßten wir diesen Antrieb, der den Anstoß zur Besinnung gibt, selber für einen triebhaften und damit, nach Nelsons weiteren Ausführungen, für einen nur sinnlichen Antrieb erklären. Damit aber kämen wir auf den Wider//43// spruch, daß ein sittlicher Entschluß einerseits nur durch das Dazwischentreten dieses sinnlichen Antriebs möglich wäre, während andererseits, nach den zuletzt wiedergegebenen Überlegungen Nelsons, das Dazwischentreten eines sinnlichen Antriebs hinreicht für den Nachweis, daß ein sittlicher Entschluß nicht vorliegt. Ein sittlicher Entschluß wäre danach überhaupt unmöglich.
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Aber diese Folgerung brauchen wir nicht zu ziehen. Und Nelson selber zeigt in seiner zweiten Deutung des besonnenen Entschlusses den Ausweg: „Der sittliche Antrieb enthält … das Bewußtsein der praktischen Notwendigkeit der Handlung. … In diesem Bewußtsein ist aber bereits eine Vergleichung des Wertes der Handlung, auf die der sittliche Antrieb sich richtet, mit anderen möglichen Handlungen eingeschlossen. … Es ist daher zur Besonnenheit des Entschlusses nicht mehr erforderlich, daß die gerade auftretenden Gegenantriebe a posteriori mit dem sittlichen Antriebe verglichen werden; denn diese Vergleichung liegt schon a priori in dem sittlichen Antrieb als solchem.“ (IV, 614 f.) Daraus, daß der sittliche Antrieb sinnlich angeregt ist, folgt in der Tat nicht, daß er nur ein sinnliches Interesse sei. Die persönliche Anteilnahme, in die wir mit der Gewissensmahnung hineingestellt sind, gilt dem, was wir tun sollen und was darum den Vorzug verdient gegenüber dem, wozu widerstreitende Neigungen uns drängen mögen. Wer sich durch eine solche Mahnung zum Handeln bestimmen läßt, orientiert sich an einem Wert und nicht an einer bloßen Laune. Er hat einen Grund für seinen Entschluß, mag er nun über diesen Grund nachgedacht haben oder nicht. Er hat sich eben darum nicht blind treiben lassen von zufällig auf ihn einstürmenden Eindrücken, sondern hat faktisch Werte verglichen und eingeordnet, wiederum unabhängig davon, ob er sich den Maßstab, der ihn dabei leitete, bewußt gemacht hat oder nicht. In diesem Vermögen, nach dem Vorzugswürdigen zu fragen und das eigene Verhalten danach zu bestimmen, sieht Nelson mit Recht eine Äußerung der praktischen Vernunft, die sinnliche Anregungen des Interesses in Wertzusammenhängen auffaßt. Das Kennzeichen des besonnenen Entschlusses ist es danach, daß er be//44// gründet ist in einem Wert, an dem wir ein echtes, ein eigentliches Interesse nehmen, an dem uns etwas liegt. Ein Antrieb, der einen besonnenen Entschluß bestimmen soll, wird also immer beide Momente enthalten: er muß sinnlich angeregt sein, und er muß die vernünftige Beziehung auf Maß und Wert haben. Das gilt auch für besonnene Entschlüsse, in denen es sich nicht um sittliche Werte handelt. Nelson behauptet, daß sich der Satz, wonach ein reines Interesse nur einen besonnenen Entschluß bestimmen könne, nicht umkehren lasse. Ein reflektierter Entschluß braucht nicht durch ein reines Interesse bestimmt zu sein. Nun stellt er den reinen Interessen nur die sinnlichen gegenüber. Er ist also, im Gegensatz zu der hier gezogenen Folgerung, der Meinung, daß ein nur sinnliches Interesse einen
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besonnenen Entschluß bestimmen könne. An einer späteren Stelle seines Werkes (V, 216) spricht er das direkt aus: „auch ein auf äußeren Eindrücken beruhender und also sinnlicher Antrieb kann den Willen in der Form der Besonnenheit bestimmen.“ Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Jemand, der große Angst vor einer ihm bevorstehenden Zahnbehandlung hat, entschließt sich trotzdem besonnen, den Weg zum Zahnarzt zu machen und die Behandlung über sich ergehen zu lassen. Was ihn dazu bewegt, ist nicht etwa die bloße Angst vor den Schmerzen und Unannehmlichkeiten, die ihm bei einer Verschleppung des Leidens bevorstehen und die voraussichtlich größer sind als die des operativen Eingriffs. Im Augenblick, wo er sich auf den Stuhl setzen und den Mund öffnen soll, tritt die Angst vor dem, was später geschehen könnte, in der Regel zurück gegenüber der Angst vor dem, was jetzt gleich geschehen wird. Wenn er trotzdem standhält, so aus dem Bewußtsein, daß es besser ist, die Operation durchzustehen als sich, um den Preis einer Verschlimmerung des Übels, von ihr zu drücken. Er vergleicht die beiden für ihn hier möglichen Verhaltensweisen auf Grund der Frage: Was ist hier das Bessere? Was ist mir mehr wert? Damit stellt er die eigenen Antriebe in einen Wertzusammenhang, und darin liegt bereits eine vernünftige Verarbeitung dessen, was durch die gegebene Situation an Sorgen und Befürchtungen in ihm angeregt ist. Nelsons strenge Scheidung in reine und sinnliche Interessen läßt sich also hier nicht halten. Praktische Sinnlichkeit und praktische Vernunft sind nicht die Quellen für verschiedene Arten von Interessen, die je nur der einen oder nur der anderen entstammen. Sondern //45// genau wie im Gebiet des Erkennens gilt auch für den Bereich der Interessen, daß nahezu in allen geistigen Äußerungen sinnliche Anregungen in sinnvollen Zusammenhängen aufgefaßt werden. Und das Vermögen, solche Zusammenhänge zu erfassen, ist die Vernunft.
IV. Abschnitt Das Gebot der Gerechtigkeit Was haben wir mit diesen Überlegungen gewonnen für die Ausgangsfrage, ob und wie weit der Mensch es dem Zufall entziehen kann, daß er sich für das entscheidet, was gut und erstrebenswert ist? Wir fassen im lebendigen, im eigentlichen Interesse mehr auf als den bloßen Drang einer Laune. Wir fassen Wertzusammenhänge auf, Maßstäbe, an denen wir
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das Bessere vom Schlechteren unterscheiden. Wir können uns im besonnenen Entschluß an solchen Maßstäben orientieren. Wir können nach Gründen handeln und brauchen uns nicht zum Spielball der eigenen Launen zu machen. Wenn wir allerdings mit diesem Ergebnis auf die Wertmaßstäbe blicken, von denen Menschen sich faktisch im besonnenen Handeln leiten lassen, dann scheint für die Frage, die Nelson beschäftigt, sehr wenig gewonnen zu sein. Die Maßstäbe, von denen ein Mensch sich leiten läßt, brauchen schon untereinander nicht zusammenzustimmen. Es tritt einmal diese, das andere Mal eine andere Leitlinie hervor, und sie drängen den Menschen in entgegengesetzte Richtungen. Solche Leitlinien und Maßstäbe, von dem betreffenden Menschen vielfach selber nicht durchschaut und bewußt bejaht, können verworren und seicht sein. Sie können Rücksichtslosigkeiten der Umwelt gegenüber geradezu zur Richtschnur des eigenen Verhaltens machen und damit menschliche und sittliche Regungen ersticken. Sie können verbrecherischen Charakter haben. Eben darauf beruht die Tatsache, von der wir ausgingen, daß wir uns in den Katastrophen unserer Zeit nicht blinden Naturgewalten ausgeliefert sehen, sondern Kräften und Einrichtungen, die von Menschen besonnen geschaffen wurden und die von Menschen besonnen eingesetzt werden. In Wahrheit aber dringen Nelsons Untersuchungen, schon in den bis//46//her betrachteten Abschnitten und unbeschadet der an ihnen geübten Kritik, viel weiter als bis zu der Feststellung, daß der Mensch besonnen im Sinn irgend welcher, vielleicht sehr fragwürdiger, ja verhängnisvoller Maßstäbe sein Handeln dem Zufall entziehen kann. Entscheidend ist sein Hinweis, daß dem uns leitenden Interesse gegenüber, das den Wert, dem es gilt, nur in einem Gefühl auffaßt, klärende Besinnung immer wieder notwendig, aber auch möglich ist. Immer da, wo der Zwiespalt der eigenen Interessen zu der Frage führt, ob die Dinge, denen wir unser Interesse zuwenden, es wert seien, unser Leben zu füllen, und insbesondere da, wo es um die Forderungen des Gewissens geht, ist der Weg offen zu einer tieferen Verständigung mit der mahnenden Stimme und damit zu einer Weitung und Vertiefung des eigenen Wertens und Strebens. Bei den Bemühungen um ein solches tieferes Verständnis, um Klärung und Vertiefung der eigenen Interessen geht es um eine Wahrheitsfrage. Das ist eine weitere wesentliche Erwägung, auf der Nelsons Untersuchungen beruhen. Wer sich ernsthaft die Frage vorlegt, ob das, wofür er sich einsetzt, wert ist, sein Leben zu bestimmen, der fragt nach mehr als nach der augenblicklichen Laune, die ihn in diese oder jene Richtung drängen mag. Im Ringen um solche Entscheidungen liegt das Bewußtsein, daß sie falsch getroffen werden können, daß wir uns irren können in dem, woran wir uns für die Wahl der eigenen Zwecke orientieren. Das ist kein Widerspruch zu der Behauptung, daß die Entscheidung über das, was wir erstreben,
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immer von einem eigentlichen Interesse und nicht von einer bloßen Wertüberzeugung ausgeht. Das eigentliche Interesse ist mehr als eine bloße Wertüberzeugung. Aber es ist, sofern es überhaupt zu besonnenem Handeln anregen kann, auch mehr als eine bloße Laune. Die persönliche Anteilnahme, die es als eigentliches Interesse kennzeichnet, richtet sich auf etwas, das uns wertvoll ist. Damit erhebt es einen Wahrheitsanspruch und schließt eine Wertüberzeugung ein. Wir kommen hier erneut auf das zentrale Anliegen zurück, das Nelson in seiner Theorie der Interessen faktisch behandelt. Ist es ihm gelungen, jedenfalls für diese im eigentlichen Interesse liegende Wertüberzeugung eine unmittelbare praktische Vernunfterkenntnis aufzuweisen, nach der sich in einem vorliegenden Zweifelsfall eindeutig, ja mit wissenschaftlicher Genauigkeit entscheiden läßt, was zu tun das sittlich Gute ist? //47// Nelson stellt diesen Anspruch und nennt zwei Maßstäbe, die solche unmittelbaren praktischen Ansprüche der Vernunft in begrifflicher Form wiedergeben und damit als Grundsätze sein System der philosophischen Ethik und Pädagogik, der Rechtslehre und Politik bestimmen. Dieses ganze philosophische System ruht, außer auf diesen Grundsätzen, nur auf der einen selbstverständlichen Annahme, daß sie ihre Anwendung finden sollen im Leben der Menschen und für die Gestaltung menschlichen Zusammenlebens in der Natur. Der erste Maßstab ist das Gebot der Gerechtigkeit, das den Charakter der Pflicht und damit der unabdingbaren Forderung an den menschlichen Willen hat; der zweite ist das Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung, das dem Menschen positive Werte aufweist, die seinem Leben echten, erstrebenswerten Inhalt zu geben vermögen, ohne daß die Erreichung dieser Werte ihm als Pflicht geboten wäre. Ich werde mich im folgenden wieder auf die Untersuchung des ersten Maßstabs beschränken, soweit er nicht selber auf den zweiten Bezug nimmt und uns damit nötigt, auch diesen Maßstab genauer ins Auge zu fassen. Das Gebot der Gerechtigkeit verlangt, daß wir bei der Entscheidung für eine Handlung nicht nur die eigenen Interessen berücksichtigen, die bei der Handlung befriedigt oder verletzt werden, sondern daß wir auch die Interessen anderer, die von unserer Handlung betroffen werden, in unsere Abwägung einbeziehen, als ob sie auch die unseren wären. Ich habe verschiedentlich in philosophischen Übungen dieses Gebot mit Studenten durchgesprochen und bin dabei immer wieder auf eine seltsam zwiespältige Beurteilung gestoßen. Sie zeigte sich in der Regel schon bei den ersten Bemühungen, Sinn und Tragweite dieser Forderung zu verstehen. Sie trat nicht etwa in der Form eines Meinungsstreites auf, in dem eine Gruppe dem genannten Maßstab zugestimmt und eine andere gegen ihn Einwendungen erhoben hätte. Sondern der
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Zwiespalt wurde unmittelbar nahezu von jedem einzelnen, der überhaupt Stellung nahm, in gleicher Weise empfunden. Auf der einen Seite: Die hier angemeldete Forderung entspricht offen bar dem entscheidenden Anliegen des sittlichen Gefühls. Die Stimme des Gewissens weist uns immer wieder über die Enge der eigenen Interessen hinaus auf das, was unser Tun und Lassen für andere bedeutet. Auch das //48// Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Drohen von Katastrophen in der menschlichen Gesellschaft und in den Beziehungen der Völker gründet sich letzten Endes auf das Bewußtsein, daß im wirtschaftlichen und politischen Leben der Eigennutz von einzelnen und von Gruppen entscheidet, ohne daß die verheerenden Wirkungen, die solche Entscheidungen oft für eine ungeheure Schar von Menschen haben müssen, überhaupt ernsthaft in der Abwägung berücksichtigt werden. Von hier aus gesehen, erscheint das von Nelson formulierte Sittengesetz, das Gebot der Gerechtigkeit, geradezu als selbstverständliche Forderung, als so klar und einleuchtend, daß man Nelsons Bemühungen, es bis ins letzte wissenschaftlich zu begründen, fast verständnislos gegenübersteht und jeden Versuch, für irgend einen gegebenen Fall, die hier angemeldete Forderung zu bestreiten, als Sophisterei von vornherein ablehnt. Der Wahrheitskern dieser Forderung erscheint unbestreitbar. Aber auf der anderen Seite steht der Eindruck, daß diese Forderung Übermenschliches verlange, daß niemand ihr gerecht werden könne, ja – was für unsere Frage vielleicht noch wichtiger ist – daß sie, von einfachen Sonderfällen abgesehen, auch keineswegs hinreiche, in echten sittlichen Konflikten eindeutig zu entscheiden, was zu tun Pflicht sei. Und damit melden sich die Zweifel, ob die anscheinend so selbstverständliche Forderung dem, der guten Willens ist, wirklich als Maßstab dienen könne. Gehen wir diesen Bedenken auf den Grund, dann stoßen wir auf zwei Schwierigkeiten in der Anwendung dieses Gebotes. Die eine betrifft die Frage, was wir als die Interessen unserer Mitmenschen in der eigenen Abwägung berücksichtigen sollen, die andere besteht in der Erwägung, daß bei gewissenhafter Anwendung dieses Maßstabs der Bereich dessen, was wir ins Auge fassen sollen, ins Unermeßliche wächst und damit eine Abwägung überhaupt unmöglich macht. Nelson hat beide Schwierigkeiten gekannt und sich mit ihnen auseinandergesetzt. Das, wofür ein Mensch sich interessiert, ist nicht immer das, was in seinem Interesse liegt. Ein Gegensatz zwischen beiden kann herrühren von einem Irrtum über die Tatsachen, etwa dann, wenn jemand nach einer Sache verlangt, ohne zu wissen, welchen Schaden er sich mit ihr tun kann. Die Möglichkeit eines weit tieferen Gegensatzes aber ergibt sich aus unseren bisherigen Überlegungen, wonach sich in dem eigenen Interesse selber //49// die Frage melden kann, ob das, wofür wir uns einsetzen, denn auch wert ist, daß wir es tun. Wie für das menschliche
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Erkennen, so gibt es auch für das Werten und Sich-Interessieren des Menschen eine Entwicklung, und zwar eine Entwicklung, der gegenüber die Frage einen Sinn hat, ob sie zum Erfassen weiterer und höherer Werte führt oder auf Abwege gerät und im Seichten oder im sittlich Verwerflichen steckenbleibt. So wie wir im Streben nach Erkenntnis irren können, so können wir uns verirren im Suchen nach dem, was wert ist, daß wir es erstreben. Damit kann ein Gegensatz klaffen zwischen dem, wofür ein Mensch sich faktisch interessiert, und dem, was in Wahrheit in seinem Interesse liegt. Das Gebot der Gerechtigkeit verlangt die Berücksichtigung dessen, was im wahren Interesse des andern liegt, auf den wir mit unserem Handeln einwirken. Die Befolgung dieses Gebots setzt also Verständnis für dieses wahre Interesse des andern voraus. Dieses Verständnis aber wird ein Mensch nur gewinnen können in dem Maß, in dem er selber den Weg der Klärung, Weitung und Vertiefung des eigenen Wertens und Strebens gegangen ist. Dieser Weg aber ist nie abgeschlossen, und er ist nicht für alle Menschen derselbe. Wie soll es also möglich sein, einen endgültigen und festen Maßstab zu gewinnen für die gerechte Abwägung der Interessen? Wir stoßen mit dieser Frage auf eine der entscheidenden Schwierigkeiten, mit denen Nelson bei seiner Grundlegung der Ethik gerungen hat. Die Abwägung der Interessen, der eigenen und der anderer, kann nicht nach der bloßen Stärke der Interessen vorgenommen werden. Andernfalls wäre jedes noch so törichte und irregeleitete Interesse vorzugswürdig, wenn es nur mit überlegener Intensität und Stärke auftritt. Die Abwägung der Interessen setzt also eine wertende Vergleichung dieser Interessen voraus. Wie aber sollen wir über den Wert eines Interesses entscheiden? Nelson antwortet: „Überlegen wir nun, wie wir verfahren, um den Wert eines vorliegenden Interesses zu beurteilen, so finden wir, daß, wenn wir diese Wertung wenigstens in besonnener Weise vornehmen, wir das vorgelegte Interesse nicht unmittelbar als solches, sondern nur auf Grund einer Vergleichung werten. Wir vergleichen es mit den sonstigen Lebensäußerungen der Person, der es zukommt, und beurteilen es nach dem Verhältnis, in dem es zu dem Ganzen des Lebens dieser Person //50// steht. … Das allgemeine Interesse, das der Bewertung unserer einzelnen Interessen zugrunde liegt, ist also das objektive Interesse am Wer t unseres Lebens überhaupt.“ (IV, 249 f.) Dieses objektive Interesse am Wert des eigenen Lebens ist nun nach Nelson nichts anderes als das unmittelbare reine Interesse, das dem Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung zugrunde liegt und selber dem ästhetischen Interesse ange-
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hört.5 Der Inhalt dieses Ideals bestimmt sich aus der Erwägung, daß der Mensch als vernünftiges Wesen zu einer Selbsttätigkeit fähig ist, die mehr ist als die bloße Empfänglichkeit für Einwirkungen der Umwelt. „Das reale Prinzip der inneren Selbsttätigkeit ist der Wille. Die willkürliche Leitung des eigenen Lebens ist daher eine begrifflich bestimmbare Bedingung des ästhetischen Wertes der Persönlichkeit. Aber wir müssen hier noch einen Unterschied beachten. Es gibt eine Abstufung hinsichtlich des Grades der persönlichen Selbsttätigkeit, und es läßt sich demgemäß mit Recht von einer größeren oder geringen Intensität des Lebens sprechen. Der Wille, dieses reale Prinzip der persönlichen Selbsttätigkeit, wird nämlich seinerseits bestimmt durch Antriebe. Der Antrieb des Willens ist selbst entweder durch zufällige äußere Eindrücke bestimmt: dann hängt das Wollen von den zufälligen Umständen ab, in denen die Person sich gerade befindet. Oder das Handeln geschieht auf besonnene Weise, also nach einem reflektierten Antrieb. Aus der bloßen Reflexion entspringt aber kein Antrieb, und es entsteht daher die Frage, welcher Art die unmittelbaren Antriebe sind, die hier nur durch Vermittlung der Reflexion auf den Willen wirken. Diese Antriebe können ihrerseits wieder sinnliche Antriebe sein und also von äußerer Einwirkung abhängen. Oder aber sie sind reine Antriebe und entspringen also aus der eigenen Vernunft des Handelnden. Erst unter dieser letzten Be//51//dingung können wir im vollen Sinne von Selbstbestimmung sprechen. Wir kommen also zu dem Satze, daß die Herrschaft des vernünftig bestimmten Willens über das Leben eine Bedingung des ästhetischen Wertes der Persönlichkeit ist.“ (IV, 452 f.) „Die Entwicklung der vernünftigen Anlage im Menschen, durch die seine Freiheit in Erscheinung tritt, ist so wenig nach einem Naturgesetz wie nach einem Sittengesetz notwendig. Sie bleibt vielmehr rücksichtlich der Naturnotwendigkeit sowohl als auch der sittlichen Notwendigkeit zufällig. Wo wir sie daher dennoch antreffen, ist sie der Grund
5 „Wenn man nämlich einmal fragt, was eigentlich das Schöne sei, so findet sich, daß man darunter nichts anderes versteht als das an sich Wertvolle, d.h. das ohne Vergleichung mit anderem, an sich Schätzenswerte. Wenn diese Schätzung auf den Wert des vernünftigen Wesens geht, so bezieht sie sich auf einen Wert, den dieses Wesen sich selber gibt. Handlung ist also hier der Gegenstand der Schätzung. Sofern aber Handlung, die unmittelbare Äußerung eines Willens, schätzenswert ist, bezeichnen wir diesen Wert als das an sich Gute.“ (V, 326)
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eines ästhetischen Gefallens. Und diese positive Bedingung des Wertes der Persönlichkeit bestimmt den Inhalt des Ideals.“ (IV, 456) Die Entfaltung und Betätigung der eigenen vernünftigen Anlagen – sie umfassen das Vermögen zu erkennen und die reinen Interessen am sittlich Guten und am Schönen – ist das, was Nelson „Bildung“ nennt. Und so kommt er zu seinem Kriterium für die vom Sittengesetz gebotene Abwägung der Interessen: „Wir können dieses Kriterium auch so formulieren, daß dasjenige Interesse vorzugswürdig ist, das eine vollkommen gebildete Person vorziehen würde, wenn die kollidierenden Interessen in ihr vereinigt wären. Denn eine vollkommen gebildete Person ist dadurch definiert, daß sie einerseits stets das Wertvollere als solches erkennt und andererseits das als wertvoller Erkannte stets dem als weniger wertvoll Erkannten vorzieht. Sie ist also gerade dadurch charakterisiert, daß die Inkongruenz von Stärke und Wert der Interessen bei ihr nicht besteht.“ (IV, 252) Gerade diese Formulierung aber zeigt, daß wir einen eindeutig anwendbaren Maßstab für die Abwägung der Interessen nicht in der Hand haben. Offenbar könnte nur die „vollkommen gebildete Person“ das hier genannte Kriterium wirklich anwenden. Die aber gibt es nicht unter Menschen, deren Bildung nie abgeschlossen und vollkommen ist. So sagt denn auch Nelson selber: „Ich will die Ansicht, die der einzelne vom Wert des Lebens überhaupt hat, kurz seine praktische Lebensansicht nennen. Wir können dann sagen, daß die Bestimmung der Materie der Pflicht//52//überzeugung … nicht nur abhängt von dem theoretischen Wissen des einzelnen, sondern auch von seiner praktischen Lebensansicht. Je nachdem diese eine rohere oder gebildetere ist, wird er den Wert der kollidierenden Interessen so oder anders beurteilen und demgemäß auch die Materie der Pflicht oder den Inhalt des Rechts richtig oder falsch bestimmen.“ (IV, 253) Die Idee der vollkommen gebildeten Person könnte uns bestenfalls als Idealbild dienen, dem wir uns annähern könnten, ohne es je vollkommen zu erreichen. Aber auch dagegen erheben sich Bedenken. Die vollkommen gebildete Person mißt das, was sie als wertvoll erkennt und erstrebt, an dem reinen objektiven Interesse am Wert des eigenen Lebens und Handelns. Gegen diese Vorstellung spricht schon die bisherige Kritik, nach der ein solches reines Interesse kein eigentliches Interesse ist und daher überhaupt nicht als Antrieb für den Willen in Frage kommt. Dagegen
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spricht aber noch mehr die seltsam egozentrische Haltung, mit der dieses Wesen den Wert des eigenen Lebens zum Maßstab der Werte macht, für deren Verwirklichung es sich einsetzt und in der es daher diesen einen Wert allen anderen überordnet. Nelson hat diesen Einwand gekannt und ihn zurückgewiesen: „Es gibt … eine reine Selbstliebe; reine Selbstliebe ist das Interesse an der Schönheit des eigenen Lebens, d.h. der eigenen Bildung. Diese Bildung besteht in der Hingabe an die Ideale der Wahrheit, der Schönheit und der Gerechtigkeit. Man könnte daher den Begriff der reinen Selbstliebe für paradox halten; denn wie kann die Hingabe an etwas anderes als an uns selber, nämlich an Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit, Selbstliebe genannt werden? Aber diese Paradoxie ist nur scheinbar. Wir lieben uns in reiner Selbstliebe, sofern wir den Wert unseres Lebens in der Hingabe an diese Ideale suchen. Die Opfer, die diese Hingabe an die Ideale uns auferlegt, sind in Wirklichkeit nur Opfer der Selbstsucht, es sind nämlich Opfer des Glücks. Ein solches Opfer ist nicht ein Opfer der Selbstliebe, d.h. der Schönheit des eigenen Lebens, sondern nur ein Opfer des Lebensgenusses, also des sinnlichen Interesses. In diesem Sinn ist die tiefe Wahrheit des paradoxen Wortes zu verstehen, daß nur der sein Leben gewinnt, der es verliert.“ (V, 255 f.) //53// Ich glaube nicht, daß Nelson damit die Paradoxie aufgelöst hat. Die Wahrheit jenes Bibelwortes geht tiefer. Wer in der Hingabe an etwas anderes als sich selber doch letzten Endes nur die Schönheit des eigenen Lebens sucht, hat sich nicht wirklich hingegeben. Gewiß kann echte Hingabe einem Leben Sinn und Wert geben. Wer aber unmittelbar nur am Sinn und Wert des eigenen Lebens interessiert ist, wird den Sinn und Wert des eigenen Lebens gerade verfehlen, der in der Hingabe an etwas liegt, das das eigene Leben überragt. Das bedeutet keineswegs, daß die ernsthafte und tiefgehende Besinnung auf Sinn und Wert des eigenen Lebens als egozentrische Haltung zu verurteilen sei. Sie kann für einen Menschen zum echten vordringlichen Anliegen werden. Es schließt auch nicht aus, daß diese Besinnung zu dem führt, was Nelson unter vernünftiger Selbstbestimmung versteht: die Gestaltung des eigenen Lebens aus den Kräften der eigenen Vernunft und nach dem Maß der eigenen Einsicht in das, was zu tun gut ist. Wer aber in dieser Besinnung steckenbleibt und nichts Höheres kennt als das Verlangen, dem eigenen Leben Sinn und Wert zu geben, dessen Leben ist inhaltsleer. Die zweite Schwierigkeit, die sich der Anwendung des Gebots der Gerechtigkeit entgegenstellt, liegt in der Bestimmung des Kreises von Interessen, die bei der Abwägung berücksichtigt werden sollen. Dieses Gebot verlangt, alle von der Hand-
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lung betroffenen Interessen in die Abwägung einzubeziehen, und da fragt es sich, ob die Gesamtheit aller betroffenen Interessen einen endlichen und abgeschlossenen Bereich bildet, so daß wir sie überblicken und daher abwägen können. Diese zunächst vielleicht formal und gekünstelt erscheinende Frage wird lebendig, sobald wir das eigene Handeln im Zusammenhang der mitmenschlichen Beziehungen sehen, in denen wir stehen. Vom Verhalten eines Menschen gehen Wirkungen auf seine Umwelt aus, die das Leben anderer fördernd oder hemmend beeinflussen, Wirkungen, die sich nur zum Teil als Folgen bestimmter einzelner Handlungen erkennen lassen, zum großen Teil aber mehr oder weniger unbeachtet ausgelöst werden von der ganzen Art, wie ein Mensch lebt und sich verhält. Wie tief solche Einwirkungen in das Leben eines anderen Menschen, insbesondere in das Leben von Kindern eingreifen können, hat die moderne Tiefenpsychologie gezeigt. Aber auch wirt schaftliche und gesellschaftliche Wechselbeziehungen zwischen den Men//54//schen bringen es mit sich, daß, was einer tut, unabsehbare Folgen für andere haben kann. Wie weit sollen wir die Wirkungen unserer Handlungen, auch die nur mittelbar ausgelösten Wirkungen, vorausbedenken und in unsere Abwägung einbeziehen? Die Frage nach den Wirkungen des eigenen Verhaltens führt noch tiefer, wenn wir hinzunehmen, daß auch das Unterlassen einer Handlung selber eine Handlung sein kann. Zwar sagt Nelson: „Für die Anwendung des Sittengesetzes kommt es nur darauf an, widerrechtliche Interessenverletzungen zu vermeiden; es ist aber nicht die Förderung der Interessen anderer geboten.“ (V, 476) Aber er meldet selber die Stelle an, an der diese Begrenzung praktisch aufgehoben wird: „Daher fordert denn auch die Gerechtigkeit nicht, sich die Interessen anderer Personen positiv zu eigen zu machen, sondern nur, sie nicht unter Mißachtung der persönlichen Gleichheit zu verletzen. Eine Pflicht zur positiven Befriedigung der Interessen anderer Personen kann sich nur mittelbar ergeben. Es kann eine Ungleichheit dadurch entstehen, daß andere Personen im Gegensatz zu uns gar nicht die Möglichkeit haben, selber ihre Interessen zu befriedigen. … Soweit es für sie nicht möglich ist, selber ihre Interessen zu befriedigen, während wir diese Möglichkeit besitzen, entsteht eine Ungleichheit, der zufolge unser Recht auf Interessenbefriedigung eingeschränkt ist; denn wir könnten in der Lage der
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anderen nicht einwilligen, hilflos, d.h. ohne die Möglichkeit der Interessenbefriedigung, gelassen zu werden.“ (V, 139) „Angenommen z.B., wir stehen vor der Frage, ob wir einem ohne sein Zutun in Not geratenen Menschen, der auf unsere Hilfe angewiesen ist, diese Hilfe gewähren und uns die damit für uns verknüpfte Entbehrung eines Vergnügens auferlegen sollen. Für diesen Fall verlangt das Prinzip …, daß wir die hier in Frage stehenden Interessen gegen einander abwägen, ohne Rücksicht darauf, ob sie unsere eigenen oder die des Behandelten sind, daß wir also das Interesse des Behandelten in gleicher Weise in Rücksicht ziehen, wie wir es tun würden, wenn es das eigene wäre. Offenbar werden wir es vorziehen, uns gelegentlich ein Vergnügen zu versagen, als, wenn wir ohne unser //55// Zutun in Not geraten sind, überhaupt ohne alle Hilfe zu bleiben.“ (V, 137) Gerade dieser grundsätzlichen Erwägung werden wir uns nicht verschließen können. Es bedarf aber keiner langen Untersuchungen, um festzustellen, daß die große Mehrzahl der Menschen unserer Zeit auf Schritt und Tritt von anderen umgeben ist, die sich in einer solchen Notlage befinden, die schlechter daran sind als wir selber und die auf die Hilfe der anderen angewiesen sind, nicht einmal, um zu der gleichen Interessenbefriedigung zu gelangen wie jene, sondern nur, um überhaupt ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Wir brauchen nur an das Kinderelend unserer Zeit zu denken, an die Not von Flüchtlingen und Arbeitslosen und all derer, die von den Kriegsfolgen besonders hart getroffen sind. Und weiter: Die uns umgebende Not rührt zum überwiegenden Teil nicht von außermenschlichen Naturgewalten her, von Krankheit etwa oder Naturkatastrophen. Sondern sie ist Folge menschlicher, gesellschaftlicher, politischer Beziehungen, in denen wir leben und an denen wir teilhaben und zu deren Erhaltung oder Änderung jeder einzelne durch sein Tun und Unterlassen beiträgt. Gibt es in diesem unabsehbaren Feld menschlicher Beziehungen und menschlicher Not eine Grenze der eigenen Verantwortung? Das Sittengebot, das Gebot der Gerechtigkeit, nennt keine solche Grenze. Wie soll es dann aber überhaupt möglich sein, für die eigenen Entscheidungen einen überblickbaren Bereich der von unserer Handlung – oder von unserer Unterlassung! – betroffenen Interessen aufzufassen, in dem allein eine gerechte Abwägung dieser Interessen vorgenommen werden kann? Nelson setzt sich an einer Stelle seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ mit dieser Frage in einer sehr formalen, man könnte geradezu sagen: mathematischphysikalischen Art auseinander. Nachdem er, durch die Analyse unserer faktischen sittlichen Urteile, das Gebot der Gerechtigkeit als den ihnen letzten Endes
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zugrunde liegenden Maßstab aufgedeckt hat, stellt er sich die Frage, von welchen Bedingungen die Anwendbarkeit dieses Sittengesetzes auf menschliches Handeln in der Natur abhängig ist. Er kommt dabei auf zwei Probleme. Seiner Form nach ist das Sittengesetz ein Gesetz, das dem menschlichen Willen Pflichten auferlegt. Von einer Pflicht zu sprechen, hat aber nur dann einen Sinn, wenn der //56// Verpflichtete sie erfüllen, aber auch sie verletzen kann. Und da fragt es sich, wie das vereinbar ist mit der Überzeugung, daß auch menschliches Handeln unter Naturgesetzen steht und durch sie bestimmt wird. Seinem Inhalt nach verlangt das Sittengesetz die Abwägung der von der Handlung betroffenen Interessen. Diese Abwägung ist nur möglich, wenn der Bereich der Wirkungen einer Handlung auf die Interessen anderer Personen endlich und übersehbar ist. Wie aber ist das vereinbar mit der Überlegung, daß der Wirkungsbereich eines Geschehens räumlich und zeitlich unabgeschlossen und daß damit die Kette der Wirkungen, die eine Handlung auf fremde Interessen haben mag, selber unabgeschlossen und also nicht endlich ist? Mit dieser zweiten Antinomie haben wir es hier zunächst zu tun. Nelson löst sie durch die Behauptung, daß die Unabgeschlossenheit des Wirkungsbereichs einer Handlung zwar eine absolute, nicht aber eine objektive Anwendung des Sittengesetzes unmöglich macht. Er erläutert diese Unterscheidung durch ein physikalisches Beispiel. Von der Geschwindigkeit eines Körpers zu sprechen, hat nur Sinn, wenn man ein Bezugssystem angibt, relativ zu dem die Geschwindigkeit bestimmt ist. Für irdische Geschwindigkeiten pflegt im allgemeinen das Bezugssystem die Erde zu sein, die wir insofern als ruhend denken. Schon das ist nicht notwendig: Wir können von der Geschwindigkeit eines Menschen relativ zu einem fahrenden Eisenbahnzug sprechen, in dem er sich bewegt. Diese Geschwindigkeit wird dann eine andere sein als die, die derselbe Mensch bei derselben Bewegung relativ zu der Landschaft hat, an der sein Zug vorbeifährt. Für die Geschwindigkeit gibt es also auch keine absolute Bestimmung. Und trotzdem können wir sie relativ zu dem angegebenen Bezugssystem objektiv bestimmen. Auch für die Anwendung des Abwägungsgesetzes verlangt Nelson ein Bezugssystem, in dem wir die Abwägung vornehmen. Dieses Bezugssystem bestimmt den Bereich der Wirkungen unserer Handlung, der bei der Abwägung berücksichtigt wird. Dieser Vergleich hinkt allerdings insofern, als wir nicht etwa die betroffenen Interessen relativ zu diesem Bezugssystem bestimmen, sondern durch die Wahl des Systems den Kreis der berücksichtigten Interessen abgrenzen gegenüber denen, die in die Abwägung nicht mehr einbezogen werden. Damit stellt sich die Frage, //57// wie weit die Unterscheidung von absoluter und objektiver Bestimmung sich von dem physikalischen Beispiel auf die Anwendung des Abwägungsgesetzes übertragen läßt. Für die Bestimmung der Geschwindigkeit ist die Wahl des Bezugssystems der Wahl des Physikers überlassen; er wird sie so treffen, wie das für die Behand-
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lung des gerade vorliegenden physikalischen Problems am günstigsten ist. Er kann dabei, durchaus nebeneinander, die Geschwindigkeit einer Bewegung relativ zu verschiedenen Bezugssystemen berechnen. Für die Anwendung des Sittengesetzes aber kommt es auf die Entscheidung der Frage an, was in einem gegebenen Fall Pflicht ist. Hier kann es, wenn eine objektive Entscheidung getroffen werden soll, nicht der Willkür des einzelnen überlassen bleiben, dieses oder jenes Bezugssystem zu wählen und durch diese Wahl das Ergebnis der Abwägung so zu bestimmen, wie es ihm genehm ist. Wie weit sollen wir also mit unserem Bezugssystem gehen? Darauf sagt Nelson: „Diese Frage erscheint noch unendlich vieldeutig. In Wahrheit brauchen wir uns aber nur des in dem Sittengesetz enthaltenen Kriteriums zu bedienen, um diese Frage eindeutig zu entscheiden. Wenn uns mehrere Systeme von verschiedenem Umfang vorliegen, so ergibt sich die Entscheidung, welches von diesen Systemen zu bevorzugen ist, von selber. Das Sittengesetz enthält für sich keine Beschränkung auf ein bestimmtes System. Wenden wir also das Gesetz in der Allgemeinheit, die es tatsächlich hat, an. Fragen wir uns, ob, wenn wir die in dem umfassenderen System über das engere noch hinaus liegenden Interessen zu den unsrigen hinzunehmen, wir einwilligen könnten, daß diese Interessen von der Berücksichtigung ausgeschlossen würden. Offenbar könnten wir nicht in ihre Übergehung einwilligen, wenn sie die unsrigen wären. Unsere Frage entscheidet sich also dahin, daß zur Anwendung des Sittengesetzes das umfassendste jeweils zur Wahl vorliegende System zugrunde gelegt werden muß. Hiermit ist gezeigt, daß in der Tat die Ausschließung unendlicher Systeme nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend ist, um für jeden Fall eine eindeutige Anwendung des Sittengesetzes seinem Inhalt nach möglich zu machen.“ (IV, 331 f.) Nelson setzt in dieser Antwort stillschweigend voraus, daß es unter den zur Wahl stehenden Systemen ein umfassendstes gibt. Diese Vorausset//58//zung ist aber alles andere als selbstverständlich. Man könnte zwar daran denken, dieses System durch den Bereich alles dessen zu bestimmen, was der Mensch, der vor einer Entscheidung steht, in diesem Augenblick überschaut an möglichen Wirkungen seiner Handlung und an Interessen, auf die er mit seiner Handlung Einfluß nimmt. Aber gerade das wäre offenbar in vielen Fällen zu eng. Jede ernstere Entscheidung verlangt zuvor, über den Bereich des bisher Bekannten hinaus, die besonnene Prüfung der Frage, welche Folgen unser Verhalten voraussichtlich haben und wie es in das Leben anderer eingreifen wird. Je nach dem, wie weit und in welcher Richtung
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wir diese Prüfung vornehmen, werden wir ganz verschiedene Systeme bekommen. Wer diese Prüfung so weit treiben wollte, daß er bis zu dem umfassendsten, seiner Kenntnis und Einsicht überhaupt zugänglichen System vordringt, der wird die Gelegenheit zum Handeln verpassen. Sein Verhalten wäre daher, gemessen an dem unbestreitbaren Wahrheitskern der Nelsonschen Forderung, ebensowenig berechtigt wie die Haltung des Menschen, der ohne die Prüfung der Situation sich nur an dem orientiert, was ihm im Augenblick gegenwärtig ist. Auch das Handeln von Menschen, die guten Willens sind, ist immer beiden Gefahren offen: der Gefahr, vorschnell zu Entschlüssen zu kommen und Einwände, die sich bei näherer Prüfung hätten finden lassen, nicht zu beachten, und der Gefahr, sich in Skrupel zu verlieren und damit in der eigenen Initiative auch dem sittlich Gebotenen gegenüber gelähmt zu werden. Einen sicheren Mittelweg, der beide Gefahren ausschließt, gibt es nicht. Auch das Gebot der Gerechtigkeit nimmt uns das Risiko und Wagnis, das in der Wahl des „Bezugssystems“ liegt, nicht ab. Wie ein Mensch dieses Wagnis auf sich nimmt, wird abhängen von dem, was ihn faktisch zum Handeln bestimmt. Es hängt ab von seinen eigentlichen Interessen, im Fall einer sittlichen Entscheidung also von seinen lebendigen sittlichen Interessen und Antrieben und nicht von seiner abstrakten Einsicht ins Sittengesetz und seiner Zustimmung zu ihm. Wo immer wir Menschen treffen, deren Leben geprägt ist von dem Bewußtsein der sie umgebenden Not und ihrer Verantwortung dieser Not gegenüber – denken wir an Gandhi und seinen Kampf für die Befreiung des indischen Volkes, nicht nur von der Herrschaft der Engländer, sondern auch von der des eigenen Triebs zur Gewaltanwendung, an Dunant, der, vom //59// Elend eines Schlachtfelds angesprochen, sein Leben für die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes einsetzt, an Albert Schweitzers Entschluß, vom 30. Lebensjahr an einen Weg des unmittelbaren Dienens am Menschen zu gehen, und an viele andere –, da geht nicht nur der Anstoß, der sie auf diesen Weg bringt, von besonderen Erfahrungen aus, die ihren Blick und ihre persönliche Anteilnahme auf bestimmte Aufgaben richten, sondern ihr ganzer Lebensweg, die Art, wie sie im einzelnen ihre Aufgaben wählen, das Maß ihrer Bemühungen, diese Aufgaben in einem größeren Zusammenhang zu sehen und daran zu messen, die Art, in der sie bei jedem einzelnen Schritt dessen Folgen sorgsam vorher überlegen oder aber entschlossen ein Risiko auf sich nehmen, all das bleibt bestimmt von der echten persönlichen Anteilnahme, die sich als solche nie dem abstrakten, von allen sinnlichen Anregungen befreiten Gedanken des Abwägungsgesetzes zuwendet, sondern bestimmten, den eigenen Willen bedrängenden Aufgaben. Nur daher schließt sich für solche Menschen im eigenen Handeln die Lücke, die das Gebot der Gerechtigkeit seinem Inhalt nach offenläßt und die es, unbeschadet des tiefen Wahrheitskerns, den es enthält, untauglich macht, und sei es auch nur für die sittli-
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che Überzeugung, als oberster Grundsatz zu gelten, aus dem sich in jedem Fall unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände eindeutig und objektiv ein Urteil über Pflicht und Recht gewinnen ließe. In die Reihe dieser Menschen gehört auch Leonard Nelson. Nur daraus erklärt sich die Kraft der Wirkung, die er gerade auf das Leben junger Menschen ausgeübt hat. Auch er hat faktisch in seinem Leben das „Bezugssystem“ gewählt, in dem er selber das Gebot der Gerechtigkeit anwandte: es ist bestimmt durch die Aufgabe, eine politische Bewegung und eine ihr dienende politische Erziehung ins Leben zu rufen, deren Ziel die gerechte Ordnung des öffentlichen Lebens ist. Er hat es allerdings getan mit dem Anspruch, damit nicht nur für das eigene Leben, sondern für jeden hinreichend Gebildeten unserer Zeit das umfassendste und damit schlechthin verbindliche System aufgewiesen zu haben. Die Zwiespältigkeit des Eindrucks, der sich bei der Auseinandersetzung mit dem Sittengesetz der kritischen Philosophie einstellt, ist nach den vorangehenden Erwägungen wohl zu verstehen. Die Kritik, zu der wir hier gekommen sind, zielt nicht dahin, Gegenbeispiele aufzuzeigen, //60// also auf Situationen hinzuweisen, in denen die Forderung unberechtigt und falsch wäre, die von unserer Handlung betroffenen Interessen anderer gerecht zu berücksichtigen. Es genügt wohl, sich den Sinn dieser Forderung wirklich klargemacht zu haben, um nach solchen Gegenbeispielen nicht zu suchen. Dieser Sinn wird lebendig, wo wir in einer konkreten Situation dem mahnenden sittlichen Gefühl tiefer auf den Grund gehen, um seinen Wahrheitsanspruch aufzufassen. Aber er wird eben auch nur lebendig in dem Prozeß des sich entwickelnden und vertiefenden echten sittlichen Gefühls und kann uns nicht etwa als rational erfaßter und anerkannter Grundsatz diesen inneren Wachstumsprozeß abnehmen. Auch das sittliche Leben des einzelnen Menschen und der Menschheit ist an Entwicklung und Wachstum gebunden. Es gibt im Leben des einzelnen und in der Geschichte der Menschheit Zeiten, in denen der Kreis der Mitmenschen und der Mitgeschöpfe, denen gegenüber der Mensch sich verantwortlich weiß, sich weitet und neue Bereiche aufnimmt, denen vorher auch im Gefühl kaum Beachtung geschenkt wurde. Die Beziehung zum Volks- und Rassenfremden, zum Sklaven und Untergebenen, zum Schwachen und Leistungsunfähigen, die Beziehung des Menschen zum Tier, sie werden plötzlich oder allmählich miterfaßt, und es setzt ein Ringen ein darum, die Grenzen des Eigennutzes und der Stumpfheit zu über winden, die dieses fremde Leben, mit dem wir in Wechselwirkung stehen, unserer Achtung und Rücksichtsnahme entziehen. Weder für den einzelnen noch für die Menschheit ist dies ein Prozeß, der stetig in die Weite führt. Solche Grenzen können sich verhärten, ja sich wieder enger um den einzelnen und die Menschen einer Zeit und eines Volkes ziehen. Wir können
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in diesem Prozeß Fortschritt und Wachstum von Rückschritt und Verkümmerung unterscheiden, wir können aufmerksam werden auf solche Grenzen des Eigennutzes und der Stumpfh eit, vor denen das eigene Leben und das sittliche Bewußtsein unserer Zeit haltmachen. In solchen Einsichten meldet sich der Wahrheitsanspruch des sittlichen Gefühls, den das Sittengesetz aufzufassen sucht. Er kann demnach auch wachen über jenen inneren Wachstumsprozeß. Aber er enthält schon keine Sicherung dagegen, daß nicht immer wieder, vielleicht gerade durch die Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf neue Gebiete, andere, vielleicht noch näherliegende Aufgaben unbeachtet bleiben, ja aus dem //61// Bewußtsein verdrängt werden. Und er bietet erst recht keine Handhabe, uns von der Notwendigkeit weiteren Wachstums dadurch zu befreien, daß wir mit einem Schritt das sittliche Gefühl mit seinen konkreten und daher auch immer beschränkten Mahnungen ersetzen durch das von allen solchen Beschränkungen gedanklich befreite Sittengesetz. Damit wird zugleich etwas anderes deutlich. Wo sich im Werten und Streben eines Menschen das Verantwortungsbewußtsein weitet, da wächst die persönliche Anteilnahme, die auch das sittliche Gefühl erst als eigentliches Interesse kennzeichnet. Diese persönliche Anteilnahme aber ist immer mehr als die nur negative Haltung, fremde Interessen, die von der eigenen Handlung betroffen sind, nicht widerrechtlich zu verletzen. Wo keine positive Beziehung zum andern da ist, da bleibt es zwar durchaus möglich, sich selber bei der Versuchung zu einer offensichtlichen Rücksichtslosigkeit innerlich zur Ordnung zu rufen und zur Achtung vor dem klar erfaßten Recht des andern zu nötigen. Eine wirkliche lebendige Erweiterung des Kreises, der vom eigenen Verantwortungsbewußtsein erfaßt wird, läßt sich so aber nicht erzwingen. Wir rühren hier an die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Liebe. Ich kann auf die tiefen Fragen, die damit auftauchen, nicht weiter eingehen. Nur soviel wird klar: Wer in dieser Beziehung die Forderungen der Gerechtigkeit denen der Liebe schlechthin überordnet, gefährdet die Wurzel, aus der auch ein lebendiges, über bestehende Grenzen hinausdrängendes Rechtsgefühl allein wachsen kann. Daß eine entsprechende Gefahr vorliegt, wo man meint, um der Liebe willen die Anforderungen der Gerechtigkeit zurückstellen zu können, sei hier nur erwähnt.
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V.
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Abschnitt Die Freiheit des Willens
§ 1. Die metaphysische Freiheit Die unbedingte Überordnung des Gebots der Gerechtigkeit über alle anderen noch so hohen Werte im menschlichen Leben steht für Nelson fest auf Grund seiner Trennung zwischen Pflichten und Idealen. Gerechtig//62//keit ist der einzige Inhalt des Sittengesetzes und damit das einzige Kriterium für die Pflichten, die ein Mensch hat. Liebe aber ist ein Ideal und, wie jedes Ideal, auf die Bedingung der Pflichterfüllung eingeschränkt. „Nur durch die Trennung der Ideallehre von der Pflichtenlehre löst sich der Schein, als könnten für die Pflichtverletzung Entschuldigungsgründe angeführt werden, die sich auf ein Ideal – etwa das der Liebe – stützen, auf einen Wert also, der, wie man meint, den Unwert der Pflichtverletzung ausgleicht. Die Pflicht ist die einzige Anforderung, die jeden konkurrierenden Zweck einschränkt. Ein Ideal läßt dagegen eine Einschränkung seiner Erfüllung zu. Es gibt einen Rigorismus der Pflicht, aber keinen Rigorismus der Ideale.“ (V, 61 f.) Die tiefere Bedeutung, die diese Trennung im System der Nelsonschen Ethik hat, tritt noch schärfer an einer andern Stelle hervor: „Die Pf licht gebietet eine Handlung schlechthin; sie kann nur erfüllt oder verletzt werden. Das Ideal dagegen bestimmt nur ein Ziel, dem möglichst nahe zu kommen, uns aufgegeben ist, dessen vollkommene Verwirklichung aber nicht einmal immer in unserer Gewalt liegt. Hier gilt also nicht der Satz, daß die fragliche Aufgabe nur entweder erfüllt oder verletzt werden kann, sondern es bleibt die Möglichkeit einer größeren oder geringeren Annäherung. Verwechselt man in dieser Hinsicht das Ideal mit der Pflicht, so entsteht die widerspruchsvolle Behauptung von Pflichten, deren Erfüllung nicht in unserer Gewalt liegt, und damit von unerfüllbaren Geboten. Man kommt hier zu einem falschen Rigorismus, der das als Pflicht hinstellt, was in Wahrheit nur ein Ideal ist. … Dieser falsche Rigorismus hat der Ethik ungeheuer geschadet. Dadurch, daß im Namen der Moral Gebote aufgestellt werden, die sich bei unbefangener Betrachtung als unerfüllbar erweisen, ist der richtige Rigorismus in den
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Verdacht der Überspannung und die Ethik in den der Lebensfremdheit geraten. Dieser Vorwurf trifft mit Recht jene falschen Lehren, die z.B. eine Pflicht der allgemeinen Menschenliebe behaupten, oder ein Verbot der Gewaltanwendung schlechthin, Gebote, deren Erfüllung in der Welt der Tatsachen zum Scheitern verurteilt ist.“ (V, 198 f.) Die Behauptung einer Pflicht, deren Erfüllung nicht in unserer Gewalt liegt, schließt hiernach einen Widerspruch ein. Wir kommen damit auf die //63// praktische Bedeutung, die der Auflösung der ersten der bereits erwähnten beiden Antinomien für Nelsons Grundlegung und systematische Durchführung der Ethik zukommt: auf das Problem der Willensfreiheit. „Im Bewußtsein des Sollens liegt unmittelbar das Bewußtsein des Könnens. Was ein Wesen tun soll, das kann es auch tun. Man mag dahingestellt sein lassen, ob man mit Recht von einem Wesen sagen kann, es solle etwas tun. Sagt man dies aber, so sagt man eben damit ohne weiteres auch, es könne das tun, was es tun soll, könne es aber auch unterlassen. Wenn ein Wesen hinsichtlich seines Handelns unter der Notwendigkeit eines Müssens steht, so sind nur zwei Fälle möglich. Entwed er die Handlung, die es tun muß, ist zugleich dieselbe, die es tun soll, d.h. die auch in praktischer Hinsicht für es notwendig ist. Wenn aber ein Wesen eine Handlung tun muß, so ist es bedeutungslos, ihm vorzuschreiben, daß es sie tun soll. … Oder die Handlung, die ein Wesen tun muß, ist nicht zugleich dieselbe, die es tun soll und die also in praktischer Hinsicht für es notwendig ist. Dann besteht für das Wesen gar nicht die Möglichkeit, das zu tun, was es tun soll. Es hat also keinen Sinn, zu sagen, daß es solle. Das Sollen wäre folglich ohne alle Bedeutung, sowohl wenn das Müssen auf das geht, was sein soll, wie wenn es auf etwas anderes geht. … Der Begriff des Sollens ist also unter der Voraussetzung, daß ein Wesen unter der Notwendigkeit eines Müssens handelt, gänzlich unanwendbar. Die Bedingung der Anwendbarkeit des Sittengesetzes seiner Form nach ist daher die Unabhängigkeit des Handelns von der Notwendigkeit eines Müssens. Die Unabhängigkeit des Handelns von der Notwendigkeit eines Müssens ist Freiheit im engsten und strengsten Sinne des Wortes. Wir nennen sie, um sie von anderen Begriffen der Freiheit zu unterscheiden, bestimmter metaphysische Freih eit.“ (IV, 279 f.)
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Es fragt sich danach, ob diese metaphysische Freiheit vereinbar ist mit der Naturgesetzlichkeit allen Geschehens. Bedeutet die Naturgesetzlichkeit des Geschehens die Notwendigkeit eines Müssens? Unter der Naturgesetzlichkeit des Geschehens versteht Nelson die durchgängige Kausalität des Naturgeschehens in dem Sinne, in dem sie in //64// der klassischen Physik vorausgesetzt wurde und in dem sie ihren Ausdruck findet in der Idee des Laplace'schen Dämons. Jedes Geschehen ist danach nach Naturgesetzen kausal determiniert durch das, was ihm zeitlich vorhergeht. Wer diese Naturgesetze und alle für diese Kausalzusammenhänge wesentlichen Daten des Geschehens zu irgend einem früheren Zeitpunkt genau kennt, wäre danach in der Lage, ein bestimmtes kommendes Ereignis mit Sicherheit vorauszuberechnen. Was bedeutet nun die „Notwendigkeit eines Müssens“? Nelson erklärt diesen Ausdruck nicht, aber er gibt implicite eine Deutung, wenn er bei der Auflösung der Antinomie sagt: „Was behauptet zunächst das Postulat der Freiheit? Doch dieses, daß die Naturgesetze nicht hinreichen, um das Geschehen zu bestimmen. Es liegt darin die Voraussetzung, daß zu den Naturgesetzen etwas von ihnen Unabhängiges hinzukommen muß, um ein Geschehen möglich zu machen.“ (IV, 295 f.) Aus dieser Deutung folgert Nelson nun leicht, daß zwischen dem Postulat der Freiheit und der Naturgesetzlichkeit des Geschehens kein Widerspruch bestehe. Denn um irgend ein Geschehen nach Naturgesetzen zu berechnen, brauchen wir außer der Kenntnis der Naturgesetze die der Anfangsbedingungen, der Ursachen, auf die das betreffende Geschehen nach jenen Naturgesetzen folgt. Kein Geschehen ist allein auf Grund der Naturgesetze notwendig. Für das Problem der Willensfreiheit aber ist mit dieser Feststellung offenbar noch nichts gewonnen. Und so fragt Nelson denn auch weiter: „Freiheit ist die Unabhängigkeit des Willens von der Notwendigkeit eines Müssens. Was ich soll, das kann ich auch. Bedeutet nicht aber schon die Naturgesetzlichkeit die Notwendigkeit eines Müssens? Wäre die Naturgesetzlichkeit des Geschehens ein Müssen im strengen Sinne des Wortes, d.h. wäre das Sein durch sie als schlechthin notwendig bestimmt, so müßte es in der Reihe der Zustände des Seins einen absoluten Anfangszustand geben, d.h. einen Zustand, der für sich und also unabhängig von einem voraufgehenden Zustand notwendig wäre. Denn falls es keinen solchen gäbe, wäre jeder Zustand in der Reihe nur durch
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einen vorhergehenden als notwendig bestimmt. Da dies aber für jeden gälte, so wäre vielmehr keiner not//65//wendig. Haben wir also keinen für sich notwendigen Anfangszustand, so kann auch kein anderer Zustand durch ihn mittelbar notwendig werden. Wir haben in der Tat keinen ausgezeichneten Anfangszustand, und die Wahl der Stelle, an die wir einen Anfangszustand setzen wollen, um andere Zustände mit Hilfe der Naturgesetze zu bestimmen, ist beliebig.“ (IV, 324) Auch bei dieser Lösung des aufgeworfenen Problems bleibt Nelson nicht stehen. Auch sie reicht nicht hin, das Argument zurückzuweisen, daß das eigene Handeln kausal bedingt sei durch frühere Zustände, die dem Zugriff des eigenen Willens entzogen waren oder es doch wenigstens jetzt sind, weil sie der Vergangenheit angehören. Und so fährt Nelson fort: „Damit eine reale Bedingtheit des Späteren durch das Frühere möglich wäre, müßte das Bedingte von der Bedingung zeitlich getrennt sein. Es müßte zu jedem Zustand einen unmittelbar benachbarten geben, damit ein solcher Unterschied des Früheren und Späteren möglich wäre. Es gibt aber, der Stetigkeit des zeitlichen Geschehens zufolge, in der Reihe der Zustände keine unmittelbar benachbarten Glieder. … Das Frühere ist vor dem Späteren nur durch den trivialen Umstand ausgezeichnet, daß das Frühere früher als das Spätere ist, nicht aber als seine Bedingung in irgend einem anderen Sinne.“ (IV, 325) Mit dieser Behauptung scheint nun allerdings der Naturgesetzlichkeit allen Geschehens jeder Sinn genommen zu sein. Welcher Unterschied bleibt zwischen einem naturgesetzlichen und einem nicht nach Kausalge setzen verlaufenden Geschehen? Darauf antwortet Nelson: „Der Unterschied liegt also nur in der Anordnung der Ereignisse. Diese Anordnung ist nämlich im Falle der Naturgesetzlichkeit von der Art, daß sie eine Voraussage darüber erlaubt, welche Ereignisse mit gewissen anderen, ihrerseits schon beobachteten Ereignissen verbunden sind. Wir können uns denken, daß die Ereignisse zufälliger Weise so gruppiert sind, daß sich ein konstanter Zusammenhang zwischen je zwei Ereignissen findet. Von dieser Art ist in der Tat die Gruppierung der Ereignisse in der Natur. Daß sie von dieser Art ist, könnten wir freilich durch bloße Beobachtung nicht entdecken, sondern wir wissen es, wenn wir es überhaupt wissen, a priori. Dies betrifft aber uns und nicht die Ereignisse.“ (IV, 328 f.)
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//66// Dem Naturgeschehen kommt demnach überhaupt keine Notwendigkeit zu. Das bedeutet nach Nelson nicht, daß das Bestehen einer Notwendigkeit überhaupt geleugnet wäre. „Dies wäre vielmehr nur der Fall unter Hinzunahme der Voraussetzung, daß das Naturgeschehen mit dem an sich Wirklichen gleichzusetzen sei. Es ist daher durchaus möglich, die Notwendigkeit des Naturgeschehens fallenzulassen und doch an der Notwendigkeit alles an sich Wirklichen festzuhalten, wenn man nur auf die Voraussetzung verzichtet, daß das Naturgeschehen etwas an sich Wirkliches sei.“ (IV, 329) Mit diesen Überlegungen kommt Nelson zum Abschluß seiner Untersuchung über die Antinomie der Willensfreiheit: „Wenn also jemand, um sich wegen eines begangenen Unrechts zu entschuldigen, sagt, daß er für sein Handeln nicht verantwortlich sei und ihm seine Tat nicht als Schuld zugerechnet werden könne, weil ja die Vergangenheit abgeschlossen hinter ihm liege und die Übermacht seiner Leidenschaft über seine guten Vorsätze schon durch den Zustand der Welt vor seiner Geburt als notwendig bestimmt war, und daß infolgedessen seine Handlung aus Ursachen, die nicht mehr in seiner Gewalt lagen, unvermeidlich war, so ist die Erwiderung einfach genug: denn sie erfordert nichts weiter als den Hinweis darauf, daß, wenn er anders gehandelt hätte, auch die ganze Vergangenheit bis in noch so ferne Zeiten eine andere gewesen wäre und daß also auch das Stärkeverhältnis der in seinem Geist wirksamen Antriebe ein anderes gewesen wäre, als es war. Daß die Vergangenheit anders war, als erforderlich gewesen wäre, damit er nicht unrecht handelte, besagt hinsichtlich seiner Handlung nicht mehr, als daß, wer irgend einen Zustand dieser Vergangenheit hinreichend genau gekannt hätte, schon im voraus hätte wissen können, daß die Handlung geschehen würde. Dieser Umstand, daß man bei hinreichender Kenntnis schon im voraus hätte wissen können, daß er ein Unrecht begehen würde, kann doch aber gewiß seine Verantwortlichkeit nicht herabmindern.“ (IV, 330 f.) Die Behandlung dieser Antinomie gehört wohl zu den unbefriedigendsten Teilen des Nelsonschen Werkes. Nelson sucht die Lösung in der //67// Lehre des transzendentalen Idealismus, wie sie in der kritischen Philoso phie aufgestellt worden ist. Danach ist unser Wissen um die Natur beschränkt, und zwar derart,
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daß es in verschiedene Erkenntnisweisen oder, nach dem Fries'schen Ausdruck, in verschiedene Weltansichten zerfällt, deren jede ihren Gegenstand nur unter einer bestimmten, gegen andere mögliche Fragestellungen abgegrenzten Betrachtungsweise erforscht. Die anscheinenden Widersprüche zwischen den verschiedenen möglichen Betrachtungsweisen lassen sich auflösen durch den Nachweis, daß jede von ihnen die eigenen Grundkategorien, nach denen sie das Wesen der Dinge erforscht, nur beschränkt, nämlich nur im Hinblick auf das Besondere der eigenen Fragestellung, anwendet und damit Raum gibt für gleichberechtigte Aussagen über denselben Gegenstand auf Grund anderer Fragestellungen und anderer Grundbegriffe. Einen solchen Nachweis sucht Nelson hier zu führen, und zwar durch die Kritik der Kategorie der Naturgesetzlichkeit und der Naturnotwendigkeit. Dabei geschieht es aber, daß ihm dieser Begriff der Naturnotwendigkeit überhaupt unter den Händen zusammenbricht. Die Behauptung, daß die Naturgesetzlichkeit des Geschehens nicht mehr bedeute als die Vorausberechenbarkeit dieses Geschehens, daß also die Idee des Laplace'schen Dämons nicht eine Folgerung aus dem Kausalgesetz sei, sondern dessen Gehalt selber wiedergebe, ist unvereinbar mit der Art, in der Nelson diesen Grundbegriff sonst in seinen philosophischen Untersuchungen, und gerade auch in denen der Ethik, verwendet. Ja, sie steht im Gegensatz schon zu dem Ansatz, von dem aus Nelson in seinen naturphilosophischen Untersuchungen die Kategorie der Kausalität aufweist. Unsere Erfahrungsurteile enthalten implicite den Begriff der notwendigen Verknüpfung von Naturvorgängen, und das Auftreten dieser Vorstellung läßt sich aus dem bloßen Vorliegen sinnlicher Eindrücke und deren Verbindung durch Assoziationen nicht erklären. „Das Problem liegt in dem Faktum gewisser Urteile, durch die wir eine notwendige Verknüpfung der Dinge denken. Hier kommt es nun nicht einmal auf die Assertion an: schon der bloße problematische Gedanke einer notwendigen Verknüpfung, der in ihnen vorkommt, läßt sich nicht durch Assoziation erklären. Allerdings muß sich jede Verknüpfung von Vorstellungen durch die Gesetze //68// der Assoziation erklären lassen. Was es hier zu erklären gilt, ist aber nicht eine Verknüpfung von Vorstellungen, sondern die Vorstellung der Verknüpfung. Diese ist gegenüber den Vorstellungen dessen, was in ihr als verknüpft gedacht wird, eine inhaltlich ganz neue Vorstellung, sie kann daher niemals
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durch bloße Assoziation aus diesen entstehen, sondern setzt eine eigene Erkenntnisquelle voraus.“6 Die Vorstellung, von der Nelson hier ausgeht, betrifft also wirklich den Zusammenhang im Naturgeschehen und nicht etwa die Art, wie wir von dem Naturgeschehen Kenntnis nehmen. Die faktische Gewißheit, daß wir das kommende Geschehen – etwa den Wechsel der Tages- und Jahreszeiten – in einem gewissen Bereich voraussehen können, gründet sich auf die Vorstellung eines gesetzmäßigen Ablaufs der Naturvorgänge. Wir können daher nicht umgekehrt die Vorstellung des gesetzmäßigen Ablaufs zurückführen auf die Überzeugung, daß wir kommende Ereignisse voraussehen können. Dem entspricht denn auch der Gebrauch, den Nelson selber in der Ethik vom Begriff des Naturgesetzes und der Naturnotwendigkeit macht. Schon bei der Einführung des Pflichtbegriffs grenzt er die praktische Notwendigkeit des Sollens gegen die theoretische des Müssens ab: „Ich sagte, Pflicht sei eine Handlung, sofern sie schlechthin geboten ist. Eine Handlung, die schlechthin geboten ist, setzen wir einer solchen entgegen, die im Belieben des Handelnden steht; d.h. sie wird als notwendig vorgestellt. Ein Gebot hat stets die Form eines Ges etzes, d.h. einer notwendigen Regel. Aber es hat nicht umgekehrt jedes Gesetz die Form eines Gebotes. Die Notwendigkeit, die eine Regel zum Gesetz macht, kann nämlich von zwei Arten sein; entweder ein Müssen oder ein S ollen. Die Notwendigkeit der einen Art nennen wir Naturnotwendigkeit, die der anderen Art praktische Notwendigkeit. Jene ist eine Notwendigkeit des Seins, diese eine //69// Notwendigkeit des Wertes. Eine notwendige Regel des Seins nennen wir ein Naturgesetz, eine solche des Wertes Sittengesetz.“ (IV, 85) Die Gegenüberstellung der zwei Arten der Notwendigkeit hat für die Nelsonsche Ethik nicht nur die Bedeutung, den Begriff der praktischen Notwendigkeit durch seine Abgrenzung von dem der Naturnotwendigkeit klarer herauszustellen. Die Ethik selber kann auf den Begriff der Naturnotwendigkeit nicht verzichten. Es läßt sich zwar eine Naturwissenschaft entwickeln, ohne daß dabei der Begriff 6 Leonard Nelson: „Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie“, Vortrag, gehalten am 11. April 1911 auf dem 4. internationalen Kongreß für Philosophie in Bologna. Abgedruckt in dem Sammelband: L. Nelson: „Die Reformation der Philosophie durch die Kritik der Vernunft“, 1918, Leipzig, Verlag „Der Neue Geist“. Seite 79 f. und: Gesammelte Werke, Bd. II, S. 459-483, dort S. 479.
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der praktischen Notwendigkeit oder des Wertes auftritt. Das Umgekehrte gilt aber nicht, und zwar aus einem sehr einfachen Grund: „Ein spekulativer Satz ist ein solcher, der das Dasein der Dinge betrifft, ein praktischer dagegen ein solcher, der aussagt, nicht sowohl, was ist, als was sein soll. Man braucht dies nur auszusprechen, um zu bemerken, daß ein praktischer Satz notwendig schon spekulative Begriffe einschließt. Wenn ich sage, daß etwas sein solle, so ist das, wovon ich hier sage, daß es sein soll, eben damit als etwas bestimmt, was sein soll. Insofern schließt der Begriff des Sollens den des Seins ein.“ (IV, 292) Gerade dieser Zusammenhang führt auf die Frage der ersten Antinomie, wie denn das Nebeneinander-Bestehen der beiden Arten von Notwendigkeit im gleichen Naturgeschehen widerspruchslos gedacht werden könne. Nelson sucht die Lösung in der Kritik nur des einen der beiden Begriffe von Notwendigkeit und hebt diesen dabei, in seiner Anwendung auf das Naturgeschehen, völlig auf. Es fragt sich also, warum er nicht mindestens auch den andern einer entsprechenden Kritik unterzogen und nach einer sinnvollen gegenseitigen Beschränkung in der Anwendung beider Begriffe gesucht hat. Daß er diese Möglichkeit überhaupt nicht erwogen hat, wird verständlich durch die Art, wie seine Vorgänger in der kritischen Philosophie, Kant und Fries, die Frage der Willensfreiheit behandelt haben. Für beide ist Freiheit eine Idee, die dem Glauben, nicht aber dem Wissen um die Erfahrungswelt angehört. Nun tritt allerdings schon bei Fries in der Entwicklung der Ethik eine Unterscheidung auf, die darauf hätte hinweisen können, daß diese Behandlung der Frage für die Begründung der Ethik zum mindesten nicht hinreicht. Fries trennt in seiner Lehre von den //70// Werten die Frage nach dem absoluten Wert oder dem ewigen Gut scharf von der nach den Werten und Zwecken, die Menschen sich für das eigene Handeln in der Natur setzen sollen. Die erste Frage betrifft eine objektive Zweckgesetzgebung, die es letzten Endes mit dem höchsten und umfassendsten Zweck des Daseins der Dinge, mit dem Weltzweck, zu tun hat. Sie ist der wissenschaftlichen Behandlung nicht zugänglich, sondern gilt den Ideen des Glaubens und der Ahndung. Die zweite hat es dagegen mit einer subjektiven Zweckgesetzgebung zu tun und richtet sich auf die ethischen Aufgaben, die dem Leben des Menschen in der Natur gelten. Diese Unterscheidung wird nun grundlegend für Nelsons Aufbau der Ethik. Ethik ist für ihn praktische Naturlehre und unterscheidet sich insofern einmal von der praktischen Ideenlehre, der Religionsphilosophie, die sich nur nach negativen Ideen, nicht aber in Form eines wissenschaftlichen Systems entwickeln läßt. Auf der anderen Seite steht die Ethik als praktische Naturlehre neben der theoretischen
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Naturlehre, der Naturwissenschaft. Praktische und theoretische Naturlehre haben es beide mit Naturvorgängen zu tun, und das heißt: mit dem Bereich, in dem Wissen möglich ist. Nur so ist Nelsons Anspruch zu verstehen, daß die Ethik als Wissenschaft begründet werden soll. Aber damit ist zugleich gesagt, daß die beiden Antinomien, die Nelson in der Ethik aufweist, sich auf den Gegensatz der theoretischen und der praktischen Naturlehre beziehen, zweier Betrachtungsweisen also, die es beide mit der Welt der Erfahrung zu tun haben. Statt auf der Ebene dieses Gegensatzes nach einer Lösung der Antinomie zu suchen, bemüht Nelson sich, wie Kant und Fries es getan haben, die sittliche Freiheit des Menschen als ein absolutes, den Schranken der Natur nicht unterworfenes Vermögen zu erweisen. Auch für ihn bleibt die Idee der Freiheit nur eine religiöse Idee. „Nach Naturbegriffen erkennt sich der Mensch als endliches Wesen, das bestimmt wird nach Naturgesetzen, um die er weiß. Er weiß zugleich um seine sittliche Aufgabe, ja sein Wissen reicht bis zur Erkenntnis, daß die Erfüllung dieser Aufgabe Freiheit voraussetzt, und daß diese der bloßen Naturgesetzlichkeit nicht widerspricht. Die Realität aber solcher Freiheit und damit einer Ordnung der Dinge ohne die Notwendigkeit des Müssens übersteigt die Schranken //71// der Natur. Ihre Gewißheit gehört dem Glauben an. Sie ist religiöser Natur.“7 So richtig es aber auch ist, daß gerade der Gegensatz der theoretischen und der praktischen Naturbetrachtung, die Spannung zwischen der sittlichen Verantwortung des Menschen und seiner Abhängigkeit von Naturgesetzen, ihn vor tiefere Fragen stellt, die ihre Antwort nur im Glauben, nicht im Wissen finden können, so wenig reicht die Berufung auf die metaphysische Freiheit hin, die menschliche Verantwortung im Naturgeschehen zu verstehen und sie gegen unerfüllbare Forderungen abzugrenzen. Wenn die Begriffe des Müssens und der Naturnotwendigkeit auf das Geschehen in der Natur streng genommen nicht mehr anwendbar sind, dann entfällt die Frage, ob irgend welche einem Menschen gestellten Aufgaben von ihm auch erfüllt werden können, eben in jedem Fall, und nicht nur den Anforderungen der Pflicht gegenüber. Diese Frage stellt Nelson aber, ja, er macht sie zu einem Kriterium dafür, ob irgend eine Anforderung mit Recht als ein Gebot der Pflicht hingestellt werden 7 Leonard Nelson: „Sittliche und religiöse Weltansicht“, Vortrag, gehalten auf der
24. Aarauer Studenten-Konferenz, März 1922. Veröffentlicht in der „Bücherei Hahn“, Nr. 28, Hannover, 1946, S. 19 und: Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 303328, dort S. 319.
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könne. So behauptet er ja z.B., daß eine Pflicht der allgemeinen Menschenliebe darum unmöglich sei, weil sie etwas verlange, dessen „Erfüllung in der Welt der Tatsachen zum Scheitern verurteilt“ sei. (V, 199) Warum aber sollte einem Menschen gegenüber, der sich kalt und lieblos benimmt und der sich darauf beruft, daß er nun eben keine Liebe empfinde und sich darum nicht anders verhalten könne, nicht dieselbe Antwort am Platz sein, mit der Nelson die Entschuldigung des Pflichtsäumigen zurückweist, das Stärkeverhältnis seiner Antriebe sei, auf Grund der abgeschlossenen hinter ihm liegenden Vergangenheit der Pflichterfüllung ungünstig gewesen und habe sie ihm unmöglich gemacht? Wenn Nelson in diesem Fall einfach erwidert, daß, wenn der Betreffende anders gehandelt hätte, die ganze Vergangenheit und mit ihr das Stärkeverhältnis seiner Antriebe anders gewesen wäre, so läßt sich mit demselben Recht in jenem ersten Fall sagen: Wenn der Lieblose warm und liebevoll gehandelt hätte, so wäre auch seine ganze Vergangenheit und Anlage anders //72// gewesen und er hätte Liebe empfunden. Diese Antwort sagt im einen Fall so wenig wie im andern. Vielleicht wird hier jemand, im Gedanken an Nelsons Lehre vom besonnenen Entschluß, einwenden, daß derjenige, der seine Pflicht verletzt hat, es in der Hand gehabt hätte, das Stärkeverhältnis seiner Antriebe so zu verändern, daß der sittliche Antrieb zum überwiegenden geworden wäre, während der Mensch, der ohne Liebe ist, sich nicht zur Liebe nötigen könne. Aber dieser Einwand geht an der entscheidenden Schwierigkeit vorbei, und Nelson schließt ihn selber aus. Bei der Erörterung der Schwierigkeit, die Annahme der Naturgesetzlichkeit des Geschehens in Einklang zu bringen mit der Behauptung, daß Pflichterfüllung immer und unter allen Umständen möglich sei, weist er die Berufung auf das Vermögen, das Stärkeverhältnis der Antriebe besonnen zu modifizieren, als Scheinlösung zurück: „Man verschiebt also nur das Problem, wenn man von der Handlung, die unmittelbar Pflicht ist, auf die andere Handlung zurückgeht, durch die das Stärkeverhältnis der Antriebe modifiziert wird. Denn auch diese Handlung ist ihrerseits Pflicht, eben weil nur durch sie die Pflichterfüllung möglich ist. Ob sie geschieht, hängt daher wieder nur von der Stärke des Pflichtantriebs ab, der sich auf sie richtet. Dieser Pflichtantrieb soll unter allen Umständen den Widerstand überwinden, er soll also der stärkere sein, auch dann, wenn er es faktisch nicht ist und es also nach Naturgesetzen auch nicht sein kann. Wir kommen daher hier unvermeidlich auf die Voraussetzung der metaphysischen Freiheit des Willens.“ (IV, 287)
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Im übrigen ist es zwar richtig, daß man sich zur Liebe nicht nötigen kann. Das schließt aber nicht aus, daß man das eigene Vermögen zu lieben entweder pflegen oder verkümmern lassen kann. Ein Einfluß auf die inneren Kräfte des eigenen Wesens ist also auch hier möglich. Der inneren Stimme gegenüber, die zur Gerechtigkeit mahnt, kann der Mensch aber auch nicht mehr tun, als auf sie zu achten und damit seine Aufgeschlossenheit für solche Mahnungen und seine Bereitschaft, ihnen zu folgen, stetig wachsen zu lassen. //73//
§ 2. Das Gebot des Charakters Der Zwiespalt zwischen theoretischer und praktischer Notwendigkeit ist durch Nelsons Behandlung seiner ersten Antinomie nicht gelöst. Die Frage ist demnach noch offen, ob und wie ein Mensch es dem Zufall entziehen kann, daß er sich im eigenen Handeln die rechten Zwecke setzt. Nun ist aber der Gedanke, daß es dem Zufall entzogen werden soll, ob im Leben des einzelnen und dem Zusammenleben der Menschen geschieht, was geschehen soll, geradezu der methodische Leitfaden, nach dem Nelson das System der Ethik aufbaut. Es fragt sich daher, ob die Art, wie er diesen Leitfaden im System der Ethik verfolgt, Aufschluß darüber gibt, wie er theoretische und praktische Naturlehre miteinander in Einklang bringt. Ich greife zur Prüfung dieser Frage die erste und wohl wichtigste der zahlreichen Überlegungen auf, in denen Nelson aus der Spannung zwischen der praktischen Notwendigkeit des Sittengesetzes und der theoretischen Notwendigkeit des Naturgeschehens ethische Folgerungen zieht. Es handelt sich um seine Ableitung des Gebots des Charakters. Diese Ableitung vollzieht sich in einem einzigen Schluß aus zwei Prämissen. Der Obersatz dieses Schlusses enthält nur die Behauptung, daß es ein Sittengesetz gibt – wobei hier noch offen bleibt, was der Inhalt dieses Gesetzes ist. Der Untersatz, die Subsumtionsformel, wie Nelson ihn nennt, besagt, daß unser Handeln in der Natur durch die Kräfte bestimmt ist, die in der Natur wirken, und daß die Verteilung dieser Kräfte unabhängig ist von dem Wert dessen, was sie bewirken, insbesondere also unabhängig von den Anforderungen des Sittengesetzes. „Wenn wir die Kräfte, inwiefern sie auf den Willen wirken, die Antriebe des Willens nennen, und den Antrieb, der den Willen bestimmt, den Bestimmungsgrund des Willens, so können wir sagen, daß der Bestimmungsgrund des Willens nicht in der objektiven Vorzugswürdigkeit der
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Handlung liegt, nicht in ihrem überwiegenden Wert, sondern in dem überwiegenden Antrieb, der gerade auf den Willen wirkt. Dies ist es, was unsere Subsumtionsformel zum Ausdruck bringt.“ (V, 87) Und nun der Schluß aus diesen beiden Voraussetzungen: „Ob eine subjektive Neigung eines in der Natur handelnden Wesens //74// auf das gerichtet ist, was das Sittengesetz gebietet, das ist der aufgestellten Subsumtionsformel nach zufällig; es liegt andererseits in der praktischen Notwendigkeit des Sittengesetzes, daß seine Erfüllung nicht dem Zufall überlassen bleiben darf. Denn ein Gesetz, in dem eine praktische Notwendigkeit zum Ausdruck kommt, verlangt, wenn es auch selber kein Naturgesetz ist, in der Natur dennoch notwendig zu gelten, d.h. so zu gelten, als ob es ein Naturgesetz wäre. Die Erfüllung des Gesetzes würde aber in dem hier in Frage stehenden Sinn dem Zufall überlassen bleiben, solange sie nicht durch den Willen gesichert ist. Denn das Sittengesetz fordert seine Erfüllung von einem Willen, und darum bleibt es hinsichtlich des Gesetzes zufällig, wenn es erfüllt wird durch Umstände, die außerhalb des Willens liegen. Gibt es also überhaupt ein Sittengesetz, so folgt für jedes vernünftige Wesen in der Natur das Gebot, die Erfüllung des Gesetzes dem Zufall zu entziehen, dem sie an sich in der Natur ausgesetzt ist, dem Zufall nämlich, ob gerade ein überwiegender Antrieb auf das gerichtet ist, was dem Gesetz nach geschehen soll. Es folgt also das Gebot, die Pflicht erfüllung zum Gegenstand des Willens zu machen. Ich nenne dies das Gebot des Charakters.“ (V, 88 f.) Auf welche Handlung richtet sich dieses Gebot und wie kann es erfüllt werden? Die Befolgung des Sittengesetzes in jedem Fall soll dem Zufall entzogen werden. Dazu ist nicht erforderlich, daß ein Mensch nur aus Pflichtbewußtsein, nur in der Befolgung sittlicher Antriebe handelt. Es ist nicht Pflicht, immer moralisch zu handeln – wobei wir unter einer moralischen Handlung eine solche verstehen, deren Bestimmungsgrund ein sittlicher Antrieb ist. Aber das Gebot erfordert, wie Nelson es ausdrückt, die Reinheit des Charakters. „Die Reinheit des Charakters ist somit die Eigenschaft, die wir einem Menschen zuschreiben, wiefern er jeden andern Antrieb dem Bewußtsein der Pflicht unterordnet, wiefern er die Pflichterfüllung zur notwendigen Bedingung seines Handelns überhaupt macht. Reinheit des Charakters ist, wie wir damit sagen können, nichts anderes als die moralische Bereit-
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schaft; sie zeigt sich geradezu in deren Stiftung. … Reinheit des Charakters bedeutet nicht Abtötung der Neigungen zugunsten eines sittlichen Vorsatzes. Hierneben muß man aber be//75//denken, daß die Bereitschaft, dem Sittengesetz auch dann zu folgen, wenn die Neigung nicht auf die sittliche Handlung gerichtet ist, nicht durch bloßen Zufall möglich ist, sondern daß sie zu ihrer Stiftung einen eigenen Entschluß erfordert. Wir stiften sie dadurch, daß wir den Entschluß fassen, der Pflicht auch dann zu folgen, wenn nicht schon eine Neigung auf ihrer Seite ist. Auf das Eintreten dieses Falles müssen wir immer gefaßt sein, weil es kein Naturgesetz gibt, das die Übereinstimmung von Neigung und Pflicht sichert. Also ist hier in der Tat ein eigener Entschluß geboten, der Entschluß, durch den allein die sittliche Gesinnung im Menschen erzeugt wird. … Wie oft wir überhaupt in die Lage kommen, moralisch zu handeln, um die Pflicht zu erfüllen, darüber läßt sich a priori nichts ausmachen. Man darf daher die Moralität eines Menschen nicht nach der Zahl seiner moralischen Handlungen beurteilen wollen. Ob und wann er in die Lage kommt, moralisch zu handeln, das hängt von den Umständen ab und kennzeichnet nicht seinen Charakter. Es gibt allerdings eine moralische Handlung, deren praktische Notwendigkeit man a priori beweisen kann, das ist nämlich gerade diejenige, durch die das Gebot des Charakters erfüllt wird. Die Erfüllung dieses Gebots ist ihrerseits nur möglich durch eine moralische Handlung; denn daß es eine Neigung gäbe, die uns zu dem Entschluß zu bestimmen vermöchte, jeder möglichen noch so starken Neigung gegebenenfalls entgegen zu handeln, widerspricht sich selber. Dieser Entschluß aber ist es, den das Gebot des Charakters erfordert. Dazu kann uns nicht wieder eine Neigung, sondern nur das Bewußtsein der Pflicht bestimmen, und nur diese moralische Handlung ist es, deren praktische Notwendigkeit wir a priori beweisen können.“ (V, 100 ff.) Durch eine Handlung also soll es gelingen, die sittliche Gesinnung zu stiften, die es dem Zufall entzieht, daß bei jedem Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung das Pflichtbewußtsein den Sieg über die Neigung erringt! Wie kann das möglich sein? „Es bleibt dabei, daß auch bei der Erfüllung dieses Gebots das Handeln nach Naturgesetzen erfolgt. Es kann hier also nur darauf ankommen, das Bewußtsein der Pflicht zum überwiegenden Antrieb zu machen. Daraus folgt, daß es vom Willen abhängen muß, welcher //76// Antrieb den Willen bestimmt, d.h. welcher Antrieb zum überwiegenden wird. Obwohl
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in der Natur der Entschluß nur abhängt von dem Stärkeverhältnis der Antriebe, so muß doch andererseits dieses Stärkeverhältnis von unserem Willen abhängen, wir müssen es also selber in der Hand haben, durch welche Antriebe wir uns bestimmen lassen. Ein solches Vermögen, durch den eigenen Willen zu bestimmen, welcher Antrieb den Willen bestimmen soll, scheint alle Schranken der Natur notwendig zu überschreiten. Wie dieses paradoxe Vermögen begreiflich ist, das ist eine spekulative Frage, die – so wichtig ihre Auflösung an sich sein mag – uns hier nicht beschäftigen darf und auch nicht zu beschäftigen braucht: Es genügt hier die Feststellung, daß wir ein solches Vermögen besitzen. Wir wissen dies auf Grund des Satzes, daß es ein Sittengesetz gibt. Durch die Realität dieses Gesetzes wird das Vermögen verbürgt, das zu tun, was das Gesetz gebietet, und also das Vermögen, das an und für sich zufällige Stärkeverhältnis der Antriebe dem Zufall zu entziehen. Die Voraussetzung, die den Obersatz unserer Wissenschaft bildet, ist letzten Endes hinreichend, die Behauptung, daß es ein solches Vermögen gibt, sicherzustellen, mögen die Probleme in spekulativer Hinsicht gelöst werden, wie sie wollen. Wir nennen das Vermögen, sich von dem zufälligen Stärkeverhältnis der Antriebe zu emanzipieren, die Freiheit des Willens.“ (V, 89) Die logische Ableitung, durch die Nelson die Existenz dieses Vermögens beweisen will, deutet darauf hin, daß er an die metaphysische Freiheit denkt, deren Möglichkeit durch die Auflösung der ersten Antinomie erwiesen werden sollte. Nun war aber dieser Nachweis erkauft durch die Preisgabe des Begriffs der Naturnotwendigkeit. Diese metaphysische Freiheit ist also gewiß kein Vermögen, über das wir für unser Handeln in der Natur verfügen, in der Kräfte den Willen bestimmen und in der der Entschluß vom Stärkeverhältnis der Antriebe abhängt. Auf der anderen Seite weist die Behauptung, es handle sich um das Vermögen, „sich von dem zufälligen Stärkeverhältnis der Antriebe zu emanzipieren“, zurück auf Nelsons Untersuchung über das Vermögen des besonnenen Entschlusses. Denn da ging es gerade darum, sich vom zufälligen Stärkeverhältnis der Antriebe freizumachen. Nelson hat zwar //77// selber dieses Vermögen des besonnenen Entschlusses scharf von der metaphysischen Freiheit unterschieden. Trotzdem bleibt die Frage: Ist hier nicht etwa doch nur dieses Vermögen gemeint? Noch einmal und gründlicher geht Nelson auf das Vermögen ein, durch das das Gebot des Charakters erfüllt werden kann. In der Pädagogik taucht die Frage auf, wie Menschen zur Stiftung der sittlichen Bereitschaft erzogen werden können. Nelson stellt hier erneut die Frage, wie es überhaupt möglich sei, einer überwiegenden Neigung entgegenzuhandeln und antwortet wieder mit dem Hinweis, daß dafür ein
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Vermögen der inneren, d.h. durch den Willen des Handelnden bewirkten Disziplin der Antriebe erforderlich sei, ein Vermögen also, „auf Grund einer Vergleichung mit der objektiven Regel des Wertes, wie sie durch das Gesetz gegeben ist, das Stärkeverhältnis der Antriebe zu regulieren derart, daß im Endergebnis unter den unmittelbar auf das Handeln gerichteten Antrieben der überwiegende Antrieb auf den überwiegenden Wert gerichtet wird“. (V, 445) Und nun folgt wieder der Schluß von der Gültigkeit des Sittengesetzes auf die Existenz dieses Vermögens: „Hieraus folgt, daß in der Tat nur durch innere … Disziplin die sittliche Bereitschaft gestiftet werden kann. Steht dies aber fest, so ist nicht nur die Zulässigkeit, sondern die Notwendigkeit erwiesen, unabhängig von aller und jeder psychologischen Erfahrung, also rein a priori, die Möglichkeit einer inneren Disziplin vorauszusetzen, d.h. vorauszusetzen, daß der Wille in das Spiel der Antriebe einzugreifen vermag, daß es also ein Vermögen gibt, willkürlich einen zunächst schwachen Antrieb zu stärken oder einen starken zu schwächen, mit anderen Worten: das Stärkeverhältnis der Antriebe auf Grund ihrer Vergleichung mit einer Regel des Wertes willkürlich zu verändern. Da ferner diese Veränderung als ein Werk innerer Disziplin selber nur möglich ist durch den Willen, so müssen wir voraussetzen, daß die bloße Einsicht in die objektive Regel des Wertes ihrer seits einen hinreichenden Antrieb abzugeben vermag, vielleicht nicht unmittelbar zur Befolgung dieser Regel, sicher aber dazu, das hierfür erforderliche Stärkeverhältnis der anderweitigen Antriebe herzustellen. Wie dieser Mechanismus, dessen Existenz wir a priori beweisen //78// können, seinerseits psychologisch möglich ist, bleibt eine psychologisch zu lösende Frage, die eben darum aus der philosophischen Untersuchung ausscheidet.“ (V, 446) Damit wird klar, daß es sich in dem fraglichen Vermögen in der Tat um das Vermögen des besonnenen Entschlusses handelt, allerdings mit einer wesentlichen Verschiebung: Während es in der psychologischen Untersuchung dieses Vermögens, wie Nelson sie im ersten Band seines Werkes vornimmt, mit Recht heißt, daß der Entschluß, in die eigenen Antriebe regulierend einzugreifen, wie jeder andere Entschluß selber davon abhängt, ob sich ein hinreichend starker Antrieb auf ihn richtet, daß er also nicht zustande kommt und nach Naturgesetzen nicht
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zustande kommen kann, wenn ein solcher Antrieb fehlt, behauptet Nelson hier, daß die bloße Einsicht in die Pflicht diesen zweiten Entschluß sicher herbeizufüh ren vermöge. Damit schiebt sich die metaphysische Freiheit in das Vermögen des besonnenen Entschlusses hinein. Aber gerade diese Vermischung der religiösen Idee einer Freiheit, die an die Notwendigkeit des Müssens nicht gebunden ist, mit dem psychologischen Begriff des Vermögens, besonnen zu handeln, das auf die Kräfte der den Willen bestimmenden Antriebe Rücksicht nimmt, ist unzulässig. Wollte Nelson sich auf die metaphysische Freiheit berufen, dann hätte er auch die unmittelbare Befolgung des Pflichtantriebs für möglich erklären müssen – mit dem Argument: Wenn du ihm folgst, ist er auch stark genug! Wenn aber diese Überlegung dem in der Natur lebenden Menschen und der faktischen Schwäche seines sittlichen Antriebs gegenüber nicht angebracht ist, dann gilt dasselbe für den anderen Entschluß, durch eine Besinnung auf die Pflicht die Bereitschaft zur Pflichterfüllung erst zu stärken. Eine Auszeichnung dieses zweiten Entschlusses vor dem ersten ist durch nichts gerechtfertigt. Die psychologische Untersuchung, die Nelson an dieser Stelle seines Werkes offenläßt, ist also durch seine eigene Untersuchung des besonnenen Entschlusses, wie er sie im ersten Band, in der „Kritik der praktischen Vernunft“, vorgenommen hat, bereits durchgeführt. Und sie entscheidet gegen die Existenz des hier behaupteten Vermögens. Das Gebot des Charakters, die Erfüllung der eigenen Pflichten jeder Gefährdung durch die eigene sittliche Schwäche zu entziehen, verlangt wirklich Unmögliches //79// vom Menschen, der als Naturwesen immer, auch in seiner sittlichen Bereitschaft nur über begrenzte Kräfte verfügt. Und Nelson weiß das auch. So warnt er den Erzieher davor, gerade in der Erziehung zur sittlichen Bereitschaft die Anforderungen zu überspannen. „Das Maß des zu überwindenden Widerstandes muß der bereits gewonnenen Kraft des zu erziehenden Menschen angepaßt sein und darf nur nach und nach im Verhältnis zu deren Wachstum gesteigert werden. Denn wenn die Anforderungen in dieser Hinsicht überspannt werden, so wird der entgegengesetzte Erfolg eintreten: Es wird dann nicht die moralische Kraft des zu erziehenden Menschen geweckt, sondern er wird im Gegenteil an dieser Kraft und damit an sich selber irre werden.“ (V, 451) Ja, Nelson fordert uns auf, nicht zu vergessen, „daß auch das moralische Handeln nicht Selbstzweck ist, sondern der Pflichterfüllung dienen soll. Die Pflicht kann auch durch Handlungen
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erfüllt werden, die aus Neigung oder Gewohnheit geschehen, sofern nur die Bereitschaft besteht, Neigungen und Gewohnheiten im Fall ihrer Kollision mit der Pflicht zu durchbrechen. Es ist darum recht wohl möglich, die Ausbildung von Neigungen und Gewohnheiten in den Dienst der Erziehung zu stellen. Diese Ausbildung ist um so dringender, als dem sittlichen Willen gar keine anderen Mittel zur Verfügung stehen, wenn er seinen Zweck, die Erfüllung der Pflicht, nicht allein von der eigenen, in jedem einzelnen Fall begrenzten Kraft abhängig machen will. Daß er selber nicht durch Neigungen und Gewohnheiten bestimmt wird, das schließt nicht aus, daß er sich ihrer bedienen dürfte, ja bedienen müßte, um alle geeigneten Mittel für seinen Zweck einzusetzen. … Wo der sittliche Antrieb selber nicht ausreicht, unmittelbar die Pflichterfüllung zu bewirken, da kann er doch ausreichen, eine Neigung genügend zu stärken, deren Befolgung zur Pflichterfüllung führt.“ (V, 452 f.) Auch hier taucht allerdings hinter der Einsicht von der begrenzten und daher möglicherweise versagenden Kraft des sittlichen Willens wieder die Vorstellung auf, als könne der Mensch, gerade im Bewußtsein dieser Grenze, in sich die Bereitschaft stiften, unter allen Umständen, also auch //80// bei versagender sittlicher Kraft, seine Pflicht zu erfüllen. Die Kraft, die hinter einer solchen Bereitschaft steht, ist aber selber endlich und bietet keine Sicherheit gegen ihr eigenes Versagen. In den Schlußüberlegungen des gesamten Systems entfällt denn auch jede Voraussetzung eines solchen Vermögens. Hier geht es Nelson um den Nachweis, daß durch Erziehung allein die Geltung des Rechts nicht gesichert werden kann – ein Nachweis, auf den er die Vordringlichkeit des politischen Ideals gegenüber dem pädagogischen Ideal gründet. Da heißt es: „Erziehung vermag die Kraft der guten Gesinnung zu stärken, damit sie den Kampf mit den Gegenantrieben der Neigung siegreich besteht. Die Tugend, die ihr Ziel bildet, ist nicht der Erfolg der Hinwegräumung, sondern der Überwindung der Versuchungen. Und sie bleibt darauf angewiesen, sich in solchem Kampf zu erproben; denn ihre Kraft ist jederzeit endlich und somit der Gefahr ausgesetzt, in dem niemals zu beendenden Kampf der Antriebe einem stärkeren Gegenantrieb zu unterliegen. Die Erziehbarkeit der Menschen zugegeben, so vermag Erziehung doch nie den Willen zu heiligen, sondern nur seine Kraft des Widerstandes gegen die Versuchungen zu festigen. Mit anderen Worten: Es gibt für die Tugend keine Entwaffnung des Gegners. Es gibt, auch als höchstgespanntes Ziel, kein Monopol der Macht auf seiten des sittlichen Antriebs.“ (VI, 515)
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Es gehen tiefe Widersprüche durch den Ansatz von Nelsons Ethik. Unter Berufung auf den Satz, daß es keine Pflicht geben könne, die für den Verpflichteten nicht auch erfüllbar sei, führt er als grundlegend eine Pflicht, das Gebot des Charakters, ein, von deren Unerfüllbarkeit er nach den hier zuletzt wiedergegebenen Überlegungen selber überzeugt ist. Nelson selber hat hierin nur eine Spannung empfunden, die ihn im Aufbau der Ethik und ebenso im eigenen Anpacken der ihn bedrängenden praktischen Aufgaben Schritt für Schritt vorantrieb zu immer neuen Versuchen und Forderungen, dem Zufall zu entziehen, daß geschieht, was geschehen soll, bis hin zur Aufstellung seines politischen Ideals, in dem sein Gesamtwerk Krönung und Abschluß findet, die „Entwaffnung des Gegners“, die im Leben des einzelnen durch keine Anspannung des sittlichen Willens gelingen kann, im öffentlichen Leben den Händen erzogener Politiker anzuvertrauen. //81//„Denn das ist in der Tat das Auszeichnende des politischen Ideals: Gibt es überhaupt ein solches, so besteht es gerade in der Entwaffnung des Gegners, in der Monopolisierung der Macht auf seiten des Willens zur Rechtsverwirklichung. Wird die Herrschaft des Rechts der Wirksamkeit des politischen Mittels anvertraut, so braucht sie nicht aus dem Kampf mit den Gegenkräften von Fall zu Fall hervorzugehen, sondern sie wird gesichert durch die organisierte und als solche der bloßen Zahl der individuellen Gegenkräfte überlegene und deren Widerstand im voraus niederhaltende Gewalt.“ (VI, 515 f.) Daß er, der sonst so scharfe Logiker, die Bruchstellen in der eigenen Lehre nicht gesehen hat, ist nur zu verstehen aus einem leidenschaftlichen Verlangen, vor der menschlichen Schwäche nicht zu kapitulieren. Nelson war überzeugt, daß diese Kapitulation unvermeidlich sei, wenn es nicht gelinge, bis zu dem reinen unmittelbaren sittlichen Interesse der praktischen Vernunft vorzudringen und rein von ihm aus das eigene Leben und die menschliche Gesellschaft zu gestalten.
§ 3. Praktische und theoretische Notwendigkeit Wie ist das Verhältnis zwischen praktischer und theoretischer Notwendigkeit zu verstehen? Wie sind beide mit einander vereinbar? Nelsons Überlegungen führen uns, trotz der aufgewiesenen Mängel, an den Punkt, von dem aus allein ein solches Verständnis gesucht werden kann: zu dem Vermögen, besonnen zu handeln, dem
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einzigen, durch das der Mensch überhaupt etwas dem Zufall entziehen und sich darüber erheben kann, ein bloßer Spielball der eigenen Triebe und Launen zu sein. Sehen wir jetzt zurück auf den Weg, auf dem Nelson dieses Vermögen zu deuten sucht, dann gewinnt das Nebeneinander der beiden Erklärungen, die er dort gibt, eine tiefere Bedeutung. Die erste Erklärung war merkwürdig mechanistisch: Ein Antrieb bestimmt den Willen danach in besonnener Weise, wenn dem von ihm ausgelösten Entschluß eine innere Willenshandlung vorhergeht, in der das Stärkeverhältnis der vorliegenden Antriebe modifiziert wird. Das ist die kausale Beschreibung eines Vorgangs. Unter all den zu einer Zeit in einem Menschen wirksamen Antrieben //82// ist danach einer, der nicht auf eine äußere Handlung gerichtet ist, sondern auf die innere Handlung, durch eine Lenkung der Aufmerksamkeit bestimmte der übrigen Antriebe zu stärken und andere zu schwächen. In der ganzen Beschreibung kommen ethische Begriffe, Vorstellungen von Werten und Aufgaben, überhaupt nicht vor. Sie gehört rein einer theoretischen Betrachtungsweise an. Es geht um psychische Kräfte und ihre Wechselwirkung, die Nelson dem Naturgesetz unterstellt glaubt, daß unvermeidlich der stärkste Antrieb den Willen bestimmt. Aber gerade weil hier nur kausale Beziehungen herausgestellt werden und nur die zeitliche Abfolge verschiedener Entschlüsse beschrieben wird, kommen wir mit dieser Erklärung zu keinem Verständnis dessen, was den besonnenen Entschluß, ganz abgesehen von seiner Vorgeschichte, von dem triebhaften unterscheidet. Ganz anders die zweite Erklärung! Nach ihr ist der besonnene Entschluß dadurch gekennzeichnet, daß er an einem Wert orientiert ist, an dem wir ein lebendiges Interesse nehmen und den wir vermöge dieses Interesses in einem Wertzusammenhang auffassen, der eine Entscheidung darüber möglich macht, was zu tun vorzugswürdig ist. Der besonnene Entschluß ist durch Gründe bestimmt. Ob diese Gründe ohne weiteres zur äußeren Tat führen oder ob wir den Entschluß zur Tat zurückhalten, um vorher in einer Besinnung auf die mit einander konkurrierenden Werte das Vorzugswürdige vor dem Minderwertigen nicht nur klarer zu erkennen, sondern auch in echter Anteilnahme vorzuziehen, das ist für die Besonnenheit des Entschlusses nicht entscheidend. In dieser Erklärung werden Vorstellungen angewandt, die einer praktischen Betrachtungsweise angehören. Hier geht es gar nicht um das Stärkeverhältnis der Antriebe und die kausale Abhängigkeit des Entschlusses von ihnen, sondern um die lebendige Anteilnahme an Werten, die in den Beziehungen „besser“ und „schlechter“, „vorzugswürdig“ und „minderwertig“ zu einander stehen. Und es geht darum, daß der Entschluß durch Gründe bestimmt wird. Erst diese zweite Erklärung erfaßt das, was den besonnenen Entschluß vor dem triebhaften wirklich auszeichnet.
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An die Stelle der kausalen Abhängigkeit zwischen Antrieb und Entschluß tritt hier die ganz andere Beziehung des Bestimmtseins durch Gründe. Wir stoßen damit auf einen Begriff, den Nelson in seinen Über//83//legungen zwar immer wieder anwendet, den er aber niemals einer eigenen Betrachtung und Untersuchung unterzogen hat. Um was für eine Beziehung handelt es sich da? Wir werden das ihr Eigentümliche besser erfassen, wenn wir sie zunächst in einem anderen Bereich als dem des Entschlusses untersuchen. Es ist dieselbe Beziehung, die beim besonnenen Überlegen und Forschen den Fortschritt des Gedankenganges leitet. Nehmen wir irgend einen solchen forschenden Gedankengang, etwa die Überlegungen, in denen wir ein mathematisches Problem lösen. In solchen Überlegungen stützen wir jeden neuen gedanklichen Schritt auf Gründe, die in den vorangegangenen Schritten gewonnen worden sind. Das kann geschehen in der Form strenger logischer Schlußfolgerungen. Und doch ist es nicht die logische Beziehung zwischen Prämissen und Schlußsatz, mit der wir es hier zu tun haben. Es geht vielmehr um die reale Beziehung, in der wir faktisch von einem Gedanken zum nächsten fortschreiten. Wenn ich jemanden nach den Gründen frage, die ihn zu einem Urteil geführt haben, dann erwarte ich nicht, von ihm irgend welche Behauptungen zu hören, aus denen sich logisch sein Urteil ableiten läßt. Ich möchte vielmehr die Gründe wissen, die für ihn wirklich entscheidend waren. Wer etwa bei einer unüberlegt hingeworfenen Aussage von dieser Frage überrascht wird und nun geistesgegenwärtig seine Meinung durch einen rasch konstruierten Beweis verteidigt, der aber nichts zu tun hat mit dem, was ihn bei seiner Aussage bestimmt hatte, der hat die gestellte Frage nicht beantwortet, und wenn der Beweis noch so zwingend wäre. Nun kann es sein, daß wir auf die Frage nach den eigenen Gründen für eine Behauptung, die wir vertreten haben, zunächst nicht zu antworten wissen. Wir sind uns keiner solchen Gründe bewußt. Trotzdem kann es möglich sein, sich um die sinnvolle Beantwortung dieser Frage zu bemühen. Die eigene Frage: Was hat mich eigentlich bewogen, diese oder jene Überzeugung anzunehmen? kann uns dahin führen, uns selber besser zu verstehen als bisher und Gründe in uns zu entdecken, an denen wir unsere Überzeugung orientiert haben, ohne über sie selber nachgedacht, ja vielleicht, ohne sie bisher überhaupt bewußt aufgefaßt zu haben. Der Weg der Abstraktion, mit dem die kritische Methode ansetzt, ist nichts anderes als dieses Aufsuchen der Gründe, auf die wir unser faktisches Urteil stützen, ohne sie selber als solche aufgefaßt zu haben. Diese Abstraktion ist daher //84// auch nicht, wie Nelson sie gelegentlich darstellt, eine nur logische Analyse der faktischen Urteile. Die Aufgabe, zu einem Urteil Prämissen zu suchen, aus denen es sich folgern läßt, ist nicht eindeutig gestellt. Beim Aufsuchen der eigenen Gründe geht es um etwas
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anderes. Es geht um dasselbe Verfahren, das Gustav Heckmann in seiner Arbeit über die sokratische Methode8 schildert. Ebensowenig aber, wie sich dieses „Bestimmtsein durch Gründe“ als logische Beziehung verstehen läßt, können wir es als die kausale Abhängigkeit des einen Gedankens vom andern deuten. Wir haben es hier nämlich mit der Beziehung zu tun, durch die wirklich etwas dem Zufall entzogen wird. Im Fall der mathematischen Untersuchung ist das der Zufall, ob das Ergebnis, zu dem wir kommen, richtig oder falsch ist. Es gibt keine kausale Beziehung, durch die gesichert wäre, daß mathematische Überlegungen zu richtigen Resultaten führen. Indem ich aber eine solche Untersuchung durchführe, verstehe ich sie selber als einen Prozeß, in dem ich nach Gründen einen Gedanken an den anderen füge, und zwar in der Art, daß jeder neue Schritt seine Gewißheit stützt auf das, was bereits erarbeitet ist. Damit habe ich ein anderes als ein kausales Verständnis dieses Gedankengangs. Ich kann einen gedanklichen Prozeß auch kausal zu verstehen suchen. Dann frage ich etwa nach den Assoziationen, durch die die in ihm auftretenden Vorstellungen einander hervorgerufen haben, nach äußeren Eindrücken oder nach bewußt oder unbewußt wirkenden Nebengedanken und Sorgen, die Einfluß auf die Aufmerksamkeit des Denkenden gehabt haben mögen. Eine solche Kausalerklärung sagt nichts über die Wahrheit oder Falschheit des Ergebnisses. Ein törichter Gedankengang läßt sich ebenso gut – vielleicht auch ebenso schlecht – kausal verstehen wie eine geistvolle und zwingende Überlegung. Daß der erste töricht und die zweite zwingend ist, kommt in einer solchen Kausalerklärung überhaupt nicht vor. In ihr geht es um die Wirkung psychischer Kräfte, um die Bedingungen, unter denen sie wirksam werden, um die Stärke, mit der sie sich durchsetzen, um die Richtung, in die sie drängen. All das hat nichts damit zu tun, ob Überzeugungen, die sich in diesem Prozeß bilden, wahr //85// oder falsch sind. Will ich einen Gedankengang, sei es der eines anderen Menschen oder eine eigene frühere Überlegung, daraufhin prüfen, ob er richtig oder falsch ist, so darf ich ihn nicht zum Gegenstand einer kausalen Untersuchung machen, sondern muß ihn selber vollziehen. Der Lehrer, der die Rechenarbeiten seiner Schüler nachsieht, stellt keine psychologischen Untersuchungen darüber an, was in den Schülern vorging, als sie rechneten. Sondern er rechnet nach, wie sie gerechnet haben. Wenn er dabei allerdings merkt, daß derselbe Schüler immer wieder denselben Fehler macht, dann kann das für ihn der Anlaß werden, sich die andere Frage zu stellen: Wie kommt es, daß Fritz auf die Frage, wieviel 7 mal 8 sei, immer die Antwort 54 gibt? Wenn er dieser Frage nachgeht, dann rechnet 8 Gustav Heckmann, „Das sokratische Gespräch, die Wahrheit und die Toleranz“, in: Leonard Nelson zum Gedächtnis, a.a.O., S. 203.
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er nicht mehr nach, wie Fritz gerechnet hat, sondern er macht das Rechnen des Jungen zum Gegenstand einer anderen, einer psychologischen Untersuchung, die der Schüler selber gar nicht angestellt hat. Der Unterschied zwischen beiden Fragestellungen wird auch nicht dadurch verwischt, daß wir beim Verfolgen eines Gedankenganges oft aus der einen in die andere gedrängt werden. Ich bin etwa mit der Lösung eines Problems beschäftigt und merke, daß ich entweder nicht mehr weiterkomme oder daß meine Ergebnisse anderen, früher gewonnenen Überzeugungen widersprechen. Ich kann mich dann verschieden verhalten. Ich kann das Warnungssignal überfahren und weitermachen, als wenn alles in Ordnung wäre. Die Folgen werden sich dann wahrscheinlich im Gesamtergebnis der Arbeit zeigen. Oder aber ich beachte die Warnung, sei es dadurch, daß ich meinen Gedankengang wieder von vorn aufnehme und ihn noch einmal prüfend vollziehe, sei es dadurch, daß ich die Arbeit unterbreche und mich nach den Ursachen der aufgetretenen Störung frage. Vielleicht merke ich dabei, daß ich nur mit halber Aufmerksamkeit bei der Arbeit war, oder daß ich zu müde bin, um weiterarbeiten zu können, daß der um mich herrschende Lärm mich gestört, daß eine mich quälende Sorge oder ein ablenkendes Interesse die erforderliche Konzentration verhindert hat. Mit dieser Frage, woher die Störung kam, mache ich den Gedankengang, den ich bisher vollzogen habe, zum Gegenstand einer neuen Überlegung. Und zwar geht es bei dieser neuen Überlegung nicht nur um ein theoretisches Resultat, sondern darum, Gründe für die Entscheidung zu gewinnen, ob ich es mir zutrauen kann und will, mit stärkerer Konzen//86//tration weiterzuarbeiten, oder ob ich die Arbeit abbrechen will, vielleicht um erst auf neue Einfälle für sie zu warten, vielleicht um die festgestellten Störungen auszuschalten, vielleicht in der Absicht, die Arbeit überhaupt aufzugeben und mich anderen Dingen zuzuwenden. Auch bei dieser neuen Überlegung und bei der Entscheidung, zu der sie mich führt, vollziehe ich einen inneren Prozeß. Und sofern ich das tue, verstehe ich ihn selber als ein Tätigsein, bei dem ich durch Gründe bestimmt bin, und nicht als den Ablauf eines kausal verketteten Geschehens. Die beiden Begriffe der kausalen Verknüpfung und* des Bestimmtseins durch Gründe können also durchaus auf einen und denselben seelischen Vorgang angewandt werden. Aber sie gehören verschiedenen Betrachtungsweisen an, in denen wir diesen Vorgang verstehen. Den ersten verwenden wir, wenn wir den Vorgang zum Gegenstand einer Betrachtung machen, in der wir seine Kausalzusammenhänge verstehen wollen. Der zweite gehört dem Verständnis an, das wir von diesem Vorgang haben, indem wir ihn selber vollziehen. * Druckfehler in Heckmann/Miller [1985]: Dort fehlt das Wort „und“.
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Die Vorstellung des Bestimmtseins durch Gründe gehört nun überall zum Verständnis, das wir von einem besonnenen Akt haben, sofern wir ihn vollziehen. Sie tritt also nicht nur im besonnenen Erkennen auf, sondern auch im besonnenen Entschluß und der besonnenen Wahl. Beides ist unlösbar miteinander verknüpft. Forschen ist nicht ohne Selbstdisziplin möglich, und jeder besonnene Entschluß setzt zum mindesten Einblick in die für den gewählten Zweck notwendigen Mittel voraus. Wer sich als Forscher in seinen Vorstellungen treiben läßt von den Eindrücken, die er hat, und von den Einfällen, die ihm kommen, kann dabei zwar wertvolle Ansätze gewinnen – jede Forschertätigkeit ist auf solche Ansätze angewiesen! – zu gesicherten Ergebnissen aber kommt er auf diesem Weg allein gewiß nicht. Suchen nach der Wahrheit setzt ein Interesse voraus, das mehr ist als eine momentane Laune, ein Interesse, das den Wert, den es dem Auffassen der Wahrheit gibt, in einen Wertzusammenhang stellt und es damit möglich macht, ablenkende Interessen gegebenenfalls als minderwertig zu verstehen und sie besonnen zu überwinden. Jeder besonnene Entschluß stützt sich auf Gründe, auch da, wo wir uns zunächst dieser Gründe im einzelnen nicht bewußt sind. Auch jede besonnene Handlung ist darum auf die Selbstdisziplin angewiesen, gegebenenfalls abdrängende //87// Interessen zurückzustellen, weil es uns wichtiger ist, das gewählte Ziel zu erreichen, als der sich bietenden Ablenkung nachzugehen. Das Wort „weil“ drückt hier die Beziehung auf den Grund aus, der uns beim Vollziehen der besonnenen Handlung leitet, und nicht etwa die Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Das schließt wiederum nicht aus, daß man auch die besonnene Handlung zum Gegenstand einer kausalen Betrachtung und Erklärung machen kann, in der nach den Ursachen einer solchen Handlung gefragt wird. In dem Urteil etwa, daß jemand sich im Straßenverkehr besonnen aber überängstlich zeigt, weil er den Schock nicht überwinden kann, den ein miterlebter Verkehrsunfall ihm versetzt hat, bedeutet „weil“ eine kausale Beziehung, und nicht den Hinweis auf die den Ängstlichen leitenden Gründe. Die Frage, ob denn nun der Gedankengang oder die besonnene Handlung „in Wirklichkeit“ kausal determiniert oder nach Gründen vollzogen sei, ist offenbar falsch gestellt. Wir können den Sachverhalt, der hier vorliegt, mit der Terminologie der kritischen Philosophie beschreiben: es treten hier zwei verschiedene Naturbetrachtungen nebeneinander, die gleichberechtigt dastehen, ohne daß wir sie in eine einzige Erkenntnis des „an sich Wirklichen“ vereinigen könnten. Wir können uns diesen Sachverhalt auch mit einem Begriff klarmachen, der in der Quantenmechanik herausgestellt worden ist: Es handelt sich um komplementäre Arten des Verständnisses, von denen jede die andere zwar beschränkt, aber nicht als ungültig erweist und ausschließt.
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Der Begriff des Bestimmtseins durch Gründe taucht in keiner Kategorientafel der kritischen Philosophie auf. Daher auch Nelsons erster Versuch, das Wesen des besonnenen Entschlusses nur mit der Kausalkategorie zu beschreiben. Als Vorstellung der realen Verbindung im zeitlichen Ablauf des Geschehens gilt für ihn wie für Kant und Fries nur die Kategorie der Kausalität, der Beziehung von Ursache und Wirkung. Nach einer andern Art der Verbindung überhaupt nur zu suchen, mußte bei der klassischen Vorstellung vom Kausalgesetz auch wohl sinnlos erscheinen. Jedem derartigen Versuch hätte von vornherein der Laplace'sche Dämon hindernd im Wege gestanden. Wer überzeugt ist, daß es grundsätzlich möglich ist, jedes beliebige kommende Ereignis vorauszuberechnen, so fern nur die gegenwärtigen Umstände und die herrschenden Naturgesetze //88// hinreichend genau bekannt sind, der setzt eben damit voraus, daß die kausale Bestimmung des Späteren durch das Frühere die einzige reale Verknüpfung im Ablauf des Geschehens ist. Und umgekehrt: Die Idee des Laplace'schen Dämons, der den Zustand der Welt in einem Zeitpunkt in all ihren Bestimmungsstücken kennt, alle Naturgesetze erfaßt hat und daraus den gesamten vergangenen und künftigen Ablauf des Naturgeschehens berechnet, scheitert nicht nur an der Quantenmechanik, sondern auch schon daran, daß er seine eigene Berechnung nicht zugleich zum Gegenstand dieser Berechnung machen kann, sondern daß er diese Berechnung, indem er sie vollzieht, als einen nach Gründen aufgebauten Gedankengang und nicht als ein nach Naturgesetzen determiniertes Geschehen versteht. Er läßt also, sofern er selber ein Wesen in der Natur ist, in seiner Berechnung mindestens einen Naturvorgang aus und kann also nicht das ganze Naturgeschehen erfassen. Nun deckt sich gewiß die von Nelson vorgenommene Unterscheidung zwischen der praktischen Naturlehre, der Ethik, und der theoretischen Naturlehre, der Naturwissenschaft, nicht einfach mit dem Unterschied der beiden Betrachtungsweisen, auf die wir durch die Aufweisung der beiden verschiedenen Verknüpfungsvorstellungen geführt werden. Aber das Problem, mit dem Nelson ringt, die Frage nach der Vereinbarkeit von sittlicher Verantwortung und Naturgesetzlichkeit, ist im Grunde nichts anderes als das Problem, ob und wie es möglich ist, die beiden Begriffe der kausalen Verknüpfung und des Bestimmtseins durch Gründe und Werte auf den gleichen Naturvorgang, auf besonnenes menschliches Handeln, anzuwenden, ohne daß wir uns dabei in Widersprüche verstricken. Der Widerspruch zwischen beiden Betrachtungen ist unvermeidlich, wenn eine der beiden Verknüpfungsarten als unbegrenzt anwendbar angesehen wird. Nelson tut das faktisch dadurch, daß er gerade an der durchgängigen Vorausberechenbarkeit allen Geschehens festhält, selbst wenn er, in seiner Auflösung der Antinomie, den Begriff der Naturgesetzlichkeit von dem der realen Verknüpfung des Späteren
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mit dem Früheren loszulösen sucht und damit die Kategorie der Kausalität, streng genommen, preisgibt. Und der gleiche Fehler wiederholt sich bei ihm auf der anderen Seite, wenn er dem Menschen das Vermögen zuspricht, durch die Stiftung des reinen Charakters die Übereinstimmung des eigenen Handelns mit //89// dem Sittengesetz ein für allemal dem Zufall zu entziehen. Das Handeln eines Menschen, der diesen Schritt getan hätte, könnte nur noch in seiner Bestimmung durch sittliche Werte verstanden werden, nicht aber als ein nach Naturgesetzen verlaufendes Geschehen. Wie also ist die richtige gegenseitige Begrenzung zwischen beiden Betrachtungsweisen zu sehen? Sie ist auf der einen Seite gegeben durch die Überlegung, daß wir einen besonnenen Akt, indem wir ihn vollziehen, nicht selber zum Gegenstand einer Kausalbetrachtung machen können. Indem wir ihn vollziehen, verstehen wir ihn als unsere eigene gegenwärtige Tätigkeit, bei der wir uns an Gründen orientieren. Soweit die Untersuchung kausaler Zusammenhänge auch gehen mag, sie kann nie sich selber einbeziehen. Die Abgrenzung ist auf der anderen Seite gegeben durch die Erfahrung, daß unser Erkenntnisbemühen bedroht bleibt von Irrtum und Versagen, und unser besonnenes Handeln nicht nur von dem Zweifel, ob wir uns recht entschieden haben, sondern auch von Triebkräften des eigenen Wesens, die unsere besonnenen Entscheidungen überrennen. Diese Erfahrung nötigt immer wieder zu dem Wechsel der Fragestellung, von der bei der Charakterisierung des besonnenen Erkennens schon die Rede war. Wir können und müssen, wenn wir uns dieser Gefährdung nicht einfach überlassen wollen, das eigene besonnene Bemühen, das auf solche Hemmungen stößt, gegebenenfalls unterbrechen, um dieses Bemühen und das, was sich ihm widersetzt, selber zum Gegenstand einer andern besonnenen Erwägung zu machen. Ich möchte hier nicht behaupten, daß ein solches Umschalten, in dem wir uns von dem Gegenstand des bisherigen Bemühens ab- und diesem Bemühen selber zuwenden, immer der Übergang zu einer kausalen Betrachtung ist. Die Kritik kann sich auch dem Interesse zuwenden, das uns bei dem bisherigen Bemühen geleitet hat, und den anderen Interessen, die von diesem Bemühen abdrängten, um zu prüfen, ob uns denn wirklich das, worauf das erste sich richtet, so viel wert ist, daß wir daraufhin bereit sind, die anderen zurückzustellen. Es geht dann darum, diese eigenen Interessen tiefer nach ihren Gründen zu fragen, als wir es bisher getan haben. Die Schranke der praktischen Betrachtungsweise, in der wir den eigenen besonnenen Akt, sofern wir ihn vollziehen, als ein Fortschreiten nach Gründen verstehen, zeigt sich aber auch hier darin, daß der beson//90//nene Prozeß nicht ungehemmt fortschreiten und als eine einzige ungebrochene Linie das Leben eines Menschen durchziehen kann, sondern daß er immer wieder auf Hemmungen stößt, die zu neuen Ansätzen nötigen.
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Der Schein eines Widerspruchs zwischen der Anwendung der beiden verschiedenartigen Verknüpfungsvorstellungen löst sich, wenn wir die Schranken ins Auge fassen, die der Anwendung der einen wie der anderen gezogen sind. Die theoretische Betrachtungsweise, die den Ablauf des Geschehens von Kräften bestimmt sieht, die dem menschlichen Streben nach Wahrheit und Wert gegenüber neutral sind, kann nicht zu dem Nachweis führen, daß Erkenntnis der Wahrheit und Wert orientierung im Handeln in der Natur ausgeschlossen sind. Jeder Versuch eines solchen Nachweises scheitert an der Inkonsequenz, daß dieser Nachweis selber, wie immer er geführt sein mag, mit dem Anspruch auftritt, als besonnene Überlegung sein Ergebnis nach Gründen gewonnen und damit gegen Irrtum gesichert zu haben. Dieser Anspruch, der erhoben wird, indem man den Nachweis führt, steht im Widerspruch zu dem, was inhaltlich durch diesen Nachweis erhärtet werden soll. Umgekehrt aber schließt auch das Vertrauen in die Möglichkeit, zu erkennen und das eigene Handeln an Werten zu orientieren, nicht die Gewißheit ein, daß irgendein Vorgang in der Natur den Naturgesetzen entzogen sei und nur unter Wertgesetzen stehe. Sofern es kritisch ist, bleibt es offen für die Überzeugung, daß jeder besonnene Akt von der Gefahr des Irrtums und der Wertwidrigkeit des eigenen Verhaltens bedroht sein kann. Dieses Vertrauen besagt nur, daß da, wo diese Gefahr im Zweifel oder im inneren Konflikt der Interessen sichtbar wird, die besonnene Auseinandersetzung mit ihr möglich bleibt. Mit jeder solchen Auseinandersetzung verschieben wir den Ansatz des besonnenen Verhaltens. Wir können auch für diesen Vorgang einen Begriff, den die Quantenmechanik geprägt hat, hier übertragen: Wir machen gewissermaßen einen „Schnitt“, in dem wir dem bisherigen Bemühen gegenüber in eine andere Betrachtungsweise übergehen. Die Übertragung dieser Ausdrucksweise rechtfertigt sich insbesondere dadurch, daß sich nicht objektiv im Naturgeschehen die Stelle aufweisen läßt, an der er vorge nommen werden muß. Wo der moderne Physiker in seiner Rechnung von der quantenmechanischen zur klassischen Beschreibung eines Systems übergeht, das bleibt in einem gewissen Rahmen seiner Art der Berechnung //91// überlassen und wird nicht eindeutig durch das untersuchte Naturgeschehen vorgezeichnet. Wo wir im besonnenen Ringen um Erkenntnis oder Entscheidung den Übergang machen vom gradlinigen Verfolgen der uns leitenden Gründe zu der Auseinandersetzung mit den drohenden Fehler- und Störungsquellen, ist Sache der Lebenserfahrung und Lebenskunst, ja mehr als das: es ist der Ausdruck der inneren Haltung eines Menschen dem Leben gegenüber. Eindeutige Richtlinien und Rezepte lassen sich dafür nicht angeben. Wer sich gegen diesen Übergang überhaupt sträubt, wer also über alle inneren Warnungssignale hinweg durch eine bloße Anspannung des Willens sich stur auf dem einmal eingeschlagenen Weg hält, der wird den Aufgaben des Lebens gegenüber ebenso scheitern wie der, den jedes noch so kleine Hindernis,
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das sich ihm bei dem Bemühen um Erkenntnis und Entscheidung in den Weg stellt, aus diesem Bemühen herauswirft und der dann etwa darin aufgeht, sich dauernd selber den Puls zu fühlen, statt im Bewußtsein der Gefahr des Irrtums und der Fehlentscheidung – auch der sittlichen Fehlentscheidung und damit der Schuld! – den Schritt ins Leben zu wagen. Können wir nun also erkennen, was wir tun sollen, und können wir in jedem Fall tun, was wir als Pflicht erkannt haben? Auf Grund der vorangehenden Überlegungen werden wir sagen müssen: Diese Frage hat einen verschiedenen Sinn, je nach dem, ob wir sie auf die unmittelbare und lebendige Auseinandersetzung mit der mahnenden Stimme des eigenen Gewissens beziehen, oder ob wir sie in der Haltung des Betrachters stellen, der die eigene vergangene oder künftige Situation einer solchen Auseinandersetzung oder die eines anderen Menschen daraufhin prüft, welche Hemmungen und Störungen in ihr aufgetreten sind oder auftreten können. Es kann sein, daß die Stimme des Gewissens keinen Zweifel darüber läßt, was wir in einer gegebenen Lage tun sollen. Dann ist für den, der ihre Mahnung auffaßt und in die Entscheidung, was er tun will, einbezieht, die Frage, ob er weiß, was er soll, bereits beantwortet, und zwar bejaht. Es bleibt nur die Frage, ob er es auch tut. Aber auch in dieser Auseinandersetzung selber – in der unmittelbaren Auseinandersetzung jedenfalls, in der er die Gründe für seine Entscheidung prüft – stellt sich ihm die Frage, ob er es denn auch tun könne, nicht mehr. Denn das ist in der Tat das Auszeichnende dieser Gewissensstimme gegenüber anderen Strebungen und //92// Interessen, daß sie das Bewußtsein der praktischen Notwendigkeit in sich trägt und damit die Überzeugung, daß das von ihr Gebotene vordringlich ist gegenüber allem anderen, was wir an seiner Stelle tun könnten. Solange wir im Ringen um eine besonnene Entscheidung die Gründe, die uns in die eine oder die andere Richtung drängen, vergleichend prüfen, um uns daran im Handeln zu orientieren, hat eine solche Stimme, die klar und eindeutig sagt, was wir tun sollen, den allen anderen Strebungen gegenüber durchschlagenden Grund. Sofern wir diese Abwägung der Gründe vollziehen, ist damit ebenfalls die Frage, ob wir können, was wir sollen, bereits bejaht und wird als Frage gar nicht mehr gestellt. Nicht immer hat die Stimme des Gewissens diese Klarheit und Sicherheit. Sie kann auch auftreten als Mahnung zur Besinnung, als das Bewußtsein, daß wir in einer gegebenen Situation eine Verantwortung tragen, ohne daß wir uns klar darüber Rechenschaft geben können, was sie verlangt. Aber dieses Gefühl einer Verantwortung, deren Sinn und Inhalt wir noch nicht voll verstehen, ist eben zugleich eine Mahnung zur Besinnung. Die ehrliche Auseinandersetzung mit ihm besteht in nichts anderem als darin, diese Besinnung anzustellen. Sofern wir es tun, geschieht es wieder in dem Vertrauen, daß wir die Gründe, auf denen dieses Gefühl beruht,
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erfassen und die Frage, was wir denn tun sollen, klären können. Auch hier taucht die Frage, ob denn eine solche Besinnung möglich sei und zum Ziel führen könne, nicht auf, sofern wir im inneren Vollzug der Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewissen stehen. Weder im einen noch im anderen Fall besteht aber irgendeine Garantie, daß der innere Prozeß der Auseinandersetzung mit der Gewissensmahnung voll aufgenommen ist und daß er zu ungetrübter, keinen weiteren Bedenken zugänglicher Einsicht und zu reiner, von andern als sittlichen Beweggründen unverfälschter sittlicher Gesinnung und Bereitschaft führt. Im Gegenteil: Wer in solchen Auseinandersetzungen sich selber gegenüber ehrlich ist, kennt die immer wiederkehrende Erfahrung, daß er mit seinem besonnenen Bemühen um Klarheit und Bereitschaft auf Hemmungen und Grenzen stößt, die zu Umkehr und neuen Ansätzen nötigen. Da kann es jederzeit angebracht sein, sich selber und andere in dieser Situation des Ringens um sittliche Klarheit und Entscheidung zu betrachten und dabei vielleicht zu dem Ergebnis zu kommen, daß die eigene //93// Kraft zur Überwindung gewisser Schwächen und – erkannter oder unerkannter – Gegenantriebe nicht ausreicht. Im Zusammenhang dieser Betrachtungsweise kann es notwendig und berechtigt sein, sich selber oder einem anderen im Hinblick auf das bisherige Bemühen um Einsicht und Erfüllung des sittlich Gebotenen zu sagen: So geht es nicht; die Hemmungen, die dir hier im Wege stehen, lassen sich durch bloße Willensanspan nung nicht überwinden! Ob ein Mensch vor dieser Einsicht kapituliert und den Kampf aufgibt, oder ob er sie aufnimmt und nach neuen Wegen der Auseinandersetzung mit der mahnenden Gewissensstimme sucht, betrifft wieder eine Entscheidung, die faktisch vollzogen werden muß und deren Ergebnis infolgedessen nicht in einer theoretischen Abschätzung der eigenen Kräfte und der Stärke der eigenen Antriebe vorausberechnet werden kann.
Schlußbetrachtung Heisenberg hat einmal den Wandel der modernen gegenüber der klassischen Naturansicht in dem Bild ausgedrückt, daß „jeder Versuch einer Naturerkenntnis gleichsam über einer grundlosen Tiefe schweben muß“. Die Situation des Menschen, der sich der ihn umgebenden Not gegenüber verpflichtet weiß und sich der sittlichen Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung bewußt ist, zeigt sich uns hier unter dem gleichen Bild. Das wird erst recht klar, wenn wir rückblickend zusammenfassen, was von Nelsons Anspruch stehenbleibt und was fallen muß, von dem Anspruch, daß der Mensch in der eigenen Vernunft das Vermögen habe, seine Pflicht zu erkennen und sie unter allen Umständen auch zu erfüllen.
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Es bleibt der Nachweis, daß sich im sittlichen Gefühl und der Stimme des Gewissens das Bewußtsein von Pflicht und Verantwortung meldet. Dieses Bewußtsein bedarf der Klärung und kann sie gewinnen auf dem Weg der Selbstverständigung über die Gründe, die uns in ihm leiten. Auf diesem Weg dienen auch – wenn auch nicht ausschließlich – die Mittel der rationalen, begrifflichen Rechenschaft darüber, wonach wir in einer konkreten Situation zwischen Recht und Unrecht entschieden haben. Inso//94//fern ist auch den Fragen der Ethik gegenüber philosophischwissenschaftliche Prüfung am Platz. Bestehen bleibt der Wahrheitskern im Gebot der Gerechtigkeit. – Es bleibt auch Nelsons Grundüberzeugung, daß sittliches Versagen sich nicht wegerklären und entschuldigen lasse mit dem Hinweis, daß nach Naturgesetzen ein anderes Verhalten unmöglich gewesen sei. Und auch seine Überlegung, daß jeder Erfahrung der Schranken und der Gefährdung der eigenen Erkenntnis und des eigenen sittlichen Strebens gegen über die besonnene und verantwortungsbewußte Auseinandersetzung mit diesen Schranken möglich ist, ist richtig trotz der Mängel, die seiner Lehre vom besonnenen Entschluß anhaften. Aber es entfällt der Absolutheits-Anspruch, mit dem Nelson meint, den Weg der Aufklärung des sittlichen Gefühls gehen zu können bis zur Aufweisung eines reinen unmittelbaren sittlichen Vernunftinteresses, das einen eindeutigen Maßstab für sittliche Entscheidungen abzugeben vermöchte und mit dem zugleich dem Menschen das Vermögen und die Pflicht gegeben sei, in sich selber durch die Stiftung des reinen sittlichen Charakters die Möglichkeit sittlichen Versagens zu überwinden. Die Spannung, die Nelson im eigenen Denken und im Übernehmen praktischer Aufgaben immer wieder von einem Schritt zum anderen vorangetrieben hat, besteht zu Recht. Aber seine Überzeugung, diese Spannung schließlich doch in einer wissenschaftlich endgültig bereinigten sittlichen Einsicht, in der Stiftung des reinen Charakters und in der politischen Sicherung des Rechtsstaats überwinden zu können, verkennt Grenzen, die Vernunft und Wille nicht überschreiten können. Sie birgt eben damit die Gefahr in sich, daß wir, im Rechnen mit einer vermeintlich erreichbaren oder gar schon erreichten endgültigen Sicherheit, uns fruchtbaren Mahnungen zu neuer Besinnung und neuer Entscheidung verschließen. Die Erfahrung dieser Spannung führt den Menschen zu tieferen Fragen, als Naturwissenschaft und Ethik beantworten können. In ihr erkennt er sich selber als Naturwesen, das auch im besten Denken und Wollen gebunden bleibt an Einflüsse und Kräfte, an denen er scheitern kann, und er versteht sich trotzdem als verantwortlich für das eigene Verhalten und muß daher das eigene Versagen als Schuld erkennen. Beide Überzeugun//95//gen stehen nebeneinander, ohne daß eine die andere zurückweisen könnte, aber auch ohne sich in einer einzigen unbeschränk-
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ten Erkenntnis des eigenen Wesens und Lebens in der Natur zusammenzuschließen. Nur wenn und soweit wir es erfahren, im Schweben über dieser Tiefe gehalten zu sein und in der Spannung leben zu können, ahnen wir in Demut und Vertrauen die Einheit, die größer ist als das eigene Leben und die Not unserer Zeit und in der beide im Tiefsten ihren Sinn haben. //96//
IM GESPRÄCH MIT LEONARD NELSON UND MIT KAMERADEN DER AKADEMIE Erste Niederschrift (1978) Zweite Niederschrift (1979) Dritte Niederschrift (1980) Vierte Niederschrift (1984)
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. Herrmann und B. Neißer (Hrsg.), Grete Henry-Hermann: Sittlichkeit und Vernunft, Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41993-6_2
[ÜBER DIE EINER WISSENSCHAFTLICHEN ETHIK ANGEMESSENE METHODE]*
§ 1. Ethik als Wissenschaft Nelsons erstes Hauptwerk, die 1917 erschienene „Kritik der praktischen Vernunft“ ist David Hilbert gewidmet als ein „Versuch, dem Herrschaftsbereich der strengen Wissenschaft eine neue Provinz zu erschließen“. Über diesen Versuch schreibt Nelson im Dezember 1916 an Hilbert: „Wer nach festen Richtlinien für die Erneuerung unseres kranken Gesellschafts- und Volkslebens sucht, wer im guten Glauben, daß etwas anderes als Zufall und rohe Gewalt die letzten Entscheidungen treffen soll, sich nach einer Wissenschaft umsieht, die ihm über diese Entscheidungsgründe Aufschluß gibt, der sucht heute vergebens. Denn nur eine wissenschaftliche Ethik vermag die Richtschnur menschlichen Handelns für das Leben des einzelnen wie der Völker zu geben. … Das ist das große Bedürfnis der Zeit; es ist das Suchen nach einer Wissenschaft von den Zwecken und Zielen menschlichen Handelns überhaupt.“ Und doch war Nelson in dieser Zeit keineswegs überzeugt, mit dieser „Wissenschaft von den Zwecken und Zielen menschlichen Lebens überhaupt“ über die notwendigen Heilmittel „für die Erneuerung unseres kranken Gesellschafts- und Volkslebens“ zu verfügen. Auf dem Weg zu diesem Ziel sah er sich mit anderen, dringenderen Aufgaben konfrontiert: „Es gilt das unendlich Schwerere, die vielfachen persönlichen Pflichten, die sich unmittelbar aus der Lehrtätigkeit ergeben, zu erfüllen, die einmal gewonnenen Schüler festzuhalten und willensmäßig zu beeinflussen. Denn schwerer, als den tiefsten Gedanken zu finden, ist es, den Menschen zu finden, der bereit ist, mit ihm ernstzumachen. Und was nützen uns die besten Gedanken ohne solche Menschen.“ So schrieb Nelson schon 1915 in einem Brief an seinen Vater. Seitdem gewinnt sein pädagogisch-politi//100//sches Bemühen, solche Menschen zu finden und heranzubilden, mehr und mehr den Vorrang vor der eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Ja, die „Wissenschaft von den Zwecken und Zielen menschlichen Handelns überhaupt“ ist auch keineswegs das, was er den Schülern und den meisten seiner Mitarbeiter ans Herz legt. Er selber werde zwar * Erste Niederschrift (1978).
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die in Angriff genommene philosophisch-wissenschaftliche Arbeit zum Abschluß bringen, so führt er auf einem Schulungskurs für seine Mitarbeiter aus, aber keiner der Anwesenden möge annehmen, ein solches Studium sei auch für ihn unerläßlich und dürfe oder müsse gar der praktisch-politischen Arbeit für das Recht vorangehen. Die Ambivalenz zwischen den beiden Aufgaben, der wissenschaftlichen und der pädagogisch-politischen, erklärt sich daraus, daß sie für Nelson zwei Seiten desselben Unterfangens sind, das er, als Schüler von Kant und Fries, zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte: im Vertrauen auf die menschliche Vernunft diese nach den gesuchten Richtlinien „für die Erneuerung unseres kranken Gesellschafts- und Volkslebens“ zu befragen und von ihr wiederum auch die Antriebe zum Ernstnehmen des so Aufgefaßten zu erwarten. Sittliche Erziehung ist für ihn im Grunde nur Aufklärung: „Bei der Ausbildung des sittlichen Interesses handelt es sich also um gar nichts anderes als um eine Aufklärung des Menschen über das eigene wahre Interesse. Nur eine solche Methode wird pädagogisch Erfolg haben; denn da die Pflicht nicht mehr verlangt, als dem wahren Interesse zu folgen, soll sie ihm auch nicht anders vorgestellt werden.“ (V, 469 f.)* Als solchen Appell an das eigene wahre Interesse verstand Nelson die Aufforderung an seine Schüler, die praktisch-politische Arbeit allem andern, auch dem Studium der Ethik als Wissenschaft voranzustellen.
§ 2. Praktische und theoretische Naturlehre Versteht man so den Widerstreit zwischen den beiden Aufgaben, so drängt sich um so mehr die Frage nach dem Charakter dieser Wissenschaft //101// auf, die „die Richtschnur menschlichen Handelns für das Leben des einzelnen wie der Völker“ geben soll, aber anscheinend trotzdem zurücktreten kann bei der Erziehung und Bildung der Menschen, die mit ihr ernstmachen sollen. Was leistet sie? Wo sind die Grenzen dessen, was durch sie erreicht werden kann? Im Anschluß an Fries bestimmt Nelson die wissenschaftliche Ethik als „praktische Naturlehre“: „Zusammenfassend können wir sagen: Reine philosophische Ethik ist praktische Naturlehre, im Gegensatz zur praktischen Ideenlehre einerseits und zur theoretischen Naturlehre andererseits. Wir verwenden dabei den Gegensatz ‚theoretisch – praktisch‘ in dem Sinn, wonach eine Erkenntnis ‚theoretisch‘ heißt, sofern sie sich auf das Sein der Dinge bezieht, während eine ‚prakti* Leonard Nelson, Gesammelte Schriften in neun Bänden, Felix Meiner Verlag, Hamburg. – Die arabischen Ziffern geben die Seitenzahl in den römisch gezählten Bänden an.
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sche‘ Erkenntnis den Zweck oder Wert der Dinge betrifft.“ (V, 28) Als praktische Naturlehre ist die Ethik demnach Gegenstück zur theoretischen Naturlehre, zu den Naturwissenschaften also, die als Erfahrungswissenschaften empirisch-induktiv den unabgeschlossenen Bereich der Naturvorgänge durchforschen. Wie diese hat sie es mit Vorgängen in Raum und Zeit zu tun, die uns nur in der Erfahrung begegnen und nicht unabhängig von ihr erdacht und erkannt werden können. Wie diese leitet sie an zu besonnener Beurteilung des empirisch Aufgefaßten und Empfundenen; sie impliziert, gemäß den Nachweisungen der Vernunftkritik, Denkschritte und Aussagen nach Kategorien und Prinzipien a priori. Im eigenen Aufbau der wissenschaftlichen Ethik hat Nelson diese Parallele zwischen theoretischer und praktischer Naturlehre aber nicht durchgezogen. Die theoretische Naturlehre ist Erfahrungswissenschaft; sie ist abhängig von Wahrnehmung und Beobachtung und kann ihre Theorien daher nur entwickeln auf Grund empirisch gesammelten Materials. Der theoretischen Physik geht die experimentelle Physik voran, und mathematisch deduzierte Folgerungen des theoretischen Systems unterliegen dem Kriterium ihrer Bestätigung in der Erfahrung, in Beobachtung oder Experiment. Die naturphilosophischen Begriffe der Kausalität, Substantialität und Wechselwirkung treten weder in den Erfahrungsaussagen des Alltagslebens noch in denen der Physik explizit auf; sie bestimmen vielmehr nur Kriterien für deren begrifflich-methodische Weiterbildung. Dem entspricht auch durchaus die Darstellung, die Nelson in seiner Schil//102//derung der Fries'schen Metaphysik vom philosophischen Charakter der Naturerkenntnis gibt: „Die metaphysischen Grundsätze der Naturerkenntnis sind … nicht konstitutive Prinzipien einer Theorie der Natur: Es läßt sich aus ihnen keine bestimmte Naturerkenntnis logisch entwickeln, sondern sie können nur als Kriterien gebraucht werden bei der Induktion, durch die erst die konstitutiven Prinzipien aller Theorie der Natur gefunden werden. Sie sind also nur leitende Maximen rationeller Induktionen und nicht selber schon konstitutive Prinzipien naturwissenschaftlicher Theorien.“ (VII, 642) Im Gegensatz dazu geht Nelson zum Aufbau der Ethik als Wissenschaft nicht von einer empirischen Wissenschaft aus, die erst das Material für die zu erarbeitende Theorie bereitstellt. Hier kehrt er vielmehr das Verhältnis zwischen Empirie und System gerade um, indem er rein philosophische Systeme von Ethik und Rechtslehre voranstellt und in ihnen die Maßstäbe zur ethisch-rechtlichen Beurteilung empirisch gegebener Umstände entwickelt. Im Vorwort zum „System der philosophischen Rechtslehre und Politik“ heißt es: „In diesem Buch wird der Versuch unternommen, die Rechtslehre und die Politik auf ein festes wissenschaftliches Fundament zu stellen. Dieses Fundament liegt zuletzt in einem Grundsatz der reinen praktischen Philosophie, einem Grundsatz, der seinerseits in der Kritik
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der praktischen Vernunft seine wissenschaftliche Begründung erhalten hat. Wie in der Tat das weitläufige Unternehmen der Kritik der praktischen Vernunft notwendig ist, um diesen einen Satz zu begründen, so ruht andererseits auf diesem einzigen Satz das ganze hier errichtete Gebäude der philosophischen Rechtslehre und Politik. Dieser Grundsatz ist kein anderer als das reine, von aller positiven Gesetzgebung unabhängige Rechtsgesetz.“ (VI, 7) Zwar glaubte Nelson die Beziehung zur Empirie schon dadurch im Sinn der gesuchten praktischen Naturlehre gewahrt zu haben, daß er den philosophischen Grundsatz von Ethik und Rechtslehre als ein formales Gesetz auswies: „Denn das allgemeine Sittengesetz gibt für sich nur eine formale Regel, die noch einen weiten Spielraum läßt dafür, wie sie auf einen besonderen Fall anzuwenden ist. Je nach dem Maße seiner Kenntnis der Situation wird der einzelne zu diesem oder jenem Ergebnis bei der Anwendung dieser Regel gelangen.“ (IV, 188) Aber eben mit dieser Überlegung //103// bestätigt er den Gegensatz zur theoretischen Naturlehre: In Ethik und Rechtslehre gewinnt er empirische Urteile durch die Anwendung des einen rein philosophischen Grundsatzes auf empirisch gegebene Umstände; die experimentelle Physik aber ist nicht die Anwendung der theoretischen Physik auf gegebene Umstände, sondern stellt ihrerseits empirisch gegebenes Material bereit zur induktiven Ableitung naturgesetzlicher Zusammenhänge, die ihrerseits dem Aufbau der theoretischen Physik zugrundeliegen – das philosophische Kausalprinzip ist selber kein Naturgesetz. Daß Nelson selber diesen Gegensatz nicht bemerkt hat, mag daran liegen, daß er festhielt an der von den meisten Physikern des vorigen Jahrhunderts geteilten, von Fries angeblich philosophisch begründeten Überzeugung, alle physikalischen Theorien müßten sich letzten Endes auf klassische Mechanik zurückführen lassen. „Fries … zeigt nämlich, daß die einzige vollständige wissenschaftliche Erkenntnis diejenige der Welt der Bewegungen ist. Bewegung ist die einzige Naturerscheinung, die sich mathematisch konstruieren läßt. Die mathematische Konstruierbarkeit ist aber die Bedingung für die vollständige Erklärung eines Gebietes von Naturerscheinungen. … Die volle Konsequenz dieses Prinzips ist, daß die Mechanik zur Grundwissenschaft der äußeren Naturlehre überhaupt wird. … Der Hinweis auf die Rolle der klassischen Mechanik könnte heute als unzeitgemäß erscheinen, wo es mit dem Schicksal dieser Wissenschaft nicht eben günstig bestellt ist und wo sogar das Scheitern der auf das allgemeine Postulat der Mechanistik gesetzten Hoffnungen besiegelt zu sein scheint. In jenem Nachweis bleibt uns aber doch ein zum mindesten in philosophischer Hinsicht sehr wichtiger Gedanke stehen, und man kann nicht wissen, welche Fruchtbarkeit er für die Physik noch einmal entfalten wird, wenn die Herrschaft des empiristischen Dogmas auf diesem Gebiet einmal gebrochen sein wird.“ (VII, 682 f.)
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Die großen Entdeckungen der modernen Physik sind nun gewiß nicht einem „empiristischen Dogma“ zuzuschreiben; die über die klassische Mechanik hinausführende Entwicklung dieser Wissenschaft ist irreversibel. Trotzdem hat Nelson mit seiner Erwartung jedenfalls soweit Recht behalten, daß Begriffssysteme der klassischen Physik, in denen er erfahrungsunabhängige Erkenntnisse a priori zu erkennen meinte, auch in Relativitätstheorie und Quantenmechanik ihre Bedeutung behalten – wenn //104// auch nur bezogen auf einen grundsätzlich gewandelten theoretischen Rahmen. Auch die moderne Physik bietet der anthropologischen Vernunftkritik Ansätze zum Aufweisen von Kategorien und Kriterien a priori; aber sie hat dabei als konsequent fortschreitende Erfahrungswissenschaft die bloße A-priori-Konstruktion einer rein mechanistischen Erklärung der äußeren Natur überwunden. Nelsons rein philosophische Grundlegung der Systeme von Ethik und Rechtslehre entspricht für den Bereich der praktischen Naturlehre jenem alten rein mechanistischen Naturverständnis im Bereich der theoretischen Naturlehre. Sie fordert damit zu der entsprechenden Überprüfung und Kritik heraus.
§ 3. Das Apriori und der Skeptiker Im Vortrag über die sokratische Methode schildert Nelson den Weg, auf dem er sich zum Schluß auf die Existenz unmittelbarer Erkenntnisse der reinen Vernunft genötigt sieht: „Wollten wir hier über die Bedeutung des metaphysischen Begriffs der Substanz diskutieren, so würden wir voraussichtlich in einen aussichtslosen Streit geraten, in dem die Skeptiker alsbald die Oberhand gewinnen möchten. Wenn aber am Schluß unserer Diskussion ein solcher Skeptiker seinen Mantel, den er beim Eintreten neben der Tür aufgehängt hat, dort nicht mehr vorfindet, so wird er sich mit dem Verlust seines Mantels schwerlich schon dadurch abfinden, daß der für ihn mißliche Verlust ja nur seinen philosophischen Zweifel an der Beharrlichkeit der Substanz bestätigt. Wie jeder andere, der einen Gegenstand sucht, den er verloren hat, setzt er in seinem Urteil, das ihn zum Suchen bestimmt, die allgemeine Wahrheit voraus, daß kein Ding zu Nichts werden kann, und wendet dabei, ohne sich des Widerspruchs mit seiner Doktrin bewußt zu sein, den metaphysischen Satz von der Beharrlichkeit der Substanz an.“ (I, 280 f.) Es lohnt sich, dieser Argumentation gegenüber die Rolle des fingierten Skeptikers zu übernehmen und in seinem Namen etwa zu antworten: „Ich habe eben aus Erfahrung gelernt, in welchen Fällen es Sinn hat, nach Dingen zu suchen, die plötzlich verschwunden sind. Der Verlust meines Mantels gehört dazu; ich hätte mich aber anders verhalten, wenn ich etwa //105// nach kurzer Ablenkung eine
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Wolke, einen Regenbogen oder die Flamme einer Kerze nicht hätte wiederfinden können.“ Selbstverständlich hätte Nelson sich damit nicht geschlagen gegeben. Er hätte den Hinweis aufgegriffen: „Ich haben eben aus Erfahrung gelernt, …“. Daran hätte er die Überlegung angeschlossen, jede Erfahrung impliziere die Vorstellung einer objektiven Verbindung, und diese „Vorstellung einer Verbindung“ lasse sich nicht, wie vielfach von der Assoziationspsychologie versucht, auf eine „Verbindung von Vorstellungen“ zurückführen. (VII, 613 f.) Auch damit ist Nelsons Gesprächspartner noch nicht widerlegt. Lernen aus Erfahrung ist keineswegs immer mit Vorstellungen und Denkschritten verbunden. Es gibt ein vorbegriffliches Lernen aus Erfahrung, wie es sich am besten bei höheren Tieren studieren läßt. In der Anpassung an ihre Umwelt lernen spielende Jungtiere den Umgang mit Dingen; sie lernen, etwas fortzutragen, zu verstecken, wiederzuholen; sie lernen spielend die Jagd auf Beutetiere; viele sozial lebende Tiere lernen in Rangkämpfen, ihren Platz in der Rangordnung des Verbandes zu kennen und zu behaupten; Hunde lernen aus Erfahrung Gehorsam und Widerstand im Umgang mit ihrem menschlichen Sozialpartner. All dieses vorbegriffliche Lernen aus Erfahrung betrifft das Verhalten des Tieres, nicht angebliche Erkenntnisse, die es zur Beurteilung seiner Umwelt gewinnt. Seine Anpassung an die Umwelt läßt sich vielleicht durch das Wort Kants charakterisieren: „Die Tiere kennen auch Gegenstände, aber sie erkennen sie nicht.“ (Akademie-Ausgabe der Werke Kants, Band IX, Seite 65) Aber sie ist gewiß frei von metaphysischen Erkenntnissen oder Voraussetzungen. Auch Menschen erlernen die sichere Beherrschung vieler Verhaltensweisen – vom Gehenkönnen bis zum Autofahren – weitgehend durch vorbegriffliche Erfahrung. Gewiß ist diese für den reifen Menschen weitgehend durchsetzt mit begrifflichen Vorstellungen und Überlegungen. Nur dadurch kann er die aus Erfahrung erlernte Anpassung verarbeiten zu Erfahrungswissen, ja zur Erfahrungswissenschaft. Für die angestrebte sichere Beherrschung des zu erlernenden Verhaltens ist das indessen durchaus nicht immer von Vorteil. So hat ein Bremer Fahrlehrer aus Erfahrung gelernt, seine Schüler zu warnen – im breiten Tonfall meiner Heimatstadt: „Sie mössen nich denken: ‚Nu das Rad rechts und nu geradeaus, nu Gas geben und nu bremsen!‘ Sie mössen nur denken: ‚Nach die Latährne da, da //106// will ich hin!‘“ Diese Mahnung schließt gewiß nicht aus, daß der Fahrschüler lernen muß, das Hantieren mit Lenkrad, Bremse und Gaspedal theoretisch zu verstehen und bewußt einsetzen zu können. Wohl aber ist sie der gewiß nicht überflüssige Hinweis darauf, daß es nicht angeht, während der Fahrt jede angemessene Betätigung der Apparatur auf Grund der erworbenen Kenntnis zu planen oder etwa gar Beschlüsse zu fassen hinsichtlich der erforderlichen Muskelanspannung. Vielmehr
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geht es darum, aus Erfahrung die Sicherheit angemessenen Verhaltens zu lernen, die eben nicht mehr Schritt für Schritt „durch ein Urteil bestimmt“ ist. So wird denn auch der seinen Mantel suchende Skeptiker so wenig durch das von Nelson genannte metaphysische Urteil „zum Suchen bestimmt“, wie der auf seine Bremse tretende Autofahrer, dem ein Kind vor den Wagen gelaufen ist, sich überhaupt durch ein Urteil bestimmt, oder wie Entsprechendes für das Verhalten eines dressierten Bernhardinerhundes gilt, der einen im Schnee verschütteten Menschen sucht und ausgräbt. Trotzdem hat Nelson sicher Recht damit, daß Beispiele wie das vom Suchen nach verlorenen Gegenstände fruchtbar werden können im Fortgang von sokratischen Gesprächen. Es mag durchaus in einer solchen Übung geschehen sein, daß im Durchdenken eines solchen Falles die „allgemeine Wahrheit… , daß kein Ding zu Nichts werden kann“, aufgefaßt und als Ergebnis festgehalten wurde. Als Ausgangsbeispiel für die Abstraktion solcher „philosophischen Wahrheiten“, wie Nelson sie nennt (siehe VII, 14), hätte gewiß der suchende Skeptiker dienen können, schon kaum ein nur spontan reagierender Mensch wie jener bremsende Autofah rer und gewiß nicht der gut dressierte Bernhardiner. Nicht in dem aus Erfahrung erlernten Verhalten wird daher schon – als angebliche Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung – das Mitwirken einer ursprünglich dunklen Erkenntnis a priori aus reiner Vernunft nachgewiesen. Vielmehr bedarf es der sprachlich-begrifflichen Rechenschaft über das aus Erfahrung Erlernte, um derart allgemeine Wahrheiten aufzufassen. Wo also liegt deren „Erkenntnisquelle“? Sie liegt jedenfalls nicht in unmittelbaren, wenn auch ursprünglich dunklen Erkenntnissen, die sich als „Bedingungen möglicher Erfahrung“ aufweisen lassen – dagegen spricht die Existenz vorbegrifflicher Erfahrung nicht nur bei höheren Tieren, sondern auch beim Menschen. Sie liegt //107// vielmehr im Vernunftvermögen des Menschen, das im Umgang mit der Umwelt aus vorbegrifflicher Erfahrung Erlernte sprachlich-begrifflich in Aussagen über Dinge, Kausalzusammenhänge oder Sozialbeziehungen in der Umwelt umzusetzen; erst dadurch wird vorbegrifflich aus Erfahrung erlerntes Verhalten vom Menschen erkennend verarbeitet und als Erkenntnis festgehalten. So gewinnen wir Erfahrungswissen über Dinge, mit denen wir umgehen, mit denen wir etwas anfangen können, von denen wir, je nachdem, was mit ihnen geschieht, Befriedigung von Wünschen oder drohendes Unheil erwarten. Solche Erfahrungsurteile sind weithin auf vorbegriffliche Erfahrung gestützt, die ihrerseits zu erlerntem und beherrschtem Verhalten geführt hat, damit aber noch nicht durchweg zu Erkenntnissen. Selbst der Übergang vom vorbegrifflichen Hantieren etwa mit einem Stein zu Aussagen über ihn und seine Eigenschaften und über das, was man mit ihm machen oder wo er einem gefährlich
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werden könnte, ist ein spezifisch menschliches Verhalten, aber nicht eine spezifisch menschliche Erkenntnis. Vernunft ist das Vermögen des Menschen, Erfahrung in und mit der Umwelt in Erfahrungsurteile über die Umwelt umzusetzen. Diese Erfahrungsurteile sind kategorial gegliedert. Sie liefern das Material, an dem sokratische Gespräche ansetzen können, um die Kategorien von Substanz und Kausalität „ins Bewußtsein zu heben“ und mit ihnen zugleich die naturphilosophischen Prinzipien von der Erhaltung der Substanz oder der durchgängigen kausalen Naturgesetzlichkeit des Naturgeschehens. Diese Prinzipien aber, verstanden in diesem Zusammenhang sprachlich-begrifflicher Interpretation vorbegrifflicher Erfahrung durch begrifflich faßbares Erfahrungswissen, formulieren primär Kriterien für die methodisch-wissenschaftliche Weiterentwicklung dieses Erfahrungswissens, nicht aber unmittelbare Erkenntnisse über die Natur im Ganzen, die ja nie Objekt menschlicher Erfahrung ist. Die naturphilosophischen Prinzipien erweisen sich demnach als methodische Regeln der sprachlich-begrifflichen Weiterentwicklung des aus vorbegrifflicher Erfahrung erlernten Lernens aus Erfahrung. So besagt das Prinzip der durchgängigen Kausalität, daß, solange für irgendeinen Vorgang keine ihn in seinem Ablauf bestimmenden Ursachen angegeben werden können, es sinnvoll ist, methodisch nach ihnen zu forschen; denn nie kann – bei dem stets unabgeschlossenen Feld künftiger neuer Erfahrun//108//gen – aus schon erworbener Erfahrung geschlossen werden, daß in späterer Erfahrung solche noch unbekannten Ursachen nicht mehr gefunden werden können. Dieses vor keinem noch offnen Kausalproblem zurück weichende Forschen nach Kausalzusammenhängen ist auch von der Quantenmechanik nicht ad absurdum geführt worden; denn die Unbestimmtheitsrelationen sind, wie eine genaue Analyse zeigt, eben nicht durch offenbleibende Kausalfragen bedingt oder auf sie bezogen. So verstanden stellen die naturphilosophischen Prinzipien der theoretischen Naturlehre in der Tat nur Kriterien für den methodischen Fortgang der Erfahrungswissenschaft auf, aber nicht rein philosophische Obersätze, aus denen Folgerungen gezogen werden, etwa durch die Subsumtion angemessener Untersätze. Im Aufbau von Ethik und Rechtslehre aber setzt Nelson das naturphilosophische Prinzip der praktischen Naturlehre, das Sitten- bzw. Rechtsgesetz nämlich als einen solchen Obersatz an. Die gesuchte Parallele zwischen theoretischer und praktischer Naturlehre ist damit wieder preisgegeben.
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§ 4. Lernen aus Tradition und praktischer Erfahrung? Dem Versuch, auch die praktische Naturlehre in geduldiger Verarbeitung von Erfahrung aufzubauen, scheinen große Schwierigkeiten entgegenzustehen. Sie hat es, nach Nelson, nicht mit dem Sein der Dinge zu tun, sondern mit Zweck und Wert (V, 28). Wie aber kann Erfahrung über Werte und Zwecke entscheiden? Wir dürfen ja nicht bei Mittel-Zweck-Beziehungen stehenbleiben, sondern müssen im Fall kollidierender Werte nach ihrer Rangordnung fragen, bzw. nach dem, was zu tun unsere Pflicht und darum praktisch notwendig ist, auch wenn es den Neigungen widerstreitet! Und wenn schon Erfahrung mitspielt im faktischen Werten und im Pflichtbewußtsein von Menschen, die je in bestimmten Epochen leben und bestimmten Kulturkreisen angehören – handelt es sich da nicht um die Erfahrung von Sachverhalten, nämlich um die Begegnung mit andern Menschen unter gegebenen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, in der der heranwachsende Mensch seine Zwecke und Werte nicht aus Erfahrung gelernt, sondern aus Tradition übernommen hat? //109// Ich greife die zweite Frage zuerst auf, denn sie verweist auf eine offen sichtliche Lücke der bisherigen Überlegungen. Es stimmt ja gar nicht, daß wir unser theoretisches Verständnis für die Umwelt, ihre Dinge, Vorgänge und Wechselwirkungen allein durch Beobachtung und fortschreitendes Lernen aus Erfahrung gewonnen hätten. Als Kinder unserer Zeit, unseres Kulturkreises, unserer Gesellschaftsschicht haben wir dieses Verständnis weitgehend im Sozialkontakt mit anderen gewonnen, die uns viel von ihrem Erfahrungswissen tradiert haben und uns darüber hinaus auch zum Beobachten, zum Lernen aus Erfahrung und zum Aufbau mehr oder weniger geordneten Erfahrungswissens angeleitet haben. Schon das Lernen aus Erfahrung hat kaum jemand ganz aus sich allein gelernt; wir haben es, zusammen mit manchen anderen Verhaltensweisen, die sich als selbst verständlich und gewohnheitsmäßig verwurzelt der Aufmerksamkeit entziehen, aus Tradition erlernt. Auch das Lernen aus Tradition hat seine Wurzel in vorbegrifflichem Verhalten; vorbegriffliches Lernen aus Tradition bestimmt die Lebensweise vieler sozial lebender Tiere; es bildet das menschliche Kind entscheidend vom ersten Lebenstag an. Und im Erlernen der Muttersprache, das den Übergang zu begrifflicher Erfahrung und zum Erfahrungswissen einleitet und wahrscheinlich überhaupt erst ermöglicht, greifen Lernen aus Erfahrung und Lernen aus Tradition aufs engste ineinander. Vorbegriffliches und begriffliches Lernen aus Tradition spielt demnach auch beim Zugang zur theoretischen Naturlehre eine erhebliche Rolle; es spricht also noch nicht gegen den Versuch, dem Lernvorgang auch im Aufbau der praktischen Naturlehre zu folgen, wenn wir ins Auge fassen müssen,
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daß Lernen aus Tradition hier auch, oder vielleicht noch stärker wirksam wird als in der Entwicklung des theoretischen Naturverständnisses. Es bleibt die andere Frage, ob denn auch die praktische Naturlehre als Erfahrungswissenschaft aufgebaut werden kann, wenn auch gewiß nicht als eine Wissenschaft aus theoretischer Erfahrung, die ja nur die Kenntnis von Fakten und Naturgesetzen, von Mitteln zu gegebenen Zwecken, von möglichen oder gewissen anderen Folgen solcher Mittel beisteuern kann, nicht aber die von Werten, insbesondere die des Wertes menschlicher Zwecke. Gibt es praktische Erfahrung in dem Sinn, daß menschliches Werten und Streben sicherer, reifer, umfassender und treffender wird, so //110// wie die Wahrnehmung der Umwelt im theoretischen Lernen aus Erfahrung sicherer und kritischer werden und auf diesen oder jenen Sachverhaltsbereich konzentriert werden kann? Denn auch die Wahrnehmung der Umwelt ist nicht, wie Nelson meinte, „unmittelbare Erkenntnis“, sondern sie ist aus Erfahrung erlernt und kann unter ungewohnten Umständen versagen. In der Tat gibt es im menschlichen Werten ein weites Feld, in dem ein solches Lernen aus praktischer Erfahrung aufgewiesen werden kann: Das setzt ein in einer Anregung des Geschmacks durch Erfahrung, ob es sich nun um Speisen und Getränke, um Freizeitbeschäftigungen, um die herrschende Mode, um den Zugang zu neuen Richtungen in Musik und Malerei, um Gastfreundschaft und die Anteilnahme am Mitmenschen handelt oder um manches andere. Das setzt sich fort in der wertenden Verarbeitung solcher Anregungen, in der Liebe zur heimischen Küche, in Natur- und Heimatliebe, im anteilnehmenden „eigentlichen“ Interesse an Unterhaltung und Abwechslung, an Geselligkeit, an beharrlichem Verfolgen sozialer, politischer, wissenschaftlicher Forschungen und Unternehmun gen. – „Eigentliche Interessen“ sind nach Nelson charakterisiert durch persönliche Anteilnahme – er selber spricht von „Polarität“! –; sie unterscheiden sich dadurch vom bloßen Werturteil, dem diese Anteilnahme fehlt. (IV, 352) In praktischer Erfahrung, weithin aber auch aus Tradition, lernt es der einzelne, die eigenen Wertungen und Strebungen miteinander in Beziehung zu setzen und sie so im Konfliktsfall gegeneinander abwägen zu können. Er bedarf dafür einer Disziplinierung des eigenen Verhaltens, der Fähigkeit und Bereitschaft, auf Minderwichtiges zu verzichten um des Höhergeschätzten willen, an gefaßten Entschlüssen festzuhalten trotz ablenkender Einflüsse und wechselnder Interessen. Eben diese Selbstdisziplin kann erlernt werden und wird erlernt in dem Sozialverband, in dem ein Mensch aufwächst und lebt; praktische Erfahrung und Tradition führen ihn ein in die Sozialordnung seiner Umwelt und gestalten so seine ethische Bildung. Gegen eine Selbstdisziplin, die aus Tradition und praktischer Erfahrung erlernt worden ist, erhebt Nelson schärfsten Einspruch: „Die höchsten Zwecke der Philosophie liegen … in dem, was die Philosophie dem Le//111//ben selber bedeuten
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soll …. Die Philosophie soll uns die Regeln geben, die wir brauchen, um die Tatsachen des Lebens deuten und meistern zu können. … Die Philosophie soll uns also über die letzten Ziele und Zwecke unseres Lebens verständigen. Wir können diese Ziele und Zwecke nicht etwa aus der Erforschung der Tatsachen selber entnehmen, sondern wir brauchen dazu einen Standpunkt über den Tatsachen und unabhängig von allen Tatsachen. … Solche Tatsachen, die uns die Regeln unseres Urteilens und Handelns aufzuzwingen die Tendenz haben, die wir uns als philosophische Menschen nicht aufzwingen lassen sollen, solche Tatsachen sind die, die wir zusammenfassend bezeichnen mit dem Namen der Tradition oder der Konvention und jeder Art von Autorität. Von allen diesen Einflüssen muß sich der vollständig frei machen, der einen wahrhaft philosophischen Standpunkt gewinnen will.“ (VII, 13 f.) So verständlich Nelsons Skepsis gegen Erfahrung und Tradition auch ist, wenn es um die Entscheidung über die „letzten Ziele und Zwecke unseres Lebens“ geht, so hat er doch mit dieser radikalen Absage an „Tradition oder Konvention und jede Art von Autorität“ den Boden praktischer Erfahrung verlassen, auf dem allein Ethik realisiert werden kann und Bedeutung hat. Wo immer Menschen miteinander leben, da gibt es eine dieses Zusammenleben entscheidend mitgestaltende öffentliche Meinung über Recht und Wert im menschlichen Leben. Ohne eine als verbindlich anerkannte Sozialordnung ist menschliches Zusammenleben nicht möglich. Diese Ordnung geht über das in positiven Gesetzen Festgelegte weit hinaus, sie umfaßt Sitten und Gebräuche, Höflichkeitsformen u. a. Sie bestimmt das Maß als selbstverständlich erwarteter gegenseitiger Rücksichtnahme, aber auch Maß und Formen der Einflußnahme auf den Partner und, im Gegensatz dazu, die Ausbildung von Privatsphären, mit deren Respektierung gerechnet werden kann. Diese in einer Sozialgruppe geltende Sozialordnung hat verschiedenen Gehalt je nach den Umständen: sie differenziert sich nach Untergruppen: Familien, Arbeitsgruppen, politischen, gewerkschaftlichen oder sonstigen Organisationen, Freundesgruppen oder Schicksalsgemeinschaften. Auch diese Bindung an das Leben in einem Sozialverband – oder in mehreren einander neben- oder übergeordneten Verbänden – hat der Mensch mit gewissen höheren Tieren gemeinsam, für die das Leben in ei//112//nem Sozialverband mit seiner Sozialordnung zum arteigenen Verhalten gehört. Bei einigen von ihnen gibt es auch schon die Erscheinung, daß vorbegriffliche Erfahrungen auf die Partner im Sozialverband tradiert werden und daß es so zu einer Anpassung nicht nur des einzelnen Tieres, sondern des Verbandes an seine Umwelt kommt – eine Anpassung, die mehr ist als das blinde Wechselspiel von Mutation und Selektion. Biologisch gehört der Mensch zur Gruppe der in solchen Sozialverbänden lebenden höheren Tiere, die zudem fähig sind, aus Erfahrung zu lernen. Die
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den Menschen auszeichnende Gabe der Vernunft, vorbegrifflich aus Erfahrung Erlerntes in sprachlich-begriffliches Erfahrungswissen umzusetzen und gemäß den Kategorien von Substanz und Kausalität methodisch zur Erfahrungswissenschaft weiterzubilden, leistet noch mehr und gibt auch seinem Sozialleben neue Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch neue Gefahren. Die Sozialordnung seines Verbandes, in der allein er den für sein Leben entscheidenden Kontakt zum Sozialpartner gewinnen und zu der lebensnotwendigen Kooperation mit ihm gelangen kann, lernt er kennen als eine sich ihm als verbindlich darbietende Form mitmenschli chen Zusammenlebens. Diese Ethik seiner Umwelt ist geschichtlich geworden und durch die besonderen Umstände dieser ihrer Entwicklung geprägt, es ist die Ethik seines Kulturkreises, seines Volkes, seiner Gruppe oder Familie, und sie geht ein in den Prozeß, in dem er lernt, wertend abzuwägen und sich zu disziplinieren. Daß und warum Nelson dieser historisch-empirisch gegebenen Ethik mißtraute und seine Schüler aus der traditionsbedingten Bildung zu lösen suchte, das liegt auf der Hand. Deren Grenzen, Mängel, durch Gruppeninteressen bedingte Einseitigkeiten, ja Ungerechtigkeiten konnten seinem kritischen Blick nicht entgehen. Aber dieses Mißtrauen und diese Kritik lösen ihn ja nicht aus dem kulturgeschichtlichen Prozeß, in dem die jeweils in der öffentlichen Meinung wirkende historisch herausgebildete Ethik sich wandelt und fortschreitet. Mehr als das: Billigung, Anerkennung, ja positive Schätzung kritischen Verhaltens gegenüber eingerosteten Moralvorschriften waren ja längst in diejenige historisch gewordene Ethik eingedrungen, unter und mit der Nelson zum Angriff auf die Tradition antrat. Das hebt den Wert seiner Kritik nicht auf: Eigene praktische Erfahrung, wenn auch immer mitgeprägt durch die jeweils herrschende //113// historisch- und umweltbedingte Ethik, kann deren Grenzen auffassen und so über sie hinausführen, wie sie andererseits natürlich auch durch mitgeschleppte Vorurteile erstickt oder auf Abwege gedrängt werden kann.
§ 5. Ethik der Pflicht und Ethik der sozialen Anteilnahme Sozial lebende höhere Tiere werden in ihrem Verband und der ihm gemäßen Ordnung zusammengehalten durch eine jeweils für die betreffende Art charakteris tische vorbegriffliche soziale Anteilnahme: sie sind empfänglich für Anregungen ihrer Partner, leben mit ihnen in sozialer Wechselwirkung gemäß der Sozialordnung ihrer Art, nach der sie untereinander kooperieren oder konkurrieren, für einander eintreten oder einander bekämpfen, sich einer vorgegebenen Rangordnung einfügen oder eine neue entstehen lassen. Ohne eine solche vorbegriffliche soziale
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Anteilnahme wäre auch menschliches Zusammenleben unmöglich. Sie gehört zum Grundverhalten auch des Menschen und ist nicht erst das Ergebnis bewußter oder unbewußter Erwägungen, sei es der Klugheit oder der Sittlichkeit. Wenn es an Kontaktfähigkeit und Blick für den Mitmenschen fehlt, dann können weder opportunis tische Überlegungen, daß und wie ein anderer meinen Wünschen dienen könnte, noch moralische Bedenken, daß ich verpflichtet sei, seine Interessen zu achten, „als ob es auch die meinen wären“, auch nur solche Sozialbeziehungen entstehen lassen oder aufrechterhalten, wie sie sich im Straßenverkehr und im Geschäftsleben bei einfachen Unterhaltungen, Erkundigungen oder Vereinbarungen ergeben. Klugheitserwägungen und sittliche Einsichten greifen nur disziplinierend ein in menschliches Verhalten, das von eigenen Neigungen, immer aber auch von sozialen Einflüssen, von Anregungen und Herausforderungen durch andere bewegt wird und das Rücksichtnahme auf den Partner, der Anlage nach, ebenso umfaßt wie Furcht vor eigenem Unbehagen. Gehen wir von diesem Faktum einer grundlegenden sozialen Wechselwirkung zusammenlebender Menschen aus, so läßt sich die von Nelson erstrebte Parallele zwischen theoretischer und praktischer Naturlehre strenger durchführen, als er es mit seinen Systemen der philosophischen //114// Ethik und der philosophischen Rechtslehre erreicht hat: Wie das Kausalgesetz in der Physik, so dient das Abwägungsgesetz in einer empirisch durchgeführten praktischen Naturlehre nicht als Obersatz für einen Schluß auf Lehrsätze dieser Naturlehre. Wie die Besinnung auf das Kausalgesetz als Kriterium sauber nüchternen Erfahrungsdenkens mit dazu dienen kann, bloßes Wunschdenken und Phantasterei abzuwehren, so dient die Besinnung auf das Abwägungsgesetz dazu, im Blick auf die von einer geplanten Handlung betroffenen Interessen die perspektivische Verkürzung und Verzerrung aufzufassen und auszuschalten, die vom eigenen Standpunkt her nahegelegt wird und die darin besteht, die Interessen des Partners nicht so zu beachten, „als ob es auch die meinen wären“. Wie aber das Kausalgesetz selber nicht als Naturgesetz induktiv aufgewiesen wird, so ist auch diese Selbstkritik nicht der Ursprung der sich als verbindlich darbietenden Sozialordnung, sondern nur die kritisch verant wortliche Überprüfung der in sozialer Anteilnahme und Tradition praktisch erfahrenen Ordnung. Ohne Fähigkeit und Bereitschaft zu sozialer Anteilnahme gäbe es keine Tradition, aber es gäbe auch keine historisch entstandene und als verbindlich verstandene Sozialordnung. Das könnte den Gedanken nahelegen, die kritische Pflege und Ausbildung der sozialen Anteilnahme an die Stelle einer Erziehung zu Pflichtbewußtsein und moralischer Bereitschaft zu setzen. Zielen die hier vorgelegten Überlegungen darauf ab, die Pflichtethik durch eine Ethik der sozialen Anteilnahme zu ersetzen? Ein solches „Entweder – Oder“ kann es nicht geben. Das Pflichtgesetz
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gerechter Abwägung behält sein Gewicht als Kriterium im Umgang mit eigenen und fremden Interessen auch in Fällen, in denen lebendige soziale Anteilnahme stärker als das Bewußtsein eigener Verpflichtung die Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme auf den Partner lenkt. Umgekehrt aber kommt auch keine Pflichtethik ohne soziale Anteilnahme am Partner aus; auch der vordringlich um die eigene Sittlichkeit besorgte Mensch kann dem Abwägungsgesetz nur gerechtwerden, wenn er dem Sozialpartner seine Anteilnahme zuwendet. Trotzdem bleiben, wie mir scheint, zwischen verschiedenen Menschen große individuelle Unterschiede bestehen in der Beziehung dieser beiden Gesichtspunkte zueinander. In einem Rückblick auf ihr Leben hat Minna //115// Specht kurz vor ihrem Tod zu mir gesagt: „Ich wollte, ich wäre ein guter Mensch gewesen; ich bin's nicht. Du bist es auch nicht. Nelson war es auch nicht. Deine Mutter, die war's.“ Das hat etwas mit den Unterschieden zu tun, um die es mir hier geht. So wenig wie eine nur auf dem Abwägungsgesetz aufbauende Ethik die ethische Bedeutung sozialer Anteilnahme verdrängen kann, so wenig kann sie auch jene historisch gewordene Ethik der jeweils geltenden Sozialordnung durch eine von allen mittradierten Mängeln befreite rein philosophisch fundierte Ethik ersetzen. Das geht schon darum nicht, weil die historisch gegebene Ethik, bzw. die kritische Auseinandersetzung mit ihr eingeht in jenen Prozeß praktischer Erfahrung, in der sich die einen Menschen bestimmenden Werte und Interessen herausbilden und miteinander in eine Beziehung treten, die unter ihnen abzuwägen erlaubt. Auch dieser Prozeß ist mitgestaltet durch das, was der heranwachsende Mensch aus Tradition erlernt und übernommen hat; diese Tradition umschließt die in seiner Umwelt wirksame Ethik, vielleicht auch die Herausforderung zur Auseinandersetzung mit ihr. Kriterium für diese Auseinandersetzung ist das Abwägungsgesetz – es ist nicht mehr und nicht weniger. Erst aus dieser Beschränkung ergibt sich auch eine Erklärung für eine sonst schwer verständliche Wendung in der Formulierung des Sittengesetzes bei Kant und bei Nelson. Beide formulieren das Sittengesetz als Imperativ, ja sie definieren es geradezu als den „kategorischen Imperativ“. Für beide ist dieses Gesetz logisch zwingend verbunden mit dem Prinzip der Autonomie, der Selbstgesetzgebung; der Imperativ aber drückt seiner sprachlichen Form nach die Sozialbeziehung zum fremden Willen aus. Wo Imperative ausgesprochen und befolgt werden, da wird der Wille des Angesprochenen bestimmt durch den des Sprechers; wer autonom handelnd der eigenen Pflichterkenntnis entspricht, kann einem andern nur unter dem Vorbehalt zustimmender eigener Einsicht folgen. Warum also die Formulierung des Sittengesetzes in der zweiten Person und in der Befehlsform? Die Beziehung dieses Gesetzes als eines Kriteriums auf die geltende, sich als verbindlich darbietende Sozialordnung gibt hier einen Hinweis: Solche historisch
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gewachsenen Ordnungen finden – wie etwa die zehn Gebote – im Imperativ eine ihnen gemäße Form, in der sie geltendgemacht und tradiert werden können. Die Frage nach Rechtmäßig//116//keit und Gültigkeit solcher Ordnungen und imperativen Vorschriften wird erst gestellt, wo Zweifel und Kritik erwachsen; sie ist sekundär gegenüber dem Prozeß der Ausbildung und Entwicklung der Sozialordnung und tritt historisch später auf. Verstehen wir das Sittengesetz als Antwort auf diese Frage, dann kann seine imperative Form verstanden werden als Anpassung des Kriteriums an die imperativ tradierte Ordnung, für deren Weiterbildung es Hinweise gibt. Verstehen wir es dagegen als Obersatz, aus dem durch Subsumtion vorliegender Fakten konkrete Pflichten und Rechte abgeleitet werden sollen, so bleibt der Widerstreit zwischen der imperativen Form und dem Anspruch auf Autonomie ungelöst stehen.
§ 6. Im Gespräch mit Kameraden der Akademie Zu den Überlegungen der voranstehenden Abschnitte sind mir einige Fragen bzw. Einwände entgegengehalten worden; ich will im folgenden noch kurz darauf eingehen. 1. Der Terminus „soziale Anteilnahme“ treffe nicht diejenige Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt, die ihm als einem sozialen lernfähigen Lebewesen notwendig zukomme. Als soziales Wesen brauche er zwar den Kontakt mit anderen Menschen, aber der sei durchaus nicht von vornherein nur positiv und insofern „Anteilnahme“. Gleichgültigkeit, Konkurrenz, Feindseligkeit seien ebenso ursprüngliche Beziehungen unter Menschen wie die Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe. Dieser Einwand weist mit Recht darauf hin, daß der Begriff der sozialen Anteilnahme enger ist als der jener sozialen Beziehung, die beim Menschen als einem sozialen Wesen zu seinen arteigenen Verhaltensweisen gehört. Für die höheren sozial lebenden Tiere wie für den Menschen ist das Leben in einem größeren oder kleineren Sozialverband die ihnen gemäße Lebensweise. Das bedeutet keineswegs, daß die Mitglieder eines solchen Sozialverbandes durchweg füreinander eintreten; Konkurrenz- und Rangkämpfe sind vielmehr wesentliche Formen eben dieser Sozialbeziehung. Wohl aber bedeutet es, daß die soziale Wechselwirkung im Verband, unbeschadet dieser auftretenden Kämpfe und Gegensätze, im Ganzen diesen Verband als Einheit zusammenhält. Die soziale Anziehung unter den Verbandsan//117//gehörigen überwiegt also die zwischen ihnen auftretenden abstoßenden Kräfte. Diese soziale Bindung an den Partner beruht auf dem, was ich im vorliegenden Text – in einem weiten Sinn dieses
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Wortes – soziale „Anteilnahme“ genannt habe; denn diese Bindung im und an den Sozialverband ist nicht möglich ohne ein gewisses Mitbetroffensein von dem, was dem Partner geschieht. Soziale Anteilnahme in diesem umfassenden Sinn führt in einem weiten Bereich mitmenschlicher Alltagsbeziehungen dahin, daß ohne Vermittlung moralisch-rechtlicher Vorstellungen die Interessen des Partners mitberücksichtigt werden. Diese Beziehungen bedürfen der Disziplinierung, Fortbildung oder auch der Korrektur nach dem Kriterium rechtlicher Abwägung; sie bieten aber den Zugang zum Sozialkontakt und damit zu dem Bereich, in dem das Abwägungsgesetz als ein solches Kriterium erst anwendbar wird. 2. Welche praktische Bedeutung hat es für den Aufbau der Ethik und den Umgang mit ihr, das Abwägungsgesetz nicht als Prinzip dem System der Ethik zugrunde zu legen, sondern es als Kriterium für ethische Bewertungen geltend zu machen? Mir ist diese Unterscheidung wichtig geworden in der Auseinandersetzung mit Nelsons These, es gebe ein unmittelbares rein vernünftiges sittliches Interesse, das zwar ursprünglich dunkel sei, aber den Menschen zur Pflichterfüllung – nämlich zu der Befriedigung dieses seines eigenen Vernunftinteresses – befähige. Ein solches unmittelbares rein vernünftiges Interesse müßte nach Nelsons Sprachgebrauch („Kritik der praktischen Vernunft“, Seite 351 f.) ein „eigentliches Interesse“ sein, um den Menschen zur Pflichterfüllung zu bestimmen; denn es müßte mit einer bestimmten – natürlich endlichen – Stärke auftreten, die widerstreitende Neigungen überwinden kann. Es kann andererseits als rein vernünftiges Interesse nur ein „uneigentliches Interesse“ sein; denn die persönliche Anteilnahme, die das eigentliche Interesse von der bloßen Werterkenntnis und dem Werturteil, dem uneigentlichen Interesse, unterscheidet, richtet sich immer auf konkrete Zustände, denen wir nur in der Erfahrung, nie aber auf Grund einer reinen Vernunfterkenntnis gegenüberstehen. Nelsons These schließt demnach einen Widerspruch ein; dieser kann dadurch, und, wie mir scheint, nur dadurch gelöst werden, daß das Sittengesetz als bloßes Kriterium verstanden wird: Das Sittengesetz ist eben nicht der Ge//118// genstand eines dunklen Vernunftinteresses, das nur ins Licht des Bewußtseins erhoben werden müßte, um sich widerstreitenden Neigungen gegenüber als überlegen zu erweisen, sondern es wird aufgefaßt nur als das Kriterium fortschreitender praktischer Erfahrung, in der die praktische Vernunft des Menschen sprachlich begrifflich auffaßt, diszipliniert und fortbildet, was soziale Anteilnahme an Überwindung bloßer Ich-Bezogenheit anregt. 3. Was leisten die Nelsonschen Verfahren der Abstraktion und der Deduktion, wenn seine eigene Deutung, mit ihnen unmittelbare Erkenntnisse als die Erkenntnisquelle von Grundurteilen aufzuweisen, sich als revisionsbedürftig erweist?
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Das Verfahren der Abstraktion wie das der sokratischen Methode scheint mir nichts anderes zu sein als die sprachlich-begriffliche Interpretation und Verarbeitung eigener in Erfahrung gewonnener Urteils- und Verhaltensweisen. Meine Revision von Nelsons Auffassung betrifft hier nur das Verständnis dessen, was in der Beschäftigung mit der faktischen Beurteilung konkreter Fälle an „zugrundeliegenden“ allgemeinen Erkenntnissen gewonnen und „ins Bewußtsein gehoben“ wird: Das „Unbewußte“ ist nicht ein Schatz von Erkenntnissen, die nur, da dem Bewußtsein nicht zugänglich, nicht voll zur Verfügung stehen – in konkreten Einzelurteilen aber ihre nachweisbaren Spuren hinterlassen –, sondern es ist ein Gefüge durch Erfahrung und Tradition erlernter Verhaltensweisen, soweit sie noch nicht sprachlich-begrifflich zu Erkenntnissen verarbeitet worden sind. Abstraktion und sokratische Methode gehören, wie mir scheint, einem solchen Verarbeitungsprozeß an. Das Verfahren der Deduktion hat Nelson geplant und entworfen als Lösung der Aufgabe, sprachlich-begriffliches Erkennen auf seine vorbegriffliche Quelle zurückzuführen und damit zu begründen. Dabei geht er wie selbstverständlich – ohne das als eigene Voraussetzung auch nur zu formulieren geschweige denn zu rechtfertigen – davon aus, daß jede Erkenntnis entweder „unmittelbar“ und dann gegen Kritik und Revision schlechthin immun sei, oder daß sie, als „mittelbare“ Erkenntnis, in einer anderen Erkenntnis ihren Grund haben müsse. Erst die seither intensiv ausgebildete Verhaltensforschung weist unüberhörbar darauf hin, daß diese Voraussetzung keineswegs selbstverständlich und daß sie falsch ist. //119// Unmittelbar im Prozeß menschlichen Erkennens sind nicht inhaltlich bestimmte, keiner Begründung bedürftige vorbegriffliche Erkenntnisse; vielmehr setzt dieser Prozeß ein im vorbegrifflichen Lernen aus Erfahrung und aus Tradition, dessen der Mensch ebenso fähig ist wie die ihm verwandten höheren Tiere und in dem sich der angemessene Umgang von Tier oder Mensch mit seiner dinglichen und seiner sozialen Umwelt herausbildet. Nur der Mensch als vernünftiges Wesen ist darüber hinaus fähig, das so Erlernte sich zu deuten in kategorial gegliedertem sprachlich-begrifflichem Erfahrungswissen und ethischen Überzeugungen. Die stillschweigende Voraussetzung der Nelsonschen Deduktion und meine Gegenthese können hier nur angedeutet werden. Sie gehören zu den weiterführenden Themen meines „Gesprächs mit Leonard Nelson“. Als ich mich vor den Weihnachtsferien 1925 von Nelson verabschiedete, mit dem ich seit dem 10. Dezember, meinem Examenstag, als seine Privatassistentin arbeitete, da fragte er mich, ob ich mir von seinen Büchern etwas in die Ferien mitnehmen wolle. Ich bat ihn um seine „Kritik der praktischen Vernunft“. Daraufhin nahm er ein neues Exemplar dieses Werkes, schrieb vorn hinein: „Grete Hermann
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– zu Weihnachten 1925 – der Verfasser“ und gab es mir mit den Worten: „Nehmen Sie sich der Deduktion des Sittengesetzes an. Die hat ja noch kein Mensch gelesen.“ Daran arbeite ich noch heute.
[ÜBER DEN PFLICHTIMPULS]*
§ 1. Vom Begriff der Pflicht Die Ethik der kritischen Philosophie ist entscheidend orientiert am Begriff der Pflicht; für Kant und Nelson kennzeichnet er nicht nur einen – wenn nicht gar den – Grundbegriff ihrer philosophisch-ethischen Betrachtungen, sondern läßt auch deren Bedeutung für das menschliche Leben erst klar hervortreten. Bei Kant heißt es: „Pflicht! du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellest, welches von selbst im Gemüte Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich insgeheim ihm entgegen wirken: welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben können? … Es ist nichts anders als die Persönlichkeit, d.i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigentümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, so fern sie zugleich zur intelligibelen Welt gehört; …“ (Kant: „Kritik der praktischen Vernunft“, 1. Teil, 1. Buch, 3. Hauptstück) Diesem feierlichen Kantischen Hymnus entspricht bei Nelson, wenn //121// auch nicht durchweg im Ton, so doch im ganzen Aufbau seiner Ethik die Orientierung am Begriff der Pflicht und, zur Ergänzung neben diesem dann der des Ideals: die eine Voraussetzung, wonach diesem Begriff praktische Realität zukommt, genügt ihm, um im Abschnitt der „formalen Pflichtenlehre“ den Grund zu legen, auf dem nicht nur das System der Ethik ruht, sondern durch den es auch in seiner Gliederung und seinen Schwerpunkten den Charakter der Pflichtethik erhält. Wo * Zweite Niederschrift (1979).
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dieser Zugang in Frage gestellt wird, wie durch jenen zeitgenössischen jesuitischen Moralphilosophen, auf den Nelson im Vortrag über sittliche und religiöse Weltansicht eingeht, da nimmt auch seine Antwort etwas von dem feierlichen Ton der Worte Kants an: „Was Märtyrern und Ketzern die Kraft gegeben hat, was jeden ernsthaften Menschen befähigt, zu tun, was er als seine Pflicht erkannt hat, ist die ruhige Besinnung auf seine Würde als Mensch, deren Preisgabe ihn in seinen eigenen Augen verächtlich machen würde. Selbstachtung, wie sie unmittelbar und ohne das Hinzukommen irgendeiner weiteren Triebfeder mit dem Pflichtbewußtsein verbunden ist, ist der hinreichende Bestimmungsgrund des moralischen Menschen.“ (VIII, 317 f.) Die Möglichkeit der moralischen Handlung ist es demnach, in der Nelson die Würde des Menschen begründet sieht, und diese Möglichkeit erschließt sich ihm im Pflichtbewußtsein. „Wenn das Bewußtsein der Pflicht den Bestimmungsgrund einer Handlung bildet, wenn sie, wie Kant sagt, aus bloßer Achtung vor dem Gesetz geschieht, so heißt eine solche Handlung moralisch.“ (V, 59) Wie aber kann etwas so Abstraktes wie ein Gesetz einen Menschen zum Handeln bestimmen? Genau genommen bleibt ja auch weder Kant noch Nelson in den angeführten Stellen bei dieser Deutung stehen. Vielmehr nennen beide konkrete und realisierbare Werte, um derentwillen Pflichterfüllung, selbst starken widerstreitenden Neigungen zum Trotz, geschehen kann. Bei Kant ist es die Persönlichkeit in ihrer Freiheit und Unabhängigkeit, bei Nelson die Selbstachtung, die ruhige Besinnung auf die eigene Würde. Die „bloße Achtung vor dem Gesetz“, bzw. das „Bewußtsein der Pflicht als Bestimmungsgrund“ werden damit gleichgesetzt dem Interesse an der eigenen moralischen Integrität. Stimmt wirklich das eine mit dem andern überein? Ist Pflichterfüllung in der Tat eine so auf das eigene Ich bezogene Handlung? //122// Der Pflichtbegriff des Alltagslebens hat einen weit nüchterneren Cha rakter. Er appelliert – im Normalfall seiner Anwendung – weder an anerkannte und geachtete Prinzipien, noch an Selbstachtung und Selbstbestimmung, sondern mahnt an eine bestehende Abhängigkeit, die Einordnung des Menschen in seine soziale Umwelt nämlich, in der es um mehr und anderes geht als nur die eigenen Belange und Interessen. Die Vorstellung der Pflicht ist – mehr oder weniger eng – bezogen auf die einer Umweltordnung, in der die mitmenschlichen Beziehungen eines Gesellschaftsbereichs ihre Form finden und damit den erforderlichen Halt. Durch die Bindung an Alltagspflichten sieht sich der einzelne den besonderen Bedingungen seiner Umwelt unterstellt. Seine Pflichten setzen ihm Grenzen in dem, was er tun darf, und bestimmen Aufgaben, deren Erfüllung von ihm erwartet wird unabhängig vom jeweiligen eigenen Belieben, ihnen nachzukommen. Solchen Alltagspflichten fehlt im allgemeinen auch der Verehrung gebietende Charakter, den Kant dem Pflichtgesetz zuschreibt. Weithin sind sie in herrschende
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Sitten und Gewohnheiten derart integriert, daß ihre Erfüllung kaum noch in Frage gestellt, sondern wie selbstverständlich vollzogen und als selbstverständlich auch von der Umwelt erwartet wird, unbeschadet der Erfahrung, daß Verstöße gegen die gewohnte Ordnung vorkommen; sie werden im allgemeinen als „Pflichtverletzungen“ mißbilligt und heben die geltende Ordnung nicht auf. Ohne eine solche Grundordnung eingeübter und hinreichend verläßlicher mitmenschlicher Beziehungen wäre das Zusammenleben von Menschen in Sozialverbänden überhaupt nicht möglich. Wo immer in kleinen oder größeren Gruppen Menschen im Kontakt und in sozialer Wechselwirkung zusammen leben, da gibt es auch ethisch-rechtliche Formen, in denen dies geschieht und nach denen Pflichten und Rechte im Verkehr der Menschen bestimmt und anerkannt werden. Jeder Sozialverband hat seine Ethik, die nicht nur von der herrschenden öffentlichen Meinung anerkannt, sondern auch von der Mehrheit der Verbandsangehörigen in beachtlichem Maße befolgt wird. Aber nicht alle solchen Verbände haben dieselbe Ethik, dasselbe Maß an geltenden Regeln, denselben Grad an Unterordnung ihrer Mitglieder unter die Forderungen dieser Ethik und solcher Regeln. //123// Diese faktisch geltenden ethischen Systeme sind gesellschaftliche Gege benheiten. Sie sind geschichtlich entstanden, je unter den besonderen Bedingungen, unter denen die Sozialbeziehungen der betreffenden Gruppe sich entwickelt haben. Aber diese Gegebenheiten sind ethische Systeme, die nicht als bloße Fakten behandelt werden können, es sei denn, der Beurteiler stelle sich als bloßer Betrachter völlig außerhalb des Lebens der betreffenden Gruppe. Für jeden ihr Angehörenden aber und damit für das Selbstverständnis der in ihr zusammengeschlossenen Menschen sind die ethischen Wertungen und die geltend gemachten Pflichten, Rechte und Ideale relevant für die eigenen sittlichen Überzeugungen und, mehr als das, für die Ausbildung eigener sittlicher Interessen, die, wenn nicht überboten durch stärkere widerstreitende Antriebe, das Handeln bestimmen.
§ 2. Die philosophisch begründete und die historisch gewachsene Ethik Aber diese historisch realisierte Ethik ist belastet mit den Mängeln und Voreingenommenheiten, wie sie dem nur gefühlsmäßigen Urteil in seiner Abhängigkeit von herrschenden Meinungen anhaften. Darum stellt Nelson ihr eine von dieser Überlieferung unabhängige philosophisch begründete Ethik entgegen: „Jene Lehre von der Machtlosigkeit der Doktrinen im Gebiet der Ethik, sie ist selber nichts anderes als eine Doktrin, und zwar eine falsche … . Wenn aber diese Lehre falsch
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ist, … dann kann es uns offenbar nicht gleichgültig sein, ob es nicht unter all den ethischen Doktrinen doch eine gibt, die sich mit wissenschaftlichen Methoden vor allen anderen auszeichnen läßt als die allein gültige und verbindliche, als eine solche Lehre, der dann, wenn einmal im Kampf der Meinungen Gründe entscheiden, der Sieg zufallen muß.“ (V, 11) In der Tat: Sofern Meinungsverschiedenheiten nicht im bloßen Kampf um Einflußsphären geltend gemacht werden, sondern die Beteiligten veranlassen, es mit Gespräch und Verständigung zu versuchen, haben sie immer wieder dazu genötigt, faktisch geltende ethische Urteilsweisen und Systeme kritisch in Frage zu stellen und an Gründen zu messen. Das kann geschehen durch vertiefte Auseinandersetzung mit jener faktisch gelten//124//den Ethik, an der sich der Meinungsstreit entzündet hat und die meist in weltanschaulichen Überzeugungen der betreffenden Gruppe verwurzelt ist. Es kann auch geschehen in dem kühnen Versuch, direkt den widerstreitenden Meinungen auf den Grund zu gehen mit der Frage, was die menschliche Vernunft beizutragen hat bei jener Reaktion, in der wir mit ethischen Urteilen und Forderungen auf empirisch gegebene Umstände antworten. Diesen zweiten Weg hat Nelson eingeschlagen und damit die Ansätze von Kant und Fries weiterentwickelt. Das brachte ihn zur Abstraktion von den jeweils wechselnden Erfahrungsgegebenheiten und zum Aufbau der rein philosophischen Ethik. In ihr geht es um die Gewinnung ethischer Prinzipien, die vom Wandel des Geschehens unabhängig sind und daher der ethischen Beurteilung dieses Geschehens einen Maßstab zu bieten vermögen. Nelson begründet sie in seiner „Theorie der praktischen Vernunft“ durch die Annahme eines unmittelbaren, wenn auch ursprüng lich dunklen sittlichen Interesses der Vernunft, dessen Ansprüche im Pflicht- und Rechtsbewußtsein des Menschen zutage treten, das aber philosophischer Klärung bedarf, um den gesuchten zuverlässigen Maßstab zur Auflösung von Meinungsverschiedenheiten zu geben. Mit dieser Zurückführung des Pflichtbewußtseins auf ein eigenes sittliches Interesse der Vernunft aber gibt Nelson faktisch ein wesentliches Merkmal jener Alltagsethik preis, das mit deren Bedeutung für Umwelt und Erfahrung des Menschen aufs engste verbunden ist: Die von Nelson konzipierte, philosophisch begründete Ethik ist nicht, wie jede historisch realisierte Ethik, eine gesellschaftliche Gegebenheit, die als solche eben nicht ein bloßes ethisches Lehrsystem ist, sondern darüber hinaus eine gesellschaftliche Kraft, die menschliches Verhalten beeinflußt, und zwar im Sinne der betreffenden Lehre. Jede faktische Ethik hat gewissermaßen einen Doppelcharakter: Sie prägt die Menschen ihres Geltungsbereichs und sie fordert von ihnen Achtung und Befolgung ihrer Normen. Das gilt für die Ethik des Christentums in ihren vielfachen Formen, es gilt für die Ethik des Islam und die anderen Religionsgemeinschaften, es gilt für die Ethik der Aufklärungszeit und
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die der Arbeiterbewegung und für andere, Menschen in ihrem Tun und Denken bestimmenden ethischen Überzeugungen. Jede von ihnen ist eingebettet in eine Tradition, die den Boden bereitet hat, auf dem diese bestimmte gesellschaftlich wirkende Ethik prä-//125//gen und fordern kann. Es gilt aber nicht für die Ethik, deren Aufbauplan Nelson rein philosophisch entworfen hat. Die Unabhängigkeit von „der Tradition oder der Konvention und jeder Art von Autorität“ sieht Nelson ja gerade als eine unerläßliche Bedingung für das Verständnis dieser Ethik an: „Von allen diesen Einflüssen muß sich der vollständig frei machen, der einen wahrhaft philosophischen Standpunkt gewinnen will.“ (VII, 14.) Mit dieser Absage an Tradition, Konvention und Autorität sucht Nelson die philosophisch begründete Ethik zu lösen von den Mängeln und Fehlerquellen, die in der historisch überlieferten Ethik mitgeführt und weitergegeben werden. Aber seine Absage desavouiert zusammen mit den Mängeln auch die lebensnotwendigen Anregungen, die der Mensch durch die Tradition erfährt und nur durch sie. Denn als sozial vernünftiges Wesen ist er, um die Kräfte der eigenen Vernunft entfalten zu können, auf das Leben im Sozialverband angewiesen und damit auf jene tradierte, sich ihm als verbindlich darbietende Ordnung des mitmenschlichen Zusammenle bens, in dem Alltagspflichten und Alltagsrechte ihm einen Spielraum der eigenen Bewegungsfreiheit gewähren, diesen aber auch begrenzen. In der Erfahrung solcher Rechte und Pflichten des Alltagslebens lernt das heranwachsende Kind über den Bereich der eigenen Interessen hinauszusehen und seine soziale Umwelt aufzufassen – und zwar mit der in ihr geltenden Ethik. Das bedeutet keineswegs, daß kritiklose Hinnahme herrschender ethischer Lehren durchweg gefordert werde und unvermeidbar sei. Fähigkeit und Bereitschaft zur Kritik an der historisch gewordenen Ordnung ist vielmehr selber eine der Errungenschaften, die im Lauf der Geschichte in sehr verschiedenen Konflikten und Kämpfen erworben und gewagt wurden. Sie wurden damit selber in die faktische Ethik der Zeit eingebaut und tragen deren Doppelcharakter, zu prägen und herauszufordern. Die Zeiten der Reformation, der Aufklärung, der aufkommenden sozialistischen Bewegung, der Überwindung der Kleinstaaterei wie auch die kritische Auseinandersetzung mit Nationalismus und Imperialismus sind solche Perioden; wir sind mit ihnen noch nicht am Ende. Die historisch realisierte Ethik mit ihrem Doppelcharakter unterliegt als gesellschaftliche Gegebenheit eben selber einer Entwicklung, die von Stufe zu Stufe im Rahmen der von ihr geprägten Sozialordnung verläuft. //126// Erst die Tradition historisch gewachsener Sozialformen und Moralgebote macht deren kritische Fortbildung möglich. Nur in dem, was Menschen sich im eigenen Verhalten zu eigen gemacht haben, liegt die Erfahrungsgrundlage, auf der allein auch die Kritik und Revision überkommener Werte möglich ist.
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In diesem Prozeß hat nun auch die philosophisch begründete Ethik ihre Funktion. Das ist allerdings nicht die ihr von Nelson zugeschriebene Funktion, „unter all den ethischen Doktrinen“ die eine aufzusuchen und auszubauen, „die sich mit wissenschaftlichen Methoden vor allen anderen auszeichnen läßt als die allein gültige und verbindliche“. (V, 11) Wohl aber ist es die Funktion, die mögliche und gebotene Kritik an den Erwägungen und Vorschriften der jeweils erreichten faktischen – durch ihren Doppelcharakter gekennzeichneten – Ethik methodisch zu leiten. Es gilt, die Aufmerksamkeit bewußt und planmäßig auf solche Bereiche zu lenken, in denen es kritischer Wachsamkeit und der Ausbildung eigentlicher sittli cher Interessen erst noch bedarf. „Eigentliche sittliche Interessen“ sind dabei, nach Nelsons Sprachgebrauch (vergl. IV, 352), solche sittlichen Wertungen, die nicht nur betrachtend, urteilsmäßig gefällt, sondern in persönlicher Anteilnahme als eigene Anliegen aufgefaßt werden. In dem Maße, in dem – gemäß der geltenden Ethik eines Sozialverbandes – gegenseitige Rücksichtnahme und Achtung vor den Rechten von Schwachen und Benachteiligten faktisch gepflegt und geübt werden, bedarf es nicht mehr des Kantischen Appells an die Freiheit der autonomen Persönlichkeit oder der von Nelson empfohlenen ruhigen Besinnung auf die eigene Würde, deren Preisgabe den Menschen in seinen eigenen Augen verächtlich machen würde. Wer solcher Erwägungen bedarf, um im Straßenverkehr auf Gehbehinderte Rücksicht zu nehmen oder bei gelegentlichem „Schlange-Stehen“ sich nicht vorzudrängen, dem fehlt es an trivialen Bildungsformen, die im Großstadtverkehr weitgehend vorausgesetzt werden und auch vorausgesetzt werden dürfen. Sie beruhen weder allein auf der Angst vor strafenden Verkehrspolizisten, noch auf dem Streben nach moralischer Integrität, sondern entwickeln sich vordringlich in der Anpassung des Menschen an eine als berechtigt empfundene Regelung. Hinter den Pflichten und Aufgaben des Alltagslebens kann daher im Konfliktsfall aufleuchten die in innerer Anteilnahme als verbindlich aner//127//kannte prägende und fordernde Ordnung des geschichtlich gewordenen Sozialverbandes. In diesem Licht können auch lästige, ja schmerzliche Alltagspflichten in den eigenen Willen aufgenommen werden. Sie werden dann erfüllt um der sachlich-rechtlichen Dringlichkeit des Gebotenen wil len, ohne Rekurs auf Selbstachtung und das Bewußtsein der eigenen Würde. Vom ich-bezogenen Charakter jener philosophischen Pflichtenlehre, die den Menschen zu motivieren beansprucht durch die Besinnung auf die eigene Freiheit und Würde, befreit demnach die Einordnung in die sich als verbindlich darbietende Sozialordnung. Deren Grenzen und Mängel aber fordern heraus zu Wachsamkeit und Kritik, die nun ihrerseits die gewohnheitsmäßige Anpassung an eine vorgegebene Ordnung durchbrechen und so die Aufmerksamkeit auch auf das eigene Verhalten ihr gegenüber lenken und werten. Bei der Frage nach Notwendigkeit und
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Möglichkeit solcher Kritik bietet die philosophisch begründete Ethik – mit ihrer Orientierung an solchen Wertfragen – nun in der Tat Kriterien für das ethische Urteil. Aber diese philosophisch begründete Ethik tritt damit nicht – als allein gültige und verbindliche Lehre – an die Stelle jener historisch realisierten, faktisch geltenden Wertungs- und Beurteilungsweise, sondern sie entwickelt eine methodische Richtschnur für deren kritische Fortentwicklung. Die philosophische Ethik soll Kriterien liefern für eine solche kritische Überarbeitung und Weiterentwicklung der aus Tradition übernommenen Ethik, daß damit der Weg frei wird für den Erwerb solcher ethischen Einsichten und faktischen sittlichen Interessen, die der Kritik besser standhalten als die bisher aus Tradition übernommenen Lehren, und die zugleich in persönlicher Anteilnahme aufgefaßt werden, wie sie den eigentlichen Interessen zukommt, in die wir durch praktische Erfahrung und Tradition hineinwachsen.
§ 3. Vom Gebot des Charakters Nelson findet den gesuchten Grundsatz, den er seinem Aufbau der Pflichtenlehre zu Grunde legt, im Abwägungsgesetz: „Handle nie so, daß du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Inter//128//essen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären.“ (IV, 133) Es fragt sich nun, ob und wie sich sein Wahrheitsgehalt verbinden läßt mit jener Funktion, die eine philosophisch begründete Ethik als bloße Richtschnur zur Kritik und Fortbildung der jeweils erreichten historisch realisierten Ethik zu leisten hat. Während Nelson dieses Prinzip zum Obersatz eines rein philosophisch disponierten Systems macht, dem die Erfahrung nur die Anwendungsfälle liefert, können wir es als Kriterium nur erproben im Umgang mit jener historisch realisierten Ethik, um deren kritische Fortbildung es geht. Deren Doppelcharakter, zu prägen und zu fordern, bestimmt ja auch die Haltung ihres Kritikers, der sie mit den Erfahrungen seines Lebens aufgenommen hat und dabei zum Gebot kritischer Revision an dogmatischen Lebens- und Moralvorschriften vorgedrungen ist. Dieses Gebot zielt also ab auf Erprobung, Kritik und Weiterbildung der mit der Lebenserfahrung erworbenen eigenen ethischen Haltung. Die Auseinandersetzung mit ihm ist damit selber Sache der Erfahrung – allerdings der praktischen, nicht der spekulativen Erfahrung. Praktische Erfahrung nimmt nicht – wie die spekulative Erfahrung unserer Erfahrungswissenschaften – nur Fakten und ihre Zusammenhänge zur Kenntnis, sondern faßt angebotene Werte als solche auf, mit persönlicher Anteilnahme also,
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durch die sie der eigenen besonnenen Lebensorientierung eingebaut werden. Zwar meint Nelson, daß Erfahrung uns nur mit der Welt der Tatsachen vertraut mache und daß Wertfragen wie die nach Aufgaben im privaten oder im öffentlichen Leben „sich durch keine noch so umfassende Kenntnis der Tatsachen entscheiden“ lassen und daß darum „deren Auflösung … nicht auf dem Weg der Erfahrung möglich ist“. (VI, 125 f.) Erfahrung hat es aber nicht allein mit der Feststellung von Tatsachen zu tun, sondern auch mit Bildung und Entwicklung menschlichen Strebens. Im Umgang mit dem, was recht, was gut, was schön ist, kann die eigene persönliche Anteilnahme an diesen Werten wachsen und sich schulen und damit – in dem Maß, in dem das geschieht – den Menschen unabhängig machen von jenen ethischen Erwägungen, wonach es den Wert des eigenen Lebens bedingt bzw. erhöht, aus Pflicht zu handeln oder Idealen nachzustreben. Gewiß führt praktische Erfahrung nicht notwendig zu Tugend und Rechtlichkeit. Auch schlechte Gewohnheiten, Laster und Rücksichtslo//129//sigkeit können sich auf diesem Weg festsetzen. Zudem vergeht Zeit, bis in praktischer Erfahrung Aufgeschlossenheit und Empfänglichkeit für Werte heranreifen, sicherer und bestimmender werden. So sehr Nelson im Bereich der Ideallehre einen solchen unabgeschlossenen Bildungsprozeß bejaht und fordert, der das Leben immer wieder bereichern kann, solange ein Mensch innerlich lebendig und aufnahmefähig ist, so wenig überläßt er die Auseinandersetzung mit dem Gebot der Pflicht, mit dem von ihm formulierten Abwägungsgesetz also, einer fortschreitenden Reifung in praktischer Erfahrung. In diesem Bereich gilt für ihn: „Die Pflicht gebietet eine Handlung schlechthin; sie kann nur erfüllt oder verletzt werden.“ (V, 198) Und die Entscheidung zwischen Pflichterfüllung oder Pflichtverletzung liegt dabei – nach dieser Auffassung – allein beim menschlichen Willen: „Denn das Sittengesetz fordert seine Erfüllung von einem Willen, und darum bleibt es hinsichtlich des Gesetzes zufällig, wenn es erfüllt wird durch Umstände, die außerhalb des Willens liegen. Gibt es also überhaupt ein Sittengesetz, so folgt für jedes vernünftige Wesen in der Natur das Gebot, die Erfüllung des Gesetzes dem Zufall zu entziehen, dem sie an sich in der Natur ausgesetzt ist, dem Zufall nämlich, ob gerade ein überwiegender Antrieb auf das gerichtet ist, was dem Gesetz nach geschehen soll. Es folgt also das Gebot, die Pflichterfüllung zum Gegenstand des Willens zu machen. Ich nenne dies das Gebot des Charakters.“ (V, 89) Damit aber stellt Nelson dem menschlichen Willen eine unerfüllbare Aufgabe: Die Pflichterfüllung in dem Sinn zum Gegenstand des Willens zu machen, daß damit die Erfüllung des Gesetzes ein für allemal dem Zufall entzogen wird, dem sie an sich in der Natur ausgesetzt ist, das wäre Entschluß und Tat eines Menschen, der im eigenen Charakter die Gewähr bietet, gegen Pflichtverletzungen gefeit zu sein. Sollte jemand glauben, diese Sicherheit erlangt zu haben, so verrät das nur Selbst-
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täuschung und Selbstbetrug, nicht aber die Erfüllung des Gebots des Charakters. Auch Nelson rechnet nicht mit einer solchen Erfüllung: „Der Mensch verletzt das moralische Gesetz nicht nur in einzelnen Fällen. Jeder ernste Mensch fühlt, daß die Erfüllung der Pflicht für ihn immer ein Kampf sein wird, daß ein Hang zum Bösen untilgbar mit seiner Natur verbunden ist. Er erkennt sich als radikal böse, wie Kant es nennt.“ (VIII, 323) //130// Was aber wird aus dem Gebot des Charakters, wenn es sittliche Unfehlbarkeit nicht verlangen kann und doch zu mehr herausfordert als zu dem Entschluß, sich je nach den Umständen mit auftretenden Pflichten und Konflikten auseinanderzusetzen? In einem Gespräch mit Julius Kraft habe ich einmal das Gebot des Charakters für unerfüllbar erklärt; denn es verlange die Garantie schlechthin gegen eigenes Unrechttun, und die könne kein Mensch geben. Er widersprach; es handele sich nur um eine begrenzte Aufgabe: man solle sich Rechenschaft geben über die stärkste Versuchung zur Pflichtverletzung, auf die man unter den gegebenen Verhältnissen gefaßt sein müsse, und dann gelte es, so lange moralisch zu trainieren, bis man einer solchen Versuchung gewachsen sei. Er erläuterte das in seiner humoristischen Art so: „Wenn ich etwa entdecke, daß ein Bankeinbruch für mich die größte Versuchung darstellt, dann soll ich so an mir arbeiten, daß ich ruhig und ohne Schwanken an jeder Bank vorbeigehen kann, ohne einen Raub zu planen oder zu begehen.“ Mit diesem scherzhaften Beispiel nimmt Kraft dem Gebot des Charakters das Merkmal, „nur erfüllt oder verletzt“ werden zu können, durch das Nelson den Pflichtbegriff kennzeichnet. Statt dessen ergibt sich eine Aufgabe, die den Umgang mit der eigenen praktischen Erfahrung betrifft. Zwar ist Erfahrung, ihrem Wesen nach, abhängig von Umweltanregungen; sie kann nicht durch einen bloßen Willens entschluß herbeigeführt werden. Wohl aber hängt es vom Willen eines Menschen ab, wie er die eigene Erfahrung, die spekulative wie die praktische, aufnimmt und verarbeitet. Ich habe seiner Zeit Krafts Interpretation als eine Verwässerung des Nelsonschen Grundgebotes der Pflichtenlehre zurückgewiesen; heute glaube ich, daß er damit den Zugang zu einer an praktischer Erfahrung orientierten Ethik im Auge hatte. Nicht um die unerfüllbare Aufgabe, moralisch unfehlbar zu werden, geht es im Wahrheitskern des Gebots des Charakters, sondern um die Bereitschaft, im Werten und Streben so gut wie im Erkennen und Denken empirische Anregungen nicht nur gemäß dem aus Erfahrung Erlernten aufzunehmen, sondern die so gewonnene Erfahrung auch bewußt einsichtig aufzufassen und fortzubilden. //131//
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§ 4. Zusammenbruch der Ethik? Trifft diese Deutung des Gebots des Charakters zu, so weist auch dieses Gebot hin auf eine in praktischer Erfahrung aufgenommene und fortbildende Ethik, in der Pflichtanforderungen entlastet werden durch die Einfügung des Menschen in eine ihn umschließende und stützende Sozialordnung. Diese Ordnung aber ist sozial geformt durch die historisch realisierte Ethik, die dem Menschen durch ihren Doppelcharakter, zu prägen und zu fordern, zwar manche ethisch belangvolle Entscheidung erleichtert oder gar abnimmt, aber ihn dafür auch mit tradierten Voreingenommenheiten und Mängeln belastet. Die sich ihm als verbindlich darbietende Sozialordnung ist für den in die Gesellschaft hineinwachsenden Menschen das Erfahrungs- und Übungsfeld, in dem er sich entwickelt. In ihr nimmt er auch jene Herausforderung zur Kritik auf, die – mindestens seit der Aufklärungszeit – von der historisch realisierten Ethik des Abendlandes geltend gemacht wird. Was in der philosophisch begründeten Ethik Kants und Nelsons als Prinzip der Autonomie den Menschen auf sich selber verweist und gegen autoritäre Ansprüche wappnet, das erscheint in einer auch durch diese kritische Philosophie mitgeformten historisch realisierten Ethik unseres 20. Jahrhunderts weithin als Skepsis an überlieferten Werten, wenn nicht gar als Verzweiflung hinsichtlich einer Möglichkeit begründeter ethischer Orientierung überhaupt. Dem Physiker Max Born erscheint diese Gefahr als Alptraum: Der Versuch der Natur, ein denkendes Tier auf dieser Erde ins Leben zu rufen, könne sich als Fehlgriff erwiesen haben. („Bulletin of the Atomic Scientists“ November 1965) Dabei richtet sich dieser Verdacht vorrangig nicht auf die beträchtliche und immer noch wachsende Drohung eines alles Leben vernichtenden Atomkrieges, sondern er betrifft das, was Born die tieferliegende wirkliche Krankheit nennt: „den Zusammenbruch aller ethischen Prinzipien, die im Verlauf der Geschichte entwickelt worden sind“. Unser Jahrhundert ist in der Tat reich an Erschütterungen, die – vor allem im europäisch geprägten Geistesleben – das Vertrauen in ethische Maßstäbe unterminiert haben. Zwei Weltkriege und die anschließenden sozialen und politischen Umwälzungen waren gekoppelt mit wachsender //132// Skepsis gegenüber den Grundsätzen, im Vertrauen auf die Menschen und Völker zu Beginn des Jahrhunderts noch ihr Leben und die Zukunft planten. Aber dieser Zusammenhang wird verständlich erst durch die Entdeckung, daß die Preisgabe ethischer Prinzipien weithin nichts anderes ist als eine ethische Reaktion auf das, was im Namen solcher Grundsätze von Menschen getan worden ist. Ich erinnere mich an eine Diskussion mit Lehrer-Studenten bald nach Abschluß des Zweiten Weltkriegs. Manche von ihnen konnten nur mit Hohn und Spott von
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angeblichen ethischen Werten sprechen, für die die deutsche Jugend in den Krieg getrieben worden sei und jetzt zum Wiederaufbau des zerstörten Landes aufgerufen werde; in Wahrheit handele es sich dabei doch nur um den Betrug, unter Berufung auf angeblich selbstlos angestrebte Ideale faktisch dem eigenen Vorteil auf Kosten anderer nachzugehen. Im Nachkriegsdeutschland mit seinen Nöten und Schwierigkeiten konnten diese jungen Skeptiker in der Tat leicht Beispiele für solchen Mißbrauch zusammentragen. Sie taten es mit wachsender Empörung und Verachtung. Erst als ich einen von ihnen fragte, was ihn denn an diesen Vorgängen so errege, die anscheinend doch nur seine Theorie bestätigten, da stutzte er: „Sie wollen mir wohl nachweisen, daß ich selber ethisch urteile?“ Auf meine trockene Gegenbemerkung: „Sie merken aber auch alles!“ wurde er schweigsam, später vertiefte er sich dann in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, um der eigenen ethischen Verurteilung des Mißbrauchs ethischer Prinzipien auf den Grund zu gehen. Das Versagen ethischer Prinzipien in Zeiten sozialer und politischer umwälzender Veränderungen bedeutet demnach nicht das Scheitern ethischer Gesinnung überhaupt. Das galt so wenig für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wie es für die heutige ungeheure und oft gefährliche Erweiterung des menschlich Machbaren gilt, die durch Elektronik und Komputertechnik herbeigeführt worden ist, ohne daß damit zugleich alle nicht beabsichtigten Folgen menschlicher Eingriffe in das Naturgeschehen vorhergesehen werden können. Born weist mit Recht darauf hin, daß die Technik das dem Menschen Mögliche und die damit verbundenen Probleme sowohl im Frieden wie für den Kriegsfall so verändert hat, daß überlieferte Sitten und Reaktionsweisen Katastrophen auslösen können. Aber es trifft nicht zu, daß damit jede Orientierung an ethischen Ge//133//sichtspunkten entwertet sei. Diese bedürfen allerdings kritischer Revision und einer an Erfahrung geschulten Vertiefung. Dieser Prozeß ist im 20. Jahrhundert in Bewegung geraten, wenn er auch noch so sehr unabgeschlossen und problembeladen weiter vor uns liegt. In meiner Kinderzeit, vor dem ersten Weltkrieg waren es der „Rufi Donnerhall“ und die „hohe Wonnegans“1, durch die wir im öffentlichen Leben ethisch herausgefordert wurden; heute werden die Fragen der Umweltgefährdung, der Rohstoffverknappung, der West/Ost-Verständigung und des Nord/Süd-Gefälles keineswegs nur als technische Probleme, sondern immer auch als Fragen ethischer Verantwortung diskutiert. Dabei geht es nicht um die Anwendung ethischer Prinzipien auf vorgegebene Fakten, sondern um ehrliche – nicht nur vorgetäuschte *
1 Anmerkung für Leser, die nach dem ersten Weltkrieg geboren sind: Es handelt sich um Hinweise auf die „Wacht am Rhein“ und das Kaiserlied, die zwar schon in meiner Jugend zu Verulkungen Anlaß gaben, aber erst durch das Ende dieses Krieges erledigt wurden.
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– Kooperation, wie sie nur in praktischer Erfahrung erworben, geübt und in der sozialen Wechselwirkung zwischen Einzelnen, Gruppen und Völkern ausgebaut werden kann. Kooperation tritt als vorbegriffliche Verhaltensweise schon bei höheren, sozial lebenden Tieren auf. Sie können nicht nur als einzelne aus Erfahrung lernen und sich in ihrem Verhalten der jeweiligen Umwelt anpassen, sondern tun das zusammen mit Artgenossen; sie bilden artgemäß geordnete Gruppen, in denen sie gemeinsam der Befriedigung von Lebensbedürfnissen nachgehen. Diese Sozialordnung enthält die jeweiligen Formen der Kommunikation im Sozialverband und legt die Funktion fest, die dem einzelnen Verbandsmitglied im Sozialverkehr der Gruppe zufällt. Biologisch gesehen gehört auch der Mensch zu den soziallebenden höheren Tieren. Er ist fähig, aus Erfahrung zu lernen und im Sozialverband mit Artgenossen zu kooperieren. Gegenüber den ihm sonst in ihrer Lebensweise verwandten Tieren kann er als vernünftiges Wesen sprachlich-begrifflich sich mit seinem Partner verständigen und dabei selber einsichtig auffassen, was Erfahrung ihn gelehrt hat über den Umgang mit Dingen und die Kooperation mit den Mitmenschen seiner sozialen Umwelt. In praktischer Erfahrung wird er selber geprägt von der historisch realisierten Ethik seiner Umwelt und wird sich ihrer zugleich bewußt als der in //134// diesem Sozialverband ihm zustehenden Rechte und ihm obliegenden Pflichten. Erfahrung aber hat ihm auch die Bereitschaft und Fähigkeit zur Kritik erschlossen, die zwar die jeweils erreichte Sozialordnung mit ihrer prägenden und fordernden historisch realisierten Ethik immer wieder in Frage stellen kann, damit aber die eigene Mitverantwortung so wenig leugnet und aufhebt, daß sie vielmehr selber Ausdruck dieser Verantwortung sein kann. //135//
WIE VERHALTEN SICH ZUEINANDER TRADITION, PRAKTISCHE ERFAHRUNG UND PHILOSOPHISCHE BESINNUNG AUF DEM WEG ZU GERECHTIGKEIT UND MENSCHLICHKEIT?*
§ 1. Der Mensch als vernunftbegabtes soziales Wesen Der Mensch ist auf der Erde das einzige Lebewesen, dem die Frage nach dem Sinn seines Lebens zu schaffen machen kann. Diese Frage kann einer nur betrachtenden Besinnung angehören, auf das nämlich, was uns das Leben bietet, welche Wege es uns eröffnet hat; sie kann auch auftreten im aktiven Planen eigenen Strebens und Verhaltens, und zwar mit der Frage, welchen Sinn wir selber dem eigenen Leben zu geben vermögen. Der kontemplative und der ethisch-herausfordernde Gehalt dieser Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens gehören zusammen als verschiedene Seiten desselben Vorgangs, nämlich der bewußten Auseinandersetzung des Menschen mit dem Faktum des eigenen Lebens. Da geht es auf der einen Seite um das Vertrauen, mit dem das eigene Leben angenommen werden kann. Und es geht auf der anderen Seite um die Bereitschaft, es bewußt und verantwortlich zu führen. Nur der Mensch kann das eigene Leben verstehen als etwas, das er selber gestaltet; nur er kann dem Zweifel ausgesetzt sein, ob er fähig und ob er bereit ist, die ihm gebotene Lebens-Chance und Lebens-Aufgabe anzunehmen. Wir sind darauf angewiesen, zu lernen, wie wir angemessen auf unsere Umwelt reagieren können. Das aber ist es noch nicht, was uns als Menschen auszeichnet. Auch den uns verwandten höheren Tieren ist die ihnen gemäße Lebensweise nicht von Geburt an mitgegeben. In erheblichem Maße sind sie fähig und darauf angewiesen, individuell den Umgang mit der Umwelt erst zu erlernen, sei es aus eigener Erfahrung, sei es von Artgenossen, mit denen zusammen sie leben. Was der Mensch ihnen voraushat, ist seine Begriffssprache. Erst sie ermöglicht es ihm, das im Umgang mit seiner Umwelt erlernte Verhalten nicht nur zu vollziehen, sondern begrifflich zu denken. Die Beziehungen, mit denen er es dabei zu tun hat, //136// * Dritte Niederschrift (1980).
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kann er einsichtig auffassen als Glieder umfassender Zusammenhänge, denen er bewußt und methodisch weiter nachzugehen vermag. Dabei treten für den Menschen zwei Beziehungsgefüge als grundsätzlich verschieden auseinander: sie betreffen seine tätige Einwirkung auf Objekte einerseits, seine Auseinandersetzung und Verständigung mit Partnern oder Widersachern zum anderen. Zwar deuten sich diese beiden Bereiche auch im Leben höherer sozial lebender Tiere schon als verschiedenartig an. Die moderne Verhaltensforschung hat sich gerade den sozialen Beziehungen interessiert zugewandt, wie sie in den Sozialverbänden und zwischen den Verbänden solcher Tiere auftreten. Diese Beziehungen sind bestimmt durch eine für jede Tierart besondere, ihr eigentümliche Sozialordnung. Ohne das Eigenleben des einzelnen Tieres aufzuheben, schließt diese Sozialordnung die Gruppe zu einer gewissen Einheit zusammen, in der die soziale Wechselwirkung meist gemäß einem für jedes Tier festgelegten Rang geregelt ist; auch gemeinsame Reaktionen der beteiligten Tiere auf Umweltgegebenheiten werden dadurch ermöglicht und geregelt. Aber den in dieser Weise sozial miteinander lebenden Tieren fehlt doch mit der Begriffssprache auch das Vermögen, begriffliche Unterschiede scharf zu fassen, etwa zu unterscheiden zwischen der Behandlung von Objekten und der Auseinandersetzung mit Partnern. Damit wird auch für den beobachtenden Menschen die Frage schwer entscheidbar, wenn nicht gar sinnlos, ob und wie weit das Verhalten einer Tierart die eine oder die andere Umweltbeziehung erkennen läßt. Kräht der Hahn, um seine Hennen zu rufen und sie auf ausgestreutes Futter hinzuweisen, oder vollzieht er ein angeborenes Ritual, das durch Umweltbedingungen ausgelöst wird und bestimmte Reaktionen der Hennen herbeiführt? Die Begriffssprache des Menschen ist als Organ bewußt gewollter Mitteilung stets mehr als ein Apparat physischer oder auch psycho-physischer Beeinflussung. Im Dienst von Auseinandersetzung und Verständigung bietet sie unterschiedliche grammatische Formen an, unter denen jene verschiedenen Beziehungsgefüge gedacht, gegeneinander abgegrenzt und methodisch durchforscht werden können. Erst in der Begriffssprache treten damit auch die Information des Partners über vorliegende Um stände und die Herausforderung des Partners zum angemessenen oder erwünschten Verhalten auseinander, und zwar durch verschiedene gram//137//matische Formen: der Indikativ dient der Information; der Imperativ dem Appell an den Partner-Willen. Der Imperativ ist der begrifflich gefaßte Ausdruck für eine charakteristische Partnerbeziehung. Es ist die grundlegende Beziehung jeder sozialen Kooperation, in der einer den Willen des anderen herausfordert, ohne ihm doch das gewünschte Verhalten aufzuzwingen. Wie im Sozialverband höherer Tiere jedes von ihnen als selbständiges Lebewesen dem Verband eingeordnet ist, so richtet sich der Imperativ
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seiner begrifflich-grammatischen Form nach an ein vernunftbegabtes Wesen, das den Schritt zur Entscheidung über das ihm zugemutete Tun selber zu vollziehen hat. Der Imperativ spricht den Willen des Angeredeten nur an: er schaltet ihn – zum mindesten seiner Form nach – gerade nicht aus. Die Sozialordnung, die das Zusammenleben selbständiger, aber sozialer Individuen erst zu sinnvollem Verhalten des Verbandes zusammenschließt, wird in menschlichen Sozialverbänden sprachlich-begrifflich gedacht als faktisch geltende verbindliche Sozialordnung, das aber heißt: als die in diesem Verband anerkannte und von seinen Mitgliedern vorausgesetzte, wenn auch keineswegs durchweg befolgte Ethik. Diese ist in der Regel nur zum Teil in formulierten Regeln und Gesetzen festgelegt, sie beherrscht aber das Zusammenleben durch Sitten und Gewohnheiten, die, soweit sie als Teile eben dieser Ordnung geltend gemacht werden, in imperativer Form zur Sprache kommen. Ethisch-rechtliche Regelungen und Überzeugungen sind somit konstitutiv für menschliches Zusammenleben. Als soziale Wesen, die fähig und darauf angewiesen sind, in Wechselwirkung mit ihresgleichen zu leben, erfahren alle Menschen die Herausforderung des eigenen Willens durch den Sozialpartner, eine Bestimmung, die zu einem von diesem gewünschten Verhalten aufruft, dieses Verhalten aber nicht erzwingt. Als vernunftbegabte Wesen, die das, was sie aus Erfahrung und Tradition lernen, sprachlich-begrifflich auffassen und einander weitergeben können, denken sie die soziale Wechselwirkung unter Partnern als nach Regeln geordnetes Geschehen im Sozialverband, das durch eine in diesem faktisch geltende Ethik bestimmt wird. Eben diese Sozialordnung ist der Bereich, in dem die Frage nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit auf diese oder jene Weise immer wieder //138// Menschen beunruhigt hat, in dem Kulturen miteinander in Widerstreit geraten und erschüttert worden sind. So hat der Zweifel um sich greifen können, ob denn überhaupt eindeutige und einsehbare Antworten auf diese Menschheitsfragen möglich seien. Wo können wir sie suchen? In der geschichtlichen Tradition, in der ja die Entwicklung menschlicher Sozialverbände und damit auch die der historisch realisierten Ethik verlaufen ist, der Ethik also, die diese Verbände faktisch bestimmt? In der Erfahrung, die Menschen in solchen Verbänden unter ihrer Ordnung gemacht haben? In der menschlichen Vernunft, die in philosophischer Besinnung den auf tretenden Problemen und Schwierigkeiten nachgeht?
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§ 2. Bedeutung und Grenzen der Tradition auf dem Weg zu ethischer Bildung Die große Bedeutung der Tradition für das Forschen nach Wegen zu Gerechtigkeit und Menschlichkeit ergibt sich schon daraus, daß es um die Sozialordnung menschlichen Zusammenlebens geht. Wenn es zutrifft, daß die dieses Zusammenleben bestimmende Ordnung in ethisch-rechtlichen Kategorien und nur in ihnen gedacht werden kann, so sind Entwicklung und Tradition der Sozialordnung unlösbar verbunden mit der Weitergabe und geschichtlichen Fortentwicklung derjenigen Ethik, an der Menschen sich wirklich orientieren – mit ihrer historisch realisierten Ethik also, die keine philosophisch begründete Ethik ist. Diesen Zusammenhang hat Max Born im Auge mit seiner Sorge, der „Zusammenbruch aller ethischen Prinzipien, die im Laufe der Geschichte entwickelt worden sind“, bedeute das Scheitern menschlichen Lebens überhaupt; der Mensch als „denkendes Tier“ habe eben damit versagt. (siehe § 4 der zweiten Ausarbeitung „Im Gespräch mit Leonard Nelson“, S. 131 ff.) Zwar bleibt richtig, was ich seiner Zeit Borns Sorge entgegen gehalten habe, daß „das Versagen ethischer Prinzipien in Zeiten sozialer und politischer … Veränderungen nicht das Scheitern ethischer Gesinnung überhaupt“ erkennen lassen müsse, sondern daß es vielleicht selber einen moralischen Protest gegen den Mißbrauch solcher Grundsätze sichtbar mache. Aber dieser Mißbrauch entspringt eben dem Verfall jener ethisch //139// bestimmten Sozialordnung, die dank ihrer Überlieferung jeder neuen Generation das Erfahrungs- und Übungsfeld bot zum Erwerb verläßlicher Partnerbeziehungen. Und der, wenn auch selber ethisch verstandene Protest gegen Mißbrauch und Eigennutz reicht für sich nicht hin, dem aus den Fugen geratenen menschlichen Zusammenleben erneut die Ordnung zu geben, in der die Besinnung auf gültige ethische Prinzipien wieder möglich wird. Die ethischen Prinzipien, die – wie Born sagt – „im Verlauf der Geschichte entwickelt“ wurden, sind ja eben damit eingebunden in das ganze kulturelle Leben, mit dem Menschen auf die vielfachen Anforderungen und Herausforderungen ihrer Umwelt geantwortet haben. Die in den meisten Kulturen bestehenden engen Beziehungen zwischen Ethik und Religion haben ihren Ursprung in dem einen und gleichen Prozeß, in dem sich beide entwickelt haben, im menschlichen Bemühen nämlich, sprachlich-begrifflich zum Verständnis über den Sinn des eigenen Lebens vorzudringen, und zwar in der Doppelbedeutung, in der sich die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt. Die enge Wechselwirkung zwischen ethischen und religiösen Orientie rungsweisen bestimmt die menschliche Kulturentwicklung darüber hin aus
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geschichtlich durch die großen Weltanschauungen und Religionen, in denen menschliches Zusammenleben Gestalt gewonnen hat. Sie haben weitgehend, je in ihrem Bereich, gemeinsame Zwecke für alle festgelegt und so Kulturgemeinschaften geprägt; dabei haben auch Religionskämpfe und Unduldsamkeit gegen Andersdenkende an der Entwicklung der historisch realisierten Ethik und ihrer Prinzipien mitgewirkt. Trotz der im Namen der Religion vollzogenen Nötigungen bleibt das Verlangen und der Anspruch lebendig, in ihr den Sinn des Menschenlebens zu finden; denn Menschen sind als vernunftbegabte Wesen fähig, nach diesem Sinn zu fragen, und sie sind als soziale Lebewesen auf Verständigung untereinander, damit aber auch auf Tradition angewiesen. Es sind die großen Weltanschauungen, durch die solche Traditionen geschaffen wurden: Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam haben je für weite Bereiche menschlichen Zusammenlebens den festen Boden geboten, auf dem gemeinsam anerkannte kulturelle Formen für die Sinnerfüllung menschlichen Lebens entwickelt //140// werden konnten. Keine dieser Weltreligionen – auch ihr weltlicher Gegenspieler, der Marxismus nicht – hat den umfassenden Rahmen für alles menschliche Streben geboten; jeder von ihnen sind Menschen entgegengetreten, die sich der tradierten Lehre entzogen, weil sie die in ihr gebotene Ethik nicht anerkennen, sich der mit ihr verbundenen Sozialordnung nicht fügen konnten. Die philosophisch-politische Akademie hat sich mit ihrer Zielsetzung: „Förderung und Fortentwicklung der wissenschaftlichen kritischen Philosophie, wie sie von Kant begründet, von J. F. Fries und Leonard Nelson methodisch weitergebildet worden ist“, der Tradition solcher Traditionen eingefügt. Sie hat sich mit ihren Lehrern und deren Lehren eingeordnet in die Geschichte menschlicher Bemühungen um den Sinn menschlichen Lebens. Ob sie etwas und was sie an bleibendem Gehalt für die Entfaltung ethischer Kultur anzubieten hat, wird sich noch erweisen müssen. Fragen wir nach dem Weg zu Gerechtigkeit und Menschlichkeit, so zeigt sich die Bedeutung der Tradition darin, daß in ihrem Schutz Kulturen entstehen, in denen Menschen sich um ein sinnerfülltes Leben bemühen, oder sich doch darum bemühen können. Nur so können sie auch zur kritischen Freiheit gegenüber den ihnen tradierten Werten und Lebensformen heranreifen und damit auch zu der Bereitschaft, sich vom nur Übernommenen zu lösen, sofern es der eigenen Prüfung nicht standhält. Der Tradition verdanken wir diejenige Sozialordnung und ihre Ethik, die für den heranwachsenden Menschen das Erfahrungs- und Übungsfeld abgibt, auf dem allein er auch zu eigenen, selbstkritisch geprüften ethischen Überzeugungen gelangen kann. Es ist die Tradition des Abendlandes, die uns an die Schwelle zur eigenen Auseinandersetzung mit den Fragen nach Gerechtigkeit und
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Menschlichkeit geführt hat. Sie hat damit zugleich den Blick freigegeben für andere Orientierungsweisen, die weiterführen, wo das bloße Vertrauen auf die Tradition versagt. In der Tradition der abendländischen Aufklärung bieten sich praktische Erfahrung und kritische philosophische Besinnung an als weitere Zugänge zur Frage nach dem Sinn des Lebens. Als ein Beispiel für das Vertrauen auf menschliche Erfahrung fasse ich die Lehre von Erich Fromm ins Auge, als Beispiel für die Orientierung an philosophischer Besinnung die Lehre Leonard Nelsons. //141//
§ 3. Bedeutung und Grenzen der praktischen Erfahrung auf dem Weg zu ethischer Bildung Lernen aus Erfahrung ist unerläßlich nicht nur auf dem Weg zu menschlicher Bildung, sondern auch in ihrer Betätigung. Aber es fördert nicht immer die ethische Bildung des Menschen im Sinne seiner Orientierung an Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Sein Vermögen, erworbene Erfahrung sprachlich-begrifflich festzuhalten und sie zu Erfahrungswissen, ja Erfahrungswissenschaft fortzubilden, kann ihn auch von der Frage nach dem Sinn des Lebens, vom Streben nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit ablenken oder gar abdrängen. Erich Fromm spricht von einer Verführung zur Unmenschlichkeit, wie sie – in einer Zeit erfolgreich vordringender Wissenschaft und Technik – in einer „vollkommen mechanisierten Gesellschaft“, einer „manipulierten Massenkultur“ heraufbeschworen wird. (Erich Fromm, „Revolution der Hoffnung – für eine humanisierte Technik“, Abschnitt I und III,1) Das menschliche Vermögen, aus Erfahrung zu lernen, kann also auch auf Abwege führen. Aufmerksamkeit und Interesse des Menschen werden dann etwa absorbiert von der Frage nach erreichbaren Produkten seines Tuns und so abgelenkt von dem, was dieses erlernte und beherrschte Tun selber ihm bedeutet. Nutzen und Genuß, den diese Produkte verschaffen, verführen zu einer Jagd nach Glück, in der Harmonie und Frieden zusammenbrechen oder gar nicht aufkommen. Die Orientierung am „Haben“ – so nennt es Fromm – bestimmt dann die Beziehung des Menschen zur Welt; sie steht im Gegensatz zu einer Orientierung am „Sein“, zu einer „wirklichen Bezogenheit zur Welt“, in der ein Mensch, wachsend und seine Kräfte entfaltend, teilhat an dem ihn umgreifenden Geschehen. (E. Fromm, „Haben oder Sein – die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“, Abschn. I, 1) Eben jene Gabe, durch die der Mensch im Lernen aus Erfahrung den ihm
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sonst verwandten Tieren überlegen ist, wird ihm auch zur Gefahr. Die Begriffssprache, die es ihm ermöglicht, das, was er aus Tradition und Erfahrung erlernt hat, nicht nur zu vollziehen, sondern auch zu denken, öffnet den Weg zu methodischer Erforschung geeigneter Mittel für beliebige Zwecke und lenkt damit nur allzu leicht ab //142// von einer Prüfung der Zwecke, für die solche Mittel eingesetzt werden können und eingesetzt werden sollten. Fromm sucht den Ausweg aus dieser Gefahr nicht in der Besinnung auf solche Zwecke, sondern in einer Wiederbelebung menschlicher Initiative, die angesichts der Leistungen gut funktionierender Maschinen einseitig zu werden, wenn nicht gar zu erlahmen droht. Auch wo Menschen unter den Bedingungen moderner Zivilisation leben, kann der Kampf gegen Passivität und Langeweile aufgenommen werden – so argumentiert Fromm —, sofern nur jeder, der in irgendeinem Bereich an ihren Einrichtungen beteiligt ist, selber mitdenkend und mitentscheidend kooperieren kann, statt sich, als Gegenleistung für die Befriedigung seiner Bedürfnisse, zum bloßen Werkzeug machen und als solches verwenden zu lassen. Den Ausweg aus Mechanisierung und Geistlosigkeit sieht Fromm in der Entwicklung von Formen der Mitbestimmung; wo immer Menschen zusammen arbeiten, sollten Formen echter Kooperation aufgesucht und erprobt, umfassender und intensiver ausgebaut werden. Menschen, die nicht nur Anordnungen auszuführen haben, sondern an Planung und Ausgestaltung der Arbeit beteiligt sind, sind offen für „humane Erfahrungen“, wie Fromm es nennt. Er vertraut darauf, daß Einfühlungsvermögen und Verantwortung, Mitleid und Interesse – „Inter-esse“ im Wortsinn des „Dazwischen-seins“ – in der eigenen Aktivität erfahren werden und das Fühlen und Streben des Menschen bestimmen. Er vertraut auf „praktische Erfahrungen“, auf solche nämlich, in denen zusammen mit faktischen Zusammenhängen und technischen Beziehungen auch Werte und ethische Bindungen aufgefaßt werden und den Menschen im eigenen aktiven Beteiligtsein bestimmen. Es ist aber keine auf solcher Erfahrung beruhende Ethik, was Fromm von diesem Zugang her entwickelt. Als Psychologe und Psychotherapeut fragt er nach der dem Menschen angemessenen Lebensweise, d. h. nach der, in der dieser seine Kräfte entfalten, auf Anregungen und Herausforderungen selber sinngemäß und lebendig antworten kann. Zwar gilt ihm dabei als „eines der grundlegenden Elemente der menschlichen Situation … das Bedürfnis des Menschen nach Wertvorstellungen, die seine Handlungen und Gefühle leiten können“ („Revolution der Hoffnung …“, Abschn. IV, 6); aber diese Wertvorstellungen gehen in seine Betrachtungen nur insofern ein, als sie vom Menschen aktiv in konkreten //143// Lebenssituationen aufgefaßt und geltend gemacht werden, nicht aber als ethische Begriffe, über die in methodisch durchdachten Systemen Re chenschaft gegeben werden müßte. Losgelöst von der praktischen Erfahrung verlieren sie nämlich leicht mit ihrer
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konkreten Dringlichkeit auch ihre ursprüngliche Bedeutung. Als Beispiel für einen solchen irreführenden Bedeutungswechsel im Sprachgebrauch gelten Fromm die oft synonym gebrauchten Worte „Verantwortung“ und „Pflicht“: „Pflicht ist jedoch ein Begriff aus dem Bereich der Unfreiheit, während Verantwortung in den Bereich der Freiheit gehört.“ („Revolution …“, Abschn. IV, 5) Nun ist aber die praktische Erfahrung, ebenso wie die spekulative Erfahrung, auf sprachlich-begriffliche Verarbeitung angewiesen. Das ergibt sich schon aus der engen und wechselseitigen Beziehung zwischen ihr und der Tradition: So wie die praktische Erfahrung dazu verhilft, Überlieferungen aufzufassen, fort- oder umzubilden, so schaffen diese erst den Grund, auf dem jede neue Generation praktische Erfahrungen machen kann. Tradiert werden sprachlich-begrifflich geprägte Überzeugungen und Wertungen. Diese aber greifen immer schon hinaus über die bloß spontane Reaktion auf konkrete Anregungen. Welche Wertvorstellungen ein Mensch in praktischer Erfahrung aufnimmt, das hängt mit ab von seiner sozialen Umwelt, von den sozialen Gruppen, in denen er lebt und mit denen er zu tun hat. Diese Gruppen tragen die Spuren ihrer Entwicklungsgeschichte; ihre Ordnung wirkt mehr oder weniger stark auf das Leben der ihr Angehörenden und bietet ihnen Wertmaßstäbe, wie sie sich historisch herausgebildet haben. Entscheidend ist weithin die Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Gruppen, Verbänden, Völkern, deren Mitglieder mehr oder weniger, in dieser oder jener Richtung als Fremde empfunden werden. Das grundlegende Bedürfnis des Menschen nach Wertvorstellungen, von dem Fromm spricht, entspringt der Erfahrung von Konflikten und Gegensätzen, die eben da eintreten, wo Menschen nur im Vertrauen jeweils auf die eigenen Werterfahrungen und Wertvorstellungen denen des Partners ohne rechtes Verständnis, skeptisch und ablehnend gegenüberstehen. Damit erhebt sich die Frage nach einem Wertmaßstab, der in solchen Konflikten anerkannt werden kann, weil er nicht auf der Erfahrung nur des einen oder nur des anderen Menschen hin angenommen worden ist, //144// der vielmehr selber in begrifflicher Verarbeitung solcher Erfahrungen gewonnen wurde und ihnen allen gemäß ist. Es geht darum, ihren philosophischen Gehalt herauszustellen und so – auch in der Erforschung der Werte – vom Erfahrungswissen zur Erfahrungswissenschaft überzugehen.
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§ 4. Bedeutung und Grenzen philosophischer Besinnung auf dem Weg zu ethischer Bildung Die Erarbeitung und Diskussion gesicherter Maßstäbe zur Entscheidung ethischer Fragen ist die Aufgabe, die Leonard Nelson sich in seinen „Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik“ gestellt hat. Den methodisch einführenden Band, die „Kritik der praktischen Vernunft“, hat er dem Mathematiker David Hilbert gewidmet als den „Versuch, dem Herrschaftsbereich der strengen Wissenschaften eine neue Provinz zu erschließen“. Nelson gewinnt zwei Maßstäbe. Da ist zunächst das Abwägungsgesetz, das Gebot der Gerechtigkeit, als das Prinzip der Pflichten- und Rechtslehre: „Handle nie so, daß du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären.“ (IV, 172) Daneben tritt das Ideal der Bildung, der „kategorische Optativ“ (IV, 444, 447), der zur „Herrschaft des vernünftig bestimmten Willens über das Leben“ auffordert. (IV, 453) Nelson sagt von diesem Ideal der Bildung: „Man kann … das aufgestellte Ideal auch bezeichnen als das Ideal der Menschlichkeit oder der Humanität, womit man einem alten und ehrwürdigen Wort seinen ursprünglichen und ihm allein gebührenden Sinn wiedergibt.“ (V, 217) In diesen beiden Maßstäben gibt Nelson demnach die philosophische Deutung der Ideen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit an, die in meinen Erörterungen ohne Begründung und inhaltliche Diskussion als Maßstäbe ethischer Bildung eingeführt worden sind. Sie sind insofern seine Antwort auf die Frage, was philosophische Besinnung beizutragen habe auf dem Weg zu ethischer Bildung. Mit der Darlegung dieser Maßstäbe schließt Nelson die Lücke, die bei Fromm offen bleibt; er schließt sie jedenfalls so weit, daß dem menschlichen Bedürfnis nach Wertvorstellungen und nach ethischen Maßstäben Antworten geboten und Orientierungshilfen gegeben werden. Aber er //145// versteht diese Maßstäbe nicht als Kriterien zur Ausbildung der praktischen Erfahrung; er legt sie vielmehr als Prinzipien einer rein philosophisch entwickelten Ethik zugrunde. Er tut das in Beantwortung der Frage, „ob es nicht unter all den ethischen Doktrinen doch eine gibt, die sich mit wissenschaftlichen Methoden vor allen anderen auszeichnen läßt als die allein gültige und verbindliche, als eine solche Lehre, der dann, wenn einmal im Kampf der Meinungen Gründe entscheiden, der Sieg zufallen muß“. (V, 11) Wie aber kann eine solche Ethik gefunden werden? Nelson antwortet: „Wenn die Frage aufgeworfen wird, was wir tun sollen, so gibt es für uns keine höhere Instanz ihrer Beantwortung als unsere eigene Einsicht.“ (V, 55) „Im Bewußtsein der Pflicht liegt das Bewußtsein einer praktischen Notwendigkeit. … Es zeigt sich …,
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daß die Vorstellung der praktischen Notwendigkeit psychologisch nur möglich ist, wenn es reine praktische Vernunft gibt als ein eigenes Vermögen der Antriebe, wie es zur Möglichkeit des reinen Willens notwendig und hinreichend ist. … So bleibt nur die Annahme der Existenz reiner praktischer Vernunft als eines selbständigen Vermögens sittlicher Antriebe und also auch eines möglichen Bestimmungsgrundes für den reinen Willen, wenn wir das Faktum des Pflichtbewußtseins erklären wollen.“ (VII, 665) Das Pflichtbewußtsein selber wird demnach für Nelson zum Garanten der Möglichkeit sittlicher Freiheit. Es bürgt dem Menschen dafür, in der eigenen praktischen Vernunft nicht nur die Einsicht in seine Pflicht finden zu können, sondern auch die Kraft zu ihrer Erfüllung. Wie aber ist das möglich? Nach einer tiefdringenden Unterscheidung Nelsons kann das Pflichtbewußtsein eine solche Kraft nur dann aufbieten, wenn es als echtes, anteilnehmendes Interesse über die bloß wertende Einsicht in das, was geschehen soll, hinausgeht. Werturteile sind, dieser Unterscheidung Nelsons gemäß, nur „uneigentliche Interessen“. Ihnen fehlt die „Polarität“ der „eigentlichen Interessen“, die in dem lebendigen mehr oder weniger starken Für-und-Wider menschlicher Auseinandersetzung mit Werten und Unwerten besteht. Diese Polarität ist das Merkmal der persönlichen Anteilnahme, mit der ein Mensch Recht und Unrecht, Gut und Böse, Wert und Unwert nicht nur je als solches erkennt, sondern in der er zustimmend oder ablehnend, mit größerer oder geringerer Intensität betei//146//ligt ist. (IV, 351 f., vergl. meine Stellungnahme zu dieser Begriffsbildung [S. 15 f.].) Ist das Pflichtbewußtsein in diesem Sinn ein eigentliches Interesse? Kommt ihm die persönliche Anteilnahme zu, durch die es auch widerstrebende Neigungen überwinden kann? Nelsons Untersuchungen in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ orientieren sich am Problem der Ethik als Wissenschaft, an Fragen ethischer Erkenntnis also. Diese Fragen beantwortet er mit Aufweisung und Deduktion des Abwägungsgesetzes und des Ideals der vernünftigen Selbstbestimmung. Und diese Prinzipien bilden wiederum die Grundsätze, auf denen die rein philosophisch begründeten Systeme von Ethik und Rechtslehre, Pädagogik und Politik entwickelt werden. Gemessen an dem Ziel, die „Existenz reiner praktischer Vernunft als eines selbständigen Vermögens sittlicher Antriebe und also auch eines möglichen Bestimmungsgrundes für den reinen Willen“ vernunftkritisch zu erweisen, klafft hier eine Lücke. Sie betrifft den Übergang vom ethischen Urteil, das ein uneigentliches Interesse ist, zum „möglichen Bestimmungsgrund für den reinen Willen“, der nur in einem eigentlichen Interesse bestehen kann. Eigentliche Interessen aber sind stets auf konkrete Vorgänge bezogen. Nur in konkreten Situationen kann die persönliche Anteilnahme angesprochen werden, die ja das eigentliche Interesse ausmacht, nur
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in ihnen kann ethische Einsicht den Charakter des eigentlichen Interesses erhalten, durch den allein sie den Willen bestimmen kann. Eigentliche ethische Interessen bedürfen daher der praktischen Erfahrung, der Empfänglichkeit nämlich für ethisch bedeutsame Zusammenhänge, in denen Wünsche und Neigungen des Augenblicks auf bleibende Werte bezogen und ihnen ein- und untergeordnet werden. Die logische Entfaltung rein philosophisch begründeter ethischer Prinzipien reicht dafür nicht hin, wie ja auch eine rein philosophisch entwickelte Naturphilosophie der Erfahrung nicht vorzugreifen und faktisch geltende Naturgesetze nicht abzuleiten vermag. Nelsons Ethik fehlt diese Berufung auf praktische Erfahrung als einer notwendigen Anregung zu sittlichem Handeln. Zwar hat er die „Kritik der praktischen Vernunft“ verstanden als anthropologische Erfahrungswissenschaft. Aber in ihr geht es um das Faktum, daß Menschen ethisch //147// werten, nicht aber um die ethischen Werte, die dabei aufgefaßt werden. Die anthropologische Erfahrung der Vernunftkritik hat es mit dem Pflichtbewußtsein zu tun, nicht mit dem Pflichtgesetz, das im Pflichtbewußtsein geltend gemacht wird. Dieses Pflichtbewußtsein selbst ist nach Nelson nicht eine praktische Erfahrung des Pflichtgesetzes, sondern die Äußerung einer ursprünglich dunklen Vernunfterkenntnis, die das Sittengesetz, das Gebot der gerechten Abwägung, zum Inhalt hat. Nelson spricht vom „reinen Pflichtbewußtsein“ und vom „reinen sittlichen Interesse“ und versteht darunter eine von sinnlicher Anregung unabhängige Äußerung der aller Erfahrung voraufgehenden und sie erst ermöglichenden praktischen Vernunft. „Es ist gewiß oft schwer und vielleicht sogar unmöglich, zu entscheiden, ob ein Entschluß gefaßt wird aus bloßer Achtung vor dem Gesetz im Sinne des reinen sittlichen Interesses oder ob der Entschluß bestimmt wird durch die mit einem solchen Interesse verbundenen Lustgefühle. Aber desto mehr müssen wir darauf sehen, daß wenigstens der begriffliche Unterschied beider Fälle nicht verwischt wird.“ (IV, 616) Wie aber kann die „bloße Achtung vor dem Gesetz“ zum eigentlichen Interesse werden, dem die persönliche Anteilnahme des Handelnden gehört? Auch Nelson weiß: „Reine Vernunft bestimmt an und für sich den Willen noch nicht, … sondern es muß über das rein vernünftige Interesse eine eigene Ausbildung der Reflexion hinzukommen, wodurch eine Kraft der inneren Selbstbeherrschung gestiftet wird im Kampf mit den Gegenantrieben …“ (VII, 671). Es liegt nahe, die von Fromm geschilderten „humanen Erfahrungen“ – Verantwortung, Interesse, Liebe, Mitleid – heranzuziehen als Ansätze für eine solche Besinnung. Sie aber sind in ihrer Abhängigkeit von der subjektiven Empfänglichkeit jedes einzelnen nicht „reine sittliche Interessen“, wie Nelson sie – und sei es auch nur in der streng philosophischen Beurteilung! – allein als Bestimmungsgründe eines sittlichen Entschlusses zuläßt. Er geht daher einen anderen Weg: „So fragen wir denn noch einmal: Was gibt dem
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Menschen die Kraft zur Erfüllung der Pflicht? … Was hat Menschen zu allen Zeiten befähigt, Glück und Leben aufs Spiel zu setzen, wo kein Ruhm in Aussicht stand, … wo sie sich allein zu dem entschlossen haben, was sie für Recht erkannt hatten? … Was Märtyrern und Ketzern die Kraft gegeben hat, was jeden //148// ernsten Menschen befähigt, zu tun, was er als seine Pflicht erkannt hat, ist die ruhige Besinnung auf seine Würde als Mensch, deren Preisgabe ihn in seinen eigenen Augen verächtlich machen würde. Selbstachtung, wie sie unmittelbar und ohne das Hinzukommen irgendeiner weiteren Triebfeder mit dem Pflichtbewußtsein verbunden ist, ist der hinreichende Bestimmungsgrund des moralischen Menschen.“ (VIII, 317 f.) So erklärt sich die anscheinende Ich-Bezogenheit der Pflicht-Ethik in gewissen Äußerungen von Kant und Nelson. (Vergl. meine zweite Niederschrift: „Im Gespräch mit Leonard Nelson …“ § 1, Seite 120 f.) Aus der angeblichen „reinen Achtung vor dem Gesetz“, die nur praktische Einsicht in dieses Gesetz sein kann, der die persönliche Anteilnahme des eigentlichen Interesses fehlt, wird hier das Streben nach eigener moralischer Integrität, nach Selbstachtung und Wahrung der eigenen Würde. Diesem Streben in seiner konkreten Ich-Bezogenheit kann die persönliche Anteilnahme eines eigentlichen Interesses gewiß zukommen, und es kann in der Tat – vor allem in Krisenzeiten, in denen Pflichterfüllung mehr ver langt als die bloße Aufopferung der einen oder der andern Bequemlichkeit oder Augenblicksneigung – widerstrebenden Interessen entgegengesetzt werden; Selbstachtung mag in solchen Fällen zum ethisch gebotenen Entschluß verhelfen, wenn die durch rechtliche Erwägungen disziplinierte soziale Anteilnahme dazu nicht ausreicht. Aber dieses eigentliche Interesse an der eigenen moralischen Integrität ist so wenig ein „reines sittliches Interesse“, wie die durch humane Erfahrungen erworbene soziale Anteilnahme ein solches ist. In beiden Fällen handelt es sich um eine empirisch angeregte Vernunfttätigkeit des ethisch selbstkritisch gewordenen Menschen, der eigene Antriebe und Motivationen zwar am Sittengesetz messen und ihm gemäß modifizieren kann, der aber nicht mit diesem Gesetz ein Prinzip gewinnt, das ihn, wenn er es auf die jeweils vorliegenden Umstände anwendet, unabhängig macht von der in praktischer Erfahrung erreichten Entwicklung der eigenen eigentlichen Interessen. Deren Bildung und Vertiefung kann nicht durch Berufung auf ein ethisches Prinzip systematisch entwickelt und dem Zufall entzogen werden; sie kann nur durch Orientierung an einem bewußt erfaßten Kriterium kritischautonom überwacht und gefördert werden. In diesem Sinne trägt das Abwägungsgesetz Kriteriums- und nicht //149// Grundsatz-Charakter. Es leitet den selbstkritisch gewordenen Menschen an, die in praktischer Erfahrung sich entwickelnden eigentlichen Interessen in Zucht zu
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nehmen und ihre willkürlich-selbstsüchtige Einengung als Grenzen und Schwächen des eigenen Wesens praktisch zu erfahren. Das ist mehr und etwas anderes als die Funktion eines Prinzips, aus dem sich, durch seine Anwendung aufgegebene Umstände, ethische Lehren gewinnen und ableiten lassen. Nelsons philosophische Systeme der Ethik und Rechtslehre, der Pädagogik und Politik beschränken sich auf Diskussion und Anwendung der von ihm aufgewiesenen ethischen Maßstäbe als Prinzipien, aus denen je nach den Anwendungsbedingungen Folgerungen gezogen werden. Sie legen den Eindruck nahe, als könne philosophische Besinnung, wie sie in diesen Bänden angeregt wird, an die Stelle praktischer Erfahrung treten und deren Pflege und Ausbildung ersetzen. Dieser Eindruck mag ausgelöst sein durch Nelsons eigene Zielsetzung, durch seinen „Versuch, dem Herrschaftsbereich der strengen Wissenschaften eine neue Provinz zu erschließen“. Mit diesem Ziel hat er sich festgelegt auf eine Ethik, die als praktische Wissenschaft praktische Erkenntnisse erarbeiten und in ethischen Urteilen niederlegen soll. Solche Urteile aber geben, Nelsons eigener bedeutsamen Unterscheidung nach, nur uneigentliche Interessen wieder; denen aber fehlt die persönliche Anteilnahme, ohne die sittliche Antriebe nicht möglich sind. (Vergl. S. 20 f.) Im Gegensatz hierzu legt Fromm in seiner Frage nach einer „humanisierten Technik“ den Nachdruck auf aktive eigene, mitdenkende und mitentscheidende Stellungnahme jedes einzelnen in jedem Prozeß sozialen Zusammenlebens. In der Terminologie Nelsons heißt das, daß ihm die Entwicklung eigentlicher Interessen im gesellschaftlichen Wechselspiel am Herzen liegt, so sehr sogar, daß darüber für ihn die Frage nach ethischer Erkenntnis zurücktritt – eben die Frage, die für Nelson im Zentrum steht. Beide aber, Fromm sowohl wie Nelson, begegnen in der eigenen lebendigen Anteilnahme am menschlichen Suchen nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit jeweils auch dem Anliegen des anderen, wenn auch ohne es als Ergänzung oder als Kritik der eigenen Lehre heranzuziehen: Bei Fromm geschieht das in der Anerkennung des Bedürfnisses jedes Men//150//schen nach „Wertvorstellungen, die seine Handlungen und Gefühle leiten können“, und in Fromms eigener Konkretisierung dieses Bedürfnisses: „Das Wertsystem, das dem in diesem Buch vertretenen Standpunkt entspricht, beruht auf einer Vorstellung, die Albert Schweitzer als ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ bezeichnet hat.“ („Revolution …“ Abschn. IV, 6) Und Nelson, der in einem Brief an Hilbert vom Dezember 1916 die von ihm geplante wissenschaftliche Ethik als „das große Bedürfnis der Zeit“ vertreten hatte, lehnte es ab, seine Schüler und Mitarbeiter zum Studium dieses Werkes anzuregen, um sie für ihre Aufgaben zu schulen. Den Weg zu den „eigentlichen“ sittlichen Interessen suchte er ihnen in anderer Weise zu erschließen.
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§ 5. Ethik als praktische Naturlehre Alle drei geprüften Zugänge eröffnen wichtige Ausblicke für das Bemühen um ethische Bildung. Keiner von ihnen darf vernachlässigt werden, wenn es um Klärung der Ideen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit geht, und zwar um eine Klärung, in der diese Ideen bestimmend werden für das Leben der einzelnen und für ihre soziale Wechselwirkung. Tradition, als Achtung vor den ethischen Prinzipien, die im Lauf der Geschichte entwickelt wurden und wirksam geworden sind – praktische Erfahrung, die Werte in persönlicher Anteilnahme aufnimmt und vertritt und damit über das spekulative Erfahrungswissen von Fakten und Kausalzusammenhängen hinausgeht – und kritische philosophische Besinnung, die Ernst macht mit dem Wissen um die Fehlbarkeit menschlichen Wertens und Strebens –, sie alle müssen je das Ihre zu dieser Klärung beitragen. Aber keiner dieser Zugänge erschließt einen Königsweg mit Weisungen, die unfehlbar zum Ziele führen; jeder ist belastet mit eigenen Gefahren und Fehlerquellen, die jeweils andere als die durch ihn gebotenen Orientierungsweisen erforderlich machen. Die kritische Philosophie bietet einen Ansatz zum Verständnis dieses das Menschenleben in mancher Hinsicht belastenden Sachverhalts. Nach ihr ist der Mensch, um erkennend, wertend, wollend vernünftig selbsttätig zu werden, auf sinnliche Anregungen angewiesen, die er nur hinneh//151//men und sich nicht selber geben kann. Er ist auf sie angewiesen, um vernünftig reagieren zu können; er bleibt demnach abhängig von geeigneten Anregungen, um das eigene Leben vernünftig selber führen zu können und es nicht, von bloßen Zufallskräften getrieben, nur ablaufen zu lassen. Auch menschliches Erfahrungswissen zeigt diese wechselseitige Abhängigkeit sinnlicher und vernünftiger, empfangender und gestaltender Anlagen voneinander. Im Anschluß an Fries formuliert Nelson diese Beziehung und ihre Bedeutung für das menschliche Naturverständnis in der folgenden Weise: „Die metaphysischen Grundsätze der Naturerkenntnis sind … nicht konstitutive Prinzipien einer Theorie der Natur. Es läßt sich aus ihnen keine bestimmte Naturerkenntnis logisch entwickeln, sondern sie können nur als Kriterien gebraucht werden bei der Induktion, durch die erst die konstitutiven Prinzipien aller Theorie der Natur gefunden werden. Sie sind also nur leitende Maximen rationeller Induktionen und nicht selbst schon konstitutive Prinzipien naturwissenschaftlicher Theorien.“ (VII, 642) Einfacher ausgedrückt: Die von der kritischen Philosophie aufgewiese nen metaphysischen Grundsätze – das Gesetz der Kausalität, das Gesetz der Erhaltung der Substanz, das Gesetz durchgängiger Wechselwirkung zwischen gleichzeitigem Geschehen – sie alle nennen nicht selber schon Naturgesetze oder physikalische Sachverhalte. Sie bringen vielmehr sprachlich-begrifflich zum Ausdruck, was im
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vorbegrifflichen Hantieren mit Dingen und in der vorbegrifflichen Anpassung an gegebene Umstände vom Menschen – wie übrigens auch von den ihm verwandten höheren Tieren – geübt und entwickelt wird. Das Vermögen, aus Erfahrung zu lernen, betrifft in diesem vorbegrifflichen Bereich nur das Verhalten von Mensch und Tier, erschließt aber keine Selbst- oder Umwelterkenntnis. Erst die menschliche Begriffssprache ermöglicht eine Verständigung über das aus Erfahrung und Tradition Erlernte; erst mit ihrer Hilfe gelingt kausales Denken, Wiedererkennen von Objekten, methodisches Überprüfen von Wirkungen eigenen Tuns. Auch das in dieser Weise begrifflich geklärte und methodisch entwickelte Erfahrungswissen bleibt dem konkreten Naturgeschehen in seinen nur empirisch aufweisbaren Sonderformen zugewandt und damit unabhängig vom Meditieren allgemeiner philosophischer Sätze wie der genannten metaphysischen Prinzipien. //152// Der Aufbau der Naturwissenschaften entspricht diesem Entwicklungs gang menschlichen Naturverständnisses. Grundlegend für jede Naturwissenschaft sind ihre auf Beobachtung und meist auch auf methodischem Experimentieren beruhenden Forschungen. So geht die experimentelle Physik der theoretischen Physik voraus; beide bleiben an die Erfahrung gebunden und enthalten nur Aussagen, die letzten Endes durch Erfahrung überprüfbar sind. Die naturphilosophischen Prinzipien, als Aussagen über die Natur im Ganzen verstanden, entziehen sich dieser Kontrolle. Sie sind darum keine naturwissenschaftlichen Sätze, sondern Deutungen der Kriterien naturwissenschaftlicher Forschung. Sinn und Problematik dieser Deutung sind Themen der Naturphilosophie, die ihrerseits vom Erfahrungswissen und von der Erfahrungswissenschaft verschieden ist, aber auf beides bezogen bleibt. Fries hat Ethik und Naturwissenschaft als praktische und theoretische Naturlehre gegeneinander abgegrenzt und zueinander in Beziehung gesetzt. Beide Bereiche sind gekennzeichnet durch die Verbindung von Sinnlichkeit und Vernunft in der menschlichen Auseinandersetzung mit den sich bietenden Fragen und Aufgaben. Diese Parallele reicht weiter, als Nelsons „Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik“ erkennen lassen. Erfahrung, wie sie schon in vorbegrifflichen Lebensäußerungen des Menschen einsetzt und wie sie vor allem sein sprachlich-begrifflich geprägtes Lebens- und Umweltsverständnis bestimmt, ist immer schon mehr als bloße Abhängigkeit der Lebensvorgänge von Umwelteinflüssen: Sie entsteht im lebendigen Reagieren auf Eindrücke und wird sprachlich-begrifflich verstanden in Erfahrungsurteilen, die nach Vernunftbegriffen [nach „Kategorien“] Sinnesanregungen auffassen und miteinander verknüpfen. Diese Erfahrungsurteile enthalten die Kategorien nicht explizite; sie sind auch nicht erschlossen aus den solchen Kategorien zugeordneten philosophischen Prinzipien. Erfahrung ist vielmehr – im spekulativen Erkennen so gut wie im anteilnehmenden Werten und Streben
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– jeweils der Akt, in dem Empfänglichkeit für Anregungen und deren sinnvolle Verarbeitung und Gestaltung ineinander greifen. Das geschieht nach VernunftKriterien, wird aber nicht aus Vernunft-Prinzipien erschlossen. In solchen Akten praktischer Erfahrung, und nur in ihnen, entwickeln sich die eigentlichen Interessen, die menschlichem Streben Ziel und Rich//153//tung geben. Das gilt auch für das Bemühen um den Weg zu Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Im Dreiklang von Tradition, praktischer Erfahrung und philosophi scher Besinnung behält die praktische Erfahrung damit den Vorrang. Achtung vor der Tradition, die den Boden bereitet und bereichert, auf dem praktische Erfahrung möglich wird, und kritische Besinnung, die den Gang praktischer Erfahrung und die Entwicklung eigentlicher Interessen überwacht, um beides vor Einseitigkeiten zu bewahren und um selbstsüchtige Enge abzuwehren, sollten sich darum der praktischen Erfahrung ein- und unterordnen, in der allein der Weg zu Gerechtigkeit und Menschlichkeit anteilnehmend aufgefaßt und beschritten werden kann.
GEDANKEN ZUM ABWÄGUNGSGESETZ IN DER ETHIK LEONARD NELSONS*
§ 1. Der kategorische Imperativ Im Anschluß an Kant formuliert Nelson das Sittengesetz als ein Gebot, nämlich als den „kategorischen Imperativ“: „Handle nie so, daß du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären.“ (IV, 172) Ebenfalls im Anschluß an Kant charakterisiert er dieses Gebot durch das Prinzip der Autonomie, wonach „ein Gesetz nur für den verbindlich sein kann, der die Möglichkeit hat, es zu erkennen.“ (V, 55) Diese beiden Bestimmungen stehen in einem merkwürdigen Gegensatz zueinander. Der Imperativ ist grammatisch eine Form der zweiten Person, eine Sprechweise also, in der jemand angeredet wird. Er gilt daher normalerweise einer vom Redenden verschiedenen Person. Das Prinzip der Autonomie verweist dagegen auf die eigene Einsicht des Handelnden als die einzige Erkenntnisquelle für die behauptete Verpflichtung. Zwar besteht zwischen beiden Bestimmungen kein logischer Widerspruch; auch was der eigenen Einsicht zugänglich ist, kann im zwischenmenschlichen Verkehr vom einen gegenüber dem anderen geltend gemacht werden. Aber es fragt sich doch, warum als ein Gebot an einen andern formuliert wird, was angeblich nur aus eigener Einsicht, unabhängig also von jeder solchen Mitteilung, verstanden werden kann. Weder Kant noch Nelson haben sich durch den Grundsatz der Autonomie von der imperativen Formulierung des Sittengesetzes abhalten lassen. In dieser imperativen Formulierung sahen sie offenbar die angemessene Ausdrucksweise für ethische Aussagen. Und das ist sie ja auch, sofern solche Aussagen da aufgesucht werden, wo sie vor allem auftreten, im zwischenmenschlichen Verkehr nämlich. Dabei handelt es sich in der Tat um Ansprüche, die Menschen in der Regelung ihrer gegenseitigen Bezie//155//hungen an einander stellen, ob das nun situationsbedingte Forderungen des täglichen Lebens sind oder Anweisungen, in denen Verkehrs- und Umgangsformen des gemeinsamen Lebens verbindlich geregelt werden. Es sind Ansprüche, die der Mitteilung bedürfen, Ansprüche, die vom einen an den * Vierte Niederschrift (1984). © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. Herrmann und B. Neißer (Hrsg.), Grete Henry-Hermann: Sittlichkeit und Vernunft, Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41993-6_3
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anderen gestellt werden. Da ist eben der Imperativ die dieser Beziehung entsprechende grammatische Grundform. Die in einem Sozialverband anerkannte Ethik, wie sie sich als Kulturgebilde in der Geschichte entwickelt hat, muß von Generation zu Generation weitergegeben werden. Auch diese Tradition wird sinnvollerweise vermittelt durch die imperative Sprechweise, bzw. durch das ihr entsprechende „Du sollst!“ wie in den Zehn Geboten. Diese Tradition ist es auch, in der sich das Verständnis für die ethischen Kategorien von Pflicht und Recht entwickelt, weil Menschen in ihren Sozialbeziehungen mit solchen Vorstellungen und der durch sie vermittelten faktisch geltenden Ethik umzugehen lernen und sich in ihrem Verhalten durch sie bestimmen lassen – selbst da, wo sie gegen deren Vorschriften verstoßen. Nun sind es aber solche imperativ formulierten ethischen Lehren und Systeme, die zur Kritik herausfordern, schon darum nämlich, weil sie sich Hand in Hand mit jenen Sozialformen menschlichen Zusammenlebens entwickelt haben, denen sie Ausdruck geben und die sie durch ihren Verbindlichkeitsanspruch stützen. Diese Formen des Verkehrs sind und bleiben weiterhin geprägt durch die Machtkämpfe, aus denen sie erwachsen sind. Die Sozialordnung, in der und durch die jene faktische Ethik Rechte und Pflichten der Beteiligten festlegt, ist in einem historischen Prozeß entstanden und läßt noch die Kräfte erkennen, die dabei den Ausschlag gegeben haben. Sie ist Menschenwerk und revidierbar, wie ja auch die in ihr geltend gemachte Ethik nicht nur verletzt, sondern auch kritisiert und revidiert und damit wechselnden Einflüssen unterworfen werden kann. Eben dadurch wird Nelsons Frage verständlich, mit der er die eigenen Bemühungen um eine philosophisch begründete Ethik einleitet, „ob es nicht unter all den ethischen Doktrinen doch eine gibt, die sich mit wissenschaftlichen Methoden vor allen anderen auszeichnen läßt als die allein gültige und verbindliche, als eine solche Lehre, der dann, wenn einmal im Kampf der Meinungen Gründe entscheiden, der Sieg zufallen muß“. (V, 11) //156// Die Auseinandersetzung mit imperativ geltendgemachten ethischen Doktrinen ist es also, in der Nelson jenen ethischen Grundsatz hervorhebt. Dessen imperative Form entspricht denjenigen menschlichen Beziehungen und Traditionen, deren Kritik Nelsons System der philosophischen Ethik dienen soll: Die historisch gewordene, faktisch geltende Ethik soll gemessen werden an einem philosophisch gewonnenen Grundsatz, nämlich dem Abwägungsgesetz. So heißt es in der Einleitung zum „System der philosophischen Rechtslehre und Politik“: „In diesem Buch wird der Versuch unternommen, die Rechtslehre und die Politik auf ein festes wissenschaftliches Fundament zu stellen. Dieses Fundament liegt zuletzt in einem Grundsatz der reinen praktischen Philosophie, einem Grund-
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satz, der seinerseits in der Kritik der praktischen Vernunft seine wissenschaftliche Begründung erhalten hat. Wie in der Tat das weitläufige Unternehmen der Kritik der praktischen Vernunft notwendig ist, um diesen einen Satz zu begründen, so ruht andererseits auf diesem einzigen Satz das ganze hier errichtete Gebäude der philosophischen Rechtslehre und Politik. Dieser Grundsatz ist kein anderer als das reine, von aller positiven Gesetzgebung unabhängige Rechtsgesetz.“ (VI, 7) Aufstellung, Begründung und systematische Entwicklung dieses Grundsatzes sind die Schritte, in denen Nelson sich den Weg zur Ethik als Wissenschaft bahnt. „‚Ethische Wissenschaft‘“, so führt er aus, „sagt etwas anderes und mehr als ‚ethisches Wissen‘. Wissenschaft und Wissen unterscheiden sich aber voneinander nicht durch den Inhalt von Erkenntnissen, die zu ihnen gehören, sondern nur durch deren Form. … Denselben Wissensstoff z. B., den ein tüchtiger Praktiker auf dem Gebiet der Hygiene oder der Baukunst ohne alle theoretischen Hilfsmittel allein durch seine Erfahrungen gesammelt hat, beherrscht der in den Theorien der Physiologie oder Statik Bewanderte dadurch, daß er ihn aus den allgemeinen Gesetzen dieser Wissenschaften auf dem Weg logischer Schlüsse ableiten kann. Das Wissen hat nämlich die Form der Wissenschaft, wenn die an und für sich zerstreuten Erkenntnisse, die es ausmachen, in gewisser Weise geordnet, nämlich zu einem System vereinigt sind.“ (IV, 4) Das also ist die Funktion des Sittengesetzes, das in der Ethik als „kategorischer Imperativ“ geltend gemacht wird: seine imperative Form ver//157//weist auf die Sozialbeziehungen, die dem menschlichen Leben Form und Überschaubarkeit geben; sein Charakter als Grundprinzip von Ethik und Rechtslehre aber soll den Weg freimachen zu einer systematischen Entwicklung von Ethik und Rechtslehre, die darin besteht, daß ihre Lehren „logisch aus bestimmten Prinzipien abgeleitet werden“. (IV, 5) Die Verbindung beider Funktionen aber deutet auf eine tiefliegende Schwierigkeit hin; es ist die Schwierigkeit, die Schiller in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“ zum Aus gangspunkt seiner Erwägungen macht: „Wenn der Künstler an einem Uhrwerk zu bessern hat, so läßt er die Räder ablaufen. Aber das lebendige Uhrwerk des Staates muß gebessert werden, indem es schlägt. Hier gilt es, das rollende Rad während seines Umschwungs auszutauschen.“ (Dritter Brief) Dem rollenden Rad in Schillers Gleichnis entspricht die imperative faktische Ethik, die menschlichem Zusammenleben eine verbindliche Ordnung gibt. Das Auswechseln des Rades während eines Umschwungs ist die kritische Überprüfung dieser Ethik auf Grund des Abwägungsgesetzes. Dabei sollen die Sätze der geltenden Ethik ja am Abwägungsgesetz, dem „kategorischen Imperativ“,
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gemessen und gegebenenfalls revidiert werden. Mit der imperativen Form seines Abwägungsgesetzes ordnet Nelson dieses Gesetz selber ein unter die formenden Kräfte, die den einzelnen in seinen Sozialbeziehungen zu seinen Mitmenschen prägen und von denen er in seiner Erfahrung sozialer Wechselwirkung angesprochen wird. Das Abwägungsgesetz tritt dabei gewissermaßen neben die Anforderungen jener faktischen Ethik, sie kritisierend und modifizierend, sie aber nicht aufhebend. Im Gegensatz dazu aber steht Nelsons Absage an bloße „ethische Doktrinen“: Mit ihr erhebt er das Abwägungsgesetz zu einem Maßstab, „der außerhalb aller Gefühle liegt“ und der den Menschen freimachen soll von der „Abhängigkeit seiner Gefühle von unkontrollierten und unkontrollierbaren Mächten außer ihm“. (V, 10 f.) Unabhängig somit auch von den Mächten der Tradition, durch die ihm imperativisch die faktische Ethik seiner Zeit vermittelt wird. Das sind zwei verschiedene Wege zur Entwicklung der Ethik als Wissenschaft. Nelsons eigener Aufbau der Ethik und Rechtslehre folgt nur dem zweiten, der systematischen Entwicklung von Konsequenzen aus einem philosophisch deduzierten Prinzip a priori, eben dem Abwägungsge//158//setz. Er gewinnt diese Konsequenzen, anscheinend ohne jeden Bezug auf jene historisch realisierte faktische Ethik, nämlich durch die Überlegung, daß menschliches Handeln und soziale Beziehungen als Naturgeschehen unter Naturgesetzen stehen, die keine Garantie für die Erfüllung des Sittengesetzes bieten. „Es liegt bereits in der bloßen Form eines Sittengesetzes, daß die Möglichkeit eines Widerstreits besteht zwischen dem, was geschieht, und dem, was geschehen soll.“ (V, 86) Dem Menschen und seinen Einrichtungen bleibt es überlassen, diesen Widerstreit planmäßig auszuschließen. Das ist der Leitgedanke, dem Nelson folgt. Das gibt seinem Aufbau die Geschlossenheit und Überschaubarkeit, es macht ihn, so scheint es, unabhängig vom Studium der unterschiedlichen, sich historisch wandelnden ethischen Lehren und von der Aufgabe, diese kritisch zu überprüfen und daran Bedeutung und Wahrheitsgehalt des aufgewiesenen Grundsatzes zu erweisen. Nelson geht es ja darum, „unter all den ethischen Doktrinen“ die „allein gültige und verbindliche“ zu finden (V, 11) und diese an die Stelle jener anderen, wissenschaftlich nicht überprüften treten zu lassen. Nun sind aber die Interessen, die nach dem Abwägungsgesetz gegeneinander abgewogen werden sollen, zum Teil selber geprägt von jener faktisch geltenden Ethik, die Nelson als dogmatische Doktrin verwirft und durch die philosophisch begründete Ethik ersetzen zu können meint. Es fragt sich daher, ob und wie sich nach dem Abwägungsgesetz auch solche Konflikte und Probleme lösen lassen, die durch eben diese faktisch herrschenden ethischen Auffassungen erst hervorgerufen werden. So liegt etwa dem heutigen „Generationenkonflikt“ unter anderem auch der Widerstreit zugrunde, ob die in unserer Umwelt erreichte Rechtsordnung
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wegen bestehender Erstarrungen und Mängel aufs Spiel gesetzt werden darf im Kampf gegen solche Schwächen, oder ob gewisse Mängel in Kauf genommen werden sollten, um die erreichte Ordnung nicht wieder preiszugeben. Auch die für die Diskussion in und mit der „Friedensbewegung“ grundlegende Sorge, daß den Frieden gefährden kann, was zu seiner Sicherung aufgebaut wird, erhält ihre Schärfe durch den Gegensatz der historisch realisierten Rechtsauffassungen, wie sie von den einander gegenüberstehenden Staatenverbänden vertreten werden. Konflikte dieser Art können, da sie selber durch faktisch geltende ethische Lehren bestimmt //159// sind, nicht durch eine Abwägung der kollidierenden Interessen ethisch-rechtlich entschieden werden. Denn diese Abwägung soll ja, ihrem Prinzip gemäß, an die Stelle jener fragwürdig gewordenen Lehren treten.
§ 2. Sollen und Müssen „Das rollende Rad während seines Umschwungs austauschen“ – das heißt: ausbessern, nicht neu schaffen. Wer das Uhrwerk ausbessern will, muß die Gesetze kennen, nach denen es abläuft. Es ist die große Leistung der kritischen Philosophie, die Wechselbeziehung zwischen Sinneseindrücken und deren anschaulich-vernünftiger Deutung aufgewiesen und zum Thema der Vernunftkritik gemacht zu haben. Damit erschloß sich das Verständnis für Wesen und Aufgabe der Erfahrung. Lehrmeisterin dabei war die klassische Mechanik. In ihr hatte zum ersten Mal in streng mathematischer Form eine physikalische Theorie gesetzmäßige Zusammenhänge des Naturgeschehens dargelegt. Die Bewegung von Massen im euklidisch bestimmten Raum unter der Einwirkung von Kräften, wie dem Zusammenstoß oder der Gravitationsanziehung zwischen Massen, erwies sich als überschaubares Gefüge kategorial bestimmter Vorgänge. Diese Auffassung des Naturgeschehens erlaubte es, künftiges – oft auch unbeobachtetes vergangenes – Geschehen aus quantitativ bestimmten An fangsbedingungen zu berechnen. Physiker und Naturphilosophen gewannen daraus im 19. Jahrhundert die Überzeugung, in der klassischen Mechanik das Grundmodell physikalischen Naturverständnisses gewonnen zu haben, dem sich alle physikalischen Lehren würden einfügen müssen, sobald sie den von ihnen erforschten Naturbereich erst vollständig erfaßt haben würden. Die mechanische Wärmelehre und die Schwingungstheorie der Akustik schienen diese Auffassung zu bestätigen. Nelson teilte diese Auffassung; auch darin folgte er der Lehre von Fries. „Es ist die einfache Folge des Umstands, daß die Metaphysik der Natur, die der Physik erst die Aufgabe stellt, hervorgeht aus dem räumlichen Schematismus der Kategorien,
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der seinerseits unmittelbar auf das Postulat der mathematischen Konstruktion aller Naturprozesse führt und damit auf das Postulat der Mechanistik. Denn Bewegung ist die einzige Naturer//160//scheinung, die eine restlose mathematische Konstruktion zuläßt.“ Zwar betont Nelson, gerade im Zusammenhang mit diesem Hinweis, daß die naturphilosophischen Prinzipien nur die Bedeutung von Kriterien haben: „Es verhält sich nicht etwa so, daß wir aus diesen Prinzipien als Prämissen die physikalischen Theorien selbst zu entwickeln vermögen. Sie sind nicht konstitutive Prinzipien für diese Theorien, sondern nur leitende Maximen jener Induktionen, durch die wir erst zur Entdeckung der konstitutiven Prinzipien der theoretischen Physik gelangen.“ (VII, 687) Das aber hindert ihn nicht daran, der Entwicklung der modernen Physik zum Trotz am „Postulat der Mechanistik“ festzuhalten: „Der Hinweis auf die Rolle der klassischen Mechanik könnte heute als unzeitgemäß erscheinen, wo es um das Schicksal dieser Wissenschaft nicht eben günstig bestellt ist. … In jenem Nachweis bleibt uns aber doch ein zum mindesten in philosophi scher Hinsicht sehr wichtiger Gedanke stehen, und man kann nicht wissen, welche Fruchtbarkeit er für die Physik noch einmal entfalten wird, wenn die Herrschaft des empiristischen Dogmas auf diesem Gebiet einmal gebrochen sein wird.“ (VII, 683) Nelsons eigene Untersuchungen gelten zwar nicht diesen naturphilosophischen Aufgaben, sondern dem Aufbau der Ethik. Aber auch sie tragen den Stempel dieser methodischen Überlegungen. Das zeigt sich im Aufbau der rein philosophischen Systeme von Ethik und Pädagogik, von Rechtslehre und Politik. Nelson entwickelt sie unabhängig von allen nur empirisch gegebenen Umständen aus philosophischen Grundbegriffen und Prinzipien. Diese rein philosophischen Systeme bestimmen als Grundlage der von Nelson intendierten wissenschaftlichen Ethik ein entsprechendes Fundament, wie er es der klassischen Mechanik für die Naturwissenschaften zuschreibt. Ihre Funktion ist es, das philosophische Begriffsgefüge aufzuweisen, das, unter Abstraktion von konkreten Erfahrungsdaten, doch schon für alle künftige Erfahrung den Rahmen bereitstellt zur Bearbeitung und Lösung möglicher Probleme. Das Vertrauen in diese innere Geschlossenheit und Vollständigkeit der eigenen ethischen Einsicht kommt zum Ausdruck in jenem Grundsatz der Autonomie, den Nelson wie Kant mit dem Abwägungsgesetz, dessen imperativer Form zum Trotz, unabdingbar verbunden sieht. Das Abwägungsgesetz ist das philosophische Prinzip im Nelsonschen //161// System der Ethik wie der Rechtslehre, der Pädagogik wie der Politik. Als solches bestimmt es deren Aufbau sogar nicht nur durch die inhaltliche Regel, die in ihm für die Behandlung von Konflikten vorgeschrieben wird, sondern, wie Nelson es ausdrückt, schon durch seine bloße Form. Nelson stellt sich die Frage, welche ethisch-rechtlichen Folgen sich bereits daraus ableiten lassen, daß überhaupt
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Begriffe wie die von Pflicht und Recht im menschlichen Leben praktische Bedeutung haben. Diese Frage untersucht er in dem, was er „formale Ethik“, bzw. „formale Rechtslehre“ nennt und von den „materialen“ Abschnitten abgrenzt, die auf den Inhalt des Abwägungsgesetzes Bezug nehmen. Diese Abgrenzung hat für den Aufbau der Ethik große Bedeutung. Im „System der philosophischen Rechtslehre“ weist Nelson darauf hin: „Wenn es möglich ist, aus einer weniger weit gehenden Voraussetzung gewisse Ergebnisse abzuleiten, so ist es methodisch, im Interesse der systematischen Strenge, geboten, weiter gehende Voraussetzungen erst dann hinzuzunehmen, wenn die aus jener weniger weit gehenden Voraussetzung ableitbaren Folgerungen erschöpft sind. … Das Auszeichnende der formalen Rechtslehre liegt eben darin, daß sich ihre Postulate nicht, wie die den Inhalt des Rechtsgesetzes betreffenden, ohne logischen Widerspruch abgeändert denken lassen. … In dem einen sind alle Bearbeiter einer Rechtslehre miteinander in Übereinstimmung, daß sie für sich den Namen eines Rechtslehrers in Anspruch nehmen und eben damit bekunden, daß sie die praktische Realität des Rechtsbegriffs voraussetzen. … Soweit es aber möglich ist, alle diese untereinander streitenden Rechtslehrer zur Übereinstimmung zu nötigen, so weit ist dies auch praktisch von Interesse. Denn offenbar hat eine Bearbeitung der Rechtslehre einen um so größeren praktische Vorzug, in je weiterem Umfang es in ihr gelingt, praktisch bedeutsame Entscheidungen abzuleiten, ohne sich dafür mit einer bereits strittigen Voraussetzung zu belasten.“ (VI, 49 f.) Diese Abgrenzung hat den weiteren Vorteil, daß mit dieser Herauslösung der formalen Abschnitte von Ethik und Rechtslehre zugleich die grundlegenden Richtlinien und Gesichtspunkte hervorgehoben werden, die nach Nelsons Überzeugung der von ihm angestrebten wissenschaftlichen Ethik ihr Gepräge geben. Diejenigen Ergebnisse, über die es, wie er meint, keinen Streit geben dürfte unter denen, die in der gestellten Auf//162//gabe einig sind und diese konsequent im Auge behalten, die sind es auch, die, da inhaltlich nur an den Begriffen von Pflicht und Recht orientiert, Charakter und Bedeutung ethisch-rechtlicher Wertungen am deutlichsten hervortreten lassen. Gerade in ihrer Ableitung treten allerdings auch besondere, tiefliegende Schwierigkeiten ans Licht – gerade die Sparsamkeit der geltendgemachten Voraussetzungen läßt sie unausweichbar erscheinen. Zu diesen Ergebnissen gehören Nelsons Lehre von den sittlichen Wertungen sowie die, jeweils im formalen Teil der philosophischen Ethik bzw. der philosophischen Politik abgeleiteten Sätze vom Gebot des Charakters und vom Ideal des Staates. „Der sittliche Wert einer Handlung kann nur entspringen aus dem Verhältnis der Handlung zum Sittengesetz.“ So führt Nelson aus. „Wir werten eine Handlung moralisch nach dem Verhältnis, in dem der Wille des Handelnden zum Pflichtbe-
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wußtsein steht. … Es ist das Eigentümliche der Pflicht, daß die durch sie gebotene Handlung einen Vorzug erhält vor jeder anderen, die an ihrer Stelle geschehen könnte. … Wir können sagen, daß jeder Wert, den eine Handlung sonst haben könnte, gänzlich vernichtet, ja in einen Unwert verkehrt wird, wenn diese Handlung der Pflicht widerstreitet. … Dieser Unwert ist aber nicht nur ein relativer …, sondern der Pflichtverletzung kommt ein absoluter Unwert zu. Wir beurteilen sie als S chuld. Dieses Wort bezeichnet den absoluten Unwert der Pflichtverletzung, und zwar einen unendlichen Unwert, das heißt einen solchen, der durch keinen noch so großen positiven Wert aufgehoben werden kann.“ (V, 62 ff.) Das Gebot des Charakters und das Ideal des Staates sind beides Folgerungen aus der bloßen Annahme, daß es ein verbindliches Sitten- und Rechtsgesetz gibt. Dieses Gesetz wird im ersten Fall verstanden als das Gesetz, das die Pflichten der Menschen festlegt, und im zweiten als das Gesetz, das damit zugleich den Gesellschaftszustand rechtlichen Bedingungen unterstellt. Was die Pflicht gebietet und was das Rechtsideal verlangt, das kann, so argumentiert Nelson, nur durch den Charakter des einzelnen, bzw. durch die von Menschen errichtete Rechtsordnung gesichert werden. Daraus ergeben sich Anforderungen an die Bildung des Charakters und die Aufgaben des Staates. //163// Nelson führt aus: Es ist das Kennzeichen des „reinen Charakters“, die eigenen Antriebe dem Bewußtsein der Pflicht unterzuordnen. Dabei ist zu bedenken, „daß die Bereitschaft, dem Sittengesetz auch dann zu folgen, wenn die Neigung nicht auf die sittliche Handlung gerichtet ist, nicht durch bloßen Zufall möglich ist, sondern daß sie zu ihrer Stiftung einen eigenen Entschluß erfordert. Wir stiften sie dadurch, daß wir den Entschluß fassen, der Pflicht auch dann zu folgen, wenn nicht schon eine Neigung auf ihrer Seite ist.“ (V, 101) Das Ideal des Staates ergibt sich aus dem des Rechtszustandes, da dieser einer politischen Sicherung bedarf. Das Abwägungsgesetz gilt als Rechtsgesetz für das Ganze der Gesellschaft. „Als Rechtsgesetz bezieht sich das Sittengesetz unmittelbar auf den Zustand der Gesellschaft. … Für die Geltung des Rechtsgesetzes wäre es demnach hinreichend, daß jeder einzelne in der Gesellschaft seine Pflicht wirklich erfüllt. Worauf es aber hier ankommt, das ist, daß dieser Satz sich nicht umkehren läßt, daß vielmehr das Rechtsgesetz in der Gesellschaft gelten kann, ohne daß dies darum geschieht, weil jeder einzelne in der Gesellschaft von sich aus seine Pflicht tut. … Genug, daß die äußere Form der Wechselwirkung der einzelnen mit dem Inhalt des Gesetzes übereinstimmt, so ist es ein rechtlicher Zustand, mag der Grund dieser Übereinstimmung sein, welcher er wolle, mag sie herbeigeführt werden durch die vollkommene Tugend aller einzelnen oder unabhängig von dieser auf irgend eine andere Weise.“ (VI, 42 f.) „Das Rechtsideal aber erfordert, daß im Ganzen der Gesellschaft das Recht herrscht. Es würde verwirklicht durch einen
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Zustand der Ges ellschaft, der seinerseits das Unrecht ausschließt.“ (VI, 148) „Nur dadurch also, daß sich die Gesellschaft zum Staat bildet, … kann in ihr der Rechtszustand verwirklicht werden. … so erhalten wir als Schlußsatz das Ideal des Staates.“ (VI, 151) Der unendliche Unwert der Pflichtverletzung, das Gebot, als reiner Charakter künftige eigene Pflichterfüllung dem Zufall zu entziehen, das Ideal eines Staates, der das Unrecht ausschließt – das sind Maßstäbe und Forderungen, die über die Schranken des naturgebundenen Menschenle bens hinauszugreifen scheinen auch da, wo sie – wie in den Untersätzen dieser grundlegenden Schlüsse aus dem Abwägungsgesetz – ausdrücklich darauf bezugnehmen, daß menschliches Handeln unter Naturgesetzen //164// verläuft und daß „die Möglichkeit eines Widerstreits besteht zwischen dem, was geschieht, und dem, was geschehen soll“. (V, 86) Zwischen dem Gebot des Charakters und dem Ideal des Staates besteht zudem eine Spannung: Nach dem Gebot des Charakters trägt der einzelne die Verantwortung, durch die Stiftung sittlicher Bereitschaft seine Pflichterfüllung „dem Zufall zu entziehen“, während das Ideal des Staates davon ausgeht, daß diese Bereitschaft des einzelnen versagen kann und daß darum eine politische Sicherung des Rechts geboten ist. Die Spannung zwischen beiden Überlegungen ist Nelson nicht entgangen: „Die Unabhängigkeit der Geltung des Rechts von der rechtlichen Gesinnung des einzelnen nenne ich das Prinzip des Rechtszwanges. … Nun wäre dem Prinzip des Rechtszwanges genügt, wenn jede absichtliche Verletzung des Rechts ausgeschlossen wäre, dadurch nämlich, daß überhaupt jede Möglichkeit absichtlichen Handelns aufgehoben würde. … Wenn aber auf diese Weise auch das Unrecht ausgeschlossen würde, so wäre damit den Anforderungen des Rechts doch nicht Genüge geleistet. Denn es liegt im Begriff der rechtlichen Verpflichtung, daß ihre Erfüllung durch den Willen des Verpflichteten möglich sein muß. … Dies führt uns auf das Prinzip der rechtlichen Freiheit. Es beschränkt die rechtliche Möglichkeit des Zwanges auf die Bedingung, daß der eigene rechtliche Wille des Verpflichteten nicht hinreicht, um das Unrecht auszuschließen, oder daß, mit anderen Worten, der Zwang zur Durchsetzung des Rechts notwendig ist. … Ein Zwang, der nicht selbst rechtlich notwendig ist, würde die Befriedigung eines berechtigten Interesses ausschließen. Er würde also ein berechtigtes Interesse verletzen und folglich seinerseits widerrechtlich sein.“ (VI, 61 f.) Wo aber liegt die Grenze zwischen Rechtszwang und rechtlicher Freiheit? Jede Freiheit, die gewährt wird, kann mißbraucht werden; jeder Zwang, der Unrecht verhindert, nimmt Menschen die Freiheit, sich unabhängig von äußerem Zwang aus eigener Einsicht gegen das Unrecht zu entscheiden. Nimmt man Nelson beim Wort mit seiner Forderung der „Unabhängigkeit des Rechts von der rechtlichen Gesinnung des einzelnen“, so bleibt kein Raum für rechtlich bedeutsame und
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doch der Freiheit einzelner überlassene Entscheidungen. Und so führt denn auch Nelsons Auflösung dieses Konflikts nicht hinweg über die Schwierigkeit, daß seine //165// unterschiedlichen, einander wechselseitig beschränkenden Forderungen in offnen Widerspruch mit einander geraten, sofern sie unbeschränkt geltendgemacht werden. Den Grund dafür sehe ich in Nelsons Vertrauen auf Möglichkeit und Notwendigkeit einer rein philosophisch begründeten Ethik und Rechtslehre. Dieses Vertrauen entspringt seinem Verständnis der Wechselbeziehung zwischen Sinneseindrücken und deren vernünftiger Deutung; er versteht sie nämlich im Sinn der Fries'schen Interpretation, wonach die naturphilosophischen Erkenntnisse a priori zu einer „Rüstkammer der Hypothesen“ für den Aufbau der Naturwissenschaft werden. (VII, 688; Nelson bezieht sich dort auf das Werk von Fries: „Die mathematische Naturphilosophie – nach philosophischer Methode bearbeitet“, Einleitung § 4) Das ist diejenige Interpretation, die auch der Auszeichnung der klassischen Mechanik als der Grundform aller physikalischen Disziplinen zugrunde liegt – auch wenn es in der klassischen Mechanik nicht die rein philosophischen Prinzipien und Kategorien sind, die in die Theorie eingehen, also nicht etwa das Kausalgesetz und der Satz von der Erhaltung der Substanz, sondern deren Übertragung auf physikalisches Geschehen, wie sie im Gravitationsgesetz und in den physikalischen Erhaltungssätzen vorliegen.
§ 3. Praktische Erfahrung Die Entwicklung der Physik hat schon im 19. Jahrhundert über das Postulat der Mechanistik hinausgeführt. Das setzt ein mit der Maxwellschen Theorie des Elektromagnetismus und wird unverkennbar mit der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik. Mit ihnen wird der Aussagewert der klassischen Physik und der Euklidischen Geometrie in Frage gestellt; er mußte neu durchdacht werden. Das bedeutet gewiß nicht, daß die klassische Mechanik sich als Fiktion erwiesen habe; sie behält mit ihrer Begriffsbildung und Schlußweise entscheidende Bedeutung für den Aufbau der theoretischen Physik. Aber sie gilt nicht mehr als Grundform vollendeter physikalischer Erkenntnis überhaupt; die naturphilosophische Frage, welches Verständnis des Naturgeschehens naturwissenschaftlichem Forschen die Richtung weist und nun gar dem Übergang von der klassi//166//schen zur modernen Physik gerecht wird, ist wieder brennend geworden. Diese Fragestellung ist gewiß nicht die Folge einer „Herrschaft des empiristischen Dogmas“, wie Nelson mutmaßte (VII, 683), sondern das Ergebnis fortschreitender Orientierung an der
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Erfahrung. Lassen sich etwa die im Nelsonschen System auftauchenden Schwierigkeiten, wie sie sich bei seiner Orientierung an rein philosophischen Grundlagen ergeben, in ähnlicher Weise überwinden? Die Erfahrungswissenschaften arbeiten mit der Methode der Induktion. Eine entsprechende Orientierung an der Erfahrung im Aufbau der Ethik schließt Nelson grundsätzlich aus: „Eine solche Möglichkeit findet jedoch nicht statt. Um nämlich einen ethischen Satz durch Induktion zu erschließen, müßte man ihn auf irgendwelche Tatsachen der Beobachtung zurückführen. Denn durch Beobachtung lassen sich nur Tatsachen feststellen. Aus Tatsachen, das heißt daraus, daß etwas Bestimmtes ist, läßt sich aber kein Schluß ziehen darauf, daß etwas Bestimmtes sein sollte. Denn der Begriff des Sollens ist gegenüber dem Begriff des Seins etwas gänzlich Neues. Ein Begriff, der in den Prämissen eines Schlusses gar nicht vorkommt, kann aber auch nicht in seinen Schlußsatz eingehen. Ein Schluß von dem, was ist, auf das, was sein sollte, ist folglich unmöglich, und es kann also auch keine induktive Begründung ethischer Urteile geben.“ (IV, 31) Wäre diese Folgerung zwingend, dann entfiele nicht nur die Möglichkeit, die Ethik auf Erfahrung zu gründen, sondern auch die, Naturgesetze durch Induktionsschlüsse zu erkennen. Aus dem, was ist, läßt sich ebensowenig rein logisch auf das schließen, was sein muß und darum sein wird, wie auf das, was sein sollte. Der Induktionsschluß gewinnt aus Beobachtung und Experiment die Kenntnis von Naturgesetzen und damit die Möglichkeit, künftiges Geschehen vorauszusagen. Er greift damit über die bloße Beobachtung hinaus und ermöglicht Aussagen über die Ursachen beobachteter Vorgänge, obwohl, wie schon Hume wußte, die kausale Verknüpfung des Geschehens weder beobachtet, noch rein logisch aus Beobachtungen erschlossen werden kann. Gerade in dieser Entdeckung Humes sieht Nelson den „folgenreichsten dialektischen Fortschritt, der überhaupt in der Geschichte der neueren Philosophie zu verzeichnen ist“. (VII, 97) Es ist „Humes Verdienst, er//167//kannt zu haben, daß schon die bloße Erfahrungskenntnis, sofern sie durch Schlüsse aus Tatsachen über den Bereich unmittelbarer Beobachtung hinausgeht, metaphysische Voraussetzungen einschließt, nämlich die der notwendigen Verknüpfung der Erscheinungen. Damit war denn endlich gewonnen, daß die philosophische Forschung einen Anknüpfungspunkt fand in einem anderweit gesicherten, feststehenden Gehalt von Erkenntnissen und hier festen Boden fassen konnte.“ (VII, 122 f.) Allerdings wußte Nelson, daß Hume selber mit seiner Entdeckung nicht einen solchen „festen Boden“ gewonnen, sondern daß er den skeptischen Schluß gezogen hatte, wonach die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung eine bloße Fiktion sei. „Der Schluß, zu dem Hume durch diese Untersuchung gedrängt wird, ist der folgende: Wenn es unmöglich ist, durch unmittelbare Sinneswahrnehmungen eine
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Verknüpfung zu erkennen, wenn es ferner unmöglich ist, durch bloßes Denken die Erkenntnis einer Verknüpfung zu gewinnen, und wenn es endlich auch unmöglich ist, zu einer solchen Erkenntnis durch Schlüsse aus der Erfahrung zu gelangen, so ist es überhaupt unmöglich, unsere Vorstellung von einer notwendigen Verknüpfung zu rechtfertigen. Diese Vorstellung muß folglich eine Fiktion sein.“ (VII, 102) Dieser Schluß beruht nach Nelson auf der irrigen Annahme Humes, „metaphysische Erkenntnisse“ seien unmöglich, d.h. unmittelbare Er kenntnisse aus reiner Vernunft wie etwa die vom Kausalgesetz, Erkenntnisse, die zwar nur in ihrer Anwendung auf Fälle der Beobachtung ins Bewußtsein treten, dabei dann aber die Lücke schließen, die ohne diese Voraussetzung den Übergang von einzelnen Fakten zur Erkenntnis allgemeiner Naturgesetze verhindern müßte. So weist Nelson denn auch diejenigen Kritiker Humes ab, die gegen dessen Schluß einwenden, „daß wohl das spezielle Kausalurteil auf der Erfahrung beruhe, nicht aber der allgemeine Grundsatz der Kausalität“. Nelson antwortet: „Ohne diese allgemeine Voraussetzung hinzunehmen, kann ich kein bestimmtes Kausalurteil aus der Beobachtung ableiten. Nur ist hinzuzufügen, daß dies niemand besser gewußt hat als Hume. Es ist gerade sein Verdienst, uns als erster darauf geführt zu haben.“ (VII, 108) Trotz dieser Würdigung Humes versteht Nelson Induktionsschlüsse demnach als Erkenntnisschritte der Naturwissenschaft und rechtfertigt das, im Gegensatz zum Schlusse //168// Humes, damit, daß die Induktion sich eben nicht nur auf Beobachtungen stütze, sondern, wenn auch nur dunkel, dabei metaphysische Erkenntnisse geltend mache, Voraussetzungen nämlich wie die vom allgemeinen Kausalgesetz, von den Gesetzen der Erhaltung der Substanz und von durchgehender Wechselwirkung im Naturgeschehen. Die Berufung auf solche naturphilosophischen Prinzipien ändert aber nichts daran, daß die durch Induktion geleiteten Erfahrungswissenschaften dem gleichen Einwand ausgesetzt bleiben, um dessentwillen Nelson eine Begründung der Ethik auf Erfahrungsschlüsse als unmöglich zurückweist. Kein Induktionsschluß auf ein bestimmtes Kausalurteil wird dadurch logisch unausweichbar, daß außer den Beobachtungen, von denen er ausgeht, naturphilosophische Prinzipien unter seine Prämissen aufgenommen werden. Aus Beobachtungen an fallenden Körpern lassen sich auch unter Voraussetzung des Kausalgesetzes die Fallgesetze oder gar das Gesetz der Gravitation nicht logisch zwingend folgern. Das Kausalgesetz enthält ja keine Hinweise darauf, welche Erfahrungsdaten unter einander in kausaler Verknüpfung stehen und ob alle für eine kausale Erklärung wesentlichen Umstände unter den beobachteten Daten gegeben und also bekannt sind. Die Geschichte der Naturwissenschaften verrät deutlich, daß Induktionsschlüsse nicht logisch zwingend sind. Eben darum kommt es ja mit fortschreitender Erfahrung immer wieder einmal zu Umbruch und Revision, weil neue Erfahrungskenntnisse dazu nötigen,
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klassische Theorien zu revidieren, wenn oft auch nur so, daß sie als Grenzfälle unter einschränkenden Bedingungen erhalten bleiben. Und doch geht es in der naturwissenschaftlichen Induktion um die methodische Anwendung von Verknüpfungsvorstellungen a priori, nach denen kausale Erklärungen beobachteter Vorgänge aufgesucht oder substantielle Träger beobachteter Erscheinungen bestimmt werden. Es handelt sich dabei aber nicht um logische Folgerungen aus Vernunftprinzipien, sondern um Erfahrungsschritte nach Vernunftkriterien. Die dabei geltend gemachten Kategorien von Ursache und Wirkung, Substanz und Eigenschaft werden aufgefaßt in der sprachlich begrifflichen Rechenschaft des Menschen über seinen Umgang mit der Umwelt. Und das heißt: Sie kennzeichnen zwar nicht, was er in bloßer Wahrnehmung, wohl aber, was er im Reagieren auf seine Wahrnehmung auffaßt. Im lebendigen Reagieren //169// auf das, was mit ihm und um ihn herum geschieht, steht der Mensch in Beziehungen zu dieser Umwelt. Ehe ein Kind sprechen lernt und dabei die ersten begrifflichen Vorstellungen erwirbt, lernt es schon, zuzugreifen, etwas festzuhalten, zu krabbeln, sich auf etwas zuzubewegen; es tut etwas mit den Dingen, ertastet und schmeckt sie. Wenn ein Säugling die eigene Hand vor seinen Augen bewegt, kann es geschehen, daß er plötzlich vom schnellen Zappeln zum langsamen, noch unbeholfenen, erstaunt beobachteten Führen von Hand und Fingern übergeht. Der Betrachter merkt, daß das Kind eine Beziehung auffaßt zwischen dem, was es sieht, und der eigenen Zappelbewegung. Für ein Kind, das sprechen lernt, sind die Dinge seiner Umgebung vorwiegend gekennzeichnet durch das, was es mit ihnen machen kann. Was es mit ihnen vollzieht, das regt es an, sie zu benennen, sie zu denken, sie in ähnlichen Situationen wiederzuerkennen und so, bei wachsender Erfahrung, nach Verbindungen zwischen dem Beobachteten und dem Vorgestellten zu fragen. Zu den Beziehungen zu seiner Umwelt, an denen ein Kind teilhat, ehe es sie denken und sich vorstellen kann, gehört als eine der bedeutsamsten Kontakt und Zuwendung zur Mutter oder einer anderen ihm vertrauten Pflegeperson. Das Lächeln, mit dem es auf Anblick und Zuspruch antwortet, ist Ausdruck dieser von ihm aufgenommenen und erwiderten Beziehung. Für die gesunde Entwicklung des Kindes ist sie unerläßlich. Mit dem einen Erfahrungsbereich, der sich dem Kind erschließt durch sein Hantieren mit Dingen, ist daher eng der andere verbunden, der Beziehungen zum Mitmenschen umfaßt und ihm Anregungen einer eigenen Art gibt, auf die das Kind antwortet. Dieser Erfahrungsbereich ist es denn auch, in dem das Kind sprechen lernt, weil es angesprochen wird. Und wohl mit der Sprache erst lernt es, Beziehungen, in denen es lebt und die es selber vollzieht, begrifflich zu denken, sich die eigene Umwelt über das momentan Wahrgenommene hinaus vorzustellen und schrittweise begriffliches Wissen von ihr zu erwerben.
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Nun ist der Imperativ diejenige Sprachform, in der die fordernde Beziehung zum Mitmenschen begrifflich ausgedrückt wird. Die Erfahrung mit imperativen Beziehungen lehrt das Kind, die Bedeutung von Imperativen und ihre Funktion im Sozialkontakt mit anderen Menschen zu ver//170//stehen. Diese Funktion ist es, im zwischenmenschlichen Verkehr Willensentscheidungen des einen und des anderen aufeinander zu beziehen und in ein für die Beteiligten überschaubares Zusammenspiel zu bringen. Das aber wird ermöglicht durch die in einem Sozialverband sich herausbildende faktische Ethik, die eben diese Gruppe prägt und dem Zusammenleben in ihr Ordnung gibt. Schon das Kind hat an ihr teil, ehe es sie begrifflich denken kann; es nimmt sie an in dem Maß und in der Art, wie es seine Umwelt überhaupt annimmt, weil es und soweit es in ihr geborgen ist und die Zustimmung und Anerkennung derer erhalten möchte, die seine Bezugspersonen sind. Die als verbindlich verstandene Sozialordnung legt mit der sie bestimmenden faktisch geltenden Ethik auch fest, wie Menschen dieses Sozialbereichs im Verkehr miteinander mit Imperativen umgehen. Wie das Kind aus Erfahrung lernt, mit Dingen seiner Umwelt zu hantieren, so wächst es aus Erfahrung hinein in die sich ihm als verbindlich darbietende Ordnung gegebener sozialer Beziehungen. Nicht nur die Kenntnis von Naturzusammenhängen wird also durch Erfahrung erworben, sondern auch die von ethisch-relevanten Beziehungen in einer vorgegebenen Sozialordnung. Diese Ordnung gibt auch den auftretenden Imperativen je ihren besonderen Nachdruck, der von Frage, Aufforderung und Bitte bis zu Anweisung und Befehl variieren kann; der Imperativ wird „kategorisch“, wenn er im verbindlichen Charakter der geltenden Sozialordnung fundiert ist. Die Begründung der Ethik aus Erfahrung ist also, Nelsons grundsätzlichen Überlegungen zum Trotz, anscheinend doch möglich. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die philosophisch entwickelte Ethik, nach der Nelson fragt, sondern um die faktische Ethik, wie sie im Ordnungsgefüge eines Sozialverbandes vertreten und von den Menschen im Umgang miteinander vorausgesetzt wird. Nelson würde der Behauptung von der Erfahrbarkeit dieser Ethik gewiß entgegenhalten, die Erfahrung habe es hier wie auch sonst nur mit Fakten und Naturzusammenhängen zu tun, damit nämlich, daß Menschen ethische Anforderungen aneinander stellen und daß Geltung und Tradition herrschender ethischer Ansichten durch gesellschaftliche Einrichtungen geschützt und dem einzelnen nahegebracht werden; in der Ethik aber gehe es nicht um die Tatsache, daß Men//171//schen etwas für verbindlich halten und als verbindlich geltendmachen, sondern es gehe um das, was verbindlich ist und gelten soll, unabhängig davon, ob Menschen sich faktisch danach richten.
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Dieser Einwand verkennt aber, daß die den Menschen prägende Funktion der faktischen, der tradierten Ethik eben darin besteht, ethisch-rechtliche Vorstellungen und Überzeugungen zu aktivieren. In ihnen spricht sich das Pflicht- und das Rechtsbewußtsein eines Menschen aus. Das aus Erfahrung und Tradition gewonnene ethische Bewußtsein gilt den eigenen Pflichten und Rechten im Zusammenleben mit anderen; es ist kein kulturhistorisches Wissen von den in einer Gesellschaft tatsächlich vertretenen Wertüberzeugungen. Ein Kind lernt aus Erfahrung, welche Pflichten und Rechte ihm in Schule und Elternhaus zufallen, so wie es aus Erfahrung lernt, mit zerbrechlichen Dingen vorsichtig umzugehen und nicht ins Feuer zu greifen, weil das wehtut. Die kritische Philosophie unterscheidet zwischen spekulativer und praktischer Philosophie, zwischen spekulativer und praktischer Vernunft; demgemäß müssen wir auch spekulative und praktische Erfahrung einander gegenüberstellen, auch wenn beide im Alltagsleben weithin ineinandergreifen. Kausalurteile werden im Umgang mit Objekten gewonnen, im begrifflichen Verarbeiten von Erfahrungswissen. Sie werden nicht aus dem metaphysischen Gesetz der Kausalität erschlossen. Das Kausalgesetz selber ist kein Naturgesetz; es kann nur anleiten zu kausalem Denken und damit zu kritischer Überprüfung und methodischer Fortentwicklung des Erfahrungswissens. Ethisch-rechtliche Vorstellungen und Wertungen werden im Sozialverband gewonnen, im Aufnehmen und Verarbeiten der sich als verbindlich darbietenden Sozialordnung derjenigen zwischenmenschlichen Be ziehungen, in denen ein Mensch lebt. Sie werden nicht aus dem philosophisch begründeten Abwägungsgesetz erschlossen, sondern durch Tradition weitergegeben. Aber diese Tradition stößt immer wieder auf den Verdacht, nicht ethische Wahrheit weiterzugeben, sondern bestehende Machtverhältnisse der Kritik zu entziehen. Dieser Unsicherheit tritt die kritische Ethik entgegen mit ihrer Erörterung eines Vernunftprinzips, an dem sich ein solcher Verdacht überprüfen läßt. Das ist die Funktion des //172// von ihr erörterten Abwägungsgesetzes. Dieses kann und sollte zum Kriterium werden, an dem praktische Erfahrung geschult und gesellschaftliche Einrichtungen überprüft werden. Aber es bietet keinen Ersatz für die Tradierung einer sich als verbindlich darbietenden Sozialordnung; es hebt deren Verbindlichkeitsanspruch nicht etwa auf, sondern nennt nur Kriterien für dessen Überprüfung und damit für die kritische Modifikation und Weiterbildung der faktisch geltenden Ethik. Die Entwicklung einer kritischen Ethik führt demnach über die Erfahrung und damit über die faktische Ethik, wie sie sich in einem geschichtlichen Prozeß entwickelt hat. Die Besinnung auf die Bedeutung praktischer Erfahrung für die Ausbildung ethischer Überzeugungen nicht nur sondern auch rechtlicher Verhältnisse im menschlichen Zusammenleben gibt uns nun auch den Schlüssel für die Beurteilung
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und Abgrenzung von Rechtszwang und rechtlicher Freiheit. Die Begrenzung des rechtlich gebotenen Zwangs zugunsten der Freiheit, sich aus eigener Einsicht und eigenem guten Willen, ohne Zwang für das Gute zu entscheiden, sollte bestimmt werden im Hinblick auf den Stand sittlich-rechtlicher Bildung der Betroffenen. Es gilt, Verhältnisse anzustreben, die durch politische Einrichtungen, und somit durch Zwang, hinreichend festgelegt sind, um dem einzelnen Rechtssicherheit zu geben, und die doch auch hinreichend offen sind, damit der einzelne in praktischer Erfahrung Wert und Möglichkeit einer nicht erzwungenen Entscheidung für das Recht auffassen kann. Zwar bleibt es richtig, daß jede gewährte Freiheit mißbraucht werden kann und daß jede erzwungene Rechtsgeltung die Freiheit beschränkt. Aber weder unbeschränkte Freiheit noch strikte Verhinderung des Unrechts kann als Ziel gelten für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen. Wo die Grenze zwischen Rechtszwang und rechtlicher Freiheit gezogen werden sollte, das ist selber eine Frage an die Erfahrung – an die spekulative Erfahrung so gut wie an die praktische Erfahrung.
§ 4. Pflichtbewußtsein und Gerechtigkeitsliebe Auch bei Nelson findet sich ein, wenn auch nur versteckter Hinweis darauf, daß für Kritik und Revision der faktischen Ethik in erster Linie prak//173//tische Erfahrung ausschlaggebend ist, nicht philosophische Besinnung. Dieser Hinweis steht in Nelsons Theorie der Vernunft; er liegt darin, daß Nelson ethische Einsicht versteht als Äußerung eines Interesses, des „sittlichen Interesses“, wie er es nennt. In diesem Interesse sieht er nicht nur die Erkenntnisquelle, sondern auch den Bestimmungsgrund sittlichen Verhaltens. Er führt aus: „Wir haben die praktischen Vermögen unseres Geistes zu untersuchen. Praktisch ist, der unmittelbaren Bedeutung nach, das, was sich auf das Handeln bezieht. Das praktische Vermögen ist daher in engster Bedeutung der Wille. … Wir müssen auch die B es timmungsgründe des Willens untersuchen. … Damit eine Vorstellung zu einem Antrieb werden kann, muß zu der Vorstellung des Gegenstandes das hinzukommen, was man das Interesse an dem Gegenstand nennt.“ (IV, 344) „Was auf den Willen wirkt, ist immer ein Interesse.“ (IV, 346) Nelson charakterisiert den Bereich der Interessen durch das Merkmal der „Gegensätzlichkeit oder Polarität“. „Der Lust steht die Unlust gegenüber, dem Wohlgefallen das Mißfallen, der Neigung die Abneigung, der Freude das Leid. Diese Polarität ist für das Interesse wesentlich. Sie findet sich aber andererseits auch nur bei dem Interesse. Eben darum kann sie uns als ein Kriterium des Interesses dienen.“ (IV, 347) Das scheint zunächst eine sehr formale
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Charakterisierung zu sein, erweist sich aber als ausschlaggebend, wenn man den Unterschied ins Auge faßt, der besteht zwischen bloßen Werturteilen auf der einen Seite und, auf der anderen, dem eigenen Betroffensein von einem Wert, wie das für die Aktivierung des Willens erforderlich ist. Im Gegensatz zum Werturteil, das nur das Wissen um einen Wert ausspricht, schließt dieses Betroffensein die persönliche Stellungnahme ein, zum mindesten im Sinn einer Entscheidung zwischen gegensätzlichen Möglichkeiten. Das ist es, was in dem „polaren“ Charakter dessen zum Ausdruck kommt, was Nelson ein „Interesse im eigentlichen Sinn“ nennt und was er vom bloßen Werturteil abgrenzt. Er sagt darüber: „Wenn man das Moment des Wertens für die Bestimmung des Begriffs des Interesses als hinreichend ansieht, muß man auch das Werturteil als ein Interesse bezeichnen. Es wird aber dadurch über das Verhältnis des Werturteils zu den Interessen im engeren Sinn … nichts ausgemacht. … Wir wollen deshalb das Werturteil ein uneigentliches Interesse nennen, im Unterschied von den eigentlichen Interessen, das heißt denjenigen, //174// die nicht die Form eines Urteils haben. Der Grund, weshalb ich das Werturteil als ein uneigentliches Interesse bezeichne, liegt darin, daß das Kriterium der Polarität darauf nicht anwendbar ist.“ (IV, 35l f.) Zur Willensbestimmung bedarf es des eigentlichen Interesses. Das aber ist, im Gegensatz zum uneigentlichen Interesse, dem bloßen Werturteil, notwendigerweise ein singuläres Interesse; das heißt, es ist immer auf eine konkrete Situation bezogen, auf diejenige nämlich, die zur Stellungnahme herausfordert und den Willen anspricht. In dieser Abhängigkeit von der Anregung durch den jeweilig vorliegenden Fall zeigt sich der empirische Charakter jedes eigentlichen Interesses. Werturteile beziehen sich auf begrifflich bestimmte Klassen von Gegenständen oder Vorgängen. Selbst wenn nur ein einzelner Fall beurteilt wird, geschieht das doch durch seine begriffliche Bestimmung, nämlich durch Verwendung eines begrifflichen Kriteriums, dessen Gültigkeit in einem allgemeinen Werturteil aufgefaßt wird. Der Charakter des eigentlichen Interesses ist dagegen Stellungnahme zum konkreten Einzelfall. Selbst wenn diese Stellungnahme an begrifflich aufgefaßten Wertüberzeugungen orientiert ist, so sind solche Überzeugungen doch nur Anreger und Interpreten der in einem konkreten Fall vollzogenen Stellungnahme. Das Abwägungsgesetz, auf dem Nelson das System der Ethik aufbaut, ist nun gewiß ein allgemeines ethisches Urteil und somit nicht Ausdruck eines eigentlichen sittlichen Interesses. Seine Funktion kann daher auch nicht die sein, als Prinzip der Ethik die Erfahrung ethisch relevanter eigentlicher Interessen vorwegzunehmen oder gar zu ersetzen. Nur darum kann es sich handeln, dieser Erfahrung ein Kriterium an die Hand zu geben, das sie gegenüber mannigfachen Täuschungen und Verführungen zu schützen vermag. Das Abwägungsgesetz ist ein solches Kriterium.
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Im Gespräch mit Leonard Nelson
Das „sittliche Interesse“, dem Nelson die Einsicht in das Abwägungsgesetz zuschreibt, ist also nicht selber ein „eigentliches Interesse“. Wir haben es in ihm vielmehr mit einem Vermögen der Selbstkritik zu tun, die ihrerseits in Erfahrung geschult und entwickelt werden muß. Dabei geht es um den kritisch disziplinierten Umgang mit den eigenen ethisch relevanten eigentlichen Interessen. Die praktische Erfahrung, in der sich die den Willen bestimmenden eigentlichen Interessen entwickeln, kann selber kritisch überwacht und gelenkt werden auf Grund von ethischen Über//175//zeugungen, die als Werturteile zwar selber uneigentliche Interessen sind, die aber die sich bildenden eigentlichen Interessen in einen umfassenden Wertzusammenhang stellen und damit ihnen gegenüber Selbstkritik und Selbsterziehung ermöglichen. Wir sind fähig zur Kritik auch gegenüber der eigenen praktischen Erfahrung, und wir bedürfen dieser Kritik, weil diese Erfahrung mißleitet werden kann durch eigenes Wunschdenken und durch tradierte Vorurteile. Als Kriterium einer solchen Schulung und Selbsterziehung kann das Abwägungsgesetz verstanden werden. So aber hat Nelson es nicht eingeführt. In seinem „Versuch, dem Herrschaftsbereich der strengen Wissenschaft eine neue Provinz zu erschließen“, geht es ihm nicht um die kritische Weiterbildung der historisch realisierten Ethik, sondern um ein rein philosophisch begründetes, von dieser Tradition unabhängiges System der Ethik. Um zu ihm vorzudringen, abstrahiert er von den besonderen Umständen, unter denen jeweils in Einzelfällen die ethische Stellung nahme angeregt wurde, und sucht den zugrundeliegenden Anspruch der Vernunft für sich aufzufassen. Das aber ist der Schritt, durch den er die Untersuchung des „sittlichen Interesses“ einschränkt auf die einer „sittlichen Erkenntnis“, die in einem ethischen Grundsatzurteil adäquat wiedergegeben werden kann, dabei aber den Charakter des „eigentlichen Interesses“ verloren hat. Diese Abstraktion hat ihren guten Sinn, soweit es um die begriffliche Klärung ethischer Überzeugungen geht. Nelsons Anspruch, Ethik als praktische Wissenschaft zu entwickeln, ist damit aber noch nicht eingelöst. Nelson selber erklärt diesen Anspruch bei der Einführung in das System der Ethik: „Man kann die Ethik geradezu definieren als die praktische Wissenschaft. Denn praktisch ist, dem eigentlichen Wortsinn nach, das, was uns zu Entschlüssen verhilft, uns beim Handeln leitet. Und diesen Dienst, so sonderbar das auch klingt, kann uns keine andere Wissenschaft leisten als einzig und allein die Ethik, und zwar die reine philoso phische Ethik.“ (V, 29 f.) Dieser Dienst wird aber nur geleistet, wenn sich an die vermittelte ethische Einsicht ethisch relevante eigentliche Interessen anschließen, in denen sich ein Mensch das, was er als ethisch geboten eingesehen hat, als eigenes Anliegen – und das heißt: als eigentliches Interesse – zu eigen macht.
Gedanken zum Abwägungsgesetz165
//176// Ob und wie weit er es tut, ist Sache seiner praktischen Erfahrung, in der sich ja seine eigentlichen Interessen entwickeln. Darauf aber geht Nelsons philosophische Ethik nicht ein. Trotzdem aber enthält seine Gegenüberstellung von Ethik und Rechtslehre einen Hinweis darauf, welcher Art die Erfahrungsbereiche sein können, die für eine solche Entwicklung ethisch relevanter eigentlicher Interessen in Frage kommen. „Wir können dasselbe allgemeine Sittengesetz auf zweierlei Weise anwenden. Der Unterschied dieser beiden Anwendungsarten beruht auf dem Unterschied der beiden Momente, die wir an demselben Sittengesetz unterscheiden und die ich nenne: die Form und den Inhalt des Sittengesetzes. Die Form des Sittengesetzes ist das, was es zu einem Sittengesetz macht. Sein Inhalt ist das, was es zu diesem bestimmten Sittengesetz macht. Seiner Form nach bezieht sich das Sittengesetz auf den Willen des einzelnen, und aus dieser Beziehung entspringt die Möglichkeit einer Pflichtenlehre. Nun können wir aber von der Form des Sittengesetzes, d.h. von dieser Beziehung zum Willen des einzelnen, abstrahieren und allein auf den Inhalt des Sittengesetzes reflektieren. Dann erhalten wir das Rechtsgesetz.“ (VI, 42) Dieser Unterscheidung entsprechen nun auch verschiedene Bereich eigentlicher Interessen, mit denen Menschen reagieren können, wenn sie durch ethischrechtliche Urteile herausgefordert werden. Als Urteile über menschliche Pflichten appellieren diese an das menschliche Pflichtbewußtsein; als Aussagen über das, was geschehen soll, appellieren sie an ein in praktischer Erfahrung erworbenes Verständnis für Wert und Bedeutung ethisch-rechtlicher Regelung gesellschaftlicher Beziehungen. Sowohl das Pflichtbewußtsein wie das Rechtsbewußtsein kann, angesprochen durch die Herausforderung eines konkreten Falles, als ethisch relevantes eigentliches Interesse erfahren werden. Ein solches ethisch relevantes eigentliches Interesse nimmt die konkret vorliegende Pflicht als verbindlich an und gewinnt damit einen Antrieb auf den eigenen Willen, beziehungsweise es faßt das konkret aufgewiesene Recht einer Person als eigenes Anliegen auf. Darüber, ob sich ein solches auf den Willen wirkendes Pflichtbewußtsein oder ein solches konkretes Rechtsverlangen gegenüber anderen, ev. widerstreitenden Neigungen und Absichten durchsetzt oder aber von ihnen erstickt wird, ist damit natürlich noch nichts gesagt. Aber Pflichtbewußtsein oder Rechts//177//verlangen sind jedenfalls eigentliche Interesse – im Gegensatz zum bloßen ethischen Wissen um die Verbindlichkeit des Abwägungsgesetzes – und können als solche den Kampf mit widerstrebenden Neigungen aufnehmen. Das sind schon zwei Wege, die in konkreten Anwendungsfällen des Abwägungsgesetzes vom ethischen Wissen zum ethisch relevanten eigentlichen Interesse führen können. So sehr sie auf einander bezogen sind, so verschieden sind doch die Schwerpunkte, die sie menschlichem Bemühen um ethisch-rechtliche Willensent-
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Im Gespräch mit Leonard Nelson
scheidungen geben. Auch wenn es wohl kaum die „reinen Fälle“ gibt, in denen ein Mensch nur auf dem einen oder nur auf dem anderen Weg sich den Wahrheitskern des Abwägungsgesetzes zu eigen macht, so unterscheiden einzelne Menschen bzw. ganze Kulturen sich doch weitgehend dadurch, in welcher Art und mit welchem Gewicht Pflichtbewußtsein und Gerechtigkeitsliebe ethisch relevante eigentliche Interessen bilden, die das Leben des einzelnen bzw. das kulturelle Leben eines Sozialverbandes bestimmen. Die Kantische Philosophie hat den Grund gelegt zur kritischen Erörterung des Abwägungsgesetzes als eines „kategorischen Imperativs“ und damit des Grundprinzips der Pflichtenlehre; ihr Einfluß auf die faktisch geltende Ethik und Rechtsauffassung wird vielfach charakterisiert als das „preußische Pflichtbewußtsein“. Die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts leugnet zwar, gemäß den Lehren von Marx und Engels, weithin die Ethik als „höheres Blech“; sie verrät aber in ihren Ansprüchen und deren Begründung die eigene faktische Orientierung am Wahrheitskern des Abwägungsgesetzes, und zwar auf Grund eines eigentlichen Interesses am Durchsetzen von Rechten. Das sind gewiß Grenzfälle, in denen nur, sei es die imperative Form, seien es gewisse sonst mißachtete Ansprüche zur Richtlinie eigenen ethisch motivierten Strebens und Kämpfens gemacht wurden. Aber eben diese Grenzfälle können einen Eindruck geben von der Weite des Feldes, auf dem in praktischer Erfahrung vordringliche ethische Forderungen aufgefaßt und geltend gemacht werden können. Das geschieht jeweils im Rahmen einer historisch realisierten faktischen Ethik, und diese kann ihrerseits bestimmt sein durch Kritik an herrschenden Zuständen und an bisher mitgeschleppten Traditionen. Sie kann eben durch diese Konzen//178// tration auf bestehende Mängel selber wiederum einseitig werden und Ansprüche verkennen, wie sie aus anderweitiger praktischer Erfahrung und anderen weltanschaulichen Zugängen gewonnen worden sind. Wie und mit welchem Gewicht Pflichtbewußtsein und Rechtsverlangen im gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen als Momente an eigentlichen Interessen und kulturellen Bestrebungen wirksam werden, das ist eine Frage, die im Verlauf der Geschichte recht verschiedene Antworten gefunden hat und die sich immer wieder neu stellt. Nelsons Aussage, wonach der sittliche Wert einer Handlung nur entspringen kann „aus dem Verhältnis der Handlung zum Sittengesetz“ (V, 62), verkennt die Vielfalt ethisch relevanter eigentlicher Interessen, die eben nicht dem abstrakten Abwägungsgesetz gelten, sondern den konkreten Beziehungen zu anderen – zu Menschen oder auch zu Tieren –, mit denen wir in Kontakt sind. Es bedarf nicht der Drohung mit dem „absoluten“ oder „unendlichen Unwert“, um diese Interessen aufzurufen (V, 64), wenn auch gewiß die Besinnung auf die eigene Würde, der Nelson mit dieser Wer-
Gedanken zum Abwägungsgesetz167
tung Ausdruck gibt, in tiefgehenden Konflikten dem Pflichtbewußtsein und der Rechtsliebe zu Hilfe kommen kann. In den ethisch-rechtlich relevanten eigentlichen Interessen eines Menschen berühren sich Pflichtbewußtsein und Rechtsverlangen. Ihre Entwicklung bleibt ein offner Prozeß; er kann verstanden werden als die immer neue Herausforderung, die vom Abwägungsgesetz ausgeht und von daher ein Kriterium gewinnt für die ethisch-rechtliche Gestaltung des eigenen Lebens und seiner Sozialbeziehungen zur Umwelt. Vorwiegend geht es dabei wohl um zwei Gruppen von Fragen und Aufgaben: um die Aufgeschlossenheit für neue Bereiche sozialer Verantwortung, wie sie sich mit weitergreifenden Umweltkenntnissen und Umweltbeziehungen ergeben, und, zum anderen, um die Auseinandersetzung mit Werten, die anderen Menschen, Gruppen, Völkern und Kulturen am Herzen liegen, die aber zunächst nur schwer aus eigenen eigentlichen Interessen heraus verstanden werden können.
ERINNERUNGEN AN LEONARD NELSON
I.
Erster Abschnitt: 1921-1925*
Als ich Ostern 1921 zum Studium nach Göttingen kam, wußte ich nur wenig von Nelson. Mein ältester Bruder hatte im Winter vorher an einem Seminar bei Nelson teilgenommen und beschwerte sich nun darüber, daß Nelson noch glaube, die euklidische Geometrie sei die allein wahre Geometrie. Durch ihn hatte ich auch von dem Gespräch gehört, um dessentwillen ein Freund meines Bruders, T., sich geschworen hatte, Nelsons Übungen künftig zu meiden. T. hatte Nelson vor der für die Testate angesetzten Zeit gebeten, ihm den Besuch einer Übung zu bescheinigen. Nelson lehnte das ab: „Das ist nicht zulässig.“ T. verlegte sich aufs Bitten; er müsse schon abreisen, Nelson möge das Testat doch um einige Tage vordatieren. Nelson ließ sich nicht darauf ein: „Auch das ist nicht zulässig“. Da wandte T. sich wütend ab mit den Worten: „Dann verzichte ich auf Ihr Testat!“, worauf Nelson ruhig wiederholte: „Auch das ist nicht zulässig“. Wir lachten darüber. Das Ernstnehmen solcher positiven Vorschriften erschien uns ebenso seltsam wie meinem Bruder die Auszeichnung eines mathematischen Axiomensystems. Im Sommersemester 1921 hörte ich Nelsons Vorlesung „Typische Denkfehler in der Philosophie“. Die logische Schärfe der Vorlesung begeisterte mich, aber mein Urteil fiel im Wesentlichen negativ aus: „Wie eingebildet er ist! Er glaubt ja, die Wahrheit gepachtet zu haben.“ „Dieser Mensch glaubt tatsächlich, daß das, was er für wahr hält, auch wahr ist“, sagte ich zu meinem Vater, der in einer Vorlesung dabei gewesen war und sich hinterher erfreut und zustimmend geäußert hatte. Er ließ auch meinen Tadel nicht auf Nelson sitzen, sondern erklärte, Nelsons Verhalten beweise, daß hinter seinen Worten eine ehrliche Überzeugung stehe. Ich selber war zu jener Zeit von einer solchen ehrlichen Überzeugung weit //180// entfernt. Die Weltanschauung, die ich zu haben glaubte, bestand aus Fragezeichen. (Nachtrag aus dem Jahr 1973: Mein Vater hatte im Jahr 1921 nach langem religiös-weltanschaulichem Suchen und nach schweren persönlichen Erfahrungen mit dem bürgerlichen Leben gebrochen; er hatte sein Geschäft und sein ganzes Vermögen auf meine Mutter überschreiben lassen und zog nun, mit langem Haar und Bart, in Lodenjoppe, Kniehosen und Galoschen, als „Wanderprediger“, wie er * Aufzeichnung aus den Jahren 1928/1929. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. Herrmann und B. Neißer (Hrsg.), Grete Henry-Hermann: Sittlichkeit und Vernunft, Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41993-6_4
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Erinnerungen an Leonard Nelson
selber es nannte, umher oder lebte einsam meditierend für sich. Wir hatten ihn auf einem Sonntagsausflug in der Nähe von Göttingen getroffen, und er kam für einige Tage zu uns. In der Vorlesung bei Nelson saß er – gewiß eine auffallende Erscheinung im Hörsaal 16 – zwischen meinem Bruder und mir. Es fiel mir auf, daß Nelson, während er seine Gedanken vortrug, mit dem Blick wie in Serpentinen von oben nach unten über unsere Gesichter ging und sie miteinander verglich. Viel später hat Minna Specht mir erzählt, Nelson habe an jenem Abend berichtet: „Heute war der Vater von den Hermanns da“. Meines Vaters Urteil nach der Vorlesung war gewesen: „Endlich ein Mensch, der Ernst macht mit dem, was er erkannt hat“.) Im folgenden Winter hielt Nelson Übungen über Religionsphilosophie ab, an denen ich teilnahm. Die Besprechung der Teilnahmebedingungen war mir peinlich und ich ließ sie nur widerstrebend über mich ergehen. Pünktlichkeit, lautes Sprechen, regelmäßige Beteiligung an der Aussprache waren gewiß gute Dinge, und ich war auch bereit, sie mit größerer als der sonst üblichen Genauigkeit einzuhalten, wenn Nelson solchen Wert darauf legte. Aber warum mußten wir einen ganzen Abend lang darüber sprechen! Nur eine Bedingung, die Nelson stellte, fand meinen ungeteilten Beifall. Es war die Aufforderung, sich nie aus Furcht vor Blamage vom Antworten abhalten zu lassen. Für die erste Übungsstunde hatten alle Teilnehmer das Kapitel über die Quellen der Gewißheit aus „Julius und Evagoras“ gelesen. Nelson forderte auf, Fragen zu stellen. Ich meldete mich sofort: „Fries behauptet, jeder Mensch besitze unmittelbar eine religiöse Gewißheit. Wenn das richtig wäre, wenn religiöse Behauptungen also selbstverständlich wären, dann müßte es aber doch unmöglich sein, daß Menschen solche Behauptungen, z.B. die von der Unsterblichkeit der Seele, anzweifeln.“ „So, das //181// ist also Ihre Meinung!“ bemerkte Nelson freundlich und, wie mir schien, etwas belustigt. Ich erwartete nun, seine Meinung über diesen Punkt zu erfahren. Begreiflicherweise ist es dazu im ganzen Semester nicht mehr gekommen. Statt dessen unterhielten wir uns darüber, was „selbstverständlich“ bedeute und wie es mit der Möglichkeit des Zweifels an so selbstverständlichen Behauptungen bestellt sei wie denen, daß 2 • 2 = 4 ist und daß vor der Tafel ein Schwamm liegt. Von der Religionsphilosophie waren wir meiner Meinung nach meilenweit abgekommen. So kam es zu jener denkwürdigen Stunde, in der wir um die Existenz des Schwammes kämpften. Nelson stand vor der Tafel, hielt den Schwamm in der Hand und forderte uns auf, ihn anzusehen. Ich sah zu Boden und überlegte: „Beim Sehen habe ich eine Empfindung vom Schwamm. Wie komme ich nun dazu, anzunehmen, daß dieser Empfindung in mir ein Schwamm außer mir entspricht?“ „Hat einer der Anwesenden den Mut, das Experiment zu machen und den Schwamm anzusehen?“ Es folgten weitere philosophische Spekulationen. Nelson ließ sich auf
Erster Abschnitt: 1921-1925171
nichts ein, sondern hielt nur den Schwamm hoch, warf ihn auch mal in die Luft und fing ihn wieder auf. Endlich wurden einige stutzig. Was hat es mit dem Sehen auf sich? Nun guckten wir, und dann war mir plötzlich mit einem Schlag alles klar: Das Sehen ist nicht nur eine Empfindung, sondern eine unmittelbare Überzeugung von der Existenz des Schwammes! An jenem Abend habe ich begriffen, daß die äußere Wahrnehmung eine unmittelbare Erkenntnis ist. Bei aller Freude, die ich an solchen Untersuchungen und Entdeckungen hatte, kam im Lauf des Semesters, mir selber zunächst fast unbewußt, eine Angst in mir auf, eine Angst vor Nelson und seiner Art zu arbeiten. Woran lag das? Ich habe mir damals keine Rechenschaft darüber gegeben, ja mir kaum eingestanden, daß ich Angst hatte. Aber ich wehrte mich innerlich gegen Nelson, obwohl ich die Art zu argumentieren, zu der uns die Übungen führten, die Orientierung an naheliegenden Beispielen, die Schärfe der Begriffsbildung, gierig in mich aufsog und mir für mein eigenes Denken zunutze machte. Diese Denkmethoden wollte ich übernehmen, vor den Ergebnissen, zu denen Nelson durch sie gekommen war und die – das fühlte ich auch in diesen Übungen, in denen Nelson nicht seine eigene Meinung vortrug – mich zur Auseinandersetzung mit ihnen auf//182//forderten, fürchtete ich mich. Aus zwei Gründen: Ich glaubte nicht daran, daß die religiösen Wahrheiten, nach denen ich suchte, in ihnen zu ihrem Recht kämen, und ich fürchtete, daß mit ihnen die Ethik zu Ansprüchen an das Leben des Menschen gedrängt würde, die in Wahrheit nur der Religion zukämen. Wenn ich jetzt an jene Zeit zurückdenke, dann glaube ich, daß die Angst vor derartigen Ergebnissen, über die man sich doch, bei Einigkeit in der Methode des Philosophierens hätte verständigen können, noch einen tieferen Grund hatte, die Angst davor, daß die Auseinandersetzung mit Nelson mich vor die Alternative stellen würde: entweder die Hoffnung auf ein mit der eigenen Weltanschauung zusammen stimmendes religiöses Leben preiszugeben und außerdem unliebsame ethische Konsequenzen zu ziehen, oder die Methode des Philosophierens, von deren Sicherheit und Notwendigkeit ich überzeugt war, so wenig ich sie damals auch noch kannte, zu verraten. Durch Nelsons Herausforderungen habe ich es allmählich gelernt, mir Schritt für Schritt den Mut zur Wahrheit zu erkämpfen, der dazu gehört, sich einer als zwingend anerkannten Denkmethode nun auch rücksichtslos im eigenen Denken anzuvertrauen. Zunächst mied ich Nelson allerdings zwei Jahre lang. Im Sommer 1922 wollte ich den Theologen Karl Barth hören; dadurch wurde ich daran verhindert, Nelsons Übungen zu belegen, die ich – mit einem gewissen Gefühl der Erleichterung – von meinem Stundenplan strich. Dann studierte ich zwei Semester in Freiburg, und, als ich wiederkam, las Nelson gerade den dritten Teil der Geschichte der Metaphysik.
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Erinnerungen an Leonard Nelson
Ich war in den ersten Stunden da, merkte aber, daß ich nicht hineinkam und blieb dann weg. Im Sommer 1924 las Nelson über das System der Ethik. Ich hatte inzwischen begriffen, daß die Fragen der Religionsphilosophie, wenn man sie ernst nimmt, auf die Ethik verweisen. In meinem Hunger nach einer gesicherten Weltanschauung war ich also angewiesen auf eine Auseinandersetzung mit der Ethik. Ich hoffte aber, neben der Ethik-Vorlesung bei Nelson Übungen über ein weniger aktuelles Thema, am liebsten über Logik, mitmachen zu können. In der ersten Vorlesungsstunde wurde besprochen, daß regelmäßig Aussprachen zur Vorlesung stattfinden sollten. In der Pause nach dieser Stunde ging ich zu Nelson und erkundigte mich nach den Übungen, die er //183// am schwarzen Brett in Aussicht gestellt hatte. Zu meinem Erstaunen kannte er mich noch: „Sie sind doch Fräulein Hermann, wir kennen uns ja“. Dann erkundigte er sich nach dem Thema, das ich für die Übungen wünschte. „Ich möchte am liebsten über logische Fragen sprechen.“ Nelsons Gesicht ließ deutlich erkennen, daß er nicht einverstanden war. „Es ist ja noch fraglich, ob sich für die Übungen genügend Teilnehmer finden. Und dann haben wir ja nun auch die Aussprachen zur Vorlesung. Beteiligen Sie sich doch da!“ Ich fühlte, daß ich diese Herausforderung annehmen mußte, nahm mir aber vor, in der Vorlesung wie ein Schießhund aufzupassen, ob Nelson nicht an irgendeiner Stelle die Kraft oder die Moralität des Menschen überschätzte und sich dadurch den Zugang zur religiösen Frage verbaute. Wo ich etwas derartiges merkte, wollte ich es wagen, in den Aussprachen diesen Punkt anzugreifen. Ich machte mehrere Versuche in dieser Richtung. Den ersten nach der Unterscheidung von Pflichten und Idealen, die ich für eine Verwässerung des kategorischen Imperativs hielt. „Was für eine Anforderung soll das Ideal nun eigentlich sein?“ fragte ich, „ein kategorischer Imperativ kann es nicht sein; denn sonst wäre es eine Pflicht; ein hypothetischer Imperativ kann es aber ebenso wenig sein; denn sonst wäre es überhaupt keine ethische Anforderung. Eine andere Möglichkeit gibt es aber nicht.“ Nelsons Gegenfrage lautete einfach: „Wo steckt der Fehler?“, worauf Gysin die Disjunktion zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen für unvollständig erklärte, was mir absurd vorkam. Aber dann führte die Diskussion in wenigen Zügen zur Unterscheidung der beiden Gegensatzpaare: „kategorisch – hypothetisch“ und „Imperativ – Optativ“. Das genügte, mich zu beruhigen; an diesem Punkt lag der vermutete Fehler nicht. – Ganz ähnlich ging es mir bei meinem nächsten Versuch, in dem ich Nelsons Behauptung der Unmöglichkeit von Pflichtenkollisionen angriff. Ich überzeugte mich in der Diskussion rasch, daß Nelsons Überlegungen begründet waren. Erst gegen Schluß des Semesters hatte ich den entscheidenden Punkt gefunden: Die Stiftung der moralischen Bereitschaft ist Pflicht. Wer diese Pflicht erfüllt hat,
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kann garantieren, daß in seinem Leben keine Pflichtverletzungen mehr vorkommen. Eine solche Garantie kann aber ehrlicherweise kein Mensch übernehmen; denn niemand weiß, in welche Versu//184//chung zur Pflichtverletzung er noch kommen wird und ob seine moralische Kraft diesen Versuchungen gewachsen sein wird. Also ist es anscheinend unmöglich, das Gebot des Charakters zu erfüllen, wenn man sich nicht etwa mit einer schrittweisen, in der Natur aber nie abgeschlossenen Annäherung begnügt. Ich brachte mein Bedenken vor in der Frage: „Ist es möglich, das Gebot des Charakters in einem einmaligen Willensakt endgültig zu erfüllen?“ „Sind sonst noch Fragen da?“ erkundigte Nelson sich. Gysin fragte nach den Grenzen, innerhalb deren das Verbot der Lüge gilt. „Nun, die Frage ist ja viel einfacher als die vorhin gestellte“, meine Nelson. Daraufhin sprachen wir zwei Stunden lang über die Lüge, obwohl ich der Meinung war, daß Nelsons Urteil eher für die Behandlung meiner Frage gesprochen hatte. Ich langweilte mich und war ärgerlich. Die nächste Übungsstunde: „Wer hat eine Frage?“ „Kann man das Gebot des Charakters in einem einmaligen Willensakt endgültig erfüllen?“ „Ja, das haben Sie schon voriges Mal gefragt. Liegen noch andere Fragen vor?“ Nach einigem Schweigen: „Es ist doch in der Vorlesung vieles behandelt worden, worüber wir nicht gesprochen haben.“ Irgend jemand stellte eine, wie mir schien, nebensächliche Frage. Wir sprachen zwei Stunden lang darüber. Eine Woche später: „Hat jemand eine Frage?“ „Er will nicht“, sagte ich mir wütend – und schwieg. Warum hat Nelson die Frage nicht behandeln wollen? Sah er die Schwierigkeiten voraus, in die wir damit unbedingt hineingeraten wären, und wollte er sie vermeiden? Damals glaubte ich, Nelson habe gekniffen, obwohl ich das schlecht vereinigen konnte mit dem, was ich von ihm kannte. Heute sehe ich eine andere, glaubwürdigere Erklärung. Nelson hatte in jener Zeit in der Vorlesung über die Pflichten gegen Tiere gesprochen. Diese Stunde ist mir noch genau im Gedächtnis. Es herrschte ein bedrücktes und wohl etwas verlegenes Schweigen, als Nelson mit aller Kraft und Schärfe den Vegetarismus forderte. Mir war unbehaglich zumute, und ich versuchte, diese konkrete, mit den mich interessierenden Fragen anscheinend gar nicht zusammenhängende Forderung als Übertreibung ohne weitere Prüfung abzuschieben. Nelson wird wohl auf den meisten Gesichtern eine Ablehnung seiner Lehre gelesen haben. Aber in den Aus//185//sprachen hat keiner auch nur andeutungsweise zu dieser Frage Stellung genommen. Ich wußte genau, daß Nelsons Hinweis auf all das, was in der Vorlesung behandelt, in den Übungen aber noch nicht besprochen sei, sich auf die Vegetarismus-Vorlesung bezog; aber darüber wollte ich nicht sprechen. Es ist verständlich, wenn Nelson unter
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Erinnerungen an Leonard Nelson
diesen Umständen keine Lust hatte, sich auf die Diskussion schwieriger ethischreligionsphilosophischer Fragen einzulassen. Aus dem Kreis der Barth-Schüler hatte ich eine Reihe von Theologen zur Teilnahme an der Ethik-Vorlesung und an den Aussprachen aufgefordert; ich wollte sie zur Auseinandersetzung mit Nelson veranlassen. Zwei oder drei Studenten willigten ein. Aber nach der ersten Übungsstunde war bereits alles vorbei. Wir hatten Beispiele gesucht für kategorische Imperative, die in hypothetischer Form auftreten, und fragten in diesem Zusammenhang nach einer Bedingung, durch die wir die offenbar zu weit gehende Forderung: „Du sollst nicht töten!“ einschränken müßten, um ihr den richtigen Anwendungsbereich zu sichern. Einer meiner BarthBekannten verstieg sich zu dem Satz: „Wenn Du ein Christ bist, sollst Du nicht töten!“ Nelson: „Na, dann tritt man eben so lange aus, wie man töten will.“ Damit war die Diskussion ein für allemal erledigt. Noch eine andere kleine Episode aus jener Zeit: In einer Pause zwischen zwei Vorlesungsstunden kam eine Studentin zu mir und erzählte – sichtlich mit innerem Widerstreben –, sie komme mit einigen Mathematik-Vorlesungen, die sie höre, nicht zurecht, und Nelson meine, sie solle irgendeinen ihr bekannten Mathematiker um Hilfe bitten. Da habe sie nun an mich gedacht, und Nelson wolle mich auch schon darum bitten. „Was hat bloß Nelson immer damit zu tun?“, dachte ich ärgerlich, „das können wir doch wirklich allein abmachen!“ Wir verabredeten die Zeiten, in denen jene Studentin zu mir kommen konnte. – Nach Schluß der Vorlesung kam Nelson auf mich zu, um mich noch einmal um eine solche Verabredung mit ihr zu bitten. – Ausgenutzt hat sie die getroffene Verabredung kein einziges Mal. Sie blieb fort mit ganz nichtigen Entschuldigungen; später wurde sie krank. Ich sagte mir: „Welchen Druck muß Nelson auf sie ausgeübt haben, daß sie ihm – offenbar gegen ihre Neigungen – scheinbar folgt, um sich dann hinter seinem Rücken seiner Forderung zu entziehen!“ Einem solchen Zwang hätte ich mich nicht gefügt. //186// Im folgenden Winter kamen wir zur Pädagogik. Nelson hielt dieses Mal keine regelmäßigen Diskussionsstunden ab, sondern schob nur hin und wieder, wenn gerade wichtige Fragen vorlagen, eine Aussprache ein. Mein Versuch, zu einer entscheidenden Auseinandersetzung mit Nelsons Gedanken zu kommen, war nach dem letzten, mißlungenen Ansatz in der Ethik-Übung wieder eingeschlafen. Die Aussprachen waren daher nicht mehr so beunruhigend für mich. Aufrüttelnd aber wirkte die Stunde, in der Nelson über Autoritätserziehung sprach. Ich war wie gebannt von der Wucht, mit der Nelson Schritt für Schritt seinen Gedanken aufbaute und seinen Gegnern jede Grundlage entzog, und ich verließ den Hörsaal mit dem Gefühl: „Da ist etwas zerschlagen worden so gründlich, daß auch nicht ein Stein auf dem andern geblieben ist.“
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Gegen Schluß dieses Semesters meldete ich mich zum Doktorexamen und bat, in Philosophie, meinem einen Nebenfach, von Nelson geprüft zu werden. Die Bitte wurde abgeschlagen mit dem Hinweis, Nelson habe als außerordentlicher Professor nicht das Recht, im Doktorexamen zu prüfen; ich müsse darum zu Ach, dem Psychologen, ins Examen. Schüchtern, wie ich Paragraphen gegenüber war, begab ich mich noch am selben Nachmittag zu Ach, um mich ihm als Examenskandidatin vorzustellen. Ich teilte ihm mit, daß mein philosophisches Studium in der Hauptsache den Gedanken von Kant und Fries gegolten habe. „Mit andern Worten: Sie hatten damit gerechnet, zu Nelson ins Examen zu kommen!“ erklärte Ach und diktierte mir eine Menge experimentalpsychologischer Bücher, die ich in den sechs Wochen bis zum Examen durcharbeiten sollte. Ich zog verzweifelt ab und klagte meiner Doktormutter Emmy Noether meine Not, die sofort die Angelegenheit in ihre energischen Hände nahm und beim Dekan durchsetzte, daß Nelson prüfen solle, allerdings nur im Beisein von Ach. Nelson ging auf diese Bedingung ein unter der Voraussetzung, daß er allein prüfen und Ach nur zuhören würde. Kurz vor dem Examen ging ich während einer Vorlesungspause zu Nelson, um ihm zu sagen, was und wie ich gearbeitet hatte. Ich nannte wieder Kant und Fries. „Aha, Sie haben im vorigen Winter meine Vorlesung über Fries gehört?“ Zögernd verneinte ich. „Um so besser“, rief Nelson, „da haben Sie sich allein damit beschäftigt.“ Das kam mir ganz unerwartet. Im übrigen schien es Nelson gleichgültig zu sein, was ich von Kant und Fries //187// wußte; er erkundigte sich nach anderen Dingen: „In den ersten Übungen, die Sie mitmachten, vertraten Sie einen völlig skeptischen Standpunkt. Ist es mir damals eigentlich gelungen, Sie davon abzubringen?“ Dann erkundigte er sich nach meinen gegenwärtigen philosophischen Interessen. „Sie interessieren sich doch für Religionsphilosophie; Sie verkehren ja viel bei Barth. Darüber können wir uns im Examen unterhalten. Sind Sie einver standen?“ Ich spürte die Herausforderung und sagte zu; aber schon auf der Treppe stieg das Gefühl in mir hoch: Wäre es nicht besser gewesen, bei Ach zu bleiben und ein langweiliges und braves Examen zu machen, als sich gerade auf diese Auseinandersetzung einzulassen? – Es war immer noch die alte Furcht, daß mein Ringen mit den Theologen, vor allem mit Barth, von dem ich im Grund meines Herzens eine positive Lösung religiöser Fragen erhoffte, sich bei einer Aussprache mit Nelson als unsinnig herausstellen werde, und daß mir dann nichts anderes in den Händen bliebe als Ethik. Der Gedanke, Ach in Kauf zu nehmen, um dieser Aus einandersetzung mit Nelson zu entgehen, war wie ein Scheinwerfer, der mir diese Furcht aufzeigte. Ich schämte mich und beschloß auf einem langen Spaziergang, Nelson gegenüber im Examen den Nachweis zu führen, daß der theologischen Arbeit eine philosophisch berechtigte und bedeutsame Frage zugrunde liege.
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Erinnerungen an Leonard Nelson
Am Tag vor dem Examen stand ich morgens gegen 9 Uhr am Fenster von Hörsaal 15 und sah auf den Platz vor der Universität herunter. Ich wartete auf Emmy Noether, die gleich zur Vorlesung kommen mußte. Plötzlich ging eine Bewegung durch die vor dem Gebäude stehenden Studenten – Theologen, die um Barth herum standen –; sie grüßten jemanden, den ich nicht sehen konnte. Barths Schlapphut flog besonders tief und machte wie sein Träger einen höchst erstaunten Eindruck. Ich beugte mich vor, um den Gegenstand dieser Unruhe zu entdecken: Emmy Noether und Nelson kamen von der Weenderstraße her auf das Auditorium zu. Nelson zu dieser Tageszeit! Mir schwante nichts Gutes, und ich ging den beiden auf den Korridor entgegen. „Da ist sie ja“, empfing mich Emmy, und Nelson belegte mich gleich mit Beschlag. „Fräulein Noether entschuldigt Sie von der Vorlesung. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.“ Er war sehr aufgeregt. Er hatte die Nacht durchgearbeitet und dann gegen Morgen meine Examensakten angesehen, aus denen er entnahm, daß er sich //188// mit Ach in die für Philosophie angesetzte Prüfungszeit teilen sollte. Daraufhin war er losgegangen, um mich in meiner Wohnung zu treffen, war unterwegs der Emmy begegnet, die ihm sagte, ich wäre wohl schon im Auditorium. Nun standen wir oben im Dozentenzimmer der Mathematiker; Courant, der Mathematiker, hatte sich noch dazu gefunden und ließ sich die Geschichte erzählen. Nelson lief mit großen Schritten vor dem Podium auf und ab und schrie, er lasse sich das nicht gefallen, er verzichte überhaupt auf die Prüfung! Courant stand vor der Tafel, machte kleine, elastische und beschwichtigende Handbewegungen und suchte – unter Assistenz von Emmy Noether –, Nelson zu beruhigen und von radikalen Maßnahmen abzuhalten. Ich lehnte an der Tür und hatte eine Heidenangst: Seit fünf Wochen hatte ich keins der von Ach empfohlenen Bücher mehr angesehen. Wie sollte es werden, wenn ich nun doch zu ihm ins Examen mußte, weil Nelson streikte? „Ich gebe es Ihnen schriftlich, daß ich Ihnen auch ohne Examen in Philosophie ‚sehr gut‘ gebe. Wenn man mich auch nicht zur Prüfung zuläßt, so wird man doch an einem solchen Gutachten von mir nicht völlig achtlos vorübergehen!“ erklärte Nelson. Courant zog ein skeptisches Gesicht, auch mir war bei dieser Lösung nicht wohl zumute. Noch lange, als Courant und Emmy Noether schon in ihren Vorlesungen waren, gingen Nelson und ich auf dem Korridor auf und ab. „Es ist doch nicht schlimm, wenn Sie zu Ach ins Examen kommen. Sie müssen nur nicht meinen, Sie sollten richtige Antworten geben. Nehmen Sie Ach doch ordentlich hoch! Das ist doch Unsinn, was er treibt: Die Willensfreiheit hat er experimentell nachgewiesen!!“ Ich wies darauf hin, daß ich den Dekan so verstanden hätte, nur Nelson solle prüfen und Ach nur zuhören. Vielleicht beruhe Nelsons Auffassung auf einem Mißverständnis. Darauf verlangte Nelson, ich solle am nächsten Tag noch einmal zum Dekan gehen, mich darauf berufen, daß mir zugesagt sei, Nelson werde allein prü-
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fen. Ich solle erklären, daß Nelson andernfalls nicht prüfen werde, und ich solle die Einhaltung der mir zugesicherten Regelung verlangen. „Trauen Sie sich zu, daß Sie das durchsetzen?“ „Ich glaube nicht.“ „Lernen Sie das, dann haben Sie durch dieses Examen wirklich etwas gewonnen.“ Am Abend dieses Tages fand ich zu Hause eine Notiz von einer Mitar//189// beiterin Nelsons vor: „Nelson läßt Ihnen sagen, daß er morgen auf alle Fälle Ihre Prüfung abhalten wird. Er läßt Ihnen das aber nur zu Ihrer Beruhigung mitteilen und erinnert Sie daran, daß Sie beim Dekan in der verabredeten Weise vorstellig werden sollen, daß Sie also darauf hinweisen, daß Nelson die Prüfung verweigert, wenn er nicht die für Philosophie angesetzte halbe Stunde allein prüfen darf. Nach dieser halben Stunde möge Ach tun, was er für recht hält.“ Die Aussprache mit dem Dekan verlief am nächsten Morgen kurz und schmerzlos. Es war in der Tat vorgesehen, daß Nelson allein prüfen solle. Mündliches Examen bei Nelson: Er lehnte sich im Stuhl zurück, schlug ein Bein über das andere und fragte freundlich und ermunternd: „Na?“ Da ich nicht anbiß, kam – nach einigen Vorfragen – die Aufforderung: „Nun erzählen Sie mir mal etwas über die Theologie Karl Barths.“ Darauf erklärte ich, das nicht tun, sondern statt dessen lieber auseinandersetzen zu wollen, was ich an Barths Fragestellung für vernünftig halte. Zu diesem Zweck ging ich aus von der Lehre vom formalen Idealismus, die ich von Kant übernommen hatte und für völlig gesichert hielt. Die halbe Stunde verging damit, daß unter Nelsons kurzen Gegenfragen die Voraussetzung vom formalen Idealismus für mich als Dogma zusammenbrach. Ähnliche Schwierigkeiten, wie sie bei meinem Examen aufgetreten waren, wiederholten sich in den nächsten Wochen bei anderen Kandidaten. Wei und Düker machten ihr Doktorexamen; in beiden Fällen prüfte Nelson, aber Ach pochte auf sein Recht, als Ordinarius diese Prüfungen zu überwachen. Schließlich riß Nelson die Geduld. Bei dem nächsten Examenskandidaten, der von ihm geprüft werden wollte, weigerte er sich im letzten Augenblick, zu erscheinen: es sei unnötig, daß er und Ach dasäßen; Ach möge prüfen. Gerade in diesem Fall war aber auch Ach nicht erschienen, und so prüfte – zum Gaudium der anwesenden Mathematiker – Courant in Philosophie. Emmy Noether, die sich bei jeder Gelegenheit für Nelson eingesetzt hatte, war verzweifelt und ärgerlich: „Dadurch, daß er von der Prüfung einfach weg bleibt, verdirbt er sich noch alles!“ In der Tat wurde bald darauf in einer Fakultätssitzung beschlossen, daß nur noch ordentliche Professoren Nebenfächer im Doktorexamen prüfen dürften. Nelson war zu Emmy Noethers Ärger nicht in der Sitzung gewesen. „Erzählen Sie es ihm nur,“ sagte sie zu mir, „jetzt gilt: Wissenschaft ist, wenn //190// ein ordentlicher Professor dafür da ist! Aber warum kommt Nelson auch nicht selber in die Versammlung. Nun können wir nichts mehr
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für ihn tun. Sagen Sie ihm das!“ Dann folgte noch die Bitte, niemandem sonst von der Sitzung zu erzählen; denn die Fakultätssitzungen seien vertraulich. Als wir uns nach den Osterferien 1925 wieder trafen, begrüßte Nelson mich mit den Worten: „Na, haben Sie sich von den Anstrengungen des Examens erholt?“ Ich stöhnte ein wenig darüber, daß mir ein neues Examen bevorstehe, das Staatsexamen, zu dem ich mich gleich in den nächsten Wochen melden wollte. „Aber das ist doch nicht schlimm,“ meinte Nelson wegwerfend, „da werden Ihnen ja nicht wieder diese formalen Schwierigkeiten gemacht.“ Es ging aber doch nicht ohne solche Schwierigkeiten ab. Auf meine Meldung hin wurde ich zunächst an Nohl verwiesen. Dieses Mal lief ich nicht unmittelbar zu dem mir angegebenen Prüfer, sondern versuchte, erst Nelson zu treffen, und ging nach Nikolausbergerweg 61, dann nach 67. Dort erfuhr ich, Nelson sei für eine Woche verreist, aber sein Vater sei da. Erste Begegnung mit Vater Nelson! Er kam an die Tür, erkundigte sich nach meinem Anliegen und redete dann lebhaft und beruhigend auf mich ein: ich solle mir gar keine Sorgen machen, sein Sohn werde die Sache schon in die Hand nehmen, und was der angreife, das käme in Ordnung. Da solle ich nur ganz ruhig sein; denn sein Sohn werde es bestimmt schaffen. Er schaffte es auch. Er ließ Nohl durch mich bitten, auf die Prüfung zu verzichten und ihn statt dessen vorzuschlagen, da ich bei ihm studiert habe. Sowohl Nohl, dem nichts daran lag, eine ihm unbekannte Studentin zu prüfen, wie das Prüfungskomitee gingen sofort auf den Vorschlag ein. Damit war die Frage fällig nach dem Thema der philosophischen Arbeit, die ich zum Examen anzufertigen hatte. In einer kahl eingerichteten Stube von 67 verhandelten wir darüber. „Ich möchte die Paradoxien der Mengenlehre bearbeiten“, schlug ich vor. Nelson war nicht einverstanden. „Ihre Doktorarbeit war schon so abstrakt und formal-logisch. Da sollten Sie nun ein inhaltlich bedeutsames Thema wählen. Sie geraten sonst in die Gefahr, nur noch zu schließen, aber nicht mehr selber zu urteilen. Sie dürfen die Urteilskraft nicht vernachlässigen, und das ist etwas //191// anderes als der Verstand. Nehmen Sie ein Thema aus der Religionsphilo sophie; dafür interessieren Sie sich ja.“ Er ließ mir Zeit zum Überlegen, nannte mir die Arbeiten von Bernays und Kowalewsky über den transzendentalen Idealismus; ich solle sie lesen, um zu sehen, ob ich da anknüpfen könne. Einige Tage später trafen wir uns abends auf dem Nikolausbergerweg, an der Ecke des Wäldchens. Ich erzählte Nelson, daß ich die Arbeiten von Bernays und Kowalewsky mit großem Interesse gelesen hätte und ein Thema aus diesem Gebiet bearbeiten wolle. „Schön,“ sagte Nelson, „dann sagen wir einfach: ‚Über den transzendentalen Idealismus‘. Da können Sie machen, was Sie wollen!“
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Das Eingehen auf Nelsons Vorschläge hatte mich auch dieses Mal einen spürbaren inneren Ruck gekostet. Hier galt es, durch eigene Arbeit zu den mich beschäftigenden religionsphilosophischen Fragen selber Stellung zu nehmen, statt nur, wie ich es im Kreise Barths und seiner Schüler getan hatte, die dogmatische Stellungnahme anderer zu kritisieren oder, wie im Versuch, Nelson zu provozieren, diesem meine Fragen vorzulegen. Daß ich an diese Arbeit nur mit dem Werkzeug der kritischen Methode, soweit ich es damals beherrschte, herangehen konnte, war mir von vornherein klar. Während dieser Staatsexamensarbeit habe ich viel gelernt. Den stärksten Eindruck machten zwei Entdeckungen auf mich. Die erste überraschte mich bereits in den ersten Wochen: Die alte Angst, ich würde mir den Zugang zu den religiösen Werten verbauen, wenn ich mit den Anforderungen der wissenschaftlichen Philosophie Ernst machte, löste sich von selber, nun ich ihr zum ersten Mal wirklich ins Auge sah. Ich sagte mir: Was dem ruhigen, methodisch sicheren und vorurteilsfreien Denken nicht standhält, kann kein wirklicher Wert sein; und umgekehrt: was mir von jeher mit gefühlsmäßiger Sicherheit als wertvoll erschienen war, das war offenbar durch eine – vielleicht noch fast völlig dunkle – Erkenntnis aufgefaßt worden. Es mußte möglich sein, diese Erkenntnis als solche aufzuweisen. Während der Bearbeitung meines Staatsexamenthemas gelang es mir, die ersten Schritte in dieser Richtung zu tun. Und dabei kam ich zu der zweiten Entdeckung: Es gelang mir nicht, in Nelsons Büchern oder in meinen Nachschriften seiner Vorlesungen eine //192// Stelle zu finden, die ich auf Grund eigener religionsphilosophischer Gedanken als falsch ablehnen mußte. So kritisch ich mir auch die „Kritik der praktischen Vernunft“, vor allem den Abschnitt über die Postulate ansah, das Ergebnis war immer: „Wenn ich das, was Nelson sagt, genau nehme, dann ist es vereinbar mit den religionsphilosophischen Überlegungen, auf deren Sicherstellung es mir ankommt; ja, dann birgt es den Ansatz dazu unweigerlich in sich.“ Trotzdem glaubte ich nicht, daß ich in diesen Fragen mit Nelson einig sei. Ich war überzeugt, daß Nelsons Weltanschau ung in den Einsichten der Ethik gipfele, nach denen der Mensch, sofern er sich nur einmal zur moralischen Bereitschaft entschlossen habe, über alle Versuchungen und Anfechtungen triumphieren könne. Für mich stand demgegenüber das Bewußtsein um die Unvollkommenheit und die Schuld im Vordergrund, von der sich der Mensch in der Natur nicht befreien wird und die ihn eben darum zur religionsphilosophischen Frage nach dem Sinn, ja nach der Möglichkeit dieser Situation zwingt. Ich benutzte den zweiten Teil meiner Arbeit lediglich dazu, diesen Standpunkt so scharf wie möglich herauszuarbeiten, um Nelsons Protest, den ich unerwarteterweise in seinen Büchern nicht fand, jedenfalls fürs Examen herauszu fordern.
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Woher kam es, daß die Arbeit am Staatsexamensthema für mich so viel fruchtbarer wurde als alles Nachdenken und Diskutieren, das ich vorher der Religionsphilosophie gewidmet hatte? Nur dadurch, daß es Nelson gelungen war, mich durch seine gelegentlichen kurzen Fragen und Bemerkungen „zur Freiheit zu zwingen“ – wenigstens auf diesem einen Gebiet. Im Sommersemester 1925, in dem ich mit dieser philosophischen Exa mensarbeit begann, hielt Nelson Übungen ab über den „Spuk“1. Es waren die ersten Übungen bei Nelson, denen ich mit ungetrübtem Vergnügen folgte und auf die ich mich von Woche zu Woche freute. Herrlich war es, sich durch die Ironie und den Witz, mit denen Nelson unklare oder abwegige Antworten auffing, allmählich zu klarem Überblick über logische Ver//193//hältnisse und die Quellen naheliegender logischer Fehler hindurchzuarbeiten. Einige Einzelheiten aus diesen Übungen: Ich glaubte, Nelson einen logischen Schnitzer im „Spuk“ nachweisen zu können. Gegen den fingierten Einwand, Spengler bestreite den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, folglich sei es unzulässig, in der Kritik ihm gegenüber diesen Satz ohne weiteres anzuwenden – wie Nelson es in seiner Kritik tut –, argumentiert Nelson: Wer daraus, daß der Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht gesichert ist, darauf schließt, es sei falsch, ihn als gesichert vorauszusetzen, der nimmt an, daß mit der Anerkennung eines Urteils zugleich die Ablehnung seiner Negation gegeben sei; er benutzt also selber den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, den er doch gerade in Zweifel gezogen hat. Ich wandte ein: In dem fingierten Einwand ist nicht der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, sondern der vom Widerspruch verwandt worden, und es ist denkbar, daß jemand den Satz vom ausgeschlossenen Dritten preisgibt, aber an dem vom Widerspruch festhält; Brouwer tut das. Nelson hörte sich diese Kritik an und sagte dann: „Nun ja, aber wir wollen uns doch nicht in solche logische Tüfteleien verlieren; das ist nicht interessant.“ Angesichts der logischen Strenge, mit der Nelson sonst vorzugehen pflegte, und der Schärfe, mit der er die logischen Sünden Spenglers angriff, fand ich dieses Urteil im höchsten Grade leichtfertig. Einige Stunden später: Ich suchte ein Beispiel, an dem klar wurde, daß bloße Pflichterfüllung kein Verdienst sei, und führte aus: „Es ist unsere Pflicht nicht zu töten; wir töten nicht …“ Nelson unterbrach mich: „Das wollen wir lieber nicht so kühn behaupten.“ Ich wußte genau, was er meinte, und wich aus: „In diesem Augenblick töten wir doch nicht.“ „Na, meinetwegen!“ sagte Nelson gelangweilt. Eines Abends, als einige von uns etwas zu früh zur Übung kamen, die Nelson in seiner Wohnung abhielt, fanden wir ihn unruhig und erregt. Er fragte uns, was *
1 „Spuk, Einweihung in die Wahrsagerkunst Oswald Spenglers und sonnenklarer Beweis der Unwiderleglichkeit seiner Weissagungen, nebst Beiträgen zur Physiognomik des Zeitgeistes. Eine Pfingstgabe für alle Adepten des metaphysischen Schauens.“
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wir von dem Studenten B. hielten, der an den Übungen teilnahm, bisher aber fast nichts gesagt hatte. Dieses Verhalten sei doch unerträglich! Wir hörten die übrigen Kursteilnehmer kommen. Nelson ging hinaus, ihnen entgegen. Ein kurzes scharfes Gespräch an der Korridortür – wir hörten im Studierzimmer Nelsons Stimme, ohne ihn zu verstehen –, dann kam Nelson ruhig und heiter wieder herein, die übrigen //194// Kursteilnehmer betreten hinterher. B. war nicht unter ihnen und erschien in den Übungen auch nicht wieder. Ende der Sommerferien 1925 hatte ich meine Examensarbeit abgegeben; zu Beginn des Wintersemesters traf ich Nelson in seiner Vorlesung wieder. In der Pause kam er auf mich zu und sagte, er habe meine Arbeit mit Freude gelesen, es sei eine gute Arbeit. Ich hatte die Arbeit als Angriff auf ihn aufgefaßt und war verblüfft, daß er darüber nichts sagte. Von dieser Zeit an merkte ich, daß Nelson versuchte, mich zur Mitarbeit heranzuziehen; mein alter Wunsch, die Philosophie zum Hauptfach meiner Arbeit zu machen, und das Bewußtsein, daß nur Nelson der Lehrer sein konnte, an den ich dabei anzuknüpfen hatte, kamen dem entgegen. Wir waren bald einig: Gleich nach meinem Examen sollte ich als Nelsons Assis tentin an der Herausgabe der „Ethik und Pädagogik“ mithelfen. Einen Tag vor dem Examen gab Nelson mir meine Arbeit zurück: „Sehen Sie sich an, welche Stellen ich angestrichen habe, dann können wir morgen darüber sprechen; sonst ist es so schade um die halbe Stunde.“ Die halbe Stunde wurde sehr aufschlußreich für mich. Nach einigen kritischen Bemerkungen zum ersten Teil der Arbeit blätterte Nelson langsam den zweiten, als Angriff auf ihn gedachten Teil durch. „Darüber ist nicht viel zu sagen, darin sind wir uns einig.“ Ich glaube, ich habe ihn völlig entgeistert angestarrt. „Wirklich? – Dann muß ich Sie ja ganz falsch verstanden haben.“ Nelson, ruhig: „Ja, wenn ich Sie nicht falsch verstanden habe …“ Der protokollierende Examensbeisitzer brach in lautes Gelächter aus über meine Verblüffung. Ich habe im Lauf der nächsten Zeit festgestellt, daß Nelson mich nicht falsch verstanden hatte, sondern daß wir in den entscheidenden Punkten in der Tat einig waren. Das Erstaunen des Examenstages ging dabei mehr und mehr über in das beglückende Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens: Wenn ich nur mutig und konsequent an die vor mir liegenden Fragen herangehe, werde ich mich mit Nelson über sie verständigen können, und zwar dadurch, daß wir – ohne daß einer den anderen überredet – zur gleichen Einsicht vordringen. //195//
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II.
Warum habe ich nur vor gut vier Jahrzehnten die Niederschrift meiner Erinnerungen an Nelson abgebrochen, ehe ich an den Bericht über diejenigen Jahre kam, in denen ich am intensivsten mit Nelson zusammen gearbeitet habe, die kurze Zeit vom Januar 1926 bis zu Nelsons Tod am 29. Oktober 1927? Ich erinnere mich nicht mehr daran, weshalb ich damals aufhörte, meine aber, es verstehen zu können – auf Grund meiner alten Niederschrift und meiner Erinnerung an die ersten Jahre nach Nelsons Tod. Ich habe damals den Versuch gemacht, Vorbehalte und Hemmungen, um derentwillen ich mich bis dahin von Nelsons praktischer Arbeit im IJB2 und ISK2 ferngehalten hatte, mir selber zu deuten als die bloße Angst vor Konsequenzen, die zu ziehen ich nicht bereit gewesen war. Ich meinte, nach Nelsons Tod nicht länger zögern zu dürfen, mich voll in die Arbeit hineinzustellen. So trat ich dem ISK bei. Das war ein tieferer Bruch in meinem Leben, als ich bewußt auffaßte, und das mag mich damals daran gehindert haben, gerade über die eben zurückliegende Zeit ständigen Zusammenarbeitens mit Nelson so zu berichten, wie ich sie durchlebt hatte. Der positive Ton, in dem ich den ersten Bericht abgeschlossen habe, verrät Einseitigkeit, ein Verdrängen von Konflikten. So fehlt schon die Schilderung des Konflikts, in den ich geriet, als Nelson mir anbot, bei der Herausgabe seiner Ethik- und Pädagogik-Vorlesung als seine Assistentin mitzuarbeiten. Es stimmt zwar, daß ich, wie ich damals schrieb, in diesem Angebot für mich die Chance sah, im eigenen philosophischen Arbeiten voranzukommen. Ich habe Nelson deshalb sogar bewußt herausgefordert, über bloße Andeutungen hinauszugehen, indem ich ihm erzählte, daß Emmy Noether mir eine Assistentenstelle für Mathematik in Freiburg zu vermitteln suche, daß ich aber zögere, das anzunehmen, da ich vor allem Philosophie betreiben wolle. Daraufhin machte er mir seinen Vorschlag, und wenige Tage später waren wir einig. Aber an dem Abend nach dieser Vereinbarung hatte ich einen schweren Angstanfall und das Gefühl, mich auf etwas eingelassen, ja es selber her//196//ausgefordert zu haben, dem ich nicht gewachsen sei. Auf einem langen Spaziergang bemühte ich mich, dem auf den Grund zu gehen, und fand heraus, mich bedränge die Sorge, Nelsons Persönlichkeit gegenüber nicht stark genug zu sein, um die eigene geistige Selbständigkeit zu wahren. Bei manchen seiner Schüler hatte ich den Eindruck gehabt, sie seien im eigenen Denken und Wollen ihm gegenüber abhängig und unfrei – siehe das Erlebnis mit jener Studentin, der ich Mathematikstunden geben sollte –; nun plagte mich der Zweifel, ob meine Widerstandskraft dieser anscheinend von ihm **
* Aufzeichnung aus dem Frühjahr 1973. 2 Internationaler Jugendbund, Internationaler Sozialistischer Kampfbund.
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ausgehenden Verführung standhalten werde. Schließlich sagte ich mir, das könne nur durch den Versuch entschieden werden, und bei negativem Ausgang dieses Experiments würden sich dann eben meine Geisteskräfte als zu schwach für produktive eigene Arbeit erwiesen haben. Eben deswegen sei es aber auch sinnlos, aus Angst vor diesem Risiko die sich mir hier bietende Chance preiszugeben. Ich faßte aber den Entschluß, mir selber gegenüber wachsam zu sein und es mir zur Regel zu machen, keiner der mir bekannten großen und kleinen Lebensforderungen Nelsons nachzukommen, es sei denn, ich sei – unabhängig davon, daß er sie vertrat – selber überzeugt, das tun zu sollen. Ich habe nie mit Nelson über diesen Entschluß gesprochen, gewann aber bald den Eindruck, daß er ihn kannte und respektierte. Da war zunächst eine kleine Sache, in der ich, wäre dieser Entschluß nicht gewesen, leicht nachgegeben hätte: meine Handschrift. Seit der Kinderzeit hatte ich mich an die deutschen Buchstaben gewöhnt, die Nelson als Verstoß gegen Internationalität befehdete. Ich habe während der ganzen Zeit unserer Zusammenarbeit ihm meine zahlreichen handschriftlichen Ausarbeitungen in deutschen Buchstaben vorgelegt und von ihm dabei nicht mehr an Abwehr erfahren als ein gelegentlich mit freundlich-ironischem Seitenblick auf mich abgeschossenes: „Sie mit Ihrer chauvinistischen Handschrift!“ Nicht so einfach ging es mit dem Vegetarismus – und zwar nicht etwa, weil Nelson das Thema zur Sprache gebracht hätte, sondern weil ich, beteiligt an der Herausgabe der „Ethik und Pädagogik“, in der Nelson diese Forderung ableitet und vertritt, auf das eigene klare Ja oder Nein angewiesen war, um auch nur mit mir selber im Reinen zu sein. Ich hatte einen großen gefühlsmäßigen Widerstand gegen Anerkennung der Forderung //197// und Umstellung meiner Lebensweise und versuchte zunächst, Gründe dagegen zu sammeln und sie durchzurationalisieren. An einem Abend brachte ich das Thema zur Sprache und trug Nelson meine Gegengründe vor. Lässig und gelangweilt wischte er sie mit der linken Hand beiseite, und ich merkte, daß sie auch nicht mehr wert waren. Trotzdem blieb der Widerstand, und es fehlte völlig an einer unabweisbaren Überzeugung, bis mir der Verdacht kam, daß diese vielleicht nur darum fehle, weil es mir gar so greulich war, mich in meiner Lebensweise auf Grund eines moralischen Urteils von meiner Umwelt abzuheben und Sonderregelungen zu verlangen. Die Frage, ob mein Gefühl in der Vegetarismusfrage vielleicht nur durch diesen Widerwillen barrikadiert sei, habe ich dann durch das Experiment zu beantworten versucht, es mit jenen unangenehmen Konsequenzen einfach einmal zu versuchen und dann zu prüfen, wie mein Gefühl reagieren werde. Ich fing also gewissermaßen im Selbstversuch mit der vegetarischen Lebensweise an, hielt das aber, um der Reinheit des Experiments willen, sorgsam vor Nelson verborgen, was mir auch etwa neun Monate lang gelang. In dieser ganzen Zeit hat wiederum er nicht ein einziges Mal auch nur andeutungs-
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weise das Thema angeschnitten. Dann passierte es zufällig, daß er ein Mädchen nicht zu erreichen wußte, die an der Nachschrift seiner Vorlesungen arbeitete und die den gleichen Mittagstisch besuchte wie ich. Ich erbot mich, ihr dort eine Nachricht von ihm zu überbringen. Er verstummte für eine Weile, dann: „Ist das nicht ein vegetarischer Mittagstisch?“ „Ja.“ Pause. „Essen Sie dort, weil es ein vegetarischer Mittagstisch ist?“ „Ja.“ „Seit wann essen Sie da?“ „Seit Januar.“ Schluß des Gesprächs; zwei Tage darauf bot er mir in seinem Studierzimmer Nußpaste an: „Da Sie sich nun auch zum Vegetarismus entschlossen haben, sollen Sie auch erfahren, wie gut das schmecken kann.“ Mehr haben wir über die Angelegenheit nie gesprochen. Ein Jahr später trat ich aus der Kirche aus, wiederum ohne mit Nelson darüber zu sprechen. Da mich dieser Schritt sehr beschäftigte, erwähnte ich ihn aber im Gespräche Zeko Torboff3 gegenüber, woraufhin es dann natürlich auch Nelson erfuhr. Er reagierte darauf in dem kurzen Gespräch: „Wie haben Sie es erreicht, daß Sie durchführen, was Sie für richtig //198// halten? Sind Sie so vernünftig erzogen worden?“ „Meines Vaters Erziehungsgrundsatz war: Ich dressiere meine Kinder in Freiheit!“ Darauf Nelson: „Daher wohl.“ In den vorangangenen Monaten hatte er einmal die Initiative ergriffen, mir nachdrücklich abzuraten von einer von mir geplanten Teilnahme an einer theologischen Tagung. Er ging konzentriert und ernst darauf ein, erfragte und analysierte meine Gründe für die Teilnahme – ich weiß sie heute selber nicht mehr; die Hoffnung, eigene Fragen zu klären, war es jedenfalls nicht – und hielt mir entgegen, ich würde durch meine Teilnahme eine Institution stärken, von der ich mich innerlich längst gelöst hätte und deren Bestrebungen ich nicht verantworten könne und wolle. Schließlich stimmte ich zu, noch sehr zögernd hinsichtlich der Konsequenzen: „Sie haben recht.“ Ich erwartete, er werde nun über Konsequenzen reden und mich nach Entscheidungen fragen. Statt dessen wechselte er abrupt das Thema, ohne weder damals noch später diese Angelegenheit wieder zu erwähnen, die ihm doch wichtig war, wie mir der Nachdruck des bisherigen Gesprächs gezeigt hatte. Ich empfand dieses plötzliche Abbrechen fast wie einen körperlichen Stoß, durch den mir aufging, daß ich mit meiner Zustimmung bereits über die Konsequenzen entschieden hatte. Völlig zurückhaltend war Nelson auch gegenüber meiner unpolitischen Lebensart, dem Mangel an politischem Interesse und Wissen bei mir. Vor dem Volksentscheid gegen den Panzerkreuzer trafen wir uns einmal nach einer Vorlesung auf dem gemeinsamen Weg zu einer politischen Versammlung, in der ich mich – im Bewußtsein, allzu ununterrichtet zu sein – einigermaßen politisch orientieren wollte. Da ich nun schon mit ihm gemeinsam zu dieser Versammlung ging, wollte *
3 Bulgare, studierte damals in Göttingen.
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ich davon profitieren und schnitt eine der mir unklaren Sachfragen an. Er wies das ab: „Das werden wir dann ja gleich alles erfahren“ – und fuhr fort, das Thema zu besprechen, das wir in der Vorlesungspause behandelt hatten, irgendeine abstrakte Frage – ich glaube, es ging um gewisse Schwierigkeiten in der Abgrenzung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen. Mir war komisch zumute, mit diesen mir vertrauten Gedankengängen in der mir ungewohnten Umgebung des für eine politische Versammlung gerüsteten Saales zu sitzen. Nelson mag Ähnliches empfunden haben; denn er sprang plötzlich auf, rief entsetzt: „Aber ich sitze hier ja rechts!“ und rannte zur //199// anderen Seite des Saales hinüber. Ich blieb sitzen, wie mir schien im Einverständnis mit ihm darüber, daß es hier nicht um unser gemeinsames Thema ging. Inzwischen arbeitete ich die Vorlesungsnachschriften zu Nelsons „System der philosophischen Ethik und Pädagogik“ durch und studierte daneben gründlich seine „Kritik der praktischen Vernunft“. Er hatte mir das Buch geschenkt, als ich ihn bat, es mir für die Weihnachtsferien 1925/26 zu leihen, und dabei gesagt: „Nehmen Sie sich der Deduktion des Sittengesetzes an. Die hat ja noch kein Mensch gelesen.“ Als ich ihm später einmal, nach langen Bemühungen, die einzelnen Schritte dieses Gedankengangs nachzuvollziehen, etwas verzweifelt sagte: „Von der Deduktion des Sittengesetzes glaube ich Ihnen kein Wort mehr!“, da bemerkte er gelassen: „Dann sind Sie auf dem richtigen Weg.“ Unsere Aussprachen galten vorwiegend Einzelfragen seiner Ethik-Vorlesung, Fragen, die es weithin mit der inneren Logik des Aufbaus, der Vollständigkeit aufzuweisender Voraussetzungen und Fragestellungen zu tun hatten; sie berührten selten die Grundfragen der kritischen Philosophie, ihrer Methode und ihrer Grundlegung durch die vernunftkritische Aufweisung unmittelbarer Erkenntnisse und Interessen. Diese Grundlagen hatte ich mir zu eigen gemacht; sie gaben mir die Möglichkeit, aus unfruchtbarem Grübeln herauszukommen. Nun arbeitete ich mit ihnen und stellte sie nicht in Frage. Mein eigener Umgang mit diesen Grundlagen kritischen Philosophierens war dabei alles andere als produktiv und lebendig. Nelson hat mir das einmal sehr deutlich vor Augen geführt. Er hatte mich auf die Arbeit von Alfred Kastil hingewiesen („J. F. Fries' Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis“, Abhandl. d. Fr. Schule, vierter Band, erstes Heft), der als Kritiker der Fries-Nelsonschen Philosophie Nelsons Forderung „einer methodischen Klärung des Tatsachengebiets der inneren Erfahrung, dessen Kenntnis allein vor Fehlern bewahren kann“, anerkennt, sie aber geltend macht, um die Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis anzugreifen. Für ihn ist der wissenschaftliche Fortschritt in der Philosophie nicht durch die Namen Hume, Kant, Fries, sondern durch die Namen Bacon, Descartes, Franz Brentano (1838-1917) gekennzeichnet. Kastils Arbeit war 1912 erschienen; Nelson hatte ver-
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schiedene Schüler und Mitarbeiter angeregt, //200// eine Erwiderung zu schreiben. Bernays und andere haben einen Ansatz dazu gemacht; keiner von ihnen hat ihn abgeschlossen. Nun forderte Nelson auch mich auf, es damit zu versuchen. Etwa Ende 1926 habe ich ihm dann auch ein umfangreiches Manuskript vorgelegt, in dem ich den Kastilschen Angriff zurückzuweisen suchte. Kurz darauf hat er einen ganzen Abend lang mit mir darüber gesprochen. Es war die schärfste Kritik, die ich je von ihm erhalten habe; sie fing an mit dem Protest gegen meine wenig präzise, dabei oft unnötig umständliche Sprache und richtete sich dann dagegen, daß ich mich in einzelne Begriffsbildungen Kastils und seine damit gewonnenen Einteilungen und Ansätze festgebissen hatte, statt den Brentano-Kastilschen Zugang zur Philosophie verständnisvoll aufzufassen und mit dem Friesschen zu konfrontieren. Sehr beschämt bin ich an jenem Abend nach Hause gegangen und habe mich in den folgenden Wochen und Monaten an einen völlig neuen Entwurf gemacht. Er ist zu Nelsons Lebzeiten nicht mehr fertig geworden, und ich habe ihn nach Nelsons Tod nicht weiter bearbeitet, da andere Aufgaben vorrangig waren. Ich habe beide Entwürfe noch; ihr Gegensatz macht mir noch heute Nelsons treffende Kritik an meiner ersten Ausarbeitung wieder lebendig. Einen andern Auftrag, der von der Hauptarbeit am System der Ethik und Pädagogik unabhängig war, gab Nelson mir im Sommer 1926. Ich sollte für seine Vorlesung „Rückschritte der Metaphysik seit Kant“ einen Abschnitt über Bernhard Bolzano ausarbeiten, den er bisher in den entsprechenden Vorlesungen nur kurz erwähnt hatte. Als ich ihm daraufhin wieder ein langes Manuskript vorlegte, übertrug er mir für eine Doppelstunde seiner Vorlesung auch den Vortrag dieses Abschnitts. Er selber setzte sich ins Auditorium und hörte zu. Ich erinnere mich nicht, ob er sich hinterher zum Inhalt meiner Vorlesung geäußert hat. Nur eine kritische Bemerkung zur Form meines Vortrags ist mir im Gedächtnis geblieben Ich hatte – wahrscheinlich nervös vor dieser ersten eigenen Vorlesung – mir den Text sehr genau eingeprägt, um nicht vom Manuskript abhängig zu sein. Die Folge muß gewesen sein, daß ich trocken, eintönig und rasch gesprochen habe. Nelson bemerkte hinterher freundlich, es wäre besser gewesen, vom Blatt abzulesen und nicht so mechanisch zu sprechen. Das Hauptthema meiner Arbeit als Nelsons Assistentin aber war die Ethik und Pädagogik. In den zahlreichen inhaltlich begrenzten, oft lo//201//gisch-formalen Einzelfragen, die wir durchsprachen, einigten wir uns in der Regel rasch, wobei in den Fällen anfänglicher Meinungsverschiedenheit bald der eine bald der andere sich vom Partner überzeugen ließ oder wir zusammen eine vermittelnde Lösung fanden. Daneben gab es aber einige tiefer führende Fragen, die zwar gelegentlich anklangen, die wir aber nicht durchgearbeitet haben.
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Offen geblieben ist meine alte Frage vom Sommersemester 1924: „Ist es möglich, das Gebot des Charakters in einem einmaligen Willensakt zu erfüllen?“ Ich habe sie, obwohl nun in der gemeinsamen Arbeit an der Vorlesung dafür reichlich Gelegenheit war, Nelson nicht noch einmal gestellt. Ebensowenig habe ich aufgearbeitet, was in der Examensstunde am 10. Dezember 1925 seine mich verblüffende Zustimmung zu den herausfordernden Thesen meiner Arbeit mir bedeutete. Auch dabei ging es um die Frage, ob eine vom Gebot des Charakters ausgehende Ethik für den Menschen überhaupt erfüllbar sei, ob sie nicht vielmehr in ihren Grundla gen schon in Widerspruch gerate mit dem angeblich logisch trivialen Satz, nur das könne Pflicht sein, was der Verpflichtete auch tun könne. Ich hatte in der Arbeit ausgeführt, niemand könne die Möglichkeit von Irrtum und die Möglichkeit von Schuld für das eigene künftige Denken und Handeln ausschließen. Diese beiden Begrenztheiten des Menschen, sich gegen eigenen Irrtum und sich gegen eigene Schuld nicht durch Willensanspannung endgültig sichern zu können, seien aber von sehr verschiedener Bedeutung im menschlichen Leben, und zwar eben wegen des Gebots des Charakters. Dieses Gebot ist unerfüllt und damit verletzt, solange der Mensch die Pflichterfüllung in seinem Leben nicht dem Zufall entzogen hat. Für menschliches Wissen und Erkennen gilt dagegen nur, daß es zwar unabgeschlossen und Stückwerk, darum aber nicht selber irrig ist, solange die Möglichkeit des Irrtums nicht überwunden ist. In der Examensarbeit habe ich diesen Gedanken so zusammengefaßt: „Irrtumsmöglichkeit ist nicht selbst Irrtum, Schuldmöglichkeit aber ist Schuld“. Als ich am Tag vor dem Examen von Nelson die Arbeit zurückbekam, habe ich sofort diese Stelle aufgeschlagen und fand am Rand einen Strich. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich Nelson im Examen noch extra darauf hingewiesen, als er erklärte, mit den Ausführungen dieses Teils einverstanden zu sein; ich erhielt aber die Antwort, der Strich stamme nicht von ihm – er //202// hatte Zeko Torboff die Arbeit zu lesen gegeben, der wohl diesen Strich gezogen hat. Noch einmal kamen wir in den Aussprachen über die Ethik in die Nähe dieses Fragenkreises. Es mag etwa im Zusammenhang mit Nelsons Überlegung gewesen sein, wonach im Konfliktsfall zwischen Ideal und Pflicht die idealen Anforderungen entfielen gegenüber dem widerstreitenden moralischen Gebot („Ethik und Pädagogik“ § 185), verbunden wohl mit der anderen, wonach der Mensch seinem unverschuldet in Not geratenen Mitmenschen gegenüber verpflichtet sei, das ihm Mögliche zur Überwindung der entstandenen Ungleichheit zu tun („Ethik und Pädagogik“ § 54, vorletzter Absatz). Ich hielt Nelson entgegen, daß diese Verpflichtung, wenn wir sie wörtlich ernst nehmen, uns faktisch keinen Spielraum lasse für irgendeine von eigener Pflichterfüllung unabhängige, über sie hinausgehende ideale Tätigkeit. Nelson antwortete, mit einem traurig-resignierenden Lächeln: „Haben Sie das auch gemerkt?“ – Dieses Gespräch hat wohl stattgefunden im Win-
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ter 1926/27, in dem Nelson, seiner chronischen Schlaflosigkeit wegen eine Liegekur machte, während der er nur für seine Vorlesungen aufstand. Den Rahmen unserer Aussprache bildete die enge Dachkammer hinter seinem Studierzimmer, in der sein Bett stand und wo in der Nähe der Tür noch gerade Platz für meinen Stuhl war. Es ist manches liegen geblieben in meinen Gesprächen mit Nelson, auch, ja gerade da, wo er anscheinend zustimmte, – verpaßte Gelegenheiten, die ich nicht mehr aufholen kann. Ein Thema aber haben wir über eine lange Zeitspanne hinweg wieder und wieder besprochen. Es ging um die Inhaltsbestimmung von Idealen und dabei um die Frage, ob diese sich orientieren am Streben nach wertvollem eigenen Verhalten oder am Streben nach Verwirklichung und Erhaltung von positiv Wertvollem überhaupt, soweit dies durch eigenes Verhalten erreicht werden kann. Ich hatte in Nelsons „Kritik der praktischen Vernunft“ Belege für beide Standpunkte gefunden, und zwar unmittelbar hintereinander in der Erörterung, was „Bildung“ sei. Nelson versteht unter dem Gebildeten einen Menschen, der über die Pflichterfüllung hinaus sich durch ideale Anforderungen bestimmen läßt. Da heißt es in § 139 der „Kritik“: „Je nachdem, ob die richtige Einsicht in den Wert des Gegenstandes vorhanden ist oder nicht, entspricht die Stärke des Interesses dem Wert des Gegenstan//203//des oder nicht. … Wir können sagen, daß die Stärke des Interesses nicht unmittelbar durch die Einsicht des Menschen bestimmt wird, sondern erst durch das, was man seine Bildung nennt. Denn die Bildung eines Menschen bestimmt sich ihrerseits nicht nur nach seiner Einsicht in den Wert der Dinge, sondern auch danach, inwieweit diese Einsicht für die Stärke seiner Interessen maßgebend ist. Wir nennen einen Menschen gebildet, der nicht nur das Wertvollere als solches erkennt, sondern es auch dem als weniger wertvoll Erkannten vorzieht.“ Damit wird der zweite der genannten Standpunkte vertreten. Im § 140 aber geht Nelson ohne jeden Hinweis auf den Unterschied der Problemstellung auf die Frage über, „welches das Prinzip der objektiven Wertung der Interessen ist …, wie wir verfahren, um den Wert eines vorliegenden Interesses zu beurteilen“. „Das Prinzip der hier vorliegenden Wertung geht also auf die Gesamtpersönlichkeit. ... Das allgemeine Interesse, das der Bewertung unserer einzelnen Interessen zugrunde liegt, ist also das objektive Int eresse am [Wert] * unseres Lebens überhaupt.“ Im Anschluß hieran wird die „vollkommen gebildete Person“ erklärt dadurch, daß für sie „die Stärke der Interessen ihrem Wert gemäß modifiziert“ ist (§ 141). Damit vertritt Nelson den ersten der eingangs genannten Standpunkte, und ihn legt er mit dem „Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung“ seinem Aufb au der Ethik und Pädagogik zugrunde. Ich stellte dem entgegen, er habe damit den in
* Originaltext „Wort“.
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der „Kritik“ zuerst gewonnenen Ausgangspunkt verlassen, und dieser sei es, von dem aus die Ideallehre entwickelt werden müsse. Die Diskussion dieser Meinungsverschiedenheit hat sich mit Unterbrechungen über mehr als ein Jahr hingezogen; erst kurz vor seinem Tod habe ich mich von Nelson überzeugen lassen. Zu Minna Spechts 50. Geburtstag im Dezember 1929 habe ich ihr etwas über diese Streitfrage aufgeschrieben und unser langes Gespräch zwar in sehr geraffter Form, aber wieder als Dialog dargestellt. Diese Kurzfassung gebe ich im folgenden als eine meiner Erinnerungen an meine Arbeit mit Nelson wieder: H.: Gebildet ist ein Mensch, der für sein Leben die Folgen der ursprünglichen Dunkelheit der Vernunft ausgeschaltet hat, der also so handelt, wie ein Wesen handeln würde, dem die Vernunfterkenntnisse unmittelbar einleuchtend und für das Handeln bestimmend wären. Das werden Sie zugeben. – Ein solches Wesen würde in seinen objektiven //204// Interessen den Dingen den Wert zuschreiben, der ihnen in Wahrheit zukommt. Seine objektiven Interessen würden sich also allein durch den Wert ihrer Gegenstände bestimmen; ihre Stärke würde dem Wert ihrer Gegenstände entsprechen. Gemäß ihrer Stärke aber würden sie auf den Willen eines solchen Wesens einwirken und es zum Handeln veranlassen. Der Gebildete wird sich also in seinem Handeln leiten lassen durch den wahren Wert der Dinge, auf die er mit seinem Han deln einwirken kann. Die Frage nach dem Produkt seiner Handlung ist für ihn entscheidend, nicht aber, wie es nach Ihrer Begründung der Ideallehre sein müßte: die nach dem Wert der eigenen Handlung. Denn was könnte ihn veranlassen, diesen einen Wert, den der eigenen Handlung, so allen anderen Werten vorzuziehen? N.: Nun, einfach die Frage, ob es gut ist, eine bestimmte Handlung zu tun. Denn das ist nichts anderes als die Frage nach dem Wert der Handlung. H.: Aber das ist doch eine ganz ungerechtfertigte Auszeichnung der eigenen Handlung vor anderen Dingen, die Wert haben können. Warum sollte mich der Wert meiner eigenen Handlung mehr angehen als alle anderen möglichen Werte? N.: Weil Sie nur für Ihre Handlungen und nicht für andere Werte verantwortlich sind. H.: Allerdings bin ich nur für meine Handlungen verantwortlich. Daraus folgt aber nicht, daß meine Handlungen für mich zum Selbstzweck werden sollten. N.: Das sollten sie auch nicht. Der Wert einer Handlung kann ja gerade darin bestehen, daß der Handelnde sich einem objektiven Wert hingibt, der vom Wert seiner Handlung verschieden ist.
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H.: Aber der Gebildete wird sich, nach Ihrer Auffassung, diesen anderen Werten doch nur so weit hingeben, als er damit den Wert seiner Handlung und damit letzten Endes den Wert seines eigenen Lebens erhöhen kann. Ist das nicht eine ganz egozentrische Einstellung, durch die jede Hingabe an andere Werte als den des eigenen Lebens eingeschränkt, ja im Grunde schon aufgehoben wird? Denn alle anderen Werte werden damit zu bloßen Mitteln für die Vervollkommnung des eigenen Lebens erniedrigt! //205// N.: Nein, wir schätzen diese Werte um ihrer selbst willen und nicht nur als Mittel zu unserer Vervollkommnung. Aber bei der Frage, was wir tun sollten, haben wir es nur mit dem Wert unserer Handlung zu tun. H.: Das wäre richtig, wenn wir durch unseren Willen nur auf unser eigenes Handeln Einfluß hätten. Nun können wir uns allerdings unmittelbar nur zu Handlungen entschließen, aber mittelbar können wir durch die Handlungen auf andere Naturerscheinungen einwirken, die nicht unsere Handlungen sind. Warum sollen wir ihre Werte außer acht lassen? Wir haben doch auch an ihnen ein objektives Interesse, und dieses Interesse vermag unseren Willen zu bestimmen. N.: Das ist nur eine psychologische Tatsache, aus der nichts darüber folgt, welche Handlungen getan werden sollten. Die Ideallehre fragt nach dem, was geschehen sollte, und also nach wertvollen Handlungen. H.: Mir scheint, daß Sie in der Ideallehre von einer falschen Fragestellung ausgehen. Die Ideallehre kann nicht durch das ästhetische Interesse am Wert des eigenen Handelns begründet werden, und zwar aus dem folgenden Grunde nicht: Es kann für uns keine ethische Aufgabe geben, an deren Erfüllung wir nicht ein eigenes wahres Interesse hätten; denn andernfalls gäbe es eine ethische Aufgabe, die wir nur auf Grund eines Irrtums über unser wahres Interesse erfüllen könnten. Das aber widerspricht dem Begriff einer ethischen Aufgabe. Wenn es unsere Aufgabe ist, stets die wertvollere Handlung den weniger wertvollen Handlungen vorzuziehen, dann sollten wir bereit sein, das Interesse am wertvollen Handeln auch dann zu befriedigen, wenn es mit einem überwiegenden Interesse, das wir am Produkt einer möglichen Handlung haben, kollidiert. Mit anderen Worten: Wir sollten bereit sein, gegebenenfalls dem eigenen überwiegenden wahren Interesse entgegenzuhandeln. Diese Bereitschaft kann aber sicher nicht in unserem eigenen wahren Interesse liegen. Also darf man die Ideallehre nicht auf die Frage aufbauen, ob es wertvoll ist, eine bestimmte Handlung zu tun. N.: Sollte das ein Fehler gewesen sein?
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H.: Ich denke, ja. Allerdings, wenn ich den Gedankengang verfolge, //206// durch den Sie die Ideallehre auf das ästhetische Interesse am eigenen Handeln gründen, dann werde ich unsicher; so einleuchtend erscheint der Gedankengang. Und doch enthält er offenbar die Quelle der Schwierigkeiten, die ich Ihnen genannt habe. Ihr Gedankengang ist doch der folgende: Die Grundfrage der Ideallehre: Welches Handeln ist gut? sucht nach einer objektiven praktischen Auszeichnung unter den möglichen Handlungen. Mit der angegebenen Frage suchen wir also nach einem Kriterium für wertvolles Handeln. Dieses Kriterium wird uns durch die ästhetische Wertung der Handlungen gegeben. Durch sie muß also die Ideallehre begründet werden. N.: Ja, so kann man die Überlegung darstellen. H.: Nun vermute ich, daß hier die Frage: Ist es gut, so zu handeln? doppeldeutig ist. Wenn ich darunter die Frage verstehe, ob die Handlung wertvoll sei, dann frage ich nach einer objektiven praktischen Auszeichnung der Handlung selber; verstehe ich darunter aber die Frage, ob ich mich zu der Handlung entschließen sollte, dann frage ich nach einer objektiven praktischen Auszeichnung des Zwecks der Handlung. Denn ich entschließe mich zu einer Handlung stets nur auf Grund des Zwecks, den ich mit der Handlung verfolge, und zu dessen Erfüllung die Handlung ein bloßes Mittel ist. Die Ideallehre hat es nur mit der Frage zu tun, wie wir handeln sollten, sie darf also nicht von der unmittelbaren Bewertung der Handlung ausgehen, sondern hat nach einer Bewertung der Zwecke zu fragen. N.: Aber wie wollen Sie dann zur Ableitung idealer Aufgaben kommen? H.: Durch die Aufweisung objektiver Zwecke, d. h. solcher Zwecke, die wir uns auf Grund objektiver Interessen setzen. Alle reinen Interessen – nicht nur die am Wert eigener Handlungen –, die zu Antrieben führen können, begründen danach ideale Aufgaben. N.: Aber daraus, daß sich auf eine Handlung ein Antrieb richtet, folgt doch nicht, daß wir sie tun sollten! H.: Im allgemeinen natürlich nicht, wohl aber, wenn dieser Antrieb durch das überwiegende wahre Interesse bestimmt ist. N.: Wieso? Haben wir die Aufgabe, unser überwiegendes wahres Interesse zu befriedigen? //207// H.: Hm, rein logisch folgt das allerdings nicht. Die Behauptung, daß wir unser überwiegendes wahres Interesse befriedigen sollten, ist synthetisch. Aber vielleicht läßt sie sich deduzieren. Ich müßte also versuchen, ein eigenes Interesse aufzuweisen, in dem wir die Befriedigung unseres überwiegenden wahren Interesses als Aufgabe erkennen.
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N.: Das ist alles sehr schwierig. Evident ist nur das eine, daß die Ethik nicht evident ist. H.: Unser voriges Gespräch hat mich in überraschender Weise auf Ansichten von Fries zurückgeführt. Das ideale Interesse an der Befriedigung der überwiegenden wahren Interessen, zu dessen Annahme ich gezwungen wurde, hat große Ähnlichkeit mit dem „reflektierten Trieb“, der, wie Fries sagt, im Streit der Neigungen keine eigene Partei bildet, sondern nur als „ausgleichender Richter“ auftritt. Denn das ideale Interesse nennt nicht selber einen Wert, sondern macht nur das Streben nach anderweitigen Werten zur Aufgabe. Ferner: Wenn es ein solches ideales Interesse gibt, dann ist es wahrscheinlich, daß es dieses Interesse ist, wodurch das Streben nach der Verwirklichung oder Erhaltung des Schönen möglich ist, und daß Fries also doch recht hat mit der Leugnung rein ästhetischer, d. h. aus ästhetischen Interessen entspringender Antriebe. N.: Sehr merkwürdig! – Sie wollen also die Ideallehre in Analogie zur Pflichtenlehre aufbauen und sie auf ein Interesse gründen, das unmittelbar die Erkenntnis einer Aufgabe ist. H.: Ja, und darin sehe ich noch einen besonderen Vorteil, den nämlich, daß hiernach die Behauptung der Unabhängigkeit der subjektiven von der objektiven Teleologie strenge Gültigkeit erhält. Nach Ihrem Ansatz wird die ganze Ideallehre rein logisch aus bloßen Werturteilen, also aus objektiv teleologischen Urteilen abgeleitet, während nach meinem Ansatz die Grundurteile der Ideallehre bereits etwas über Aufgaben aussagen und also subjektiv teleologisch sind. N.: Eben das ist mir unsympathisch. Sie machen aus der Ideallehre eine zweite Moral, und mir ist die eine Moral schon zu viel! Ist es nicht viel schöner, wenn wir die Ideale erkennen auf Grund einer freien Einsicht in den Wert möglicher Handlungen? //208// H.: Aber wie wollen Sie aus solchen Wertbehauptungen rein logisch ethische Behauptungen ableiten? N.: Die Wertbehauptungen beziehen sich eben auf Handlungen; sie sagen, welche Handlung wertvoll ist. H.: Kann man daraus ableiten, daß wir eine solche Handlung tun sollten? N.: Was heißt denn: Wir sollten diese Handlung tun? Das bedeutet doch nichts anderes als: Es ist gut, so zu handeln. H.: Meinetwegen, aber dieser Ausdruck heißt dann hier, daß wir einen vernünftigen Grund haben, uns zu dieser Handlung zu entschließen. N.: Nun ja, und den haben wir, wenn wir einsehen, daß die Handlung wertvoll ist, daß sie also wert ist, getan zu werden.
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H.: Auf diese Argumentation weiß ich keine Antwort. Wenn ich sie so durchdenke, scheint sie richtig zu sein. Und doch muß sie einen Fehler enthalten, weil sie zu der unsinnigen Konsequenz führt, daß wir unter Umständen dazu bereit sein sollten, dem eigenen überwiegenden Interesse entgegenzuhandeln. Was könnte uns dazu veranlassen? N.: Die Einsicht, daß es gut ist, so zu handeln. H.: Ich kapituliere. Ich habe bei meinem ganzen Angriff vorausgesetzt, daß die Dringlichkeit, mit der die objektiven Interessen auf den Willen einer vollkommen gebildeten Person einwirken, allein von dem Wert der Gegenstände dieser Interessen abhängt. Diese Voraussetzung ist offenbar falsch. Der Gebildete läßt sich nicht ohne weiteres durch seine Interessen, auch nicht durch seine objektiven Interessen, bestimmen, sondern er fragt nach vernünftigen Gründen für sein Handeln. N.: Nicht wahr? Das Interesse am wertvollen Produkt einer Handlung gibt uns einen vernünftigen Grund unmittelbar nur dafür, dieses Produkt als wertvoll zu schätzen, das Interesse am Wert einer Handlung aber gibt uns einen vernünftigen Grund dafür, diese Handlung zu tun. H.: Daraus folgt, daß der Objektivitätsanspruch des ästhetischen Interesses am Wert der eigenen Handlung eine weit größere praktische Bedeutung enthält als der anderer ästhetischer Interessen. Er enthält nicht nur eine Wertbehauptung, sondern darüber hinaus eine Anfor//209//derung an den Willen. Das Interesse am Wert des eigenen Handelns besitzt eine Dringlichkeit, die den anderen ästhetischen Interessen fehlt. Ohne dieses Moment der Dringlichkeit kam ich übrigens in meinem Ansatz zur Ideallehre auch nicht aus, und dadurch bin ich auf meine stillschweigend gemachte – und außerdem falsche – Voraussetzung aufmerksam geworden. N.: Wieso? Sie nahmen doch gerade ein eigenes ideales Interesse an, weil Sie dem ästhetischen Interesse am Wert des eigenen Handelns die Bedeutung für den Willen absprachen. H.: Aber mit der Annahme dieses Interesses habe ich Ihnen im Grunde alles Wesentliche zugegeben und meine eigene Voraussetzung aufgehoben. Denn wenn es ein solches Interesse gibt, dann wird ja für das Handeln des Gebildeten dieses Interesse den Ausschlag geben, nicht aber die Gesamtheit seiner objektiven Interessen, wie ich es vorausgesetzt hatte. N.: Wie steht es denn nun mit Ihren Einwänden? H.: Die sind beantwortet. Man kann die Bildung allerdings, wie ich es anfangs getan habe, dadurch charakterisieren, daß für den Gebildeten die Folgen der ursprünglichen Dunkelheit ausgeschaltet sind. Zum Ausschalten dieser Folgen gehört aber mehr, als daß bloß das theoretische Erkennen und das Werten den
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Vernunfterkenntnissen entspricht; es gehört dazu auch, daß das Handeln durch Vernunftgründe bestimmt wird. Und darum wird sich der Gebildete nicht ohne weiteres den Antrieben unterwerfen, die auf seinen Willen einstürmen, selbst dann nicht, wenn diese Antriebe von reinen, keinem praktischen Irrtum unterworfenen Interessen ausgehen, sondern er wird auch diese Antriebe noch in eine Willensdisziplin nehmen durch die Frage: Ist es gut – und das heißt: ist es wertvoll –, ihnen zu folgen? Das Interesse am Wert des eigenen Handelns wird also in der Tat für seine Handlungen den Ausschlag geben. Soweit die Wiedergabe meiner Niederschrift aus dem Jahr 1929. Ich halte heute die hier erreichte Lösung nicht mehr für befriedigend. Die Schwierigkeiten gehen tiefer. Aber im Augenblick geht es ja nicht um das Prinzip der Ideallehre und das, was ich jetzt dazu zu sagen habe, sondern um die //210// Erinnerung daran, daß und wie diese Fragen Nelson und mich in jener Zeit gemeinsamer Arbeit beschäftigt haben, und davon gibt mir diese Kurzfassung unseres damaligen langen Dialogs ein recht deutliches Bild. Zu dieser Erinnerung gehört es auch, daß Minna Specht mir lange nach Nelsons Tod erzählt hat, Nelson sei an jenem Abend, der unseren Meinungsstreit abschloß, froh nach Hause gekommen und habe ihr berichtet: „Grete Hermann hat in der Ideallehre zugestimmt“. Anfang Oktober 1927 war ich, auf Einladung Nelsons, als Gast in der Walkemühle, weil er sich dort aufhielt und wir den Schluß der Semesterferien zum Durchsprechen einiger Themen benutzen wollten. Es war strahlendes Herbstwetter, sonnig und klar; Bäume und Wälder leuchteten in ihren Herbstfarben. So wurde eines Mittags – ich glaube, von Nelson selber – die Parole ausgegeben, wer immer es einrichten könne, solle am Nachmittag ins Freie gehen. Auch Nelson und ich führten daraufhin unser für diesen Nachmittag vorgesehenes Gespräch auf einem Spaziergang. Wir gingen auf der weiten, hinter der Turnhalle gelegenen Wiese auf und ab. Die Wiese war mit blühenden Herbstzeitlosen übersät; ich hielt sie für Krokusse und wunderte mich darüber, die in dieser Jahreszeit blühend vorzufinden. Nelson klärte den Irrtum auf – und erst dann wandten wir uns der Philosophie zu. Wir blieben lange draußen, und am Abend wurde es sehr kühl – ich hatte später die Vorstellung, Nelson habe sich an jenem Abend erkältet. Jedenfalls ist es das letzte eingehende Arbeitsgespräch gewesen, das ich mit ihm hatte. In den nächsten Tagen schon lag er mit einer fiebrigen Erkältung zu Bett. Ich habe ihm damals noch einen kurzen Krankenbesuch gemacht, bei dem wir aber kaum noch miteinander gearbeitet haben. Als ich mich verabschiedete, bemerkte ich, er möge sich vor einer Lungenentzündung hüten. Er antwortete trocken: „Die ist schon da.“ Mitte des Monats ist er dann mit einem Krankenwagen nach Göttingen gebracht worden und dort am 29. Oktober gestorben.
LEONARD NELSON UND DIE GRUNDLAGEN DES FREIHEITLICHEN SOZIALISMUS* In seinem System der philosophischen Politik hat Leonard Nelson den „liberalen Sozialismus“, wie er ihn nennt, als rechtlich gebotenes Ziel politischer Bemühungen aufgewiesen. Er berief sich darauf – so führte er in seiner Vorlesung zur Geschichte der Philosophie aus – „daß der Philosophie ihre Aufgaben erwachsen durch den Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur, von der sie selber ein Glied ist. … Die höchsten Zwecke der Philosophie liegen in dem, was die Philosophie dem Leben selber bedeuten soll.“ (VII, 13) Die Entwicklung der Idee des liberalen Sozialismus ist eins der entscheidenden Ergebnisse, in denen Nelson die eigenen philosophischen Bemühungen in den Dienst solcher Lebensfragen gestellt hat. Seine Erwägungen wurden mitbestimmend für jene Programmkommission der SPD, in der die Grundwerte und Leitlinien des „freiheitlichen Sozialismus“ beraten wurden. Die Aussprachen dieser Kommission wurden geleitet von Willi Eichler, einem Schüler Leonard Nelsons. In ihnen wurden Ideen Kants, wie sie von jeher im Rechtsanspruch der Arbeiterschaft mitgewirkt hatten, bewußt hervorgehoben und für den Aufbau des Godesberger Programms geltend gemacht. Ich will drei Punkte nennen, an denen dieser Zusammenhang vor allem sichtbar wird. 1. Der erste betrifft die Unterscheidung zwischen Tatsachenurteilen und Werturteilen. Für die Klärung programmatischer Forderungen ist die Aufweisung politisch verbindlicher Wertmaßstäbe ebenso notwendig wie die sachlich vorurteilslose Untersuchung gesellschaftlicher Gegebenheiten und ihrer Entwicklungsgesetze. So sehr auch die Zielsetzung auf den vorgefundenen Sachverhalt bezogen ist, muß doch beides unabhängig voneinander durchdacht werden; denn aus dem, was sein soll, kann nicht geschlossen werden auf das, was faktisch geschieht, wie auch umgekehrt //212// aus dem, was geschieht, nicht abgelesen werden kann, was rechtlich geboten ist und geschehen soll. Erst die Trennung beider Fragen gibt den Weg frei, zwei einander entgegengesetzten Gefahren zu widerstehen, nämlich sowohl dem keine Grenzen beachtenden Utopismus, der um der Reinheit anerkannter Werte und Ziele willen zu keinem Kompromiß bereit ist, als auch dem wertfreien Opportunismus, der über der notwendigen Anpassung an gegebene Bedingungen deren
* Vortrag, gehalten auf dem Kant-Kongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung, der vom 12.-14. März 1981 in Bonn-Bad Godesberg stattfand. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. Herrmann und B. Neißer (Hrsg.), Grete Henry-Hermann: Sittlichkeit und Vernunft, Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41993-6_5
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rechtlich wertende Beurteilung verpaßt – und damit erst recht den Versuch, das als unrecht und mangelhaft Erkannte zu ändern und besser zu machen. Nelson hat sich philosophisch mit der ersten der genannten Aufgaben befaßt, mit der Aufklärung und Begründung ethisch-rechtlicher Maßstäbe. Wie ernst er das nahm, kommt zum Ausdruck in der Widmung, unter der sein Hauptwerk „Kritik der praktischen Vernunft“, erschienen ist. Er widmet sie David Hilbert, dem Begründer mathematischer Grundlagenforschung, mit den Worten: „Seinem Lehrer und Freund David Hilbert widmet diesen Versuch, dem Herrschaftsbereich der strengen Wissenschaft eine neue Provinz zu erschließen, in Dankbarkeit und Verehrung der Verfasser.“ Diese neue Provinz war das, was er die „Ethik im weiteren Sinn“ nannte, die Lehre von Werten, sofern sie überhaupt menschliches Tun und Verhalten betreffen. Sie umfaßt auch die Untersuchung der rechtlichen Bedingungen, nach denen gesellschaftliche Zustände und Ordnungsformen beurteilt werden sollten. Das Godesberger Programm nimmt in entsprechender Weise die Trennung der Wertfragen von der Tatbestandsanalyse vor. Das geschieht in der Aufstellung und Diskussion der Grundwerte des Sozialismus, mit der erst die angemessenen Fragen und Kriterien für eine vorurteilslose, aber doch zielbewußte Untersuchung gesellschaftlicher Fakten und Gesetze möglich wird. 2. Ich komme zum zweiten Punkt: Die Grundsätze der Ethik Nelsons sind das Gebot der rechten Abwägung und das Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung. Die Verwandtschaft zu den Grundwerten des freiheitlichen Sozialismus liegt auf der Hand. Sie betrifft insbesondere schon die Art, wie in beiden Fällen, im Nelsonschen System der Ethik und im Godesberger Programm, die genannten Werte und Aufgabe bestimmt werden. //213// Das Godesberger Programm stellt die drei Grundwerte – der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Solidarität – den weiteren Ausführungen ohne Begründung voran. Dieser Verzicht auf eine Begründung ist – so seltsam das klingen mag – selber mitbestimmt durch Gedankengänge, die in der Philosophie Kants ihre Wurzeln haben. Er ist keineswegs nur Ausdruck eines Unvermögens der Programmkommission, zu einer von allen Beteiligten anerkannten Begründung der eingeführten Grundwerte vorzudringen – obwohl auch das durchaus mitgewirkt hat. Eine Sitzung der Kommission ging darüber hin, daß die Kommissionsmitglieder vergeblich versuchten, sich untereinander über Begründbarkeit oder Unbegründbarkeit der Grundwerte, über denkbare Wege zu ihrer Begründung und über deren Tücken zu verständigen. Aber in der Erörterung dieser Streitfragen wurde klar, daß trotz solcher Gegensätze eine Aufgabe von allen anerkannt werden konnte und anerkannt wurde.
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Es ging darum, die Klärung der Grundwerte zu trennen von der Erörterung dessen, was im Programm als „letzte Wahrheit“ bezeichnet wird. Beides wird vielfach unkritisch gleichgesetzt, insbesondere da, wo es um die Begründung von Wertaussagen geht. Der Grund, auf dem politische Verantwortung übernommen und auf dem Aufgaben und Zielsetzungen kritisch überprüft werden können, fällt aber nicht zusammen mit dem Bereich weltanschaulicher Stellungnahme. Die Loslösung politischer Verantwortung von Aussagen über letzte Wahrheiten entspricht der Kantischen Unterscheidung zwischen einem Bereich der Natur und dem Reich des an sich Wirklichen. „Natur“ ist nach Kant der Bereich, in dem Gegenstände möglicher Erfahrung erforscht und durch Erfahrung bestimmt werden können; das Reich des an sich Wirklichen wird ahnend aufgefaßt als die vom fragenden Menschen und seinem jeweiligen Standpunkt unabhängige, in sich vollständig bestimmte, aber begrifflich-wissenschaftlich nicht auffaßbare Welt. Die Ethik Nelsons nimmt diesen Gegensatz auf in der Unterscheidung verschiedener Bedeutungen, in denen vom Sinn des Lebens gesprochen werden kann. Die Frage nach dem Sinn des Lebens kann entweder dem Sinn gelten, den der Mensch selber dem eigenen Leben zu geben vermag, indem er Verantwortung übernimmt und das eigene Tun und Lassen menschenwürdigen Zielen unterstellt. Die Frage nach dem Sinn des Lebens kann //214// aber auch das eigene Leben zu verstehen suchen als eingeordnet in eine es umfassende Wirklichkeit, in der es teil hat am Sinn, den diese in sich selber trägt. Ethik und Rechtslehre haben es nach Nelson mit der ersten Frage zu tun und nur mit ihr. Sie wenden sich an den Menschen als handelndes Wesen, an den Menschen, der Verantwortung übernehmen und selber auf die Verhältnisse, unter denen er lebt, einwirken kann. Sie sind unabhängig von Fragen nach dem Sinn der Welt an sich, wie sie sich religiöser Besinnung stellen mögen. Die Unterscheidung ethisch-politischer Verantwortung von religiösem Vertrauen steht hinter den Worten des Godesberger Programms: „Der demokratische Sozialismus … will keine letzten Wahrheiten verkünden – nicht aus Verständnislosigkeit und nicht aus Gleichgültigkeit gegenüber den Weltanschauungen oder religiösen Wahrheiten, sondern aus der Achtung vor den Glaubensentscheidungen des Menschen, über deren Inhalt weder eine politische Partei noch der Staat zu bestimmen haben.„ Diese Grenzziehung im Programm des freiheitlichen Sozialismus macht es möglich, mit den Grundwerten sozialistischen Wollens jeden anzusprechen, der in ihnen Richtlinien des eigenen Lebens erkennt, unabhängig davon, ob und wie ihm diese Grundwerte im Rahmen der eigenen Weltanschauung mit letzten Wahrheiten verbunden sind. 3. Der dritte Punkt, den ich erwähnen will, liegt in der inhaltlichen Verwandtschaft zwischen den Grundwerten des Godesberger Programms und den ethischen
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Lehren Nelsons. Diese Verwandtschaft tritt besonders hervor in der wechselseitigen Beziehung der Grundwerte untereinander, die der engen Verknüpfung zwischen den beiden Grundsätzen der Nelsonschen Ethik entspricht. „Freiheit und Gerechtigkeit bedingen einander“, sagt das Godesberger Programm. Und die Ethik Nelsons weist nach, daß und wie das Gebot gerechter Interessenabwägung und das Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung nur in ihrer wechselseitigen Beziehung aufeinander verstanden werden können. Das Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung kennzeichnet die Freiheit, die menschlichem Leben Wert und Würde zu geben vermag, dadurch nämlich, daß sich der Mensch orientiert an Werten und Normen, wie er selber sie erkennt und bejaht. Zu den Werten und Normen aber, in denen die Vernunft nach Kant sich selber ihr Gesetz gibt, gehört das Sittengesetz, das Gerechtigkeit ge//215//bietet. Es gibt daher keine wohlverstandene Selbstbestimmung ohne die autonome Anerkennung der eigenen Verpflichtung zur Gerechtigkeit. Entsprechend aber verlangt dieses Gebot der Gerechtigkeit – nach der Formulierung Nelsons –, die Interessen des Sozialpartners zu achten, „als ob sie auch die eigenen wären“. Dabei aber geht es um das, was in Wahrheit im Interesse des Menschen liegt, und das ist mehr und unter Umständen etwas anderes als das, worauf sich jeweils unter dem Druck und den Anregungen der Umstände seine Wünsche richten. Im wohlverstandenen wahren Interesse des Menschen als eines vernunftbegabten Wesens liegt die Freiheit, das eigene Leben selber vernünftig gestalten zu können. In dieser Verbindung der Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit liegt für den freiheitlichen Sozialismus wie für die Nelsonsche Ethik der Grund dafür, Sozialismus und Kommunismus, trotz ihrer unverkennbar gemeinsamen Wurzeln, nicht nur gegeneinander abzugrenzen, sondern als unvereinbar miteinander aufzuweisen. Die Grundforderung des Sozialismus ist Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Leben und seiner Sozialordnung; die Chance, ein menschenwürdiges Leben führen zu können, soll jedem in gleicher Weise offenstehen. Auch der Kommunismus beruft sich auf dieses Postulat der Gleichheit und Gerechtigkeit. Aber er meint, dieser Forderung gerecht werden zu können durch Verstaatlichung der Produktionsmittel und staatliche Zuteilung der zur eigenen Lebensgestaltung erforderlichen Bildungsmöglichkeiten. Vernünftige Selbstbestimmung aber kann nicht rationiert und von staatlichen Stellen zugeteilt werden. Sie bedarf der Freiheit zu eigenem Abwägen, Werten und Entscheiden. Diese Freiheit findet ihre rechtliche Grenze nur im gleichen Anspruch aller auf gerechte Berücksichtigung der eigenen wahren Interessen. Freiheit zu vernünftiger Selbstbestimmung darf daher nie als Privileg nur einer Gruppe oder Klasse in der Gesellschaft anerkannt oder gewährt werden. Sie soll jedem in gleichem Maße erreichbar sein, sofern jedenfalls dies von der Sozialordnung abhängt, die dem gesellschaftlichen Leben seine Form gibt.
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Ich habe versucht, an drei Punkten die Nähe spürbar zu machen, die zwischen sozialistischer Ziel- und Aufgabenstellung auf der einen und der Ethik Leonard Nelsons auf der anderen Seite besteht. Die Berührungs//216//punkte betreffen altes Kantisches Gedankengut, das, wenn auch vielfach von anderen Betrachtungen durchzogen und zum Teil verdeckt, wenn nicht gar entstellt, die sozialistische Bewegung doch von ihren Anfängen an mit bestimmt hat. Trotz dieser alten Beziehung aber ist der Schritt zur ausdrücklichen Fundierung des Programms auf die Grundwerte von entscheidender Bedeutung für das Selbstverständnis der Sozialdemokratischen Partei. Willi Eichler hat von einer „ethischen Revolution“ gesprochen: Eine ethische Revolution war es, weil die ethischen Grundwerte der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Solidarität zum Fundament der programmatischen Besinnung genommen wurden anstelle einer weltanschaulichgeschichtsphilosophischen Deutung der gesellschaftlichen Entwicklung. Eine Revolution sah er in dieser Verlagerung des Ausgangspunktes, weil die Grundwerte, wenn sie auch seit hundert Jahren für die sozialistische Bewegung maßgebend waren, doch erst hier im Godesberger Programm um ihrer selbst willen geltend gemacht wurden, unabhängig von jeder weltanschaulichen Einkleidung. So bietet dieses Programm eine Plattform zum Gespräch von Sozialdemokraten mit Menschen innerhalb und außerhalb des sozialistischen Lagers, sofern sie nur im Namen dieser Werte angesprochen werden können. Ist dieser Schritt zu teuer erkauft durch den Verzicht auf eine gemeinsam vertretene Begründung der anerkannten Grundwerte? Nelson hielt in der eigenen Arbeit an der Forderung fest, auch die nicht mehr beweisbaren Grundsätze seines ethischen Systems einer kritischen Erörterung und Begründung zu unterziehen. Die Widmung seiner “ Kritik der praktischen Vernunft“ an David Hilbert, „seinem Lehrer und Freund“, spricht eben das aus. Als Schüler Kants findet Nelson diese Begründung in der Vernunftkritik, die – nach einem Wort Kants – „ein Traktat von der Methode“ ist, „nicht ein System der Wissenschaft selbst“. Nelson versteht diese Methode als anthropologische Aufweisung und sprachlich-begriffliche Wiedergabe unmittelbarer, wenn auch ursprünglich dunkler Ansprüche der menschlichen Vernunft, wie sie faktisch konkreten Wert- und Erfahrungsurteilen zugrunde liegen. Bei der Kürze der mir hier zur Verfügung stehenden Zeit muß ich dar//217//auf verzichten, auf die tiefliegenden Probleme der dieser Aufgabenstellung zugrunde liegenden Theorie der Vernunft einzugehen. Ich will nur den ersten Schritt nennen, der nach Nelsons Verständnis der kritischen Methode die Begründung von Vernunftsprinzipien dadurch vorbereitet, daß diese Prinzipien als faktisch angewandte Kriterien aufgewiesen werden in ethisch-rechtlichen Werten, wie Menschen es in ihrem Alltagsleben vollziehen. Die Klärung der Grundwerte, wie sie
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das Hauptthema in den Beratungen jener Programmkommission war, ist nun in der Tat nichts anderes als dieser erste notwendige Schritt, der nach der kritischen Methode Nelsons an eine Begründung jener Grundwerte heranführt, wenn auch ohne sie selber schon vorzulegen. Diese Beratungen wurden, trotz der erwähnten Anfangsschwierigkeiten, vor Zersplitterung bewahrt, weil sie an einer von allen anerkannten Aufgabe orientiert waren und, dank Willi Eichlers ruhiger Leitung, an ihr festhielten. Es war die Aufgabe, im Gespräch miteinander Wertkriterien für politische Entscheidungen herauszuarbeiten, und zwar so, daß jeder der Teilnehmer sie als maßgebend für eigene konkrete Stellungnahmen wiedererkennen konnte. Und so charakterisiert Nelson in der Tat die Aufgabe der Abstraktion, mit der er den anthropologischen Nachweis ethischer Vernunfterkenntnis einleitet. Der Verzicht auf eine gemeinsame Begründung der Grundwerte war also kein Verzicht auf gemeinsames planmäßiges Vorgehen im Aufweisen und Klären dieser Werte. Auch in der Methode des Gesprächs machten sich Anregungen Leonard Nelsons bemerkbar und haben beigetragen zu seinem fruchtbaren Verlauf. Sie betrafen die Methode der Abstraktion, nach der diskutiert wurde, die aber selber nicht inhaltlich erörtert oder im Programm erwähnt zu werden brauchte. Das verbot sich schon durch den auch von den Schülern Nelsons mitvollzogenen Verzicht darauf, die eigene Philosophie oder Weltanschauung als Grundlage des gemeinsam Erarbeiteten herauszustellen und die Partner an die eigene philosophische Deutung der Arbeit und ihres Ergebnisses zu binden. Ich will schließen mit zwei Aussagen des Godesberger Programms, die diesem ungenannt mitwirkenden Kant-Nelsonschen Einfluß meinem Eindruck nach besonders entsprechen. Die erste spricht das Vertrauen aus, mit dem sich dieses Programm an jeden Menschen guten Willens wendet: „Die Sozialdemokratische Partei //218// ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden.“ Die zweite nennt selbstkritisch die Bedingung, an die dieser Anspruch gebunden bleibt: „Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe – Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren.“
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GRETE HENRY, GEBORENE HERMANN – ZUR PERSON Von Susanne Miller
Am 2. März 1901 in Bremen geboren, wuchs Grete Hermann mit zwei Schwestern und vier Brüdern in einer von protestantischem und konservativem Geist geprägten Familie auf. Ihr Vater war zur See gefahren; um lange Abwesenheiten von Frau und Kindern zu vermeiden, war er Kaufmann geworden. Ihre beiden Großväter waren Pfarrer, mütterlicherseits war sie mit der Familie Engels in Barmen verwandt, über deren berühmten Sproß, den Revolutionär Friedrich Engels, in der Generation ihrer Eltern aber kaum je gesprochen wurde. Obwohl Grete Hermann schon früh mit den religiösen und politischen Traditionen ihres Elternhauses brach, blieb sie mit ihrer Familie tief verbunden, besonders mit ihrer Mutter, über deren vertrauensvolle Frömmigkeit und Güte sie stets mit großer Liebe sprach. Grete Hermann besuchte in Bremen das „Neue Gymnasium“, zu dem damals Mädchen nur in Ausnahmefällen zugelassen waren, bestand dort das Abitur und schloß danach eine Ausbildung als Volksschullehrerin ab. Sie übte diesen Beruf jedoch nicht aus, sondern studierte an den Universitäten Freiburg i. Br. und Göttingen Mathematik, Physik und Philosophie. In Göttingen nahm sie gemeinsam mit einem Bruder an Seminaren von Karl Barth teil, war auch mit dessen Familie gut befreundet, stand aber seiner Theologie fern – seit ihrer Konfirmationszeit hatte sie sich von der Kirche und deren Lehren zunehmend gelöst, wenn auch ein religiöser Zug ihr stets zu eigen blieb. Noch vor der Promotion – „Doktormutter“ war die von ihr hochgeschätzte Mathematikerin Emmy Noether – bahnte sich eine Zusammenarbeit mit dem Philosophen Leonard Nelson an. „Die kritische Philosophie ist mein Schicksal“, hat Grete Henry-Hermann noch in ihren letzten Lebensjahren zu Freunden gesagt. Dieses „Schicksal“ bestimmte ihr Leben seit der Begegnung mit Nelson, über die sie selber in ihren Erinnerungen, die in diesem Band aufgenommen sind, berichtete. 1925 wurde Grete Hermann Nelsons Privatassistentin, bearbeitete gemeinsam mit ihm sein „System der philosophischen Ethik und Pädago//220//gik“ für die Drucklegung und setzte diese Arbeit nach Nelsons Tod im Oktober 1927 mit Minna Specht fort, der Leiterin des von Nelson gegründeten
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. Herrmann und B. Neißer (Hrsg.), Grete Henry-Hermann: Sittlichkeit und Vernunft, Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41993-6_6
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Grete Henry, geborene Hermann – Zur Person
Landerziehungsheims „Walkemühle“. Die „Ethik und Pädagogik“ erschien 1932 als zweiter Band von Nelsons „Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik“. „Es ist […] ein weiter Weg, der vom Aufbau des Systems der Ethik und Pädagogik über die Politik zur Herrschaft ethischer Ideale im öffentlichen Leben führt“, schrieben die Herausgeberinnen Grete Hermann und Minna Specht in ihrem Vorwort, datiert vom 31. August 1931. Damals, knapp ein Jahr nach dem alarmierenden Sieg der Nationalsozialisten in den Reichstagswahlen, waren Nelsons ehemalige Mitarbeiter und Schüler mehr denn je davon überzeugt, daß sein Werk nur dann dem von ihm bestimmten Zweck, zu einer Politik der Vernunft anzuleiten, dienen könne, wenn sich Menschen mit ganzer Kraft für solch eine Politik einsetzen. Das zu erreichen, war Nelsons Motiv gewesen, als er den Internationalen Jugendbund ins Leben rief und Anfang 1926, nach dem Ausschluß der IJB-Mitglieder aus der Sozialdemokratischen Partei, den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) gründete, dessen Leitung nach Nelsons Tod Willi Eichler übernahm. Nelson hatte nicht versucht, Grete Hermann für eine politische Tätigkeit zu gewinnen, denn ihr Interesse und ihre Begabung waren so stark auf das Gebiet der Philosophie gerichtet, daß er die Konzentration darauf offenbar für wichtiger hielt. Doch der Weg von der Philosophie zur Politik war für Grete Hermann nicht weit. Ihre Beziehungen zum Kreis um Nelson brachten sie bald in Verbindung auch mit der von ihm geschaffenen politischen Organisation. Seit 1929 schrieb sie Aufsätze über verschiedene Themen für die Monatszeitschrift des ISK, und als der ISK ab Januar 1932 in Berlin die Tageszeitung „Der Funke“ herausgab, arbeitete sie in der Redaktion mit – an diesem Versuch einer kleinen, machtlosen Gruppe, zur Abwehr des Nationalsozialismus einen Beitrag zu leisten, war sie unmittelbar beteiligt. Ihr Leben war nun mit dem ihrer sozialistischen Genossen eng verknüpft. Nach der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur in Deutsch land widmete Grete Hermann ihre wissenschaftliche Arbeit Problemen, die durch die modernen physikalischen Theorien aufgeworfen worden //221// waren, besonders den philosophischen Grundlagen der Quantenmechanik. Im physikalischen Institut in Leipzig führte sie Gespräche mit Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, die Heisenberg in einem Kapitel seines 1969 erschienenen Buches „Der Teil und das Ganze“ wiedergab. Er schloß es mit einer Bemerkung, aus der hervorgeht, daß nicht nur die „junge Philosophin“ einen Gewinn von diesem wissenschaftlichen Diskurs hatte, sondern daß die Begegnung mit ihr den beiden berühmten Physikern wichtige Einsichten vermittelte. Grete Hermann veröffentlichte ihre Untersuchungen, für die sie – wie sie selber in einer Vorbemerkung schrieb – „die entscheidende Hilfe“ durch Heisenberg erhalten hatte, in drei Arbeiten, davon zwei in den „Abhandlungen der Fries'schen Schule“ (Neue Folge, sechster Band). Auf dem damals eingeschlagenen Weg hätte Grete Hermann
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Beachtung, Ansehen und eine Position in der Wissenschaft erwerben können. Aber sie verfolgte ihn nicht weiter, denn ihre politischen und menschlichen Bindungen führten sie in eine andere Richtung. Fast alle aktiven Mitglieder des ISK hatten sich zur illegalen Widerstandsarbeit gegen das NS-Regime entschlossen, die von der Auslandszentrale des ISK in Paris unterstützt wurde. Minna Specht hatte in Dänemark ein Schulheim für Kinder von Antifaschisten eingerichtet, in dem auch Gustav Heckmann und andere frühere Mitarbeiter der „Walkemühle“ tätig wurden. Grete Hermann wohnte lange Zeit in diesem Schulheim und nahm dort sowohl an den pädagogischen Aussprachen seiner Lehrer als auch am Küchendienst teil. Mit anderen ins Ausland geflüchteten Freunden hielt sie ebenfalls Kontakt, und sie übernahm auch eine Aufgabe im Zusammenhang mit der Widerstandsarbeit in Deutschland: Sie leitete philosophische Gespräche mit an dieser Arbeit aktiv Beteiligten. Über diese Tätigkeit gab sie Jahrzehnte später Birgit Nielsen, der Verfasserin eines Buches über Minna Spechts Schule in Dänemark, Auskunft: „Wir haben erfahren, daß Mut und Bereitschaft zum Widerstand gestärkt werden konnten auch durch gedankliche Klärung der Werte, um die es dabei ging. … So bin ich bis zum Jahr 1937, in dem Gestapo-Zugriffe weitere solche Zusammenkünfte unmöglich machten, in die verschiedenen Städte gefahren, in denen unsere Freunde ihre illegale Arbeit taten, und habe, ohne selber an dieser Arbeit teilzunehmen, mit ihnen philosophische //222// Kurse abgehalten […]. Sie gingen tiefer und waren lebendiger als wohl alle Unterrichtsarbeit, wie ich sie sonst in meinem Leben geleistet habe.“ Nach der Verhaftung und Flucht vieler ihrer Freunde mußte auch Grete Hermann Deutschland verlassen, um nicht sich und andere zu gefährden. Nach einem Aufenthalt in Paris ging sie nach London. Um die Möglichkeit zu erhalten, sich dort ohne Schwierigkeiten mit den Behörden aufhalten und Reisen zu ihren politischen Freunden unternehmen zu können, schloß sie zum Erwerb der britischen Staatsangehörigkeit eine formale Ehe, die nach dem Krieg geschieden wurde. Während des Zweiten Weltkriegs führte sie einer Gemeinschaft politischer Freunde den Haushalt und nahm an Aktivitäten sozialistischer Emigranten teil. So schwer diese Jahre in vieler Hinsicht für sie waren, so betonte sie doch oft, für wie wertvoll sie ihre Erfahrung mit dem englischen Lebens- und Verhaltensstil und mit einer auf langen Traditionen beruhenden Demokratie hielt. Nach Bremen 1946 zurückgekehrt, übernahm Grete Henry-Hermann die Leitung der im Aufbau befindlichen Pädagogischen Hochschule. „Unser Schutzpatron war damals der Heilige Improvisatius“, erzählte sie heiter und mit einem Schuß Selbstironie über diese Zeit. Wichtiger noch als der Unterricht in Philosophie und Physik, den sie nach dem Rücktritt von der Leitung der Hochschule als Professorin dort weiter erteilte, war ihr menschlicher Einfluß auf eine durch NS-Herrschaft und Krieg zutiefst verun-
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sicherte Generation junger Menschen. Ihnen gab sie, wie sich manche ihrer Schüler dankbar erinnern, Halt und Orientierung, die sie anderswo kaum fanden. Wie nie zuvor war Grete Henry-Hermann in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg im öffentlichen Leben tätig. Sie wurde die Leiterin der Pädagogischen Hauptstelle der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und gehörte als Mitglied der SPD einigen von Willi Eichler geleiteten Gremien an, die das Godesberger Programm vorbereiteten. An dessen Entstehung, gedanklichem Gehalt und weiterer Wirkung hatte sie solch ein Interesse, daß sie 1981, als sie sonst nicht mehr in der Öffentlichkeit auftrat, auf einem Kant-Kongreß über den Einfluß Nelsonscher Ideen auf das Godesberger Programm sprach. Große Befriedigung empfand sie bei ihrer Mitarbeit im Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen, schätzte sie doch besonders die dort geübte Praxis, daß Men//223//schen unterschiedlicher weltanschaulicher und politischer Überzeugungen in offener und sachlicher Diskussion gemeinsame Stellungnahmen und Vorschläge erarbeiten. Auch fand sie im Deutschen Ausschuß den Umgang mit gebildeten Menschen anderen geistigen Herkommens, besonders mit Katholiken vom Schlage eines Walter Dirks, sehr anregend. Bis zu ihrem Tod am 15. April 1984 beschäftigte Grete Henry-Hermann die Auseinandersetzung mit der kritischen Philosophie, vor allem in der Ausprägung, die sie durch Leonard Nelson gefunden hatte. Publiziert hat sie darüber nur wenig, auch in die wissenschaftliche Diskussion philosophischer Fragen hat sie sich selten eingeschaltet. Doch immer, wenn sie auf Sitzungen oder Tagungen das Wort nahm, machten die Scharfsinnigkeit ihrer Gedanken und die Klarheit ihrer Formulierungen einen großen Eindruck. Auf Bitten ihrer Freunde übernahm sie für einige Jahre den Vorsitz in der Philosophisch-Politischen Akademie, die sich um das geistige Erbe Leonard Nelsons bemüht, und es war Grete Henry-Hermann, die für die neunbändige Ausgabe von Nelsons Gesammelten Schriften die Hauptarbeit geleistet hat. Die letzten Jahrzehnte verbrachte Grete Henry-Hermann sehr zurückgezogen. Im Februar 1961 starb Minna Specht, die ihr am nächsten stehende Freundin, die einige Jahre zuvor zu ihr nach Bremen gezogen war, und die sie in deren langer Krankheit hingebungsvoll gepflegt hatte. Am Leben ihrer Verwandten und Freunde nahm sie weiter inneren Anteil, die politischen Ereignisse verfolgte sie mit Interesse und einem kritischen Urteil. Persönlich von fast asketischer Bedürfnislosigkeit, war sie äußerst großzügig in der materiellen Unterstützung ihr nahestehender Menschen und sinnvoll erscheinender Zwecke. Immer schon in sich gekehrt, wirkte sie niemals bitter, wohl aber zunehmend resignierend, auch hinsichtlich ihrer eigenen Kräfte und Vollbringungen. Als beglückend empfanden alle Menschen, die mit Grete Henry-Hermann in nähere Berührung kamen, ihre Fähigkeit zum Gespräch, bei dem sich ihre Partner stets als Gleiche angesprochen fühlten, und ihre warmherzige Hilfsbereitschaft, einen Grundzug ihres gütigen Wesens.
BIBLIOGRAPHIE A. Veröffentlichungen von Grete Henry-Hermann 1926
Die Frage der endlich vielen Schritte in der Theorie der Po lynomideale. Unter Benutzung nachgelassener Sätze von K. Hentzelt, in: Mathematische Annalen (Berlin) Bd. 95, Heft 5, S. 736788
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Kapitalistische und sozialistische Solidarität, in: ISK, Mitteilungsblatt des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes, Jg. 4, Heft 5, S. 75-78
1930
(a) Zu Ludwig Ruben: Fries und die Psychologie des Sehens. Anhang 1: Die Verteidigung des Nativismus durch Hillebrand. Anhang 2: Bemerkungen zur Gestalttheorie, in: Abhandlungen der Fries'schen Schule, Neue Folge, Bd. 5, Heft 2, S. 211-226 (b) Rezension von: Franz Brentano, Vom Dasein Gottes, ebenda S. 229-234
1932
(a) Leonard Nelson, System der philosophischen Ethik und Pädagogik. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Grete Hermann und Minna Specht. Göttingen (Verlag „Öffentliches Leben“) (b) Völkerverständigung. Der Völkerbund, in: ISK, Mitteilungsblatt des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes, Jg. 7, Heft 4, S. 59-64 (c) Die Lehre vom Recht als wissenschaftliche Grundlage des Sozialismus, in: ebenda, Heft 7, S. 116-125 (d) „Gleichberechtigung“ und „Sicherheit“. Gegen den Rüstungswahnsinn! in: ebenda, Heft 11, S. 185-193
1935
(a) Die naturphilosophischen Grundlagen der Quantenmechanik, Berlin (Verlag „Öffentliches Leben“)
Zuvor in: Abhandlungen der Fries'schen Schule, Neue Folge, Bd. 6, Heft 2, S. 69-152. Auszug in: Die Naturwissen//226// schaften, Jg. 23 (1935), Heft 42, S. 718-721, unter demselben Titel Rezensiert u.a. von C. F. v. Weizsäcker in: Physikalische Zeitschrift, Jg. 37, 1936, Heft 14, S. 527 f.)
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© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. Herrmann und B. Neißer (Hrsg.), Grete Henry-Hermann: Sittlichkeit und Vernunft, Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41993-6
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Bibliographie
(b) Rezension von: Karl Popper, Logik der Forschung, in: Physikalische Zeitschrift, Jg. 36 (c) Zu H. Bernardelli, Aktuelle Probleme der Wertlehre, in: Abhandlungen der Fries'schen Schule, Neue Folge, Bd. 6, S. 216-222
1936
Zum Vortrag Schlicks, in: Das Kausalproblem, II. Internationaler Kongreß für Einheit der Wissenschaft, Kopenhagen 1936, in: ERKENNTNIS, Bd. 6, Heft 5/6, S. 342 f.
1937
(a) Die Bedeutung der modernen Physik für die Theorie der Erkenntnis. Drei mit dem Richard-Avenarius-Preis ausgezeichnete Arbeiten von Dr. Grete Hermann, Bremen, Dr. E. May, Göttingen, Dr. Th. Vogel, Bad Nauheim. Leipzig (Verlag von S. Hirzel), S. 1-44 (b) Über die Grundlagen physikalischer Aussagen in den älteren und den modernen Theorien, Leipzig (Verlag „Öffentliches Leben“) Auch in: Abhandlungen der Fries'schen Schule, Neue Folge, Bd. 6, Heft 3/4, S. 309-398 (c) Die naturphilosophische Bedeutung des Übergangs von der klassischen zur modernen Physik, in: Travaux du IXe Congrès International de Philosophie „Congrès Descartes“, publ. par les soins de Raymond Bayer, Paris, VII, S. 99-101
1935 – 1940 Beiträge in der Zeitschrift „Sozialistische Warte“, Paris, nacheinander unter den Pseudonymen Leonore Bremer, Gerda Bremer, Peter Ramme: (a) Leonore Bremer: Nationalsozialistische Rechtsleere, 1935: Nr. 6, 137-141 (b) Gerda Bremer: Die Macht der Empörung, Nr. 8, 170-174 (c) August Forels Lebenserinnerungen, 1936: Nr. 2, 45-47 (d) Christen oder Sozialisten, Nr. 4, 84-90 (e) Der subjektive Faktor, Nr. 7, 155-161 (f) Rechtsgefühl und Rechtswissenschaft, Nr. 12, 276-279; Nr. 13, 306-311 //227//(g) Peter Ramme: Politik und Charakter, 1937: Nr. 11, 242247 (h) Politik der Einsicht, Nr. 15, 337-341 (i) Sittlichkeit und Religion, Nr. 30, 707-709; Nr. 31, 725-728 (j) Psychologie und Erziehung, 1938: Nr. 10, 225-228; Nr. 11, 249254
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(k) Fortgeschrittener Marxismus, Nr. 13, 292-293; Nr. 14, 318-321; Nr. 15, 344-346 (1) Wissenschaftlicher Sozialismus, Nr. 14, 332-336 (m) Sein und Sollen, Nr. 21, 484-486 (n) Tiefenpsychologie, Nr. 24, 557-560; Nr. 26, 612-616; Nr. 29, 677680; Nr. 30, 703-706; Nr. 37, 868-875 (o) Die dialektische Geschichtsbetrachtung, Nr. 50, 1180-1183 (p) Die Selbstentfremdung des Menschen, 1939: Nr. 2, 32-35 (q) Der Sinn der Geschichte, Nr. 17, 401-405 (r) Grenzen der Rechtsidee? Nr. 30, 712-716 (s) Die Verwirklichung der Freiheit, Nr. 41, 960-965 (t) Revision des Marxismus, Nr. 42, 994-997 (u) Die Verwirklichung der Freiheit, 1940: Nr. 2, 60-62; Nr. 3, 66-68; Nr. 6, 158-162 (v) Angewandte Ethik, Nr. 9, 247-252
1945
Politik und Ethik. Herausgegeben im Auftrage des ISK von der „Renaissance“ Publishing Co., London Englischsprachige Ausgabe: Politics and Ethics. Bombay 1947 (The National Information and Publication Ltd.)
1947
Ethik und Sozialismus, in: Geist und Tat. Monatsschrift für Recht, Freiheit und Kultur, Jg. 2, Nr. 2, S. 8-13
1948
(a) Die Lehre vom Recht. Ein Beitrag zum Thema „Sein und Sollen“, in: ebenda, Jg. 3, Nr. 3, S. 114-117 (b) Die Kausalität in der Physik, in: Studium Generale, Jg. 1, Heft 6, S. 375-383
1950
Ethik und Naturwissenschaft. Ein Beitrag zu der von Carlo Schmid angeregten Diskussion über die Voraussetzungen //228// eines sozialistischen Programms, in: Geist und Tat, Jg. 5, Nr. 9, S. 383-389
1951
Der 10. Dezember – der Tag der Menschenrechte. Rede, gedruckt als Beilage der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung
1953
Die Überwindung des Zufalls. Kritische Betrachtung zu Leonard Nelsons Begründung der Ethik als Wissenschaft, in: Leonard Nelson zum Gedächtnis. Herausgegeben von Minna Specht und Willi Eichler, Frankfurt a. M./Göttingen (Verlag „Öffentliches Leben“), S. 25-111
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Neuordnung des Schulwesens. Zum Rahmenplan des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, in: Geist und Tat, Jg. 14, Nr. 8, S. 228-234
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Gibt es einen freien Willen? Alte Fragen im Licht moderner Wissenschaft, in: Geist und Tat, Zeitschrift für Politik und Kultur, Jg. 23, Heft 1, S. 31-37
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„Grundwerte“ und „Letzte Wahrheiten“. Zwei Grundentscheidungen und ihre Problematik, in: ebenda, Jg. 24, Heft 4, S. 238-247
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Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Kritik der Vernunft, in: Ratio, Bd. 15, Heft 2, S. 197-209
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Leonard Nelson, Vom Selbstvertrauen der Vernunft. Schriften zur kritischen Philosophie und ihrer Ethik. Mit einem Vorwort herausgegeben von Grete Henry-Hermann, Hamburg (Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek Bd. 288)
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Leonard Nelson (1882-1927), in: Archives de Philosophie 39, S. 353365 (französisch)
//229// 1983 Beitrag in: Ceterum censeo . . . Bemerkungen zu Aufgabe und Tätigkeit eines philosophischen Verlegers. Richard Meiner zum 65. Geburtstag (Herausgegeben von Manfred Meiner), Hamburg (Felix Meiner Verlag), S. 77-81
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Grete Henry, geborene Hermann – Zur Person209
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Vorwort (französisch) zu Leonard Nelson, Certitudes de la Raison (Übersetzung von „Vom Selbstvertrauen der Vernunft“, s.o. unter 1975) Verlag Beauchesne, Paris
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Gustav Heckmann, Grete Henry-Hermanns Weiterbildung der Ethik Leonard Nelsons. Aus Anlaß ihres Todes am 15. April 1984, in: Ratio Bd. 26, Heft 2, S. 82-87
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Birgit S. Nielsen, Erziehung zum Selbstvertrauen. Ein sozialistischer Schulversuch im dänischen Exil 1933-1938. Mit einem Vorwort von Hellmut Becker. Übers. aus dem Dänischen von Nora Walter. Wuppertal (Peter Hammer Verlag)
(erstellt von Klaus-Rüdiger Wöhrmann, Hamburg)
NAMENVERZEICHNIS Ach, Narziß: //186, 188, 189// Bacon, Francis: //199// Barth, Karl: //182, 185, 187, 189, 191, 219// Bernays, Paul: //32 f., 34, 191, 199, 200// Bolzano, Bernhard: //200// Born, Max: //131, 132, 138, 139// Brentano, Franz: //199, 200// Brouwer, Luitzen: //193// Courant, Richard: //188, 189// Descartes, René: //199// Dirks, Walter: //223// Düker, Heinrich: //189// Dunant, Henri: //58// Eichler, Willi: //IV, 211, 216, 217, 220, 222// Engels, Friedrich: //177, 219// Fries, Jakob Friedrich: //XI, XII, XIV, XV, XVII, 33, 67, 69, 70, 87, 100, 101, 102, 103, 124, 140, 151, 152, 159, 165, 180, 186, 199, 200, 207// Fromm, Erich: //140, 141, 142, 143, 144, 147, 149, 150// Gandhi, Mohandas Karamchand: //58// Gysin, Arnold: //183, 184// Heckmann, Gustav: //IV, XI, 84, 221// Heisenberg, Werner: //XV, 93, 221// Hilbert, David: //XII, XIII, XIV, 3, 99, 144, 212, 216// Hume, David: //166, 167, 168, 199// Kant, Immanuel: //XVII, 69, 70, 87, 100, 105, 115, 120, 121, 122, 124, 126, 129, 131, 132, 140, 148, 154, 160, 177, 186, 199, 211, 213, 214, 216, 217, 222// Kastil, Alfred: //199, 200// Kowalewsky, Michael: //191// Kraft, Julius: //130// Laplace, Pierre Simon Marquis de: //67, 87, 88// Marx, Karl: //177// Miller, Susanne: //IV, X, 219// Nielsen, Birgit: //221// Noether, Emmy: //186, 187, 189, 195, 219// Nohl, Herman: //190// © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. Herrmann und B. Neißer (Hrsg.), Grete Henry-Hermann: Sittlichkeit und Vernunft, Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41993-6
212 Schiller, Friedrich: //157// Schmolling, Maria: //XV// Schweitzer, Albert: //59// //232// Sokrates: //5// Specht, Minna: //IV, XIV, 114 f., 180, 203, 210, 220, 221, 223// Spengler, Oswald: //192, 193// Torboff, Zeko: //197, 202// Wei: //189// Weizsäcker, Carl Friedrich von: //XV, 221//
Namenverzeichnis
Anhang Zur Begründung der Ideallehre.*
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//1// Die Ideallehre fragt nach dem Kriterium der Bildung. Sie bestimmt den Maßstab, nach dem ein Mensch leben muss, um mit Recht als gebildet gelten zu können. Wir können die Ausführungen der Ideallehre also auffassen als Antwort auf die Frage: Nach welchem Gesichtspunkt fällt eine vollkommen gebildete Person ihre Entscheidungen? Wenn wir das Problem der Ideallehre so stellen, dann geraten wir bei ihrem Aufbau in eine grundsätzliche Schwierigkeit, die sich wohl am deutlichsten darstellen lässt auf Grund einiger Ausführungen über das Wesen des Gebildeten, die NELSON in der „Kritik der praktischen Vernunft“ entwickelt. Anlässlich des Problems, wie Stärke und Wert der Interessen bei der gerechten Abwägung berücksichtigt werden sollen, führt NELSON aus: „Wir können die Abwägung der Interessen ... auf eine blosse Vergleichung ihrer Stärke zurückführen ... wenn wir uns die Stärke der Interessen ihrem Wert gemäss modifiziert denken. ... Wir können dieses Kriterium auch so formulieren, dass dasjenige Interesse vorzugswürdig ist, das eine vollkommen gebildete Person vorziehen würde, wenn die kollidierenden Interessen in ihr vereinigt wären. Denn eine vollkommen gebildete Person ist dadurch definiert, dass sie einerseits stets das Wertvollere als solches erkennt und andererseits das als wertvoller Erkannte stets dem als weniger wertvoll Erkannten vorzieht. Sie ist also gerade dadurch charakterisiert, dass die Inkongruenz von Stärke und Wert der Interessen bei ihr nicht besteht.“ („Kritik“, Seite 252.) In dieser Erklärung werden zwei Gesichtspunkte //2// für die Entscheidung einer vollkommen gebildeten Person genannt: 1. Die vollkommen gebildete Person erkennt stets das Wertvollere als solches und zieht es dem als weniger wertvoll Erkannten vor; sie entscheidet sich also zu Gunsten des höchsten Wertes. 2. Die Inkongruenz von Stärke und Wert der Interessen besteht bei ihr nicht; sie entscheidet sich also für das wertvollste Interesse. * Nach Gesprächen mit Nelson aus den Jahren 1926/27, zum 22. Dezember 1929 aufge schrieben. In: AdsD, 1/GHAJ000002. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 K. Herrmann und B. Neißer (Hrsg.), Grete Henry-Hermann: Sittlichkeit und Vernunft, Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41993-6
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Zur Begründung der Ideallehre
Sind diese beiden Bestimmungen wirklich nur, wie NELSON meint, verschiedene Formulierungen für dasselbe Kriterium? Wir werden das am besten entscheiden können, wenn wir auf die Überlegungen zurückgehen, in denen NELSON den Grund für die hier genannten Erklärungen angibt. Die erste dieser Erklärungen stützt sich auf die Ausführungen des § 139 der „Kritik“. NELSON geht aus von dem Unterschied zwischen den „subjektiven“ Interessen, die in einer blossen Schätzung des Gegenstandes bestehen, ohne etwas über seinen Wert zu behaupten, und den „objektiven“ Interessen, in denen Werte erkannt werden. Die subjektiven Interessen sind durch ihre Stärke vollständig charakterisiert. Bei den objektiven Interessen entsteht dagegen die Frage, ob die Stärke des Interesses dem Wert entspricht, auf den sich das Interesse richtet. Denn diese objektiven Interessen entspringen einer ursprünglich dunklen praktischen Erkenntnis, wir werden uns ihrer daher erst durch Nachdenken bewusst. NELSON behauptet: „Je nachdem, ob die richtige Einsicht in den Wert des Gegenstandes vor//3//handen ist oder nicht, entspricht die Stärke des Interesses dem Wert des Gegenstandes oder nicht“, und ergänzt diese Behauptung gleich darauf dahin, dass im Grunde noch nicht die Einsicht, sondern erst die Bildung eines Menschen die Harmonie zwischen der Stärke seiner Interessen und den in diesen Interessen erkannten Werten sichert. Gebildet ist danach derjenige, für dessen Entscheidungen die Interessen ins Gewicht fallen je nach den in ihnen enthaltenen Wertbehauptungen, der seine Interessen also berücksichtigt gemäss dem Wert des Gegenstandes, auf den sie sich richten. NELSONs zweite Erklärung des Gebildeten geht zurück auf die Überlegungen des § 140 der „Kritik“. Unsere Interessen sind selber Gegenstände, die wir bewerten können, und zwar hängt diese Bewertung der Interessen – sofern kein praktischer Irrtum unterläuft – davon ab, wie die Interessen als Lebensäusserungen einer Person zum Wert des Lebens dieser Person beitragen. Die Bewertung der eigenen Interessen geht also aus von dem Interesse am Wert des eigenen Lebens. Ein Mensch, der sich durch dieses Interesse bestimmen lässt, wird also die Stärke seiner Interessen ihrem Wert gemäss modifizieren. Nach der zweiten Erklärung ist ein solcher Mensch gebildet. Die Entscheidungen des Gebildeten richten sich demgemäss nach dem Wert der Interessen, unter denen der Handelnde zu wählen hat. Um die beiden Erklärungen mit einander zu vergleichen, müssen wir also fragen: Kommt es auf dasselbe hinaus, ob wir unsere Interessen gemäss dem Wert ihrer Gegenstände oder gemäss ihrem eigenen Wert berücksichtigen? Da wir den //4// Wert eines Interesses seinerseits durch das Interesse am Wert des eigenen Lebens erkennen, so können wir diese Frage auch so formulieren: Kommt es auf dasselbe hinaus, ob wir uns durch die Gesamtheit aller objektiven Interessen oder nur durch das Interesse am Wert des eigenen Lebens bestimmen lassen?
Zur Begründung der Ideallehre215
Nun kann es in der Tat sein, dass zwei Menschen, von denen sich der eine nach dem Wert der Gegenstände seiner Interessen, der andere nach dem Wert der Interessen selber richtet, in gewissen Lagen zu gleichen Entscheidungen kommen. Denn einerseits fordert das Interesse am Wert des eigenen Lebens – durch das sich der Wert der Interessen bestimmt – eine gewisse Berücksichtigung auch der anderen objektiven Interessen, und andererseits kann unter Umständen der höchste für einen Menschen erreichbare Wert selber der Wert einer Handlung sein. Aber selbst wenn die beiden Maßstäbe notwendig in allen Fällen zu den gleichen Entscheidungen führen würden – was durchaus nicht selbverständlich ist und eines ausführlichen Nachweises auf Grund der Ideallehre bedürfte –, selbst dann bliebe die Frage offen, ob wir es in den beiden Erklärungen nur mit verschiedenen Formulierungen desselben Maßstabes zu tun haben; denn es fragte sich noch, ob nicht zwei Menschen, von denen der eine der ersten, der andere der zweiten Erklärung des Gebildeten genügt, ihr Leben im Grunde von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus bestimmen, so dass es für sie zufällig wäre, dass sie in allen Einzelfällen zu den gleichen Entscheidungen kämen. In der Tat: Zwei solche Menschen würden nach //5// ganz verschiedenen Gesichtspunkten handeln. Die Frage des einen von ihnen lautet: Welchen Wert kann ich durch mein Handeln erreichen? Der andere fragt: Welchen Wert kann mein Handeln erreichen? Für den ersten ist der Wert des Produkts der Handlung ausschlaggebend; er ist also grundsätzlich bereit, den Wert einer Handlung zu opfern, wenn er dadurch ein wertvolleres Produkt erreichen kann. Der andere richtet sich nach dem Wert seiner Handlung und würde, wenn es zur Kollision käme, den Wert des Produkts hinter den der Handlung zurücksetzen. Welcher von beiden ist nun in Wahrheit der Gebildete? Wer von ihnen hat den Maßstab, der eines Menschen würdig ist? Hören wir die Gründe, die jeder von ihnen für seinen Standpunkt vorzubringen hat! Die Auseinandersetzung würde etwa in der folgenden Form verlaufen: H.: Gebildet ist ein Mensch, der für sein Leben die Folgen der ursprünglichen Dunkelheit der Vernunft ausgeschaltet hat, der also so handelt, wie ein Wesen handeln würde, dem die Vernunfterkenntnisse unmittelbar einleuchtend und für das Handeln bestimmend wären. Das werden Sie zugeben. – Ein solches Wesen würde in seinen objektiven Interessen den Dingen den Wert zuschreiben, der ihnen in Wahrheit zukommt. Seine objektiven Interessen würden sich also allein durch den Wert ihrer Gegenstände bestimmen; ihre Starke würde dem Wert ihrer Gegenstände entsprechen. Gemäss ihrer Stärke aber würden sie auf den Willen eines solchen Wesens einwirken und es zum Handeln veranlassen. Der Gebildete wird sich also in seinem Handeln leiten //6// lassen durch den wahren Wert der Dinge,
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Zur Begründung der Ideallehre
auf die er mit seinem Handeln einwirken kann. Die Frage nach dem Produkt seiner Handlung ist für ihn entscheidend, nicht aber, wie es nach Ihrer Begründung der Ideallehre sein müsste: die nach dem Wert der eigenen Handlung. Denn was könnte ihn veranlassen, diesen einen Wert, den der eigenen Handlung, so allen anderen Werten vorzuziehen? N.: Nun, einfach die Frage, ob es gut ist, eine bestimmte Handlung zu tun. Denn das ist nichts anderes als die Frage nach dem Wert der Handlung. H.: Aber das ist doch eine ganz ungerechtfertigte Auszeichnung der eigenen Handlung vor anderen Dingen, die Wert haben können. Warum sollte mich der Wert meiner eigenen Handlung mehr angehen als alle anderen möglichen Werte? N.: Weil Sie nur für Ihre Handlungen und nicht für andere Werte verantwortlich sind. H.: Allerdings bin ich nur für meine Handlungen verantwortlich. Daraus folgt aber nicht, dass meine Handlungen für mich zum Selbstzweck werden sollten. N.: Das sollten sie auch nicht. Der Wert einer Handlung kann ja gerade darin bestehen, dass der Handelnde sich einem objektiven Wert hingibt, der vom Wert seiner Handlung verschieden ist. H.: Aber der Gebildete wird sich, nach Ihrer Auffassung, diesen anderen Werten doch nur so weit hingeben, als er damit den Wert seiner Handlung und damit letzten Endes den Wert seines eigenen Lebens erhöhen kann. Ist //7// jede Hingabe an andere Werte als den des eigenen Lebens eingeschränkt, ja im Grunde schon aufgehoben wird?1 Denn alle anderen Werte werden damit zu blossen Mitteln für die Vervollkommnung des eigenen Lebens erniedrigt! N.: Nein, wir schätzen diese Werte um ihrer selbst willen und nicht nur als Mittel zu unserer Vervollkommnung. Aber bei der Frage, was wir tun sollten, haben wir es nur mit dem Wert unserer Handlung zu tun. H.: Das wäre richtig, wenn wir durch unseren Willen nur auf unser eigenes Handeln Einfluss hätten. Nun können wir uns allerdings unmittelbar nur zu Handlungen entschliessen, aber mittelbar können wir durch die Handlungen auf andere Naturereignisse einwirken, die nicht unsere Handlungen sind. Warum sollen wir ihre Werte ausser Acht lassen? Wir haben doch auch an ihnen ein objektives Interesse, und dieses Interesse vermag unseren Willen zu bestimmen. N.: Das ist nur eine psychologische Tatsache, aus der nichts darüber folgt, welche Handlungen getan werden sollten. Die Ideallehre fragt nach dem, was geschehen sollte und also nach wertvollen Handlungen.
1 Der Satz steht so auch im Originaltext.
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H.: Mir scheint, dass Sie in der Ideallehre von einer falschen Fragestellung ausgehen. Die Ideallehre kann nicht durch das ästhetische Interesse am Wert des eigenen Handelns begründet werden, und zwar aus dem folgenden Grund nicht: Es kann für uns keine ethische Aufgabe geben, an deren Erfüllung wir nicht ein eigenes wahres Interesse hät//8//ten; denn andernfalls gäbe es eine ethische Aufgabe, die wir nur auf Grund eines Irrtums über unser wahres Interesse erfüllen könnten. Das aber widerspricht dem Begriff einer ethischen Aufgabe. Wenn es unsere Aufgabe ist, stets die wertvollere Handlung den weniger wertvollen Handlungen vorzuziehen, dann sollten wir bereit sein, das Interesse am wertvollen Handeln auch dann zu befriedigen, wenn es mit einem überwiegenden Interesse, das wir am Produkt einer möglichen Handlung haben, kollidiert. Mit anderen Worten: Wir sollten bereit sein, gegebenenfalls dem eigenen überwiegenden wahren Interesse entgegenzuhandeln. Diese Bereitschaft kann aber sicher nicht in unserem eigenen wahren Interesse liegen. Also darf man die Ideallehre nicht auf die Frage aufbauen, ob es wertvoll ist, eine bestimmte Handlung zu tun. N.: Sollte das ein Fehler gewesen sein? H.: Ich denke, ja. Allerdings, wenn ich den Gedankengang verfolge, durch den Sie die Ideallehre auf das ästhetische Interesse am eigenen Handeln gründen, dann werde ich unsicher; so einleuchtend erscheint der Gedankengang. Und doch enthält er offenbar die Quelle der Schwierigkeiten, die ich Ihnen genannt habe. Ihr Gedankengang ist doch der folgende: Die Grundfrage der Ideallehre: Welches Handeln ist gut? sucht nach einer objektiven praktischen Auszeichnung unter den möglichen Handlungen. Eine solche Auszeichnung wird bestimmt durch den Wert der Handlungen. Mit der angegebenen Frage suchen wir also nach einem Kriterium für wertvolles Handeln. Dieses Kriterium wird uns durch die //9// ästhetische Wertung der Handlungen gegeben. Durch sie muss also die Ideallehre begründet werden. N.: Ja, so kann man die Überlegung darstellen. H.: Nun vermute ich, dass hier die Frage: Ist es gut, so zu handeln? doppeldeutig ist. Wenn ich darunter die Frage verstehe, ob die Handlung wertvoll sei, dann frage ich damit nach einer objektiven praktischen Auszeichnung der Handlung selber; verstehe ich darunter aber die Frage, ob ich mich zu der Handlung entschliessen sollte, dann frage ich nach einer objektiven praktischen Auszeichnung des Zwecks der Handlung. Denn ich entschliesse mich zu einer Handlung stets nur auf Grund des Zwecks, den ich mit der Handlung verfolge, und zu dessen Erfüllung die Handlung selber ein blosses Mittel ist. Die Ideallehre hat es nur mit der Frage zu tun, wie wir handeln sollten, sie darf also nicht von der unmittelbaren Bewertung der Handlung ausgehen, sondern hat nach einer Bewertung der Zwecke zu fragen.
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N.: Aber wie wollen Sie dann zur Ableitung idealer Aufgaben kommen? H.: Durch die Aufweisung objektiver Zwecke, d.h. solcher Zwecke, die wir uns auf Grund objektiver Interessen setzen. Alle reinen Interessen – nicht nur die am Wert eigener Handlungen –, die zu Antrieben führen können, begründen danach ideale Aufgaben. N.: Aber daraus, dass sich auf eine Handlung ein Antrieb richtet, folgt doch nicht, dass wir sie tun sollten! //10// H.: Im allgemeinen natürlich nicht, wohl aber, wenn dieser Antrieb durch das überwiegende wahre Interesse bestimmt ist. N.: Wieso? Haben wir die Aufgabe, unser überwiegendes wahres Interesse zu befriedigen? H.: Hm, rein logisch folgt das allerdings nicht. Die Behauptung, dass wir unser überwiegendes wahres Interesse befriedigen sollten, ist synthetisch. Aber vielleicht lässt sie sich deduzieren. Ich müsste also versuchen, ein eigenes Interesse aufzuweisen, in dem wir die Befriedigung unseres überwiegenden wahren Interesses als unsere Aufgabe erkennen. N.: Das ist alles sehr schwierig. Evident ist nur das Eine, dass die Ethik nicht evident ist. H.: Unser voriges Gespräch hat mich in überraschender Weise auf Ansichten von FRIES zurückgeführt. Das ideale Interesse an der Befriedigung der überwiegenden wahren Interessen, zu dessen Annahme ich gezwungen wurde, hat grosse Ähnlichkeit mit dem „reflektierten Trieb“, der, wie FRIES sagt, im Streit der Neigungen keine eigene Partei bildet, sondern nur als „ausgleichender Richter" auftritt. Denn das ideale Interesse nennt nicht selber einen Wert, sondern macht nur das Streben nach anderweitigen Werten zur Aufgabe. Ferner: Wenn es ein solches ideales Interesse gibt, dann ist es wahrscheinlich, dass es dieses Interesse ist, wodurch das Streben nach der Verwirklichung oder Erhaltung des Schönen möglich ist, und dass FRIES also doch //11// recht hat mit der Leugnung rein ästhetischer, d.h. aus ästhetischen Interessen entspringender Antriebe. N.: Sehr merkwürdig! – Sie wollen also die Ideallehre in Analogie zur Pflichtenlehre aufbauen, und sie auf ein Interesse gründen, das unmittelbar die Erkenntnis einer Aufgabe ist. H.: Ja, und darin sehe ich noch einen besonderen Vorteil, den nämlich, dass hiernach die Behauptung der Unabhängigkeit der subjektiven von der objektiven Teleologie strenge Gültigkeit erhält. Nach Ihrem Ansatz wird die ganze Ideallehre rein logisch aus blossen Werturteilen, also aus objektiv teleologischen Urteilen
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abgeleitet, während nach meinem Ansatz die Grundurteile der Ideallehre bereits etwas über Aufgaben aussagen und also subjektiv teleologisch sind. N.: Eben das ist mir unsympathisch. Sie machen aus der Ideallehre eine zweite Moral, und mir ist die eine Moral schon zu viel! Ist es nicht viel schöner, wenn wir die Ideale erkennen auf Grund einer freien Einsicht in den Wert möglicher Handlungen? H.: Aber wie wollen Sie aus solchen Wertbehauptungen rein logisch ethische Behauptungen ableiten? N.: Die Wertbehauptungen beziehen sich eben auf Handlungen; sie sagen, welche Handlung wertvoll ist. H.: Kann man daraus ableiten, dass wir eine solche Handlung tun sollten? N.: Was heisst denn: Wir sollten diese Handlung tun? Das bedeutet doch nichts anderes als: Es ist gut, so1 //12// H.: Meinetwegen, aber dieser Ausdruck heisst dann hier, dass wir einen vernünftigen Grund haben, uns zu dieser Handlung zu entschliessen. N.: Nun ja, und den haben wir, wenn wir einsehen, dass die Handlung wertvoll ist, dass sie also wert ist, getan zu werden. H.: Auf diese Argumentation weiss ich keine Antwort. Wenn ich sie so durchdenke, halte ich sie für richtig. Und doch muss sie einen Fehler enthalten, weil sie zu der unsinnigen Konsequenz führt, dass wir unter Umständen dazu bereit sein sollten, dem eigenen überwiegenden wahren Interesse entgegenzuhandeln. Was könnte uns dazu veranlassen? N.: Die Einsicht, dass es gut ist, so zu handeln. H.: Ich kapituliere. Ich habe bei meinem ganzen Angriff vorausgesetzt, dass die Dringlichkeit, mit der die objektiven Interessen auf den Willen einer vollkommen gebildeten Person einwirken, allein von dem Wert der Gegenstände dieser Interessen abhängt. Diese Voraussetzung ist offenbar falsch. Der Gebildete lässt sich nicht ohne weiteres durch seine Interessen, auch nicht durch seine objektiven Interessen, bestimmen, sondern er fragt nach vernünftigen Gründen für sein Handeln. N.: Nicht wahr? Das Interesse am wertvollen Produkt einer Handlung gibt uns einen vernünftigen Grund unmittelbar nur dafür, dieses Produkt als wertvoll zu schätzen, das Interesse am Wert einer Handlung aber gibt uns einen vernünftigen Grund dafür, diese Handlung zu tun. //13//[...]2des ästhetischen Interesses am Wert der eigenen Handlung eine weit grössere praktische Bedeutung enthält als der anderer ästhetischer Interessen. 1 Der Text bricht an dieser Stelle ab. 2 Der Satzanfang fehlt im Manuskript.
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Er enthält nicht nur eine Wertbehauptung, sondern darüber hinaus eine Anforderung an den Willen. Das Interesse am Wert des eigenen Handelns besitzt eine Dringlichkeit, die den anderen ästhetischen Interessen fehlt. Ohne dieses Moment der Dringlichkeit kam ich übrigens in meinem Ansatz zur Ideallehre auch nicht aus, und dadurch bin ich auf meine stillschweigend gemachte – und ausserdem falsche – Voraussetzung aufmerksam geworden. N.: Wieso? Sie nahmen doch gerade ein eigenes ideales Interesse an, weil Sie dem ästhetischen Interesse am Wert des eigenen Handelns die Bedeutung für den Willen absprachen. H.: Aber mit der Annahme dieses Interesses habe ich Ihnen im Grunde alles Wesentliche zugegeben und meine eigene Voraussetzung aufgehoben. Denn wenn es ein solches Interesse gibt, dann wird ja für das Handeln des Gebildeten dieses Interesse den Ausschlag geben, nicht aber die Gesamtheit seiner objektiven Interessen, wie ich es vorausgesetzt hatte. N.: Wie steht es denn nun mit Ihren Einwänden? H.: Die sind beantwortet. Man kann die Bildung allerdings, wie ich es anfangs getan habe, dadurch charakterisieren, dass für den Gebildeten die Folgen der ursprünglichen Dunkelheit ausgeschaltet sind. Zum Ausschalten dieser Folgen gehört aber mehr, als dass bloss das theoretische Erkennen und das Werten den Vernunfterkenntnissen //14// entspricht, es gehört dazu auch, dass das Handeln durch Vernunftgründe bestimmt wird. Und darum wird sich der Gebildete nicht ohne weiteres den Antrieben unterwerfen, die auf seinen Willen einstürmen, selbst dann nicht, wenn diese Antriebe von reinen, keinem praktischen Irrtum unterworfenen Interessen ausgehen, sondern er wird auch diese Antriebe noch in eine Willensdisziplin nehmen durch die Frage: Ist es gut – und das heisst: ist es wertvoll –, ihnen zu folgen? Das Interesse am Wert des eigenen Handelns wird also in der Tat für seine Handlungen den Ausschlag geben. Nach diesem Ergebnis ist es leicht, die beiden Erklärungen zu beurteilen, durch die NELSON den Gebildeten charakterisiert. Die erste Erklärung, wonach der Gebildete stets das als wertvoller Erkannte dem als weniger wertvoll Erkannten vorzieht, ist dann und nur dann richtig, wenn unter „Vorziehen“ ein Akt nur des Wertens, nicht aber auch des Strebens verstanden wird. Die zweite Erklärung, wonach sich für den Gebildeten die Stärke der Interessen ihrem Wert anpasst, wonach also die Interessen Berücksichtigung finden je nach ihrer Bedeutung für den Wert des Lebens bezieht sich auf die Art, wie sich der Gebildete durch seine Interessen zum Handeln bestimmen lässt. NELSON ist sich an dieser Stelle offenbar über diesen Unterschied nicht klar gewesen, sonst hatte er die beiden Erklärungen
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nicht einander gleich gesetzt. Dass er selber sich durch die seiner Darstellung hier anhaftende Unklarheit nicht auf Abwege hat bringen lassen, zeigt sich in seiner Deduktion des Begriffs und des Inhalts des Ideals, in der er mit voller //15// Eindeutigkeit und Klarheit die Einsicht in das Ideal der Bildung auf das Interesse am Wert des eigenen Handelns zurückführt.