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German Pages 513 [512] Year 1985
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I.
ARISTOTELES
Nikomachische Ethik Auf der Grundlage der Dbersetzung von Eugen Rolfes herausgegeben von
GUNTHER BIEN
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung: Vernunft und Ethos. Zum Ausgangsproblem der Aristotelischen Ethik. Von Gunther Bien. Anmerkungen zur Einleitung Editionsbericht . . . . . . . . . . . . . . .
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Aristoteles Nikomachische Ethik ERSTES BUCH
I. Kap.: Vorbemerkungen tiber Gegenstand, Vortrag und
Harer der praktischen Philosophie . . . . . . . . . . . 2. Kap.: Das Gluck als das hochste durch Handeln zu bewirkende Gut. Die Methode der Ethik und die charakterlichen Voraussetzungen des Horers . . . . . . . . . . . . . . 4 5 3. Kap.: Die verschiedenen Lebensformen und ihr Ziel . . . 4. Kap.: Diskussion d er p1atonischen Lehre von der Idee des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 5. Kap.: Das Gluck als Endzweck alles Handelns ist etwas 9 Vollendetes und Sich-selbst-Geniigendes. . . . . . . . . 6. Kap.: Es besteht in der tugendgemlillen Tlitigkeit der See1e als der dem Menschen als Menschen spezifischen Verrichtung, wenn diese ein volles Leben hindurch andauert . . . . . . II 7. Kap. : Erneute M ethodenreflexion . . . . . . . . . . . 12 8. Kap.: Verifikation der in Kapitel 6 gegebenen Definition des Gliicks durch Verg1eich mit den tiber es herrschenden Meinungen: Drei Arten von Giitern . . . . . . . . . . 13 9. Kap.: Fortsetzung: Tugend, Lust und liullere Giiter als Momente des G1iicks . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 10. Kap.: Kann der Mensch sein Gluck durch eigene Leistung erwerben oder wird es ihm durch gottliche Fiigung oder durch Zufall zuteil? . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 II. Kap.: Darf man den Menschen erst nach seinem Tode gliicklich preisen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 12. Kap.: Gehort das Gluck zu den 1obenswerten oder zu denim hoheren Sinne verehrungswiirdigen Dingen? . . . . . . . 21
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13. Kap.: Dberleitung zur Behandlung der Tugend. Die ethische und die dianoetische Tugend und die ihnen zugehiirenden Teile der Seele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ZWEITES BUCH
I. Kap.: Die sittliche Tugend entspringt a us Gewiihnung; sie ist daher weder von Natur noch gegen sie . . . . . . . . . 26 2. Kap.: Die sittliche Tugend als Habitus wird durch die ihr entsprechende Tatigkeit hervorgebracht und gefestigt; sie geht durch DbermaB und Mangel zugrunde und ist mit der Empfindung von Lust und UnJust verbunden . . . . . 28 3. Kap.: Wie kann es vor der Tugend eine tugendgemaBe Handlung geben? Die Bedeutung der Beschaffenheit d es Handelnden und der Unterschied von Tugend und Kunst . . . . . 31 4. Kap.: Allgemeine Bestimmung der Tugend: Sie ist ein Habitus, d. h. eine bestimmte bleibende Disposition in bezug auf die Affekte und deren V ermiigen . . . . . . . . . . . . 33 5. Kap.: Nahere Bestimmung der Tugend: Sie ist ein Habitus, durch den wir die verniinftige Mitte treffen . . . . . . . . 34 6. Kap . : Dem Begriff nach ist die Tugend eine Mitte, dem Range nach ein AuBerstes. Grenzen der Anwendung der Kategorie der Mitte bei der sittlichen Beschreibung von Handlungen und Affekten . . . . . . . . . . . . . . . 36 7. Kap.: Prazisierung des Begriffs der Mitte durch Anwendung auf die einzelnen Tugenden. . . . . . . . . . . . . . . 37 8. Kap.: Ergebnisse der im 7. Kapitel vorgenommenen Dberlegungen: Die je verschiedenen Gegensatzverhiiltnisse zwischen Mitte und Extremen . . . . . . . . . . . . . . . 40 9. Kap.: Praktische Folgerungen: Jeweils die Mitte theoretisch zu bestimmen und im Handeln zu treffen, ist schwer; man muB sich vor allem von dem stiirkeren Gegensatz zu ihr entfernen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
DRITTES BUCH
I. Kap.: Die Freiwilligkeit als Moment der Tugend. Wichtig-
keit ihrer Behandlung fur Ethik und Gesetzgebung. Unfreiwilligkeit und Zwang . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kap.: Wann handelt jemand aus Unwissenheit?. . . 3. Kap.: Zusammenfassende Definition der Freiwilligkeit. Ihr Verhiiltnis zu den Affekten Zorn und Begierde . . . .
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4. Kap.: Die Entscheidung und freie Wahl. Sie ist jenes Freiwillige, das iiberlegt und vorbedacht ist . . . . . . . . . 49 5. Kap. : Die Uberlegung. Welche Art von Verursachung sie ist und auf welche Gegenstande sie sich beziehen kann. Sie betrifft die Mittel, nicht den Zweck. . . . . . . . . . . 51 6. Kap.: Geht der Wille auf das wahrhaft Gute oder nur auf das, was als gut erscheint? Der Gute ist MaB fur das Gute. 54 7. Kap.: Von der Verantwortung des Menschen, sowohl fur seine Tugenden wie fur seine Fehler. Natur und Zurechenbarkeit . . . . . . . . 55 8. Kap.: Zusammenfassung des bisher tiber die Tugend Gesagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 9. Kap. : Uberleitung zu einer ausfiihrlichen Behandlung der einzelnen sittlichen Tugenden. - Der Mut . . . . . . . . 59 10. Kap.: Das Gute und Schone als Ziel der Tugend des Mutes. Der Tollkiihne und der Feige . . . . . . . . . 60 II. Kap.: Definition des Mutes. Ihre fun£ weiteren Erscheinungsformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 12. Kap.: Im Augenblick seiner Realisierung hat der Mut es mehr mit Anstrengung und Schmerz als mit der Lust zu tun. Paradoxien angesichts des freiwilligen, d . h. mutvollen Todes des sittlich vollkommenen Menschen . . . . . . . . . . 65 13. Kap.: Die MaBigkeit. Sie ist die Mitte in bezug auf bestimmte dem Menschen als animalischem Wesen zukommende Formen der Lustempfindung. . . . . . . . . . 66 14. Kap.: UnmaBigkeit und Stumpfsinn. Das Leben des MaBigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 15. Kap.: Die UnmaBigkeit ist in hoherem MaBe freiwillig als die Feigheit. Ihr Verhaltnis zur kindlichen Zuchtlosigkeit und Ungezogenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
VIERTES BUCH
1. Kap.: Die Freigebigkeit als Mitte zwischen Verschwendung und Geiz. Sie ist die Tugend des rechten Gebrauchs von Geld und Gut und zeigt sich mehr im Geben als im Nehmen 2. Kap.: Das sittlich Schone als Norm der Tugend des Freigebigen. Nahere Ausfiihrungen tiber seinen Charakter und sein Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kap.: Verschwendung und Geiz . . . . . . . . . . . . 4. Kap.: Die Hochherzigkeit und ihre Gegensatze. Sie bezieht sich wie die Tugend der Freigebigkeit auf Geld und Gut, im
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Unterschied zu ihr jedoch auf den mit Schicklichkeit urn des Schonen willen gemachten graBen Aufwand . . . . . . . 5. Kap.: Ihre Realisierung und ihre Vorbedingungen . . . . 6. Kap.: Der Protzer und der Engherzige als Gegensatze des Hochherzigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Kap.: Der Hochsinn oder die SeelengroBe. Begriff, Gegenstand und Gegensatze. . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Kap.: Charakter und Verhalten des groBgesinnten Mannes 9. Kap.: Der Mann niederen Sinnes und der Aufgeblasene als Gegensatze des Hochsinnigen . . . . . . . . . . 10. Kap.: Der Sinn fiir Ehre als Vorstufe des Hochsinns. . . . II. Kap.: Die Sanftmut, deren Mangel und ObermaB . . . . 12. Kap.: Die Tugenden des Umgangs. Der Gefallsiichtige, der Un1iebsame und der Mann der Mitte . . . . . . . . . . 13. Kap.: Die Wahrhaftigkeit. Prah1erei und selbstverk1einernde Ironie als ihre Gegensatze . . . . . . . . . . . . . . . 14. Kap.: Witz und Gewandtheit und deren Gegensatze, PossenreiBerei und Steifheit . . . . . . . . . . 15. Kap.: Die Scham als uneigentliche Tugend . . . . . . .
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FUNFTES BUCH
I. Kap.: Die Gerechtigkeit; vorlaufige Definition. Ein H abitus bezieht sich nicht wie eine Wissenschaft oder ein Vermogen auch auf das jewei1ige Gegentei1 . . . . . . . . . 2. Kap.: Unterscheidung einer doppelten Bedeutung von Gerechtigkeit: I. Achtung vor dem Gesetz, 2. Bewahrung der Gleichheit . . . . . 3. Kap.: Die gesetzliche Gerechtigkeit ist als Erfiillung des Gesetzes, das sich auf aile Tugenden bezieht, die vollkommene Tugend mit Bezug auf andere . . . . . . . . . . . 4. Kap.: Abhebung der besonderen Gerechtigkeit a1s Tei1 der Gesamttugend von der allgerneinen Gerechtigkeit. . . . . 5. Kap.: Erneute Begriindung des Unterschiedes zwischen der allgemeinen und der partiku1aren Gerechtigkeit; diese ist tei1s distributive, teils kommutative Gerechtigkeit ; die letztere findet sich tei1s im freiwilligen, teils im unfreiwilligen Verkehr 6 . Kap. : Die distributive Gerechtigkeit. Sie tei1t jedem nach Verha1tnis der Wiirdigkeit zu, und so ist die hier geltende G1eichheit eine proportiona1e . . . . . . . . . . . . . 7. Kap.: Die Proportionalitat der distributiven Gerechtigkeit ist geometrisch. Bei der kommutativen Gerechtigkeit liegt die G1eichheit in der arithmetischen Proportion. - Die aus-
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gleichende Funktion des Richters zur Wiederherstellung des verletzten kommutativen Rechtes. . . . . . . . . . . . 108 8. Kap.: Kritik an der undifferenzierten Gleichsetzung von Recht und Wiedervergeltung. Modifikation des Begriffs der Wiedervergeltung, urn mit seiner Hilfe den Warenaustausch, der die biirgerliche Gesellschaft zusammenhalt, beschreiben zu konnen. Die Funktion desGeldes als einesGaranten potentieller Bediirfnisbefriedigung und (fast) universeller Kommensurabilitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 9. Kap.: Zusammenfassende Definition von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 10. Kap.: Arten des Rechtes und ihr Verhaltnis: politisches Recht, Herrenrecht, vaterliches Recht, hausliches Recht. Natiirliches und gesetzliches Recht. Das Verhaltnis der im vollen Sinne gerechten zur bloB legalen Handlung . . . . 115 11. Kap.: Kann man freiwillig Unrecht leiden? . . . . . . . 121 12. Kap.: Handelt unrecht, wer zuviel austeilt oder wer zuviel empfangt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 13. Kap.: Warum es schwer ist, wirklich gerecht zu sein und zu handeln.- Das Recht als spezifisch menschliche Gegebenheit 124 14. Kap.: Die Billigkeit und ihr Verhaltnis zu Recht und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 15. Kap.: Das Verhaltnis von Unrecht-tun und Unrecht-leiden. Ob man sich selbst Unrecht tun konne . . . . . . . . . 127 SECHSTES BUCH
1. Kap.: Die Mitte beim sittlichen Handeln wird durch die rechte Vernunft bestimmt; deren Wesen und Begriff ist zu klaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kap.: Nachdem friiher von den ethischen Tugenden gehandelt worden ist, miissen nun die dianoetischen besprochen werden. Gliederung des verniinftigen Seelenteils in einen spekulativ-theoretischen und einen iiberlegend-praktischen. Der Mensch a1s Prinzip von Handlung und Entscheidung . 3. Kap.: Kunst, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit und Verstand als die fiinf Vermogen, durch welche die Seele immer die Wahrheit trifft. - Die Wissenschaft 4. Kap. : Die Kunst. . 5. Kap.: Die Klugheit. 6. Kap.: Der Verstand 7. Kap.: Die Weisheit. 8. Kap.: Noch einmal: Die Klugheit; sie umfaBt die Kenntnis
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des Allgemeinen und des Besonderen; verschiedene Sphliren ihrer Betatigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I 39 9. Kap.: Fortsetzung: Das Problem der Besorgung des eigenen und des allgemeinen Nutzens; Kenntnis des Besonderen durch Erfahrung; Verhaltnis zu Wissenschaft und Verstand. 140 10. Kap.: Zur Klugheit gehorende Tugenden: a) die Wohlberatenheit . . . . . . . . . . 141 I I. Kap.: b) die Verstandigkeit, c) die Diskretion . . . . . . . . . . . . . . . . 143 12. Kap.: Der Zusammenhang von Diskretion, Verstandigkeit, Klugheit und Verstand im praktischen Handeln, ihr Bezug auf das Einze1ne und Konkrete. . . . . . . . . . . . . 144 13. Kap.: Diskussion einiger Aporien beziiglich des praktischen Nutzens und des Rangverhaltnisses von K1ugheit und Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 SIEBENTES BUCH
I. Kap.: Begriindung der Behand1ung von Unentha1tsamkeit und Entha1tsamkeit. Deren Unterschied gegeniiber Sch1echtigkeit und Tugend sowie tierischer Rohheit und iibermensch1icher Vollkommenheit. Zur Methode des Vorgehens. . . 151 2. Kap. : Aufzah1ung von sechs iiber Beherrschtheit und Unbeherrschtheit bestehenden Ansichten. . . . . . . . . . . 152 3. Kap.: Erlauterung und erste Diskussion der glingigen Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4. Kap.: Themen und Disposition der Untersuchung . . . . 155 5. Kap.: Welche Art von Wissen liegt vor, wenn man unenthaltsam ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 6. Kap.: Inwiefern und mit Bezug worauf nennt man jemanden sch1echthin oder tei1weise unenthaltsam. Verha1tnis zur UnmaBigkeit und tierischen Rohheit . . . . . . . . . . 159 7. Kap.: Vergleich der Unentha1tsamkeit in bezug auf die Lust mit der in bezug auf den Zorn und der tierischen mit der mensch1ichen Sch1echtigkeit . . . . . . . . . . . . . . 163 8. Kap.: Der Unmal3ige ist sch1immer a1s der Unentha1tsame. Unterarten und Erscheinungsformen der Unentha1tsamkeit 165 9. Kap.: Fortsetzung des Verg1eichs zwischen dem Unenthaltsamen und dem UnmaBigen oder Zuchtlosen . . . . . . . 168 10. Kap. : Feste Hal tung gegeniiber d er Lust und !estes Hal ten an der eigenen Meinung. . . . . . . . . . . . . . . . 169 II. Kap.: Die Enthaltsamkcit als Mitte. Nochma1s iiber Enthaltsamkeit und MaBigkeit. Unenthaltsamkeit ist unverein-
lnhaltsverzeichnis bar mit Klugheit, nicht aber mit Geschicklichkeit. Welche Arten der Unenthaltsamkeit Ieichter zu heilen sind . . . 12. Kap.: Die Lust. Rechtfertigung ihrer Erorterung. Die in der Lustfrage vertretenen Standpunkte und die fiir diese vorgebrachten Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Kap. Auseinandersetzung mit den Argumenten der Lustgegner. Diese konnen nicht dartun, daB die Lust nicht gut oder nicht das hochste Gut sei . . . . . . . . . . . . . 14. Kap.: Gegenthese: Die Lust ist gut und wahrscheinlich das hochste Gut, insofern sie ungehinderte Tatigkeit und Ziel alles Lebendigen ist. . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Kap.: Erklarung der Griinde fiir die gewohnliche Bevorzugung der korper1ichen Liiste. Die Besonderheit der mensch1ichen Natur a1s Grund fur den Wechsel der a1s 1ustvoll empfundenen Objekte. Die unwandelbare Seligkeit des Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ACHTESBUCH
1. Kap.: Die Freundschaft. Griinde fiir ihre Behand1ung. Ihre Wichtigkeit fiir das Leben des Einzelnen und des Staates. Ihr sittlicher Rang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kap.: Aporien beziig1ich der Freundschaft: setzt sie Gleichheit oder Ungleichheit voraus? Einschrankung auf die mensch1ichen Gegebenheiten. Das Gute, Lustbringende und Niitzliche als Gegenstand der Liebe. Vorlaufige Definition 3. Kap.: Entsprechend den drei Ursachen gibt es drei Arten von Freundschaft. Diejenigen, die auf Lust und Nutzen gegriindet sind, sind von kurzer Dauer. J ene findet sich eher bei jungen, diese eher bei alteren Menschen . . . . . . . 4. Kap.: Die vollkommene Freundschaft guter und an Tugend einander ahnlicher Menschen . . . . . . . . . . . . . 5. Kap.: Verg1eich der drei Freundschaftsarten. Die Freundschaft der Guten ist Freundschaft im ersten und eigentlichen Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kap.: Die Freundschaft kann g1eich der Tugend a1s Habitus und als Actus betrachtet werden. Wahrend jene eher Woh1wollen ist, ist diese die eigentliche Freundschaft, denn nichts ist Freunden so eigen wie der Wunsch zusammenzuleben 7. Kap.: Abgrenzung der Freundschaft als Habitus vom blollen Lieben a1s Affekt. Weitere Bestimmungen iiber die vollkommene Freundschaft durch Vergleich mit der Nutz- und Lust-
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freundschaft und iiber die von den Hochgestellten gewahlten Freunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 8. Kap. : Zusammenfassung des bisher iiber die drei Freundschaftsarten Gesagten . Neben ihnen, die auf Gleichheit beruhen, gibt es eine andere Form, bei der einer der Partner iiberlegen ist . Hier muB jeder Teil nach Gebiihr lieben und geliebt werden, damit ein verhaltnismaBiger Ausgleich entsteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 9. Kap.: Verschiedenheit der Gleichheit in Recht und Freundschaft. Wie groB darf der Abstand der Partner sein? Die Menschen wollen mehr geliebt werden als selbst lieben; das Wesen der Freundschaft verlangt es jedoch umgekehrt . . . 193 10. Kap . : Die Bestandigkeit der einzelnen Freundschaftsformen. Freundschaft unter Personen in entgegengesetzten Verha1tnissen hates besonders mit dem Nutzen zu tun. Antwort auf die naturphi1osophische These, daB Gegensatzliches einander befreundet sei . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 II . Kap.: Verschiedenheit der Verbindlichkeiten von Freundschaft und Recht in den einzelnen Gemeinschaftsformen . Alle Gemeinschaften sind Teile der staatlichen Gemeinschaft. Beispiele fiir solche V ergemeinschaftungen, die erstens urn des Nutzens, zweitens urn des Vergniigens willen bestehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 12. Kap.: Die sechs Formen staatlicher Verfassung (Kiinigtum, Aristokratie, Timokratie, Tyrannis, 01igarchie, Demokratie) und die ihnen entsprechenden richtigen und verfeh1ten Formen von Verha1tnissen in der haus1ichen Gemeinschaft. . 197 13. Kap.: Fortsetzung iiber die Ana1ogie der einzelnen in der Hausgemeinschaft vorkommenden Freundschaften zu den V erfassungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 14. Kap.: Nahere Bestimmungen (I) iiber die verschiedenen Formen verwandtschaftlicher Freundschaft und (2) iiber das Verha1tnis zwischen Mann und Frau . . . . . . . . . 201 15. Kap.: Erinnerung an die Unterscheidung der Freundschaftsformen nach den drei miiglichen Objekten einerseits und nach Gleichheit und Ung1eichheit der Partner andererseits. Kombination dieser Aspekte. Behandlung von Einzelfragen, die in der Tugend-, Lust- und Interessenfreundschaft unter Gleichen auftreten kiinnen. . . . . . . . . . . . . . . 203 16. Kap.: Differenzen in der auf Dberlegenheit des einen Partners beruhenden Freundschaften. Sie sind so zu begleichen, daB dem besseren mehr Ehre, dem anderen mehr Gewinn zufallt. Die Freundschaft verlangt nur die Erfiillung des
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Moglichen, nicht des Gebiihrenden. Der Vater kann sich von jeder Verpflichtung gegenseinen Sohn lossagen, nicht aber umgekehrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 NEUNTES BUCH
1. Kap.: Schwierigkeiten in Freundschaftsverhaltnissen, in denen die Partner ein verschiedenes Zid im Auge haben. . 2. Kap.: Pflichtenkonflikte in der Freundschaft . . . . . . . 3. Kap.: Aufhebung der Freundschaft. Sie darf bei den auf Lust oder Nutzen beruhenden Freundschaften mit dem Wegfall dieser Dinge erfolgen, bei den auf der Tugend beruhenden entweder, wenn ein Teil von der Tugend abfallt, oder wenn der andere mit der Zeit cine erheblich hohere Stufe der Tugend gewinnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kap.: Anwendung der fiinf Merkmale des Freundschaftsverhaltnisses auf die Freundschaft des Guten und des Schlechten zu sich selbst . . . . . 5. Kap.: Wohlwollen und Freundschaft 6. Kap.: Eintracht und Freundschaft . 7. Kap.: Warum der Geber einer Wohltat fiir den Empfanger mehr Freundschaft empfindet als dieser fiir ihn . . . . . . 8. Kap.: Die Liebe zu sich selbst beim guten und beim schlechten Menschen. Sie muB vor allem dem besten Teil in uns, dem Geiste gelten. Aus ihr geht die Hingebung fiir den Freund und das Vaterland hervor . . . . . . . . . . . 9. Kap.: Ob der Gliickliche der Freunde bedar£ . . . . . . 10. Kap.: Ob man sich moglichst viele Freunde erwerben soli 11. Kap.: Ob man der Freunde mehr im Gliick oder im Ungliick bedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Kap.: Zusammenleben ist den Freunden das Liebste. Es ist fur sie die groBte Freude und zugleich die groBte Forderung im Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Kap.: Die Lust. Rechtfertigung ihrer Behandlung. Die heiden in der Lustfrage vertretenen extremen Positionen: I . sie ist das hochste Gut, 2. sie ist durchaus schlecht . . . . . . 234 2. Kap.: Darlegung und Priifung der Griinde fiir die heiden angegebenen Meinungen. Erstes Ergebnisdieser dialektischen Erorterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 3. Kap.: Positive Darlegung der eigenen Meinung des Aristo-
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teles iiber die Lust. Sie ist kein Werden und keine Bewegung, sondern etwas Fertiges und Ganzes . . . . . . . . . . . 4. Kap.: Die Lust ist die Vollendung der Tatigkeit. Warum der Mensch nicht bestandig Lust empfinden kann. Das Streben nach Lust und das Streben nach Leben im Sinne der einemjeden gemaBen Tatigkeit . . . . . . . . . . . . 5. Kap.: Die Lust scharft die Tatigkeit, der sie verwandt ist, und macht sie besser und anhaltender. Umgekehrt wirkt fremde Lust hindernd und verdrangend, wenn sie als starker empfunden wird. Der sittliche Wert der Lustarten entspricht dem der jeweils zugehorigen Tatigkeiten. Norm ist der Tugendhafte. Welche hat als die fiir den Menschen eigentliche Lust zu gelten? . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kap.: Erneute Behandlung der Gliickseligkeit. Sie besteht in einer Tatigkeit, die sich selbst geniigt und sich selbst Zweck ist, nicht jedoch im Spiel und Vergniigen . . . . . . . . 7. Kap.: Das vollendete Gliick des Menschen besteht im Vollzug der Theorie. Ihm kommen die Momente der Wiirde, der Dauer, der Lust, der Selbstgeniigsamkeit, der MuJ3e und der Freiheit von Ermiidung in hochster Weise zu. Es ist ein Leben unseres wahren Selbst und des Gottlichen in uns . . 8. Kap.: Das tatige Leben gewiihrt im Vergleich mit dem beschauenden nur ein zweitrangiges Gliick. Dieses ist auch darum das seligste, wei! es dem Leben der Gottheit am meisten verwandt ist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Kap.: Wenn auch der Mensch der auBeren Giiter bedarf, urn gliicklich zu sein, so besteht das Gluck doch nicht in ihnen, sondern in tugendgemaJ3er Tatigkeit. Der Mann, der das Leben des Geistes lebt, wird von der Gottheit am meisten geliebt und ist auch daher der Gliicklichste . . . . . 10. Kap.: Fiir die Ethik als praktische Wissenschaft ist die Frage, wie man die Tugend gewinnt, entscheidend. Die drei Moglichkeiten sind Naturanlage, Gewohnung und Lehre. Die Wirksamkeit der verniinftigen Rede setzt gute Gewohnung von Jugend an voraus. Diese wird durch Gesetze geregelt. Erorterung der Frage, wie man sich die Fahigkeit zur Gesetzgebung als der eigentlichen Leistung der Staatskunst erwirbt angesichts des zu beobachtenden Auseinandertretens von theoretischer und praktischer Beschaftigung mit dieser Kunst. Dberleitung zur Politik . . . . . . . . . . . . . Erliiuterungen Namenregister
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353 Sachregister . . . . 381 Literaturhinweise . . 382 1 Ausgaben. 1.1 Die Nikomachische Ethik in Gesamtausgaben der 382 Werke des Aristoteles . . . . . . . . . . 383 1.2 Einzelausgaben der Nikomachischen Ethik. 1.3 Ausgaben einzelner Bucher, Auswahlen . 385 Vbersetzungen . . . . . . . . . . . . 2 386 386 2.1 Gesamti.ibersetzungen. . . . . . . . . . 386 2.1.1 Lateinische Vbersetzungen (nur Einzelausgaben). 2.1.1.1 Mittelalterliche lateinische Ubersetzungen . . . . 386 2.1.1.2 Lateinische Vbersetzungen aus der Zeit des Huma387 nismus und der Renaissance . . . . 2. 1.2 Deutsche Gesamti.ibersetzungen . . 390 2.1.3 Franzosische Gesamti.ibersetzungen. 391 2.1.4 Englische Gesamti.ibersetzungen . 391 392 2.1.5 I talienische Gesamti.ibersetzungen Teili.ibersetzungen . . . . . . 2.2 393 2.2.1 Lateinische Teili.ibersetzungen . 393 2.2.2 Deutsche Teili.ibersetzungen . . 393 2.2.3 Franzosische Teili.ibersetzungen 394 2.2.4 Englische Teili.ibersetzungen. . 395 2.2.5 Italienische Teili.ibersetzungen. 396 Kommentare . . . . . . . . 3 396 Griechische und griechisch-byzantinische Kommen3.1 tare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 3.2 Mittelalterliche lateinische und arabische Kommentare (in lateinischen Vbersetzungen) . . . . . . . 397 3.3 Lateinische Kommentare aus der Zeit des Humanismus und der Renaissance . . . . . . . . . . . . 398 3.4 Neuzeitliche Kommentare (seit Ende 18./Anfang 19. Jh.) . . . . . . . . . . . . . . 402 3.5 Kommentare zu einzelnen Bi.ichern. 403 4 Bibliographien . . . . . . . . . 404 4.1 Allgemeine Bibliographien 404 4.2 Spezialbibliographien zu Aristoteles und zur Aristotelischen Ethik . . . . . . . . 405 5 Erliiuterungsschriften 406 Nachtrag (in chronologischer Ordnung) 439
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
V ernunft und Ethos Zum Ausgangsproblem der Aristotelischen Ethik Eurrea;ta yae uveu llLavota~ xat oux £anv (1139 a 34/35).
Tj{}ou~
Die lange Kommentierungs-, d. h. zugleich auch Wirkungsgeschichte der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (wie auch seiner iibrigen Schriften) zerfiillt deutlich in zwei Perioden: in die der scholastischen Interpretationstradition einerseits und in die der neuzeitlichen philologisch-geisteswissenschaftlichen Zuwendung zum Text andererseits. Die Bezeichnung scholastisch ist dabei so weit gefaBt, daB sie die gesamte Beschiiftigung mit Aristoteles von den griechischantiken Kommentatoren an iiber die griechisch-byzantinische, die arabische, syrische und jiidische, die lateinischmittelalterliche, die lateinisch-humanistische und die protestantisch-scholastische Schulphilosophie der friihen Neuzeit umgreift.tl Das Gemeinsame dieser Tradition ist darin zu sehen, daB Aristoteles hier in der gleichen Weise gelesen wurde, wie er seinerseits bereits seine entfernteren und niiheren Vorgiinger rezipiert hatte 2l: als im Grunde gleichzeitiger Autor, der ganz unmittelbar auf seine Aussage hin befragt werden kann. Die Kommentierung geschieht dementsprechend wesentlich in Form einer immanenten Exegese, der es, wie dies Thomas von Aquin programmatisch formuliert hat, nicht darum ging festzustellen, was Aristoteles, dieser Autor des 4. vorchristlichen Jahrhunderts, gedacht habe, sondern wie es mit der Wahrheit der Dinge -d. h. aber im Bereich der Politik und Ethik: mit den gegenwartigen Verhiiltnissen - bestellt sei. Die Moglichkeit dafiir, daB vor allem die praktische Philosophie des Aristoteles, von der hier primiir die Rede sei, so etwas wie die Nor-
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Ein1eitung des Herausgebers
malphilosophie des Alten Europa abgeben konnte, diirfte, was die tragenden Ordnungen angeht, in der erstaunlichen geschichtlichen Konstanz der gesellschaftlichen Verhaltnisse his zum En de des 18. J ahrhunderts zu sehen sein. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, auf dem Boden der sich nach der Franzosischen Revolution konstituierenden biirgerlichen Gesellschaft, iindert sich die Szene. Die Emanzipation aus der alteuropaischen Geschichte bedingt cine solche Diskontinuitat zu ihr, daB die Philosophic der Herkunft nicht mehr unmittelbar als die W ahrheit der eigenen Zeit begriffen werden kann, sondern auf dem Wege historisch-philologischer Vermittlung zunachst einmal textlich eingeholt und priisent gemacht werden mu£.3) Fiir diese wissenschaftlichphilologische Zuwendung zu Aristoteles gilt es nicht, seine Schriften und ihre Wahrheit philosophisch-engagiert auszulegen, sondern sie und ihren Autor zuniichst einmal aus den eigenen, nunmehr fremd gewordenen Voraussetzungen zu verstehen. Als Organon dieser Art von Interpretation entsteht H ermeneutik, die "Kunst des Verstehens fremder (oder fremd gewordener) Rede"; der Kritik obliegt es, fiirs erste einmal einen philologisch gesicherten Text zu konstituieren. Auf Schleiermachers Anregung hin entschlieBt sich im Jahre 1817 die Berliner Akademie, durch Immanuel Becker das Corpus der Aristotelischcn Schriften zum ersten Male verliiBlich edieren.4J An der philologischen Diskussion urn die Aristotelische Ethik hat sich Schleiermacher, Archeget der modernen Hermeneutik als einer Theorie historischer oder - wenn man so will - historistischer Verstehenspraxis, selbst maBgeblich und folgenreich beteiligt. Von seiner Behandlung der Aristotelischen Ethik ist darum bier auszugehen, wei! in diese aus scheinbar neutralem philologischem Interesse unternommene Diskussion5J selbst spezifisch philosophische Vorentscheidungen eingegangen sind, niimlich die der neuzeitlichen Moralphilosophie6J, die darum zur Sprache zu bringen sind, wei! sie - ungeachtet mancher Einzelunterschiede zu spezifisch Schleiermacherschen Positionen - im Grunde auch die unseren, aber von den Aristotelischen zunachst wesentlich verschiedene "Vorurteile" sind. Jede ge-
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genwiirtige Aristoteles-lnterpretation hat sich dieser Differenz bewuBt zu sein. Betrachten wir daher kurz die Behandlung unseres Textes durch Schleiermacher. In einer am 4. Dezember 1817 vor der Berliner Akademie vorgetragenen Abhandlung "Ober die ethischen W erke des Aristoteles"7) versucht Schleiermacher, das Problem zu losen, das darin besteht, daB "sich in unserer Sammlung aristotelischer Schriften drei verschiedene W erke befinden, welche nur mit verschiedenen Beisiitzen die Oberschrift 'H&Lx.iX fiihren" .s) Man miisse sich wundern, schreibt er, "daB iiber diese Sache noch niemals eine griindliche Untersuchung angestellt worden ist, urn auszumitteln, wenn nun Aristoteles doch nicht aile diese drei W erke geschrieben haben kann, wie sie sich gegeneinander verhalten, und ob eines oder gar keines von ihm geschrieben sein mag". 9l Er selbst unternahm es dann, "genauer als bisher geschehen ist, diese drei W erke miteinander zu vergleichen in Beziehung auf ihren wissenschaftlichen Charakter, ihren methodischen Werth, ihre Obereinstimmungen unter sich und ihre Abweichungen von einander, ob etwa daraus eines bestimmt als das vorziiglichere und urspriinglichere hervorgehe, und in den andern sich ein bestimmtes Verhiiltnis der Abhiingigkeit offenbare, welches einen anderen Ursprung eben so deutlich verriith" .1o) Schleiermachers, nach unseren heutigen Erkenntnissen durchaus problematisches Ergebnis lautet nun, daB die Magna Moralia echter seien als die Nikomachische Ethik, daB die Eudemische dagegen im wesentlichen eine spiitere Ausfiihrung der GroBen Ethik darstelle; sie sei das Werk eines ziemlich Unfiihigen aus einer Zeit, wo die politische Richtung des Philosophierens ganz aufgehort habe und die "Sittenlehre" selbstiindiger habe hingestellt werden miissen. - Fiir uns von Interesse ist allein die Behandlung der Nikomachischen Ethik. I. Ihren Gesamtaufbau kann Schleiermacher nur als "diirftig und unzureichend" empfinden11l, er "gestaltet sich weder zu einem gehorigen ganzen noch geht er a us einer rechten Einheit hervor"; dies liege jedoch durchaus an dem Standpunkt des Aristoteles selbst, der mit dem seiner physikalischen Schrift ganz analog sei. 2. Abgesehen davon stellt Schleiermacher jedoch noch
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zwei weitere ,groBe Verwirrungen" fest, welche mit diesem Standpunkt nicht notwendig zusammenhiingen und , welche bei der logischen Meisterschaft12) des Aristoteles man sich nur schwer entschlieBen kann, ihm selbst beizulegen". Die erste Verwirrung (von der hier allein gesprochen werden soll) 13} sieht Schleiermacher darin, daB Aristoteles in der Sittenlehre, die als Lehre von der Gliickseligkeit definiert wird, welche in einer den Tugenden gemiiBen Tiitigkeit bestehe, die ,geistigen Tugenden" in Buch VI mit solcher Ausfiihrlichkeit behandele. Thema der Sittenlehre kiinnten mit Fug nur die sittlichen Tugenden sein; wenn man von ihnen schon iiberhaupt als zweite Hauptklasse ,die geistigen Tugenden" absondere, so hiitte von ihnen an sich legitimerweise nur insofern gesprochen werden diirfen, als von ihnen das Ma.B ausgehen miisse, welches die wahre Mitte zwischen den entgegengesetzten Fehlern zu bestimmen habe, also nur urn der ethischen Tugenden willen. W ohl sage Aristoteles dieses, dennoch aber diskutiere er andererseits im Gegensatz zu dieser eingeschriinkten Thematisierung siimtliche ,logischen Tugenden" in extenso. Verstiirkt werde dieses Schwanken noch durch die letzten Kapitel des X. Buches, worin dargelegt wird, daB die aus dem beschaulichen Leben entstehende Gliickseligkeit die hiichste und vollkommene sei. Von dieser Gliickseligkeit aber hiitte eigentlich gar nicht gehandelt werden diirfen in einer Sittenlehre, die sich als eine politische Disziplin definiert.14} Ja, es hiitte von ihr auch gar nicht gehandelt zu werden brauchen, denn ,die Gliickseligkeit des zweiten Grades, die des biirgerlichen und geschiiftigen Lebens, bedar£ gar nicht der freien Thiitigkeit der geistigen Tugenden, aus welcher die Wissenschaft und alles was ihr anhiingt, hervorgeht, sondern nur desjenigen Eingreifens dieser Kriifte in das geschiiftige Leben, wodurch jeder in den Stand gesetzt wird, da wo er es selbst bestimmen muB, die wahre Mitte zu finden. Gewohnlich aber bedarf der einzelne gar nicht dieser Selbstbestimmung, sondern die Mitte ist ihm gegeben in der Sitte, in dem allgemeinen Urtheil, welches sich durch den Einflu.B derer, die das beschauliche Leben fiihren, der Weisen und der Dichter, allmiihlig ge-
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bildet hat." A us dem Gebiet der geistigen Kriifte brauche also nichts beriihrt zu werden als nur die Fertigkeit nach Analogie mit der Sitte in Fallen, welche durch sie nicht hinreichend bestimmt sind, die rechte Mitte zu finden, und das Ganze konne vollendet werden durch die Aufstellung einer ausschlieBlich sittlichen Vollkommenheit, in welcher die freie Tiitigkeit der geistigen Kriifte zur Erzeugung der Wissenschaft gar nicht enthalten sein diirfe; werde dies beachtet, so sei die Sittenlehre ganz in den Grenzen einer politischen Disziplin geblieben, und habe nichts in sich aufgenommen, was dieser fremd ist. Es sei richtiger gewesen und auch dem gemeinen Sprachgebrauch, dem Aristoteles sich gern recht nahe halte, angemessener, jene geistigen Kriifte nicht Tugenden zu nennen und eine Einteilung der Tugenden in sittliche und geistige ganz zu vermeiden, damit die Tugend ganz durch die Sittenlehre erschopft sei. Bereits Carl Prantl hat auf die spezifisch neuzeitlichen Voraussetzungen dieser Kritik hingewiesen: die Schwierigkeiten, welche der Urnstand darbietet, dafi Aristoteles in der Reihe der einzelnen Tugenden auch den Tiitigkeiten des erkennenden Geistes als solchen einen Platz einriiumt, ja die Tugend ausdriicklich in ethische und dianoetische einteilt, beruhen darauf, dafi "wir Neuere nach dem Verlaufe, welchen die Philosophie bei uns einmal genommen hat, gewohnt sind, die Ethik entweder ganz von der Wissenschaft des logischen Erkennens getrennt oder vollig in die Dialektik des subjektiven Idealismus hineingezogen zu sehen"ts). Prantl hat damit eine Differenz des modernen Standpunktes von dem des Aristoteles ausgesprochen, den, bestimmte Hegelsche Oberlegungen aufnehmend, Karl Ludwig Michelet als die Differenz von (antiker) Ethik als Teil der praktischen und d. h. immer zugleich politischen Philosophie einerseits und dieser gegeniiber auf einigen Reduktionen beruhender (moderner) Moralphilosophie andererseits gefa6t hat.t6) Abgesehen von dieser philologisch-hermeneutischen Interpretationsproblematik, niimlich, daB das W erk des Aristoteles bei Schleiermacher doch nicht aus seinen eigenen Voraussetzungen, aus seinem Geiste und dem seiner Zeit begriffen wird17), erstaunt die Feststellung von 1817, dafi dem einzelnen zum
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Handeln die Orientierung an der herrschenden Sitte geniige und daB er dazu der verniinftigen Selbstbestimmung und Reflexion gar nicht bediirfe, auch an sich urn so mehr, als sie in einer Zeit formuliert worden ist, von der Hegel behauptete, daB in ihr durch Gewalt nichts mehr gelte, durch Sitte und Herkommen wenig, in der alles aber durch Einsicht und Griinde sich auszuweisen habe.1B) Fiir die Situation, in der Aristoteles philosophiert, gilt das Entsprechende durchaus, und so scheint es, will man das Ausgangsproblem der Aristotelischen Theorie in den Blick bekommen, sinnvoller, von dieser Gemeinsamkeit in den Zeitverhiiltnissen auszugehen als von den Differenzen (wie sie in dem oben angedeuteten Unterschied von ,Ethik" und ,Moralphilosophie" bestehen), zumal auf diese Weise der Aristotelischen Theorie der Praxis in dieser Hinsicht eine unerwartete Aktualitiit zuwachsen diirfte. Es liiBt sich niimlich die Aristotelische Ethik und praktische Philosophic insgesamt- im Gegenzug zu Schleiermachers Formulierung - charakterisieren als das U nternehmen einer Theorie des guten und gelingenden Lebens unter den Bedingungen einer Legitimitiitskrise von Sitte und Herkunft gerade unter dem Einflu£ von Miinnern, die ein ,beschauliches Leben" fiihrten und deren Amt nach Schleiermacher die Konsolidierung des Ethos gewesen sein soil. Die Arislotelische Theorie der Praxis ist erzwungen durch die Ausbildung von Wissenschafl und Vernunfl in kritischer Absetzung von dem ,biirgerlichen und geschii(ligen Leben" und den es leitenden Vorstellungen vom Guten, Schonen und Gerechten. Angesichts der so fragwiirdig gewordenen Geltung von Ethos und Nomos nimmt die Nikomachische Ethik ihren Gegenstand gleich im l. KapitellD) auf: ,Das sittlich Gute und Gerechte, das Thema der Staatswissenschaft ist, zeigt solche Gegensiitze und solche Unbestandigkeit, da£ die Meinung hat aufkommen ki:innen, es beruhe nur auf Satzung und Gesetz, nicht aber auf der Natur. Und eine iihnliche Unbestiindigkeit haftet auch den Giitern an, indem viele durch sie zu Schaden kommen: Schon mancher ist wegen seines Reichtums und mancher wegen seines Mutes zugrunde gegangen." In den Sophistisdlen Wider-
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legungen hat Aristoteles die Urheber einer solchen Ansicht und zugleich den Grund dafiir benannt, daB sie hat formuIiert werden konnen; es ist dies die Entzweiung zwischen dem H erkommen und einer sie verwerfenden V ernunfl, repriisentiert durch die sophistischen Intellektuellen in ihrer Entgegensetzung zu den nicht-philosophischen Menschen. Von ihnen stamme die antithetische Entzweiung von Natur und Satzung als Geltungsgrund von gut und gerecht: "Man sagt" - Aristoteles verweist auf die Argumente des Kallikles in Platons Gorgias- "Natur und Gesetz stiinden sich entgegen, und die Gerechtigkeit sei nach dem Gesetz schon und gut, nach der Natur aber sei sie es nicht. Hierbei war den Vertretern dieser Ansicht das NaturgemiiBe das W ahre und das Gesetzmiifiige das, was die Menge meinte"2o). Auf solche Argumentation kann Aristoteles bereits historisch zuriickblicken mit der Feststellung, die iilteren Sophisten hiitten ihr wirkliche Folgerichtigkeit zugeschrieben, und er sieht sich dadurch zugleich in die Lage versetzt, das ganze Problem in seiner methodologischen, d. h. aber neutralisierten Fassung zu diskutieren: Die iilteren Sophisten suchten ganz wie die gegenwiirtigen auf diese Weise den Partner in einem Streitgespriich entweder zu widerlegen oder auf paradoxe Behauptungen zu bringen. Paradoxie ist denn auch das Stichwort, unter dem Aristoteles in distanzierter Weise methodologisch das abhandelt, was nach einer beriihmten Formulierung Hegels in der Weise des Auftretens von Entzweiungspositionen allererst das Bediirfnis nach Philosophic hervortreibt21), Ihr Grund ist nach Aristoteles in allen Fallen das Auftreten von lntellektuellen, "Weisen", Philosophen oder allgemeiner: die Trennung von Theorie und Praxis, von "Schule" und "Stadt", von reflektierendem und tiitigem Leben. Unter dieser Bedingung sind mindestens drei Formen einer Antithetik zwischen Meinungen, also von Paradoxien moglich. Die erste ist die schon genannte zwischen den Philosophen, lntellektuellen einerseits und den am geltenden Herkommen orientierten Menschen andererseits. Aristoteles hat das Problem auf die allgemeinste Forme! gebracht und gleich die entscheidende Feststellung getroffen, daB keine
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der in dieser Antithetik eingenommenen Positionen die Wahrheit fiir sich hat: "Manche Fragen bringen es mit sich, daB die Antwort in heiden Fallen unglaubwiirdig ist. Z. B.: muB man seinem Vater oder den Weisen folgen (d. h. den Vertretern der Herkunft oder der sie verwerfenden Vernunft, G. B.)? Und: muB man tun, was niitzlich oder was gerecht ist? Oder: muB man Iieber Unrecht leiden als Unrecht tun? - Man muB da den Gegner bald auf das hinfiihren, was der Meinung der Menge, bald auf das, was der Meinung der Intellektuellen zuwiderliiuft: auf das, was der Meinung der Menge zuwiderlauft, wenn er im Sinne der Intellektuellen, auf das, was der Meinung der lntellektuellen zuwiderlauft, wenn er im Sinne der Menge spricht. Sagen doch die Philosophen, die ihre Ansicht auf begriffliche Argumentation stiitzen, der Gliickliche sei notwendig gerecht, wahrend die Menge nicht glauben kann, daB ein Konig nicht gliicklich sein soli". Aristoteles hebt das Allgemeine heraus und gibt den Grund der Moglichkeit solcher Antithesen an: ,Wenn man iibrigens die Eriirterung auf unglaubwiirdige Behauptungen dieser Art hinausfiihrt, so ist dies dasselbe, wie wenn man auf den Gegensatz des NaturgemaBen zu dem GesetzmaBigen fiihrt. Das Gesetz bestimmt ja die Meinung der Menge, wahrend die Philosophen der Natur und der Wahrheit gemiiB sprechen".- Die zweite Moglichkeit einer dialektischen Erzeugung von antithetischen Meinungen ist durch die Pluralitat der Schulen und Philosophien gegeben. In einer Diskussion muB man demnach zusehen 22 ), aus welcher Schule der Gegner stammt, und dann nach solchen Meinungen dieser Schule fragen, die der Menge paradox erscheinen; "denn in jeder Schule finden sich dergleichen Ansichten". Die Verteidigung gegen solche Angriffe besteht nach Aristotelcs umgekehrt darin, aufzuzeigen, daB cine solche Paradoxic geradc nicht vorliege: ,denn genau das ist es ja immer, was jeder in einem Streitgesprach dartun will". Auch hier also ist das Kriterium die Obereinstimmung von philosophischer und nichtphilosophischer Meinung. - Drittens laBt sich unter der Bedingung der Ausbildung einer auf die Kunst der Erzeugung von Antithesen bedachten Vernunft der Widerspruch auch in
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das einzelne Subjekt selbst hineintragen: man hat es nur auf den Gegensatz zwischen den geheimen Wiinschen und den offen ausgesprochenen Grundsatzen der Menschen abzustellen. "Die Wiinsche stimmen ja oft nicht zu den Worten, sondern man halt die schonsten Reden und will doch nur, was vorteilhaft erscheint. So sagt man, man miisse lieher riihmlich sterben als im Genusse Ieben, und Iieber in Ehren arm als in Schande reich sein wollen, aber man will das Gegenteil. Man mu£ nun den, der seinen Wiinschen gema£ redet, zu seinen offen kundgegebenen Grundsatzen hinzufiihren suchen, und den, der diesen gemii£ redet, zu seinen heimlichen Wiinschen. In heiden Fallen mu£ er dann unglaubwiirdige, paradoxe Behauptungen aufstellen; denn er mu£ Dinge vorbringen, die entweder seinen ausgesprochenen oder seinen unausgesprochenen Grundsatzen zuwiderlaufen." - W erfen wir einen kurzen Blick darauf, wie Aristoteles selbst die einzelnen von ihm genannten Aporien in seiner ethischen Theorie behandelt, urn dann zu sehen, in welcher Weise er das allgemeine Problem von Herkunft und Vernunft, von ~-&o~ und 81&vmoc diskutiert, das (mitsamt der Entgegensetzung von Natur und Satzung sowie von Theorie und Praxis) Grund aller jener einzelnen Aporien und Antithetisierungen ist. - "Aporien sind das Produkt sophistischer Trugschliisse. Das Denken fiihlt sich zunachst durch sie wie gebunden, weil es sich einerseits bei der mi£lichen Folgerung nicht beruhigen kann, und doch auch wieder, unvermogend, den vorgebrachten Grund zu entkraften, nicht von der Stelle kommen kann. Gelingt es aber, die Aporie aufzulosen, so ist das das Auffinden der Wahrheit, lj yocp
A1Jcr1~ -r'ij~ &rrop(oc~ e\.lpecr(~
ecr·nv" 23).
(I) Ob man seinem Vater oder den Intellektuellen folgen solle, ist - abgesehen von dem allgemeinen Aspekt, insofern namlich die heiden Figuren als Reprasentanten von ethisch-iiberlieferter Lebensordnung einerseits und kritischer bzw. fachlicher Rationalitat andererseits stehen24) cine spezielle Aporie der Freundschaftslehre: "Soli man seinem Vater alles gewahren und ihm in allem gehorchen, oder mu£ man im Krankheitsfalle dem Arzte folgen und bei der Wahl cines Feldherrn einem kriegstiichtigen Manne
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seine Stimme geben?"25) Aristoteles antwortet mit einem Hinweis auf die phiinomenale Vielfalt der menschlichen Lebensordnung26l und der je verschiedenen durch sie begrundeten sittlichen Verpflichtungen, die es schwer machen, hier exakte theoretische Bestimmungen zu treffen27). Jedenfalls gelte: man solle den Eltern Ehre erweisen wie den Gottern, doch nicht alle Ehre; denn die Mutter erhalte schon nicht die gleiche Ehre wie der Vater, auch nicht die Ehre, die man dem W eisen oder dem F eldherrn erweise, sondern man gebe dem Vater die ihm gebuhrende Ehre und ebenso der Mutter die ihr gebuhrende2Bl. (2) Die Aufhebung der Entzweiung zwischen dem subjektiven Interesse in Form des Strebens nach Nutzen bzw. Lust und der Verwirklichung des an sich Guten und Gerechten ist eine der fundamentalen Intentionen der ganzen ethischen Theorie des Aristoteles. Mit einer Kritik des Delischen Epigramms, demgemiiB das Nutzliche, das sittlich Schone und das Lustbringende getrennte, nicht ein und derselben W esenheit zugleich zukommende Eigenschaften sind, setzt die Eudemische Ethik programmatisch ein29l, und die Nikomachische Ethik greift diese Kritik auf: Diese Bestimmungen kommen der besten Tiitigkeit, d. h. dem Gluck als dem obersten dem Menschen moglichen Gut, zugleich zu 3ol. Zu diesem Gluck als der tiitigen Realisierung des Guten und Schonen in der Welt des Mensch en gehiiren daher notwendig auch die iiuBeren Guter, wie Aristoteles denn auch andererseits mit Nachdruck an der durch die Sprache vorgegebenen Einheit und Zusammengehorigkeit der heiden Momente von gut Leben im Begriffe des Gluckes festgehalten hat, womit er die Meinung der nicht-philosophischen Menschen bestiitigt: dieses umfaBt in seinem vollen Sinne sowohl das exemplarisch-sittliche Leben der , Tugend" im anspruchsvollen Sinne wie auch das iiuBere Wohlergehen3 1l. (3) Die nachdruckliche Sokratische These32l, daB Unrechtleiden weniger schlimm sei als Unrechttun, wird V II, 1138a 28 ff. zur Sprache gebracht und, durchaus zustimmend (jedoch zugleich auch ein wenig korrigierend und relativierend), als eine These erwiesen, die so nur von einer wissenschaftlichen Theorie des Guten und des Handelns formu-
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liert werden konne. An sich sei beides, Unrcchtleiden und Unrechttun, nichts Gutes; aber doch sei Unrechttun schlimmer, denn es fiihre Schlechtigkeit mit sich und sei an sich tadelnswert, was beim Unrechtleiden nicht der Fall sei. ,Also ist Unrechtleiden an sich weniger schlimm, mitfolgend aber kann es wohl das grofiere Obel sein: darum aber kiimmert sich die Wissenschaft nicht." (4) Das alte kategoriale Reflexionsbegriffspaar Natur oder Satzung, mittels dessen seit Erwachen einer die verschiedenen menschlichen Lebensordnungen vergleichenden Vernunft die meisten in Geltung stehenden Gegebenheiten (Staatsordnungen, Lebensformen, Moden, sprachliche Bedeutungen, Gotterglauben, Systeme von philosophischen und nichtphilosophischen Meinungen us f. 33)) .in Griechenland diskutiert worden sind, hat Aristoteles in derse!ben Funktion bei einer Beschreibung der in den Staaten geltenden politischen Rechte angewandt34), und er hat dabei betont, daB die Meinung derer falsch sei, die sagten, aile Verhaltensnormen beruhten auf beliebig abiinderbaren Einzelsatzungen. Seine eigentliche Antwort hat er jedoch im Zusammenhang seiner Theorie des Ethos und dcr sittlichen Tugenden in II 1 gegeben. Die ethische Tugend entsteht demnach aus guter Gewohnung, d. h. aber, sie ist weder von Natur im Menschen vorhanden, noch ist sie gegen die Natur, der Mensch ist vielmehr von Natur, d. h. der Moglichkeit nach zur Tugend angelegt; zur Realisierung kommt sie - und das heiBt: der Mensch - aber erst durch gute Praxis in den vorgegebenen Ordnungen von Ethos und Vernunft, nur auf diese Weise gelangt der Mensch zu seiner Natur. Die Praxis allein vermittelt die Naturals Moglichkeit mit ihr als Wirklichkeit und Vollendung des Menschen35l. (5) ,Schon mancher ist wegen seiner Tapferkeit zugrunde gegangen"36). - Kant hat an einer beriihmten Stelle37) die Dialektik der reinen praktischen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom hochsten Gut in Form der Antinomie von , Tugend" und ,Gliickseligkeit" beschrieben. Er hat dies in einer Analyse der Positionen der Stoiker und Epikureer (also der heiden nach-aristotelischen Reflexionsphiloso-
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phien) getan: wahrend jene lehrten, die Tugend allein mache das ganze hochste Gut aus, sich ihrer bewugt zu sein, sei Gliick, sagten diese, sein Gluck zu wollen und es zu hefordern, sei Tugend. Kant wendet sich gegen die in heiden Fallen vollzogene ldentifikation von Tugend und Gliickseligkeit. - Nun vertritt, wie wir sahen, auch Aristotelcs einen Begriff des ohersten praktisch-sittlichen Gutes als Eudaimonia, in dem diese heiden Momente enthalten sind, und es konnte dementsprechend nicht aushleihen, dag seine Ethik dem Verdikt der Eudamonismus-, und wegen seiner relativen Anerkennung der Lust3BJ, der Hedonismus-Kritik verfiel. Nach dieser Kritik gehort demnach Aristoteles nicht in die Reihe der nur sehr wenigen Manner, ,welche sich aus eigenem Geiste zur reinen Erkenntnis der absoluten und iiher alles andere erhahenen Wiirde des guten Willens erhohen hahen, ohne diese vom Erfolge des W ollens fiir den Zustand der handelnden Person oder des hehandelten Gegenstandes ganz oder wenigstens theilweise ahhangig zu machen"39J, Es zeigt sich, "dag auch ein scharfer Verstand und ein edler Sinn die Ethik nicht vor dem Verderhen des Eudamonismus hewahren kann, sohald einmal der schmale Pfad der ethischen Wahrheit verfehlt ist" 4 0l. Dasjenige, was uns vornehmlich von ihm scheide, sei, "dag er der Anlage seiner Ethik nach auch das ahsolut werthvolle, sittlich Gute nur als Mittel zu dem fiir ihn ahsoluten Zweck der Eudamonie hetrachten kann, wenn ihm auch einmal das Wort entschliipft, dag wir nach der Tugend trachten wiirden, wenn auch nichts Anderes daraus folgte "4t). Urn die Position des Aristoteles in diesem Punkte zu verstehen, ist eine Differenzierung zwischen den spezifisch sittlichen und den sittlich neutralen Momenten in der zusammenfassenden Definition der Eudamonie, die Aristoteles 110 I a 14 giht, wohl zu beachten. Diese besteht offensichtlich aus zwei Momenten: 1. aus dem eigentlichen Kern: der Tiitigkeit gemag der vollkommenen Tugend, wie es hier in einem knappen Resiimee der langen Ahleitung des obersten Gutes als der dem Menschen als Menschen spezifischen Leistung in I 6, 1098a 7-20 heigt; 2. aus solchen Gegebenheiten, die nicht in der Hand des Menschen liegen: aus einer gewissen Lange
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des Lebens und der Ausriistung mit iiuEeren Giitern 42 l. Letzthin entscheidend freilich ist die Tiitigkeit und die verantwortete Lebensfiihrung; da es auf sie ankommt, kann im Grunde keiner der wahrhaft Gliickseligen (dies ist eine der wenigen Stellen, an denen Aristoteles in seiner Gliickstheorie das emphatische Wort JlUXUQW~ gebraucht) ganz unselig werden, wahl aber auch nicht vollkommen selig, wenn er in iiuEere Schicksale wie das des Priamos geriit 43l. Noch deutlicher jedoch machen es die Aristotelischen Darlegungen iiber die Tapferkeit, wie wenig zutreffend es ist, seine Position als eudiimonistisch oder gar hedonistisch zu beschreiben. Denn so richtig es auch ist, daB Aristoteles vom Gluck als dem Ziel allen menschlichen Handelns ausgeht, so hat er dennoch daneben ohne Abstrich die sittliche Forderung zur Geltung gebracht, daB der Mensch auch bereit seiu miisse, urn des Guten und Schonen willen gar sein Leben zu opfern, welches doch die unabdingbare V oraussetzung des irdischen Gliickes ist, von dem allein Aristoteles handelt und handeln will. Mit aller BewuBtheit wird, frei von jedem aufdringlichen Moralisieren, die Paradoxie des sittlichen Anspruchs im Falle der Tapferkeit gerade fiir den vollkommenen Menschen ausgesprochen: "Es miissen das Sterben und der Empfang von Wunden dem Tapferen schmerzlich und unwillkommen sein, und doch wird er sie willig hinnehmen, weil dieses sittlich schon und sein Gegenteil hiiBlich ist. Und je mehr er die ganze Tugend besitzt und je gliicklicher er ist, urn so schmerzlicher fiillt ihm das Sterben. Denn einem Manne wie ihm gebiihrt es am meisten zu Ieben, und der Tugendhafte wird mit offenen Augen der hochsten Giiter beraubt, und dieses muB ihn schmerzen ... Es ist eben nicht so, daB bei allen Tugenden der Vollzug mit Lust verbunden ist"44). Mehr konnte eine ethische Theorie bei bewuBter Beschriinkung auf das irdische Leben ante Christum natum nicht leisten! (6) Die Relativitiit der Giiter und das Problem der Norm in der Aristotelischen Ethik. - W enige Stellen der Nikomachischen Ethik machen in solcher Klarheit den geschichtlichen Ort und das theoretische Programm des Aristoteles deutlich, niimlich den Versuch zwischen Platon und der So-
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phistik zu vermitteln, wie das 6. Kapitel des III. Buches (1113a 15-b 2). Allgemein und noch ganz neutral gilt, so beginnt die Argumentation mit Riickgriff auf 1111 b 26, daB das Wollen auf das Ziel geht, wahrend das Dberlegen sich mehr auf die zum Ziele fiihrenden Mittel richtet. Nun meinen die einen, der Wille richte sich auf das Gutc schlechthin, die anderen aber, er gehe nur auf das, was dem einzelnen jeweils als solches erscheint45J. (a) Jene, die sagen, daB das Gewollte unmittelbar das Gute sei, miissen sich mit der Folgerung abfinden, daB dasjenige gar nicht gewollt sei, was einer auf Grund einer unrichtigen Wahl will; denn wenn es gewollt ware, ware es auch gut, in Wirklichkeit aber war es etwas Schlechtes. Was Aristoteles hier kritisch reflektiert und durch Aufweis der sprachlichen Widerspriichlichkeit ad absurdum fiihrt, ist ein Stuck aus der Willenslehre Platons, der im Gorgias 466e ff. unterschieden hat zwischen dem, was man wirklich will (& ['o0:Aov-r0(1) und dem, was einem nur diinkt (& llox~r). (b) Wer aber wiederum sagt, daB nur das erscheinende Gut das Gewollte und Objekt menschlichen Strebens sei, der muB zu der Konsequenz gelangen, bzw. der behauptet implizit, daB das vom Menschen Gewollte nicht ein von Natur und allgemein verbindliches Ziel des Wiinschens sei, sondern nur fiir jeden einzelnen das, was ihm jeweils so erscheint. Nun erscheint aber dem einen dies, dem anderen jenes als gut und unter Umstanden demselben sogar Entgegengesetztes. Dies ist, auf die kiirzeste Forme! gebracht, ein Referat des sog. individualistischen Giiterrelativismus der Sophistik. Bei Platon lautet er, dem Protagoras in den Mund gelegt46): ,So schillert das Gute und verwandelt sich immer wieder". Es ist dies die schon zitierte Feststellung aus dem 1. Kapitel der Nikomachischen Ethik, daB das Gute und Gerechte solchen Schwankungen und Widerspriichlichkeiten unterworfen sei, daB man babe meinen konnen, es beruhe nicht auf natiirlicher Notwendigkeit, sondern allein auf willkiirlicher Festsetzung. Beide zitierten alternativen Theorien des Guten, die Aristoteles vorfindet, werden von ihm verworfen: Weder ist es richtig zu sagen, daB der Wille unmittelbar, mit metaphysischer Notwendigkeit und daher immer auf das an sich Gute und
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Richtige ziele, noch kann es eine ethische Theorie, wie er meint, dabei bewenden lassen, festzustellen, erstrebt werde allein das scheinbar Gute, eben nur das, was der einzelne in einer jeweiligen Situation fur ein Gutes halte. Die Vermittlung zwischen dem Platonischen Absolutismus des an sieh Guten und dem sog. sophistischen Relativismus wird in der Weise gewonnen, daB Aristoteles, der die sophistische Position einer volligen Anarchie der W erte als Platoniker nicht weiter ernstlich erwiigt, sondern sie ohne Gegenbeweis beiseite schiebt, diese im folgenden dann aber zur Korrektur der Platonischen These beniitzt. Absolut genommen, so fiihrt er aus, ist das Gute schlechthin Gegenstand des Wollens - hier wird Platon Recht gegeben -, fiir den einzelnen aber jeweils das, was ihm als gut erscheint- in dieser Hinsicht hat die Sophistik recht. Konkret bedeutet das: die Menschen unterscheiden sich gerade durrh das, was ihnen jeweils als gut erscheint; die Subjekte sind in dieser Relativitiit sozusagen nicht homogen, ihre Vorstellungen vom Guten sind nicht als gleich zu bewerten und dem an sich Guten und dem auf es bezogenen Willen gegeniiberzustellen; es gibt unter ihnen qualifizierte Subjekte. Bei Aristoteles heifit das so: "Jeder entscheidet sich fur das, was ihm als gut erscheint; fUr den Tugendhaften ist es das in Wahrheit Gute, fur den Schlechten aber jedes Beliebige . .. denn fiir jede Verfassung gibt es ein eigenes Schones und Angenehmes, und vielleicht zeichnet sich der Tugendhafte gerade dadurch am meisten aus, daB er in jedem einzelnen die Wahrheit erkennt, da er gewissermaBen Richtschnur und MaB dafiir ist. Die Leute dagegen scheinen sich durch die Lust tiiuschen zu lassen, denn sie ist nicht gut und scheint doch so. Sie wiihlen also die Lust als ein Gutes und meiden den Schmerz als ein Schlechtes". Was ihnen genuBreieh ist, ist in sich widerspriichlich, "weil es dies nicht von Natur ist; dagegen gewiihrt den Liebhabern des sittlich Guten und Schonen dasjenige Lust, was von Natur genuBreich ist. Diese Eigenschaft aber haben die tugendmiiBigen Handlungen, und so miissen dieselben gleichzeitig fiir die tugendhaften Menschen und an sich genuBreich sein" 47l. Bei den Guten, und nur bei ihnen koinzidiert das Lustbringende mit dem Guten, und zwar
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jeweils wiederum das, was dies von Natur und an sich selbst ist mit dem, was ihnen als solches erscheint. So ergibt sich als die Aristotelische Li.isung des Normproblems die dialektische Formel: gut ist das, was dem Guten als gut erscheint, und: gut ist der, dem das an sich Gute als gut erscheint, oder zusammengefaBt: der Gute ist iHafi fur das Gute. (DaB diese Li.isung des Normproblems zu den Konstanten der Aristotelischen Philosophie gehi.irt, mittels derer nach Preisgabe der Platonischen ldeenlehre, d. h. der absoluten, aber transzendenten Norm in Form der hi.ichsten Idee des Guten, aber auf deren Hintergrund, das menschliche Handeln dennoch ethisch normiert wird angesichts der Oberzeugung von der vi.illigen Relativitat des Guten, zeigt ihr Vorkommen in der Rhetorik, der Topik, der Eudemischen Ethik und an zahlreichen Stellen der Nikomachischen Ethik4B) von der friihesten Schrift, dem Protreptikos, an.) Seit Platon gilt die These des Schwankens und der Widerspriichlichkeit des Guten als ein Produkt der durch die Sophistik betriebenen aufklarerischen Kritik und Zersetzung aller Lebensordnungen. Demgegeniiber ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daB dieser Subjektivismus und Relativismus, d. h. die kasuistische Betrachtungsweise des Guten, einerseits ein allgemeines Merkmal des wissenschaftlichen, vornehmlich des medizinischen und ethnographischen Denkens im 4. und 5. Jahrhundert war, und daB er andererseits als ein festes Element zur griechischen Lebenslehre von den Homerischen Epen an gehi.irte49). Worum es also Aristoteles in seiner Li.isung der zentralen ethischen Frage, des Normproblems, ging, war, so zeigt sich hier, der Versuch, zwischen der vorphilosophischen Lebenserfahrung, der wissenschaftlichen Vernunft und der Platonischen Philosophie zu vermitteln. Mit welchen von ihm selbst in der Platonischen Akademie gemachten Erfahrungen Aristoteles sich bei der Grundlegung seiner Ethik auseinandergesetzt hat, zeigt eine Geschichte, die sein Schuler Aristoxenos iiberliefert hat. Piaton habe demnach, gemaB einer von Aristoteles des ofteren wiederholten Erzahlung, eine Vorlesung ,Ober das Gute" angekiindigt. Durch dieses Thema angelockt, sei eine be-
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triichtliche Horerzahl herbeigeeilt in der Erwartung, etwas iiber die Probleme Gliick, Lust, Reichtum, Macht und was sonst noch als das menschlich Gute gilt, zu horen. Die Erorterungen hiitten aber nur Mathematik, Zahlen und Geometrie zum Gegenstand gehabt und seien schlieBlid1 darauf hinausgelaufen, daB das Gute das Eine sei. Die meisten Rorer hiitten sich daraufhin enttiiuscht und veriichtlich abgewandt. Durch diese Erfahrung belehrt, habe Aristoteles seine Theorien immer an die durch die Praxis der Menschen gegebenen Vormeinungen angekniipft, und er habe aus eben diesen Grunden denen, die bei ihm horen wollten, zuniichst angegeben, woriiber die V orlesung han dele und von welcher Art sie seiso). In ausdriicklicher kritischer Ankniipfung an die akademische Schulpraxis hat Aristoteles seine aus der Verarbeitung solcher Erfahrungen gewonnene Methode in der Eudemischen Ethik51) im Zusammenhang einer Kritik an der Platonischen ldeenlehre so formuliert: Man muB das an sich Gute in einer Richtung aufzeigen, die der jetzt in der Aka:demie iiblichen entgegengesetzt ist. Man darf niimlich nicht, wie es dort geschieht, von Dingen ausgehen, die gar nicht allgemein als gut anerkannt sind, und aus Zahlen erweisen, daB Gerechtigkeit und Gesundheit ein Gut sind, wei! das Eine ein Gut an sich sei. Vielmehr muB man von den als gut anerkannten W erten, z. B. Gesundheit, Kraft, Besonnenheit, ausgehen. Dassel be Programm lautet in der Sprache der Nikomachischen Ethik: Man muB bei Erorterungen iiber die Themen der praktischen Philosophie von dem Bekannten ausgehen, freilich nicht von dem an sich Bekannten, d. h. den nur durch metaphysische Reflexion feststellbaren ersten Prinzipien von Sein und Wert, sondern von dem fiir uns Bekannten, und d. h.: von dem von den Menschen Anerkannten 52). Oder: Ober die Ausgangsfragen der Ethik muB man nicht nur aufgrund von SchluBfolgerungen und begrifflichen Beweisen reden, sondern ebenso aufgrund der dariiber herrschenden Ansichten53). Dernentsprechend verfiihrt Aristoteles denn auch. Nachdem er in Kap. 6 seine eigene Theorie des obersten praktischen Gutes als der dem Menschen als Menschen spezifischen Tiitigkeit in zuniichst recht abstrakter Ableitung entwickelt hat, sucht er
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nun in den Kap. 8 und 9 diesen Begriff dadurch sowohl zu konkretisieren wie zu verifizieren, daB er ibn vermittelnd in Bezug setzt zu anderen philosophischen Positioncn und zu den vorphilosophischen Meinungen der Menschen34). Denn es ist anzunehmen, daB keine dieser Ansichten, die teils von vielen seit alters, teils von einzelnen beriihmten Miinnern vertreten werden, im ganzen vollstiindig verfehlt ist, sondern sie werden in je einer Beziehung, wo nicht gar in den meisten recht haben5s). Als Ergebnis kann Aristoteles deshalb schlieBlich festhalten, daB er sich in schonster Dbereinstimmung befindet mit Ansichten, die alt seien und von allen Philosophierenden geteilt wiirden5&). Die methodische Theorie, die dieses Verfahren leitet, hat Aristoteles in seiner Topik reflektiert. Man miisse, heiBt es dorts7), von solchen Anschauungen ausgehen, an denen aile Menschen festhalten oder die meisten oder die "Weisen", und an denen von diesen "Weisen" wiederum entweder alle oder die meisten oder die angesehensten festhalten und die in den Kiinsten und Wissenschaften als richtig gelten. Dies ist, neben der im Zusammenhang der Freundschaftslehre gegebenen Auflosung, die andere Antwort des Aristoteles auf die Frage, ob man dem Vater oder den "Weisen" (Philosophen, Fachleuten) in allem folgen solle: es kommt je auf den Zusammenhang an. "Man wird (wenn es sich urn technische und nicht urn ethisch-praktische Probleme handelt, G. B.) solchen Ansichten das Wort red en, die den Leu ten vom Fach annehmbar erscheinen; in Sachen der Heilkunde dem, was die Arzte, in Fragen der Geometric dem, was die Geometer dariiber fiir richtig halten, und so fort" .58) Was wir hier als scheinbar nur methodologische Reflexion lesen, ist in Wirklichkeit das Programm der praktischen Philosophic des Aristoteles selbst: das Unternehmen einer Vermittlung zwischen den von Philosophen vorgetragenen Theorien - dazu gehoren auch die eigenen abstrakten Deduktionen und Beweise59) -, den kritischen Reflexionen der lntellektuellen, den Ergebnissen der Wissenschaften und Kiinste einerseits und den vorreflexiven, in bezug auf die Praxis des ethischen und politischen Lebens nie ganz irrigen Meinungen der nicht-philosophischen Menschen andererseits6 o). Aile diese
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zu beriicksichtigenden Anschauungen und Meinungen nennt Aristoteles endoxa: Meinungen, die im Ansehen des Wahren stehen. lhrer Aufziihlung fiigt Aristoteles allerdings noch eine entscheidende Einschrankung hinzu: Man wird ihnen, dabei ist an die Behauptungen der "Weisen" gedacht, nur insoweit zustimmen, als sie nicht den Ansichten der Menge zuwiderlaufen, d. h. insofern sie nicht im Aristotelischen Sinne "paradox" sind: "Paradoxe Meinungen sind solche Ansichten, bei denen ein Widerspruch zwischen den ,Weisen' und der Menge vorliegt"6t). (Als einen besanders reinen Fall von Paradoxie in diesem Sinne hat Aristoteles iibrigens im Zusammenhang der Grundlegung der Theorie der menschlichen Praxis in NE I 4 die Platonische ldeenlehre behandelt.) Die Lehre vom Rang der endoxa und das Programm einer Vermeidung von Paradoxien ist die positive Antwort des Aristoteles auf eine Situation, in der philosophische bzw. wissenschaftliche Vernunft und vorreflexives, durch das Leben im Ethos gewonnenes praktisches Wissen auseinandergetreten sind, es dies zugleich das Programm einer Vermittlung von Theorie und Praxis. Eine solche Vermittlung hatte nun auch Platon intendiert, freilich in der Weise, dafi dabei das aufierphilosophische biirgerliche Leben der Menschen negiert, namlich total in die philosophische Existenz aufgehoben werden sollte. Piatons Vortriige "Ober das Gute" hatten, abgesehen davon, dafi sie in der Tat die Grundpositionen seiner Philosophie iiberhaupt, seine ontologische und axiologische, als Einheitsspekulation gedachte Prinzipienlehre, enthielten, protreptische Funktion. Sie waren ein Unternehmen der Werbung zur (Platonischen) Philosophic und einer, wie man sieht, erfolgreichen Abschreckung zugleich; d. h. beabsichtigt war eine Auslese und Prufung der Elite der ,wahrhaft philosophischen Naturen" fur die Akademie, wobei diese ihre mitgebrachten "weltlichen" Meinungen iiber das, was gut und erstrebenswert sei, und iiberhaupt ihre weltliche Existenz aufzugeben hatten. Die bei Aristoxenos beschriebenen Umstiinde, die die Platonische Art, Philosophie zu "lehren" (wenn man iiberhaupt so sprechen darf) kennzeich-
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nen, belegen in dieser Hinsicht das, was man als das Platonische Programm einer Aufhebung der Polis in die Schule und der Praxis in die Theorie zu verstehen hat, wodurch Philosophie und Vernunft in totaler Verantwortung fiir die Welt der Praxis einzustehen haben. Nichts anderes als eine solche vermittlungslose ldentifikation besagt ja auch der Kernsatz der Politeia, der Philosophen-Konigs-Satz.62J Therna der Aristotelischen Ethik ist demgegeniiber nicht die allein durch Philosophie zu garantierende Tugend der Philosophen und potentiellen Herrscher, sondern das Bemiihen, dem -ruxwv &:v~p, dem ,Biirger", ein selbstiindiges und in sich geniigendes sittlich-erfiilltes Leben theoretisch zu ermoglichen: sie handelt- obgleich in der ,Schule" vorgetragen - vom praktisch-tiitigen Leben, dem bios politikos augerhalb der Schule; ihr Adressat sind Biirger, die aus der ,Stadt" heraus in die ,Schule" kommen, urn dort horend an den philosophischen Reflexionen iiber Praxis zu partizipieren. Diese Reflexion setzt ethische Praxis immer bereits voraus - und zwar als eine auch ohne Philosophie und vor der philosophischen Belehrung mogliche Praxis, sie spricht iiber diese und aus ihr heraus, wie Aristoteles 1094b 20/1, 1095a 3/4 dies genau formuliert hat. Die praktische Philosophie ist demnach nicht reine Theorie, die ihr Telos in sich hat: ihre Intention geht aus der Schule hinaus auf Praxis im biirgerlichen Leben: -ro -.e)..oc; J:cr·rtv ou yvwcrLc; 6:)..A!X rtpa~Lc;63 >. Fiir diese Philosophie gilt im genauen Sinne der Satz: non scholae, sed vitae discimus; als in der ,Schule" vorgetragene argumentative Wissenschaft hat sie aber dennoch zugleich durchaus Reflexions- und Theoriecharakter. Sie spricht iiber ihre Themen in Form philosophischer, eben vom Philosophen in der ,Schule" vorgetragener Analyse des augerhalb der Schule gelebten praktischen Lebens, eines Lebens, das immer bereits ausgelegt ist in den Meinungen und den sich z. B. in Sprichwortern niederschlagenden Erfahrungen der Menschen. Sie geht von ihnen aus und sucht sie zu vermitteln mit vorgegebenen philosophischen Theorien, oder genauer gesagt: sie hat diese der ,Schule" zugehorigen Theorien mit jenen Vormeinungen in Dbereinstimmung zu bringen. Die praktische Philosophie im Sinne
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des Aristoteles ist auf diese Weise das Unternehmen einer Vermittlung zwischen Philosophic und Praxis, zwischen Vernunft und Ethos, zwischen kritischer Reflexion und vorreflexivem Wissen. So wie die Aristotelische Ethik als praktische Philosophic nicht nach dem Guten an sich als einer fiir sich abgetrennt existierenden Wesenheit64), sondern nach dem &:ycdl·ov 7tp(XX.'t'6v, dem vom Menschen durch Handeln realisierbaren und erwerbbaren Guten fragt, so will sie auch nicht wissen, was die Tugend sei, sondern auf welche Weise sie erworben werden konne6 5). ,Die einen meinen nun, man werde tugendhaft von N atur, die anderen durch Gewohnung, die dritten durch Belehrung"66); es ist dies die gleiche Aufziihlung von Moglichkeiten, mit der auch Platons Menon beginnt67). In einer vergleichbaren Eri:irterung uber die Herkunft des Gluckes6B) hat Aristoteles diese Reihe urn den Zufall und urn die gottliche Fiigung, von der auch amEnde des Menon69) die Rede ist, ergiinzt. Diese Moglichkeiten lassen sich letztlich zwei Gruppen zuteilen: Zur Diskussion steht die Alternative, ob die Tugend (und mit ihr das Gluck) zu den Dingen gehort, die der Mensch aus eigener Bemiihung erwerben kann oder nicht. GemiiB der Aristotelischen Definition der praktischen Philosophic als einer Philosophic ausschlieElich uber die menschlichen Angelegcnheiten70), sofern dicse sich auf menschliches Wollen, Entscheiden und Bemiihen zuruckfiihren lassenn), kommt - eben aufgrund dieser zuniichst rein methodischen Vorentscheidung einer Wissenschaftskonstituierung und -abgrenzung - fur sie die eine Gruppe von moglichen Ursprungserkliirungen nicht in Betracht: , Was die Natur betrifft, so ist klar, daB dies nicht in unserer Hand liegt, sondern aus einer Art von gi:ittlicher Verursachung den wahrhaft Gliicksgesegneten zukommt"72). Gottliche Fiigung als Grund menschlichen Gliicks wird damit nicht an sich negiert, vielmehr gilt: ,Dariiber zu handeln gehi:irt vielleicht eher einer anderen Untersuchung an"73). Zugleich zeigt sich hier, daB der genannte methodische Ansatz der praktischen Philosophic des Aristoteles eine politische und geschichtliche Voraussetzung und Entscheidung impliziert, insofern die hier zuriickgewiesene Beru-
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fung auf die von den Giittern verliehene gute Natur, die man entweder hat oder nicht hat, die der eine besitzt und die der andere nicht besitzen kann, zu den Fundamenten der vorpolitischen Adelsethik gehiirte. Dagegen steht die fiir eine auf verniinftiger Praxis beruhende Gesellschaft freier und gleicher Biirger fundamentale These des Aristoteles, daB das Gliick, wenn es auf Belehrung und menschlicher Bemiihung beruht, aber auch nur dann, fiir alle zuganglich ist, die nicht in bezug auf die Tugend glei chsam verstiimmelt sind74 ).- AnlaB zu der auch bei Platon immer wieder diskutierten Frage nach dem Ursprung der Tugend war die Auseinandersetzung mit dem von den Sophisten erhobenen Anspruch, Lehrer der biirgerlichen Kunst zu sein, was ja voraussetzt, daB Tugend und biirgerliche Kunst iiberhaupt lehrbar sind. Diese Diskussion mit den Sophisten, fiir die bier exemplarisch der Dialog ,Protagoras" stehen mag, verlauft so, daB Sokrates gegen die anfangliche Selbstvorstellung des Sophisten als cines Mannes, der durch Belehrung zur Tiichtigkeit in der Verwaltung und Besorgung der eigenen und iiffentlichen Angelegenheiten zu fiihren vermag75), die Gegenthese aufstellt, Tugend sci nicht lehrbar76). Am Ende des Iangen Gespraches zeigt sich dann, so resiimiert Sokrates77), daB Protagoras, der anfangs annahm, die Tugend sei lehrbar, nun vom Gegenteil iiberzeugt zu sein scheint, wahrend Sokrates seinerseits jetzt darauf dringt, sie miisse lehrbar sein. Dieser dialogische Chiasmus bedeutet nun nicht, daB die Rollen und Positionen einfach ausgetauscht waren in dem Sinne, daB am Ende Sokrates und Protagoras jeweils das Gegenteil von dem sagten, wovon sie ausgegangen waren, und nun auf dem W ege cines einfachen Austausches die Ansicht ihres Gesprachspartners iibernommen batten. Vielmehr hat im Grunde jeder seine Ausgangsthese beibehalten: der Begriff dessen, was ,Lehre ", ,Lehrbarkeit" und damit Vernunft und Wissen heiBt, hat sich im Laufe des Gesprachs geandert, und so besagt die schlieBliche Leugnung der Lehrbarkeit der Tugend durch Protagoras keine Negierung dieser Miiglichkeit schlechthin, sondern nur des Begriffes, den Sokrates damit verbindet. Gemeinsam ist heiden Positionen der Standpunkt der Ver-
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nunft, und beide haben gegen sich die Dberzeugung, daB Tugend und gutes Leben allein auf Ethos und Herkommen beruhen, eine Dberzeugung, welche in Philosophie und Vernunft nur das Moment der Kritik und Destruktion zu sehen vermag. Die Differenz zwischen Protagoras und Sokrates liegt darin, daB der Sokratisch-Platonische Vernunftbegriff eine Aufhebung und Dberbietung des sophistischen darstellt: Vernunft wird in ihrem Anspruch total genommen. Sokrates formuliert die Voraussetzung seiner schlieElichen Lehrbarkeitsthese: er habe zu zeigen unternommen, daB alles (mincx XP~v-cx-rcx), d. h. die ganze Tugend, Wissenschaft sei, niimlich die Gerechtigkeit, Besonnenheit und Tapferkeit; wenn das so sei, dann eben sei Tugend lehrbar7 Sl. Aristoteles hat von dieser These gesagt, Sokrates sei mit ihr teils im Recht, teils im Irrtum gewesen: daB er aile Tugenden als identisch ansah mit Wissenschaft und (praktischer) Vernunft, war falsch; richtig dagegen ist, daB sie nicht ohne Vernunft sind79). Als Beweis hierfiir fiihrt er, dem Problem seine geschichtliche Signatur gebend, an, jeder, der es heute unternehme, die Tugend zu definieren, beriicksichtige dabei das Vernunftmoment. - Wie sieht nun seine eigene Losung aus? Aristoteles hat zuniichst der alternativen Fassung "Vernunft oder Ethos" widersprochen; er hat sich zugleich gegen die von Platon, eben unter der Voraussetzung dieser Disjunktion vollzogenen Subsumtion der ganzen Tugend unter die eine Seite gewandt. Gegeniiber der Sokratisch-Platonischen Einheitslehre ("Es gibt nur die eine Tugend, und diese ist Wissen") hater von der Tugend in zwei Formen gesprochen: von einer ethischen und einer dianoetischen. Fur die eine gelte, daB sie durd1 Belehrung entstehe und wachse, die andere, die sittliche Tugend, habe ihren Grund in dem, was als Ethos und Sitte in Ansehen und Geltung sei, und entstehe durch aneignende Gewohnung im Handeln. Beide Formen zusammen machen nun das Ganze der praktisch-menschlichen Tugend aus, und beide konnen nicht ohne einander sein: zum Zustandekommen der eigentlidl sittlichen Tugend ist praktische Vernunft, d. h. im Aristotelischen Sprachgebrauch: Klugheit, vonnoten; klug wiederum kann niemand sein, wenn er nicht ethi-
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sche Tugend besitzt. (a) Es gibt ein intellektuelles, in bezug auf die sittliche Bewertung zunachst neutrales Vermogen, die Geschicklichkeit (3e:LVOTIJ