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German Pages 274 [275] Year 1975
LEONARD NELSON
Vom Selbstvertrauen der Vernunft Schriften zur kritischen Philosophie und ihrer Ethik I-ferausgegeben von GRETE HENRY-HERMANN
FELIX MEINER VERLAG I-IAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 288
Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographi sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 9783787303304 ISBN eBook: 9783787327386 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1975. Alle Rechte vor behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck papier, hergestellt aus 100 % chlor frei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
Inhalt Vorwort (Grete Henry-Hermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. Was ist liberal? ... . ....... .. . . . . . . . . ................ . Die philosophischen Grundlagen des Liberalismus . . . . . . . . . . Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . Die Theorie des wahren Interesses und ihre rechtliche und politische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Staatenbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . über die Unhaltbarkeit des wissenschaftlichen Positivismus . . Vom Beruf der Philosophie für die Erneuerung des öffentlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Kunst, zu philosophieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sittliche und religiöse Weltansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die sokratische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zeittafel (Lebensdaten und Veröffentlichungen) ......... . .. Literaturverzeichnis ..... . .................... . ....... Namensverzeichnis .................................. Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Der vorliegende Band enthält ausgewählte Schriften des Philosophen LEONARD NELSON (1882-1927), die jeweils in sich abgeschlossen, also nicht Auszüge aus größeren Arbeiten sind. Für die Auswahl schieden damit die großen Werke NELSONS aus, die dreibändigen »Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik« und der philosophie-geschichtliche Abriß »Fortschritte und Rückschritte der Philosophie« 1• Aber die aufgenommenen kleineren Arbeiten lassen grundlegende Probleme und die für ihre Bearbeitung entscheidenden Gesichtspunkte erkennen, die für NELSONS Studien bestimmend waren. Diese Schriften sind hier chronologisch geordnet; sie geben so Einblick in einen Zeitraum von fast anderthalb Jahrzehnten intensiven literarischen Schaffens und zeigen die Weite verschiedener, ineinander greifender Fragen- und Aufgabenstellungen, denen die philosophische Arbeit LEONARD NELSONS galt. Sie hat ihren Schwerpunkt im Bereich der praktischen Philosophie - wobei das Merkmal des Praktischen bestimmt ist durch die Abgrenzung, mit der NELSON es in seiner Kritik der praktischen Vernunft einführt: :.Praktisch ist, der unmittelbaren Bedeutung nach, was sich auf das Handeln bezieht.«2 Konzentration auf Probleme der praktischen Philosophie ist ein Wesenszug in NELSONS Verständnis für die Philosophie und ihre Aufgabe. In seinem der Geschichte der Philosophie gewidmeten Werk antwortet er auf die Frage, »welche Aufgabe wir der Philosophie eigentlich stellen« mit der Unterscheidung von zwei Gesichtspunkten, »die beide ihre Berechtigung haben«, einem »allgemein kulturgeschichtlichem« und einem »speziell wissenschaftlichem«. Er führt das aus: »Was 1 2
Leonard Nelson, Gesammelte Schriften, Band IV-VII Ges.Schr., Band IV, S. 344
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zunächst das erste betriffi, so können wir sagen, daß der Philosophie ihre Aufgaben erwachsen durch den Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur, von der sie selber ein Glied ist. Es erwachsen ihr ihre Aufgaben aus ihrem Verhältnis zum Leben selber, zum Leben überhaupt und zu den einzelnen Lebensgebieten, im besonderen aus ihrem Verhältnis zur Religion, zur Kunst, zur Moral, zur Erziehung, zum Staat. Die höchsten Zwecke der Philosophie liegen, von diesem allgemeinen Gesichtspunkt aus gesehen, stets in der praktischen Philosophie, das heißt in dem, was die Philosophie dem Leben selber bedeuten soll, also in der Ethik im allgemeinsten Sinne dieses Wortes. Die Philosophie soll uns die Regeln geben, die wir brauchen, um die Tatsachen des Lebens deuten und meistern zu können. Wir brauchen solche Regeln, um den Tatsachen des Lebens nicht blind und wehrlos gegenüberzustehen; wir brauchen sie, um über diese Tatsachen vernünftig urteilen zu können und, mehr noch, um handelnd auf sie einwirken, sie nach vernünftigen Zwecken umgestalten zu können .... Die Philosophie soll uns also über die letzten Ziele und Zwecke unseres Lebens verständigen. Wir können diese Ziele und Zwecke nicht etwa aus der Erforschung der Tatsachen selber entnehmen, 5ondern wir brauchen dazu einen Standpunkt über den Tatsachen und unabhängig von allen Tatsachen. Ein solcher Standpunkt allein kann philosophisch heißen.« 3 In die Jahre 1908-1922, aus denen die im vorliegenden Band zusammengestellten Schriften stammen, fällt auch die Veröffentlichung des grundlegenden ersten Teils der EthikVorlesungen, die »Kritik der praktischen Vernunfl:« . Sie erscheint im Jahr 1917 mit einem Vorwort, an dem NELSON schon 1912 gearbeitet, das er aber erst im Herbst 1916, während des ersten Weltkriegs, abgeschlossen hat. über die Gründe dieses Aufschubs gibt er im zweiten Teil des Vorworts Aufschluß: »Einige tiefliegende Schwierigkeiten ... , auf die ich bei der Überarbeitung stieß, sowie der Wunsch, auch den Aufbau des 3
Ges.Schr., Band VII, S. 12 f.
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Systems im einzelnen so weit zum Abschluß zu bringen, wie es erforderlich ist, um die letzte Probe auf die Tragfähigkeit des hier gelegten Fundaments zu machen, bestimmten mich zu einem Aufschub der Herausgabe. Die Gründe dieses Aufschubs können heute als beseitigt gelten, so daß sie einer Veröffentlichung nicht mehr im Wege stehen. Obwohl, wie ich gern gestehe, das Werk auch jetzt in mancher Hinsicht den Ansprüchen noch nicht genügt, die unter anderen Umständen als den gegenwärtigen an die Durcharbeitung und Ebenmäßigkeit der Darstellung zu machen wären, so bringt es doch eben die Natur dieser Umstände mit sich, daß alle Bedenken, die mich zu einem weiteren Aufschub nötigen oder auch nur berechtigen könnten, entfallen müssen. Denn, wo alle Schutzwälle niedergerissen sind, die sonst die Macht des blinden Zufalls eindämmen und die allein die Berechenbarkeit der Zukunft, diese Bedingung vernünftigen Handelns überhaupt, ermöglichen, da bleibt die Rücksicht auf die Unberechenbarkeit aller Zukunft das einzige, wodurch ein vernünftiges Wesen sich noch als solches dokumentieren kann. Diese Rücksicht gebietet mir, nicht länger zu zögern, die hier niedergelegten Ergebnisse meiner Arbeit allen Wechselfällen meines persönlichen Geschicks zu entziehen. Aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen, auf eine weitere Bearbeitung, als ich sie in ·den jeweilig letzten, über die besonderen Probleme von mir gehaltenen Vorlesungen erreicht habe, zu verzichten. Aus dem verschiedenen Maß, in dem die einzelnen Teilgebiete hierbei zu ihrem Rechte kommen konnten, erklärt sich die hervorstechendste Unausgeglichenheit der Darstellung, die dem Leser beim Vergleich der Teile des Buches in die Augen fallen wird. Um dieser Mängel willen ziehe ich es vor, das Ganze unter dem Titel von Vorlesungen erscheinen zu lassen.« 4 Die Schwierigkeiten, von denen NELSON hier berichtet, betreffen die Frage nach dem Wert menschlicher Interessen. Im Jahr 1913 hat NELSON diese Frage in einem Vortrag vor der von ihm gegründeten Fries-Gesellschaft behandelt. Seine Rede
' Ges.Sdi.r., Band IV, S. XII f.
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wurde unter dem Titel: »Die Theorie des wahren Interesses und ihre rechtliche und politische Bedeutung« veröffentlicht und ist auch in den vorliegenden Band aufgenommen worden. An kleineren Schriften zu ethischen Fragen sind in unserer Auswahl zwei Stellungnahmen zum philosophischen Liberalismus vorangestellt worden. Sie stammen aus dem ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts, aus der Zeit, in der NELSON vom eigenen Studium zur philosophischen Lehrtätigkeit überging. Sie zeigen, wie schon in dieser Zeit NELSONS Aufmerksamkeit im Philosophieren vordringlich der Frage galt, an welchen Maßstäben das öffentliche Leben gemessen, nach welchen Maßstäben es gestaltet werden solle. Auch sein Interesse in der Politik setzte bewußt mit ethischen Fragen an; er prüfte politische Programme zunächst daran, ob und wie sie ethisch fundiert waren. In der herrschenden Theorie des Sozialismus fand er diese Grundlage nicht. Schon im Vortrag zur Frage: »Was ist liberal?«, den er im Jahr 1908 vor dem akademischen Freibund hielt, klingt diese Kritik an der marxistischen Lehre vom Sozialismus an. 5 Sehr viel später, als er die eigene, ethische Begründung ·des Sozialismus in seinem System der Rechtslehre und Politik 6 gegeben hatte und ihr den Weg freilegen wollte, hat er diese Kritik im einzelnen durchgeführt in seiner Schrift: »Die bessere Sicherheit«, die er im Untertitel »Ketzereien eines revolutionären Revisionisten« nennt.7 Im Anfang seiner Göttinger Zeit aber orientierte NELSON sich politisch am Liberalismus. Er war in diesen Jahren dem politischen Erzieher WILHELM ÜHR begegnet, der in den Grundlagen der liberalen Weltanschauung den festen Boden zu gewinnen suchte für die Stellungnahme zu aktuellen Fragen der Politik und zu den politischen Parteien. In einer Gedächtnisrede auf WILHELM ÜHR, der im ersten Weltkrieg fiel, charakterisierte NELSON dessen Wirken durch den Satz: »Das Problem, das seinen Geist am stärksten fesselte und dem er als Forscher und Mensch seine besten Kräfte gewidmet hat, 5 6 7
Ges.Smr., Band IX, S. 16; im vorliegenden Bum Seite 16 Ges.Smr., Band VI Ges.Smr., Band IX, S. 573 ff.
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betraf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik.« 8 NELSON ist ihm darin gefolgt. Neben dem Bemühen um ethische Fragen verlaufen im Nelsonschen Philosophieren einige andere Linien, die eng aufeinander bezogen sind: Ehe NnsoN sich den ihn unmittelbar bedrängenden Fragen der praktischen Philosophie zuwandte, hat er sich der Methode versichert, die seinem Forschen Zielsicherheit und Strenge zu geben vermochte, wie er sie forderte. Denn: »Zwei genau zu trennende Bedingungen soll also die Philosophie erfüllen: Was sie lehrt, soll Wahrheit sein, und die Form, in der sie es lehrt, soll Wissenschaft sein.« 9 Was er als Leitfaden suchte, fand er in der kritischen Methode, die KANT in seiner Kritik der reinen Vernunft entwickelt hatte - KANT selber nannte sein Werk einen »Traktat von der Methode« -, und die KANTS Schüler JAKOB FRIEDRICH FRIES fortgebildet hatte. Im Jahre 1904, in dem NELSON mit der Arbeit »Jakob Friedrich Fries und 'seine jüngsten Kritiker« promovierte 10, fing er bereits an, zusammen mit GERHARD HESSENBERG und KARL KAISER die neue Folge der Abhandlungen der Fries'schen Schule herauszugeben, deren alte Folge im Jahr 1847 von den Fries-Schülern APELT, SCHLEIDEN, ScHLÖMILCH und SCHMIDT begonnen, jedoch schon 1849, wegen politischer Gegensätze unter den Herausgebern, nach dem Erscheinen des zweiten Heftes abgebrochen worden war. Im Vorwort zur neuen Folge schrieben deren Herausgeber: »Wir bekennen es frei, auch wir leben der Zuversicht, daß die von KANT begründete und von FRIES und APELT fortgebildete Philosophie nicht von der Geschichte gerichtet und überwunden sei und daß sie niemals überwunden werden könne. Nicht der Vergangenheit, sondern der Zu.kunft gehört sie an, und so bauen auch wir auf ihren einstigen Sieg und ihre einstige Alleinherrschaft.
8 Ges.Schr., Band VIII, S. 420 e Ges.Schr., Band I, S. 231 10 Ges.Schr., Band I, S. 79 ff.
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Was aber ist der Grund dieser unserer Zuversicht, die den offenkundigsten Lehren der Geschichte zu widersprechen scheint? Welche Bürgschaft haben wir dafür, daß gerade der von KANT, FRIES und APELT entwickelten Philosophie dasjenige gelingen werde, wonach schon so viele vergeblich, wie nach einem Phantom, gestrebt haben? Der Grund unserer Überzeugung von der Überlegenheit dieser Philosophie liegt in nichts anderem als in dem Vertrauen auf dieselbe Macht, durch die einst die Geometrie des EuKLIDES über die Zahlen- und Figurenphantasien der Pythagoreer gesiegt hat, und die der von KEPLER, GALILEI und NEWTON ausgebildeten Astronomie die Überlegenheit über die astrologischen Träume ihrer Zeitgenossen verliehen hat. Diese Macht ist die wissenschaftliche Methode.« 11 Der kritischen Methode und ihrer Erprobung, vor allem in der Philosophie der Mathematik und der Naturwissenschaft, sind NELSONS frühe Arbeiten gewidmet. Sie sind zwar in diesem Band nicht vertreten, in dem die Auswahl der Schriften vorwiegend durch den inhaltlichen Schwerpunkt des Nelsonschen Philosophierens bestimmt ist. NELSONS eigene Untersuchungen über die kritische Methode, seine eigenen Bemühungen um ihre Anwendung und Erprobung hätten den Rahmen dieser Auswahl gesprengt, zumal sie erst in NELSONS Durchführung seiner Kritik der praktischen Vernunft vofl überschaubar werden. Wer diese methodische Grundlegung der Philosophie bei NELSON studieren will, sei zur Einführung hingewiesen auf NELSONS Frühschrift »Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie« 12 und auf den ersten Abschnitt seiner Kritik der praktischen Vernunft, die »Ethische Methodenlehre«.1a Nun sind aber Ziel und Weg der eigenen Denkarbeit für NELSON so eng aufeinander bezogen, daß der Leser auch in den hier vorliegenden Arbeiten nicht nur seine Anforderungen an die methodische Strenge und Zielstrebigkeit philoso11
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Ges.Schr., Band I, S. 3 f. Ges.Schr., Band I, S. 9 ff. Ges.Schr., Band IV, S. 4 ff.
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phischen Denkens finden wird - wie im Aufsatz über den Beruf der Philosophie -, sondern darüberhinaus auch Überlegungen, die unmittelbar an den Weg der kritischen Methode heranführen - so in der Ausarbeitung über die Kunst zu philosophieren. Schließlich gehen zwei der hier wiedergegebenen Arbeiten - und zwar von zwei verschiedenen Zugängen aus - noch einen Schritt weiter, sie nennen selber schon die vernunftkritische Grundthese, wonach menschliches Erkennen und Werten auf unmittelbaren Erkenntnissen aus reiner Vernunft beruht und nur durch sie ermöglicht wird. Diese These liegt dem Ausbau der kritischen Methode zugrunde und gibt ihr ihren Sinn: Philosophische Grundurteile sollen durch die Aufweisung dieser unmittelbaren Erkenntnis begründet werden und erst daraufhin als tragfähiges Fundament philosophischer Systeme dienen. NELSON hat diesen Aufbau im großen Zusammenhang seiner Ethik-Vorlesungen einmal voll durchgeführt. Im Vorwort zur philosophischen Rechtslehre und Politik sagt er darüber: »In diesem Buch wird der Versuch unternommen, die Rechtslehre und die Politik auf ein festes wissenschafl:liches Fundament zu stellen. Dieses Fundament liegt zuletzt in einem Grundsatz der reinen praktischen Philosophie, einem Grundsatz, der seinerseits in der Kritik der praktischen Vernunft seine wissenschafl:liche Begründung erhalten hat. Wie in der Tat das weitläufige Unternehmen der Kritik der praktischen Vernunft notwendig ist, um diesen einen Satz zu begründen, so ruht andererseits auf diesem einzigen Satz das ganze hier errichtete Gebäude der philosophischen Rechtslehre und Politik. Dieser Grundsatz ist kein anderer als das reine, von aller positiven Gesetzgebung unabhängige Rechtsgesetz - dasselbe Gesetz, das von Anfang an den klassischen Begründern der philosophischen Rechts- und Staatslehre des Aufklärungszeitalters vorgeschwebt hat, ohne daß es ihnen freilich gelungen wäre, sich seiner zu versichern und es nach seinen Grundlagen
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und semer Bedeutung für die Anwendung richtig aufzufassen.«14 Die erwähnte Grundthese von den unmittelbaren Vernunfterkenntnissen wird in den Arbeiten des vorliegenden Bandes ausdrücklich genannt im Vortrag über die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie und in dem über die sokratische Methode. Im ersten geschieht das auf Grund einer logischen Disjunktion möglicher Erkenntnisquellen. NELSON geht aus von dem, was er als das verallgemeinerte Humesche Problem bezeichnet, dem Problem einer Begründung der »synthetischen Urteile aus bloßen Begriffen«; er zeigt, daß die sich anscheinend aufdrängende Alternative, wonach dieses Problem nur entweder skeptisch oder dogmatisch beantwortet werden könne, sich als unvollständig erweist, sobald die MögliChkeit unmittelbarer Erkenntnis aus bloßer Vernunft berücksichtigt und kritisch überprüft wird. Noch prägnanter tritt im Vortrag über die sokratische Methode die Bedeutung hervor, die Nelson der Überzeugung von den Erkenntnissen aus reiner Vernunft zuschreibt. Er gibt Rechenschaft über die eigene Tätigkeit als philosophischer Lehrer: »Die sokratische Methode ist nicht die Kunst, Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren, nicht die Kunst, über Philosophen zu unterrichten, sondern Schüler zu Philosophen zu machen.« 15 Auf das Wagnis eines solchen Unterrichts hat er sich eingelassen in dem Vertrauen auf die befreiende Kraft eigener Vernunfteinsicht, die jeder Mensch erfahren kann. Dieses Vertrauen wird zum Bindeglied zwischen seinem philosophischen Forschen und seinem pädagogischen Wirken. Es kommt zum Ausdruck in dem paradox erscheinenden Ziel, das Nelson für Unterricht und Erziehung festlegt: »durch äußere Einwirkung einen Menschen zu bestimmen, sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen zu lassen« 16 • Nelson nennt es das »Selbstvertrauen der Vernunft« und sieht in ihm den entscheidenden Beitrag, durch den die u 15 16
Ges.Schr., Band VI, S. 7 Ges.Schr., Band 1, S. 271, im vorliegenden Buch S. 193 Ges.Schr., Band I, S. 291, im vorliegenden Buch S. 213
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kritische Philosophie zur »Erneuerung des öffentlichen Lebens« beitragen kann: »So soll uns die kritische Philosophie wieder dazu verhelfen, gegenüber allen falschen Lehren von der Ohnmacht der menschlichen Vernunft eine Lehre des Selbstvertrauens der Vernunft in ihre Rechte einzusetzen.« 17 Grete Henry-Hermann
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Ges.Schr., Band VIII, S. 211, im vorliegenden Buch S. 135
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Rede, gehalten zur Eröffnung des ·Akademischen Freibunds« in Göttingen am 23. November 1908. Erschienen im Sammelband: LEONARD NELSON, Die Reformation der Gesinnung durch Erziehung zum Selbstvertrauen. Der Neue Geist-Verlag, Leipzig 1917, zweite Auflage 1922, s. 205-234 In den Gesammelten Schriften steht diese Arbeit im Band IX. S. 1-26.
Verehrte Anwesende! Es ist heute das erste Mal, daß wir - nach Erledigung geschäftlicher Vorbereitungen - zusammenkommen, um uns unserer eigentlichen Aufgabe zuzuwenden. Die Aufgabe unserer Gemeinschaft ist die Pflege der liberalen Weltanschauung. Die erste Frage, die wir uns zu stellen haben, wird daher die sein: Was verstehen wir eigentlich unter liberaler Weltanschauung? Welches sind die Grundlagen, auf denen diese Weltanschauung ruht? Und wozu brauchen wir überhaupt den Liberalismus? Denn, wenn wir uns »liberal« nenn~n wollen, so werden wir mit diesem Worte auch einen klaren Begriff verbinden wollen. Wir werden nicht liberal sein wollen, weil vielleicht unsere Eltern liberal waren, oder weil ein von uns verehrter Lehrer liberal war, oder weil vielleicht einer unserer näheren Freunde liberal ist. Sondern wir werden liberal sein wollen, nur wenn wir es aus eigener Überzeugung sein können. Wir werden liberal sein wollen, nur wenn wir Gründe haben, denLiberalismusfürwahrund wertvoll zu halten. Mit diesen letzten Gründen des Liberalismus hat es der praktische liberale Politiker als solcher nicht zu tun. Man würde sie vergeblich suchen in den Programmen der liberalen Parteien. Und doch sind diese Gründe deshalb nicht weniger das eigentlich treibende Motiv der praktischen Politik, weil sie dem Praktiker nur selten zum Bewußtsein kommen. Jede politische Partei hat einen philosophischen Hintergrund, der ihr eigentliches Lebensprinzip bildet. Es können zwei Parteien mitunter in den taktischen Forderungen ihres Programmes übereinstimmen und doch ihrem Grundcharakter nach einander völlig entgegengesetzt sein. Darum muß man auf diesen philosophischen Hintergrund zurückgehen, wenn man sich über das Wesen der Parteien und den Grund ihrer Gegensätze klarwerden und inmitten dieser Gegensätze einen selbständigen Standpunkt gewinnen will. Ich will versuchen, diesen Unterschied von Parteiprinzip und Parteitaktik etwas näher zu beleuchten. Wenn eine politische Forderung aufgestellt wird, so kann dies aus zwei Gründen geschehen. Entweder wir fordern etwas, weil wir es als ein unentbehrliches
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Mittel ansehen, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Oder das, was wir fordern, gilt uns als Selbstzweck und nicht wieder nur als Mittel für einen anderen Zweck. Wie man nun seine Mittel wählt, das hängt nicht allein von den letzten Zwecken ab, deren Verwirklichung man anstrebt, sondern sehr wesentlich auch von der Natur der Umstände, die zur Zeit die Situation beherrschen. Je nach diesen Umständen werden uns bald diese, bald jene Mittel geeigneter erscheinen, zur Förderung unserer eigentlichen politischen Zwecke. Zur Erreichung eines und desselben Zweckes kann heute dieses, ein ander Mal ein ganz anderes Mittel »opportun« sein, wie man sich ausdrückt. Die deutsche Sprache verfügt über zwei gute alte Worte, um diesen Unterschied auszudrücken. Es ist eine Sache der Klugheit, wie geschickt man seine Mittel wählt; es ist eine Sache der Weisheit, wie man die rechten Zwecke wählt. Nun kann man allerdings heutzutage nicht gut von der »Weisheit« sprechen, ohne bei klugen Politikern in den Verdacht des Unpraktischen zu geraten. Und in der Tat: wenn als »praktisch« das gilt, was zur Verwirklichung unserer Ziele nützlich ist, so ist die Sache der Weisheit ihrer Natur nach nichts Praktisches. Denn wie sollte das etwas Nützliches sein, was seinerseits selbst erst allem Nützlichen den Wert verleiht. Aber nur durch Gedankenlosigkeit kann man dazu kommen, die Weisheit, weil sie nichts Nützliches ist, als etwas Unnützes zu betrachten. Denn ohne sie würden ja alle Bemühungen der Klugheit ihren Sinn verlieren. Dasselbe Mißverständnis, auf dem dieser Streit der Klugheit gegen die Weisheit beruht, hat in der Politik zu dem sich immer wiederholenden Streite um den Wert der Prinzipientreue Anlaß gegeben. »Prinzipientreue« nennen es die einen und rühmen sie als höchste Tugend des Politikers; »Prinzipienreiterei« oder Doktrinarismus nennen es die anderen und sehen darin den verderblichsten politischen Fehler. Die einen verabscheuen die Prinzipienlosigkeit des politischen Opportunismus, die andern preisen sie unter dem Namen der Realpolitik. Dieser Streit entspringt in den meisten Fällen aus der Verwechslung des Parteiprinzips mit der Parteitaktik. Die Taktik ist, wie wir gesehen haben, eine Sache der Klugheit und
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ist darauf angewiesen, sich in der Wahl ihrer Mittel nach den Umständen zu richten; wer daher ihre Anforderungen zu einer Sache des Prinzips macht, der muß allerdings die Partei ruinieren. Nicht weniger töricht aber handelt derjenige, der vor lauter Klugheit das Prinzip aus dem Auge verliert; denn eine Partei, die keine Prinzipien mehr hat, gibt eigentlich den ganzen Zweck ihrer Existenz verloren. Ja dieser Fehler ist sogar der bei weitem schlimmere; denn wer nur überhaupt ein festes Ziel vor Augen hat, der wird, wenn er einmal in der Wahl der Mittel fehlgegriffen hat, diesen Fehler später wieder ausgleichen können; wer aber gar kein festes Ziel hat, der ist auch nachher nicht mehr in der Lage, die richtigen Mittel auszuwählen. Es ergibt sich hieraus, daß es auch taktisch unklug ist, die Betonung der Prinzipien zu sehr zu vernachlässigen. Eine opportunistische Begründung verfängt im Augenblick, denn sie paßt auf die Umstände. Aber die Umstände wechseln, und wenn sie sich geändert haben, versagt die gegebene Begründung. Wer daher das Prinzip nicht kennt, steht neuen Aufgaben hilflos gegenüber; denn ihm fehlt die Regel, die ihn anweist, die den neuen Umständen entsprechenden taktischen Mittel herauszufinden. Durch eine rein opportunistische Begründung taktischer Forderungen wird man daher niemals selbständige Mitkämpfer gewinnen, die doch das Wichtigste sind, was eine starke Partei braucht. Noch in einer anderen Form zeigt sich dasselbe Mißverständnis. Ich meine den alten Streit zwischen Theorie und Praxis. Wir haben hundertfach die Redensart gehört: Das mag alles in der Theorie ganz richtig sein, stimmt aber nicht in der Praxis. Es liegt zu sehr auf der Hand, daß diese Redensart, genaugenommen, niemals richtig sein kann, als daß es der Mühe lohnte, das ausführlich zu beweisen. Eine Behauptung ist entweder wahr oder sie ist falsch, sie kann aber nicht in einem Gebiete wahr, im anderen falsch sein, denn dies wäre ein offenbarer Widerspruch. Wenn eine Theorie nicht mit der Praxis übereinstimmt, so kann dies zwei Gründe haben; entweder die Theorie ist schon an sich falsch, oder wir haben es mit einer verkehrten Praxis zu tun. - Ich will für beides Beispiele geben. GALILEI hatte zuerst die Theorie der parabolischen Wurfbewegung entwickelt, indem er die Wurfbewegung als die Re-
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sultante aus der Trägheit, die den geworfenen Körper in gerader Richtung forttreiben würde, und der Beschleunigung durch die anziehende Kraft der Erde konstruierte. Diese Theorie suchte man in der Ballistik anzuwenden, um die Bahn von Wurfgeschossen zu berechnen. Als man aber die Bewegung der Geschosse genauer beobachtete, da stellte sich heraus, daß diese Bewegung nicht mit der theoretischen Konstruktion übereinstimmte. Woran lag das? Es lag daran, daß bei der wirklichen Wurfbewegung noch ein Einfluß eine Rolle spielte, der von der Theorie nicht berücksichtigt worden war, nämlich der Luftwiderstand. Wenn also der Satz von der parabolischen Form der Wurfbewegung nicht mit der Praxis übereinstimmt, so liegt dies nicht sowohl an einem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, als einfach daran, daß der Satz - wenn man ihn nicht auf Bewegungen im luftleeren Raum beschränkt - schon theoretisch unrichtig ist. Entsprechendes finden wir bei politischen Theorien. Die wirtschaftspolitische Theorie des älteren Liberalismus hatte - um der Sicherung der persönlichen Freiheit willen - behauptet, daß alle Eingriffe des Staates in das Wirtschaftsleben zu verwerfen seien. Sie proklamierte daher das Recht des freien Arbeitsvertrages. Als man aber diese Theorie auf die Praxis übertrug, zeigte sich, daß an die Stelle der erwarteten Freiheit eine immer wachsende wirtschaftliche Ausbeutung und Abhängigkeit der Massen trat. Man hatte nicht bedacht, daß der an und für sich besitzlose Arbeiter darauf angewiesen ist, die ihm von dem Unternehmer vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen anzunehmen, wenn er nicht verhungern will. Die Theorie mußte also darum in der Praxis scheitern, weil sie schon an sich von einer falschen Voraussetzung ausgegangen war, der Voraussetzung nämlich, daß der Arbeiter überhaupt frei sei, die seinen Bedürfnissen entsprechenden Arbeitsbedingungen zu wählen. Der andere Fall, daß der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis seinen Grund in einer verkehrten Praxis hat, kommt besonders bei solchen Theorien vor, die politische Forderungen aufstellen. Ich gebe wieder ein Beispiel. Dem älteren Liberalismus galt es als eine
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selbstverständliche Forderung der Gerechtigkeit, daß nicht nur die Bürger einer Nation unter sich, sondern auch die Nationen untereinander ihre Selbständigkeit achten. Unter dem Eindruck der tatsächlichen Entwicklung glaubte man mehr und mehr, daß sich diese Forderung nicht aufrechterhalten lasse. Kein Geringerer als NAuMANN hat sie neuerdings ad absurdum zu führen gesucht, indem er gegen sie an die geschichtliche Wirklichkeit appelliert. Die Geschichte lehrt, so meint er, daß auch in der Weltpolitik der Großbetrieb siege und daß es das Schicksal der kleineren und schwächeren Nationen sei, von den größeren und stärkeren verschluckt zu werden. Diese Tatsache sei zwar vom sittlichen Standpunkt aus bedauerlich, aber es sei sentimentale Torheit, aus grundsätzlichen ethischen Bedenken sich gegen die geschichtliche Entwicklung auflehnen zu wollen. NAUMANN gibt also die theoretische Richtigkeit jener liberalen Forderung zu; trotzdem aber soll sie durch die Geschichte widerlegt worden sein. Die Paradoxie verschwindet, wenn wir überlegen, daß die geschichtliche Wirklichkeit gegen die Gültigkeit jener Forderung gar nichts entscheiden kann. Die Theorie spricht von dem, was gerechterweise geschehen sollte, die Geschichte lehrt uns aber, was tatsächlich geschieht; und daß etwas geschieht, was gerechterweise nicht geschehen sollte, ändert offenbar nichts daran, daß es nicht geschehen sollte. Es schien mir nötig, diese Erörterungen über das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Parteiprinzip und Parteitaktik vorauszuschicken, um mich gegen die genannten Mißverständnisse zu sichern und Sie von der Notwendigkeit einer Beschäftigung mit den im Hintergrunde aller praktischen Politik stehenden philosophischen Prinzipien zu überzeugen. Die Frage, die wir uns gestellt hatten, war die Frage nach dem philosophischen Prinzip des Liberalismus. Es ist die Frage: Was ist Liberalismus? Nämlich Liberalismus als Weltanschauung, nicht als politisches Parteiprogramm. Der Wortbedeutung nach wird man sagen: Liberalismus ist das Streben nach Freiheit. »Freiheit« ist aber ein recht unbestimmter Ausdruck, der sehr Verschiedenes bedeuten kann. »Freiheit ein schönes Wort, wer's recht verstünde«, sagt GOETHE im Egmont. Die Erklärungen, die wir zu hören gewohnt sind, leiden alle an dieser Unbestimmt-
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heit. Man sagt z.B., Liberalismus sei Individualismus, die Forderung des unbeschränkten Rechts auf persönliche Entwicklung. Man bedenkt aber dabei nicht, daß diese Forderung, konsequent durchdacht, sich selbst aufhebt. Denn die Freiheit des einen würde nicht ohne eine Einschränkung der Freiheit des anderen bestehen können. Die Frage ist gerade, wie diese gegenseitige Beschränkung der persönlichen Freiheit der einzelnen geregelt werden soll, und darauf gibt uns die genannte Erklärung keine Antwort. Nicht mehr leistet die Erklärung, Liberalismus sei die Maxime der Toleranz. Hier kommen wir auf dieselbe Verlegenheit wie vorher. Wer wirklich diese Maxime durchführen wollte, der dürfte, wenn er sich über sich selbst klar wäre, gar keine politische Forderung aufstellen. Denn wer irgend etwas fordert, muß notwendig intolerant sein, nämlich gegen alles das, was gegen die aufgestellte Forderung verstößt. Auch die Forderung der Toleranz schließt daher Intoleranz ein, nämlich gegen die Intoleranz. Wer konsequent tolerant sein will, der muß auf jede Forderung verzichten, der muß sich begnügen, gleichgültig zuzuschauen, ohne irgendwelche Wertunterschiede zu machen, nach dem Grundsatze: Tout comprendre c'est tout pardonner. Wer aber irgendeine Überzeugung hat, der wird und soll auch für sie eintreten. Das Prinzip der Toleranz hingegen ist, wo es konsequent vertreten wird, nur das Prinzip der Überzeugungslosigkeit, das Prinzip des Indifferentismus. Ganz ähnlich steht es mit der Erklärung: Liberalismus sei Optimismus; er sei der Glaube an den Sieg des Guten, der Glaube, durch das freie Spiel der Kräfte entwickle sich von Natur aus alles zum Besten. Dieser Glaube ist aber im Grunde nichts anderes als das Waltenlassen der Vorsehung, das uns erlaubt, die Hände in den Schoß zu legen und müßig der Entwicklung der Dinge zuzuschauen. Ein Glaube, der alle menschliche Verantwortung aufhebt und alle Selbsttätigkeit lähmt, weil er sie überflüssig macht. Es ist der Glaube an das, was SCHILLER das »Wort des Wahns« nennt. Der Liberalismus soll uns bestimmte Maximen für die Praxis geben, soll aber nicht ein Prinzip sein, das uns von allem Handeln dispensiert. Andere wieder erklären den Liberalismus als das Prinzip des Fortschritts. Diese Erklärung sagt aber gar nichts, wenn man nicht
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hinzufügt, nach welchem Prinzip man beurteilen will, was Fortschritt, was dagegen Rückschritt sei. Je nach dem Maßstab, den man hier anlegt, wird man eine und dieselbe Entwicklung als fortschrittlich oder als rückschrittlich beurteilen. Das allgemeine Prinzip des Fortschritts kann sich jede Partei zu eigen machen. Derartiger nichtssagender und unbrauchbarer Erklärungen werden sich noch viele finden lassen; es hat keinen Zweck für uns, ihnen weiter nachzugehen. Um zu einem brauchbaren Begriff des Liberalismus zu gelangen, wollen wir noch einmal auf die Wortbedeutung zurücksehen. Das, woran es die allgemeine Erklärung, Liberalismus sei das Prinzip der persönlichen Freiheit, fehlen ließ, war die Bestimmung dessen, wovon wir Freiheit erstreben sollen. Denn daß die Freiheit, die wir suchen, nicht eine schlechthin schrankenlose sein kann, haben wir bereits gesehen. Zu der bloß negativen Bestimmung der Freiheit muß also noch eine ergänzende positive hinzukommen über eine die Freiheit einschränkende Abhängigkeit. Ohne dies würde der Liberalismus nur das Prinzip der Gesetzlosigkeit sein und sich durch nichts vom Anarchismus unterscheiden. Die Gesetzlichkeit, die der Liberalismus fordert, darf aber auf der anderen Seite nicht die Gebundenheit an eine äußere Autorität sein; das ist es, was den Liberalismus vom Despotismus trennt. Was kann aber das für ein Gesetz sein, das dem Menschen doch zugleich die Unabhängigkeit von jeder äußeren Autorität sichert? Es muß ein Gesetz sein, das jeder in sich selbst findet und das doch für alle das gleiche ist. Dieses Eigentümliche, jedem Menschen Eigene und doch für alle Menschen Gleiche ist das, was wir die Vernunft nennen. Die Selbstbestimmung, die der Liberalismus fordert, ist daher näher die Bestimmung durch die Vernunft. Durch die Vernunft ist jeder von sich selbst abhängig, andererseits aber doch alle von dem gemeinsamen Gesetz. Hier haben wir also eine Freiheit, die doch nicht Anarchie bedeutet, und eine Abhängigkeit, die doch nicht Abhängigkeit von äußerer Autorität ist. So steht der Liberalismus zwischen Anarchismus und Despotismus. Dieser Begriff der gesetzmäßigen Freiheit hat seine großen Schwierigkeiten. Denn was ist eigentlich dieses Gesetz der Freiheit,
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die Vernunft? Damit kommen wir auf eine philosophische Frage. Ja man kann sagen, daß dies die philosophische Frage ist; die Frage, die von jeher im Mittelpunkte der Philosophie gestanden hat. Der Gegensatz, in den wir die Vernunft stellten, war ein zweifacher. Die Vernunft steht erstens im Gegensatz zur Autorität. Die Autorität tritt uns als eine äußere Macht gegenüber; die Vernunft liegt in uns selbst. Die Vernunft steht aber zweitens auch im Gegensatz zur Gesetzlosigkeit, zum Zufall. Wir suchen nicht nur eine Unabhängigkeit von äußerem Zwange, sondern auch Unabhängigkeit von dem Zufälligen in uns selbst. Das nun, was in uns der Vernunft gegenübersteht, ist die Sinnlichkeit. Durch die Sinnlichkeit hängen wir von der Zufälligkeit ab; denn unsere Sinne erhalten ihre Eindrücke durch das räumlich und zeitlich Gegenwärtige. Die Vernunft dagegen geht auf das von Ort und Zeit Unabhängige, auf das Allgemeingültige und Notwendige. Die Vernunft können wir hiernach erklären als das Vermögen des Menschen, aus eigener Krall: allgemeingültige Normen zu erkennen; als das Vermögen, sich selbst, unabhängig von äußerer Autorität sowohl wie von der eigenen Sinnlichkeit, die Gesetze seines Denkens und Handelns zu geben. Die Freiheit, die der Liberalismus für den Menschen in Anspruch nimmt, ist also eine doppelte: nicht nur von äußerer Autorität, sondern auch von der eigenen Sinnlichkeit. In dieser zweifachen Weise setzen wir die Autonomie der Heteronomie gegenüber, als das Prinzip des Selbstvertrauens der Vernunft. Mit dieser Antwort kommen wir aber nur auf eine neue Frag~. Denn wenn wir auch wissen, was wir unter »Vernunft« zu verstehen haben, so ist es doch keineswegs ohne weiteres selbstverständlich, daß es so etwas wie „Vernunft« in dem erklärten Sinne auch wirklich gibt und daß diese Vernunft das, was wir ihr zumuten, auch wirklich zu leisten vermag. In der Tat herrscht über diese Frage unter den Philosophen bei weitem noch keine Einhelligkeit. Und doch hängt von ihrer Entscheidung die Möglichkeit des Liberalismus ab. Diese Frage müssen wir daher untersuchen, wenn wir ein selbständiges Urteil über Möglichkeit und Wert des Liberalismus gewinnen wollen. Wir sind also von der Frage: Was ist Liberalismus? hinübergeführt zu der Frage: Wie ist Liberalismus möglich? Woher, so
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können wir die Frage, auf die hier alles ankommt, auch aussprechen, woher erhalten wir jene allgemeingültigen Normen, die wir als das innere Gesetz aller äußeren Gesetzgebung entgegensetzen? Durch eigene Einsicht, durch freie Reflexion, durch wissenschaftliche Untersuchung, wird man antworten. Aber wir wissen heute, daß sich durch bloße Reflexion, durch reines Nachdenken kein eigener Inhalt des Wissens erzeugen läßt. Alles Schließen und Beweisen, alle unsere Denkmittel können keine Wahrheit erschaffen, sondern nur aus schon gegebener die Konsequenzen entwickeln. Die Logik ist eine für sich leere Form; der Stoff muß ihr anderweit gegeben sein. Ohne Prämissen kein Schluß, ohne Axiome kein Beweis, ohne Voraussetzungen keine Wissenschaft. Die »voraussetzungslose Wissenschaft« ist ein Phantom; der Glaube an sie ein Rückfall in den Aberglauben der Scholastik, aus bloßer Logik die Erkenntnis der Welt schöpfen zu können. Die Reflexion, die Wissenschaft, das ist das Ergebnis dieser Überlegungen, kann etwas als theoretisch oder praktisch richtig erweisen nur durch Zurückgehen auf eine schon von ihr unabhängig gegebene Norm. Sie kann also selbst nicht die gesuchte Grundlage des Liberalismus abgeben. Hiermit sind wir auf das Grundproblem gestoßen, mit dessen Auflösung die Möglichkeit des Liberalismus steht und fällt. Das Fundament, auf das sich der Liberalismus stützen wollte, zerrinnt uns unter den Händen, je näher wir es zu fassen suchen. Fragen wir die Philosophen und Psychologen, fragen wir die fortgeschrittensten Vertreter der Wissenschaft, so werden wir keine andere Antwort erhalten. Sie werden uns sagen: »Der menschliche Geist ist für die Erkenntnis der Wahrheit und des Rechtes auf äußere Belehrung angewiesen, mag diese nun in der Form eigener Erfahrung oder in der Form fremder Überlieferung an ihn kommen. Ein Vermögen, aus sich selbst oder, wie man es ausdrückt, >a priori< zu einer Erkenntnis zu gelangen, gibt es nicht. Und was man so >Vernunft< zu nennen pflegt, ist bei Lichte besehen nichts anderes als der Niederschlag angewöhnter oder ererbter Vorurteile, das ungesichtete Residuum früherer Erfahrungen.« So scheint denn die Wissenschaft selbst uns das Prinzip der Ohnmacht der Vernunft zu lehren. Der Liberalismus aber ist das Prinzip
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des Selbstvertrauens der Vernunft. Und so scheint sich also der Liberalismus als ein wissenschaftlich unhaltbarer Gedanke herauszustellen. Der Liberalismus verweist uns auf die Gesetzgebung der eigenen Vernunft; wenn wir aber die eigene Vernunft befragen, so weist uns diese wieder auf die äußeren Gesetzgeber zurück. Wollen wir uns also diesen nicht anvertrauen, so müssen wir auf alles Gesetz überhaupt verzichten. Und so endet der Liberalismus doch als Anarchismus, und seine Hoffnung, diese Klippe vermeiden zu können, entpuppt sich als eine Illusion. Wollen wir sie wirklich vermeiden, so bleibt nichts übrig als die reuige Rückkehr unter die Vormundschaft der Autorität. Wir haben nur die Wahl zwischen dieser und der Entfesselung des Kampfes der Eigeninteressen, eines Kampfes, in dem nur Gewalt entscheidet. Die Entscheidung durch Gewalt, das ist der Punkt, an dem diese beiden Extreme, Anarchismus und Despotismus, einander berühren und an dem der eine in den anderen umzuschlagen pflegt. Durch diese Betrachtung hoffe ich Ihnen deutlich gemacht zu haben, daß die Möglichkeit des Liberalismus nichts Selbstverständliches, einfach Hinzunehmendes ist, gegen das sich nur Eigensinn und böser Wille sträuben könnte, sondern daß sie ein schwieriges und ernstes Problem einschließt. Ein Problem, das jeder Liberale für sich lösen muß, wenn sein Liberalismus mehr sein soll, als ein gedankenloses Schlagwort. Hier zeigt sich also eine Lücke, an deren Ausfüllung das Schicksal des liberalen Gedankens hängt. Eine Lükke, die nur durch ernste gedankliche Arbeit ausgefüllt werden kann. Solange dies nicht geschieht, darf man sich über die ohnmächtige Lage des Liberalismus nicht wundern, denn bis dahin ist der wahre Feind des Liberalismus nicht ein tückischer und boshafter Gegner, sondern die simple Logik; bis dahin ist die geistige Grundlage des Liberalismus eine so morsche, daß jedes Kind sie umstoßen kann. Es versteht sich von selbst, daß die Aufgabe, die sich uns so herausgestellt hat, wenn sie überhaupt lösbar ist, nur auf dem Wege der Wissenschaft gelöst werden kann. Die Wissenschaft nun, deren Aufgabe die Prüfung des Leistungsvermögens der Vernunft ist, die Kritik der Vernunft, ist, wie Sie alle wissen, kein bloßes Desiderat für die Zukunft, sondern sie liegt bereits historisch vor. Es ist KANT,
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der zuerst die Aufgabe gestellt und sich um ihre Lösung bemüht hat. Wie kommt es dann aber, daß noch heute die Möglichkeit dieser Lösung in Frage steht, daß noch heute der Liberalismus um seine geistige Existenz zu kämpfen hat? Dies kann zwei Gründe haben. Entweder die Kantische Lösung hat ihr Ziel nicht erreicht, oder aber sie ist unverstanden geblieben. Beides kommt zusammen. Ich will zunächst von dem ersten sprechen. Die Aufgabe war von KANT richtig gestellt worden, aber seine Lösung war unzureichend. Er versucht nämlich diese Lösung, den Anschauungen seiner Zeit entsprechend, allein mit den Mitteln der Reflexion, mit der bloßen Logik. Man kann sagen: Die Kantische Philosophie war die größte Anstrengung des Liberalismus in der Menschheitsgeschichte, durch die bloße Reflexion die Normen alles Kulturlebens zu sichern, die Normen der Wissenschaft sowohl wie der Religion, der Ethik sowohl wie der Politik. In dieser Tendenz vereinigen sich bei KANT alle Bestrebungen des Aufklärungszeitalters, dem er den Abschluß gab. Ich will versuchen, Ihnen anzudeuten, wie sich diese Tendenz bei KANT in den vier genannten Kulturgebieten geltend macht. Was zunächst die Wissenschaft betrifft, so zeigt KANT, daß sie auf das Gebiet möglicher Erfahrung beschränkt ist. Erfahrung ist aber nicht ein bloßes Aggregat von Sinneswahrnehmungen, sondern wird nur dadurch möglich, daß wir gewisse Grundsätze, die nicht selbst auf Sinneswahrnehmung gegründet sind, allen unseren Schlüssen zugrunde legen. Die Frage ist nun: Wie läßt sich die Gültigkeit dieser Grundsätze einsehen? KANT antwortet: durch den Beweis, daß diese Grundsätze Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind. Denn da Erfahrung als Tatsache vorliegt, so müssen auch die Prinzipien, unter deren Voraussetzung Erfahrung allein möglich ist, gültig sein. Nach dieser Methode sucht KANT das System der wissenschaftlichen Grundsätze zu beweisen. Allein, dieser Beweis beruht auf einem Zirkelschluß. Denn wenn die fraglichen Grundsätze wirklich den Grund der Möglichkeit der Erfahrung enthalten, so kann nicht umgekehrt aus der Möglichkeit der Erfahrung auf die Gültigkeit der Grundsätze geschlossen werden. - .i\hnlich verfährt KANT bei der Kritik des religiösen Glaubens. Er findet, daß die Verwirklichung des sittlichen Ideals die Existenz Gottes und die Un-
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Sterblichkeit der Seele zur Voraussetzung hat. Da aber der Glaube an die Verwirklichung des sittlichen Ideals selbst eine sittliche Notwendigkeit ist, so müssen wir auch an die Bedingungen ihrer Möglichkeit glauben, d. h. also an die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Auch dieser Beweis bewegt sich in einem Zirkel. Man kann nicht aus einer sittlichen Notwendigkeit auf die Wahrheit des religiösen Glaubens schließen, wenn jene sittliche Notwendigkeit die Wahrheit dieses Glaubens schon zur Voraussetzung hat. - In beiden Fällen begeht KANT denselben Fehler: er versucht einen Beweis für Grundsätze, d. h. für Sätze, die doch in der Tat ihrerseits einen Beweis überhaupt erst möglich machen. KANT versucht also eine Erweiterung der Erkenntnis durch bloße Logik, er verkennt die Leerheit der Reflexion.
Dasselbe ist der Fall in KANTS praktischer Philosophie. Das Grundgesetz der Ethik, seinen »kategorischen Imperativ« formuliert er als die Forderung der durchgängigen Übereinstimmung des Willens mit sich selbst. Das Kennzeichen der Moralität läge hiernach in der strengen Konsequenz der Handlungsweise, im Ausschluß widersprechender Entschließungen. Hier soll also wieder die bloße logische Form das Entscheidende sein. Sie entscheidet aber in der Tat gar nichts. Soll ich z.B. ein gegebenes Versprechen halten oder brechen? Die Forderung der Konsequenz verlangt nur, daß ich der Maxime, für die ich mich entscheide, treu bleibe, mag es nun die Maxime der Ehrlichkeit oder die des Betruges sein. Jeder Verbrecher, der nur den nötigen Mut der Konsequenz hätte, würde diesem Sittengesetz genügen. - In der Politik endlich geht KANT von dem Prinzip der Freiheit aus. Von der Unzulänglichkeit dieses Prinzips haben wir uns schon überzeugt. Zu dem richtigen Gefühl der Unzulänglichkeit dieser Lösungen gesellte sich bei den Zeitgenossen der Überdruß an dem Intellektualismus des Aufklärungszeitalters. Und mit der Enttäuschung über die mißlungenen Lösungsversuche trat die allgemeine Reaktion gegen die Aufklärungstendenzen überhaupt ein. Mit der Lösung verwarf man die Aufgabe selbst. Man verzweifelte an der Möglichkeit einer Lösung. Man verzweifelte an der menschlichen Vernunft überhaupt. Die Lehre von der Ohnmacht der Vernunfl trat in der
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Romantik ihre Herrschaft an. Die Aufklärung hatte an die Stelle des Positiven, überlieferten in Religion, Sitte und Recht eine natürliche Religion, eine natürliche Sittenlehre und ein natürliches Recht setzen wollen, d. h. eine auf Vernunft gegründete Religions-, Sitten- und Rechtslehre. Diese Bemühungen hatten ihr Ziel nicht erreicht, und so wurden sie von der Romantik kurzerhand beiseite geworfen. Die Reflexion hatte nicht selbst wieder aus eigenen Mitteln aufzubauen vermocht, was sie zerstört hatte. Und so wurde sie als der an allem übel schuldige Teil in Acht und Bann getan. Man hatte zwar das Vertrauen zu den alten Autoritäten verloren, dem Vermögen der Vernunft aber mochte man noch weniger trauen. Und da man den einmal rege gewordenen Zweifel an den positiven Autoritäten nicht widerlegen konnte, so half man sich, indem man versuchte, ihn in Schlaf zu singen. Man versuchte, sich vor dem Feinde dadurch zu schützen, daß man ihn ignorierte. An die Stelle des philosophischen Kritizismus trat der Historismus. Es siegten wieder die autoritären und konservativen Instinkte. Daher der Haß gegen die strenge Naturwissenschaft und die Vorliebe für das nur Gefühlsmäßige, Geheimnisvolle, Mystische. Man wetteiferte in Hohn und Spott gegen die Ideale des Aufklärungszeitalters, gegen Weltbürgertum und Volksbildung. Ich erinnere an HERDERS gehässige Schmähungen der Kantischen Philosophie, an GOETHES gereizte Polemik gegen die Newtonsche Physik, an ScHELLINGs »naturphilosophische« Mystik, an SCHLEGELS übertritt zum Katholizismus, an das Einmünden der Hegelschen Philosophie in die Verherrlichung des Polizeistaates. Ich erinnere schließlich an die politische Frucht dieser gesamten Tendenzen, an STAHLS, des Schellingianers, Gründung der konservativen Partei. Diese Extreme konnten nicht ohne Gegenwirkung bleiben. Wie in der Politik, so trat auch auf allen anderen Gebieten eine Revolution ein. Sie wurde unterstützt durch die Fortschritte und die Popularisierung der Naturwissenschaften. Aus HEGELS eigener Schule gingen FEUERBACH und MARX hervor, der Erneuerer des theoretischen und der Begründer des historischen Materialismus. Der Erfolg war ein Sieg der Wiederaufnahme der Aufklärungstendenzen bei den Gebildeten. Aber man blieb im Dogmatismus stecken, näm-
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lieh im negativen Dogmatismus. Man kehrte gewissermaßen nur das Vorzeichen um und geriet so in eine blinde Opposition gegen alle Werte, die sich sinnlicher Greifbarkeit entziehen. Die »naturwissenschaftliche Weltanschauung« wurde als der neue Götze auf den Thron gehoben; und man hat mit Recht bei der Charakterisierung dieser Zeitströmung von den „pfaffen des Atheismus« gesprochen. Die positiven Aufgaben, zu denen sich das Jahrhundert der Aufklärung emporgearbeitet hatte, waren dieser Zeit fremd. Und so konnte ein abermaliger Umschwung nicht ausbleiben.Wir stehen heute mitten in der Neu-Romantik. Man ist der unfruchtbaren Opposition müde und wendet sich wieder zu dem Positiven zurück. Die historischen Studien stehen überall in nie erreichter Blüte. Der Liberalismus kann aber seine Ideale nicht der Vergangenheit entnehmen, sondern er muß sie in der Zukunft suchen. Woher sollen ihm diese Ideale kommen? Wohl hört man heute den Ruf nach der »großen liberalen Partei«. Aber mit frommen Wünschen läßt sich keine Partei gründen. Interessenpolitik, Klassenkampf, das sind klare Begriffe und Ziele. Was sollen wir an deren Stelle setzen? Ich antworte: Wo die Gesinnung fehlt, da fehlt auch der Antrieb zu Taten. Darum werden wir keinen politischen Liberalismus bekommen, wenn wir nicht einen ethischen Liberalismus bekommen. Wir haben aber heute keine liberale Ehtik. Wir haben eine sogenannte sozialistische Ethik, d. h. eine Ethik, die uns lehrt, vor der Masse auf dem Bauche zu liegen. Und wir haben eine individualistische Ethik, d. h. eine Ethik, die uns lehrt, den despotischen Machtinstinkten des selbstherrlichen Individuums ungehemmten Lauf zu lassen. Aber wir haben keine liberale Ethik. Wir haben aber keinen ethischen Liberalismus und können keinen haben, weil wir keinen wissenschaftlichen Liberalismus haben. In der Wissenschaft herrscht heute der Historismus. Wo er die selbsttätige Forschung noch nicht vollends gelähmt hat, da verfährt man »axiomatisch«, wie der Göttinger Ausdruck lautet. D. h. man untersucht, welche Voraussetzungen man machen muß, wenn man einen bestimmten Satz annehmen will, und welches seine logischen Folgen sind. Die Frage dagegen, ob der Satz wahr ist, untersucht man in der Wissenschaft nicht; denn man findet sie höchst uninteressant.
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, Man hat sie längst ersetzt durch eine andere Frage. Nämlich durch die Frage: ob es bequem ist, den Satz anzunehmen, ob es Denkarbeit erspart und biologisch vorteilhafl erscheint. Was dem einen bequem ist, kann freilich dem anderen sehr unbequem sein. Doch das ist gleichgültig, denn auf Allgemeingültigkeit kommt es in der Wissenschaft nicht an. Wir sind heute längst über den naiven Standpunkt hinaus, als ob es die Wissenschaft mit der Wahrheit zu tun hätte. Wer das Bedürfnis nach Wahrheit durchaus nicht unterdrükken kann, der wende sich an die Verkünder der Offenbarung, an die Kirche. Dort wird er über die Wahrheit ganz genaue Auskunft erhalten. Dies ist der Standpunkt, den man einnehmen muß, um heute in der Wissenschaft als liberal zu gelten. Wer die Frage nach der Wahrheit in die Wissenschaft hereinziehen will, wer an die Möglichkeit allgemeingültiger Grundsätze glaubt, der wird heute als wissenschaftlicher Reaktionär verschrieen. Das heißt aber im Grunde nichts anderes als dieses: Es gilt als liberal, der Autorität in die Hände zu arbeiten. Daß dies der wahre Sachverhalt ist, daß man allerseits im liberalen Lager eifrig bemüht ist, den Ast abzusägen, auf dem man sitzt, das beginnt man allenthalben einzusehen, nur nicht bei den Liberalen selbst. Die praktische Konsequenz dieser von der Wissenschaft eingenommenen Haltung liegt offen zutage. Diese Konsequenz ist die freiwillige Räumung des den Mächten der Bevormundung in einem vielhundertjährigen Kampfe abgerungenen Feldes. Es ist das Bekenntnis zum Prinzip der Ohnmacht der Vernunfl. Es ist die Kapitulation der Wissenschafl gegenüber der Kirche . Wer diese Sachlage durchschaut hat, der wird sich nicht wundern, daß bei einem solchen Zeitgeist kein politischer Liberalismus gedeihen kann. Denn ich wiederhole: Es kann keinen politischen Liberalismus geben, wenn es keinen ethischen Liberalismus gibt. Es kann aber keinen ethischen Liberalismus geben, wenn es nicht einen wissenschaftlichen Liberalismus gibt. Und wir haben heute keinen wissenschaftlichen Liberalismus. Welche Stellung werden wir angesichts dieser Sachlage einnehmen? Müssen wir uns damit abfinden, d;iß das Spiel des Hin- und
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Herpendelns von Extrem zu Extrem sich dauernd wiederholt? Sollen wir die Sache des Liberalismus - und das heißt die Sache der Vernunft - verloren geben nach so viel fehlgeschlagenen Versuchen? Ist der Glaube von GALILEI und NEWTON, von LESSING und KANT, von SCHILLER und HUMBOLDT eine Illusion gewesen? Zu diesem Schlusse haben wir kein Recht. Denn wir haben den Weg, auf dem sich allein ein unparteiisches Urteil über die Möglichkeit des Liberalismus gewinnen läßt, zu früh wieder verlassen; wir haben uns durch die Schwierigkeiten abschrecken lassen, ihn weit genug zu verfolgen. Wir fanden, daß das Schicksal des Liberalismus untrennbar mit dem Gelingen der Kritik der Vernunft verwachsen ist. Hier aber sind wir nach den ersten fehlgeschlagenen Bemühungen auf halbem Wege wieder umgekehrt. Daß die Wiederaufnahme und Weiterverfolgung dieses Weges das einzige ist, was uns übrigbleibt, wenn wir die Sache des Liberalismus nicht endgültig preisgeben wollen, liegt so klar auf der Hand, daß man sich wundern müßte, wenn noch niemand in dem ganzen verflossenen Jahrhundert vor uns diesen Weg beschritten haben sollte. Und dieser Weg ist in der Tat beschritten worden. Das geschichtliche Bild, das ich vorhin entworfen habe, entspricht nur der Außenseite der Entwicklung; es war nur das Bild der sich fortwährend wandelnden, von Extrem zu Extrem schwankenden öffentlichen Meinung, die durch andere Umstände bestimmt wird als durch die stille Arbeit derer, die, auf der Höhe ihrer Zeit stehend, dafür sorgen, daß die Kontinuität des geistigen Fortschrittes gewahrt bleibt. Wie die beiden großen Gegner des Liberalismus, der klerikale Konservatismus und der ökonomische Materialismus, so hat auch der Liberalismus seine philosophische Begründung erhalten. Während aber die philosophische Begründung jener beiden politischen Lehren zur Bildung mächtiger Parteien geführt hat, von Parteien, die noch heute ihren geistigen Einfluß und ihre praktische Triebkraft den Grundgedanken ihrer Stifter verdanken, ist der philosophische Liberalismus der Vergessenheit anheimgefallen, noch ehe er irgend zu praktischer Wirksamkeit gelangen konnte. Er hat bei den Zeitgenossen keinen Widerhall gefunden, und so ist er klanglos verschollen. Wollen wir heute den Liberalismus zu frischem Leben erwecken, so
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müssen wir auf seine Quelle zurückgehen und den Schutt hinwegräumen, unter dem sie bisher verborgen gelegen hat, damit sie ungehemmten Lauf findet und zum mächtigen Strome wird, der das Leben befruchten kann. Ich meine aber hier die Philosophie von FRIES und seinen Schülern. Wenn ich nun von dieser Philosophie sprechen will, so bin ich darauf gefaßt, von denen, die meine wissenschaftliche Stellung kennen, den Vorwurf zu hören, daß ich philosophische Privatüberzeugungen in die politische Diskussion zöge, wohin sie nicht gehören. Ich hoffe jedoch, Sie durch meine bisherigen Ausführungen davon überzeugt zu haben, einmal, daß der politische Liberalismus eine philosophische Grundlage nicht entbehren kann, und sodann, daß nur eine solche Philosophie dem Liberalismus genügen kann, die die höchsten Normen des menschlichen Kulturlebens weder in äußere Autorität, noch in das bloße Eigeninteresse - sei es des Individuums, sei es einer Klasse - setzt. Die einzige Philosophie aber, die dieser Bedingung genügt, ist die kritische Philosophie, wie sie von FRIES ausgebildet worden ist. Diese Behauptung bedarf des Beweises. Ich habe Ihnen also zu zeigen, wie FRIES die eben formulierte Aufgabe löst, ohne doch, wie KANT noch, am Ende wieder in den Fehler zu verfallen, die leere Reflexion, die leeren logischen Formen zum höchsten Gesetz zu erheben. Dabei werde ich mich kurz zu fassen suchen und nur so weit auf Einzelheiten eingehen, als nötig ist, um Ihnen einen ungefähren Einblick in den politischen Teil dieser Lehre zu geben. Das erste, worauf es hier ankommt, ist FRIES' Widerlegung des Empirismus. Der Empirismus ist die Lehre, daß alle unsere Erkenntnis aus der Erfahrung stamme, daß also die Sinnlichkeit das Vermögen des menschlichen Geistes erschöpfe. Wenn diese Lehre richtig ist, so haben wir, streng genommen, kein Recht, dem menschlichen Geiste ein Vermögen der Vernunft zuzuschreiben. Unser Geist ist dann eine tabula rasa, die zwar äußerer Eindrücke fähig wäre, der aber jede Möglichkeit der Selbsttätigkeit fehlte. FRIES zeigt, daß dieser Empirismus den psychologischen Tatsachen widerspricht. Er weist als psychologisches Faktum eine Selbsttätigkeit unseres Geistes in theoretischer wie in praktischer Hinsicht auf. D. h. er beweist die
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Existenz von Erkenntnissen, die von der Erfahrung unabhängig sind, sogenannter Erkenntnisse a priori, und er beweist ebenso die Existenz einer von dem Eigeninteresse unabhängigen Wertung. Er beweist also die Existenz einer theoretischen und einer praktischen Vernunft . Dieser Existenzbeweis aber gibt zu einer eigentümlichen Paradoxie Anlaß. Denn wie verträgt sich sein Ergebnis mit der von uns als unbestreitbar anerkannten Unmöglichkeit einer Erweiterung der Erkenntnis durch bloßes Denken? Wie verträgt sich die Möglichkeit einer selbsttätigen Vernunft mit der Tatsache der Leerheit der Reflexion? Die Lösung dieses fundamentalen philosophischen Problems ist FRIES' großes, bisher wenig verstandenes Verdienst. Sie beruht auf der Unterscheidung zwischen der Reflexion und der Vermmft. Die Reflexion ist allerdings für sich leer und dient nur zur mittelbaren Wiederholung anderweit gegebener Erkenntnisse. Aber diese unabhängig von der Reflexion gegebene Erkenntnis ist zweifacher Art: nämlich nicht nur die auf äußerer Anregung beruhende sinnliche Erkenntnis der Anschauung, sondern auch eine eigene, der ursprünglichen Selbsttätigkeit des Geistes entspringende Erkenntnis der reinen Vernunft. Diese unmittelbar der Vernunft eigene Erkenntnis ist nicht wie die Anschauung für sich klar, sondern wir bedürfen der Reflexion, um sie zum deutlichen Bewußtsein zu erheben. Die Reflexion ist also nicht die Quelle dieser Erkenntnis, sondern sie dient nur zur Aufklärung der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft. Solche reinen Vernunfterkenntnisse wenden wir in der Wissenschaft sowohl wie im täglichen Leben fortwährend an, ohne davon ein deutliches Bewußtsein zu haben. So setzen wir z. B. jederzeit das Gesetz der Beharrlichkeit der Masse voraus, wenn wir annehmen, daß den wandelbaren Erscheinungen, wie sie vor unseren Sinnen vorüberziehen, etwas Beharrliches zugrunde liegt, das fortbesteht, auch dann und dort, wo es nicht in unsere Sinne fällt . So setzen wir ferner jederzeit das Gesetz der Kausalität voraus, wenn wir annehmen, daß keine Veränderung ohne die dazu gehörige Ursache eintritt. Ganz ebenso steht es nun im praktischen Gebiete. Die Reflexion
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kann etwas als wertvoll erkennen nur dann, wenn vorher bereits ein Zweck vorausgesetzt ist, zu dessen Verwirklichung das zu wertende Objekt als Mittel dient. Die unmittelbaren Zwecke nun, die aller reflektierenden Wertschätzung zugrunde liegen, sind wieder zweifacher Art: solche der Sinnlichkeit und solche der Vernunft. Die Werte der ersten Art sind zufällig und schwanken nach Ort und Zeit, die der zweiten Art sind notwendig und gelten unabhängig von Ort und Zeit. Wir setzen ihre Existenz im gewöhnlichen Leben dunkel voraus, überall wo wir uns verpflichtet fühlen, ein auf sinnliche Zwecke gerichtetes Streben zugunsten eines ideellen zu unterdrücken; aber nur selten kommen sie dem einen oder anderen mit Klarheit zum Bewußtsein, und eben dieses kann nur durch Reflexion geschehen. Die Ref/.exion ist ein Vermögen der willkürlichen Leitung des Gedankenlaufs, und hierdurch wird sie die Quelle alles Irrtums. Lassen wir uns nicht auf das Reflektieren ein, so entgehen wir auch der Gefahr des Irrtums. Aber wir würden diesen Vorteil dadurch erkaufen, daß wir zugleich auf alles Urteil überhaupt verzichten müßten, nicht allein auf das falsche, sondern auch auf das wahre. Denn nur durch Reflexion werden wir uns der in unserer Vernunft liegenden Wahrheiten bewußt. Nicht also dadurch werden wir uns über Zweifel und Irrtum erheben, daß wir uns von der Reflexion lossagen, sondern allein dadurch, daß wir die Reflexion vielmehr weiter ausbilden und ihr einmal begonnenes Werk vollenden. Die Vernunft ist das Maß, durch Vergleichung mit dem allein wir uns von der lrrtümlichkeit oder Wahrheit irgendeines Urteils überzeugen können. Wollten wir das Vertrauen zu unserer Vernunft von der Zustimmung irgendeiner höheren Instanz abhängig machen, etwa von der eines unfehlbaren Papstes oder eines heiligen Buches, so müßte die Frage entstehen: Woran erkennen wir die Zuständigkeit dieser höheren Instanz, welches Kennzeichen haben wir für ihre Unfehlbarkeit? Ein solches Kennzeichen der Unfehlbarkeit müßten wir schon besitzen, ehe wir jene höhere Instanz als solche erkennen können. Dieses Kennzeichen könnten wir nur der eigenen Vernunft entnehmen. Wir würden uns daher im Zirkel bewegen, wenn wir die Kompetenz unserer Vernunft von der Sanktion durch irgend-
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eine äußere Autorität abhängen lassen wollten. Die Vernunft ist die oberste Richtschnur aller Wahrheit, sie kann daher selbst nicht des Irrtums verdächtigt, sie kann nicht vom Zweifel angetastet werden. Dies ist die klare wissenschaftliche Begründung des Prinzips des Selbstvertrauens der Vernunft, dies die klare wissenschaftliche Widerlegung der Romantik. Freilich, darin behält die Romantik gegen die Aufklärungsphilosophie recht, daß die bloße Reflexion unvermögend ist, irgendwelche positiven Normen der Kultur zu sichern, und daß diese Normen anderswoher gegeben sein müssen. Aber die Romantik hat unrecht, sich darum von aller Reflexion überhaupt loszusagen und auf die Notwendigkeit einer äußeren Autorität zu schließen. Denn wenn die Reflexion auch nicht die Quelle jener Normen ist, so ist sie doch das unentbehrliche Mittel, um die dunkel in uns liegenden Normen zum klaren Bewußtsein zu erheben. So schlichtet FRIES den Streit zwischen Aufklärung und Romantik. Lassen Sie mich nun unter Beiseitelassung alles übrigen nur noch mit einigen Worten auf den für die Grundlegung der Politik wichtigsten Teil der Lehre eingehen. In der Kritik der praktischen Vernunft findet sich als das Grundgesetz der praktischen Philosophie das Gesetz der Gleichheit der Würde der Personen. Jede Person soll als Selbstzweck geachtet und darf nicht wie eine Sache als bloßes Mittel für die Zwecke anderer mißbraucht werden. Dieses Gesetz wendet sich nun zwar zunächst in der Ethik nur an die Gesinnung des einzelnen. Es soll aber auch äußerlich im Verkehr der Menschen untereinander geltend gemacht werden. Hierdurch ergibt sich uns die Aufgabe der Politik. Die bloße Forderung der rechtlichen Gesinnung genügt zur äußeren Durchführung des Gesetzes nicht, denn die Gesinnung kann durch Mangel an Einsicht und gutem Willen fehlgeleitet werden. Es bedarf daher für die rechtliche Regelung des Verkehrs der Menschen untereinander einer positiven Gesetzgebung, die mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist. Das heißt: es bedarf des Staates. Es wäre aber ein Mißverständnis, wenn man meinen wollte, das genannte philosophische Prinzip könne oder solle dazu hinreichen, eine wirkliche Staatsgesetzgebung aus ihm zu entwickeln. Das kann nicht seine Aufgabe sein. Der alte Fehler des Naturrechts, ein Ge-
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setzbuch a priori aufzustellen, soll hier nicht wiederholt werden. Aber wir dürfen ebensowenig in den entgegengesetzten Fehler der historischen Schule verfallen, wonach in der Politik alles nur von positiver Bestimmung wäre. Vielmehr gibt es eine oberste Bedingung, von der die Vernunft die rechtliche Gültigkeit aller positiven Gesetzgebung abhängig macht, und diese besteht darin, daß die Gesetzgebung nicht gegen das aufgestellte Prinzip der persönlichen Würde verstoßen darf. So dient also dieses Prinzip nicht zur Schaffung, sondern nur zur Kritik positiver Gesetzgebungen. Es stellt nur eine leitende Maxime für den Gesetzgeber auf, eine Idee, der gemäß der Gesetzgeber die positiven, nur der Erfahrung abzufragenden Zwecke der Menschen in gesetzlichen Ausgleich bringen soll. Es fordert nämlich, daß dieser Ausgleich nach dem Gesichtspunkt der Gleichheit erfolgen solle. Hierin liegt die positive Ergänzung des unbestimmten Freiheitsprinzips der Kantischen Rechtslehre. Ein zweites Mißverständnis ist es, wenn sozialistische Theoretiker unser Prinzip dazu benutzen, die Forderung einer Gleichheit des physischen Besitzes abzuleiten. Unser Gesetz fordert eine Einschränkung der Zwecke jedes einzelnen auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit den Zwecken jedes anderen. Und diese Zusammenstimmung soll nach dem Prinzip der Gleichheit geregelt werden. Die Zwecke des Menschen gehen aber gar nicht unmittelbar auf Besitz, sondern auf Befriedigung der Bedürfnisse. Jeder soll also das gleiche Recht auf Befriedigung seiner Bedürfnisse erhalten. Diese Bedürfnisse sind aber je nach Individualität, Beruf und Gewöhnung verschiedene, und demgemäß werden auch die Mittel, deren Besitz zur Befriedigung der Bedürfnisse erforderlich ist, verschiedene sein. Ein drittes Mißverständnis endlich entsteht dadurch, daß man übersieht, daß es sich in der Politik nicht um das unbestimmte "Recht« handelt, irgendwelche Dinge zu tun oder zu lassen, sondern um die Regelung des Verkehrs der Menschen, wo negativ nur das Recht auf Schutz gegen Eingriffe anderer in unsere persönliche Interessensphäre, positiv aber nur das Recht auf angemessenen Lohn für die dem einzelnen oder der Gemeinschaft entrichteten Leistungen nach dem Gesetz der Gleichheit gesichert werden soll. Dies wird
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z.B. bei den Diskussionen über das Wahlrecht häufig verkannt. Hier argumentieren die liberalen Politiker gewöhnlich unmittelbar aus der Forderung des gleichen Rechts für alle auf die politische Notwendigkeit des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Diese Argumentation ist ebenso falsch, wie wenn man es für eine Forderung der Gerechtigkeit erklären wollte, daß jedermann in Prozeßsachen als Richter oder auf der Universität als Professor auftreten dürfe, gleichgültig, welche Vorbildung er aufzuweisen hat. Ich sage hiermit keineswegs, daß ich die Forderung des allgemeinen Wahlrechts verwerfe, sondern nur, daß man sie nicht so begründen dürfe. überhaupt wird man die Anforderungen an unser Prinzip für die Fragen der Staatsverfassung nicht überspannen dürfen. Diese Fragen werden sich weit weniger aus allgemeinen philosophischen Erwägungen, als nach Klugheitsregeln der Erfahrung für den einzelnen Fall entscheiden lassen. Philosophisch können wir so wenig demokratische wie absolutistische Regierungsformen fordern, sondern nur als allgemeines Ziel die Forderung aufstellen, daß die Vernunfl regieren solle. Die Vernunft tritt aber nicht rein für sich in die Erscheinung, sondern kommt nur im Urteil des Gebildeten zum Ausdruck. Philosophisch werden wir also nur mit PLATON fordern können, daß die Weisen im Volke einen möglichst großen Einfluß auf die Leitung der Staatsgeschäfte erhalten sollen. Da aber dieser Einfluß nur dann für die Dauer gesichert werden kann, wenn die Bildung im Volke selbst Verbreitung und Anerkennung findet, werden wir besonders Hebung der Volksbildung und also auch Durchführung aller sie bedingenden Mittel, insbesondere Freiheit der Wissenschaft, Lehrfreiheit und PresseJreiheit fordern müssen. Indem ich hier meinen Bericht schließe, möchte ich noch auf ein naheliegendes Bedenken eingehen. Vielleicht wird sich schon mancher von Ihnen gewundert haben, daß ich verlange, man solle bei einer ein volles Jahrhundert zurückliegenden Lehre in die Schule gehen, um die Grundlagen der liberalen Weltanschauung zu studieren. Liegt es nicht nahe, anzunehmen, diese Lehre müsse, so plausibel man sie auch vorzutragen versuche, inzwischen überholt sein? Warum hätte man sie sonst der Vergessenheit anheimfallen lassen? Scheint es nicht, daß wir vor allen Errungenschaften der Zwischen-
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zeit die Augen verschließen, daß wir beispielsweise die entwicklungsgeschichtlichen Entdeckungen DARWINS und die ganze sich darauf aufbauende neuere Biologie und Psychologie ignorieren, wenn wir heute noch im Ernste das Bestehen eines für alle Zeiten gültigen, a priori zu erkennenden Sittengesetzes als Prinzip der Politik behaupten? Auf dieses Bedenken kann ich hier nur kurz antworten. Was zunächst den Darwinismus betrifft, so behaupte ich, daß er, so groß seine Bedeutung für die Naturwissenschaft ist, doch für die Probleme der Philosophie von gar keiner Bedeutung sein bnn, und am wenigsten für die Probleme der praktischen Philosophie. Der Darwinismus ist, wie jede naturwissenschafl:liche Lehre, ein Versuch, gewisse Tatsachen - hier der organischen Entwicklung - zu erklären, d. h. aus ihren Ursachen zu begreifen. Die Philosophie aber, insbesondere die praktische, hat es nicht mit der Frage zu tun, was tatsächlich geschieht, sondern mit der Frage, was geschehen sollte; sie fragt nicht nach den Ursachen irgendwelcher Vorgänge, sondern nach ihrem Werte. Diese Fragen sind völlig verschiedener Natur, und die Lösung der einen kann zu der der anderen nichts beitragen. Wie geht es dann aber zu, wird man fragen, daß die philosophischen Lehren, von denen ich berichtet habe, sich in der Geschichte der Wissenschaft nicht haben durchsetzen können und daß sie so bald wieder verschollen sind? Diese Tatsache hat vor allem zwei Gründe. Es liegt in der Natur der Sache, daß neue und bahnbrechende Gedanken, zumal wenn sie der abstraktesten aller Wissenschaften angehören, nur langsam und zunächst nur bei wenigen Verständnis finden. Hierfür ist aber ein Jahrhundert noch keine lange Zeit. Hat es doch keiner geringeren Zeit bedurft, bis die Entdeckungen, die wir den Klassikern der Mathematik und Naturwissenschaft verdanken und die heute zum Grundbestand der Wissenschaft zählen, Eingang und Anerkennung bei den Gelehrten gefunden haben. Aber dieser Grund ist nicht der einzige. Der andere ist politischer Natur. Durch seine freimütigen politischen Bestrebungen zog sich der Urheber dieser Lehre die Feindschaft der damals in Deutschland regierenden Kreise zu und wurde - wozu seine Teilnahme an dem
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Wartburgfeste der deutschen Burschenschaft den unmittelbaren Anlaß gab - in einen Prozeß verwickelt, der für ihn den Verlust seiner Lehrtätigkeit zur Folge hatte. Es war die Zeit, wo in der deutschen Politik die Metternichsche Reaktion, in der deutschen Wissenschaft die Hegelsche Philosophie herrschte, beide sich gegenseitig bedingend und fördernd durch die ihnen gemeinsame Verherrlichung des Polizeistaates. Die Friessche Schule wurde als staatsgefährlich bekämpft und aus den Universitäten verdrängt. Das ist der politische Grund des ungünstigen Schicksals dieser Philosophie. Mögen Sie aber die philosophischen Lehren, von denen ich Ihnen ein Bild zu geben gesucht habe, billigen oder nicht - darauf kommt es zunächst nicht an -, woran mir lag, war, in Ihnen das Bewußtsein zu erwecken, daß die innere Möglichkeit des liberalen Gedankens ein in seiner Tragweite noch nicht genügend gewürdigtes Problem einschließt und daß ernste philosophische Arbeit notwendig ist, wenn diese Lücke ausgefüllt werden und der Liberalismus nicht den ihm feindlichen geistigen Mächten unterliegen soll. Gewiß soll auch in Zukunft die Arbeit geteilt bleiben, und wir werden nicht den mit den Mühen der praktischen Politik Beladenen noch diese wissenschaftliche Arbeit zumuten wollen. Wer aber wäre zu dieser Arbeit mehr berufen als die Akademiker?
Die philosophischen Grundlagen des Liberalismus
Erschienen in: WILHELM BoussET, ERNST CAHN, LEONARD NELSON und WILHELM ÜHR, Was ist liberal? Budthandlung Nationalverein, Mündten 1910, s. 7-20 In den Gesammelten Schriften steht diese Arbeit im Band IX, S. 27-42.
»Liberalismus« heißt dem Wortsinn nach: Prinzip der Freiheit. »Freiheit« ist aber ein relativer Begriff; der Gebrauch dieses Ausdrucks hat erst dann einen bestimmten Sinn, wenn hinzugefügt wird, in bezug auf was von Freiheit die Rede ist oder wovon Freiheit erstrebt wird. Freiheit schlechthin, d. h. Unabhängigkeit von allen und jeden Schranken, ist das Prinzip des Anarchismus. Mit diesem ist aber der Liberalismus, dem üblichen Sprachgebrauch nach, nicht zu identifizieren. Was bestimmt also die für die Charakteristik des Liberalismus wesentliche Einschränkung der Freiheit? Zunächst ist klar, daß hier nur von der Freiheit menschlicher Betätigung die Rede sein kann. Es lassen sich aber mannigfache Abstufungen denken nach Art und Grad, wie menschliche Betätigung eingeschränkt werden kann, und es ist am Ende Sache willkürlicher Ausdrucksweise, welches Einschränkungsprinzip man »Liberalismus« nennen will. Doch liegt so viel im Wortsinn, daß diese Einschränkung ein Minimum sein soll. Nur die notwendige Einschränkung soll gelten. Aber Minimum nach welchem Maßstab beurteilt? Notwendig nach welchem Kriterium? Die einzig bündige Antwort auf diese Frage, die einzig bestimmte und feste Abgrenzung, die hier möglich ist, wird gegeben durch den Hinweis auf das, was den Maßstab seiner Notwendigkeit in sich selbst trägt, was sich als notwendig einsehen läßt, was selbst erst durch freie, d. h. an keine äußere Autorität gebundene Prüfung als notwendig erkannt werden kann. Man nennt dies das »Rationale« oder »Vernünftige«. Mit dieser Antwort scheint nun zwar sehr wenig gewonnen zu sein. Denn wie ist das »Vernünftige« zu begrenzen und vom Unvernünftigen zu scheiden, und was ist eigentlich mit ihm gefordert? Dies ist allerdings mit der gegebenen Antwort noch nicht gesagt; aber sie gibt uns doch einen sehr bestimmten Hinweis für den Weg, den wir zur Entscheidung dieser Fragen einschlagen sollen. Sie weist uns an, den ursprünglichen Maßstab aller Notwendigkeit nirgends außer uns, sondern in uns selbst, d. h. in der eigenen Vernunft zu suchen. Die Gangbarkeit dieses Weges setzt freilich voraus, daß die
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Vernunft das zu leisten vermag, was ihr hier zugemutet wird, daß sie nämlich nicht eine leere Form für den ihr von außen zufließenden Gehalt der Erfahrung ist, sondern eine ursprüngliche Gesetzgebung enthält, nach der sie aus eigener Machtvollkommenheit über die Ansprüche jeder äußeren Norm in letzter Instanz entscheidet. Ob es eine solche ursprüngliche Gesetzgebung der Vernunft gibt, welches ihr Inhalt ist und wie weit sich ihre Kompetenz erstreckt, dies zu untersuchen ist ein Geschäft der Philosophie. Man nennt die Wissenschaft, die diese Prüfung des Leistungsvermögens der Vernunft zur Aufgabe hat, die »Kritik der Vernunft«. Wenn wir hiernach den Liberalismus erklären können als die Maxime, keine anderen Einschränkungen menschlicher Betätigung anzuerkennen als die durch Vernunft gebotenen, so wird durch diese Erklärung sogleich deutlich, inwiefern sich der Liberalismus seinem Begriffe nach in einem ganz bestimmten Verhältnis der Abhängigkeit zur Philosophie befindet. Denn wenn der Liberalismus nicht eine leere Phrase, sondern eine in sich haltbare und praktisch anwendbare Maxime sein will, so muß er in der Lage sein, »das durdi Vernunft Gebotene« seinem Inhalt nadi in klarer und überzeugender Weise als solches zu kennzeichnen. Und eben hierzu bedarf er der Philosophie. II
Das sidi hiergegen erhebende Bedenken, daß »was in der Theorie riditig sein mag, doch meist für die Praxis wenig taugt«, sollte keiner ernstlidien Erwägung bedürfen. Wenn Theorie und Praxis in irgendeinem Falle nicht zusammenstimmen, so ist klar, daß notwendigerweise eine von beiden falsdi sein muß. Aber abgesehen davon, daß der Fehler ebenso gut in der Praxis liegen kann wie in der Theorie, so liegt er doch im letzteren Falle niemals in der Theorie als solcher, sondern darin, daß die Theorie - nämlich die besondere, gerade zur Diskussion stehende Theorie - falsch ist. So gewiß es ist, daß jede Theorie, die zu Forderungen gelangt, deren praktische Ausführung unmöglich ist, falsch sein muß, so gewiß ist es andererseits, daß die gewöhnliche verächtlidie Beurteilung der Theorie nur dem
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natürlichen Bestreben der Feigheit und Bequemlichkeit entspringt, sich einer mehr oder weniger schwierigen Aufgabe dadurch zu entziehen, daß man ihr den Schein der praktischen Unausführbarkeit anheftet. Der Theorie, und das heißt hier der Philosophie gegenüber eine verächtliche Sprache zu führen, würde dem Liberalismus um so schlechter anstehen, als dieser von jeher in die Bekämpfung des Dogmas seinen Ehrgeiz gesetzt hat. Praktische Forderungen, die ohne Begründung als verbindlich aufgestellt werden, sind aber selbst nichts als Dogmen. Fragt man einen guten Durchschnitts-Liberalen, was er eigentlich meine, wenn er sich »liberal« nenne, so wird er, wenn er die Frage nicht von vornherein als müßig abweist und wenn man sich auch nicht durch irgendeine nichtssagende Phrase wie die, er trete auf allen Gebieten für den Fortschritt ein, abspeisen läßt, etwa mit der Aufzählung einer Reihe praktischer Forderungen antworten und also ungefähr erklären, daß er für allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht, für unbedingten Freihandel, für unbedingte Trennung von Kirche und Staat und - wenn er »sehr liberal« ist - vielleicht auch für das Frauenstimmrecht eintrete. In dem Eintreten für diese Forderungen bestehe der Liberalismus; ein Liberaler, der ihre Verbindlichkeit in Frage stelle, begehe eben damit Verrat an der eigenen Sache. - Ob ein Standpunkt wie der hiermit charakterisierte den Namen »liberal« verdient oder nicht, ist eine Zweckmäßigkeitsfrage, die man beurteilen mag, wie man will; jedenfalls ist er ein von Grund auf dogmatischer, und wer sich auf ihn stellt, büßt das Recht ein, sich als einen Gegner jeglichen Dogmatismus aufzuspielen.
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Fragen wir nun näher nach den Belehrungen, die wir von der Philosophie über das durch die Vernunft Gebotene erhalten, so haben wir zunächst auf eine Ansicht Rücksicht zu nehmen, die von vornherein die Möglichkeit bestreitet, aus der Vernunft irgendwelche praktisch verwertbare Prinzipien zu schöpfen. Die Vernunft, so hat
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man argumentiert, ist nicht, wie der Liberalismus voraussetzt, eine selbständige Quelle von Normen für unser Denken und Handeln, sondern eine an sich leere Form, die nur äußere Eindrücke aufzunehmen und begrifflich zu formulieren vermag. Durch allen Scharfsinn im Gebrauch der Vernunft wird es nie gelingen, einen eigenen Gehalt der Erkenntnis gleichsam schöpferisch zu erzeugen; was sie leistet, beschränkt sich darauf, das uns durch die Sinne von außen zugeführte Wissen begrifflich umzuformen und dadurch zu verdeutlichen. Und zwar gilt dies im Theoretischen wie im Praktischen. Der theoretische Gebrauch der Vernunft dient zum Schließen und Beweisen; durch alle Schlüsse und Beweise können wir aber immer nur aus irgendwelchen schon gegebenen Wahrheiten die Konsequenzen ziehen. Was wir so erhalten, ist nichts eigentlich Neues, sondern liegt seinem vollen Gehalte nach schon in den ersten Wahrheiten, von denen unsere Beweisführung ursprünglich ausging, und die ganze Mühe des Beweisens dient im Grunde nur dazu, diesen Gehalt der vor allem Beweise schon gegebenen Wahrheit uns deutlicher zum Bewußtsein zu bringen. Ganz entsprechend kann der praktische Gebrauch der Vernunft nur dazu dienen, zu irgendwelchen schon unabhängig von ihr gegebenen Zwecken die Mittel zu bestimmen, niemals aber vermag sie uns einen eigenen Zweck für unser Handeln zu geben. Das dem Liberalismus zugrunde liegende Vertrauen auf die Vernunft als ein Vermögen der Selbstgesetzgebung scheint sich hiernach als eine Illusion zu erweisen; es muß früher oder später als solche erkannt werden, und der Liberalismus wird alsdann in seiner wahren Konsequenz, als Anarchismus, enden; es sei denn, daß er, vor dieser Konsequenz zurückschreckend, vor irgendeiner äußeren Autorität kapituliert und also dem Despotismus das Feld räumt. Diese dem philosophischen Prinzip des Liberalismus entgegengesetzte Lehre entwickelt in der Tat nur die Konsequenz aus den popularphilosophischen Anschauungen des Vulgär-Liberalismus. Sie ist daher auch vom Standpunkt dieses letzteren aus unwiderleglich. Und sie verdient um so ernstere Beachtung, als sie in der politischen Geschichte eine Rolle gespielt hat, deren Bedeutsamkeit allen den Liberalen zur Belehrung und Warnung dienen könnte, die die Be-
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langlosigkeit der Theorie für die Praxis behaupten. Diese philosophische Lehre von der Ohnmacht der Vernunft hat einem der heftigsten und erfolgreichsten Gegner des Liberalismus das geistige Rüstzeug geliefert: FRIEDRICH Juuus STAHL, dem klassischen Theoretiker und praktischen Begründer der konservativen Partei in Deutschland. Diese Stahlsehe Kritik trifft auch heute noch das, was wir etwa als Philosophie des Liberalismus ansprechen könnten. Man denke nur, was das Theoretische betrifft, an das beliebte Schlagwort von der »Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft«. Versteht man hier unter »Voraussetzung« eine unbewiesene Annahme, so schließt die Forderung voraussetzungsloser Wissenschaft einen inneren Widerspruch ein; denn ein Beweis ist nur für abgeleitete oder mittelbare Urteile möglich, er setzt unbewiesene Annahmen zu seiner eigenen Möglichkeit voraus, weil sonst nichts da wäre, woraus wir Beweise führen könnten. Die Verwerfung solcher Voraussetzungen hebt also zugleich die Möglichkeit der Wissenschaft überhaupt auf. Meint man jedoch mit der Forderung der Voraussetzungslosigkeit nur die Ausschließung grundloser oder wissenschaftlich unzulässiger Annahmen, dann ist diese Forderung eine völlig triviale und nichtssagende, die auch jeder Nicht-Liberale unterschreiben wird. Denn unzulässige Annahmen wird niemand zulassen wollen; und die Frage, über die allein Streit besteht, ist die nach einem Kennzeichen zur Unterscheidung der zulässigen von den unzulässigen Annahmen, und diese Frage wird durch die Forderung der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft gar nicht berührt. Oder man denke, was das Praktische betrifft, an das Schlagwort des »allgemeinen Nutzens«. Der allgemeine oder soziale Nutzen soll der Leitstern der praktischen Politik sein. »Nützlich« ist ein Ding, wenn es ein geeignetes Mittel zur Verwirklichung eines Zwecks ist; es kann seinen Wert also immer nur mittelbar von einem anderen entlehnen, das den Zweck selbst enthält. Den allgemeinen Nutzen zur höchsten praktischen Norm zu erheben, schließt also einen inneren Widerspruch ein. Der englische theoretische Liberalismus des 19. Jahrhunderts nannte sich »Utilitarismus« (Nützlichkeitslehre). In diesem Namen kommt so recht die Mittelbarkeit und Leerheit und damit auch der
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innere Widerspruch zum Ausdruck, in dessen Aufdeckung der Kernpunkt der Stahlsehen Kritik des liberalen Prinzips bestand. Nichts zeigt vielleicht deutlicher die Rückständigkeit des theoretischen Liberalismus der Gegenwart als die päpstliche Selbstgefälligkeit, mit der Schlagwörter wie die genannten als der Weisheit letzter Schluß wieder und wieder ausposaunt werden und die in so traurigem Verhältnisse zu der tatsächlichen Hilflosigkeit und Ohnmacht steht, in der man sich gegenüber der Aufgabe einer wissenschaftlichen Rechtfertigung der eigenen Position noch immer befindet. »Traurig« um so mehr, als die Mittel zur Lösung dieser Aufgabe und zur Widerlegung der Stahlsehen Kritik längst in der Gewalt der Wissenschaft sind, ja schon waren, bevor STAHL auftrat.
IV Eine ausführliche Widerlegung der Stahlsehen Kritik des Liberalismus kann hier natürlich nicht gegeben werden. Es soll nur auf die historische Existenz einer Lösung der von STAHL geltend gemachten Schwierigkeiten hingewiesen werden. Diese Lösung liegt vor in der »Kritik der Vernunft«, wie sie von KANT begründet und von FRIES ausgebildet worden ist. Insbesondere findet sich bei FRIES der Nachweis, daß die Vernunft nicht leer ist, sondern eine eigene Gesetzgebung in sich enthält und daß die Vernunft von der für sich allerdings leeren und nur wiederholenden Reflexion oder dem »Verstande« unterschieden werden muß. Die Stahlsehe Kritik bezieht sich, soweit sie berechtigt ist, allein auf die Reflexion und verliert daher mit dieser Beschränkung ihre beabsichtigte Bedeutung für die Kritik der Vernunft . Mit dieser Friesschen Entdeckung erhält der philosophische Liberalismus erst sein wahres wissenschaftliches Fundament. Wir können diese Entdeckung hier nicht nachprüfen, aber wir können feststellen, daß das wissenschaftliche Schicksal des Liberalismus von der Entscheidung über diese Lehre der Kritik der Vernunft abhängen wird.
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Der Liberalismus, als das Prinzip der nur durch Vernunft eingeschränkten Freiheit, läßt sich, gemäß den verschiedenen Gebieten seiner Anwendung, unter drei allgemeinen Gesichtspunkten betrachten: 1. als Prinzip der Denkfreiheit, 2. als Prinzip der Gewissensfreiheit oder der sittlichen Freiheit, 3. als Prinzip der Freiheit des äußeren Handelns oder der politischen Freiheit. Denkfreiheit ist einerseits Freiheit der Wissenschaft, andererseits Freiheit der Religion. In diesen beiden Gebieten wird die gewöhnliche Auffassung von dem, was die »Freiheit« eigentlich fordere, durch das sogenannte Prinzip der Toleranz bestimmt, d. h. durch die Maxime, »jedem seine Überzeugung zu lassen«. Hierunter versteht man aber nicht nur den richtigen Grundsatz, daß niemand mit Gewalt seiner Überzeugung wegen verfolgt werden solle, sondern es kommt dabei auch eine gewisse individualistische oder anarchistische Auffassung zum Ausdruck, wonach alle Wahrheit in Dingen der Religion und selbst der Wissenschaft letzten Endes eine Sache persönlicher Willensentscheidung sei und nicht etwas Allgemeingültiges, dessen Anerkennung jedem Gutgewillten und Einsichtigen zugemutet werden dürfte. Ohne in eine nähere Diskussion dieser Auffassung einzutreten, können wir doch behaupten, daß sie der aufgewiesenen allgemeinen philosophischen Voraussetzung des Liberalismus durchaus widerspricht. Nur wenn man von der zurückgewiesenen Lehre vom Beweise als einzigem Kriterium der Wahrheit ausgeht und demgemäß die Vernunft mit der für sich leeren Reflexion verwechselt, bleibt allerdings nichts übrig, als die Entscheidung über die höchsten Obersätze aller Beweise dem Belieben der persönlichen Willkür zu überlassen. Erkennt man aber in der Vernunft eine unabhängig von aller willkürlichen Reflexion feststehende Norm an, so wird man auch die Möglichkeit behaupten müssen, vermöge der »Kritik der Vernunft« über Prinzipienfragen der Wissenschaft und Religion eine allgemein verbindliche Entscheidung zu treffen. Nicht also die Befugnis, in Prinzipienfragen nach persönlichem Belieben zu entscheiden, fordert die rechtverstandene Denkfreiheit,
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sondern vielmehr Unabhängigkeit von aller Willkür, nicht nur von der äußeren einer fremden Autorität, sondern auch von der eigenen; oder - positiv ausgedrückt-: Abhängigkeit von der Vernunft. In Sachen der Wissenschaft und Religion liberal sein, heißt mithin nicht: gegen alle Überzeugungen tolerant sein, sondern vielmehr: intolerant sein gegen alle nicht auf Vernunftgründe gestützten Urteile. Die Intoleranz soll aber nicht despotisch sein, d. h. sie soll nicht in Entgegensetzung von Gewalt, sondern von Vernunftgründen bestehen.
VI Sittliche Freiheit oder das Prinzip des ethischen Liberalismus bedeutet: Unabhängigkeit des Willens von allen anderen Bestimmungsgründen als den Forderungen der eigenen Vernunft. Ihre Möglichkeit beruht also wiederum auf der Voraussetzung, daß es eine eigene und zwar praktische (d. h. sich auf den Willen beziehende) Gesetzgebung aus reiner Vernunft gibt, d. h. daß es Pflichten gibt, die unabhängig von jedem durch irgendeine Autorität festgesetzten Sittenkodex gelten. In der Tat sind dies sogar die einzigen „pflichten«, die diesen Namen eigentlich verdienen. Denn unter »Pflicht« versteht man ein unbedingt geltendes Gebot; alle angeblich »äußeren Pflichten« - mögen sie nun von einzelnen oder von der Gesellschaft als solcher, mögen sie von weltlicher oder von göttlicher Autorität diktiert sein - bestehen hingegen nur in einem tatsächlichen Verlangen, das an uns gestellt wird, und können ihren Anspruch auf Verbindlichkeit lediglich mittelbar auf das Interesse gründen, das wir selbst an der Vermeidung der Folgen nehmen, die die Nichterfüllung dieses Verlangens für uns nach sich ziehen würde. Das echte Prinzip der sittlichen Freiheit ist daher auch mit dem recht verstandenen sittlichen Rigorismus ganz einerlei. Denn die Pflicht, im dargelegten Sinne des Wortes, läßt gar keine Ausnahmen zu, für ihre Übertretung gibt es schlechterdings keine Entschuldigung, und die Selbstverantwortung für jede einzelne unserer Ta-
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ten (wozu auch die Unterlassungen gehören) kann uns auf keine Weise abgenommen werden. In sittlichen Dingen liberal sein, heißt also wieder nicht: im Sinne allgemeiner Toleranz alles entschuldigen (nach dem Spruch » Tout comprendre c'est tout pardonner«), sondern vielmehr: intolerant sein gegen jede Handlungsweise, die nicht der selbstgebildeten Pflichtüberzeugung entspricht. Die richtige Anwendung dieser Maxime wird nun freilich eine gewisse »Toleranz« erfordern, aber in einem ganz andern als dem gewöhnlichen Sinne. Die Anwendbarkeit dieser Maxime setzt nämlich voraus, daß wir nicht nur die äußere Handlung, sondern auch die innere Pflichtüberzeugung, also die Gesinnung des Handelnden kennen, wenn wir über ihn urteilen wollen; eine Bedingung, die wir bei Beurteilung anderer stets nur mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit als erfüllt betrachten können. Während also die durch den ethischen Liberalismus geforderte »Intoleranz« zwar uns selbst gegenüber durchaus anwendbar sein wird, verträgt es sich mit dem Standpunkt des ethischen Liberalismus - in Ermangelung eines äußerlich femtehenden Sittenkodex - keineswegs, über das Verhalten anderer den Sittenrichter zu spielen. Sich des Urteils über das sittliche Verhalten anderer enthalten, heißt aber ebensowenig: es entschuldigen, wie: es verurteilen. Hiernach bestimmt sich auch die liberale Auffassung von der Aufgabe der Pädagogik. Das Ziel liberaler Pädagogik ist nicht Gehorsam, d. h. Übereinstimmung des Verhaltens mit den Forderungen irgendeiner Autorität (z.B. »Patriotismus« als Regierungstreue und „frömmigkeit« als Kirchentreue), sondern Autonomie der Persönlichkeit, d. h. Bildung selbständiger Überzeugung und Übereinstimmung des Handelns mit ihnen.
VII Wir har~en bisher den Liberalismus dem Anarchismus entgegengesetzt. Es scheint zunächst fraglich, ob sich diese Entgegensetzung auch auf politischem Gebiete durchführen läßt. Der ethische Libe-
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ralismus schließt den politischen Anarchismus noch keineswegs aus; ja er scheint ihn geradezu zu fordern. Die Existenz des Staates, d. h. der Unterwerfung der Gesellschaft unter eine mit äußerem Zwang begleitete positive Gesetzgebung, scheint mit dem Prinzip der sittlichen Freiheit oder der Selbstverantwortung des einzelnen nicht in Einklang zu stehen. In der Tat kann die äußere Erzwingung irgendwelcher Handlungen - mögen sie nun pflichtgemäß sein oder nicht - niemals irgendwelchen sittlichen Wert haben; denn dieser kommt ja einer Handlung nicht zu, sofern sie pflichtgemäß, sondern nur sofern sie aus Pflicht, also ohne äußeren Zwang, geschieht. Soll also das politische Ideal des Liberalismus nicht mit dem des politischen Anarchismus zusammenfallen, so ist dies nur unter der einen Voraussetzung möglich, daß es eine Wertgesetzgebung aus reiner Vernunft gibt, die sich auf die Wechselwirkung der Personen bezieht, unabhängig von dem Gebot für die Gesinnung. Das Prinzip dieser Gesetzgebung muß einen Wert bezeichnen, dessen Realisierung ohne alle Rücksicht auf die Gesinnung erzwungen werden kann und soll. Ein solcher Wert ist das Recht. Das »Recht« gibt mir eine Forderung an den andern, nämlich die Forderung der Achtung (d. h. hier der tatsächlichen Anerkennung) meiner der seinen gleichen persönlichen Würde . Eine dieser Forderung nicht genügende Gesellschaftsordnung nennen wir eine »despotische«. Ausschließung des Despotismus ist also die Forderung der politischen Freiheit. Diese Ausschließung des Despotismus kann in einer anarchistischen Gesellschaftsordnung nicht gewährleistet werden. Denn in einer solchen herrscht das »Recht des Stärkeren«, und es hängt lediglich von dessen Willkür ab, wieweit er von diesem »Recht« Gebrauch macht. Indes ist diese Frage nach der Notwendigkeit des Staates für die Durchführung des Rechts keine eigentlich philosophische, sondern eine technische, nach Klugheitsregeln der Erfahrung zu entscheidende. Die Erfahrung lehrt aber nicht nur, daß ohne Staat keine Durchführung des Rechts möglich wäre, sondern auch, daß die natürlic.1en Bedingungen des Gesellschaftslebens von selbst, ohne Dazwischentreten einer sie sich bewußt zum Zwecke setzenden
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Willkür, zu Staatenbildungen führen. Der Staat ist also als solcher etwas für die philosophische Reflexion Gegebenes, historisch Hinzunehmendes, und die Frage ist nicht sowohl, ob er sein solle, als wie er sein solle. Er soll nämlich ein »Rechtsstaat« sein, Wld nicht eine Despotie. Nun ist aber eine jede Staatsform despotisch, in der nicht alle Mitglieder der Gesellschaft gleichmäßig den Gesetzen unterworfen sind, d. h. in der zugunsten bevorzugter Individuen oder Gruppen Ausnahmen von dem Gesetz zugelassen werden. Gleichheit aller vor dem Gesetz ist also eine notwendige Forderung der politischen Freiheit. Es soll nicht Herrscher und Beherrschte geben, sondern das Gesetz selbst soll herrschen. Aber diese Gleichheit vor dem Gesetz ist nur eine notwendige, nicht eine hinreichende Bedingung der politischen Freiheit. Auch eine Staatsform, in der diese Bedingung erfüllt ist, kann eine despotische sein; wenn sie nämlich durch das Gesetz selbst die Gesellschaft den Interessen einzelner Personen oder Gruppen unterwirft. Das Gesetz soll zwar mit der Befugnis zu zwingen, also mit Gewalt bekleidet sein; aber die politische Freiheit fordert, daß diese Gewalt nicht im Dienst des Interesses einzelner oder einzelner Gruppen stehe, sondern der gerechten Ausgleichung der Interessen diene.
VIII Auf die richtige Beurteilung dieses letzten Gegensatzes kommt es besonders an, wenn man sich in der Anwendung der Idee der politischen Freiheit nicht durch die gewöhnlichen Mißverständnisse irreführen lassen will. Diese zeigen sich namentlich bei der Frage nach der besten Regierungsform in der Theorie der Staatsverfassung. Hier geht man meist von dem an sich richtigen Satze aus, daß es dem liberalen Prinzip widerspricht, wenn irgendwelche Einzelinteressen im Staate herrschen, setzt aber dann fälschlich den Gegensatz gegen das Einzelinteresse in das Interesse der »Allgemeinheit« oder das sogenannte Nationalinteresse, das doch, wenn es überhaupt existierte, nur auf der zufälligen Übereinstimmung der Sonderinteres-
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sen beruhte, vor diesen letzteren also gar nicht prinzipiell, sondern nur als ein theoretisch möglicher Grenzfall ausgezeichnet wäre. Die Folge dieses Fehlers ist dann die Proklamierung des sogenannten demokratischen Prinzips für die Staatsverfassung. - Argumentationen dieser Art leiden immer an dem Fehler, daß sie zu viel beweisen. Angenommen nämlich, es gäbe wirklich eine Übereinstimmung der Einzelinteressen, so bedürften wir ja gar keiner Staatsverfassung mehr, da der Staat ja nur der tatsächlichen Nicht-Übereinstimmung der Interessen seinen Sinn und seine Existenz verdankt. Sobald aber ein Widerstreit der Interessen vorliegt, wird bei demokratischer Staatsverfassung statt des übereinstimmenden Willens aller Majorität entscheiden, durch die der Wille des einzelnen im Volke ebenso überwältigt wird wie im anderen Falle durch einen persönlichen Despoten. Der Irrtum, vor dem wir hier warnen, entspringt aus einer Verwechslung der objektiven Allgemeinheit mit der subjektiven. Die Allgemeinheit, der der Staat dienen und der der einzelne sein Interesse unterordnen soll, ist nicht die tatsächliche Allgemeinheit des von allen einzelnen Gewollten, sondern es ist die des Allgemein-Gültigen oder durch Vernunft Gebotenen. Nicht auf den Gegensatz des Einzelinteresses und des Gesamtinteresses (oder, was für die Praxis allein in Betracht kommt, des Interesses der Majorität) kommt es an, sondern auf den des Interesses und einer gerechten Form der Ausgleichung der Interessen. Welche Regierungsform aber diesem Ideal einer gerechten Form der Ausgleichung der Interessen am besten zu dienen verspricht, dies ist nicht eine Frage des philosophischen Prinzips, sondern kann nur an der Hand der Erfahrung für den einzelnen Fall entschieden werden. Die prinzipielle Verwerfung des Despotismus schließt also die Forderung des demokratischen Prinzips keineswegs ein: Die Regierung kann sehr wohl in den Händen einzelner liegen, ohne darum doch durch das persönliche Interesse dieser einzelnen bestimmt zu werden. Wird sie aber durch persönliche Interessen bestimmt, so ist es prinzipiell gleichgültig, von wie vielen dieses Interesse ausgeht; der Massendespotismus ist an und für sich nicht weniger verwerflich als der eines despotischen Monarchen.
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IX Auch im übrigen läßt sich, was mit dem Gesetz der Gleichheit der persönlichen Würde im einzelnen gefordert ist, nicht a priori bestimmen, sondern es hängt von dem wandelbaren Kulturbewußtsein ab. Das philosophische Prinzip besagt nämlich nur, daß die Würde der Person geachtet werden soll, d. h. daß keine Person als bloßes Mittel für die Zwecke anderer mißbraucht werden darf; aber was zur Würde des einzelnen gehört und wodurch er im besonderen Fall zum bloßen Mittel gemacht würde, das bestimmt sich nur erfahrungsmäßig nach der bei einem Volke zu bestimmter Zeit herrschenden Wertschätzung der wirtschaftlichen und kulturellen Güter. - Allgemein werden wir hier nur folgendes sagen können. 1. Die Gerechtigkeit fordert Gleichheit der persönlichen Würde, aber nicht Gleichheit des physischen Besitzes oder der Befugnisse überhaupt. Der Besitz ist nur Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse. Die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse stehen aber nach allgemeinen Naturgesetzen, von denen das menschliche Leben abhängt, nur durch Arbeit zur Verfügung, und die Bedürfnisse selbst sind individuell verschieden. Es ist daher nicht Gleichheit des Besitzes zu fordern, sondern das Recht für jedermann, die geeignete Arbeit zu übernehmen, d. h. eine solche, die ihm die Möglichkeit des Erwerbs der zur Befriedigung seiner Bedürfnisse erforderlichen Mittel gewährt. - Hiernach bestimmt sich die Stellung des Liberalismus zu den wirtschaftlichen Problemen. 2. Aus der Abhängigkeit des Inhalts des Rechts von dem Kulturbewußtsein der Zeit ergibt sich die Forderung einer mit der allgemeinen Kultur fortschreitenden Entwicklung des Rechts. Die notwendige äußere Bedingung der Möglichkeit solcher Entwicklung ist die Freiheit der Kritik der bestehenden Staatseinrichtungen. (Lehr-, Rede- und Pressefreiheit.) 3. Diese Freiheit der Kritik vermag aber ihrem politischen Zweck nur zu dienen und erhält die Möglichkeit ihrer Ausübung nur unter der Bedingung der Olfentlichkeit de:: Rechtspflege im bestehenden Staat. Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit der Kritik der bestehenden
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Staatseinrichtungen und Offentlichkeit der Rechtspflege sind also die allgemeinen Grundforderungen des politischen Liberalismus im engeren Sinne. Sie enthalten die äußeren Bedingungen der Möglichkeit einer Entwicklung des positiven Rechts gemäß der allgemeinen Idee des Rechts oder der Idee der politischen Freiheit. Die positive Verwirklichung dieser Idee kann nicht selbst durch ein positives Gesetz erzwungen werden, sondern bleibt ihrerseits nur eine sittliche Aufgabe. Eine Aufgabe, deren Lösung nur gelingen kann auf dem Wege der Volks-Erziehung und Volks-Aufklärung. In diesem Sinne bedeutet der politische Liberalismus über die Forderung jener Rechte hinaus vor allem eine sittliche Pflicht, nämlich die Pflicht, mit allen gesetzlichen Mitteln der bestehenden Staatsordnung auf die Realisierung der Idee des Rechtes hinzuwirken, oder kurz die Pflicht der Beteiligung der Gebildeten am öffentlichen Leben. Politisch liberal sein, heißt also: sich verpflichtet fühlen, an seinem Teile mitzuarbeiten an der Verwirklichung der Idee des Rechts.
Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie
Vortrag, gehalten am 11. April 1911 auf dem IV. internationalen Kongreß für Philosophie in Bologna. Erschienen im Kongreßbericht: Atti de! IV. Congresso internazionale di Filosofia, Bologna 1911 , Formiggini, Genua, Band I, S. 255-275, und im Sammelband: LEONARD NELSON, Die Reformation der Philosophie durch die Kritik der Vernunft, Der Neue GeistVerlag, Leipzig 1918, S. 55-85. In den Gesammelten Schriften steht diese Arbeit im Band II, S. 459-483.
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Wenn wir die bisherige Entwicklung des Kongresses überblicken, so lehrt sie uns zweierlei Tatsachen, von denen wir zwar schon aus anderen Gründen wissen können, für die uns aber eine Bestätigung wertvoll sein muß. Die eine von diesen Tatsachen ist eine erfreuliche, die andere eine betrübende. Das Erfreuliche, was der Kongreß uns lehrt, ist dieses: daß er durch sein bloßes Zustandekommen ein Zeugnis ablegt für den Glauben an die Möglichkeit einer Philosophie als Wissenschaft. Die Möglichkeit eines internationalen Kongresses für Philosophie setzt den Glauben voraus, daß es eine gemeinsame philosophische Arbeit geben könne, und das ist nur möglich, wenn man an die Philosophie als Wissenschaft glaubt. Noch deutlicher und wirksamer aber als durch das bloße Zustandekommen des Kongresses tritt dieser Glaube in Erscheinung durch den besonders engen Zusammenhang, in den auf diesem Kongreß die Philosophie mit den exakten Wissenschaften tritt, und der durch die Personalunion beider Wissenschaften in unserem verehrten Präsidenten auch einen eigenen symbolischen Ausdruck gefunden hat. Sie wissen, daß noch von manchem ein Philosophenkongreß für etwas Lächerliches gehalten wird, für etwas, woran sich zu beteiligen der wahren Würde eines Philosophen zuwider sei. Eine solche Auffassung ist notwendig und natürlich bei allen denen, die die Philosophie als eine Sache des persönlichen Erlebens betrachten, als etwas, das sich nicht in feste, mitteilbare Formen prägen läßt, kurz, denen die Philosophie nicht als eine Wissenschaft gilt. Wer diese Auffassung nicht teilt, der muß die rege Beteiligung, die dieser Kongreß gefunden hat, und das besondere Gewicht, das in seinem Programm auf die Beziehungen zu den exakten Wissenschaften gelegt worden ist, als einen erfreulichen Ausdruck für den Glauben an Philosophie als Wissenschaft lebhaft begrüßen. Aber wenn wir, die wir hier versammelt sind, auch diesen Glauben an die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie teilen, so müssen wir uns doch fragen, ob wir wirklich schon im Besitz einer solchen philosophischen Wissenschaft sind. Und da müssen wir, wenn wir ehrlich sein wollen, gestehen - und das ist das Zweite, weniger Erfreuliche, was der Kongreß uns lehrt -, daß die Philosophie sich gegenwärtig nicht im Zustand einer Wissenschaft befindet.
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Wir haben gesehen, und besonders eindringlich haben es die Diskussionen gelehrt, daß unter den Anwesenden auch über die elementarsten philosophischen Fragen noch keine Einigkeit besteht. Je mehr uns daran liegt, dem Ziel der Philosophie als Wissenschaft näherzukommen, desto wichtiger muß es uns sein, diese Tatsache, daß die Philosophie jetzt noch nicht eine Wissenschaft ist, nicht zu verschleiern, sondern vielmehr möglichst klar ins Licht zu stellen. Um so eher werden wir Anlaß finden, den Gründen nachzuforschen, warum es noch nicht gelungen ist, die Philosophie in den Gang einer Wissenschaft zu bringen, und auf welchem Wege wir hoffen können, diesem unwürdigen Zustand ein Ende zu bereiten. Dies ist die Frage, zu deren Lösung mein Vortrag einen Beitrag liefern soll. Die Natur dieser Aufgabe bringt es mit sich, daß ich wesentlich auf Fragen der Problemstellung und der Methode eingehen muß. Insofern unternehme ich hier nichts Neues; denn unsere Zeit ist außerordentlich reich an solchen Untersuchungen methodischer Art. Man hat es geradezu als einen Mangel, als eine Art Krankheitssymptom angesehen, daß die gegenwärtige Philosophie vorwiegend mit den Fragen ihrer eigenen Methode beschäftigt ist. Ich kann eine solche Auffassung nicht teilen. Es mag damit in anderen Wissenschaften stehen, wie es will, in der Philosophie ist es nicht ein Zeichen des Verfalls, sondern ein Zeichen der Gesundung, wenn man sich in ihr vor allen Dingen um die richtige Methode bemüht. Während uns in anderen Wissenschaften das Erkenntnismaterial, das es in wissenschaftliche Form zu bringen gilt, durch relativ einfache Mittel zugänglich ist und nicht eine besondere Voruntersuchung darüber erfordert, wie wir uns in seinen Besitz setzen sollen, hängt in der Philosophie gerade alles von einer solchen methodischen Voruntersuchung ab. Denn das Material von Erkenntnissen, das den Inhalt der philosophischen Wissenschaft bilden soll, steht uns ja nicht ohne weiteres zur Verfügung, und es kommt alles darauf an, wie wir es machen sollen, um uns erst in seinen Besitz zu setzen. Die Sicherheit der Resultate wird folglich hier ganz von der Wahl der einzuschlagenden Methode abhängen. Wie schwierig es also auch sein mag, über diese Methode zur Einigkeit zu gelangen, so ist
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es doch zwecklos, ehe dies gelungen ist, in eine Diskussion bestimmter Resultate einzutreten. Wenn daher die vielfachen methodischen Bemühungen der letzten Zeit dennoch nicht zu dem gewünschten Ziel geführt haben, so dürfen wir daraus nicht den Schluß ziehen, daß es besser sei, solche methodischen Untersuchungen fallen zu lassen, um endlich von der Methode zur Sache selbst überzugehen; vielmehr bin ich der Meinung, daß, wenn die bisherigen methodologischen Arbeiten nicht den erhofften Erfolg gehabt haben, dies nur daran liegt, daß sie ihre Aufgabe noch nicht eindringlich genug in Angriff genommen haben, und daß, wenn man nur mit dem nötigen Ernst und der nötigen Energie diese Arbeit fortsetzt, man auch bald den richtigen Weg finden wird, um aus der philosophischen Anarchie zu einer einhelligen und planmäßigen wissenschaftlichen Arbeit zu gelangen. Einern unbefangenen Beobachter der Entwicklung der Philosophie in der letzten Zeit muß es als besonders merkwürdig auffallen, daß der Streit und die Mannigfaltigkeit der philosophischen Lehrmeinungen gerade in derjenigen Disziplin am größten ist, deren Bearbeitung in der unmittelbaren Absicht unternommen worden ist, den unfruchtbaren Streitigkeiten der früheren Schulmetaphysik ein Ende zu machen, nämlich in der Erkenntnistheorie. Die Erkenntnistheorie ist ja ursprünglich gerade nur in der Absicht eingeführt worden, die ohne sie unlösbar erscheinenden philosophischen Fragen einer wissenschaftlichen Behandlung zugänglich zu machen, mag man nun dabei von der Vorstellung ausgegangen sein, auf erkenntnistheoretischem Wege eine wissenschaftliche Metaphysik begründen zu können, oder durch die Erkenntnistheorie die Unmöglichkeit einer solchen wissenschaftlichen Metaphysik ein- für allemal festzustellen. Wie erklärt es sich, daß diese anscheinend so berechtigten Hoffnungen auf eine friedliche, wissenschaftliche Gestaltung der Philosophie sich nicht nur nicht erfüllt, sondern im Gegenteil den Streit der Schulen ins Unermeßliche gesteigert haben? Ich werde zeigen, daß dieses seltsam erscheinende Phänomen einen höchst einfachen Grund hat und daß es sich mit dem Problem der Erkenntnistheorie nicht anders verhält als mit vielen verwandten Problemen anderer Wissensdiaften, in denen wir schon so oft die Erfahrung ge-
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macht haben, daß ein Problem, über das man lange hin und her gestritten hat, ohne seiner Lösung einen Schritt näherzukommen, sich schließlich als ein solches erwiesen hat, das gar keine Lösung zuläßt oder dessen Lösung, wenn man hier von einer solchen sprechen will, statt in der erhofften positiven Entscheidung, vielmehr in dem Beweise seiner Unlösbarkeit gefunden worden ist. Ich werde also die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie beweisen. Um aber nicht mit einem negativen, destruktiven Resultat abzuschließen, werde ich daran die Frage knüpfen, welche positiven Konsequenzen sich etwa aus diesem Sachverhalt ziehen lassen. Die Frage, ob wir denn alle Bemühungen um die Philosophie als Wissenschaft aufzugeben genötigt sind, ob wir, mit anderen Worten, auf eine Rückkehr zu der dogmatischen Metaphysik angewiesen sind, oder ob es vielleicht einen neuen, dritten Weg gibt, der uns wirklich zum Ziel führt. Ich glaube, Ihnen zeigen zu können, daß das letzte der Fall ist, und ich hoffe, Ihnen mit meinem Vortrage selbst ein Beispiel für die Gangbarkeit dieses Weges zu bieten. Dabei will ich im voraus so viel von der Methode, die ich einschlagen werde, sagen, wie mir zum Verständnis des Vorzutragenden nötig erscheint. Wenn wir uns um die Philosophie als Wissenschaft bemühen, so ist es das natürlichste, uns dabei das Beispiel der exakten Wissenschaften zum Muster zu nehmen. Zwar wissen wir, oder wir sollten es wenigstens seit KANT wissen, daß wir nicht blindlings eine Methode, die in den mathematischen Wissenschaften einheimisch ist, auf die Philosophie übertragen dürfen. Gerade darin bestand der Fehler der vorkantischen Metaphysik, daß sie bestrebt war, die in der Mathematik herrschende dogmatische Methode in der Philosophie nachzuahmen. Die Verfehltheit dieses Unternehmens ist durch KANT für immer bewiesen worden. Aber das Verhältnis beider Wissenschaften, der Philosophie und der Mathematik, hat sich seit KANTS Zeiten in eigentümlicher Weise verschoben. In der sogenannten Axiomatik, die im Laufe des verflossenen Jahrhunderts ausgebildet worden ist, hat die moderne Mathematik eine Methode entwickelt, die im Grunde ganz mit der von KANT für die Philosophie geforderten übereinstimmt. Es ist dies die regressive Methode, de-
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ren Bedeutung nicht sowohl darin besteht, unser Wissen zu erweitern, die schon bekannten Wahrheiten um neue zu vermehren und die Konsequenzen aus ihnen zu entwickeln, als vielmehr darin, die schon bekannten Wahrheiten hinsichtlich ihrer Voraussetzungen zu prüfen. Sie dient dazu, ehe wir uns an die Lösung eines Problems machen, erst die Bedingungen seiner Lösbarkeit zu untersuchen: uns zu vergewissern, ob das Problem überhaupt lösbar ist, welche Voraussetzungen in der Problemstellung selbst sdion enthalten sind, und zu entsdieiden, welche Voraussetzungen zu einer bestimmten Lösung des Problems notwendig und hinreichend sind. Diese Methode will ich auf das Problem der Erkenntnistheorie, das sogenannte Erkenntnisproblem, anwenden. Dieses Problem ist das der objektiven Gültigkeit unserer Erkenntnis. Es ist die Aufgabe der Erkenntnistheorie, die Wahrheit oder objektive Gültigkeit unserer Erkenntnis zu prüfen. Ich behaupte, daß eine Lösung dieses Problems unmöglich ist, und beweise dies folgendermaßen. Um das gestellte Problem lösen zu können, müßten wir ein Kriterium haben, durch dessen Anwendung wir entscheiden können, ob eine Erkenntnis wahr ist oder nicht. Ich will es kurz das »erkenntnistheoretische Kriterium« nennen. Dieses Kriterium würde entweder selbst eine Erkenntnis sein oder nicht. Wäre es eine Erkenntnis, so würde es gerade dem Bereich des Problematischen angehören, über dessen Gültigkeit erst mit Hilfe des erkenntnistheoretischen Kriteriums entschieden werden soll. Es kann also nicht selbst eine Erkenntnis sein. Ist aber das erkenntnistheoretische Kriterium keine Erkenntnis, so müßte es doch, um anwendbar zu sein, bekannt sein, d. h. wir müßten erkennen können, daß es ein Kriterium der Wahrheit ist. Um aber diese Erkenntnis des Kriteriums zu gewinnen, müßten wir das Kriterium schon anwenden. Wir kommen also in beiden Fällen auf einen Widerspruch. Ein erkenntnistheoretisches Kriterium ist folglidi unmöglich, und es kann daher keine Erkenntnistheorie geben. Um sidi den Inhalt des Bewiesenen deutlidier zu madien, braudit man nur irgendein Beispiel zur Hand zu nehmen. Es möge etwa jemand behaupten, die Übereinstimmung der denkenden Subjekte untereinander sei das gesuchte erkenntnistheoretisdie Kriterium.
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Um dieses Kriterium anwenden zu können, müßten wir wissen, daß die Übereinstimmung verschiedener Subjekte ein Kriterium der Wahrheit ihrer Erkenntnis ist. Um aber zu diesem Wissen zu gelangen, müßten wir auf die Annahme, die Übereinstimmung sei das fragliche Kriterium, dieses Kriterium selbst schon anwenden. Wir müßten uns überzeugen, daß alle Subjekte in der Behauptung übereinstimmen, daß die Übereinstimmung ein Kriterium der Wahrheit ihrer Behauptungen sei. Um aber daraus die Wahrheit dieser Annahme einsehen zu können, müßten wir schon voraussetzen, daß sie richtig ist, d. h. daß die Übereinstimmung ein erkenntnistheoretisches Kriterium ist. Die Möglichkeit, zu diesem Wissen zu gelangen, schlösse also einen inneren Widerspruch ein. Oder es behaupte jemand, die Evidenz sei das fragliche Kriterium. Dieses Kriterium müßte, um anwendbar zu sein, uns als solches bekannt sein, d. h. wir müßten wissen, daß die evidenten Erkenntnisse die wahren sind. Wir könnten dieses aber nur dadurch wissen, daß es evident wäre, daß die evidenten Erkenntnisse wahr sind; um aber aus der Evidenz dieser Annahme auf ihre Wahrheit zu schließen, müßten wir schon voraussetzen, daß die Evidenz ein Kriterium der Wahrheit ist. Es ist also unmöglich, zu dem fraglichen Wissen zu gelangen. Oder nehmen wir den Pragmatismus. Wenn die Nützlichkeit einer Vorstellung das gesuchte Wahrheitskriterium sein soll, so müßten wir, um dieses Kriterium anwenden zu können, wissen, daß die Nützlichkeit das Kriterium der Wahrheit ist. Wir müßten also wissen, daß es nützlich ist, zu denken, daß das nützliche Denken das wahre ist, und dabei schon voraussetzen, daß die Nützlichkeit dieses Denkens ein Kriterium seiner Wahrheit ist. Wir erhalten also auch hier denselben Widerspruch. - Und so in jedem anderen Falle. Welches ist nun die Voraussetzung, die wir bei der erkenntnistheoretischen Problemstellung machen und die den festgestellten Widerspruch nach sich zieht? Es ist zunächst wichtig, sich darüber klar zu werden, daß überhaupt eine solche Voraussetzung in der Problemstellung schon enthalten ist und daß die angebliche Voraussetzungslosigkeit, auf die die Erkenntnistheorie pocht, eine bloße Selbsttäuschung ist. Wenn man die Frage stellt, ob man überhaupt
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objektiv gültige Erkenntnisse besitzt, so setzt man voraus, daß die Objektivität der Erkenntnis zunächst zweifelhafl: ist, und daß wir uns erst mittelbar, nämlich durch das Verfahren der Erkenntnistheorie, dieser Objektivität versichern können. Wie steht es nun mit dieser, der Erkenntnistheorie unentbehrlichen Voraussetzung? Wir wollen uns zuerst den Sinn und Inhalt dieser Voraussetzung noch deutlicher vor Augen stellen. Sie scheint zunächst auf nichts anderes hinauszulaufen als auf eine Anwendung des logischen Satzes vom Grunde, nach dem eine jede Behauptung einer Begründung bedarf. Mit der Voraussetzung der Notwendigkeit der Begründung einer jeden Erkenntnis steht und fällt in der Tat die Erkenntnistheorie. Denn die Aufgabe der Erkenntnistheorie ist ja keine andere als die, unsere Erkenntnis zu begründen. So sehr gerade diese Voraussetzung auf die Ausschließung aller Vorurteile abzuzielen scheint, so kann uns doch der konstatierte Widerspruch, den sie nach sich zieht, darauf aufmerksam machen, daß hier ein Fehler verborgen liegen muß, und daß somit die gemachte Voraussetzung ihrerseits ein Vorurteil ist. Dieser Widerspruch liegt eigentlich in folgendem . Wenn jede Erkenntnis einer Begründung bedarf, so heißt dies soviel wie, daß sie eine andere als ihren Grund voraussetzt, auf die sie, um als wahr behauptet werden zu können, zurückgeführt werden muß. In der hiermit gegebenen Behauptung der Mittelbarkeit aller Erkenntnis liegt der Widerspruch. Denn wenn jede Erkenntnis nur durch eine andere, ihr zugrunde liegende möglich ist, so müßten wir, um zu irgendwelcher wahren Erkenntnis zu gelangen, einen unendlichen Regressus ausführen, und es wäre daher gar keine Begründung von Erkenntnissen möglich. Wir können dieses Ergebnis noch anders ausdrücken. Wenn man in der dargelegten Weise die Mittelbarkeit aller Erkenntnis behauptet, so behauptet man, daß jede Erkenntnis ein Urteil sei. Das Wort »Urteil« ist dabei im Sinne des üblichen Sprachgebrauchs zu verstehen, nach dem es für das Urteil charakteristisch ist, daß es in der Assertion einer an und für sich problematischen Vorstellung besteht. Jedes Urteil setzt eine Vorstellung voraus, die nicht an und für sich assertorisch ist, sondern zu der die Assertion erst mittelbar hin-
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zutritt. Diese Voraussetzung, daß jede Erkenntnis ein Urteil ist, zieht aber die weitere nach sich, daß die Begründung einer Erkenntnis nur ein Beweis sein kann. Ein Beweis ist nämlich die Zurückführung eines Urteils auf ein anderes Urteil, das den logischen Grund des ersten enthält. Wenn es aber keine andere Begründung von Urteilen gibt als den Beweis, so ist überhaupt keine Begründung von Urteilen möglich. Denn alles Beweisen besteht nur in der Zurückführung der zu beweisenden Urteile auf unbewiesene und unbeweisbare Urteile. Entweder also es gibt für diese ein anderes Begründungsmittel als den Beweis, oder es ist überhaupt keine Begründung von Urteilen möglich. Die aufgewiesene Voraussetzung der Erkenntnistheorie schließt aber - und darauf möchte ich hier besonders Wert legen - nicht nur den erörterten logischen Widerspruch ein, sondern sie widerspricht auch den psychologischen Tatsachen. Sie enthält, wie wir gesehen haben, die psychologische Behauptung, daß jede Erkenntnis ein Urteil sei. Und diese Behauptung widerspricht den Tatsachen der inneren Erfahrung. Um uns von der Existenz von Erkenntnissen zu überzeugen, die nicht Urteile sind, brauchen wir nur eine beliebige Anschauung, z. B. eine gewöhnliche Sinneswahrnehmung zu betrachten. Ich habe z.B. eine sinnliche Wahrnehmung von dem Blatt Papier, das hier vor mit auf dem Tische liegt. Diese Wahrnehmung ist zunächst eine Erkenntnis, nicht eine nur problematische Vorstellung. Die Assertion, die sie einschließt, ist aber kein Urteil. Denselben Sachverhalt, den ich hier durch die Wahrnehmung erkenne, kann ich freilich auch in einem Urteil wiedergeben. Aber wenn ich urteile, daß auf dem Tisch vor mir ein Blatt Papier liegt, so ist dies eine ganz andere Art von Erkenntnis als die Wahrnehmung dieses Sachverhaltes. Ich bedarf zu dem Urteil der Begriffe, z.B. des Begriffs des Tisches, des Begriffs des Papiers usw. Ich verbinde diese Begriffe in gewisser Weise, und ich behaupte, daß dieser Begriffsverbindung objektive Realität zukommt. Die Wahrnehmung dagegen bedarf keiner Begriffe und überhaupt keiner problematischen Vorstellung ihrer Gegenstände, sondern sie ist selbst eine ursprünglich assertorische Vorstellung. Mit anderen Worten: sie ist eine unmittelbare Erkenntnis.
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Wir finden also, daß die problematischen Vorstellungen nicht das Ursprüngliche sind, zu dem erst anderswoher die Objektivität hinzugebracht werden müßte, sondern daß das Ursprüngliche die Erkenntnis selbst ist. So richtig es ist, daß der Möglichkeit des Urteils schon Begriffe, also problematische Vorstellungen zugrunde liegen müssen, so wenig gilt dies doch für die Erkenntnis als solche. Mit dieser Feststellung entfällt das Problem der Erkenntnistheorie: Die Möglichkeit der Erkenntnis ist nicht ein Problem, sondern ein Faktum. Diesen faktischen Charakter des Erkennens gilt es ins Auge zu fassen. Wer ihn sich einmal klar gemacht hat, der wird nicht sowohl in der Möglichkeit der Erkenntnis, als vielmehr in der des Irrtums ein Problem sehen. Wenn uns nämlich ursprünglich nur Erkenntnisse gegeben sind, so entsteht die Frage, wie überhaupt Irrtum entstehen kann. Um die Lösung dieses Problems zu finden, brauchen wir nur dem Verhältnis des Urteils zur unmittelbaren Erkenntnis nachzugehen. Ein Urteil ist an und für sich noch nicht eine Erkenntnis, sondern es ist eine solche nur unter der Bedingung, daß es eine unmittelbare Erkenntnis wiederholt. Das Urteil ist ein Akt der Reflexion und insofern der Willkür. Die Begriffsverbindung im Urteil ist willkürlich und hängt dadurch von einem der Erkenntnis an und für sich fremden Prinzip ab. Die Wahrheit des Urteils, nämlich seine Übereinstimmung mit der unmittelbaren Erkenntnis, ist kein ursprüngliches Faktum, sondern nur eine Aufgabe, die wir uns willkürlich setzen, insofern uns das Interesse an der Wahrheit dazu bewegt; und in der Wahl der Mittel zur Lösung dieser Aufgabe können wir fehlgreifen. Ehe ich weitergehe und die Konsequenzen aus dem bisher Dargelegten entwickle, möchte ich die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie noch von einer anderen Seite her beleuchten. Man kann nämlich die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie auch auf folgende Art beweisen. Da für die Erkenntnistheorie die Erkenntnis kein Faktum, sondern ein Problem ist, so darf sie zur Lösung ihrer Aufgabe noch keine Erkenntnis als gegeben annehmen, sondern muß allein von problematischen Vorstellungen, also von bloßen Begriffen ausgehen. Nun lassen sich aus bloßen Begriffen lediglich analy-
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tische Urteile entwickeln. Diese geben aber niemals eine neue Erkenntnis. Eine solche könnte nur in synthetischen Urteilen bestehen. Also läuft die Aufgabe der Erkenntnistheorie auf die andere hinaus, aus bloß analytischen Urteilen synthetische abzuleiten. Daß aber diese Aufgabe unlösbar ist, läßt sich so beweisen. Angenommen, es wäre möglich, aus bloß analytischen Urteilen synthetische abzuleiten, so müßte irgendwo in der Reihe der Schlüsse einmal ein Schluß auftreten, dessen Prämissen noch beide analytisch sind, während der Schlußsatz schon synthetisch ist. Wenn aber beide Prämissen dieses Schlusses, sowohl Obersatz wie Untersatz, analytisch sind, so heißt das, daß einerseits der Oberbegriff des Schlusses schon im Mittelbegriff, und daß andererseits der Mittelbegriff schon im Unterbegriff enthalten ist. Wenn aber sonach sowohl der Oberbegriff im Mittelbegriff als der Mittelbegriff im Unterbegriff enthalten ist, so ist auch der Oberbegriff schon im Unterbegriff enthalten, d. h. auch der Schlußsatz muß analytisch sein, entgegen der Annahme. Es ist also unmöglich, jemals ein synthetisches Urteil aus bloß analytischen abzuleiten; und die Aufgabe der Erkenntnistheorie, zu zeigen, wie aus lediglich problematischen Vorstellungen Erkenntnis werden kann, ist folglich unlösbar. Ich setze für diesen zweiten Beweis der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie voraus, daß man mir die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urteile zugibt. Ich will daher noch kurz auf den Haupteinwand, der gegen diese Unterscheidung erhoben wird, Rücksicht nehmen. Man hat gemeint, diese Unterscheidung sei schwankend und unbestimmt. Ein und dasselbe Urteil könne zu verschiedenen Zeiten und für verschiedene Personen bald analytisch, bald synthetisch sein, es sei daher eine Verwandlung eines Urteils von der einen Art in die andere möglich. Dieser Einwand erledigt sich durch die Unterscheidung des Urteils von seinem sprachlichen Ausdruck. Was schwankend und unbestimmt ist, ist nur die Zuordnung zwischen dem Ausdruck und dem Gedanken, den er bezeichnet. Dieselben Worte können zu verschiedenen Zeiten und für verschiedene Personen Verschiedenes bedeuten, und es kann daher auch allerdings ein und derselbe sprachliche Satz bald ein analytisches, bald ein synthetisches Urteil bezeichnen. Wer hier-
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aus schließt, daß die Einteilung der Urteile in analytische und synthetische unbestimmt sei, verwechselt also Begriff und Wortbedeutung. Nur durch diese selbe Verwechslung erklärt sich auch der dialektische Schein in den Lösungsversuchen des erkenntnistheoretischen Problems. Sie laufen alle auf eine Erneuerung des Unternehmens der alten logizistischen Metaphysik hinaus und können daher nichts anderes sein als Wiederholungen desselben alten Irrtums in einem neuen Gewande. Das scheinbare Gelingen des Versuchs, aus bloßer Logik Metaphysik zu machen, beruht nur auf der Vieldeutigkeit der Worte. Nur diese ermöglicht es, daß der Erkenntnistheoretiker unbewußt einem analytischen Urteil ein synthetisches unterschiebt, indem er beide durch denselben sprachlichen Satz zum Ausdruck bringt. Ich will für das zuletzt Gesagte zwei Beispiele angeben, die zugleich dazu dienen sollen, die Bedeutung des dargelegten Grundgedankens zu erläutern und ihn gegen Ansichten, mit denen er leicht verwechselt werden könnte, abzugrenzen. Die Entscheidung der Frage, ob wir eine gültige Erkenntnis besitzen oder nicht, sie mag nun ausfallen, wie sie wolle, kann nur in einem synthetischen Urteil gesucht werden, denn sie betrifft ein Faktum. Und doch scheint es, daß man den Besitz eines Wissens rein logisch beweisen könne, indem man in der gegenteiligen Annahme einen Widerspruch nachweist. Dieser Widerspruch, den man dem absoluten Skeptizismus seit PLATON immer wieder vorgeworfen hat, ist bekannt. Man sagt: Wer behauptet, nichts wissen zu können, widerspricht sich selbst; denn er beansprucht, das zu wissen, was er behauptet, nämlich nichts wissen zu könner.; und aus diesem Widerspruch folgt, daß er etwas weiß. Diese Schlußweise ist nicht stichhaltig. Es widerspricht sich allerdings, wenn jemand zu wissen behauptet, daß er nichts weiß; aber aus diesem Widerspruch folgt keineswegs, daß er etwas weiß, sondern es folgt nur, daß er das, was er zu wissen vorgibt, nämlich nichts zu wissen, nicht weiß. Der Widerspruch liegt nicht in der skeptischen Annahme, daß wir nichts wissen, sondern erst in der anderen Annahme, daß wir dieses wissen können. Nicht das Urteil A: »Ich weiß nichts«, sondern das Ur-
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teil B: »Ich weiß, daß ich nichts weiß« schließt einen logischen Widerspruch ein; es folgt daher auch nur die Falschheit des Urteils B und nicht die des Urteils A. Die erkenntnistheoretische Widerlegung des Skeptizismus beruht also nur auf einer Verwechslung dieser beiden Urteile. Dieses Ergebnis, nämlich die Einsicht in die Unmöglichkeit einer positiven Begründung der Erkenntnis, legt den entgegengesetzten Versuch nahe, das Problem negativ zu entscheiden. Wenn jede Begründung der Gültigkeit unserer Erkenntnis unmöglich ist, so scheint zu folgen, daß wir über die Gültigkeit unserer Erkenntnis nichts wissen können, daß wir sie also skeptisch zu beurteilen haben. Allein, dieser skeptische Schluß aus der Unbegründbarkeit der Erkenntnis ist ebenso verfehlt. Er macht die stillschweigende Voraussetzung, daß wir nur das als gültig behaupten können, was sich begründen läßt, und das ist gerade dasselbe erkenntnistheoretische Vorurteil, auf Grund dessen wir erst zu der widerspruchsvollen Forderung einer Begründung der Erkenntnis gelangen. Ich erwähne dies letzte besonders deshalb, weil man mir entgegenhalten könnte, daß mein Beweis der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie nur einen alten, von den Skeptikern oft ausgesprochenen Gedanken wiederhole. Aus dem Gesagten geht hervor, daß mit den fraglichen skeptischen Argumentationen zu wenig bewiesen wird. Ich behaupte nicht die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie, um auf die Unmöglichkeit der Erkenntnis zu schließen, sondern ich behaupte, daß dieser skeptische Schluß auf die Unmöglichkeit der Erkenntnis selbst nur eine Folge des erkenntnistheoretischen Vorurteils ist. Der Widerspruch, auf den ich hingewiesen habe, ist nicht sowohl für eine positive Entscheidung des erkenntnistheoretischen Problems charakteristisch, als vielmehr für jeden Versuch seiner Entscheidung überhaupt, also auch für den skeptischen. Der dieser skeptischen Schlußweise entgegengesetzte Fehler findet sich in gewissen anderen Argumentationen, auf die man mich vielleicht verweisen könnte, um meinen Beweis der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie auf einen längst bekannten Gedanken zurückzuführen. Ich denke dabei an die auf HEGEL und HERBART zurückgehenden und besonders von LoTZE und BussE wiederholten Angriffe
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auf die Erkenntnistheorie, die alle das Gemeinsame haben, daß sie zugunsten des Dogmatismus unternommen worden sind. Während jene skeptischen Angriffe zu wenig beweisen, beweisen diese zu viel, indem sie die Konsequenz der Notwendigkeit einer dogmatischen Metaphysik einschließen, eine Konsequenz, die sich aus dem von mir gegebenen Beweise nicht ableiten läßt. Mit so vagen Argumentationen, wie z.B. daß man doch nicht schwimmen könne, ehe man ins Wasser gehe, oder daß das Erkennen sich nicht selbst erkennen könne, läßt sich zudem gar nichts entscheiden. Man könnte auf solche Weise ebenso gut die Unmöglichkeit der Philologie beweisen, durch die Behauptung, daß man über die Sprache nicht sprechen könne. Die Alternative zwischen der Erkenntnistheorie und dem Dogmatismus, d. h. zwischen der Notwendigkeit, jede Erkenntnis zu begründen, und der anderen, irgendwelche Urteile ohne alle Begrundung aufzustellen, ist allerdings unvermeidlich, solange man an der bereits widerlegten Voraussetzung festhält, daß jede Erkenntnis ein Urteil sei. Denn unter dieser Voraussetzung muß man notwendig den Anwendungsbereich des Satzes vom Grunde auf alle Erkenntnisse überhaupt ausdehnen und andererseits die offenbare Unmöglichkeit, jede Erkenntnis zu begründen, mit der Postulierung unbegründbarer Urteile verwechseln. Läßt man dagegen die Voraussetzung fallen, daß jede Erkenntnis ein Urteil sei, so verschwindet die Alternative zwischen Erkenntnistheorie und Dogmatismus. Es eröffnet sich damit eine Möglichkeit, dem Postulat der Begründung jedes Urteils zu genügen, ohne in den unendlichen Regreß der Erkenntnistheorie zu verfallen. Das Wahrheitskriterium, dessen wir uns dabei bedienen, gibt nicht mehr Anlaß zu dem Widerspruch, den wir in dem Begriff des erkenntnistheoretischen Kriteriums gefunden haben. In der Tat: das Kriterium der Wahrheit der Urteile kann nicht selbst wieder ein Urteil sein, aber es braucht darum ni.:ht außerhalb der Erkenntnis zu liegen; es liegt nämlich in der unmittelbaren Erkenntnis, die ihrerseits nicht wieder in Urteilen besteht. Auf diese Aufgabe: die Aufgabe der Begründung von Urteilen, wird sich, wie jede Wissenschaft, so auch die Philosophie beschrän-
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ken müssen, wenn sie Wissenschaft sein will. Statt sich über die Kompetenz der Wissenschaft zu erheben, statt über die Berechtigung der Einzelwissenschaften den Richter zu spielen, wird sie ihre eigene wissenschaftliche Existenz nur dann behaupten oder vielmehr erst erringen können, wenn sie sich bescheidet, ein Sondergebiet des Wissens neben anderen Einzelwissenschaften zur Bearbeitung zu übernehmen. Daß und wie dies möglich ist, werden wir leicht erkennen, wenn wir uns das Motiv vergegenwärtigen, dessen Mißdeutung ursprünglich die erkenntnistheoretische Problemstellung veranlaßt hat. Sehen wir vom Beweise ab, der nur zur Zurückführung von Urteilen auf andere Urteile dient, und ziehen wir nur die Grundurteile in Betracht, so werden diese, wenn sie nicht, als analytische, ihren Grund in bloßen Begriffen haben, nach dem allgemeinen Verfahren der Einzelwissenschaften durch Zurückführung auf die Anschauung begründet. Nun gibt es aber, wie zuerst HuME bemerkt hat, Urteile, bei denen diese Begründungsmittel versagen, Urteile, die, obwohl sie nicht analytisch sind, ihren Grund doch nicht in der Anschauung haben. Es sind dies alle Urteile, durch die wir eine notwendige Verknüpfung der Dinge denken. Ein solches Urteil ist z.B. der Grundsatz der Kausalität. Die Begründung dieser Urteile, der von KANT sogenannten »synthetischen Urteile aus bloßen Begriffen« ist in der Tat die Aufgabe, die von jeher, mehr oder weniger dunkel, den Bestrebungen der Metaphysiker vorgeschwebt hat, die aber erst von KANT, durch seine Verallgemeinerung des Humeschen Problems, wissenschaftlich formuliert worden ist. Man versteht leicht, daß, sobald die Natur dieser »metaphysischen« Urteile einmal klar erkannt war, sobald man die Unmöglichkeit ihrer Zurückführung auf die allein bekannten Erkenntnisquellen, Begriff und Anschauung, eingesehen hatte, der Versuch nahelag, sie - in Ermangelung einer ihnen zugrunde liegenden unmittelbaren Erkenntnis - durch Vergleichung mit dem Gegenstande, also erkenntnistheoretisch zu begründen. Wenn wir diese erkenntnistheoretische Wendung des Problems als eine unzulässige Mißdeutung verwerfen, so tritt dadurch das ursprüngliche Problem HuMEs erst in seiner wahren Bedeutung zu-
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tage. Von der Lösung dieses Problems hängt die Möglichkeit einer Begründung der metaphysischen Urteile und damit das Stehen und Fallen der Metaphysik als Wissenschaft ab. Seine Lösung kann aber, wie sich leicht zeigen läßt, nur in der Psychologie gesucht werden. Wir können nämlich die metaphysischen Urteile nicht unmittelbar aus ihrer Erkenntnisquelle entwickeln, so wie sich etwa die Geometrie aus der Anschauung des Raumes entwickeln läßt, denn die Art und selbst die Existenz dieser Erkenntnisquelle steht ja gerade in Frage; sie ist nicht ohne weiteres zu unserer Verfügung, sondern wir müssen sie erst suchen. Das Problem, um das es sich hier handelt, betrifft daher, recht verstanden, die Existenz einer bestimmten Erkenntnisart, nämlich die Existenz einer unmittelbaren metaphysischen Erkenntnis. Es handelt sich dabei also zunächst um eine Tatsachenfrage, und folglich um eine Frage, die sich nur auf dem Wege der Erfahrung entscheiden läßt. Der Gegenstand, dessen Tatsächlichkeit in Frage steht, ist aber zweitens eine Erkenntnis; Erkenntnisse sind aber, ihr Gegenstand mag sein, welcher er wolle, selbst nur Gegenstand innerer Erfahrung. Das Hume-Kantische Problem kann also nur durch die Psychologie, d. h. durch die Wissenschaft aus innerer Erfahrung, gelöst werden. Welches sind nun die möglichen, d. h. a priori denkbaren Entscheidungen dieses Problems? Es ist zunächst die Ansicht denkbar, daß die dem Problem zugrunde liegende Schwierigkeit nur scheinbar vorhanden ist und daß sich die sogenannten »metaphysischen« Urteile tatsächlich, wie es die Metaphysik vor HuME gewollt hatte, auf die bekannten Erkenntnisquellen, also auf bloße Reflexion oder Anschauung, zurückführen lassen. Ein anderer Weg zur Begründung der fraglichen Urteile ist in der Tat unter Voraussetzung der Disjunktion zwischen Reflexion und Anschauung als Erkenntnisquellen logisch undenkbar. Wählt man die Reflexion als Erkenntnisquelle der metaphysischen Urteile, so erhält man den metaphysischen Logizismus, wählt man die Anschauung, den metaphysischen Mystizismus. Lehnt man jedoch beide Erkenntnisquellen für die metaphysischen Urteile ab, so bleibt, wenn man an der Ausschließlichkeit dieser beiden Erkennt-
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nisquellen festhält, nur der Schluß übrig, daß den metaphysischen Urteilen gar keine Erkenntnisquelle zugrunde liegt, daß sie also überhaupt unbegründbar und mithin nur erschlichene Behauptungen sind. Dies ist die Konsequenz des metaphysischen Empirismus . Diese Lösungsversuche des metaphysischen Logizismus, Mystizismus und Empirismus erschöpfen die unter Voraussetzung der Disjunktion zwischen Reflexion und Anschauung als Erkenntnisquellen vorhandenen logischen Möglichkeiten. Man hat bisher allgemein angenommen, daß damit alle logisch möglichen Lösungen des Problems überhaupt erschöpft sind . Dies wäre in der Tat dann der Fall, wenn die Vollständigkeit der Disjunktion zwischen Reflexion und Anschauung als Erkenntnisquellen logisch gesichert wäre. Nun scheint es zwar logisch selbstverständlich zu sein, daß eine Erkenntnis, die nicht anschaulich ist, aus Begriffen und also aus der Reflexion entspringen muß, und umgekehrt, daß eine Erkenntnis, die wir unabhängig von der Reflexion besitzen, der Anschauung angehören muß. Definiert man die Anschauung als die nicht reflektierte Erkenntnis, so ist dies freilich richtig, aber eine solche Definition entspricht nicht dem Sprachgebrauch. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter »Anschauung« eine unmittelbar bewußte Erkenntnis. Aber nicht jede unmittelbare Erkenntnis braucht eine unmittelbar bewußte Erkenntnis zu sein. Es liegt kein Widerspruch in der Annahme, daß eine Erkenntnis, die nicht aus der Reflexion entspringt, uns nur durch Vermittlung der Reflexion zum Bewußtsein kommt. Unmittelbarkeit der Erkenntnis und Unmittelbarkeit des Bewußtseins um die Erkenntnis ist nämlich logisch zweierlei. Nur durch die Verwechslung dieser beiden Begriffe, also nur durch den Fehlschluß von der Unmittelbarkeit der Erkenntnis auf die des Bewußtseins, entsteht der Schein der logischen Vollständigkeit der Disjunktion zwischen Reflexion und Anschauung als Erkenntnisquellen. Der Nachweis der logischen Unvollständigkeit dieser Disjunktion zeigt uns die Möglichkeit eines vierten Lösungsversuchs unseres Problems. Er besteht in der Zurückführung der metaphysischen Urteile auf eine Erkenntnis, die weder der Reflexion, noch der Anschauung angehört, also auf eine nicht-anschauliche unmittelbare
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Erkenntnis. Ich bezeichne diese Lösung, die aus der Kritik der dogmatischen Disjunktion der Erkenntnisquellen hervorgeht, als metaphysischen Kritizismus. Die durch den Hinweis auf die Möglichkeit einer nicht-anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis erweiterte Disjunktion ist ihrerseits logisch gesichert. Da hierdurch zugleich die Vollständigkeit der erörterten Lösungsmöglichkeiten verbürgt ist, können wir nunmehr zu der weiteren Frage übergehen, wie wir zwischen diesen verschiedenen Lösungsversuchen zu entscheiden haben, d. h. welche von den verschiedenen logisch möglichen Theorien psychologisch richtig ist. Mit dieser Frage verlassen wir den Boden der rein logischen Kritik und wenden uns dem Zeugnis der inneren Erfahrung zu. Dabei können wir uns längst getane Arbeit zunutze machen. Die beiden unter Voraussetzung der dogmatischen Disjunktion möglichen positiven Lösungen, der metaphysische Logizismus und der metaphysische Mystizismus, sind schon von HuME widerlegt worden. Der Logizismus, wie er der scholastischen Metaphysik zugrunde liegt und wie er durch die Erkenntnistheorie erneuert worden ist, scheitert an der psychologischen Tatsache der Mittelbarkeit und Leerheit der Reflexion. Die Reflexion kann wohl anderswoher gegebene Erkenntnisse zergliedern und verdeutlichen, nicht aber selbstschöpferisch neue Erkenntnisse aus sich erzeugen. D . h. sie ist nur eine Quelle analytischer, nicht aber synthetischer Urteile. Der metaphysische Mystizismus, wie er dem neoplatonischen Mystizismus in seinen alten und neuen Formen zugrunde liegt, sdieitert an der psychologischen Tatsache der ursprünglichen Dunkelheit der metaphysischen Erkenntnis. Es gibt keine unmittelbare Evidenz metaphysischer Wahrheiten; wir können die fraglichen Erkenntnisse nicht einer »intellektuellen Anschauung« entnehmen, sondern sie kommen uns nur durch Reflexion zum Bewußtsein, indem wir von dem anschaulichen Gehalt der Erfahrungsurteile abstrahieren. Wenn wir daher den Ursprung der metaphysischen Urteile weder in der Reflexion noch in der Anschauung suchen dürfen, so stehen
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uns noch die beiden Wege offen: entweder die Existenz einer metaphysischen Erkenntnis überhaupt zu bestreiten oder aber die Annahme der Ausschließlichkeit von Reflexion und Anschauung als Erkenntnisquellen fallen zu lassen und die Existenz einer nicht-anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis zu behaupten. Indem HuME den Grundfehler der von ihm widerlegten Theorien in der Annahme suchte, daß wir überhaupt eine metaphysische Erkenntnis besitzen, kam er auf seinen negativen Lösungsversuch und damit auf den metaphysischen Empirismus. Es entstand dadurch für ihn an Stelle der Aufgabe einer Begründung der metaphysischen Urteile die neue Aufgabe, den diese Urteile veranlassenden Schein psychologisch zu erklären; d. h. zu erklären, wie der in diesen Urteilen enthaltene Erkenntnisanspruch, ohne eine wirkliche Erkenntnisquelle vorauszusetzen, als ein bloßes Produkt des blinden Mechanismus der Vorstellungsassoziation möglich ist. Es ist nun die Frage, ob diese Aufgabe lösbar ist. HuME glaubte, die Urteile, die den Gegenstand seines Problems bildeten, auf das psychologische Prinzip der Erwartung ähnlicher Fälle zurückführen zu können. Aber er verkannte nicht die Schwierigkeit, die sich der Zurückführung dieses Prinzips auf die Gesetze der Assoziation entgegenstellt. Die Assoziation erklärt für sich nur, daß ich mich bei einem Ereignis A an ein früher damit verbundenes B erinnere, nicht aber, daß ich das Wiedereintreten von B erwarte. Die bloße Erinnerungsvorstellung ist nur problematisch, während die Erwartung eine Assertion einschließt, die - sie mag übrigens den Charakter der Gewißheit oder nur der Wahrscheinlichkeit haben aus der Assoziation allein nicht erklärlich ist. HuME versuchte diese Schwierigkeit dadurch zu überwinden, daß er den Unterschied zwischen problematischen und assertorischen Vorstellungen als einen nur graduellen darstellte, indem er ihn auf einen Unterschied der Intensität der Deutlichkeit der Vorstellungen zurückführte. Unter dieser Voraussetzung müßte in der Tat eine Erinnerungsvorstellung, bei hinreichend häufiger Reproduktion, durch die bloße Wirksamkeit der Assoziation in eine Erwartung übergehen können. Aber diese Humesche Hypothese von dem nur graduellen Unterschied der problematischen und der assertorischen Vorstellungen wider-
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spricht den Tatsachen der Selbstbeobachtung. Dies kann heute als allgemein zugegeben gelten, und damit entfällt der Humesche Lösungsversuch. Es ist leicht, diese Kritik der Humeschen Theorie so weit zu verallgemeinern, daß durch sie jeder wie immer geartete empiristische Lösungsversuch ausgeschlossen wird. Das Problem liegt in dem Faktum gewisser Urteile, durch die wir eine notwendige Verknüpfung der Dinge denken. Hier kommt es nun nicht einmal auf die Assertion an: schon der bloße problematische Gedanke einer notwendigen Verknüpfung, der in ihnen vorkommt, läßt sich nicht durch Assoziation erklären. Allerdings muß sich jede Verknüpfung von Vorstellungen durch die Gesetze der Assoziation erklären lassen. Was es hier zu erklären gilt, ist aber nicht eine Verknüpfung von Vorstellungen, sondern die Vorstellung der Verknüpfung. Diese ist gegenüber den Vorstellungen dessen, was in ihr als verknüpft gedacht wird, eine inhaltlich ganz neue Vorstellung, sie kann daher niemals durch bloße Assoziation aus diesen entstehen, sondern setzt eine eigene Erkenntnisquelle voraus. Daß diese Erkenntnisquelle weder in der Reflexion noch in der Anschauung liegen kann, lehrt die Kritik des metaphysischen Logizismus und Mystizismus. Verbinden wir daher die gegebene psychologische Kritik des Empirismus mit der dieser beiden anderen Theorien, so erhalten wir einen Beweis für die Richtigkeit der allein übrigbleibenden vierten Theorie: des Kritizismus. Die bloße Ausschließung der ersten beiden Theorien erlaubte uns nur den Schluß, daß, wenn wir überhaupt metaphysische Erkenntnis besitzen, die Existenz einer nicht-anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis angenommen werden muß. Aber die Gültigkeit dieser Bedingung konnten wir noch nicht behaupten, vielmehr blieb noch die Möglichkeit offen, mit HuME gerade umgekehrt von der dogmatischen Disjunktion der Erkenntnisquellen auf die Unmöglichkeit metaphysischer Erkenntnis zu schließen. Erst dadurch, daß wir diese empiristische Konsequenz für sich widerlegen, können wir, in Verbindung mit der Ausschließung des metaphysischen Logizismus und Mystizismus, auf die Existenz einer nicht-anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis schließen und damit zugleich den Beweis der logischen Un-
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vollständigkeit der dogmatischen Disjunktion durch den ihrer psychologischen Falschheit ergänzen. Wir erkennen aber hier zugleich den Nutzen der vorher ausgeführten logischen Kritik der möglichen Entscheidungen des Problems. Abgesehen davon, daß uns diese Kritik von vornherein davon abhält, uns auf den widerspruchsvollen Versuch einer erkenntnistheoretischen Lösung des Problems einzulassen, bewahrt sie uns zugleich davor, einen auf den ersten Blick als logisch unmöglich erscheinenden Weg voreilig von unserer Wahl auszuschließen. Und dieser Dienst, den sie uns leistet, ist um so bedeutsamer, als in unserem Falle der Weg, den man bisher allgemein nicht einmal in Erwägung zu ziehen sich einfallen ließ, gerade der einzige ist, der wirklich zu einer Lösung führt. Ohne die Vorbereitung durch eine solche logische Kritik ist man dauernd in Gefahr, sich durch den täuschenden Schein der dogmatischen Disjunktion gegen die klarsten Tatsachen der Selbstbeobachtung blind machen zu lassen. Unter Voraussetzung dieser Disjunktion lassen sich nämlich, wie wir gesehen haben, die Tatsachen der Leerheit der Reflexion, der NichtAnschaulichkeit der metaphysischen Erkenntnis und der Existenz metaphysischer Erkenntnis nicht logisch vereinigen, sondern es widerspricht immer die eine dieser Tatsachen der Konsequenz aus den beiden anderen. Und so werden wir - wie auch die Geschichte der Philosophie lehrt - ohne jene Kritik unaufhörlich zwischen diesen drei gleich notwendigen, aber einander widersprechenden Konsequenzen hin und her getrieben. Die Antinomie, in die wir uns dadurch verwickeln, löst sich aber sofort, wenn wir, einmal auf das ihr zugrunde liegende Vorurteil aufmerksam geworden, unter Beiseitesetzung aller dogmatischen Voraussetzungen nur die Tatsachen selbst ins Auge fassen. Wir können daher das Ergebnis dieser kritischen Betrachtungen folgendermaßen zusammenfassen: Unter Voraussetzung der Ausschließlichkeit von Reflexion und Anschauung als Erkenntnisquellen haben wir nur die Wahl zwischen dem metaphysischen Logizismus, Mystizismus und Empirismus. Wir haben also nur die Wahl, entweder die Tatsache der Leerheit der Reflexion oder die der Nicht-Anschaulichkeit der meta-
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physischen Erkenntnis oder die der Existenz der metaphysischen Erkenntnis zu bestreiten - oder aber aus diesen drei Tatsachen auf die Existenz einer nicht-anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis zu schließen. überlegen wir uns zum Schluß, was wir eigentlich mit alledem der Erkenntnistheorie gegenüber gewonnen haben. Wenn wir die Möglichkeit einer Metaphysik zugeben müssen, so bedürfen wir doch eines Kriteriums zur Unterscheidung rechtmäßiger von nur erschlichenen metaphysischen Behauptungen. Dabei sind wir aber der Schwierigkeit ausgesetzt, daß dies Kriterium, da es, wie wir wissen, weder in der Reflexion noch in der Anschauung liegen kann, selbst metaphysischer Art sein muß. Der Wunsch, aus dieser Schwierigkeit herauszukommen, ist es eigentlich, weshalb man die Erkenntnistheorie herbeiziehen mußte. Denn da die Metaphysik den Grund der Rechtmäßigkeit ihrer Urteile offenbar ebensowenig in sich selbst enthalten kann wie irgendeine andere Wissenschaft, so mußte man diesen Grund in einer anderen, höheren Wissenschaft suchen, die aber freilich ihrerseits ihren Gehalt ebensowenig aus der bloßen Reflexion oder der Anschauung schöpfen durfte wie die Metaphysik selbst und von der es daher nicht verwunderlich ist, daß noch keiner ihrer Bearbeiter über ihre eigene Herkunft Aufschluß geben konnte. Aber die Verlegenheit, aus der uns diese rätselhafte Wissenschaft befreien soll, ist nur eine Folge der Verwechslung von Erkenntnis und Urteil. Unterscheiden wir zwischen Urteil und unmittelbarer Erkenntnis, so werden wir daraus, daß der Grund der Rechtmäßigkeit metaphysischer Urteile selbst metaphysischer Natur sein muß, nicht schließen, daß er selbst in metaphysischen Urteilen liegen müßte, sondern wir werden ihn in einer unmittelbaren Erkenntnis suchen. In dieser unmittelbaren Erkenntnis, nicht in einer höheren Wissenschaft, liegt der Grund der metaphysischen Urteile. Aber diese unmittelbare Erkenntnis ist freilich keine Anschauung. Und eben hierin zeigt sich der eigentlich entscheidende Grund der Fruchtbarkeit der psychologischen Kritik für die Metaphysik. Denn wenn uns auch der Grund der metaphysischen Urteile in einer unmittelbaren Erkenntnis gegeben ist, so kommt uns diese doch nicht
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unmittelbar zum Bewußtsein, derart daß es möglich wäre, sie ohne weiteres mit den metaphysischen Urteilen zu vergleichen, um diese zu begründen. Wir müssen vielmehr, um diese Begründung ausführen zu können, d. h. um die metaphysischen Urteile auf die ihren Grund bildende unmittelbare Erkenntnis zurückzuführen, diese unmittelbare Erkenntnis erst künstlich aufweisen, sie also zum Gegenstand einer psychologischen Untersuchung machen. So bedürfen wir also allerdings einer besonderen Wissenschaft zur Begründung der metaphysischen Urteile. Aber diese Wissenschaft ist keine Erkenntnistheorie: sie enthält nicht selbst den Grund der metaphysischen Urteile, sondern dient nur zu seiner Aufweisung. Eben darum ist auch der empirische und psychologische Charakter dieser Wissenschaft mit der rationalen und metaphysischen Natur der durch sie zu begründenden Sätze sehr wohl verträglich. Der Grund der metaphysischen Sätze liegt ja nicht in den Sätzen dieser psychologischen Kritik, sondern in der unmittelbaren metaphysischen Erkenntnis. Wir können uns dieses Verhältnis vielleicht am besten an einer Analogie aus der kritischen Mathematik deutlich machen. In der geometrischen Axiomatik findet sich der Satz von der Unbeweisbarkeit des Parallelenaxioms. Wir haben hier also zwei Sätze zu unterscheiden: einen Satz A, das Parallelenaxiom, und einen Satz B, der aussagt: der Satz Aist unbeweisbar. Dieser Satz Bist nun seinerseits beweisbar. Hierin liegt nichts Paradoxes, denn A ist ein Satz aus dem System der Geometrie, während B nur zur Kritik gehört. B enthält nicht den Grund von A, sondern hat A nur zum Gegenstande. Ganz analog verhält es sich bei der Kritik der metaphysischen Sätze. Nehmen wir z.B. den Grundsatz der Kausalität; nennen wir ihn C. Dann beweist die psychologische Kritik den Satz D: Es existiert eine nicht-anschauliche unmittelbare Erkenntnis, die den Grund von C enthält. C ist ein Satz des Systems der Metaphysik und als solcher rational, D ein Satz der psychologischen Kritik und als solcher empirisch. D enthält nicht den Grund von C, sondern hat ihn nur zum Gegenstande. Diese positive Bedeutung der Psychologie für die Begründung der Metaphysik kann freilich nur vom Standpunkt des Kritizismus aus
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behauptet werden. Für eine logizistische oder mystische Metaphysik bedürfte es der Psychologie nicht. Gleichwohl kommt der Psychologie - und dies sollte nicht mehr übersehen werden - für jede Art von Metaphysik (und Antimetaphysik!) eine negafrve Bedeutung zu, die sich darin zeigt, daß jede Metaphysik - bewußt oder unbewußt - eine psychologische Voraussetzung über ihre Erkenntnisquelle einschließt, hinsichtlich deren sie sich einer Kritik durch Vergleichung mit den psychologischen Tatsachen unterwerfen muß. In dieser allgemeinen psychologischen Kritik gewinnen wir ein Einschränkungsprinzip, an Hand dessen wir über die logische Kritik hinaus von den in sich widerspruchsfreien metaphysischen Lehren wenigstens alle diejenigen ausschließen können, die sich von vornherein in Widerspruch mit den psychologischen Tatsachen befinden. Damit aber ist der Streit zugleich auf ein Gebiet hinübergeleitet, das der wissenschaftlichen Behandlung leichter zugänglich ist und auf dem eine Arbeit an gemeinsamen Problemen und nach gemeinsamer Methode möglich ist. Erst wenn es gelungen sein wird, die Einsicht in die Bedeutung der erörterten allgemeinen logischen und psychologischen Kritik in den Köpfen zu befestigen, werden wir daher hoffen können, an Stelle der planlosen und unfruchtbaren dogmatischen Streitigkeiten in der Philosophie eine einhellige und ersprießliche wissenschaftliche Arbeit in die Wege zu leiten.
Die Theorie des wahren Interesses und ihre rechtliche und politische Bedeutung
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Vortrag, gehalten am 6. März 1913 in Göttingen auf einer Tagung der Fries-Gesellschaft. Ergänzt durch das knappe philosophie-geschichtliche Vorwort erschien dieser Vortrag in: Abhandlungen der Friesschen Schule, neue Folge, herausgegeben von GERHARD HESSENBERG und LEONARD NELSON, vierter Band, zweites Heft, Vandenhoec:k & Ruprecht, Göttingen 1913, S. 395-425. Ohne das Vorwort übernahm NELSON ihn in den Sammelband: LEONARD NELSON, Die Reformation der Philosophie durch die Kritik der Vernunft, Der Neue Geist-Verlag, Leipzig 1918, S. 205-231 (die Abschnitte der Arbeit beginnen in diesen früheren Ausgaben auf den folgenden Seiten: Vorwort auf S. 397 bzw. -; 1 auf S. 399 bzw. 207; II auf S. 406 bzw. 213; III auf S. 410 bzw. 217; IV auf S. 415 bzw. 222; v auf S. 419 bzw. 226). In den Gesammelten Schriften steht diese Arbeit im Band VIII, S. 3-26.
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Vorwort Die vorliegende Abhandlung ist die Wiedergabe eines Vortrags, der im Kreise der F riesschen Schule am 6. März 1913 in Göttingen gehalten worden ist. Für diejenigen, die sich für die historischen Zusammenhänge der vorgetragenen Theorie interessieren, sei hier noch folgendes bemerkt. Eine Hindeurung auf den Begriff des wahren Interesses findet sich schon in dem Sokratisch-Platonischen Satze, daß die Tugend auf einem Wissen beruhe. Die tiefe psychologische Wahrheit dieses Satzes, die bestehen bleibt, wenn man ihn von aller intellektualistischen Mißdeutung befreit, kann sich erst zeigen, wenn man die Lehre von der ursprünglichen Dunkelheit der rein-vernünftigen Erkenntnis, wie sie von FRIES für die Theorie der spekulativen Vernunft entwickelt worden ist, auf die Theorie der praktischen Vernunft ausdehnt. Von seiten der Rechtslehre hat sich, soviel ich sehe, zuerst und allein KANT der Idee des hier abgeleiteten »Naturrechts« angenähert. In seiner Schrift »Was ist Aufklärung?« spricht er schon von der Unveräußerlichkeit des Rechts auf persönliche Selbstbestimmung, wenn auch, ohne eine Begründung für seine Behauptung zu geben. In KANTS systematischen Darstellungen der praktischen Philosophie findet dagegen dieses Recht keine Stelle. Und es kann in seinem System auch konsequenterweise keine Stelle finden, da nach ihm jedes Interesse und folglich auch aller Inhalt von Rechten nur empirischen Ursprungs ist. Er lehrt zwar ein Aufsichtsrecht des Staates über die Kirche, leitet dies aber nur aus der Aufgabe des Staates, die Sicherheit der bürgerlichen Ordnung betreffend, ab und gelangt so nicht zu einem Verbot der künstlichen Bevormundung. Eine Pflicht aus der Rück-
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Die Theorie des wahren Interesses
sieht auf die Vervollkommnung anderer gibt es in seinem System nicht. Eine solche Pflicht würde nach seiner Meinung sogar einen Widerspruch einschließen, da die Selbstbestimmung des einzelnen nur von ihm selber abhänge. Es bleibt nach ihm keine weitere Pflicht gegen andere übrig als die der Förderung ihrer Glückseligkeit. FRIES ist KANT gegenüber dadurch im Vorteil, daß er neben dem sinnlichen Triebe einen »reflektierten Trieb« als Vollkommenheitstrieb annimmt. Der Ursprung dieses Triebes wird bei ihm aber nicht recht klar. Da er die Ansicht von dem reinen Ursprung dieses Triebes nicht durchführt, so kann er auf ihn auch nicht die Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum anwenden. Damit verfehlt er die Lehre vom wahren Interesse, und es gibt auch bei ihm kein Verbot künstlicher Bevormundung; wie er denn auch das Recht nur einseitig der Gewalt entgegensetzt. FRIES tritt zwar in seinen politischen Lehren mit Entschiedenheit den Toleranz-Prinzipien des älteren Liberalismus entgegen; aber man sieht bei ihm nicht, inwiefern der Staat aus rechtlichen Gründen zu Eingriffen in die Freiheit der einzelnen ermächtigt ist, nicht aber um unmittelbar gegen Irrtum und Aberglauben zu schützen.
Das Problem, um das es sich in den folgenden Betrachtungen handeln soll, tritt am deutlichsten zutage, wenn man von der gewöhnlichen Formulierung des Sittengesetzes ausgeht. Danach kommt es für die Entscheidung über die Rechtlichkeit einer Handlung nur auf die Abwägung der miteinander kollidierenden Interessen der von der Handlung betroffenen Personen an. Wonach soll aber entschieden werden, welches Interesse vorzuziehen ist? Was ist das Kriterium der Vorzugswürdigkeit eines Interesses? Meistens wird man das stärkste Interesse vorziehen. Aber doch kann die Stärke nicht das Ausschlaggebende sein, denn es erscheint uns oft als erlaubt oder sogar geboten, ein stärkeres Interesse zugunsten eines schwächeren zu verletzen.
I. Problemstellung
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Man kann hier drei Fälle unterscheiden. Der deutlichste ist der, daß wir verbrecherische Absichten nicht achten, sondern den Verbrecher ohne Rücksicht auf die Stärke seines Interesses in seiner Freiheit beschränken. Wie verträgt sich das mit dem Sittengesetz? Der Verbrecher ist doch auch eine Person, deren Interessen zu berücksichtigen sind. Auf diese Frage haben manche Philosophen keine Antwort gewußt und sind dadurch auf eine anarchistische Rechtslehre geführt worden. Der zweite Fall wird schon weniger leicht beachtet. Er tritt dann ein, wenn das Interesse der Person, mit der wir es zu tun haben, durch einen Irrtum veranlaßt wird. Jemand hat z. B. ein Interesse daran, eine Speise zu genießen, weil er nicht weiß, daß sie vergiftet ist. Wäre er nicht in diesem Irrtum befangen, so würde er ein solches Interesse nicht haben. Teilen wir diesen Irrtum nicht, so halten wir es für unsere Pflicht, das sogenannte »wohlverstandene« Interesse des anderen zu berücksichtigen. Gelingt es uns nicht, ihn über seinen Irrtum aufzuklären, so fühlen wir uns sogar berechtigt oder selbst verpflichtet, ihn mit Gewalt an der Befriedigung seines Interesses zu hindern. Der dritte Fall führt uns schon auf das eigentliche Thema. Es gibt gewisse »minderwertige« Interessen, z. B. Geiz, Habgier, Eitelkeit, Neid, Eifersucht, auf die Rücksicht zu nehmen wir uns nicht für verpflichtet halten. Wir fragen in diesem Falle gar nicht erst, ob ein solches Interesse stark oder schwach ist. Es erscheint uns z. B. einem eitlen Menschen gegenüber nicht als Unrecht, wenn wir seinen Prahlereien nicht zuhören, ihm mag noch so sehr daran gelegen sein, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln. Andererseits gibt es auch sogenannte »höhere« Interessen, die wir anderen, an sich nicht minderwertigen Interessen vorziehen. Die Höhe wird hier durchaus nicht nach der Stärke bemessen. Es erscheint uns z. B. unter Umständen als die unrechtmäßige Verletzung eines höheren Interesses, wenn wir einen anderen in seiner künstlerischen Produktion stören durch die Befriedigung eines, wenn auch stärkeren eigenen Interesses. Wie sind nun diese drei Fälle zu beurteilen und mit dem Sittengesetz in Einklang zu bringen?
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Die Theorie des wahren Interesses
Der erste Fall läßt sich ohne weiteres nach dem Sittengesetz erledigen. Das verbrecherische Interesse ist ja ein widerrechtliches, d. h. ein solches, in dessen Befriedigung wir nach dem Sittengesetz selber nicht einwilligen dürften, auch wenn es das unsere wäre. Wir sind also nicht verpflichtet, ein solches Interesse zu achten . Die zweite Schwierigkeit läßt sich ebenso leicht auflösen. Wenn ich mich in die Lage des anderen hineinversetze, dessen Interesse nur auf einem Irrtum beruht, so kann ich, der ich die Sachlage besser kenne, in die Verletzung dieses Interesses einwilligen; ja in Fällen wie dem vorhin als Beispiel herangezogenen könnte ich nicht einwilligen, daß diese Verletzung nicht geschähe. Die Verletzung des fraglichen Interesses ist dann also nicht nur erlaubt, sondern sogar Pflicht. Das Interesse, das durch diese Handlung wirklich verletzt wird, nämlich das augenblickliche Interesse am Genuß der Speise, ist ja schwächer als das Interesse an der Erhaltung des Lebens. Es bleibt also allein der dritte Fall übrig. Um nun hier die Untersuchung an bestimmtere Vorstellungen anzuknüpfen, wollen wir die typischen Formen, in denen er möglich ist, einzeln betrachten. Es handelt sich hier allemal darum, daß durch die Rücksicht auf den Wert oder Unwert eines Interesses die Entscheidung nach der bloßen Stärke der Interessen modifiziert wird. Diese Modifikation ist in vier typischen Formen möglich. Der erste Typus ist dadurch charakterisiert, daß die Minderwertigkeit des stärkeren Interesses die Pflicht aufhebt, es dem kollidierenden schwächeren Interesse vorzuziehen. Unter diesen Fall gehört das vorhin angeführte Beispiel. Was nun minderwertige Interessen sind, ist nachher zu untersuchen. Im zweiten Fall steht auf der einen Seite ein höheres Interesse, während auf der anderen Seite ein stärkeres und (für sich betrachtet) nicht notwendig minderwertiges steht. Hier kann die Befugnis oder auch die Pflicht entstehen, das schwächere Interesse dem stärkeren vorzuziehen. Nehmen wir z. B. zwei Zimmernachbarn, von denen der eine mit einem Freunde ohne höheren Zweck eine laute Unterhaltung führt, während der andere musiziert. Bei der hier entstehenden Interessenkollision ziehen wir das wertvollere Inter-
1. Problemstellung
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esse an der Musik dem anderen an der bloßen Unterhaltung vor. Ein anderes Beispiel liefert der folgende Fall. Es war ein Gesetz beantragt worden, das die Aufstellung von Plakaten an beliebigen Orten verbietet, da sie die Schönheit der Landschaft verderben und dadurch den Naturgenuß der Reisenden beeinträchtigen. Dagegen erhob sich ein Protest der Geschäftsleute, die erklärten, ein berechtigtes Interesse an einer möglichst umfangreichen Reklame für ihre Waren zu haben. Auf einer Versammlung wurde dann folgender Beschluß gefaßt: Es sei bei der Aufstellung von Plakaten allerdings darauf Rücksicht zu nehmen, daß man nicht hervorragend schöne Landschaften verderbe. Der Reisende habe ein Recht darauf, daß man ihm seine Freude an der Natur nicht störe. Andererseits dürfe man mit dieser Rücksicht aber auch nicht zu weit gehen; das Interesse am Naturgcnuß beim Eisenbahnfahren z. B. sei nicht wichtig genug, um dem stärkeren Interesse der Geschäftsleute an der Bekanntmachung ihrer Waren vorgezogen zu werden. Hierin spricht sich deutlich das Gefühl für den Unterschied von Stärke und Wert der Interessen aus. Hierher gehört auch das berühmte Beispiel der Planke des KARNEADES. Zwei Schiffbrüchige klammern sich an eine Planke, die nur einen tragen kann. Um zu entscheiden, wer diese Planke allein besitzen soll, kommt es nicht nur darauf an, wer das stärkere Interesse am Leben hat, sondern auch, wer das wertvollere hat. Wäre etwa der eine von beiden ein Taugenichts, der andere eine hochstehende Persönlichkeit, so würden wir diesem das Recht zubilligen, den anderen ins Wasser zu stoßen, auch wenn er selbst sich weniger vor dem Tode fürchtete. Man warf früher diesem Beispiel vor, daß es zu wenig dem Leben entspreche. Mit Unrecht, denn wenigstens seit der berühmten Titanic-Katastrophe ist das Problem der Rangordnung bei der Rettung Schiffbrüchiger geradezu populär geworden. Wenn bei einem solchen Unglück der Kapitän bestimmt, daß zuerst die Reisenden und von diesen zuerst die Frauen gerettet werden sollen, so billigen wir diese Entscheidung nur darum, weil die Anwendung eines anderen Auswahlprinzips im allgemeinen unmöglich ist. Die Mannschaft begeht ja sicher kein Unrecht, wenn sie auf die eigene Rettung verzichtet und den Reisenden den Vorzug gibt, denn gegen sich selbst
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Die Theorie des wahren Interesses
kann man kein Unrecht tun. Aber dieses Verfahren ist doch nur ein Notbehelf angesichts der Unmöglichkeit, den persönlichen Wert der einzelnen Personen objektiv abzuschätzen. Wenn wir die Mannschaft und die Reisenden hinreichend genau kennten, so würden wir nicht so entscheiden, sondern jene mit den wertvollsten Interessen am Leben vorziehen. Im dritten Fall stehen auf beiden Seiten mehr oder weniger wertvolle Interessen. Hier kann es Pflicht sein, das wertvollere Interesse dem weniger wertvollen, aber stärkeren vorzuziehen. Modifizieren wir eins der vorigen Beispiele so, daß beide Teile wertvolle Interessen haben. Nehmen wir an, daß von den beiden Zimmernachbarn der eine, statt eine zwecklose Unterhaltung zu führen, sich im Pistolenschießen übt, wodurch der andere gewiß nicht weniger im Musizieren gestört wird. Wir geben der Ausbildung jeder Geschicklichkeit einen Wert und ziehen unter sonst gleichen Umständen den Geschickteren dem weniger Geschickten vor. Aber wir werden das Interesse an der Ausbildung einer musikalischen Fertigkeit dem an der Geschicklichkeit im Schießen vorziehen, auch wenn dieses vielleicht einen Grad der Leidenschaft erreicht hat, dem jenes weit nachsteht. Der vierte Fall ist der für uns beachtenswerteste. Es kann Pflicht sein, daß wir ein Interesse zurücksetzen, ohne daß ihm auf der anderen Seite überhaupt ein wirkliches Interesse gegenübersteht. Dies tritt ein, wenn ein nur mögliches Interesse auf der anderen Seite einen hinreichend hohen Wert hat. Angenommen etwa, Eltern oder Erzieher haben ein Interesse daran, ein Kind in der wohlwollendsten Weise zu bevormunden, und das mache ihnen so viel Freude, daß sie das Kind nicht selbständig werden lassen, damit es sich nicht ihrer Obhut entziehe. Dies erscheint uns als eine Pflichtverletzung der Eltern. Aber welches Interesse verletzen sie denn? Das Kind hat ja kein Interesse an seiner Selbständigkeit, es fühlt sich im Gegenteil unter der Obhut seiner Erzieher um so wohler, je mehr es durch sie jeder Anstrengung, für sich selbst zu sorgen, enthoben ist. Auch die Rücksicht auf das spätere Interesse des Kindes kann nicht ausschlaggebend sein; denn die Eltern können es durch eine geschickte Bevormundung dahin bringen, daß das Kind zeit sei-
II. Wert eines Interesses - Abstraktion
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nes Lebens so unselbständig bleibt, daß nicht einmal der Wunsch nach Selbständigkeit in ihm rege wird. Aber in diesem Falle würden wir gerade eine Schuld der Eltern darin sehen, daß sie das Erwachen des Dranges nach Selbständigkeit bei dem Kinde verhindern. Dies sind die möglichen Typen von Fällen, in denen die Materie der Pflicht durch die Berücksichtigung des Wertes der Interessen modifiziert wird. Es drängt sich hier die Frage auf, ob man vielleicht bei der Abwägung der Interessen ihre Stärke ganz vernachlässigen und sidi auf die Betrachtung ihres Wertes beschränken kann. Daß dies nicht möglich ist, zeigt eine genauere Betrachtung der zum zweiten und dritten Typus gehörigen Fälle. Nehmen wir nur z.B. an, daß von den beiden Zimmernachbarn, deren einer musiziert, der andere krank und ruhebedürftig ist und unter dem Anhören der Musik leidet, so werden wir es im allgemeinen als Pflicht des ersten ansehen, das Musizieren zu unterbrechen. Hieraus sieht man, daß die Vernachlässigung der Stärke nur bis zu einer gewissen Grenze gehen darf. Wir kommen also zu dem Schluß, daß sich die Vorzugswürdigkeit weder allein nach der relativen Stärke noch allein nach dem relativen Wert der Interessen richtet. Hier entstehen daher die Fragen: 1. Welches ist das Kriterium des Wertes eines Interesses? 2. Wie ist es möglich, etwas so Ungleichartiges wie Wert und Stärke der Interessen zu vergleichen? 3. Wie läßt sich die Rücksicht auf den Wert der Interessen mit dem Sittengesetz in Einklang bringen? Nach dem Sittengesetz kommt es darauf an, ob wir in unsere Handlung einwilligen könnten, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch die unsrigen wären. Die Möglichkeit unserer Einwilligung hängt doch aber nur von der Stärke unserer Interessen ab.
II Um zunädist zu untersuchen, was wir eigentlidi unter dem Wert eines Interesses verstehen und nach welchem Prinzip wir diesen
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Wert beurteilen, wenden wir das Verfahren der Abstraktion an, indem wir von unseren faktischen Urteilen ausgehen und deren Voraussetzungen zergliedern. Wenn wir über den Wert eines Interesses urteilen, so tun wir dies auf Grund eines anderen Interesses, das wir selber an dem beurteilten Interesse haben. Dieses andere Interesse zeichnet sich nun dadurch aus, daß es die Behauptung eines Wertes einschließt; diese Behauptung ist es eigentlich, die wir im Urteil wiedergeben. Dieses Urteil ist objektiv insofern, als wir seinem Gegenstande einen Wert zuschreiben, der ihm unabhängig davon zukommt, daß wir gerade ein Interesse an dem Gegenstande haben. Nicht alle Interessen sind von dieser Art. Wenn uns der Geschmack einer Speise angenehm ist, so ist das Interesse daran nicht objektiv, sondern bezieht sich nur auf unseren Empfindungszustand. Dem Gegenstand wird dadurch nur insofern ein Wert zugeschrieben, als er uns Genuß verschafft und also Gegenstand unseres Interesses ist. Wenn wir dagegen der Ehrlichkeit einen Wert zuschreiben, so meinen wir damit nicht, daß wir gerade ein Interesse an der Ehrlichkeit haben, sondern daß der Ehrlichkeit an sich ein Wert zukommt. Das Interesse, das wir an der Ehrlichkeit haben, schließt schon diese Behauptung ihres Wertes ein. Wir müssen also zwei Klassen von Interessen unterscheiden, die wir als subjektive und objektive bezeichnen können. Diese schließen eine Behauptung ein, die wahr oder falsch sein kann, während jene sich in ihrem bloßen Dasein erschöpfen. Die einen hängen von der Einsicht des Menschen ab, die anderen dagegen nur von der Art, wie er empfindet. Die einen können gebildet, die anderen höchstens modifiziert werden. Wenn jemand Geschmack am Rauchen findet, nachdem er zuerst dabei Übelkeit empfand, so sehen wir darin keine Berichtigung eines Irrtums. Gewinnt dagegen jemand Interesse am Lesen guter Bücher, der sich vorher seine freie Zeit nur durch Kartenspielen zu vertreiben wußte, so beurteilen wir dies als einen Fortschritt seines Verständnisses. Hieraus folgt ein für die Anwendung wichtiger Satz. Wenn sich der Wert des Gegenstandes des subjektiven Interesses nur durch die Stärke dieses Interesses bestimmt, so muß auch die Stärke des In-
II. Wert eines Interesses - Abstraktion
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teresses dem Wert des Gegenstandes notwendig entsprechen. Im anderen Falle behaupten wir dagegen, daß der Gegenstand einen Wert hat, der ihm unabhängig von unserem Interesse zukommt. Hier braucht also das stärkere Interesse sich nicht notwendig auf den wertvolleren Gegenstand zu beziehen. Wenn wir nun nach dem Kriterium für die Beurteilung des Wertes der Interessen fragen, so finden wir, daß diese Beurteilung, wenn sie in besonnener Weise erfolgt, sich auf einzelne Lebensäußerungen nur insofern bezieht, als diese im Zusammenhang mit dem Ganzen unsere> Lebens stehen und zum Wert dieses Ganzen beitragen. Dem Studium guter Bücher z. B. geben wir nicht an und für sich einen festen Wert, sondern schätzen es nur insofern, als es den einzelnen belehrt, und auch dies nur, insofern es dadurch seine Gesamtpersönlichkeit bereichert. Daher richtet sich auch unsere Schätzung nicht unmittelbar nach dem Grade der Belehrung, sondern sie hängt davon ab, wieweit wissenschaftliche Arbeit überhaupt zum Ganzen gerade seines Lebens paßt. Insofern nun die Befriedigung (oder Verletzung) jedes Interesses ein Element im Ganzen unseres Lebens ist, kann sie objektiv gewertet werden. So gehört es z. B. zum Wert des Lebens, daß der Mensch nicht mit seinen sinnlichen Interessen im Kampfe liegt, sondern daß er sie hinreichend befriedigt, um die Möglichkeit zu haben, sich auch höheren Interessen zuzuwenden. Hier zeigt sich nun der Grund der Möglichkeit einer Vergleichung der Stärke mit dem Wert der Interessen. Wir führen die Vergleichung von Interessen überhaupt auf die Vergleichung von objektiven Interessen zurück, indem wir folgendes Kriterium aufstellen: Die Vorzugswürdigkeit eines Interesses gegenüber kollidierenden bestimmt sich durch die relative Stärke des Interesses, das eine vollkommen gebildete Person an seiner Befriedigung haben würde, wenn unter einer vollkommen gebildeten Person eine solche verstanden wird, die einerseits über vollkommene Einsicht verfügt und andererseits stets das als wertvoller Erkannte dem als weniger wertvoll Erkannten vorzieht. (Die vollkommene Einsicht ist nötig, um das angemessene Interesse an dem Gegenstand zu haben, denn das objektive Interesse hängt von der Einsicht ab. Ferner ist aber
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auch notwendig, daß dies Interesse für den Willen bestimmend ist.) Die Richtigkeit einer rechtlichen Entscheidung hängt hiernach von der Bildung des Urteilenden ab. Zur Bestimmung der Materie der Pflicht (oder des Inhalts des Rechts) genüi;t es nicht, nur den Tatbestand genau zu kennen, sondern um auch die Werte abwägen zu können, bedarf es der Ausbildung des Urteils über den Wert des Lebens überhaupt oder kurz der »praktischen Lebensansicht«. - Die Moralität ist natürlich von dieser praktischen Lebensansicht unabhängig. Damit eine Handlung moralisch ist, ist ja nur notwendig, daß sie der subjektiven Überzeugung entspricht; eine ganz andere Frage ist es, ob diese Überzeugung richtig ist. Hiermit sind die Fragen nadi der Regel des Wertes eines Interesses und nach der Vergleichbarkeit von Stärke und Wert der Interessen beantwortet. Es bleibt noch die Frage übrig, wie sich die Rücksicht auf den Wert der Interessen mit dem Sittengesetz in Einklang bringen läßt. Wir können sie jetzt nach demselben Prinzip entscheiden wie jene Frage, die sich bei Betrachtung des wohlverstandenen Eigen-Interesses ergab. So wie dort das Interesse mit der Stärke ins Gewicht fällt, die es durch die Berichtigung des theoretischen Irrtums erhalten würde, so kommt hier noch die Korrektur des praktischen Irrtums hinzu.
III
Die Frage nach der Berechtigung der durdi die ausgeführte Abstraktion aufgewiesenen Voraussetzungen läßt sich nur entscheiden durch den Beweis der Existenz einer ihnen zugrunde liegenden unmittelbaren Erkenntnis, also durch eine Deduktion. Das Wort »Erkenntnis« wird hierbei in dem weiteren Sinne verstanden, in dem man auch von einer praktischen Erkenntnis sprechen und also auch ein Interesse, insofern es auf Objektivität Anspruch macht, eine Erkenntnis (von Werten nämlich) nennen kann. In der Tat kann die fragliche Erkenntnis nur eine Werterkenntnis und also ein Interesse sein. Zum Bewußtsein kommt uns dies Interesse nur im
III. Werr eines Interesses - Deduktion
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Urteil und also nur durch Reflexion, wenn auch nicht in der Form eines abstrakten Urteils, so doch in der Form eines Wertgefühls. Das subjektive Interesse kommt uns dagegen unabhängig von der Reflexion zum Bewußtsein, wenn wir es auch mittelbar im Urteil wiedergeben können . Nun sieht man aber, daß, wie hier dem Urteil ein subjektives Interesse zugrunde liegt, so auch im anderen Falle dem Urteil, das einen objektiven Wert behauptet, ein Interesse zugrunde liegen muß. Denn die Reflexion ist für sich nur ein logisches Vermögen, und das Moment der Schätzung, das hier im Urteil zutage tritt, ist an sich der Reflexion völlig fremd. Aus der Reflexion stammt nur die Form des Urteils; der Gehalt muß schon für das theoretische Urteil aus einer anderen Quelle entlehnt werden, und also erst recht auch für das praktische Urteil. Wenn daher auch das objektive Interesse nur durch Reflexion zum Bewußtsein kommen kann, so entspringt es doch darum ebensowenig aus der Reflexion wie das subjektive Interesse. Wie wir unter den Erkenntnissen anschauliche und nicht-anschauliche unterscheiden, so müssen wir eine entsprechende Einteilung der Interessen vornehmen. Interessen, die unmittelbar bewußt sind, wollen wir »intuitive« Interessen, solche, die nur mittelbar (durch die Reflexion) bewußt werden, »nicht-intuitive« Interessen nennen. Das fragliche Interesse kommt uns nur durch Reflexion zum Bewußtsein: es ist ein nicht-intuitives Interesse. Wir müssen also von der reflektierten Form des objektiven Interesses noch das unmittelbare objektive Interesse selbst unterscheiden, und dieses ist, obgleich ein nicht-reflektiertes, so doch kein intuitives, sondern ein ursprünglich dunkles Interesse. Wir setzen hier natürlich das Selbstvertrauen der Vernunft voraus, wenn wir den Existenzbeweis eines unmittelbaren Interesses für ausreichend zur Begründung seines Rechtsanspruches halten . Welcher Art ist nun dieses objektive Interesse? Wir kennen drei Arten von Schätzungen: sinnliche, sittliche, ästhetische. Sollte hier eine vierte Art vorliegen? Das untersuchte objektive Interesse kann nicht zu der ersten Gruppe gehören, wie aus dem sowohl intuitiven als auch subjektiven Charakter der sinnlichen Interessen hervor-
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geht. Es ist vielmehr ein reines oder intellektuelles Interesse. - Zur zweiten Gruppe kann es nicht gehören, da wir es hier mit einer positiven Wertung zu tun haben, während die sittliche Schätzung nur negativen Charakter hat, wie dies bei der imperativischen Form, die das Wesen des sittlichen Urteils ausmacht, auch nicht anders sein kann. - Gegen die dritte Möglichkeit, daß das fragliche Interesse ästhetisch ist, scheint vielerlei zu sprechen. Zunächst gilt die ästhetische Schätzung als interesselos, und dies in doppeltem Sinne. Erstens insofern sie von der Existenz des Gegenstandes unabhängig ist, nach der Lehre vom ästhetischen Schein, und zweitens insofern sie die Möglichkeit eines ästhetischen Begehrens ausschließt, nach dem Wort: »Die Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht.« ferner spricht dagegen die Unauflösbarkeit des ästhetischen Gefühls; das Ir•eresse, mit dem wir es hier zu tun haben, läßt sich in Urteilen wiedergeben, die eine weitgehende logische Reduktion gestatten. So läßt sich z. B. die Schätzung der Geduld auf die der Selbstbeherrschung, die Schätzung der Ehrlichkeit auf die der Wahrheitsliebe zurückführen. Diese Einwände gegen den ästhetischen Charakter des fraglichen Interesses sind indessen nicht stichhaltig. Was zunächst die behauptete Unabhängigkeit der ästhetischen Schätzung von der Existenz betrifft, so werden hier zwei Bedeutungen des Wortes »Existenz« verwechselt. Existenz im physikalischen Sinne kann allerdings für den ästhetischen Gegenstand nicht gefordert werden, da ihre Bestimmung begriffliche Kriterien, nämlich Naturgesetze, voraussetzt, während es für den ästhetischen Gegenstand genügt, daß er anschaulich gegeben ist. Daß z. B. die Erscheinung des Regenbogens im physikalischen Sinne nichts Wirkliches ist, ist für ihre ästhetische Schätzung gleichgültig. Existenz in dem Sinne dagegen, daß der Gegenstand nicht nur vorgestellt, sondern auch sinnesanschaulich gegeben ist, ist eine notwendige Bedingung der ästhetischen Schätzung. (Daß der ästhetische Gegenstand anschaulich gegeben sein muß, steht natürlich nicht im Widerspruch mit dem nicht-intuitiven Charakter der ästhetischen Schätzung.) Die Behauptung ferner, daß es kein ästhetisches Begehren gebe, wird stets nur durch eine petitio principii begründet. Man begnügt
III. Wert eines Interesses - Deduktion
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sich nämlich mit dem Hinweis, daß die ästhetische Schätzung von sinnlichen und sittlichen Begehrungen unabhängig ist, während ja gerade die Frage ist, ob es nicht eigene ästhetische Begehrungen gibt. Und solche gibt es in der Tat; es gehört zu ihnen der'Wunsch, sein Leben schön zu gestalten. Die Behauptung der Uninteressiertheit der ästhetischen Schätzung trifft also nicht zu, und wir dürfen daher ohne Bedenken von einem ästhetischen Interesse sprechen. Der Einwand endlich, daß die ästhetische Schätzung sich nicht auf allgemeine Regeln des Wertes zurückführen lägt, während man doch gewisse allgemeine Regeln darüber aufstellen kann, was zum Wert einer Persönlichkeit gehört, ist nur insofern richtig, als der ästhetische Gegenstand auf der Einheit einer anschal'lichen Form beruht, so daß infolge der Zufälligkeit der mathematischen Zusammensetzung die Einheit und Abgeschlossenheit des ästhetischen Gegenstandes (eines Sternbildes z.B.) im allgemeinen nicht mit der Einheit und Abgeschlossenheit eines physikalischen Systems zusammenfällt. Wie aber schon der Organismus nicht nur eine ästhetische, sondern auch (als ein sich selbst erhaltendes System von Wechselwirkungen) eine wenigstens relative physikalische Einheit darstellt, so fällt auch bei der Persönlichkeit ästhetischer Gegenstand und Naturgegenstand zusammen, und die Bedingungen ihrer Selbsttätigkeit lassen sich daher theoretisch bestimmen. Die Möglichkeit einer logischen Reduktion der ästhetischen Urteile erklärt sich also hier durch das Zusammenfallen von ästhetischem Gegenstand und Naturgegenstand. Wir werden nach alledem kein Bedenken tragen, das untersuchte Interesse als ein ästhetisches · anzusehen. Dieses Ergebnis gestattet uns zugleich, den Inhalt der besonderen uns beschäftigenden Art der Schätzung zu bestimmen. Schönheit ist, nach SCHILLERS Ausdruck, überall Freiheit in der Erscheinung, Schönheit der Persönlichkeit also Unabhängigkeit der Lebenstätigkeit von zufälligen, d. h. dem Wesen des vernünftigen Geistes fremden Antrieben oder, positiv ausgedrückt, vernünftige Selbstbestimmung. Die ästhetische Schätzung gibt uns daher, auf die Persönlichkeit angewandt, das Ideal der Bildung, d. h. der ver-
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nünftigen Selbstbestimmung. Für die Gesellschaft folgt daraus von selbst das Ideal der persönlichen Freiheit, d. h. eines Zustandes, in dem niemand von seiten anderer in der Möglichkeit der Bildung beschränkt wird. Durch diese Deduktion finden auch die Fragen eine Lösung, die die Abstraktion nodi zurückließ. Der Untersdiied von wirklidiem und wahrem Interesse erklärt sich durdi die ursprünglidie Dunkelheit des reinen Interesses. Sie bedingt das Auseinandertreten von reflektiertem und unmittelbarem Interesse. Der Irrtum beruht auf der Abweidiung des reflektierten Interesses von dem unmittelbaren. Das unmittelbare Interesse selbst ist als soldies irrtumsfrei, kraft des Prinzips des Selbstvertrauens der Vernunft. Zugleidi klärt sidi hier vollends die Frage auf, wie die Abweichung des Kriteriums der Vorzugswürdigkeit von der relativen Stärke der Interessen in dem Sittengesetz begründet ist. Wir braudien tatsädilidi bloß wirklidie Interessen zu vergleidien, wenn wir nur die unmittelbaren Interessen berücksiditigen und nidit nur ihre reflektierte Form. Daß also die Vorzugswürdigkeit sich nidit ohne weiteres nadi der relativen Stärke der Interessen bestimmt, beruht nur auf der Unvollkommenheit des Bewußtseins um das unmittelbare und als soldies audi wirklidie Interesse. Das vorhin als Kriterium eingeführte und insofern bloß fingierte Interesse einer vollkommen gebildeten Person findet hier sein wirklidies Korrelat. Audi der zunädist sdiwierige Fall, wo ansdieinend überhaupt kein Interesse auf der anderen Seite steht, zugunsten dessen wir unser Interesse zurücksetzen, wird jetzt verständlidi. Es steht tatsädilidi dodi ein Interesse auf der anderen Seite, das unser Interesse einsdiränkt. Es ist nur nidit bewußt, aber dod1 wirklidi und hat als soldies Ansprudi auf unsere Aditung.
IV Was leistet nun diese Theorie des wahren Interesses für den Aufbau des Systems der Ethik, für Reditslehre und Politik?
IV. Anwendung auf Ethik und Rechtslehre
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Es gibt keinen Rechtskodex aus reiner Vernunft. Wir erhalten bestimmte Rechtssätze nur durch die Anwendung des Sittengesetzes auf die wirklichen Interessen, die in der Gesellschaft bestehen und die wir als solche nur empirisch kennenlernen können. Die entwickelte Theorie lehrt uns aber, daß es ein Interesse gibt, das seinem Gegenstand nach a priori bestimmt werden kann. Dies ist das wahre Interesse jedes vernünftigen Wesens an dem Wert seines Lebens. Insofern konstituiert das wahre Interesse das einzige Naturrecht, wenn darunter ein seinem Inhalte nach a priori bestimmtes Recht verstanden wird. Das wahre Interesse hat nun das Eigentümliche, daß seine Befriedigung nur durch Selbsttätigkeit möglich ist. Es kann also nie die Pflicht entstehen, dies Interesse bei einem anderen Menschen zu befriedigen, sondern es kann nur Pflicht sein, ihm die Möglichkeit zu gewähren, es selbst zu befriedigen. Hierzu gehört auch die Pflicht, Hindernisse der Selbsttätigkeit, die den Menschen von anderer Seite in den Weg gelegt werden, hinwegzuräumen. Das folgt daraus, daß ich an Stelle solcher Menschen nicht einwilligen.könnte, daß andere Menschen, die die Möglichkeit dazu hätten, mich von diesen Hindernissen nicht befreien. Jeder weitergehende Versuch aber (das wahre Interesse eines anderen zu befriedigen) würde sein wahres Interesse, insofern es auf Selbsttätigkeit gerichtet ist, vielmehr verletzen und ist daher nicht einmal als ein erlaubter Dienst der Freundschaft möglich. Die Pflicht dem sinnlichen Interesse anderer gegenüber geht darin weiter, daß sie seine unmittelbare Befriedigung verlangen kann. In anderer Beziehung geht aber die Pflicht dem wahren Interesse gegenüber weiter. Das sinnliche Interesse ist dem wahren gegenüber darin gleichsam im Vorteil, daß es sich immer selbst geltend macht. Daher kann es sich nie auf sich selbst richten: Es kann nie im sinnlichen Interesse eines Menschen liegen, ein sinnliches Interesse in sich zu entwickeln. Dagegen bezieht sich das wahre Interesse auch auf sich selber, darauf, daß es zum Bewußtsein geweckt wird. Denn es liegt im wahren Interesse eines Menschen an der Selbstbestimmung, daß er sich seines Interesses an der Selbstbestimmung bewußt wird. Daher die Pflicht, das wahre Interesse auch in-
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sofern zu berücksichtigen, als das Bedürfnis nach seiner Befriedigung (nach Selbsttätigkeit also) erst geweckt werden muß. Indem wir das wahre Interesse an der Selbstbestimmung unter das Rechtsgesetz subsumieren, erhalten wir den Naturrechtssatz: Alle ihrer Natur nach bildungsfähigen Wesen haben das gleiche Recht auf die äußere Möglichkeit , zur Bildung zu gelangen. Der Objektivität des reinen Interesses zufolge ist dieser Rechtsanspruch unabhängig davon, ob er durch ein wirkliches Bedürfnis vertreten wird. Eine Beschränkung der persönlichen Freiheit muß daher als Rechtsverletzung gelten ohne alle Rücksicht darauf, ob dem berechtigten wahren Interesse an der Freiheit ein wirkliches Bedürfnis entspricht, und es hebt also auch die tatsächliche Einwilligung eines Menschen in eine solche Beschränkung nicht deren Widerrechtlichkeit auf. Der Satz: »volenti non fit iniuria« gilt daher für das wahre Interesse nicht. Hiermit ist die Unveräußerlichkeit des Rechts auf Selbstbestimmung begründet. Seine Geltung kann durch keinen Vertrag und durch kein positives Gesetz eingeschränkt oder aufgehoben werden. Wenn sich also jemand als Sklave verkauft, so hat dieser Vertrag keine Rechtskraft. Und wenn auch ein ganzes Volk durch Parlamentsbeschluß darin einwilligt, von Priestern bevormundet zu werden, so ist dieser Beschluß null und nichtig. Bevormundung, d. h. Entziehung der Möglichkeit der Selbstbestimmung, ist gegenüber Wesen, die verständiger Selbstbestimmung überhaupt fähig sind, als eine Beschränkung ihres wahren Interesses anzus~hen. (Vom Strafrecht können wir hier, nach dem bereits früher Gesagten, absehen.) Die Erlaubnis zur Bevormundung besteht daher nur gegenüber Wesen, die verständiger Selbstbestimmung nicht fähig sind, sei es, daß ihnen diese Fähigkeit ihrer Natur nach fehlt, wie den Tieren, sei es, daß sie diese Fähigkeit nicht mehr besitzen, wie die Geisteskranken, sei es, daß sie ihnen noch nicht zukommt, wie den Kindern. Man sieht leicht, daß diese Erlaubnis insofern sogar zur Pflicht werden kann, als die Unfähigkeit eines Wesens zu verständiger Selbstbestimmung es ihm unmöglich macht, sein sinnliches Interesse zu befriedigen. Die Rücksicht auf das wahre Interesse schränkt diese Erlaubnis aber auf die Bedin-
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gung ein, daß die Bevormundung so ausgeübt wird, daß sie das bevormundete Wesen so bald, als es die Umstände gestatten, zur Fähigkeit verständiger Selbstbestimmung gelangen (oder wieder gelangen) läßt. Einen Mensdien zu bevormunden, kann also nur aus demselben Grunde erlaubt sein, aus dem es zugleich Pflicht ist, nämlidi aus Rücksidit darauf, daß er verständiger Selbstbestimmung unfähig ist. Nennen wir daher eine rechtlich nicht notwendige Bevormundung »künstlich«, so können wir zusammenfassend sagen, daß jede künstliche Bevormundung widerrechtlich ist. Diesen Satz müssen wir anwenden, wenn die Frage entsteht, wieweit es erlaubt sei, einen Menschen zu bevormunden. Man könnte hier sagen, verständige Selbstbestimmung sei ein bloßes Ideal, und also bedürften eigentlidi alle Menschen der Bevormundung; da dies aber eine Unmöglidikeit einschließt, so sollte wenigstens d ie große Menge der Mensdien von denen, die dem Ideal am nächsten kommen, bevormundet werden. Es hat aber jeder Mensch, der nidit verständiger Selbstbestimmung überhaupt unfähig ist, ein wahres Interesse an der Selbsttätigkeit, das durch Bevormundung verletzt würde. Da nun jede über das Maß des rechtlich Notwendigen hinausgehende Beschränkung der Freiheit widerrechtlidi ist, so folgt, daß es eines nadiweislichen Grundes der Notwendigkeit bedarf, um einen Menschen muer Vormundschaft zu stellen und zu halten, nicht aber eines solchen, um ihm die Freiheit der Selbstbestimmung zu geben. Es hat daher jeder als mündig zu gelten, der nidit nachweislich verständiger Selbstbestimmung überhaupt unfähig ist, nicht aber umgekehrt.
V Wenden wir die Theorie des wahren Interesses auf die Politik an, so erhalten wir eine ganz neue Ansidit von ihren Aufgaben, und zwar gilt dies nicht nur von der Kulturpolitik, sondern auch von der Wirtschaftspolitik. Bisher entlehnte die Politik ihre philosophischen Kriterien einzig dem Gesetz der Gleidiheit der Perso-
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nen. Wir haben aber neben dem Ideal der Gleidiheit audi nodi das der Freiheit eingeführt. Es kommt daher hier alles auf die riditige Bestimmung des Verhältnisses dieser Ideale der Gleichheit und der Freiheit an. Man kann nidit von der dogmatisdien Annahme ausgehen, daß eine prästabilierte Harmonie in der Durdiführbarkeit dieser beiden Ideale bestehe. Da wir vor der Möglidikeit einer Kollision beider keineswegs sidier sind, so haben wir grundsätzlidi zu entsdieiden, weldies Ideal im Falle einer soldien Kollision den Vorrang hat. Diese Entsdieidung ist darum sdiwierig, weil hier nidit ein Ideal mit einer Pflicht, sondern zwei Ideale miteinander kollidieren. Es besteht zwar die Pfiicht für den einzelnen, seinerseits keine widerreditlidie Handlung zu begehen, aber es ist nur ein Ideal, einen gesellsdialHidien Zustand zu verwirklidien, in dem keine widerrechtlidien Handlungen gesdiehen. Es läßt sidi aber dennoch zwischen beiden Idealen eine Entsdieidung treffen. Der Wert des Reditszustandes und der Wert der Freiheit sind von ganz versdiiedenem Ursprung. Nadi dem Sittengesetz kann ein Zustand der Gesellsdiafl:, der nicht der Bedingung der Gleidiheit genügt, keinen Wert haben, audi wenn er dem Ideal der Freiheit nodi so nahe kommt. Denn die Notwendigkeit, die nadi dem Sittengesetz dem Rechtszustand zukommt, erteilt jedem ihm widerspredienden Zustande einen unendlidien Unwert, also einen soldien, der durdi keinen nodi so großen positiven Wert wieder aufgehoben werden kann. Die Rechtlidikeit ist folglidi die einsdiränkende Bedingung des Wertes eines gesellsdialHichen Zustandes überhaupt. Das Ideal der Gleichheit hat daher im Kollisionsfall den Vorrang. Hieraus ergibt sich z. B. eine wichtige Konsequenz für die Wirtschaftspolitik. Verstehen wir unter einer kommunistisdien Wirtschaftsordnung eine soldie, in der die Verteilung der Güter durdi den Staat erfolgt, so läßt sidi die Behauptung, der Kommunismus sei als eine Bedingung der Durdiführung der Gleidiheit notwendig, nidit durdi den Hinweis auf die mit ihm verbundene Besdiränkung der Freiheit widerlegen, sondern, wenn überhaupt, so durdi die Nadiweisung, daß dieses Wirtsdiafl:ssystem vielmehr nidit einmal die Gleidiheit zu sidiern vermöge.
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Wenn man überhaupt mit der Anwendung des Prinzips der Gleichheit auf die Wirtschaftspolitik Ernst macht, so stellt man gewöhnlich die Forderung, daß der Staat jedem die gleiche Möglichkeit sichere, zum Wohlstand zu gelangen. (Daß man nicht für jeden Wohlstand, sondern nur die gleiche Möglichkeit fordern darf, folgt daraus, daß es von der zufälligen Größe des insgesamt verfügbaren Gütervorrats abhängt, ob bei seiner Verteilung jeder zum Wohlstand gelangen kann.) Nach der Theorie des wahren Interesses ist diese Forderung jedoch falsch, wenn man wie üblich unter »Wohlstand« die Möglichkeit der Befriedigung der wirklichen Bedürfnisse versteht. Vielmehr sind auch die kulturellen Bedürfnisse zu berücksichtigen, die sich unter günstigen äußeren Bedingungen entwickeln würden: Es sind dies die auf die Befriedigung des wahren Interesses gerichteten. Zum Wohlstand müssen folglich die wirtschaftlichen Bedingungen der Entwicklung und Befriedigung dieser Bedürfnisse (als Bedingungen eines »menschenwürdigen« Lebens) hinzugerechnet werden. Hiermit ist ohne weiteres zugleich auch die obere Grenze bestimmt, bis zu der die Bedürfnisse Anspruch auf Berücksichtigung haben. Denn die wirklichen Bedürfnisse haben auf der anderen Seite auch nur in dem Maße Anspruch auf Berücksichtigung, als ihre Befriedigung im wahren Interesse des einzelnen liegt. Der Wohlstand muß daher als dasjenige Maß von Besitz definiert werden, das notwendig und hinreichend ist, um· dem einzelnen zu ermöglichen, zu der mit Rücksicht auf seine Anlagen überhaupt erreichbaren Bildung zu gelangen. Geht man nicht von der Theorie des wahren Interesses aus, so muß man konsequenterweise zu ganz anderen, augenscheinlich falschen Resultaten kommen. Einerseits würde es, um jedem die gleiche Möglichkeit der Befriedigung seiner wirklichen Bedürfnisse zu sichern, genügen, durch geeignete Maßnahmen darauf hinzuwirken, daß die wirtschaftlichen Ansprüche der einzelnen unter eine hinreichend niedrige Grenze herabsinken, um durch ein beliebig geringes Maß von Besitz befriedigt zu werden. So könnte man es z. B. durch künstliche Bevormundung stets erreichen, daß die Armen, in Erwartung eines um so reicheren Entgelts im Jenseits, desto zufriede-
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ner sind, in je drückenderer Not sie ihr Leben im Diesseits fristen. Ein Verfahren, für dessen Widerrechtlichkeit ohne die Theorie des wahren Interesses ein Beweis unmöglich ist. Andererseits gäbe es ohne die Theorie des wahren Interesses auch keine Möglichkeit, zwischen Bedürfnissen wie solchen, deren Befriedigung zur Erhaltung des Lebens notwendig ist, und bloßen Luxusbedürfnissen einen Unterschied im Anspruch auf Berücksichtigung zu machen, da es ja nur auf die Stärke ankommen könnte, die das einzelne Bedürfnis wirklich hat. Es könnte daher auch das minderwertigste Interesse von der Berücksichtigung nicht ausgeschlossen werden, wenn es nur mit hinreichender Stärke auftritt. Als Aufgabe der Kulturpolitik sehen wir es an, einem jeden sein Recht auf geistige Freiheit zu sichern. (Daß hier nicht Freiheit schlechthin, sondern nur das Recht auf Freiheit und also auch hier nur Gleichheit gefordert werden kann, versteht sich nach dem früheren von selbst.) Hier müssen wir nun den Satz von der Widerrechtlichkeit rechtlich nicht notwendiger Bevormundung anwenden. Inwiefern kann aber Bevormundung überhaupt rechtlich notwendig sein? Einern Wesen gegenüber, das verständiger Selbstbestimmung noch nicht fähig ist, ist Bevormundung erlaubt und mit Rücksicht nicht nur auf sein sinnliches, sondern auch auf sein wahres Interesse Pflicht. Es kann natürlich hier so wenig wie sonst Pflicht sein, sein wahres Interesse unmittelbar zu befriedigen, sondern nur, das Bedürfnis nach Befriedigung seines wahren Interesses in ihm zu wecken und es in den Stand zu setzen, durch Selbsttätigkeit zu dieser Befriedigung zu gelangen. (Jede weitergehende Bevormundung müßte schon als künstlich und damit als widerrechtlich gelten.) Dieses Recht auf Bevormundung begründet die Notwendigkeit des Schulzwanges einerseits und die Notwendigkeit der staatlichen Aufsicht über jeden Unterricht andererseits. Dieses zu dem negativen Zweck, jede künstliche Bevormundung von den Kindern fernzuhalten, jenes zu dem positiven, sie durch Ausbildung ihres Verstandes in den Stand zu setzen, sich später selbst gegen solche Versuche zu schützen. Jeder dogmatische Unterricht, als ein solcher, der keine Einsicht
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in die Gründe der vorgetragenen Lehren verstattet, und jeder Gebrauch des pädagogischen Autoritätsprinzips, d. h. der Vorstellung der unmittelbaren Verbindlichkeit von Befehlen, enthält daher als eine Verletzung des wahren Interesses eine widerrechtliche Bevormundung. Es versteht sich von selbst, daß künstliche Bevormundung, wenn sie von den Eltern ausgeübt wird, nicht weniger widerrechtlich ist. Ein Recht der Eltern z. B., die Konfession ihrer Kinder festzusetzen, ist unmöglich. Denn einem anderen vorzuschreiben, was er glauben soll, ist unter allen Umständen eine künstliche Bevormundung. Geht man nicht von der Theorie des wahren Interesses aus, so muß man schließen, daß der Staat die Kultur nicht fördern darf. Denn dies könnte ja nur so geschehen, daß einige Personen, die daran nicht wirklich interessiert sind, zu bloßen Mitteln für die Zwecke anderer gemacht werden. Beachtet man hingegen, daß der Fortschritt der Kultur im wahren Interesse eines jeden liegt, so folgt, daß ihre Förderung die grundsätzliche Kompetenz des Staates nicht überschreitet. Man sieht ohne weiteres, daß von dieser Kompetenz die Begünstigung dogmatischer Lehren, dem Begriff der Kultur zufolge, ausgeschlossen ist. Hieraus folgt z. B., daß konfessionelle Fakultäten an staatlichen Hochschulen widerrechtliche Einrichtungen sind und daß diese Widerrechtlichkeit selbst dann bestehen bliebe, wenn wir eine uneingeschränkte konfessionelle Einheit des ganzen Volkes voraussetzen dürften. Staatliche Förderung der Kultur kann nur in Begünstigung freier Selbsttätigkeit bestehen, nie in Parteinahme bei einem Widerstreit kultureller Bestrebungen. Dies schließt jedoch einen Eingriff des Staates in das freie Spiel der Kräfte insofern nicht aus, als er zur Durchführung des Rechts notwendig sein kann. Wie gegen wirtschaftliche Ausbeutung, so soll der Staat die einzelnen auch gegen künstliche Bevormundung schützen. Die Berufung auf das Prinzip der Toleranz wäre hier so falsch angebracht wie auch sonst Verbrechern gegenüber. Das kulturelle Manchestertum ist daher eine nicht weniger verwerfliche politische Doktrin als das wirtschaftliche Manchestertum, da uns ja
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vielmehr im Gegenteil die Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse als eine zwar notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung eines menschenwürdigen Lebens gilt. Dies gilt denn insbesondere für das Verhältnis von Staat und Kirche. Eine Hierarchie, als Glaubensgemeinschaft auf der Grundlage ethischer Heteronomie und also künstlicher Bevormundung, ist mit den Prinzipien eines Rechtsstaates unmittelbar im Widerspruch, mag im übrigen ihre höchste Autorität durch eine Person oder durch ein Dokument vertreten sein.
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Schlußvorlesung, gehalten am 31. Juli 1914. Erschienen als Heft 6 der Schriftenreihe Offentliches Leben. Der Neue Geist-Verlag, Leipzig 1918, s. 1-19 In den Gesammelten Schriften steht diese Arbeit im Band IX, S. 43-57.
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Vorbemerkung Diese Schrift ist die wortgetreue Wiedergabe der Vorlesung, mit der ich am Tage vor Kriegsausbruch mein Kolleg über Staatsphilosophie abgeschlossen habe. Ihre Veröffentlichung war längst beabsichtigt, konnte aber bei der mit dem Belagerungszustand verbundenen Beschränkung der Pressefreiheit bisher nicht erfolgen. Die darin ausgesprochenen Gedanken sind jedoch durch den Gang der Ereignisse und die durch ihn veranlaßten Projekte nicht überholt worden. Nun, wo jene Schranken gefallen sind, gilt es mir um so mehr als eine patriotische Pflicht, endlich mit den hier niedergelegten Gedanken vor eine weitere Offentlichkeit zu treten. Denn mehr als je erscheint es als ein Gebot der Stunde, der Welt zu zeigen, daß man in Deutschland den Gedanken des Völkerbundes nicht nur gezwungen annimmt. Und ich denke, dies geschieht am besten durch den Nachweis, daß es schon vor dem Kriege in Deutschland Männer gegeben hat, die aus ihrer freien wissenschaftlichen und politischen Überzeugung heraus rückhaltlos für diesen Gedanken eingetreten sind. Als ein Dokument dafür mag der Text dieser Vorlesung dienen, dem ich denn auch nichts von dem hinzugefügt habe, was ich schon damals nur deshalb unausgesprochen gelassen habe, weil es in Ermangelung hinreichender Aktualität noch nicht das genügende Interesse gefunden hätte. Göttingen, den 7. November 1918 Leonard Nelson
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Kriegszustand und Rechtszustand Die Aufgabe, über die wir hier sprechen wollen, folgt schon aus dem bloß formalen Rechtsideal. Dieses Ideal stellt uns die Aufgabe, die Geltung des Rechts in der Natur dem Zufall zu entziehen. Es soll also die Rechtlichkeit im Verkehr der Personen überhaupt dem Zufall entzogen werden, d. h. es soll eine künstliche Einrichtung geschaffen werden, die die Rechtlichkeit der Formen des Verkehrs sichert. Wie die Organisation, die die Rechtlichkeit des Verkehrs der einzelnen im Volke untereinander sichert, der Staat ist, so ist die Organisation, die die Rechtlichkeit des Verkehrs der Staaten untereinander sichert, der Staatenbund. Der Staatenbund ist daher eine ebenso notwendige rechtliche Aufgabe wie der Staat selbst. Ohne den Staatenbund herrscht Anarchie im Verkehr der Staaten, so wie ohne den Staat Anarchie im Verkehr der einzelnen im Volke herrscht. Anarchie aber bedeutet Herrschaft des Zufalls und also Herrschaft der brutalen Macht an Stelle des Rechts. Der Staatenbund ist hiernach eine Gemeinschaft von Staaten zum Zwecke der Rechtlichkeit ihres Verkehrs. In einen solchen Staatenbund einzutreten und also, wenn er noch nicht besteht, ihn zu gründen, ist der rechtlich notwendige äußere Zweck jedes Staates. Wie wir den Zusammentritt der einzelnen zum Staate als rechtlich notwendig erkannt haben, so ist auch der Zusammenschluß der Staaten zu einem Staatenbunde rechtlich notwendig. In diesem Staatenbund sind die einzelnen Staaten geradeso als Mitglieder beteiligt, wie im einzelnen Staat die einzelnen Personen. Das Verhältnis der Staaten zueinander kann in rechtlicher Hinsicht von dreierlei Art sein. Es ist entweder ein bloßes Verhältnis der Gewalt. Wir nennen den Zustand, in dem die Staaten ihre gegenseitigen Ansprüche durch Gewalt ausgleichen, den Kriegszustand. Oder die Staaten regeln ihre gegenseitigen Ansprüche durch Vertrag. Die Regelung des Verkehrs der Staaten durch Vertrag begründet aber an und für sich nur ein Rechtsverhältnis auf Treu und Glauben. Es kann durch den Vertrag die Rechtlichkeit der Form des Verkehrs der Staaten wirklich werden; der Vertrag reicht aber
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nicht hin, um die Rechtlichkeit der Form des Verkehrs der Staaten notwendig zu machen. Um auch das Postulat der Notwendigkeit einer Rechtsgemeinschaft für den Verkehr der Staaten zu erfüllen, muß das Rechtsverhältnis auf Treu und Glauben in ein politisch geschütztes Rechtsverhältnis verwandelt werden; das heißt aber soviel wie, daß die einzelnen Staaten sich einer gemeinsamen Regierung, das heißt einem mit Zwangsgewalt verbundenen, ihren Verkehr rechtlich regelnden positiven Gesetz unterwerfen. Erst dadurch wird der Rechtszustand im vollen Sinne des Wortes zwischen den Staaten eingeführt. Die Einführung dieses Rechtszustandes im Verhältnis der Staaten ist ebenso notwendig wie die Einführung des Rechtszustandes im Einzelstaat. Wie jeder Staat ein Rechtsstaat sein soll, so soll auch die Gemeinschaft der Staaten eine Rechtsgemeinschaft werden und also die Form des Staatenbundes annehmen. Die reine Rechtsidee nimmt an und für sich auf den Unterschied der einzelnen Staaten gar keine Rücksicht. Aus der Rechtsidee folgt unmittelbar die Notwendigkeit einer Rechtsgemeinschaft, die sich über das Ganze des Bereichs der Wechselwirkung der Personen erstreckt. Das Bestehen einer Mehrheit von Staaten ist etwas rechtlich Zufälliges: Es ist rechtlich weder gefordert, noch ist es rechtlich zu verwerfen. Es ist vielmehr eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob und wie weit, entsprechend den zufälligen Grenzen, wie sie durch geographische Bedingungen oder durch Sprache, Sitten und Gebräuche, Religion, Rasse und Ahnliches bestimmt werden, ich sage, es ist nur eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob und wie weit entsprechend solchen zufälligen Grenzen im Leben der Menschen auch gesonderte Rechtsorganisationen wünschenswert sind. Wo aber solche gesonderten Rechtsorganisationen bestehen, da mach! die Rechtsidee unmittelbar Anspruch an ihr gegenseitiges Verhältnis und fordert die Einführung einer übergeordneten allgemeinen Rechtsordnung gemäß den einzelnen Postulaten der Rechtslehre.
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II Nationale Macht und Ehre Es ist nichts als ein rohes Vorurteil und ein Ausfluß atavistischer Instinkte, daß, nachdem für die innere Politik die Forderung der Rechtlichkeit, wenigstens in der Theorie, mehr und mehr anerkannt wird, in der äußeren Politik die nationale Macht als höchstes Ziel festgehalten werden soll. Man scheut sich nicht nur nicht, die Idee einer internationalen Rechtsorganisation als Utopie zu verschreien, sondern man geht sogar so weit, das durch sie geleitete Streben als einen Verrat an den höchsten sittlichen Gütern zu verdächtigen und ihm den Schein ethischer Minderwertigkeit anzuheften. In Wahrheit ist das angebliche Ideal einer möglichst großen Macht der einzelnen Nation ein ebenso widerspruchsvolles Ideal, wie es das des individuellen Egoismus wäre. Daß jede Nation möglichst mächtig werde, ist eine gerade so widersprechende Forderung wie die, daß jede einzelne Person sich in einen möglichst großen Vorteil setzen soll. Denn die Vergrößerung der Macht des einen schließt unmittelbar eine Beschränkung der Macht des anderen ein. Man kann hieraus ersehen, daß das Ziel der Machtbereicherung ein Ausfluß des Egoismus ist und kein wahres Ideal sein kann; denn als solches müßte es für alle Nationen gelten. Auf alle Nationen angewandt, widerspricht es sich aber selbst. Der ideale Wert einer nationalen Gemeinschaft kann einzig und allein davon abhängen, was sie als Kulturgemeinschaft leistet; als Kulturgemeinschaft aber unterliegt sie zu allererst den Anforderungen des Rechts. Wer daher mit Berufung auf die sogenannte nationale Idee dem rücksichtslosen nationalen Machtstreben den Schein einer idealen Rechtfertigung zu geben sucht, der mißbraucht einen an sich ehrwürdigen Ausdruck zur bloßen Bemäntelung des Egoismus. Die Trennung der Nationen ist etwas ethisch Zufälliges, gerade so wie auch die Trennung der Menschen nach Geschlechtern und nach Familien. So gut wie diese müssen auch jene, die Nationen, ihren Vorzug durch ihre kulturellen Leistungen erweisen. Rechtlichkeit der Form des Verkehrs ist dabei für die einen wie für die anderen die notwendige Bedingung nicht nur der Erlangung
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kultureller Vorzüge, sondern ihrer Dascinsbcred1tigung überhaupt. So verhält es sidi denn audi mit der sogenannten nationalen Ehre. Die Ehre einer Nation besteht ebenso wie die des einzelnen nicht in Dingen, die man äußerlidi greifen, oder die einer dem anderen rauben könnte, sondern sie besteht nur im eigenen Geiste der Redltlichkeit. Die Ehre vorzuschützen, um das Recht mit Füßen zu treten, ist daher in Wahrheit dJ.s ehrloseste Beginnen, d:is sid1 denken läßt, indem dadurdi die eigene Ehre gerade völlig preisgegeben wird.
III Der Krieg in der Despotie und im Rechtsstaat
Der Zweck des Krieges, soweit dieser nidit eine bloße Gegenmaßregel gegen einen kriegerisdien Angriff darstellt, wird ein ganz anderer sein, je nadidem man ihn vom Standpunkt einer Despotie oder vom Standpunkt eines Reditsstaats aus beurteilt. In einer Despotie ist eigentlidi das Volk das Eigentum des Herrsdiers. Der Krieg dient hier zu nidits anderem als zur Erweiterung des Besitzes des Herrschers; durdi die Bekriegung anderer Nationen benutzt der Herrscher das Volk als ein Mittel zu eigener Bereicherung. In einem Reditsstaat verhält es sidi ganz anders. Hier müßte der Krieg einem Zwecke des Volkes selbst dienen. Es wird aber das Volk in seiner Jv1ehrheit, je gebildeter es ist, durdi einen Krieg weit mehr wagen, als es dadurdi zu gewinnen hoffen kann. In einem gebildeten Volke kann das Interesse am Krieg nur noch künstlidi wadigehalten werden durdi die Fabrikanten und Kaufleute, deren Erwerb leiden würde, wenn sidi der Handel mit Kriegsgeräten nidit mehr bezahlt madite, sowie durdi die Zeitungssdireiber, die fürditen müssen, daß ihnen mit dem Kriege ihr bester Sensationsstoff entzogen würde. Von diesen sidi tyrannisieren zu lassen, ist aber eines gebildeten Volkes unwürdig. Mit der Zunahme und Ausbreitung des Verkehrs müssen sidi ferner die nationalen Gegensätze mehr und mehr ausgleidien, und der Untersdiied der Staaten wird sidi immer weniger decken mit einem
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Unterschied der Gesinnung und also der Ideale, die im einen und anderen Staat angestrebt werden. Der Untersd1icd der St:tmögen sie noch so verbrecherischer Natur seinEinern gewöhnlichen Verbrechen .. .< an bis Seite 19, Zeile 8 einschließlich) sind seinerzeit durch die militärische Zensur gestrichen worden.• Die hier angegebenen Stellen sind in der vorliegenden Ausgabe auf Seite 209 gekennzeichnet.
In den Gesammelten Schriften steht diese Arbeit im Bd. VIII, S. 193-211.
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Wenn der menschliche Geist zu bewußtem Dasein erwacht, treten die Fragen nach Sinn und Wert des Lebens, nach dem Wesen und der Bedeutung der Dinge an ihn heran. In der natürlichen Zuversicht, daß es eine bestimmte Antwort auf diese Fragen geben muß, traut der Mensch sich auch die Fähigkeit zu, diese Antwort zu finden. Erst wenn er immer wieder erfahren muß, daß er sich auf Irrwege verloren und in Widersprüche verwickelt hat, stellt er sich die Frage, auf welchem Wege er sich denn den Zugang zu den notwendigen Wahrheiten erschließen könne und welches denn die reinen Quellen dieser Wahrheiten sind. In der Beantwortung dieser Frage, die das eigentliche Grundproblem der Philosophie bildet, trennen sich zwei Hauptrichtungen, die von jeher in heftigem Streit miteinander liegen. Man kann sie kurz bezeichnen als Mystik und Sophistik. Die Mystiker gehen von der Meinung aus, das Menschengeschlecht sei von Natur aus der Wahrheit und des Guten unvermögend und daher auf höhere Offenbarung angewiesen. Diese ist erleuchteten Männern einmal zuteil geworden und wird nun durch Tradition von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbt und dem einzelnen übermittelt, der sich ihr demütig zu unterwerfen hat. Eine auf dieser Grundlage beruhende Philosophie kennt nur eine heteronome Ethik, d. h. eine solche, die ein von außen oder von oben dem Menschen auferlegtes Gesetz als für ihn verbindlich hinstellt. Sie gründet alle Verbindlichkeit auf einen fremden Willen: eine Autorität. Dem gegenüber steht die Auffassung, wonach der Mensch seinen Verstand rücksichtslos gebrauchen darf, wie er will, ohne sich an eine Autorität zu binden. Keinem Gebot, das er nicht durch den eigenen Verstand rechtfertigen kann, braucht er sich zu unterwerfen. Denn das einzige Forum für die Entscheidung über Wahrheit und Recht ist der menschliche Verstand. Das Mittel des Verstandes, durch das er seine Entscheidungen trifft, ist die Wissenschaft, gegründet auf Erfahrung und Logik. Die Konsequenz der Anwendung dieses Maßstabes ist die Nichtigkeit aller heteronomen Ethik und die Aufhebung aller höheren Verbindlichkeit überhaupt. Denn aus dem Nachdenken allein, aus der logischen Reflexion, kann auf keine Weise irgendeine sittliche Verbindlichkeit entspringen. Die
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Anwendung des Verstandes kann uns höchstens lehren, welche Mit· tel zu bestimmten Zwecken tauglich sind, nicht aber, ob diese Zwecke selber für uns verbindlich sind oder nicht. Der Anspruch der Ethik an den Menschen beruht hiernach im letzten Grunde nur auf einem Interesse der Mehrheit. Es ist eine bloße Sache der Klugheit, wie weit man gut tut, sich diesem Interesse der Mehrheit zu fügen, und es ist lediglich eine Frage der Macht, ob man stark genug ist, sich über ihr Gebot hinwegzusetzen. Die Konsequenz ist der ethische Anarchismus. Seit dem Altertum stehen sich diese beiden Richtungen gegenüber. Zwischen sie tritt aber auch schon im Altertum eine dritte Auffassung. SOKRATES wies zuerst auf die Möglichkeit einer solchen hin. Man erörterte damals die Frage: Haben die ethischen Normen von Natur aus Geltung, oder beruhen sie auf willkürlicher Satzung? Jene beiden widerstreitenden Ansichten, die der Mystik und die der Sophistik, kommen darin überein, daß die ethischen Normen auf willkürlicher Satzung beruhen. Nach der Lehre des SOKRATES hingegen beruhen die ethischen Normen nicht auf Willkür. Denn dann hätten sie auch nach ihm keine Verbindlichkeit. SOKRATES lehrte das Bestehen von »ungeschriebenen Gesetzen«, d. h. von solchen, denen der Mensch sich durch seine eigene Vernunft unterwirft, die er unabhängig von aller willkürlichen Satzung in sich selbst findet. Wenn diese Gesetze so vielfach verkannt werden, und wenn ihr Ursprung außerhalb der Vernunft gesucht wird, so beruht dies Mißverständnis nur darauf, daß der Mensch diese Gesetze nicht mit anschaulicher Klarheit erkennen kann. Die sittliche Erkenntnis ruht nach SOKRATES dunkel in uns. Jeder Mensch besitzt sie, aber er weiß nicht immer davon. Erst das Philosophieren bringt ihn zu diesem Wissen. So ist das Philosophieren, nach PLATONs tiefsinnigem Ausdruck, recht verstanden ein bloßes Wiedererinnern. Nach dieser Lehre sind beide Richtungen, Sophistik und Mystik, im Unrecht. Der heteronomen Ethik ebensowohl wie dem ethischen Anarchismus stellt die Sokratisch-Platonische Philosophie das Prinzip der ethischen Autonomie gegenüber, d. h. das Prinzip der Selbstgesetzgebung der menschlichen Vernunft. Obgleich diese Lehre von der ethischen Autonomie schon früh
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entstanden ist, hat sie sich in der Geschichte der Philosophie nicht zu behaupten vermocht, weil PLATON sie mit mystischen Hypothesen umkleidete. Erst durch die Kantisch-Friessche Kritik der Vernunft trat sie wieder mit wissenschaftlicher Gründlichkeit hervor, ohne indessen auch jetzt zur Herrschaft zu gelangen. W:is für die ethischen Grundsätze gilt, trifft auch für alle anderen philosophischen Prinzipien zu. Auch hier ist von alters her der Streit zwischen Mystikern und Sophisten im Gange. Die Mystiker berufen sich auf die Notwendigkeit allgemeiner, von aller Erfahrung unabhängiger Grundsätze, insbesondere religionsphilosophischer Art. Da derartige Erkenntnisse sich nicht aus bloßer Logik schöpfen lassen, vermeint der Mystizismus auch hier eine Offenbarung zu Hilfe rufen zu müssen. Der Sophist hingegen folgert aus der Leerheit der Reflexion, indem er die Offenbarung ablehnt, die Nichtigkeit allgemeiner und notwendiger Wahrheiten. Zwischen den beiden Anschauungen des Mystizismus und Skeptizismus schwanken die meisten Menschen hin und her. Von Kind auf gewöhnt, die höchsten Wahrheiten von der Überlieferung, der Offenbarung und den Autoritäten zu empfangen, stürzen sie, nachdem sie die Unhaltbarkeit des Autoritätsglaubens eingesehen haben, in die äußerste Skepsis. Das im menschlichen Geiste tief angelegte Bedürfnis nach allgemeinen, objektiv feststehenden Wahrheiten veranlaßt gerade die Besten unter den Skeptikern, immer wieder nach solchen zu suchen. In der Verzweiflung an einer andersartigen Begründung unterwerfen sich schließlich viele wieder dem alten Autoritätsglauben. Der Konflikt mußte im Laufe der Geschichte um so schärfere Formen annehmen, je mehr der überkommene Autoritätsglaube ins Wanken geriet. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt unter dem Einfluß der modernen Naturforschung. Die moderne Naturforschung hatte die alten Autoritäten auf allen Gebieten der menschlichen Kultur untergraben und zerstört; und so entstand für die Philosophie das große Problem, was denn an die Stelle dieser gestürzten Autoritäten treten sollte. Es entstand die Aufgabe, neue Normen an die Stelle der zerstörten zu setzen. Dies war die Aufgabe, die sich das Zeitalter der Aufklärung bewußt gestellt
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hatte. Man wollte sich nicht wieder neuen Autoritäten unterwerfen, sondern nur der eigenen Vernunft vertrauen. Insbesondere war das die Aufgabe, die durch die Kantische Philosophie gelöst werden sollte. Aber diese Vernunft, die die Normen für die Kultur geben sollte, wußte man nicht von der Reflexion zu unterscheiden. Man verwechselte die Vernunft mit dem leeren Verstande, dem bloßen Denkvermögen. So entstand der vergebliche Versuch, die Normen der Wissenschaft, der Religion, der Ethik und der Asthetik auf die bloße Reflexion zu gründen. In diesen Fehler verfiel auch KANTS Kritik der Vernunft, wenn man sie nach ihrer tiefsten Tendenz beurteilen will. KANTS Kritik der Vernunft ist der großartigste Versuch, die metaphysischen Prinzipien auf die bloße Reflexion zu gründen; sie ist die größte Anstrengung, die in der Menschheitsgeschichte gemacht worden ist, das gestellte Problem allein aus den Mitteln der Reflexion zu lösen. Die neuen und fruchtbaren Keime, die daneben in KANTS Philosophie enthalten sind, wurden nicht beachtet. So befestigte sich mehr und mehr die Einsicht, daß die Form, in der KANT versucht hatte, das Grundproblem der modernen Philosophie zu lösen, nicht genügen konnte, daß die Kantische Kritik der Vernunft an der Leerheit der Reflexion ebenso scheitern mußte, wie die Philosophie seiner rationalistischen Vorgänger, daß KANT das ihm von seinem Vorgänger HuME hinterlassene Problem im letzten Grunde ungelöst hatte stehen lassen und damit den metaphysischen Skeptizismus unwiderlegt gelassen hatte. Von diesen Fehlern hat FRIES die Kantische Philosophie befreit. Er trennt den Verstand, der bloß der logischen Kombination fähig ist, scharf von der Vernunft als der Quelle der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten. In der menschlichen Vernunft liegen die höchsten Wahrheiten auf religiösem, sittlichem und naturphilosophischem Gebiet an und für sich dunkel und dem einzelnen unbewußt. Nur in der Anwendung treten sie hervor, und nur durch Nachdenken können sie von ihrer ursprünglichen Dunkelheit befreit und zur Klarheit des Bewußtseins erhoben werden. Durch den Nachweis, daß der Mensch tatsächlich eine solche Vernunft besitzt, hat FRIES die philosophischen Wahrheiten gegen alle dialektischen Zweifel sichergestellt.
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Zu dem Autoritätsglauben oder dem Skeptizismus wurde der Mensch gedrängt durch die Annahme, daß ihm außer der Beobachtung und der bloßen Logik keine andere Erkenntnisquelle zu Gebote stände. Durch den Nachweis des Bestehens einer von der Reflexion unabhängigen Vernunft ist diese irrige Grundannahme widerlegt, und alle Anmaßungen des Mystizismus und des Skeptizismus sind in gleicher Weise von Rechts wegen abgewiesen. Tatsächlich gelang es aber der Friesschen Philosophie nicht, allgemeine Anerkennung in der Wissenschaft oder gar im öffentlichen Leben zu erlangen. Infolge unglücklicher geschichtlicher Zufälle wurde sie weniger beachtet als andere zeitgenössische philosophische Lehren, die den entscheidenden Fehler KANTS gerade zum System erhoben und so dazu beitrugen, daß der alte Streit abermals entbrannte. Infolgedessen trat bald eine allgemeine Reaktion ein. Es war klar geworden, daß die logische Reflexion als Quelle der metaphysischen Erkenntnis unzulänglich bleiben muß und daß die Reflexionsphilosophie, wie man dieses Unternehmen nannte, durchaus auf falschem Wege war. Die Folge war eine allgemeine Verzweiflung an der menschlichen Vernunft. Diese Folge mußte sich noch besonders aufdrängen durch den Ausgang der großen Französischen Revolution, die es unternommen hatte, die Ideale der Aufklärung praktisch zu verwirklichen und eine Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft nach den Forderungen der Vernunft herbeizuführen. Das Fehlschlagen dieser Hoffnungen schien ein deutlicher Beweis für die Ohnmacht der menschlichen Vernunft zu sein. So setzte die große Bewegung ein, die man als Romantik bezeichnet. Es trat eine Rückkehr von den Idealen der Aufklärung zu den gestürzten Autoritäten ein. Es bemächtigte sich der Gebildeten eine allgemeine Verachtung und ein allgemeiner Haß gegen die Reflexion, in der man die Quelle aller der übel erblickte, die die Aufklärung über die Menschen gebracht hatte; es bemächtigte sich ihrer die Tendenz, aus der Wirklichkeit, die mit der Vernunft meistern zu können man verzweifelte, zurückzukehren in das Reich der Illusionen und der Träume. Es entstand ein Hang zum Mystizismus, eine Abwendung von der verstandesmäßigen Kritik, der Versuch,
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das freie Denken wieder einzuschläfern. Man schätzte mehr und mehr das Dunkle, Geheimnisvolle und Mystische gegenüber dem begrifflich Klaren und wissenschaftlich Faßbaren. Es sollte überall wieder das Positive an die Stelle des Natürlichen gesetzt werden; das historisch Gewordene sollte den Grund aller Normen in sich enthalten. Damit war eine allem gesunden Fortschritt feindliche Tendenz wieder herrschend geworden. Diese Wendung der Dinge hatte gewiß auch manche guten Seiten an sich. Man gelangte zu einer größeren Schätzung der Kunst, einem lebendigeren Verständnis für Religion und Geschichte, einer tieferen Würdigung nationaler Eigenart. Aber es kann kein Zweifel sein, daß die Schattenseiten in dieser ganzen Bewegung überwiegen und daß die allgemeine Geistesrichtung, die sich hier der Gebildeten bemächtigte, insgesamt einen traurigen Rückschritt bedeutet. Wo es darauf ankam, nach dem Gesetzmäßigen, Allgemeingültigen zu suchen, haschte man nur nach dem Individuellen, Originellen und Geistreichen. Es trat ein allgemeiner Kultus der selbstherrlichen Persönlichkeit ein. Und auch die Kunst, die von dieser ganzen Bewegung zunächst vielleicht den größten Vorteil hatte, wurde mehr und mehr in eine Richtung gedrängt, die nur den Mystizismus begünstigte und die Kunst dem Leben entfremdete. Hiermit trat denn auch wieder an die Stelle der erstrebten natürlichen Religion die Schätzung des positiven Kirchentums. Man kam zurück auf die Begünstigung abergläubischer Gebräuche und der Frömmelei. In der Politik wurden die Ideen der Menschenrechte und des Weltbürgertums verdrängt durch eine einseitige, die gerechte Achtung anderer Völker mehr und mehr aus dem Auge setzende Begünstigung nationalen Eigendünkels und Machtstrebens. Die historische Rechtsschule triumphierte über das Naturrecht und sprach der Zeit den Beruf zur Gesetzgebung ab, mit Gründen, die, wenn sie triftig wären, für jede Zeit gelten würden. Während der Mangel des Aufklärungszeitalters sein Intellektualismus gewesen war, seine Überschätzung der Macht der reinen Wissenschaft und des Verstandes, so trat jetzt das Gegenteil ein: ein Irrationalismus, sei es in der Form des li.sthetizismus, sei es in der des Historismus. Man fragte weniger nach der Wahrheit als nach der schönen Form,
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weniger nach der Berechtigung der bestehenden Zustände als nach ihrer geschichtlichen Entstehung. So auch in der Philosophie. Man gab mehr auf originelle und witzige Formulierungen als auf die wissenschaftliche Erforschung der Wahrheit. Die Philosophie wandte sich von der Wirklichkeit und dem Leben ab und verwandelte sich in ein bloßes dialektisches Spiel mit Begriffen, ohne allen Ernst und festen Hintergrund, oder man zog sic.11 gar auf eine bloße Erforschung der Geschichte der Philosophie zurück. Eine gewisse Gegenströmung gegen diese romantische Bewegung bildete sich unter dem Einfluß der mächtig aufblühenden Naturwissenschaften. Diese waren, wenigstens in ihren mathematischen Teilen, der einzige Zweig der allgemeinen Kultur, der durch die romantische Spekulationsweise nicht in Mitleidenschaft gezogen war. Sie waren schon nach einer zu festen Methode ausgebildet, um durch die alle Dämme der reinen Vernunft überflutende Welle mitgerissen zu werden. Aber diese von der Naturwissenschaft ausgehende Gegenströmung verfiel in dieselbe Einseitigkeit wie die schon früher unter dem Einfluß der Naturwissenschaft in der Philosophie entstandene Bewegung. Sie verfiel dem Materialismus und Naturalismus. Man hoffte, mit Hilfe der Naturwissenschaft alle Fragen lösen zu können, von deren Entscheidung schließlich auch die Regelung des gesellschaftlichen Lebens abhängt, und durch sie, unabhängig von allen Autorit;iten, zu praktischen Normen gelangen zu können. Hierzu sollte dann besonders die neue evolutionistische Biologie dienen. Dieser Materialismus und Naturalismus mußte sich indessen bald überleben, denn er trug den Keim der Selbstzerstörung von vornherein in sich. Dieser Keim der Selbstzerstörung lag nämlich in der kritiklosen empiristischen Grundauffassung von der Methode der Naturforschung. Die Konsequenz dieses unphilosophischen Empirismus ist der Skeptizismus; ein Skeptizismus, der sich am Ende gegen die eigenen Ergebnisse der Naturforschung richten mußte. Er führte in seiner Konsequenz zur Bestreitung der Möglichkeit der Naturerkenntnis überhaupt, und damit zugleich auf der anderen Seite zur Bestreitung der Möglichkeit einer Erkenntnis objektiver Normen in der Ethik.
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Diese skeptischen Konsequenzen treffen daher nicht nur den verfehlten Versuch einer philosophischen Ausbeutung der Naturwissenschaft, sondern sie mußten deren eigene Autorität untergraben. Diese an sich selbst verzweifelnde Wissenschaft mußte daher auch alsbald aufhören, der allgemeinen reaktionären romantischen Bewegung feindlich zu sein. Indem sie auf ihre ursprünglichen Ansprüche verzichtete, zur Erkenntnis der Naturgesetze zu gelangen, hörte sie auf, dem Aberglauben gefährlich zu sein. Denn eine Naturwissenschaft, die nicht die in der Natur wirklich geltenden Gesetze erkennen will, sondern sich darauf beschränkt, Konventionen zu treffen hinsichtlich der Art, wie es für uns zweckmäßig ist, über die Natur zu denken, die also überhaupt darauf verzichtet, über die Natur zu urteilen, wird notwendig mit jedem beliebigen Aberglauben in Eintracht leben können. So zeigt sich denn die reaktionäre Tendenz, die im letzten Grunde diesem im Namen der Aufklärung und der Geistesfreiheit auftretenden Empirismus innewohnt. Sie zeigt sich in aller Deutlichkeit gerade bei denjenigen Schriftstellern, die als die Vertreter der extremsten Linken der modernen Wissenschaft gelten, wie bei dem Mathematiker LE RoY und dem Physiker DuHEM. Von diesen Schriftstellern ist der Konventionalismus auf seine äußerste Spitze getrieben worden: Wenn wir nach den Wahrheiten fragen, die in der Natur gelten, so schweigt die Wissenschaft, die ja weiter nichts als ein Register terminologischer Festsetzungen darstellt. Die Antwort auf solche Fragen gibt uns nicht die Wissenschaft, sondern die Kirche. Diese Auffassung findet sich allerdings so unumwunden nur bei wenigen ausgesprochen, aber die Ursache hierfür liegt nicht etwa in einem sonderbaren Einfall dieser wenigen, sondern in einem groben Mangel an Folgerichtigkeit des Denkens bei den anderen. Die einzig bündige Konsequenz aus dem in der Wissenschaft heute allgemein angenommenen Empirismus ist die Ohnmacht der Wissenschaft in bezug auf die Erkenntnis der Wahrheit. Diese Konsequenz ist für jeden logisch Denkenden so einleuchtend, daß sie sich mehr und mehr durchsetzen muß; was ihr auch um so leichter gelingen wird, als andere Mächte an dieser Entwicklung ein starkes Interesse haben. Es findet hier eine Kapitulation der Wissenschaft vor den äußeren Auto-
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ntaten statt, und heteronome Prinzipien treten wieder das Erbe der sich selbst verachtenden Wissenschaft an. So entsteht eine große rückschrittliche Bewegung, durch die die mehrhundertjährige Befreiungsarbeit der Wissenschaft wieder rückgängig gemacht wird. Man darf sich nicht darüber täuschen, daß diese Änderung der philosophischen Denkweise in praktischer Hinsicht von den tiefgreifendsten Folgen begleitet ist. Ich will insbesondere auf einen Umstand hinweisen, der im allgemeinen noch viel zu wenig beachtet wird, nämlich auf den Einfluß, den die Philosophie der Romantik auf die deutsche Politik des neunzehnten Jahrhunderts gehabt hat. Ich will für diesen Einfluß zwei Beispiele anführen . Die Philosophie ScHELLINGs wurde, namentlich in ihrer späteren mythologischen Form, von seinem Schüler STAHL auf die Rechtslehre und Politik angewandt. STAHL ist in der Geschichte der Politik bekannt als einer der ersten Gründer und Führer der konservativen Partei in Deutschland. Er ist zu dieser Rolle gelangt auf Grund der Geistesrichtung, die er durch den Einfluß der Schellingschen Philosophie erhalten hat. STAHL gibt eine religionsphilosophische Begründung der konservativen oder, wie man damals sagte, der legitimistischen Staatslehre nach den Prinzipien von ScHELLINGs mystischer Philosophie. Er kommt so zu seiner bekannten Lehre vom christlichen Staat, d. h. vom Staat als einer göttlichen Institution, deren Zweck in dem Seelenheil der Menschen liegt. Der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen liegt dabei in einer Polemik gegen den politischen Liberalismus der Aufklärung. Diese Kritik des politischen Liberalismus der Aufklärung besteht bei STAHL darin, daß er immer wieder auf die Leerheit der Reflexion hinweist, auf die Ohnmacht des Verstandes, aus sich heraus eine Gesetzgebung für das gesellschaftliche Leben der Menschen zu erzeugen. In dieser Kritik behält STAHL recht. Es war ein wirklicher Fehler der Aufklärung, daß sie aus der leeren Reflexion einen Gehalt an bestimmten Gesetzen erzwingen wollte. Der Schluß, den STAHL aus dieser Kritik des Liberalismus zieht, ist die Lehre von der Ohnmacht der menschlichen Vernunft; die Lehre, daß, wenn wir nicht der völligen Anarchie verfallen wollen, wir zur Autorität zurückkehren müssen. Die Konsequenz hieraus ist die legitimistische Staats-
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lehre: das monarchische Prinzip und die Lehre vom christlichen Staat. Vergleichen wir damit die ganz andere Staatsauffassung, auf die eine Anwendung der Hegelschen Philosophie führte, die Marxistische. So verschieden die Hegelsche Staatsauffassung von der Stahlsehen ist, so hat sie doch mit ihr das Gemeinsame der Opposition gegen den Individualismus der Aufklärungsphilosophie. Nach HEGEL ist nicht das Individuum, sondern der Staat Selbstzweck. Der Staat ist für ihn nicht nur eine göttliche Institution wie für STAHL auch, sondern in ihm verwirklicht sich die Gottheit selber, und das Individuum sinkt zu dem Range eines bloßen Mittels für den Staatszweck herab. Hiervon ist seine Lehre von der Omnipotenz des Staates eine bloße Folge. Diese Lehre führt auf eine Heteronomie, auf die Unterwerfung des Individuums unter die äußere Norm des »objektiven Geistes«, die in Gestalt des Staates an es herantritt. Die Marxistische Lehre vom Zukunftsstaat scheint durch ihren revolutionären Charakter der Hegelschen und zugleich der Stahlsehen Staatsauffassung gerade entgegengesetzt zu sein. Es ist aber interessant, zu sehen, welche gemeinsamen Züge den Marxismus mit einer Lehre wie der Stahlsehen trotzdem verbinden. Das Gemeinsame der beiden an und für sich so entgegengesetzten politischen Auffassungen liegt in der Kritik des von der Aufklärung überkommenen politischen Liberalismus. Beide setzen diesem Liberalismus, den sie in seiner Konsequenz als Anarchismus erkennen, eine Auffassung entgegen, die das Selbstbestimmungsrecht des Individuums einem inhaltlich bestimmten Staatszweck unterordnet. Beide kommen so zu einem heteronomen politischen Prinzip. Der Unterschied liegt nur darin, daß bei STAHL der Staat vor allem zum religiösen Vormund der Bürger gemacht wird, bei MARX dagegen zum wirtschaftlichen. So zeigt sich hier, daß die beiden einander feindlichen Parteien, die sich heute die politische Herrschaft streitig machen, die konservativ-klerikale und die sozialistische, in ihrer theoretischen Begründung und damit zugleich ihrer historischen Entstehung nach einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben, nämlich in der Reaktion gegen den aus der Aufklärungsphilosophie stammenden individualistischen Liberalismus.
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Der Fehler des Übergangs von der Verwerfung der wirtsd1aftlichen Anarchie zum Postulat des Zukunftsstaates betrifft übrigens glücklicherweise mehr die dialektische Form, in der MARX seine politischen Lehren begründet, als die ihm als Politiker eigentlich am Herzen liegenden praktischen Forderungen. Sowie er zu diesen übergeht, greift er zu Forderungen der Vernunft und nidit des Verstandes. Wenn er den Zusammenschluß der Leidenden und der Denkenden zu einer politischen Kampfgemeinsdiaft verlangt, so durchbricht dabei offenbar sein Gereditigkeitsgefühl die Schranken seines philosophischen Systems. Die Gerechtigkeit ist eine Forderung der Vernunft, die auf keine Weise aus dem Hegelschen Staatsbegriff folgt. Um die Gereditigkeit aber, und nicht um den Staatsbegriff ist es MARX eigentlich zu tun. Wenn er daher nicht bei diesem Staatsbegriff stehenbleibt, zeigt er nur um so eindringlidier dessen Unzulänglichkeit und die Notwendigkeit, inhaltlich bestimmte Grundsätze aus der menschlichen Vernunft zum Aufbau eines politischen Systems heranzuziehen. Wie weit indessen dennoch die verhängnisvollen Folgen jenes philosophisdien Irrtums reichen, zeigt ein Blick auf das Mißverhältnis zwischen dem gewaltigen Anwachsen der Sozialdemokratie und der Armlichkeit ihrer tatsächlichen politischen Erfolge, zeigt ein Blid1: auf das Erfurter Parteiprogramm, dessen Zwiespältigkeit in theoretisdier und praktischer Hinsicht sich in dem die Parteieinheit zerrüttenden Risse widerspiegelt. Es ist jene unfruditbare, zum Parteidogma erstarrte Dialektik, die aller gesunden realpolitisdien Wirksamkeit den Weg vertritt, die besten Geisteskräfte im Innern in ödem Gezänk über Ketzerriditereien aufreibt und die Stoßkraft der Partei nadi außen lähmt. Die Vergötterung des Staates, wie sie sich bei HEGEL findet und von vielen Staatsreditslehrern bis auf die Gegenwart geteilt wird, führt nicht nur bei konsequenter Anwendung in der inneren Politik zur Unterdrückung alles individuellen Lebens, sondern hat audi auf die Beziehungen zwisdien den einzelnen Staaten den verderblidisten Einfluß. Man erklärt, die Souveränität liege im Begriff des Staates, und ein Eingriff in diese Souveränität - der hiernadi eigentlidi ein logisdier Widersprudi und also gar nidit möglidi wä-
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re - stelle ein Verbrechen gegen die göttliche W cltordnung dar. Eine derartige Auffassung macht natürlich alle rechtliche Regelung der Beziehungen zwischen den Völkern unmöglich, da es ein Recht ohne Beschränkung der Freiheit der einzelnen bei Staaten ebensowenig wie bei Individuen geben kann. Die Souveränität des Staates, die ja den höchsten Zweck vorstellen soll, kommt im Gegenteil nie so deutlich zum Ausdruck wie im Kriege mit anderen Staaten. Weshalb es denn nur konsequent ist, wenn ein gegenwärtiger Vertreter des Völkerrechts an einer deutschen Hochschule sich nicht scheut, den Krieg geradezu als das soziale Ideal zu proklamieren. 1 Bewunderungswürdig ist freilich die Fülle scharfsinniger Organisationsarbeit, die den modernen Staat zu seiner riesenhaften Machtfülle geführt hat. Aber die Bedeutung dieser Macht erschöpft sich in dem seelenlosen Zweck, einer ebensolchen Macht anderer Staaten das Gleichgewicht zu halten. Und je mehr sich alle Energie des Staates nach außen richtet, um so weniger Kraft bleibt für das innere Leben des Staates übrig, dafür, diesen Staat kulturell so auszubauen, daß er es auch wirklich wert ist, mit einem so riesenhaften Aufwand von Macht und unter so ungeheuren Opfern verteidigt zu werden. Die Ausbildung des Mutes und der Tapferkeit auf militärischem Gebiet ist keineswegs gleichbedeutend mit einer Steigerung der geistigen Selbständigkeit und der moralischen Tapferkeit im innerpolitischen Leben. Es war bekanntlich BISMARCK, der diese ausdrücklich als »Zivilcourage« von jenen unterschieden hat. Daß die Völker alle irgend verfügbaren Kräfte in immer steigendem Maße dazu verbrauchen, sich gegenseitig in Schach zu halten, muß den gemeinsamen Feinden ihrer geistigen Freiheit über kurz oder lang die Herrschaft in die Hände spielen, wenn die Entwicklung in dieser Richtung ungehindert ihren Fortgang nimmt. Nur wenn die Völker der europäischen Kulturgemeinschaft sich zum gemeinsamen Kampf zusammenschließen, ist auf eine günstige Wendung des Kampfes um die Kultur noch zu hoffen. 1
Erich Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie stantibus 1911.
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Daß der Mystizismus auf religiösem Gebiete bei konsequenter Durchführung zu einem blinden Autoritätsglauben führen muß, habe ich schon vorhin gezeigt. Man muß in der Tat mit Blindheit geschlagen sein, um nicht die seit dem Einsetzen der romantischen Bewegung immer mächtiger anschwellende Erstarkung des Klerikalismus zu sehen. RANKE glaubte noch in seiner »Geschichte der Päpste« (1834 ), dem Papsttum eine bloß historische Bedeutung für die europäischen Völker zuschre;ben zu dürfen. Heute, im Zeitalter des Antimodernismus, genügt es, auf den wachsenden Einfluß des Jesuitismus und die ausschlaggebende Rolle des Ultramontanismus in den Volksvertretungen hinzuweisen, um jedem, der nicht die Augen dagegen verschließt, das stetige und sichere Fortschreiten der Fesselung der Gewissen vor Augen zu führen. Alle diese Bestrebungen, die notwendige Einschränkung der individuellen Freiheit auf Autoritäten zu gründen, bedrohen zugleich jede Geistesfreiheit überhaupt mit der Vernichtung. Die entgegengesetzte Weltanschauung bietet zwar hieraus einen Ausweg. Indem sie aber jede allgemeine Verbindlichkeit leugnet, verfällt sie in den entgegengesetzten Fehler und treibt ihre Anhänger am Ende nur wieder ins Lager der Autorität hinüber. Die Forderung uneingeschränkter Freiheit führt auf politischem Gebiet bei konsequenter Durchführung zum Anarchismus. Um vor dieser verzweifelten Konsequenz wenigstens ein Stück Recht zu retten, ist man auf den Ausweg verfallen, das Recht auf den Willen aller einzelnen selbst zu gründen: Was das Volk selbst, unmittelbar oder durch seine gewählten Vertreter, beschließt, wird dadurch zum Recht. Die Demokratie als Regierungsform ist gleichbedeutend mit der Durchsetzung des Rechts. Eine Volksvertretung kann hiernach gar nicht ungerecht handeln; denn ihr Beschluß ist ja gerade der einzige Prüfstein alles Rechts. Man braucht das Prinzip dieser Doktrin nur hinreichend deutlich auszusprechen, um seinen Widersinn in die Augen springen zu lassen. Trotzdem herrscht es in den weitesten Kreisen als unbestrittenes Dogma; und wer das Prinzip angreift, zieht sich leicht den Namen eines Kulturfeindes und Volksunterdrückers zu. Und doch ist es oft gerade dieses Prinzip, das einer wirksamen Bekämpfung schwerer sozialer und kultureller Schäden
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im Wege steht, da sie durch die Zustimmung des Volkes angeblich sanktioniert werden. Es bedarf schon eines ungetrübten Blickes und sicheren Urteils, um einzusehen, daß ein Parlamentsbeschluß, der die Geistesfreiheit eines Volkes preisgibt, bloß ein historisches Dokument der Schmach und rechtlich nichtig ist, und daß alle Volksvertretungen der Welt ein soziales Unrecht nicht zu Recht machen können. Die uneingeschränkte Freiheit führt auf wirtschaftlichem Gebiet zum sogenannten Manchestertum, das jeden staatlichen Eingriff in das Wirtschaftsleben verwirft. Unter der Herrschaft dieser wirtschaftlichen Doktrin überließ man im Namen eines angeblichen Rechtes der freien Konkurrenz Hunderttausende von Arbeiterfamilien der Ausbeutung und dem Elend. Die Abweichungen von diesc'f'n Prinzip, vor allem die sozialen Reformen, sind nid1t der Einsicht in die Unhaltbarkeit dieses Prinzips und der Anerkennung des Grundsatzes der sozialen Gerechtigkeit zuzuschreiben, sondern lediglich dem gegen das Prinzip sich schließlich durchsetzenden Druck der tatsächlichen Verhältnisse. Was die sozialen Reformen ermöglicht hat, ist nicht die bessere Einsicht der Staatsmänner in ein richtiges Prinzip, sondern allein die handgreifliche, gefahrdrohende Not der Massen. Diese Not ließ sich durch keine dialektischen Künste oder überlieferten Dogmen mehr wegdisputieren, und der von ihr ausgehende Zwang war am Ende stärker als alle Doktrinen. Um sich ihm zu fügen, bedurfte es keines besonderen Nachdenkens, geschweige denn der Unterstützung seitens der Philosophie. Aber die fürchterlichen Opfer, mit denen das verspätete Einlenken erkauft wurde, hätten der Menschheit erspart werden können, wenn man beizeiten den Lehren einer vernünftigen Philosophie Gehör geschenkt hätte. Ganz anders liegt die Sache, wo es sich um Werte des menschlichen Lebens handelt, die weniger sinnfällig zutage treten, vor allem um die freie Entwicklung des geistigen Lebens, deren Wert überhaupt erst auf einer gewissen Stufe der Bildung eingesehen werden kann und die daher vor Erlangung dieser Bildung des besonderen Schutzes bedarf. Das Bewußtsein um diese unveräußerlichen Güter bei den Menschen wachzurufen und wachzuerhalten, ist die vornehmste Pflicht der Philosophie unserer Zeit.
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In diesem Kampf gerät sie wieder mit der falschen Freiheitsdoktrin in Konflikt. Denn auf kulturellem Gebiet führt diese Doktrin zu einem Prinzip der Toleranz gegenüber der Verbreitung aller Lehren, [mögen sie noch so offensichtlich verbrecherischer Natur sein,p ja sogar zur Duldung der ihr entgegengesetzten Fesselung der Gewissen mit Hilfe des Autoritätsprinzips. Dieser Doktrin zuliebe hat man es geduldet, daß der Jesuitenorden, nachdem er bereits aufgehoben war, im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts zu einer früher nie erreichten Bedeutung und Macht gelangt ist, und bald werden wir wohl in Deutschland die letzten Überreste des einst gegen ihn errichteten Bollwerkes schwinden sehen. [Einern gewöhnlichen Verbrechen, einem Diebstahl oder Morde gegenüber verläßt selbst der fanatischste Freiheitsdoktrinär sein Prinzip zugunsten seines gesunden Rechtsgefühls, denn das Unrecht ist hier zu empfindlich spürbar, als daß man die Augen dagegen verschließen könnte. Wenn aber Hunderte von Millionen mit List um den Wert und die Schönheit ihres Lebens betrogen werden, wenn mit Hilfe jahrhundertelanger, scharfsinniger Organisationsarbeit ihr Gewissen geknechtet, ihre Seele gemordet und ihr Leben geschändet wird, ohne daß sie das Unrecht empfinden, weil sie überredet werden, eben das bedeute ihre wahre Freiheit und das Heil ihrer Seele - dann beruft sich der Vertreter der Toleranz auf das Prinzip »volenti non fit iniuria« und schaut mit verschränkten Armen zu. Denn das Bedürfnis nach geistiger Freiheit ist ja im Bewußtsein der unglücklichen Opfer noch nicht erwacht, ihr Verstand hat diese Idee nicht in sich aufgenommen - also haben sie auf Gedankenfreiheit keinen Anspruch, wohl aber ihre Hirten auf die Freiheit, ihnen die Freiheit zu rauben. So läßt es das Prinzip der anarchischen Freiheit zu, daß die Menschen zu einer Herde zusammengetrieben werden. p Aus demselben Prinzip des »laisser faire, laisser aller« geht mit Notwendigkeit die internationale Anarchie hervor, die den wahnsinnigen Satz »Si vis pacern, para bellurn« als der Staatsweis* Die durch Klammern bezeichneten Stellen wurden während des ersten Weltkrieges durch die militärische Zensur gestrichen.
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heit letzten Schluß einem technisch ebenso vollkommenen wie philosophisch irregeleiteten und ethisch desorientierten Zeitalter hat aufdrängen können. Wenn es keine von der Willkür unabhängigen Rechtsnormen gibt, ist in der Tat nicht einzusehen, auf welcher Grundlage sich ein wirkliches Völkerrecht errichten ließe, und wie es, selbst wenn seine Gesetze einmal feststünden, zu wirksamer Geltung gebracht werden könnte. Es bleibt nur übrig, keinen Staat in seiner Souveränität zu beschränken und es damit dem Zufall zu überlassen, wie die Völker ihre Interessenkonflikte ausgleichen. Tatsächlich geschieht dies daher in der Regel durch angedrohte oder offene Gewalt, und es ist nur ein gütiges Geschenk des Schicksals an die Menschheit, daß sie überhaupt Zeiten erlebt, in denen der Krieg nicht offen ausgetragen, sondern nur angedroht und vorbereitet wird. Es ist lediglich ein glückliches Spiel des Zufalls, daß die sittliche Entwicklung der Menschheit hinter dem Ausbau der Kriegstechnik nicht noch mehr zurücksteht. So groß auch die Schuld einzelner hier sein mag, so ist es doch nicht abzustreiten, daß in dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle dem tragischen Dilemma zufällt, in das uns eine törichte Philosophie verwickelt hat. Solange die Menschheit die Vernunft mit dem bloßen Verstande verwechselt, solange sie nur die Wahl zu haben glaubt, ob sie dem Gebot eines höheren Willens ihre Freiheit zum Opfer bringen oder sich in ihrem Wahrheitsbedürfnis durch die leere Logik abspeisen lassen soll, solange sie in Gewissensnot zwischen Autorität und Skepsis hin und her getrieben und zerrüttet wird, eben so lange wird auch eine wahrhafte und befreiende Lösung ihrer Probleme eine Utopie bleiben. Erst wenn man, nicht nur hier und da unter dem Druck der zufälligen Umstände, sondern bewußt und allgemein der Vernunft im Leben der einzelnen und der Völker die Führung anvertraut, wird es möglich werden, daß die Menschheit ihre Vervollkommnung selbst in die Hand nimmt und den Beweis ihrer Mündigkeit erbringt. Freilich liegen die notwendigen Erkenntnisse dunkel in der menschlichen Vernunft, und es bedarf ernster und ehrlicher Arbeit des Verstandes, um sie zur Klarheit des Bewußtseins zu erheben. Diese Arbeit ist die Aufgabe der Philosophie, wie sie von FRIES klar und deutlich ausgesprochen worden ist. Wie tief die Platoni-
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sehe und die Friessche Philosophie in ihrem innersten Wesen verwandt sind, erkennen wir an der königlichen Stellung, die PLATON der Philosophie in seinem Idealstaate einräumt und die ihr mit Notwendigkeit zufallen muß, wenn einmal die klare Friessche Lehre von der menschlichen Vernunft zur allgemeinen Anerkennung gelangt ist. Die Philosophie der Romantiker und ihrer Epigonen hat in dem Jahrhundert ihrer Herrschaft ihre Unfruchtbarkeit und Ohnmacht genugsam bekundet. Sie hat den Anspruch verwirkt, daß ihr die Führung im wissenschaftlichen und öffentlichen Leben noch einmal anvertraut werden könnte. Sie hat sich durch ihre Unfruchtbarkeit in bezug auf alle ernsten, die denkende und handelnde Menschheit bewegenden Fragen selbst ihr Urteil gesprochen. Sie hat auf den großen Beruf verzichtet, der der Philosophie in der Geschichte der Menschheit zukommt, auf ihren Beruf als Beschützerin der Geistesfreiheit und als Hüterin der Autonomie der Vernunft. Ein Ausweg ist hier nur möglich durch die Rückkehr zur kritischen Philosophie, nur möglich dadurch, daß man den Grundfehler beseitigt, der in der Nichtunterscheidung der Vernunft von der Reflexion liegt. Die Aufklärung dieses Unterschiedes ist der Ausgangspunkt der großen Reform der Philosophie, die FRIES begründet hat, und es kommt nur darauf an, dieser Friesschen Entdeckung allgemeines Verständnis und allgemeine Anerkennung zu verschaffen, um den wirklichen Mangel der Aufklärungsphilosophie zu beheben und damit zugleich die Wurzel der durch ihn veranlaßten reaktionären Gegenbewegung zu zerstören, unter deren wachsendem Einfluß wir noch heute stehen. So soll uns die kritische Philosophie wieder dazu verhelfen, gegenüber allen falschen Lehren von der Ohnmacht der menschlichen Vernunft eine Lehre des Selbstvertrauens der Vernunft in ihre Rechte einzusetzen.
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Erschienen im Sammelband: LEONARD NELSON, Die Reformation der Philosophie durch die Kritik der Vernunft. Leipzig Der Neue GeistVerlag, 1918, S. 7-39 (die Abschnitte dieser Arbeit beginnen dort auf den folgenden Seiten: 1 auf S. 10; II auf S. 12; m auf S. 22; IV auf S. 27; v auf S. 32; VI auf S. 36) In den Gesammelten Schriften steht diese Arbeit im Band I, S. 219-245 .
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Der Name der Philosophie hat für viele einen schlechten Klang. Den einen bedeutet sie ein wirklichkeitsfremdes Grübeln, das vielleicht im alten Griechenland oder im fernen sagenhaften Indien am Platze sein mochte, das aber im Zeitalter einer zu den höchsten Leistungen gesteigerten Zivilisation als eine wenn nicht störende, so doch unnütze Geistesbeschäftigung erscheinen muß. Andere wiederum mögen sich mit dem Philosophen nicht einlassen, weil ihnen sein Geschäft der Unwissenschaftlichkeit verdächtig ist, eines haltlosen Spekulierens, dessen Ergebnisse besonnener Kritik nicht standhalten. Zwar hat die Mißachtung der Philosophie ihren Höhepunkt schon überschritten. Man beginnt in weiten Kreisen wieder, philosophischen Fragen ein Interesse abzugewinnen. Allenthalben regt sich das Bedürfnis nach einer einheitlichen Welt- und Lebensansicht. Allein, wenn auch dieses Bedürfnis nach Philosophie, das vor allem ein Bedürfnis nach innerem Halt und nach einem Richtmaß für die Gestaltung des persönlichen Lebens ist, vermöge seiner Allgemeinheit ahnen läßt, welche Bedeutung der Philosophie im Ganzen des Menschenlebens zukommen könnte, und wenn es ihr wenigstens wieder einen Schimmer ihrer einstigen Würde zurückzugewinnen vermag, so stehen doch die Männer der Wissenschaft dem Gebaren der Philosophen noch argwöhnisch gegenüber und machen diesen den Platz in ihrer Mitte streitig. Denn in den mannigfachen und oft wunderlichen Formen, in denen sich der philosophische Trieb äußert, und in dem planlosen Umhertappen nach philosophischer Wahrheit ist nichts einer Methode Verwandtes zu erkennen, wie eine solche längst Kennzeichen der anderen Wissenschaften ist und wie sie in der Tat gefordert werden muß, wenn der Name der Wissenschaft zu einem Rechtstitel werden soll. Was ist denn nun aber das Wesen dessen, was wir als Philosophie bezeichnen und von dem hier gefragt wird, ob ihm eine Stelle unter den Wissenschaften gebührt? In der Tat, will man sich nicht in leeres Wortgefecht verlieren, so muß man sich zu allererst darüber verständigen, welchen Sinn man mit dem Wort »Philosophie« verbindet. Denn wenn der eine dies, der andere jenes darunter versteht, so ist es nicht zu verwundern, daß keine Einigung gelingt.
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Der Gehalt der Philosophie, wenn es eine gibt, muß Wahrheit sein. Es ist aber nicht umgekehrt jede Wahrheit philosophisch. Denn auch die getreue Wiedergabe einer Beobachtung enthält Wahrheit, und wahr sind auch die Lehrsätze der Mathematik. Die philosophische Wahrheit muß also durch irgend etwas gegenüber anderen Wahrheiten ausgezeichnet sein. Dies Auszeichnende kann aber lediglich darin gefunden werden, daß sie uns nur durch Nachdenken klar wird. Eine Erkenntnis, die unabhängig vom Nachdenken klar ist, nennen wir nicht philosophisch. Jede Erkenntnis hingegen, die nur durch Nachdenken klar wird, ist philosophischer Art. Es gibt aber zweierlei Arten, eine Wahrheit durch Denken zu finden. Das eine Mal denken wir von einem Gegenstand nichts anderes, als was schon in seinem Begriff enthalten ist. D . h. das Prädikat, durch das wir den Gegenstand denkend bestimmen, könnte nicht weggedacht werden, ohne daß dadurch der Begriff des Gegenstandes aufgehoben würde. Von solcher Art ist z. B. die Erkenntnis, daß 2 eine gerade Zahl ist, oder daß die Pflicht nicht verletzt werden darf. Denn die 2 ist definiert als die Verdoppelung der 1, und gerade heißt jede Zahl, die das Doppelte einer ganzen Zahl •ist. Darum läßt sich nicht ohne Widerspruch denken, die 2 sei ungerade. Ebensowenig läßt sich, ohne den Begriff der Pflicht selbst aufzuheben, denken, es sei erlaubt, die Pflicht zu verletzen . Solche Urteile nun, die keine über den Begriff ihres Gegenstandes hinausgehende Erkenntnis enthalten, nennen wir analytisch. Und derjenige Teil der Philosophie, der nur analytische Urteile enthält, heißt Logik. Alle anderen Urteile, diejenigen also, durch die wir einem Gegenstand ein Prädikat beilegen, das nicht schon in seinem Begriff enthalten ist, heißen synthetisch. Z.B. das Urteil: »die Rose hier ist weiß«, ist ein synthetisches Urteil. Denn es läßt sich denken, daß die Rose hier nicht weiß wäre. Ebenso ist das Urteil: »die gegenüberliegenden Seiten eines gleichseitigen Vierecks sind parallel« synthetisch. Denn die Parallelität der gegenüberliegenden Seiten folgt nicht aus dem bloßen Begriff des gleichseitigen Vierecks.
I. Logik und Metaphysik
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Nun könnte der Schein entstehen, und die Täuschung hat in der Tat bis auf KANT geherrscht, daß philosophische Urteile immer analytisch sein müßten. Denn alle gedachte Erkenntnis ist Erkenntnis durch Begriffe, und eine Erkenntnis scheint daher nur insofern philosophisch sein zu können, als sie aus Begriffen geschöpft ist. Indessen, wenn auch alle analytischen Urteile im erklärten Sinne des Wortes philosophisch sind, so gilt doch nicht, daß umgekehrt alle philosophischen Urteile analytisch sein müßten. Denn etwas anderes ist es, daß eine Erkenntnis nur durch Denken klar wird, etwas anderes, daß sie ihrem Grund in bloßem Denken hat. Und darum liegt nichts Unmögliches in synthetischen Urteilen philosophischen Charakters. Und solche gibt es wirklich; ja sie sind einem jeden von uns so vertraut, daß wir uns gerade darum nicht leicht von ihnen Rechenschaft geben. So setzen wir beim einfachsten Erfahrungsurteil voraus, daß kein e Veränderung ohne Ursache geschieht. Dieser Satz drückt eine philosophische Wahrheit aus; denn er läßt sich offenbar nicht der Anschauung entnehmen. Und doch ist er synthetisch; denn im bloßen Begriff der Veränderung liegt nichts, woraus die Notwendigkeit einer Ursache folgte. Oder, um ein ganz anderes Beispiel zu nennen: wenn wir die Strafwürdigkeit eines Verbrechens behaupten, so sprechen wir wiederum ein philosophisches, und zwar synthetisches Urteil aus. Denn diese Behauptung läßt sich weder auf Anschauung gründen, noch liegt im Begriff des Verbrechens, d . h. einer Gesetzesübertretung, irgend etwas von der Rechtmäßigkeit der Bestrafung. Die philosophischen synthetischen Urteile nennen wir kurz metaphysisch. Die Philosophie zerfällt also, gemäß dem Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile, in Logik und Metaphysik. Die Metaphysik macht den eigentlichen Gehalt der Philosophie aus, weil nur durch synthetische Urteile eine Erweiterung der Erkenntnis über bloße Begriffe hinaus möglich ist. Weshalb wir denn auch vornehmlich die Metaphysik im Auge haben, wenn wir die Möglichkeit einer philosophischen Wissenschaft erwägen.
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Von der Kunst, zu philosophieren II
Diese Frage gewinnt eine ganz verschiedene Bedeutung, je nach dem Interesse, das uns überhaupt zu der Beschäftigung mit der Philosophie führt. Einmal nämlich interessiert uns die Wahrheit eines philosophischen Satzes um der Bedeutung willen, die sie für unsere Welt- und Lebensansicht hat. Andererseits fragen wir nadi dem Zusammenhang, in dem die philosophischen Wahrheiten untereinander stehen, und nach den Quellen, aus denen wir die Einsidit in sie schöpfen. So interessiert uns die Wahrheit des Satzes, daß jede Veränderung eine Ursache hat, weil wir danach beurteilen können, ob im Ablauf des Naturgeschehens ein Wunder möglich ist. Es interessiert uns in ähnlicher Weise, zu wissen, daß Verbrechen straf würdig sind, weil mit der Wahrheit dieses Satzes alle Einrichtungen des Strafrechts stehen und fallen. Andererseits aber ist es uns nicht genug, der Wahrheit eines solchen Satzes gewiß zu sein und uns in der Anwendung darauf zu verlassen, sondern wir suchen auch nach dem Ursprung dieser Gewißheit, nach Gründen, auf die wir uns berufen können, um sie gegen einen möglichen Zweifel sicherzustellen. Es entsteht hier die Frage, ob und woraus sich eine solche Wahrheit beweisen läßt oder, wenn nicht, auf weldie andere Weise über sie entschieden werden kann. Das Interesse, das nur die Resultate betrifft, entspringt unmittelbar aus dem Interesse an der Lösung der Probleme, die uns das Leben selber stellt. Wir verlangen von der Philosophie, daß sie uns zur Beurteilung der Tatsachen des Lebens die Regeln gibt, deren wir bedürfen, um überhaupt besonnen handeln zu können. Solche Besonnenheit erfordert, daß wir Einsicht in die letzten Zwecke und Ziele des menschlidien Lebens haben. Und eben diese Zwecke soll uns die Philasophie kennen lehren. Ihre hödiste Aufgabe wird also stets auf praktischem Gebiete liegen: in der Ethik als praktisdier Metaphysik. Diese Aufgabe können wir mit SOKRATES dadurch bezeichnen, daß wir sagen, die Philosophie solle uns die ungeschriebenen Gesetze aufzeigen, d. h. die Gesetze, die unabhängig von aller
II. Wahrheit und Wissenschaft
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Autorität und Tradition gelten, die uns vielmehr durch die menschliche Vernunft selbst vorgezeichnet sind. Durch diese Beziehung zum Leben ordnet sich denn auch die Philosophie ihrerseits, wie andere Lebenserscheinungen, in das Ganze des menschlichen Lebens ein, und insofern läßt sie sich wie jene vom allgemeinen kulturgeschichtlichen Standpunkt aus betrachten und beurteilen. Das andere Interesse, nämlich das an der Begründung der philosophischen Wahrheit, ist das eigentlich wissenschafl:liche Interesse an der Philosophie. Denn Wissenschaft wird die Philosophie noch nicht dadurch, daß sie Wahrheit enthält, sondern es gehört dazu, daß sie die Urteile, deren Wahrheit sie behauptet, auch begründet. Man kann das Geschäft der Begründung einer philosophischen Lehre kurz als »Dialektik~ bezeichnen. Diese umfaßt dann alle Mittel, deren es zur wissenschafl:lichen Sicherstellung einer allgemeinen Welt- und Lebensansicht bedarf. Wenn nun auch die Philosophie, als Welt- und Lebensansicht verstanden, zur Dialektik im Verhältnis des Zwecks zum bloßen Mittel steht, so ist doch für die Philosophie als Wissenschaft die Wahl und Handhabung dieses Mittels von so entscheidender Bedeutung, daß wir zunächst unser Augenmerk ausschließlich diesem Mittel zuwenden müssen. Wollen wir nämlich zu einer begründeten Welt- und Lebensansicht gelangen, so muß unsere erste Sorge der Ausbildung der Kunst, zu philosophieren, gelten, d. h. der Erfindung der Methoden zur Zurückführung der philosophischen Urteile auf ihre letzten Gründe. Daher gilt es, sich vor der voreiligen Systemsucht zu hüten, die immer fertig sein will, weil sie die Mühe jener Arbeit scheut, und uns doch nur den Weg verfehlen läßt, dessen Zurücklegung unerläßlich ist, wenn Philosophie als Wissenschaft zustande kommen soll. Man hat freilich gelegentlich auch den Fehler begangen, über der Wertung der Methode des Philosophierens den letzten Zweck der Philosophie zu vernachlässigen. So ist es in einigen Schulen üblich geworden, auf das, was man dort »Weltanschauungsphilosophie« nennt, verächtlich herabzusehen, wobei man sich von der Meinung leiten läßt, eine Weltanschauung gehöre nicht in den Bereich der
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Von der Kunst, zu philosophieren
Wissenschaft, und Philosophie als strenge Wissenschaft müsse alle Absichten, die auf die Gewinnung einer Weltansicln gerichtet sind, von der Hand weisen. Diese Ansicht von der Unmöglichkeit einer wissenschaftlich begründeten Weltansicht beruht aber ihrerseits auf einer durchaus willkürlichen Behauptung und greift der Philosophie als Wissenschaft in unrechtmäßiger Weise vor. Denn ehe nicht der Unmöglichkeitsbeweis dafür erbracht ist, daß man auf dem Wege einer strengen Wissenschaft zu einer klaren und festen Welt~nsicht gelangen kann, steht es mit dem Urteil derer, die diese Unmöglichkeit behaupten, um nichts besser als mit der gegenteiligen Behauptung. Man kann aber auch nicht etwa damit zugunsten jener Behauptung argumentieren, daß man sich auf das angebliche Scheitern aller bisherigen Versuche zur wissenschaftlichen Begründung einer Weltansicht beruft. Denn wenn auch eine solche Argumentation für den oberflächlichen Betrachter etwas Bestechendes haben mag, so wird doch im Ernst niemand schließen, daß darum, weil etwas bisher nicht existiert hat, es auch in Zukunft nicht wirklich werden könnte. Allerdings, wenn man auf dem pessimistischen Vorurteil besteht, das einer solchen Schlußweise entspricht, so wird man auch recht behalten: das bisher Unverwirklichte wird in alle Ewigkeit unverwirklicht bleiben. Man hat sich dieses Ergebnis aber nur selbst zuzuschreiben. Denn da hier der fragliche Erfolg nur von den eigenen Anstrengungen des menschlichen Geistes abhängt, das unmöglich Scheinende verwirklichen zu wollen aber selbst unmöglich ist, so trägt jener Unglaube die Schuld daran, wenn das Ziel, das man gar nicht erstreben kann, auch nicht erreicht wird. Auch die Physik, der Stolz der Wissensd1aft unserer Tage, ist nur darum möglich geworden, weil man sich entschlossen hat, mit einem Unglauben zu brechen, der sich unter dem Eindruck einer jahrtausendealten Erfahrung in den Geistern befestigt hatte. Und dieser grundsätzliche Entschluß genügte auch dort noch nicht, um der Wissenschaft einen geradlinigen Fortgang zu sichern. Der Schwierigkeiten blieben genug, die das Selbstvertrauen der menschlichen Erkenntniskraft auf immer neue Proben stellten. Die
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Probleme wurden nicht von heute auf morgen gelöst. Die Geschichte der naturwissenschafl:lichen Theorien besteht in einer fortlaufenden Reihe von Versuchen, die nur durch schrittweise Annäherung an die Wahrheit und auf dem Umweg über mannigfache Irrtümer allmählich besser gelangen. Wenn nun auch die Vervollkommnung der Wissenschafl: nur auf dem Wege über mehr oder weniger mangelhafte Begründung gelingt, so ist doch damit nicht gesagt, daß die vorläufigen Darstellungen, die die Wissenschafl: zu durchlaufen genötigt ist, in ihren Ergebnissen irrig sein müßten. Denn ein unzulänglich begründetes Ergebnis braucht darum doch noch nicht falsch zu sein. Es verhält sich vielmehr im allgemeinen so, daß die Entdeckung neuer Wahrheiten der Ausbildung der zu ihrer Begründung erforderlichen Methoden voraneilt. Die Geschichte der Erfahrungswissenschaften und der Mathematik ist reich an Beispielen dafür, wie sich das Genie der großen Forscher gerade darin zeigt, daß sie Entdeckungen zutage fördern, deren Wahrhfit zu begründen sie selbst außerstande sind und für deren Begründung die methodischen Mittel, über die ihre Zeit verfügt, überhaupt nicht hinreichen. In der Regel sind es erst die Schüler und Nachfolger des Meisters, denen das Werk dieser Begründung gelingt. Den genialen Forscher leitet ein Wahrheitsgefühl, das ihn weiter und sicherer führt als die schulgerechte Anwendung methodischer Regeln. Mit diesem Wahrheitsgefühl begabt, nimmt er Ergebnisse vorweg, zu denen sich die nicht mit dieser Gabe Begnadeten ofl: nur durch die vereinigte methodische Arbeit von Generationen den Weg bahnen. Wollte man solche Ergebnisse, weil sie unzulänglich begründet sind, als für die Wissenschafl: belanglose Einfälle beiseite schieben, so würde man damit zugleich auch die strengen Begründungsmethoden ihres fruchtbarsten Anwendungsfeldes berauben. Denn die durch das Wahrheitsgefühl vorweggenommenen Entdeckungen gehen nicht nur zeitlich der Erfindung der Begründungsmethoden voran, sondern weisen diesen auch Ziel und Richtung ihrer Ausbildung. »Meine Resultate habe idi längst, ich weiß nur noch nicht, wie idi zu ihnen gelangen werde«, hat GAUSS gesagt.
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KEPLER hätte - nach einer treffenden Bemerkung POJNCARES seine berühmten Gesetze niemals entdecken können, wenn er mit den uns heute zur Verfügung stehenden Beobachtungsmitteln ausgerüstet an seine Aufgabe herangetreten wäre. Die von KEPLER benutzten Beobachtungen TYCHO DE BRAHES waren nämlich hinreichend ungenau, um ihn auf Resultate kommen zu lassen, die zwar nicht streng richtig waren, aber gerade darum den \VIeg zu den größten Fortschritten der Astronomie gebahnt haben. Denn wäre man von Anfang an auf exakte Beobachtungen angewiesen gewesen, so hätte man gleich vor so verwickelten Verhältnissen gestanden, daß diese Fortschritte schwerlich jemals möglich geworden wären. Ein anderes Beispiel bietet uns die Geschichte der Infinitesimalrechnung. Wenn diejenigen, die tatsächlich die Schöpfer dieser Wissenschaft geworden sind, mit unseren heutigen Anforderungen an Schärfe der Beweisführung zu Werke gegangen wären, so kann man sicher sein, daß wir von der Infinitesimalrechnung auch heute noch nichts wüßten. Denn die Schwierigkeit, den Aufbau dieser Disziplin sogleich beim ersten Versuch nach jenen strengen Anforderungen zu vollführen, wäre unüberwindlich gewesen. Man kann aber noch viel weiter gehen und behaupten, daß auch die heutige Wissenschaft in ihren methodisch am vollkommensten ausgebauten Teilen der Kritik nicht standhalten könnte, die man an sie anlegen müßte, wenn man den logischen Purismus auf die Spitze treiben und jeden nicht mit absoluter Strenge begründeten Satz in der Wissenschaft für verbotene Ware erklären wollte. Was dies für das Schicksal der Wissenschaft bedeuten würde, kann man daraus ersehen, daß selbst die einfachsten Grundsätze der Arithmetik, auf denen das Einmaleins beruht, dann preisgegeben werden müßten. Denn man muß zugeben, daß die Lehre von den ganzen Zahlen bis zur Stunde der letzten Strenge der Begründung entbehrt. So gilt es auch in der Philosophie, sich zunächst mit vorläufigen und nur allmählich sich vervollkommnenden Lösungen der Probleme zu bescheiden. Denn wenn wir das Ziel zu hoch stecken, wenn wir darauf bestehen, uns nur mit durchaus abgeschlossenen Lösun-
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gen zu befassen, so verschließen wir uns selbst den einzigen Weg, auf dem wir jemals zur Wahrheit gelangen könnten. Die Geschichte der Philosophie bietet in der Tat zahlreiche Beispiele dafür, wie der wissenschaftliche Fortschritt dadurch aufgehalten wird, daß die Schüler eines großen Philosophen seine Entdeckungen darum preisgeben, weil sie noch nicht hinlänglich begründet sind. Ein klassisches Beispiel dieser Art ist das Schicksal der Platonischen Ideenlehre. Diese Lehre ist von P1.ATONS Schüler ARISTOTELES preisgegeben worden, weil er ihre Begründung als unzureichend erkannte. Dadurch ist die Entwicklung der Philosophie um einen so gewaltigen Fortschritt betrogen worden, daß zwei Jahrtausende nicht hingereicht haben, um das vom rechten Wege abgeirrte Denken wieder in die ihm durch PLATON gewiesenen Bahnen zu lenken. Erst KANT ist es gelungen, mit der Entdeckung des transzendentalen Idealismus der Platonischen Ideenlehre eine wissenschaftliche Begründung zu geben. Aber gerade die Geschichte dieser Entdeckung bietet uns nur die Wiederholung des gleichen Schauspiels. Die Neigung, die Wahrheit einer Entdeckung nach der Strenge ihrer Begründung zu beurteilen, ist für diese K:mtische Lehre zur Ursache desselben Mißgeschicks geworden. KANTS tiefsinnige Begründung des transzendentalen Idealismus war ihrerseits mit dialektischen Fehlern belastet. Und die Einsicht in diese Fehler hat die Mehrzahl seiner Nachfolger dazu verführt, mit der mangelhaften Begründung auch jene Entdeckung selbst zurückzuweisen und damit einen der größten von KANT angebahnten Fortschritte der Wissenschaft wiederum preiszugeben. Freilich bringt die Notwendigkeit, unvollständig begründete Resultate hinzunehmen, Gefahren mit sich. Sie kann dazu verführen, daß der Schüler auf die bloße Autorität des Lehrers hin dessen Urteil übernimmt und dieses zum Dogma stempelt, wodurch dann das »iurare in verba magistri« entsteht und die Tradition an die Stelle des Selbstdenkens tritt. Hiergegen hilft nur die Ausbildung des wahrhaft kritischen Denkens, das ebensowohl vor gedankenlosem Nachsprechen schützt wie vor leichtfertigem Verneinen und das die Schüler eines Entdeckers am wenigsten entbehren können, wenn sie wahre Treue gegen ihren Lehrer üben wollen: denn diese kann nur
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darin bestehen, daß sie sich seiner Entdeckung annehmen, um ihren Gründen nachzuforschen und ihre Wahrheit dialektisch sicherzustellen. In der Tat lehrt auch die Geschichte der Philosophie, daß Entdecker und Begründer einer neuen Lehre selten in einer Person anzutreffen sind. Historisch besteht zwischen der Weltansicht eines bedeutenden Philosophen und seiner Dialektik das eigentümliche Verhältnis, daß er seine Weltansicht nicht erst auf dialektischem Wege, nicht vermittels wissenschaftlicher Untersuchungen gewinnt, sondern daß er durch das Leben auf sie geführt wird und erst nachträglich nach ihrer dialektischen Begründung sucht. Darauf beruhen die Inkonsequenzen, die man oft im System gerade der größten Entdecker antrifft. Denn kein bedeutender Philosoph läßt sich an den ihm durch sein Wahrheitsgefühl verbürgten Resultaten durch den Widerspruch irre machen, in dem sie etwa zu den Prinzipien seines Systems stehen. Vor der Wahl, entweder sein Wahrheitsgefühl zu verleugnen, um die logische Geschlossenheit des Systems zu wahren, oder durch eine Inkonsequenz sein System jenen Resultaten anzupassen, wird er sich eher jede Inkonsequenz gestatten als ein solches Resultat preisgeben. Im allgemeinen sind es erst die Schüler der großen Philosophen, die, weil ihnen die schöpferische Begabung fehlt und sie daher auf das Gerüst des Systems angewiesen sind, darauf ausgehen, in die Lehre des Meisters eine solche Konsequenz zu bringen, daß darin nichts stehenbleibt, was sich nicht logisch auf die Prinzipien des Systems zurückführen läßt. Dabei ergibt sich dann oft das merkwürdige Verhältnis, daß ein solches, von den Schülern logisch ausgebildetes System eine von der seines Schöpfers völlig verschiedene Weltansicht zur Folge hat. Dennoch liegt, was an der Lehre eines bedeutenden Philosophen für den Fortschritt der Wissenschaft wesentlich ist und wodurch sie eigentlich in der Geschichte weiterführt, nicht sowohl in dem Gehalt seiner Weltansicht als vielmehr in dem, was er für die Ausbildung der Begründungsmethoden leistet. Denn durch die Weltansicht unterscheidet er sich nicht von anderen bedeutenden Philosophen. Sie ist keinem einzelnen Denker eigentümlich, sondern in Wahrheit allen Zeiten gemeinsam. Sie ist unveränderlich wie die menschliche
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Vernunft seihst. Hinsichtlich ihres Besitzstandes ist der schärfste Denker vor dem dialektisch Ungeschultesten nicht ausgezeichnet. Was ihn von diesem unterscheidet, ist allein der höhere Grad der Klarheit, mit der er sich der Griinde jener Wahrheiten bewußt ist. Und das ist auch die Ursache, weshalb man die modernsten Ansichten oft schon bei den ältesten Philosophen findet. Der Fortschritt in der Geschichte der Philosophie besteht lediglich in der Ausbildung der Methoden, wodurch es immer besser gelingt, die eine und gleiche philosophische Wahrheit, die, mehr oder minder verworren, im Geiste eines jeden liegt, zu begründen. Er vollzieht sich also auf dem Gebiet der Dialektik und nicht der Weltansicht.
III Zwei genau zu trennende Bedingungen soll also die Philosophie erfüllen: Was sie lehrt, soll Wahrheit sein, und die Form, in der sie es lehrt, soll Wissenschaft sein. Betrachten wir nun im einzelnen, was hiermit eigentlich gefordert ist. Wenn die Philosophie Wahrheit lehren soll, so muß sie frei sein von der Autorität der Tradition und von jeder Autorität überhaupt. Das mag selbstverständlich erscheinen, ist es aber nicht. Denn zunächst ist das Denken nicht frei. Jeder einzelne findet sich in Abhängigkeit von überlegenen Gewalten, die ihm kraft ihrer ererbten Herrschaftsansprüche die Richtlinien, wie für sein Verhalten überhaupt, so auch für sein Denken vorzeichnen. Das Denken muß sich also erst aus allen Fesseln der Autorität freimachen. Und der Kampf mit jeder Art des geistigen Despotismus muß erst gewonnen sein, wenn das Werk der Philosophie in Gang kommen soll. Diese Befreiung von der Herrschaft der Autorität macht aber für sich allein das Denken noch nicht philosophisch. Die Lösung des Geistes von aller äußeren Bindung ist vielmehr nur ein Erfordernis für die Möglichkeit, die innere Bindung einzugehen, die in der Unterwerfung des Denkens unter den Zweck der Wahrheit besteht.
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Hier scheidet sich das Interesse der Philosophie von allen Interessen der Dichtung und Mythologie. Es scheidet sich aber auch von allen anderen Interessen, mögen sie im übrigen noch so wichtig und wertvoll erscheinen. Denn einzig das Interesse an der Wahrheit darf auf die Lösung philosophischer Probleme Einfluß haben. Dieser Befreiungsprozeß ist für die Philosophie mit weit größeren Schwierigkeiten verbunden als für alle anderen \Visscnschaften. Die philosophischen Probleme sind mit mannigfachen Interessen aufs engste verflochten, und ihre Entscheidung zieht praktische Folgen nach sich, die tief in das persönliche und gesellschaftliche Leben eingreifen. Je nachdem, was der einzelne von einer solchen Entsd1eidung zu hoffen oder zu fürchten hat, wird er unwillkiirlich zu der seinem Interesse günstigen Lösung hinneigen und wird ihm unvermerkt einen bestimmenden Einfluß auf den Ausgang der Untersuchung einräumen - eine Gefahr, wie sie bei anderen Wissenschaften nicht in dieser Weise vorhanden ist. Es ist leicht, bei einer mathematischen Untersuchung kühles Blut zu behalten; aber wo Prinzipien in Frage kommen, die die Stellung des !\1cnscl1en zu religiösen und sittlichen, rechtlichen und politischen Angelegenheit~n bedingen, und er um der Wahrheit willen bereit sein muß, sich von allem loszusagen, woran sein Herz hirngt, da ist es sd1wer, die leidenschaftslose Stimmung zu bewahren, ohne die eine vorurteilsfreie Prüfung und Entscheidung nicht gelingt. Es scheint sich aber noch die Möglichkeit eines anderen Konfliktes zu bieten. Wenn man nämlich von einer nicht-autonomen Ethik ausgeht, der zufolge geboten wäre, an gewisse Dinge zu glauben, so wäre damit auch schon eine bestimmte Lösung gewisser Probleme vorgeschrieben und ein vorbehaltloses Forschen unmöglich gemacht. Eine solche Ethik könnte jedoch ihrerseits nie als verbindlich erkannt werden, wenn wir nicht frei wären, sie auf ihre Wahrheit hin zu prüfen. Sie müßte sich also, hinsichtlich der Gültigkeit ihrer Ansprüche, selbst wieder der Kritik der freien Forschung unterwerfen. Jahrhundertelang ist die Philosophie die Magd der Theologie gewesen. Man tut sich viel darauf zugute, die Wissenschaft aus die-
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ser Hörigkeit befreit zu haben. Aber ob darum das Denken heute frei ist und nicht nur vielleicht seinen Herrn gewechselt hat, ist eine andere Frage. Oder ist es ausgemacht, daß eine zur Magd der Politik erniedrigte Wissenschaft freier dasteht als die einstige Magd der Theologie, und daß es würdiger sei, sich der rohen Gewalt zu beugen und sich den Erfolg zum obersten Richter zu setzen, als einem Dogma zu huldigen, auf dem bei aller abergläubischen Verzerrung doch wenigstens der Abglanz einer höheren Idee ruht? Die philosophische Wahrheit ist aber von besonderer Art. Sie ist keine Sache der Kenntnis, sondern eine solche der Einsicht. Man beherrscht sie nicht durch Gelehrsamkeit, sondern durch Selbstdenken. Daher ist nicht sowohl die Philosophie, als vielmehr nur die Kunst, zu philosophieren, lernbar. Wohl kann man Kenntnis erlangen von den philosophischen Überzeugungen eines anderen. Aber dadurch wird man noch nicht selbst zum Philosophen, sondern erfährt nur, was der andere für Philosophie hält. Wenn ich lerne, daß HERAKLIT den Fluß aller Dinge behauptet hat, so ist diese Kenntnis um nichts philosophischer, als wenn ich lerne, daß HERAKLIT aus Epbesus stammte oder daß ALEXANDER DER GROSSE nach Babylon zog. Daher läßt sich auch aus der Geschichte der Philosophie keine Philosophie lernen. Die genaueste und umfassendste Kenntnis der Geschichte der Philosophie bringt uns auch der einfachsten philosophischen Erkenntnis um keinen Schritt näher. Und nichts ist törichter, als sich durch das Studium der Geschichte der Philosophie zum Philosophen bilden zu wollen. Das Philosophieren dagegen, d. h. die Kunst des Selbstdenkens, wodurch man zur Philosophie gelangt, läßt sich freilich lernen und von anderen, die uns ein Beispiel darin geben, übernehmen. Ja, wir sind sogar darauf angewiesen, wenn uns am Fortschritt der Philosophie gelegen ist und wir es nicht dem guten Glück überlassen wollen, ob wir es hierin auch nur so weit bringen wie andere vor uns. Zur Forderung des Selbstdenkens tritt die andere der Bestimmtheit des Denkens. Chaotisches Sinnen und Grübeln ist kein Philosophieren. Dieses erfordert scharf umgrenzte Begriffe. Denn um nicht nur überhaupt zu denken, sondern durch Denken, und also durch
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Begriffe, zu erkennen, muß man die Begriffe voneinander unterscheiden. Das Vermögen hierzu heißt Scharfsinn. Und ohne diesen wird man nicht zum Philosophen. Wo die Begriffe durcheinanderfließen, da mag der Flug der Phphilosophischen Methode< obwaltet«. 2 Diese Feststellung erscheint um so betrübender, als er kurz vorher zugestehen muß, daß nicht einmal für den Gegenstand der philosophischen Untersuchungen ein gleichbleibendes Merkmal festgestellt werden kann. Man fragt sich nach alledem, was solche Philosophen von ihrer eigenen Wissenschaft eigentlich noch halten. Zum mindesten aber bleibt bei diesem Zustand der Anarchie die Frage unentschieden, ob die Mißachtung, die einer philosophischen Lehre zuteil wird, schon deren wissenschaftlichen Unwert beweist. Denn wie will man hoffen, den wissenschaftlichen Wert oder Unwert einer philosophischen Leistung beurteilen zu können, wenn es für die Urteilenden allgemeingültige wissenschaftliche Kriterien überhaupt nicht gibt? Und dabei liegt es nicht etwa so, daß die Mannigfaltigkeit der Resultate den Philosophen die Aufstellung eines Leitfadens für ihre Wissenschaft erschwert hat. Im Gegenteil, die großen philosophischen Wahrheiten sind im Grunde von jeher das Gemeingut aller bedeutenden Denker gewesen. Hier war also ein gemeinsamer Ausgangspunkt gegeben. Aber die Begründung dieser Resultate nach eindeutigen, die Willkür ausschließenden Regeln vorzunehmen, sich auch nur die hier vorliegende methodische Aufgabe mit Bestimmtheit und Schärfe zu stellen, dieses öffentliche Interesse der Philosophie hat noch so wenig Achtung gefunden, daß wir uns nicht wundern dürfen, wenn die Bemühungen einzelner um die Befriedigung dieses Interesses vergebliche Anstrengungen geblieben sind. In der Tat: Das Lebenswerk eines SOKRATES und eines KANT, das im Dienst dieser methodischen Aufgabe stand, es hat unermeßlichen historischen Ruhm geerntet. Aber es ist in seiner revolutionären Bedeutung für den Aufbau der Philosophie als Wissenschaft unfruchtbar und wirkungslos geblieben. ' Wilhelm Windelband: Präludien, Seite 9. Freiburg und Tübingen 1884.
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Zweimal bestand in der Geschichte der Philosophie die Aussicht, die Philosophie aus dem Stadium des Herumtappens auf den sicheren Weg der Wissenschaft zu bringen. Den ersten mutigen Versuch hat das Altertum mit dem Tode bestraf!:. Als Verführer der Jugend ist SOKRATES verurteilt worden. Die Neuzeit verschmäht den Ketzertod. Sie hat ihr Urteil abgegeben, indem sie - um noch einmal WrNDELBAND das Wort zu geben - über KANT »hinausgegangen« ist. 8 Und dabei bedarf es zur Würdigung der Bedeutung dieser beiden Männer nicht etwa erst einer künstlichen Interpretation. Sie haben diesen Sinn ihrer Bemühungen selbst ausdrücklich und unablässig betont. SOKRATES hat, wie jedermann weiß, kein System aufgestellt. Er hat wieder und wieder sein Nicht-Wissen zugestanden. Er ist jeder Behauptung entgegengetreten mit der Aufforderung, den Grund ihrer Wahrheit zu suchen. Er hat, wie es in der »Apologie« heißt, seine Mitbürger »ausgefragt, geprüft und ins Gebet genommen«\ nidi.t um ihnen lehrend eine neue Wahrheit zu vermitteln, sondern nur, um ihnen den Weg zu zeigen, auf dem sie sich finden läßt. Seine ethische Lehre, sofern dieser Name überhaupt auf seine Untersuchungen anwendbar ist, gründet sidi. auf den Satz, daß Tugend !ehrbar ist, in bestimmterer Sprache, daß Ethik Wissenschaft ist. Er hat diese Wissenschaft nicht aufgebaut, weil die Vorfrage ihn nidi.t losließ: Wie gelange ich zum Wissen über die Tugend? An dieser Vorfrage hat er festgehalten. Er hat den Mangel an frudi.tbaren Ergebnissen gelassen hingenommen ohne eine Anwandlung von Skepsis hinsidi.tlich der Ridi.tigkeit seiner Methode, unbeirrbar in der Überzeugung, trotz allem mit seinen Fragen auf dem allein richtigen Wege zu sein. Die gesamte nadi.folgende Philosophie steht völlig ratlos vor dieser denkwürdigen Tatsadi.e - mit der einzigen Ausnahme PtATONS. PLATON hat die Methode des SOKRATES aufgenommen und
' Ebenda, Seite VI. • Platon: Apologie des Sokrates (übersetzt von ÜTTO APELT), Seite 44. Leipzig 1919.
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beibehalten, auch dann noch, als seine eigenen Forschungen ihn längst über die Ergebnisse seines Lehrers hinausgeführt hatten. Er hat sie aufgenommen mit all ihren Unvollkommenheiten. Er hat ihre Schwächen und Härten nicht beseitigt, gewiß nicht aus Pietät gegen das Andenken des Lehrers, sondern weil er selbst dieser Mängel nicht Herr wurde. Ihn leitete, wie SOKRATES selbst, das Wahrheitsgefühl. Er, der so kühn mit dem Gehalt der sokrat ischen Philosophie schaltete, daß die philosophischen Philologen sich noch heute streiten, was sokratisch, was platonisch an der Lehre des PLATON ist - der aber diese Kühnheit zur Huldigung wandelte, indem er all seine Entdeckungen seinem großen Lehrer in den Mund legte -, er hat ihm die größere Huldigung dargebracht, indem er diese Entdeckungen in die unausgeglichene, oft schleppende, oft abwegige Form des sokratischen Gesprächs kleidete, mit seines Lehrers Fehlern die eigene Lehre belastend. Er hat dadurch freilich zugleich den noch ungehobenen Schatz geborgen und damit der Nachwelt die Möglichkeit gegeben, sich seiner von neuem zu bemächtigen und seinen Reichtum zu entfalten. Vergeblich! Heute, nach zweitausend Jahren, ist das Urteil über SOKRATES unsicherer und geteilter denn je. Dem Urteil eines Sachkenners wie ]OEL, daß SOKRATES »der erste und vielleicht der letzte ganz echte, ganz reine Philosoph« 5 war, steht das Urteil HEINRICH MAIERS gegenüber, der sagt, »daß man SOKRATES zu dem gestempelt hat, was er ganz gewiß nicht war, zum Philosophen« .6 Dieser Zwiespalt des Urteils hat seine Wurzel in der Unangemessenheit der Kritik. Diese Kritik übt ihren Scharfsinn noch immer an den Ergebnissen der sokratischen Philosophie, Ergebnissen, die, weil sie nicht selbständig überliefert, vielleicht von SOKRATES überhaupt niemals festgehalten worden sind, den widerstreitendsten Deutungen ausgesetzt bleiben. Wo aber die Kritik die Methode streift, da haftet ihr Lob an Trivialitäten, oder sie verlegt doch den Wert der sokratischen Methode allein in die Persönlichkeit des SoKRATES, wie es das Urteil von WILAMOWITZ bezeugt, in dessen »Pla• Karl Joel: Geschichte der antiken Philosophie, Seite 770. Tübingen 1921. • Heinrich Maier: Sokrates, Seite 157. Tübingen 1913.
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ton« wir lesen: »Die sokratische Methode ohne SOKRATES ist nicht mehr, als die Pädagogik zu sein pflegt, die einem Seelenführer von Gottes Gnaden abguckt, wie er sich räuspert und wie er spuckt, seine angebliche Methode auf Flaschen zieht und dann meint, das Wasser des Lebens auszuschenken.« 7 Wenn das lebendige, am Einzelproblem sich entfaltende Philosophieren des SOKRATES keine Nacheiferer gefunden hat, so ist es nicht zu verwundern, daß der Wahrheitsgehalt der weit abstrakteren methodischen Untersuchungen KANTS nicht aufgefaßt und aufgenommen worden ist - abgesehen von den wenigen, die seine Lehre verstanden und fortgebildet haben, aber ihrerseits vollends vom übermächtigen Zeitgeist in den Hintergrund gedrängt und von der Geschichte übergangen worden sind. Es fehlte alles, daß man in der kritischen Methode KANTS die Wiederaufnahme des sokratisch-platonischen Philosophierens entdeckte, alles, daß man die Kritik der reinen Vernunft als »Traktat von der Methode« nahm, als den ihr Urheber selbst sie nach seinen eigenen Worten hat verstanden wissen wollen.8 KANT hat außer diesem Traktat von der Methode ein System aufgebaut. Er hat die weiten Gebiete der Philosophie durch eine Fülle von Resultaten bereichert. Um diese Resultate ist der Kampf entbrannt; aber die Hoffnung auf einen befriedigenden Austrag war trügerisch, solange man es unterließ, den erfinderischen Weg nachzuprüfen, auf dem KANT zu seinen Resultaten vorgedrungen war. Der Dogmatismus blieb in der Herrschaft, ja er triumphierte mehr denn je in willkürlidien Systembildungen, die, eins das andere an Phantasterei überbietend, dem nüchternen und kritischen Philosophieren des Kantisdien Zeitalters das öffentliche Interesse völlig entfremdeten. Was an Bruchstücken von KANTS Ergebnissen auf diesen ihnen fremden Boden verpflanzt wurde, konnte hier doch zu keinem gesunden Leben gedeihen und erhielt sich nur künstlich dank der
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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon, erster Band, Seite 108. Berlin 1919. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Ausgabe. (Reclamsche Ausgabe, Seite 21.)
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die Philosophie verdrängenden Liebhaberei für die Geschichte der Philosophie. Warum, so fragt KANT, ist dem »Skandal« nicht vorgebeugt, der »über kurz oder lang selbst dem Volke aus den Streitigkeiten aufstoßen muß, in welche sich Metaphysiker ... ohne Kritik unausbleiblich verwickeln« ?9 Offenbar ist es das Ziel jeder Wissenschaft, die ihr vorliegenden Urteile zu begründen durch Zurückführung auf allgemeinere Sätze, die ihrerseits gesichert werden müssen, um dann, von diesen Grundsätzen aus vorwärtsschreitend, mit Hilfe logischer Folgerungen das System der Wissenschaft aufzubauen. Dieser Aufbau der Wissenschaften, so schwierig er im einzelnen sein mag, vollzieht sich grundsätzlich bei ihnen allen nach der gleichen Methode, der des progressiven Schließens. Die eigentlich methodischen Probleme liegen in jeder Wissenschaft da, wo der Rückgang vom Besonderen zum Allgemeinen vollzogen werden muß, wo es darum geht, sich der obersten Sätze, der allgemeinsten Prinzipien zu versichern. Die glänzende Entwicklung der mathematischen Wissenschaft und ihr allgemein zugestandener Vorsprung erklärt sich daraus, daß ihre Grundsätze - ich sehe hier einstweilen von dem Problem der Axiomatik ab - sich dem Bewußtsein leicht anbieten, daß sie anschaulich klar und dadurch völlig einleuchtend sind, so einleuchtend, daß - wie neulich HILBERT an dieser Stelle bemerkte - die mathematische Einsicht jedermann aufgezwungen werden kann. Ja der Mathematiker ist nicht einmal genötigt, den Rückgang zu diesen Prinzipien erst künstlich zu vollziehen. Er kann von willkürlichen BegrifFsbildungen ausgehen, über die Bildung dieser Begriffe hinaus getrost zu Urteilen fortschreiten, kurz, er kann unmittelbar systematisch und in diesem Sinne dogmatisch verfahren. Er kann dies, weil er in der Konstruierbarkeit der Begriffe ein Kriterium ihrer Realität besitzt, ein sicheres Kennzeichen dafür, daß sich seine Theorie nicht etwa auf bloße Fiktionen bezieht. Schon die Naturwissenschaften genießen diesen Vorzug nicht. Die Gesetze, die den Erscheinungen der Natur zugrunde liegen, können • a.a.O., Seite 28.
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nur erschlossen werden auf dem Weg der sogenannten Induktion. Aber da diese von der Beobachtung von Tatsachen ausgeht, deren Erkenntnis sie im Experiment von Zufälligkeiten befreit, da ferner alle Vorgänge in Raum und Zeit als solche der mathematischen Berechnung zugänglich sind, da endlich die gewonnenen Lehrsätze als Erfahrungssätze durch bestätigende oder widerstreitende Erfahrungen kontrollierbar sind, so haben die Naturwissenschaften im engen Anschluß an die Mathematik den Aufstieg zur Wissenschaft auch ihrerseits vollzogen. Wo dieser Anspruch, wie in der Bioloi;ie, noch bestritten wird, da handelt es sich um die Frage der metaphysischen Voraussetzungen innerhalb der induktiven Wissenschaften, und da zeigt sich dann freilich gleich die Verwirrung, die wir überall antreffen, wo wir in das Gebiet der Philosophie hinübertreten. Die Philosophie beruht in ihren Grundsätzen nicht auf einleuchtenden Wahrheiten. Die Grundsätze sind in ihr vielmehr das Dunkelste, Unsicherste und Umstrittenste. Einigkeit herrscht nur da, wo es sich um die konkrete Anwendung dieser Sätze handelt. Aber wo es darum geht, von dem besonderen Fall der Anwendung abzusehen und die Grundsätze aus ihrer Verbindung mit der Erfahrung zu lösen, sie also in voller Abstraktheit aufzustellen, da verliert sich der Weg des Suchenden im metaphysischen Dunkel, wenn nicht schon das künstliche Licht der Methode ihm leuchtet. Unter diesen Umständen möchte man erwarten, daß das Problem der Methode bei niemandem so in dem Vordergrund des Interesses zu finden sei wie bei dem Philosophen. Doch ist zu bedenken, daß die eben angestellte Erwägung ihrerseits ja schon durch einen methodischen Gesichtspunkt bedingt ist, indem sie vor aller eigentlichen philosophischen Spekulation die Frage aufwirft nach dem Wesen der philosophischen Erkenntnis, und durch diese Vorfrage erst Licht fällt auf die den eigentlichen Inhalt der Philosophie angehenden Probleme. Lassen Sie uns an dieser Stelle einen Augenblick Halt machen und vorerst den Begriff der Methode, der uns hier beschäftigt, ein wenig schärfer ins Auge fassen. Was sollen wir uns eigentlich unter einer Methode vorstellen, die das Denken der Philosophen unter ihre Re-
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geln zwingt? Es ist hier offenbar von etwas anderem die Rede als nur von den Denkregeln der Logik. Denn die Befolgung der logischen Gesetze ist eine unerläßliche Voraussetzung für jede Wissenschaft, und das die philosophische Methode auszeichnende Moment kann daher nicht darin gefunden werden, daß sie sich der Hilfsmittel der Logik bedient. Das hieße die ihr zufallende Leistung zu eng begrenzen. Nun darf man andererseits die Anforderungen an sie nicht zu weit spannen und ihr nicht das Unmögliche zutrauen, den Gehalt der philosophischen Erkenntnis schöpferisch zu vermehren. Was die philosophische Methode leisten soll, ist nichts anderes, als jenen Rückgang zu den Prinzipien zu sichern, der ohne ihren Leitfaden nur ein Sprung ins Dunkle wäre, mit dem wir denn nach wie vor an die Willkür verloren blieben. Aber wie soll man auch nur die für die Entdeckung eines solchen Leitfadens hinreichende Klarheit finden, da doch vor der Hand hier nichts klar ist als eben nur die Urteile, die den Einzelfall betreffen und für die der konkrete Verstandesgebrauch ausreicht, wie er in jedem Erfahrungsurteil der Wissenschaft und des täglichen Lebens gehandhabt wird? Wie soll, wenn man diese Urteile hinter sich läßt, überhaupt noch eine Orientierung gelingen? Die Schwierigkeit, die hier vorzuliegen scheint, verschwindet bei kritischer Prüfung jener Erfahrungsurteile. In jedem einzelnen dieser Urteile liegt neben den einzelnen Daten, wie sie die Beobachtung liefert, in der Form der Beurteilung selbst eine Erkenntnis verborgen, die nur nicht als solche gesondert aufgefaßt wird und vermöge deren wir eben jenes gesuchte Prinzip in der Tat schon voraussetzen und anwenden. Um ein triviales Beispiel zu geben: Wollten wir hier über die Bedeutung des metaphysischen Begriffs der Substanz diskutieren, so würden wir voraussichtlich in einen aussichtslosen Streit geraten, in dem die Skeptiker alsbald die Oberhand gewinnen möchten. Wenn aber am Schluß unserer Diskussion ein solcher Skeptiker seinen Mantel, den er beim Eintreten neben der Tür aufgehängt hat, dort nicht mehr vorfindet, so wird er sich mit dem Verlust seines Mantels schwerlich schon dadurch abfinden,
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daß der für ihn mißliche Verlust ja nur seinen philosophischen Zweifel an der Beharrlichkeit der Substanz bestätigt. Wie jeder andere, der einen Gegenstand sucht, den er verloren hat, setzt er in seinem Urteil, das ihn zum Suchen bestimmt, die allgemeine Wahrheit voraus, daß kein Ding zu Nichts werden kann, und wendet dabei, ohne sich des Widerspruchs mit seiner Doktrin bewußt zu sein, den metaphysischen Satz von der Beharrlichkeit der Substanz an. Oder: Wenn wir über die Allgemeingültigkeit der Rechtsidee diskutieren wollten, so würde wohl auch diese Diskussion das gleiche Schicksal erleiden und durch ihren Verlauf wiederum dem Skeptiker recht zu geben scheinen, der die Allgemeingültigkeit ethischer Wahrheiten bestreitet. Wenn dieser Skeptiker aber heute abend in seiner Zeitung liest, daß die Landwirte noch immer mit der Ablieferung des Brotgetreides zögern, um die Konjunktur des Getreidemarktes auszunutzen, und daß daher das Brot demnächst wieder gestreckt werden muß, so wird er nicht leicht geneigt sein, mit seiner Entrüstung darum zurückzuhalten, weil ja für den Produzenten und den Konsumenten kein gemeinsames Recht gilt. Er verurteilt wie jeder andere den Wucher und beweist damit, daß er faktisch die metaphysische Voraussetzung der Gleichheit des Anspruchs auf Interessenbefriedigung, unabhängig von der Gunst oder Ungunst der persönlichen Lage, anerkennt. Ähnlich bei allen anderen Erfahrungsurteilen. Stellen wir die Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit, so stoßen wir auf allgemeinere Sätze, die den Grund der gefällten Einzelurteile bilden. Wir gehen durch Zergliederung zugestandener Urteile zurück zu ihren Voraussetzungen. Wir verfahren regressiv, indem wir von den Folgen zu den Gründen aufsteigen. Bei diesem Regreß abstrahieren wir von den zufälligen Tatsachen, auf die sich das Einzelurteil bezieht, und heben durch diese Absonderung die ursprünglich dunkle Voraussetzung heraus, auf die jene Beurteilung des konkreten Falles zurückgeht. Die regressive Methode der Abstraktion, die zur Aufweisung der philosophischen Prinzipien dient, erzeugt also nicht neue Erkenntnisse, weder von Tatsachen
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noch von Gesetzen. Sie bringt nur durch Nachdenken auf klare Begriffe, was als ursprünglicher Besitz in unserer Vernunft ruhte und dunkel in jedem Einzelurteil vernehmlich wurde. Doch es scheint, als wenn uns diese Erörterung weit von unserem eigentlichen Thema entfernt habe, das der Methode des philosophischen Unterrichts gilt. Lassen Sie uns daher die Verbindung aufnehmen. Wir haben gefunden, daß die Philosophie der Inbegriff jener allgemeinen Vernunftwahrheiten ist, die nur durch Denken klar werden. Philosophieren ist demnach nichts anderes, als mit Hilfe des Verstandes jene abstrakten Vernunftwahrheiten zu isolieren und in allgemeinen Urteilen auszusprechen. Was folgt d'4raus für den philosophischen Unterricht? Jene allgemeinen Wahrheiten lassen sich, sofern sie in Worten ausgesprochen werden, zu Gehör bringen. Aber sie werden darum keineswegs eingesehen. Einsehen kann sie nur derjenige, der von ihrer Anwendung ausgeht in Urteilen, die er selbst fällt, und der dann, indem er selbst den Rückgang zu den Voraussetzungen dieser Erfahrungsurteile vollzieht, in ihnen seine eigenen Voraussetzungen wiedererkennt. Man kann daher nicht Philosophie, den Inbegriff dieser philosophischen Prinzipien, unterrichtend vermitteln, wie man etwa geschichtliche Tatsachen vermitteln kann, ja wie sich selbst geometrische Grundsätze vermitteln lassen. Tatsachen der Geschichte können als solche überhaupt nicht eingesehen werden. Sie können nur zur Kenntnis genommen werden. Und die Grundsätze der Mathematik lassen sich freilich einsehen, aber ihre Einsicht bedarf nicht des Umweges über den eigenen erfinderischen Gedankengang. Sie sind unmittelbar klar, sobald nur überhaupt die Aufmerksamkeit auf ihren Inhalt gerichtet wird. Greift daher hier ein Lehrer dem selbständigen Forschen des Schülers vor, indem er jene Grundsätze vorträgt, so tut das ihrer Klarheit keinen Abbruch. Der Schüler kann hier folgen, selbst wenn er den erfinderischen Weg zu ihnen hin nicht selbst durchläuft. Wieweit ein solcher Unterricht Sicherheit bietet, daß der Schüler wirklich mit Verständnis folgt, bleibt freilich eine eigene Frage.
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Aber wer nach dieser Art Philosophie vorträgt, behandelt sie wie eine Wissenschaft von Tatsachen, die man zur Kenntnis nimmt, und so trägt er in Wahrheit bestenfalls nur Geschichte der Philosophie vor. Denn was er übermittelt, ist nicht die philosophische Wahrheit selbst, sondern nur die Tatsache, daß er oder ein anderer dieses oder jenes für eine philosophische Wahrheit hält. Indem er aber doch den Anspruch erhebt, damit Philosophie zu lehren, betrügt er im Grunde sich selbst und seine Schüler. Wer im Ernst philosophische Einsicht vermitteln will, kann nur die Kunst des Philosophierens lehren wollen. Er kann seine Schüler nur anleiten, selbst den beschwerlichen Rückgang anzustellen, der allein die Einsicht in die Prinzipien gewährt. Soll es also überhaupt so etwas wie philosophischen Unterricht geben, so kann es nur Unterricht im Selbstdenken sein, genauer: in der selbständigen Handhabung der Kunst des Abstrahierens. Und so verstehen wir nunmehr die von mir eingangs aufgestellte Behauptung, daß die sokratische Methode als philosophische Unterrichtsmethode die Kunst sei, nicht Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren. Aber wir haben bereits weit mehr gewonnen. Wir wissen zugleich, daß diese Kunst, wenn sie gelingen soll, von den Regeln der regressiven Methode gelenkt werden muß. Es steht freilich noch die Nachprüfung der Nebenfrage aus, ob diese allein angemessene philosophische Unterrichtsmethode mit Recht den Namen der sokratischen führt. Denn was ich vorhin über die Bedeutung des SOKRATES gesagt habe, bezog sich nur auf die Tatsache seines methodischen Vorgehens überhaupt. Da steht es nun zunächst fest, daß die Lehrweise des SOKRATES von Fehlern strotzt. Jeder intelligentere Gymnasiast beanstandet, daß SoKRA TES in den platonischen Dialogen an den entscheidenden Stellen Monologe hält und daß der Schüler fast nur ein Jasager ist, von dem man, wie FRIES bemerkt, nicht einmal immer recht sieht, wie er zu seinem "Ja« kommt. 10 Und zu diesen didaktischen Mängeln treten schwere philosophische Fehler hinzu, so daß die ablehnenden Urteile der Mitunterredner vielfach unsere Zustimmung finden. 10
Fries: Die Geschichte der Philosophie, erster Band, Seite 253. Halle 1837.
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Aber um hier zur Entscheidung über Wahrheit und Irrtum, Wert und Unwert zu kommen, lassen Sie uns noch einmal auf PLATONS Darstellung zurücksehen. Niemand hat mit größerer Objektivität und tieferer Menschenkenntnis die Lehrweise des SOKRATES und ihre Wirkung auf seine Schüler beurteilt. Wo immer sich ein Widerstand im Leser regt gegen die Weitschweifigkeit oder Spitzfindigkeit der Gesprächsführung, gegen die Eintönigkeit der Ableitungen, gegen die Ergebnislosigkeit des Wortkampfes, da bricht auch schon in einem der Gesprächsteilnehmer der gleiche Widerstand aus. Mit welchem Freimut läßt nicht PLATON die Schüler ihr Mißfallen, ihre Zweifel, ihre Langeweile äußern - ich erinnere Sie nur an die Schmähungen des KALLIKLES im »Gorgias« 11 -, ja PLATON läßt Gespräche abbrechen, weil den Teilnehmern die Geduld ausgeht, und keineswegs neigt sich beim Leser die Entscheidung allemal zugunsten des SOKRATES. Aber was enthüllt diese Kritik anderes als die souveräne Sicherheit, mit der PLATON zu der Methode seines Lehrers steht trotz aller ihrer Gebrechen? Gibt es einen stärkeren Beweis für die Gewißheit vom inneren Wert einer Sache, als sie darzustellen mit all ihren Unvollkommenheiten, getrost darauf bauend, daß sie sich bewähren wird? Es besteht hier bei PLATON kein anderes Verhältnis zu dem Werk seines Lehrers, als es zu dessen Person in der bekannten Rede im »Symposion« - ALKIBIADES bekundet, wenn ihm die körperlich plumpe Erscheinung des SOKRATES dazu dient, durch die Kontrastierung mit dem inneren Wesen des Mannes dessen edle Persönlichkeit nur desto schöner erstrahlen zu lassen, indem er ihn jenen Silenen vergleicht, die in ihrem Inneren Götterbilder enthalten. Aber worin liegt nun das Positive der sokratischen Leistung? Wo finden wir in ihr die Ansätze der Kunst, das Philosophieren zu lehren? Gewiß nicht in dem bloßen Übergang von der Rethorik der Sophisten zum Wechselgespräch mit den Schülern, ganz abgesehen davon, daß, wie ich schon sagte, des SOKRATES Fragen meist nur 11
Platon: Gorgias (übersetzt von zig 1914.
ÜTTO APELT),
Seite 92 ff., Seite 114. Leip-
Unterricht im Selbstdenken
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Suggestivfragen sind, auf die er nichts anderes einholt, als: »Unzweifelhaft, mein SOKRATES!« - »Wahrlich, beim Zeus, so ist es! Wie sollte es anders sein? « Aber selbst wenn die Unbeholfenheit und die eigene philosophische Leidenschaft des SoKRA TES dem Schüler größere Selbsttätigkeit gelassen hätte, wir müssen doch erst fragen, welches denn überhaupt die tiefere Bedeutung des Gesprächs im philosophischen Unterricht ist und was ihre Anwendung im platonischen Dialog lehrt. Wir finden das Gespräch als Kunstform beim Dichter im Drama und im Roman, und als Unterrichtsform zum Zweck der Belehrung. Begrifflich lassen sich diese Formen trennen; in Wirklichkeit aber stellen wir an jedes Gespräch die Forderung der Lebendigkeit, Klarheit und Schönheit der Wechselrede, wie auch die der Parteinahme für die Wahrheit, der Entschiedenheit und der Überzeugungskraft. Wir wollen - wenn auch das Schwergewicht jeweils verschieden gelagert ist - im Künstler den Lehrer und im Lehrer den Künstler erkennen. Nun aber müssen wir hier noch unterscheiden zwischen dem schriftlich niedergelegten Gespräch - mag dieses auch die Wiedergabe eines wirklichen sein - und dem Gespräch, das lebende Menschen führen. Gespräche, die niedergeschrieben werden, büßen ihr ursprünglidies Leben ein »wie die Blume in des Botanikers blecherner Kapsel«. Soll das niedergelegte Gespräch dennoch befriedigen, so muß die Atmosphäre vergeistigt und gereinigt, die Ansprüche müssen gesteigert werden, und es können dann solche seltsamen und wunderbaren Leistungen entstehen wie das Gespräch des Großinquisitors, das er mit einem schweigenden Gegner führt, der ihn schweigend besiegt. Doch das Gespräch als Lehrform drängt dahin, die Annäherung an wirkliche Menschen zu wahren, da es sonst seine Aufgabe, Beispiel und Anleitung zu sein, im Stich läßt. Die Augenblicksform aber eines wirklichen Gesprächs mit seinen Unstetigkeiten im Spiegel der schriftlichen Wiedergabe aufzufangen, die Mitte zu halten zwischen bloßer Sinntreue und bloßer Worttreue, das bedeutet eine Aufgabe, deren Lösung vielleicht didaktisch gelingen kann, aber
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darum, weil sie einem bestimmten Zwe