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German Pages 280 Year 2007
WERKINTERPRETATIONEN
URSULA WOLF
ARISTOTELES’ ›NIKOMACHISCHE ETHIK‹ 3. Auflage
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 3., bibliografisch erweiterte Ausgabe 2013 © 2007 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Setzerei Gutowski, Weiterstadt Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN 978-3-534-26238-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-26239-7 eBook (epub): 978-3-534-26240-3
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemhintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art und Einordnung des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhaltliche Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 15 18 20
I. Das Gut für den Menschen (Buch I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ziel, Gut, bestes Gut, eudaimonia (I 1–5) . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ziel und Gut (1094a1–18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Letztes Ziel und bestes Gut (1094a18–b11) . . . . . . . . . . . . c) Die eudaimonia als das beste Gut (I 2–5) . . . . . . . . . . . . . .
23 24 24 28 30
(i) Die Einführung des eudaimonia-Begriffs 30 – (ii) Die drei wichtigsten Lebensformen 32 – (iii) Die Kritik an Platons Idee des Guten 32 – (iv) Die eudaimonia erfüllt die Anforderungen, die der Begriff des besten Guts enthält 33
2. Die eudaimonia als Tätigkeit gemäß der aretē (I 6 und 13) a) Die Begriffe ergon und aretē (1097b22–27, 1098a8–12) b) Ergon und aretē des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37 37 40
(i) Die Frage nach dem ergon des Menschen 40 – (ii) Das Gut des Menschen als Leben der Vernunftbetätigung gemäß der aretē 41
c) Die Arten der menschlichen aretē (I 13) . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tätigkeit gemäß der aretē und übliche eudaimonia-Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestätigungen der entwickelten eudaimonia-Konzeption (I 8–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Probleme für die entwickelte eudaimonia-Konzeption (I 10–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(i) Wie entsteht die eudaimonia? 50 – (ii) Wann kann man jemanden eudaimōn nennen? 51
c) Abschließende Aussage zum Verhältnis von aretē und eudaimonia (I 12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53 53
6
Inhalt
II. Ethische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hintergrund der Methodenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die angemessene Genauigkeit der Ethik (1094 b11–95a11, 1098a20–33, 1102a23–26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Genauigkeit relativ zum Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Genauigkeit relativ zum Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . c) Grad der Genauigkeit der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verfahren der Ethik (1095a31–b8, 1098a33–b8, 1103b26– 1104a11, 1145b2–7, 1172b3–7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wissenschaftliche Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Methoden der Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die ethische aretē (II–IV 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entstehung der ethischen aretē (II 1 und 3) . . . . . . . . . . . a) Entstehung der ethischen aretē durch Gewohnheit (II 1) . b) Ein scheinbares Paradox (II 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Definition der aretē der Gattung nach (II 4) . . . . . . . . . . a) Die ethische aretē als hexis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zum Begriff des Affekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Definition der aretē der Spezies nach (II 2, II 5, II 6 bis 1107a8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Bedeutung der Mitte (1106a26–b16) . . . . . . . b) Die ethische aretē als eine Mitte (mesotēs) (1106b16– 1107a8, II 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die einzelnen aretai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Liste der verschiedenen aretai und kakiai (II 7) . . . . . . . . . b) Tapferkeit und Verhalten zum Zorn . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 57 58 58 59 60 61 61 62 63 66 67 67 68 69 69 70 71 72 72 77 78 81
(i) Der Handlungsbereich der Tapferkeit 81 – (ii) Die Tapferkeit als eine mesotēs 81 – (iii) Die Bedeutung des kalon 83 – (iv) Tapferkeit im erweiterten Sinn 86 – (v) Zorn 86
c) Mäßigkeit (III 13–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die aretai im Umgang mit Geld und Ehre . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87 88 90
IV. Gerechtigkeit (Buch V) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Thema und Methode (V 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit im allgemeinen und im speziellen Sinn (V 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn (V 3) . . . . . . . . . . . . . a) Das Gerechte als das Gesetzliche (1129b11–25) . . . . . . . . b) Die Gerechtigkeit als die vollständige aretē, sofern sie auf andere bezogen ist (1129b25–1130a13) . . . . . . . . . . . . . . . .
93 94 96 97 97 99
Inhalt
4. Die Gerechtigkeit im speziellen Sinn. Existenz und Einteilung (V 4–5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nachweis der Existenz einer speziellen aretē der Gerechtigkeit (V 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterteilung der Gerechtigkeit im engeren Sinn (V 5) 5. Gerechtigkeit im Verteilen (1131a10–1131b24) . . . . . . . . . . . a) Die Art der Gleichheitsrelation bei der gerechten Verteilung (1131a15–b24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erläuterung der proportionalen Gleichheit 1131a29–b24) c) Exkurs: Politische Gerechtigkeit (1134a24–1135a15, Politik III 9–13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gerechtigkeit des Ausgleichens (V 7 ab 1131b25 und V 8) a) Gerechtigkeit des Ausgleichens im unwillentlichen Rechtsverkehr (1131b25–1132a6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Reziprozität (V 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
100 100 101 103 104 104 106 107 107 109
(i) Zurückweisung einer Konzeption der schlichten Wiedervergeltung 109 – (ii) Exkurs über den Warentausch 110
7. Billigkeit (V 14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 8. Zusammenfassung (V 9). Ethik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . 114 V. Hekousion und prohairesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff des Willentlichen (hekousion) (III 1–3) . . . . . . . . a) Die Bedingung des Zwangs (1110a1–b17) . . . . . . . . . . . . . b) Die Bedingung der Unwissenheit (III 2) . . . . . . . . . . . . . . . c) Positive Bestimmung des hekousion (III 3) . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prohairesis und Überlegung (III 4–6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abgrenzung der prohairesis von verwandten Phänomenen (III 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestimmung der prohairesis (III 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116 118 118 120 123 123 124 124 126
(i) Die Überlegung bezieht sich auf das uns Mögliche 126 – (ii) Die Überlegung betrifft nicht die Ziele, sondern die Wege zum Ziel 127 – (iii) Definition der prohairesis 130
c) Der Zielbezug des Wünschens (III 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 d) Zusammenfassung: Der Mensch als Bewegursache und das Zustandekommen ethischer Handlungen . . . . . . . . . . 131 (i) Zielursache 131 – (ii) Überlegung 132 – (iii) Bewegursache 133
3. Fragen der Zurechnung (III 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Präzisierung der Kriterien der Unabsichtlichkeit . . . . . . . b) Sind wir für unseren Charakter verantwortlich? . . . . . . . . c) Zusammenfassende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
134 135 135 137
8
Inhalt
VI. Phronēsis (Buch VI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einbettung und Einteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einbettung (VI 1 und VI 2 bis 1139a3) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einteilung und Art der intellektuellen aretai (VI 2 1139a3–18, VI 31139b14–18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die dianoetischen aretai (VI 3–7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) sophia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140 140 140 141 145 145
(i) epistēmē und nous 145 – (ii) Weisheit 145
b) phronēsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 (i) hexis meta logou poiētikē und hexis meta logou praktikē 146 Đ (ii) phronēsis 146
3. Die Rolle der phronēsis im guten Handeln (Teile von VI 2, 5, 8–12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Phronēsis, bouleusis und prohairesis (1139 b5–9, 1141 b8– 14, 1141b23–1142a10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Bezug der phronēsis auf Einzelnes und Allgemeines 4. Das Verhältnis von ethischer aretē, sophia und phronēsis (VI 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Gründe, aus denen der Nutzen der intellektuellen aretai fraglich scheint (1143b19–36) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Drei Argumente für den Wert der intellektuellen aretai (1144a1–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Rolle der phronēsis im ethisch guten Handeln (1144a11–145a6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147 148 149 154 155 155 156
(i) Der Beitrag der phronēsis zur guten Handlung 156 – (ii) Die Fähigkeit der deinotēs (Gewandtheit, Geschicklichkeit) 156 – (iii) Die natürliche aretē 158 Đ(iv) Abhebung gegen die intellektualistische Auffassung der ethischen aretē durch Sokrates 159 – (v) Die Einheit der aretai 160
d) Das Verhältnis von phronēsis und sophia (1145a2–11) . . . 160 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 VII. Unbeherrschtheit (akrasia) (VII 1–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die drei Arten der Verfehlung der aretē (VII 1) . . . . . . . . . . . 2. Die Meinungen und Aporien bezüglich der Beherrschtheit und Unbeherrschtheit (VII 2–4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Meinungen (VII 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Aporien (VII 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung der Fragen und Plan der Untersuchung (VII 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Lösung der Aporie um das ethische Wissen (VII 3, 5, 8–9, 11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164 164 166 166 167 168 169
Inhalt
9
a) Exposition der Schwierigkeiten (1145 b21–1146a9, 1146 b24–31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 b) Besitz und Gebrauch von Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 (i) Stufen von Wissen 171 – (ii) Besitz und Gebrauch des Wissens mit Bezug auf die zweite Prämisse der Überlegung 172 – (iii) Zwischenergebnis 174
c) Die „naturwissenschaftliche“ Erklärung der akrasia (1147a24–b9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung (1147b9–19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergänzungen (VII 8–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gegenstandsbereich (VII 6–7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unbeherrschtheit im eigentlichen und im übertragenen Sinn (1147b20–1148b14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Bewertung der verschiedenen Arten der Unbeherrschtheit (VII 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Die Lustabhandlungen (VII 12–15 und X 1–5) . . . . . . . . . . . . . . 1. Die erste Lustabhandlung (VII 12–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Unterscheidung zwischen sinnlicher Lust und Lust an Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Bewertung der verschiedenen Arten der Lust (1152b10f., 20–22, 1153a17–20, 1154a7–b19) . . . . . . . . . . . c) Tätigkeitslust und eudaimonia (1153b1–1154a7) . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die zweite Lustabhandlung (X 1–5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Meinungen über die Lust (X 1–2) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Definition der Lust (X 3–4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175 177 178 183 183 184 184 190 191 192 196 196 198 199 200 201
(i) Die Lust als Tätigkeit 202 – (ii) Die Art der Tätigkeitslust 204
3. Zusammenfassung und Vergleich der beiden Lustabhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 IX. Freundschaft (VIII und IX) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Definition und Arten der persönlichen Freundschaft (VIII 2– VIII 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Bestimmung der Freundschaft (1155 b17– 1156 a5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die drei Arten der Freundschaft aufgrund des Guten, des Angenehmen und des Nützlichen (VIII 3–7) . . . . . . . . . . . (i) Die Freundschaft aufgrund des Angenehmen und des Nütz lichen 216 – (ii) Die Struktur der Freundschaft im vollkommenen Sinn 217 – (iii) Vergleich der eigentlichen Freundschaft mit
213 214 214 216
10
Inhalt den mangelhaften Formen der Freundschaft 217 – (iv) Die Personalität der eigentlichen Freundschaft. Ist Freundschaft eine aretē? 218
c) Verschiedene Arten der Freundschaft im Hinblick auf die Gleichheit (1156a16–1157b5, VIII 8–10) . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Politische Freundschaft (VIII 11–IX 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 a) Die Konstitution der politischen Freundschaft . . . . . . . . . . 221 (i) Die Vernetzung kleiner Gemeinschaften 221 – (ii) Die Eintracht der Bürger 223
b) Gerechter Austausch in der Freundschaft (VIII 15–IX 1) c) Gemeinschaften verschiedener Nähe und Ferne. Moralische Konflikte (1160a3–8, IX 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freundschaft und Selbstbeziehung (IX 4, IX 7–12) . . . . . . . . a) Der begriffliche Zusammenhang von Freundschaft und Selbstübereinstimmung (IX 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Erklärung der gleichen und der ungleichen Freundschaft (IX 7 und 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
224 225 226 227 231
(i) Warum die Überlegenen die Schwächeren lieben 231 – (ii) Brauchen die Glücklichen Freunde? 232
4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 X. Die beiden Arten der eudaimonia (X 6–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Tätigkeitscharakter der eudaimonia und der Ausschluss des Angenehmen (X 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Tätigkeitscharakter der eudaimonia (X 6 bis 1176b10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausschluss der Vergnügungen (1176b10–1177a11) . . . . . . 2. Die beiden Formen der eudaimonia (1177a12–18, 1178a9–23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die theōria als Tätigkeit des nous (1177a12–18) . . . . . . . . b) Das Leben in der Ausübung der ethischen aretē 1178 a 9–23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erläuterung des Lebens der theōria (1178 b7–32, 1177 b26– 1178a8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vergleichende Bewertung der beiden Formen der eudaimonia (1177a18–1177b15, X 8–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vergleich im Hinblick auf die Zielhaftigkeit (1177 b4–15) b) Vergleich im Hinblick auf die Autarkie (1178a23–b7) . . . 5. Das Verhältnis der beiden Formen der eudaimonia . . . . . . . . a) Die Perspektive des Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Perspektive des Politikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
239 240 240 241 242 242 243 244 246 246 248 249 250 251 253
Inhalt
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Konkordanz der Übersetzungsäquivalente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
Vorwort Die Nikomachische Ethik ist einer der wirkungsreichsten Texte der Philosophiegeschichte. Kein anderer Text des Aristoteles hat so viele Kommentierungen erfahren, und nur wenige antike Texte sind heute noch in ihrem sachlichen Beitrag so aktuell. Zu Recht schreibt Jonathan Barnes in seiner Einführung in die Philosophie des Aristoteles: „Die Ethik … kann man in der Tat als ein historisches Dokument lesen – als Zeugnis für den Zustand der praktischen Philosophie im vierten vorchristlichen Jahrhundert. Man kann sie aber auch als Beitrag zur gegenwärtigen Debatte lesen, und moderne Philosophen behandeln Aristoteles immer noch als einen brillianten Kollegen“ (Barnes 1982, 87). Worin die Aktualität der Nikomachischen Ethik besteht, erläutert Otfried Höffe mit folgenden Worten: „Ob es Philosophen oder Juristen, ob Moraltheologen, Sozialethiker oder Sozialwissenschaftler sind – wer auch immer sich für eine Theorie moralischer bzw. humaner Praxis interessiert, findet hier eines der wenigen bis heute einschlägigen Grundmodelle“ (Höffe (Hrsg.) 1995, 1). Ein Grundmodell enthält die Nikomachische Ethik insbesondere deswegen, weil Aristoteles anders als die spätere Philosophie das Praktische nicht auf die Moraltheorie beschränkt, sondern eine umfassende Theorie des guten Lebens, richtigen Handelns und vernünftigen Überlegens entwickelt, die darüber hinaus in eine Theorie des Politischen eingebettet ist. Eine Begrifflichkeit, die dieses gesamte Feld durchdringt, ist mit einer ähnlichen Erschließungskraft selten hervorgebracht worden, und daher können wir uns bis heute mit Gewinn an ihr abarbeiten. Trotz seiner Aktualität ist der Text nicht immer leicht zu verstehen. Er ist spröde und oft sehr knapp formuliert. Erörtert wird eine Vielzahl verschiedenster Themen (Glück, Handlungsfreiheit, Gerechtigkeit, Lust, Freundschaft, um nur einige zu nennen), die jedes für sich Gegenstand eines umfangreichen Buchs sein könnten und in der Tat fast alle Gegenstand selbständiger Kommentare und verzweigter Debatten in der Literatur geworden sind. Hinzu kommt, dass die kontinentale praktische Philosophie stärker als die angelsächsische von der Lehre Kants geprägt ist, die sich deutlich von derjenigen des Aristoteles unterscheidet und daher den Zugang zur aristotelischen Konzeption leicht verstellt. Ziel der folgenden Kapitel ist es, diesen Zugang so zu erleichtern, dass der Text auch ohne Vorkenntnisse der antiken Philosophie verständlich wird. Sie folgen der Vorgabe, eine „Werkinterpretation“ zu liefern. Es wird
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Vorwort
also vorausgesetzt, dass die Leserin oder der Leser eine Übersetzung des Textes vor sich hat und eine Interpretationshilfe wünscht. Angesichts des Textumfangs und der schon erwähnten Themenvielfalt musste zugunsten der Herausarbeitung der größeren Linien auf die fortlaufende Erläuterung jedes Details verzichten werden. Von den zahlreichen Kontroversen in der Sekundärliteratur konnten nur die wichtigsten erwähnt und teilweise in den Anmerkungen diskutiert werden. Auch eine Darstellung der Wirkungsgeschichte war in diesem Rahmen nicht möglich. Zu diesem Buch hat die Mitarbeit zahlreicher Personen beigetragen. Eva Burkhart und Dorothee Puhr haben bei der Literaturbeschaffung geholfen, die Bibliographie und die Anmerkungen in Ordnung gebracht und Korrektur gelesen. Eva Burkhart hat außerdem die mühsame Arbeit übernommen, die Stellennachweise zu überprüfen und die Konkordanz der Übersetzungen der Grundbegriffe anzufertigen. Andreas Heil hat das Manuskript kritisch durchgesehen und insbesondere im Hinblick auf philologische Fragen geprüft. Friedo Ricken hat wichtige Kommentare zu Teilen der Kapitel 8 und 9 beigetragen. Peter Berggren und Daniel Friedrich haben sich intensiv mit dem Manuskript auseinandergesetzt und sich so sehr hineingedacht, dass sie manchmal nicht nur Aristoteles, sondern auch meine Entwürfe besser verstanden haben als ich selbst und ich eine Reihe ihrer Formulierungsvorschläge übernehmen konnte. Daniel Friedrich hat außerdem darauf geachtet, dass das Buch für Studentinnen und Studenten, die noch nicht in der antiken Philosophie zuhause sind, verständlich bleibt. Marita Sellmann hat besonders sorgfältig Korrektur gelesen und mich während der Schreibphase vor dem Chaos in meinen sonstigen Angelegenheiten bewahrt. Ihnen allen möchte ich sehr herzlich danken. Mannheim, März 2002
Einleitung 1. Problemhintergrund Der Text, der vor uns liegt, enthält eine Ethik. Der Gebrauch des Wortes „Ethik“ ist im Deutschen nicht eindeutig. Es bezeichnet manchmal die Theorie der Moral, die Moralphilosophie, im Unterschied zu einer bestimmten inhaltlichen Moral, dem moralischen Standpunkt einer Person oder Gesellschaft. Das Wort kann aber auch (und so soll es im Folgenden verwendet werden) auf dieser inhaltlichen Ebene einen ethischen im Unterschied zu einem moralischen Standpunkt meinen. So verstanden bezieht die Ethik sich auf das Gute, entwickelt Vorstellungen vom guten Leben und Handeln, während der Bezugspunkt der Moral das Gesollte, die gesellschaftlichen Normen sind. Die heutige praktische Philosophie ist in der Hauptsache Moralphilosophie, während Aristoteles eine Ethik im Sinn der Lehre vom guten Leben schreibt. Häufig wird heute die Moral auch als ein Teil der Ethik behandelt. Ebenso ist die Vorstellung gängig, die antike Philosophie trenne noch nicht zwischen Ethik und Moral, sie nehme den Bereich der Moral noch nicht als ausgegrenzten wahr. Doch die Griechen haben ebenfalls Begriffe für das, was wir als Moral im engeren Sinn verstehen. Die Nikomachische Ethik enthält ein Buch über Gerechtigkeit, und die Begriffe des Richtigen, des Angemessenen, des Gesollten spielen innerhalb der aristotelischen Ethik eine wichtige Rolle, auch wenn sie nicht scharf zu einem eigenen Bereich der Moraltheorie herausgehoben werden. Das liegt daran, dass die Untersuchung des Charakters für Aristoteles nicht eine selbständige Disziplin bildet, sondern einen Bestandteil der politischen Theorie oder Gesellschaftswissenschaft1, die heute weitgehend aus der Philosophie ausgelagert ist. Wie es zu diesen unterschiedlichen Einteilungen und Perspektiven in der Antike und heute kommt, wird klarer, wenn wir kurz die historische Entwicklung betrachten, die zur Ausdifferenzierung bestimmter Fragen führt. In traditionalen Gesellschaften existiert noch keine Trennung von Ethik und Moral, die sozialen Normen erstrecken sich sowohl auf das zwischenmenschliche und politische Handeln wie auf die individuelle Lebensführung. Sie sind einem gemeinsamen, für die Gruppe ebenso wie für das 1 Dass Letzteres der angemessenere Terminus sein könnte, schlägt Ross 1995, 195 vor.
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Einleitung
Individuum identitätsstiftenden letzten Wert entnommen, der seinerseits mythisch begründet ist. Für die Griechen der archaischen Zeit des 8. und 7. vorchristlichen Jahrhunderts ist das Ideal der Heros, der Held; dabei handelt es sich um ein Ideal individuellen richtigen Lebens, das zugleich sozial ist. Gut ist und gut lebt, wer von edler Abstammung, reich, schön und ein tapferer Krieger ist. Urmson weist in seiner Einführung zur aristotelischen Ethik darauf hin, dass dieses heroisch-aristokratische Ideal bei Platon (427–347) und Aristoteles (384–322) immer noch im Hintergrund steht, dass Gutsein immer noch einschließt: beneidenswert sein.2 Dieses aristokratische Ideal wird allerdings mit dem Aufkommen der Polis verschoben (ab dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr.), als die Einfügung in die Gemeinschaft zu dem zentralen Wert wird. Das letztlich Gute ist jetzt der Kosmos, das wohl geordnete Ganze, in das es sich einzupassen gilt. Die Regeln dieser Ordnung werden dabei als von den Göttern vorgegeben verstanden, so dass sie dieselbe Notwendigkeit wie Naturgesetze haben. Im 6. Jahrhundert beginnt in Griechenland eine Aufklärungsbewegung, die sich im 5. Jahrhundert breit durchsetzt. Sie wird getragen von den Sophisten (Protagoras, Gorgias, Hippias u. a.), die die überkommenen Normen hinterfragen und darauf hinweisen, dass sie von den Menschen selbst gemacht sind und daher auch von ihnen geändert oder abgeschafft werden können. Diese Einsicht kennzeichnet alle Aufklärungsbewegungen, zwischen denen es in anderer Hinsicht erhebliche Unterschiede gibt. Um die griechische Aufklärung und ihre politischen und philosophischen Konsequenzen verstehen zu können, müssen wir uns klarmachen, dass hier die optimistische Aufbruchsstimmung, die den Beginn der neuzeitlichen Aufklärung kennzeichnet, ebenso fehlt wie der Glaube an die gleiche Vernunftfähigkeit aller Menschen. Das Problem, wie nach der Hinterfragung und teilweisen Auflösung der tradierten Sitten ein gutes individuelles und gemeinsames Leben möglich ist, stellt sich daher radikaler, sozusagen in seiner Reinform. Wenn der Glaube an mythisch begründete oder durch Tradition gefestigte Werte aufgegeben wird und keine emphatischen Vernunft- und Gleichheitsideale an ihre Stelle treten, dann bleiben nur die gewöhnlichen Motive menschlichen Handelns übrig, das Glücksstreben in der Weise des Lust- und Machtstrebens, die Suche nach dem Angenehmen oder die Suche nach dem eigenen Nutzen.3 Jedoch behalten selbst diese 2 Urmson 1988, 1 f. Dieses Buch eignet sich gut als kurze Einführung in den Text. Empfehlenswerte Gesamtdarstellungen der EN sind ferner Hardie 1980, Broadie 1991, Bostock 2000, Hughes 2001. Zur Einführung in die Philosophie des Aristoteles allgemein Ross 1995 (zuerst 1923), Guthrie 1981, Barnes 1982, Höffe 1996. 3 Dazu die Einleitung in Gigon 17.
Problemhintergrund
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Motive für die Griechen einen politischen bzw. sozialen Aspekt. Es gehört zum Wesen des Menschen, in der Polis zu leben, wie es umgekehrt die Aufgabe der Polis ist, das gemeinsame und das individuelle gute Leben zu gewährleisten. Wer allein für sich Macht und Lust sucht, ist der Tyrann, der das Ganze des Staates seinen Zwecken unterwirft. Was Platon und Aristoteles diesem entgegenhalten, ist nicht, dass er andere Individuen, die ebenfalls Macht und Lust wollen, nicht berücksichtigt, sondern dass sein Verhalten gegen seine eigene Natur und die Natur der Polis verstößt und seine Lebenskonzeption daher zum Scheitern verurteilt ist, er folglich selbst unglücklich werden muss. Diese Berufung auf die Natur des Menschen ist vor allem für Aristoteles wichtig, der aus einer alten Ärztefamilie stammt und eine starke empirische Ausrichtung in die Philosophie einbringt.4 Während das heutige Interesse an der antiken Ethik aus Problemen der Moralphilosophie heraus entstanden ist, hat also die antike Problemlage eine andere Pointierung, weil eine scharfe begriffliche Trennung zwischen dem Moralischen, Politischen und Ethischen fehlt. Was unserem Bereich der Moral entspricht, findet sich bei Aristoteles unter dem Titel der Gerechtigkeit, jedoch nicht als abgetrennter Bereich der Regelung von Interessenkonflikten, sondern eingebettet einerseits in die politische Perspektive, die Frage nach der wohl geordneten Polis, und andererseits in die ethische Perspektive, die Frage nach der Gerechtigkeit als Charaktertugend. Anders als in der neuzeitlichen Debatte hat außerdem die ethische Frage, die Frage nach dem guten individuellen Leben, eine gegenüber der Moral eigenständige Bedeutung. Während Kant sie infolge des radikalisierten neuzeitlichen Vernunftanspruchs aus der Philosophie ausschließt, weil sich Ratschläge des guten Lebens nicht streng begründen lassen, bleibt sie für Aristoteles auch methodisch fundamental und bildet, wie sehr er auch die politische Wissenschaft vorantreibt, die eigentliche Basis der praktischen Philosophie. An dieser Stelle sollte man allerdings keine falschen Erwartungen haben. Die konkreten Inhalte und Empfehlungen der aristotelischen Ethik sind heute nur noch teilweise nachvollziehbar. Ihr Verdienst liegt vielmehr in der Entwicklung eines umfassenden begrifflichen Rahmens, einer ethischen Grundbegrifflichkeit. Da die neuzeitliche Philosophie sich im praktischen Bereich auf die Moraltheorie beschränkt, ist die Terminologie, mit der sie operiert, verkürzt, und der handlungstheoretische Begriffsrahmen (Begriffe wie: Gut, Ziel, Mittel, Willentlichkeit, Charakter, Vorsatz usw.), den Aristoteles ausgearbeitet hat, ist – in den lateinischen 4 Zum Leben des Aristoteles: Einleitung in Düring, Kap. II in Guthrie, Barnes 1995, Ricken 1996.
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Einleitung
Termini, in die das Mittelalter ihn gefasst hat – bis heute unüberholt geblieben. Darüber hinaus ist der Versuch, inhaltliche ethische Vorstellungen auszuarbeiten, grundsätzlich bedenkenswert, auch wenn die speziellen Inhalte für uns nicht mehr von Interesse sind. Denn wir stehen ja ebenfalls vor der Aufgabe, unsere eigenen Einstellungen zum guten Leben zu artikulieren und zu systematisieren. Dabei müssen wir sehen, ob Aristoteles uns hier ein Modell liefert, wie man zu diesem Zweck vorgehen könnte.
2. Art und Einordnung des Textes Aristoteles hat eine enorme Zahl von Schriften verfasst, von denen weniger als ein Viertel erhalten ist.5 Es handelt sich um drei Klassen von Schriften: 1. die so genannten enkyklischen oder exoterischen Schriften, die sich an einen größeren Kreis richten, Werbeschriften und Dialoge, von denen heute nur Fragmente vorhanden sind, 2. die esoterischen Schriften, die wissenschaftlichen Anspruch haben, 3. Sammlungen von Forschungsmaterial (Naturforschung, Politik usw.). Die großen philosophischen Schriften, die uns erhalten sind, so auch die Nikomachische Ethik, gehören zur zweiten Gruppe. Anders als Platons und vermutlich auch Aristoteles’ eigene Dialoge sind die Prosaschriften des Aristoteles schlicht und kunstlos. Zwar haben sie gegenüber Dialogen, in denen der Autor nicht selbst redet, den Vorteil, dass der Verfasser direkt sagt, was sein Thema, der Aufbau der Untersuchung und seine Thesen sind, wie er vorgeht und wie er die verwendeten Begriffe definiert. Jedoch wird das Verständnis dadurch erschwert, dass die Ausführungen oft nur skizzenhaft sind. 6 Offensichtlich haben wir es mit Texten zu tun, die nicht vollständig für die Publikation ausgearbeitet wurden. Dafür sprechen auch andere Merkwürdigkeiten, die in einem fertigen Text nicht vorkämen, insbesondere das Auftreten von Dubletten. So enthält die Nikomachische Ethik zwei Abhandlungen über das Thema der Lust, die nicht aufeinander Bezug nehmen. Die übliche Auffassung ist, dass wir es mit einer Art von Vorlesungsnotizen zu tun haben, die Aristoteles von Zeit zu Zeit geändert und ergänzt hat, oder vielleicht mit Arbeitsentwürfen, die von Aristoteles nicht selbst publiziert, sondern von einem späteren Herausgeber zusammengestellt und ediert wurden.7 Zur Ethik ist uns nicht nur die Nikomachische Ethik (im Folgenden Zur merkwürdigen Überlieferungsgeschichte der Aristotelischen Schriften Guthrie 59ff. 6 Zu dieser und den folgenden Schwierigkeiten des Textes vgl. Urmson 1988, 4 ff. 7 Dazu „Life and Work“ in Barnes 1995, 13f. 5
Art und Einordnung des Textes
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EN)8 überliefert, sondern noch zwei weitere Schriften, die Magna Moralia (MM) und die Eudemische Ethik (EE). Die MM sind nach Meinung der meisten Forscher später als die anderen Ethiken und nicht von Aristoteles selbst verfasst. Die EE hielt man ebenfalls lange für unecht, inzwischen hat sich das aber geändert, und die Wichtigkeit der EE wird anerkannt, insbesondere durch die Arbeiten von Anthony Kenny.9 Kenny ist sogar der Meinung, die EE sei besser gegliedert und philosophisch fundierter als die EN.10 Ein besonderes Problem besteht darin, dass die EN und die EE in den uns vorliegenden Fassungen drei Bücher gemeinsam haben. Es handelt sich um die Bücher V-VII der EN und die Bücher IV-VI der EE. Bis heute ist strittig, ob diese Bücher ursprünglich zur EN oder zur EE gehörten. Kenny hat starke Argumente überlieferungsgeschichtlicher, philologischer und philosophischer Art, sie der EE zuzurechnen. Auf diese Frage kann ich hier nicht eingehen. Da mich Kennys Argumente für die Wichtigkeit der EE überzeugen, werde ich jedoch auf Textstellen aus der EE verweisen, wo diese für die Interpretation der EN hilfreich sind. Weitere Schwierigkeiten im Umgang mit dem Text kommen hinzu. Die wichtigste ist das Übersetzungsproblem. Umgehen kann man es nur, indem man Griechisch lernt, teilweise beheben, indem man bei Unklarheiten mehrere Übersetzungen konsultiert.11 Aristoteles hat eine umfangreiche philosophische Terminologie entwickelt, die bis heute die Begrifflichkeit des Fachs prägt. Jedoch hat die Verschmelzung der antiken und der jüdisch-christlichen Sicht menschlichen Lebens und Handelns dazu geführt, dass die Ausdrücke, mit denen die modernen Sprachen aristotelische Begriffe wiedergeben, zusätzliche Aspekte oder eine etwas verschobene Bedeutung haben, jedenfalls selten exakt passen.12 Viele griechische Begriffe werde ich daher unübersetzt lassen. 8 Der Ursprung des Titels ist nicht ganz klar; er könnte darauf zurückgehen, dass die Schrift dem Nikomachos, dem Sohn des Aristoteles, gewidmet ist. 9 Kenny 1978. 10 Die umgekehrte Auffassung vertritt Dirlmeier 1962, 110. 11 Die wichtigsten deutschen Übersetzungen sind die von Dirlmeier, Gigon und Rolfes, wobei die beiden ersten am meisten in Gebrauch sind. Im Englischen gibt es inzwischen zahlreiche Übersetzungen; als Standardübersetzung gilt The Revised Oxford Translation, die die Übersetzung von Ross, verbessert durch Urmson und Barnes, enthält; aber auch die Übersetzung von Irwin ist gebräuchlich. 12 Es gibt Autoren wie Williams (Shame and Necessity, Berkeley 1993), die die These vertreten, dass nur der antike Teil unserer Sichtweise sinnvoll ist. Auch wenn man diese Auffassung für überzogen hält, ist zuzugeben, dass uns die Konfrontation mit den aristotelischen Einteilungen, Fragen und Begriffen gerade dort, wo sie sich nicht mit den unsrigen decken, zu einem besseren Verständnis unserer eigenen Sicht verhelfen kann.
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Einleitung
Im Übrigen gibt es nicht nur Schwierigkeiten, sondern auch Affinitäten, die die Lektüre erleichtern können. So weist John Ackrill darauf hin, dass der philosophische Stil des Aristoteles heutigen Studierenden besonders entgegenkommen muss, weil er „cool, critical and very acute“ ist.13
3. Inhaltliche Gliederung Die Untersuchung folgt im Wesentlichen dem Aufbau der EN, der kurz skizziert sei. Der Ausgangspunkt im I. Buch ist die Frage nach dem letzten Ziel des Handelns, dem Gut für den Menschen. Die vorläufige Antwort auf diese Frage lautet: Das Gut, das alle suchen, ist die eudaimonia, das gute Leben. Darunter verstehen verschiedene Leute Verschiedenes, die einen die Lebensform der Lust, die anderen das Leben des Bürgers in der Polis, wieder andere das Leben der Theorie. Man könnte den ganzen Text so aufgebaut sehen, dass er sich an diesen drei Antworten orientiert:14 In Buch I wird die Frage nach dem Gut für den Menschen exponiert, in Buch II–VI das politische Leben behandelt, in Buch VII–IX verwandte Themen. Die erste Hälfte von Buch X beschäftigt sich mit der Lust (ebenso wie die Dublette in VII 12–15), die zweite mit dem Leben der Theorie. Genauer lässt sich die inhaltliche Gliederung wie folgt angeben: I Zum Begriff des Ziels, des Guts und der eudaimonia II Definition der ethischen aretē (Tugend,Vortrefflichkeit) III 1–7 Hekousion (Willentlichkeit, Freiwilligkeit) und prohairesis (Vorsatz, Entscheidung) III 8–V Die einzelnen ethischen aretai, wichtig darunter: V Gerechtigkeit VI Die intellektuellen aretai VII 1–11 Unbeherrschtheit VII 12–15 Erste Lustabhandlung VIII–IX Freundschaft X 1–5 Zweite Lustabhandlung X 6–9 Antwort auf die Frage nach der eudaimonia X 10 Überleitung zur Politik Da die Grenzen der sachlichen Einheiten nicht immer mit den Grenzen der zehn Bücher zusammenfallen, in die der uns vorliegende Text der EN eingeteilt ist, behandeln manche Kapitel der Werkinterpretation weniger und andere mehr als ein Buch. Die Interpretation orientiert sich an der überlieferten Reihenfolge, mit zwei Ausnahmen: Die erste und die zweite 13 14
Ackrill 1973. Das Buch enthält Übersetzungen auch von Teilen der EE. Dazu Gauthier 1972, 310f.
Inhaltliche Gliederung
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Lustabhandlung werden zusammengenommen, und die Behandlung der konkreten aretai in III 8–V erfolgt unmittelbar im Anschluss an die Darstellung der allgemeinen Konzeption der ethischen aretē. Stellenangaben beziehen sich wie international üblich immer auf die Bekker-Ausgabe des Originaltexts; beispielsweise bezeichnet 1123 b24 die 24. Zeile in der zweiten Spalte von Seite 1123 dieser Ausgabe. Die Einteilung der zehn Bücher der EN in Unterkapitel (z. B. II 5, also Kapitel 5 des zweiten Buchs) folgt der in deutschen Ausgaben üblichen Einteilung, die auch in der Bekker-Ausgabe und ebenfalls von Gauthier/Jolif benutzt wird. Bei der Lektüre angelsächsischer Sekundärliteratur muss man jedoch beachten, dass dort eine andere Kapiteleinteilung üblich ist. Da im Deutschen verschiedene Übersetzungen im Umlauf sind, wird jeder Terminus beim ersten Vorkommen auf Griechisch genannt und die Äquivalenzen aus den gebräuchlichsten deutschen Übersetzungen in Klammer hinzugefügt. Alle Äquivalenzen lassen sich aber auch in der Konkordanz am Ende des Buchs nachschlagen. Die Übersetzungen im Text sind meine eigenen.
I. Das Gut für den Menschen (Buch I) Obwohl die Ethik die Lehre vom richtigen Handeln oder guten Charakter ist, beginnen nur die Magna Moralia direkt mit dieser Frage: Da wir uns vorgenommen haben, über Dinge im Zusammenhang mit dem Charakter zu sprechen, müssen wir zuerst sehen, wovon der Charakter ein Teil ist. Um knapp zu reden, ist der Charakter wohl einfach ein Teil der Politik. Denn man kann in Staatsangelegenheiten nicht handeln, wenn man nicht auf bestimmte Art beschaffen ist, nämlich gut ist. Gut sein heißt aber, die aretai besitzen. Wenn man daher in Staatsangelegenheiten erfolgreich handeln will, muss man einen guten Charakter haben. Die Behandlung des Charakters ist daher, wie es scheint, ein Zweig und der Ausgangspunkt der Politik. Und insgesamt scheint mir, der Gegenstand sollte nicht Ethik, sondern richtiger Politik heißen (MM 1181 a24 ff.).
Die Eudemische und die Nikomachische Ethik gelangen erst über Zwischenschritte zu diesem Thema. 1 Die EE setzt mit dem Hinweis ein, die eudaimonia (Glück, Glückseligkeit) sei das Schönste, Beste und Angenehmste, und wirft die Frage auf, worin die eudaimonia besteht und wie man sie erlangt. Der Beginn der EN ist besonders umwegig und nennt nicht, wie Aristoteles das gewöhnlich tut, sofort eine Frage oder ein Thema. Stattdessen werden uns Aussagen über das Handeln und seine Ziele sowie zahlreiche Differenzierungen dieser Begriffe geboten. Erst diese führen zu der Frage, die im weiteren Verlauf im Zentrum steht, der Frage nach dem höchsten durch menschliches Handeln erreichbaren Gut, das wenig später mit der eudaimonia gleichgesetzt wird. Sowohl in der EE wie in der EN erweist sich das Gutsein des Charakters nur als eine Form der eudaimonia; die andere und höher bewertete ist das Leben der theōria, der betrachtenden Tätigkeit. Die Frage der Ethik ist also in Wirklichkeit umfassender als die Frage nach dem guten Charakter; sie betrifft alles menschliche Tun, das gute Leben in allen Hinsichten. Das erklärt, warum Aristoteles in der EE und EN die Frage nach der eudaimonia ins Zentrum stellt. Das weitere Problem, warum er in der EN auch diese Frage nicht direkt zum Ausgangspunkt nimmt, müssen wir im Auge behalten. Im ersten Buch der EN wird zunächst die Begriffskonstellation „Ziel, Gut, bestes Gut, eudaimonia“ eingeführt (I 1–5). In I 6 findet eine Verschiebung der Problematik statt, die zur Einführung des Begriffs des 1
Zu den Unterschieden im Beginn der Ethiken auch Schneider 17 ff.
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Das Gut für den Menschen (Buch I)
menschlichen Gutseins, der menschlichen aretē führt. Das Gut für den Menschen, seine eudaimonia, wird jetzt bestimmt als Tätigkeit des vernünftigen Seelenteils gemäß seiner eigentümlichen aretē. An I 6 schließt I 13 an, das die Teile der menschlichen Seele genauer behandelt. Das 7. Kapitel unterbricht den Gedankengang und nimmt Methodenfragen auf, die ähnlich in I 1 und 2 eingestreut sind. In I 8–12 werden Spannungen erörtert, die sich aus dem Vergleich der vorgeschlagenen eudaimonia-Definition mit der alltäglichen Vorstellung ergeben, dass zum Glück auch äußere Güter gehören. Die Textanalyse des ersten Buchs ist dementsprechend so gegliedert: 1. Ziel, Gut, bestes Gut, eudaimonia (I 1–5); 2. die eudaimonia als Tätigkeit der menschlichen Seele gemäß der aretē (I 6 und 13); 3. das Problem der äußeren Güter (I 8–12). Die Methodenabschnitte in I 1 und 2 sowie I 7 werden gesondert in Kapitel II interpretiert.
1. Ziel, Gut, bestes Gut, eudaimonia (I 1–5) Die erste Sacheinheit enthält mehrere Thesen, die von tragender Bedeutung für das Weitere sind und daher genau herausgearbeitet werden müssen. Erstens die These, dass alles Tun ein Gut anstrebt (a). Zweitens die These, dass es ein letztes Ziel des Handelns, ein Bestes geben muss, wenn unser Tun und Wollen nicht sinnlos sein soll (b). Drittens die These, dass dieses entscheidende Ziel die eudaimonia, das gute menschliche Leben ist (c). a) Ziel und Gut (1094a1–18) Die EN beginnt mit der berühmten, jedoch nicht leicht zu verstehenden Aussage: Jede technē (Fertigkeit) und jede Untersuchung (methodos), ebenso jede Handlung (praxis) und jede prohairesis (Entscheidung) strebt, so wird allgemein angenommen (dokei), nach einem Gut (agathon). Deshalb ist der Satz „Gut (agathon) ist das, wonach alles strebt“ zu Recht geäußert worden (1094 a1–3).
Der erste Satz enthält eine durch dokei qualifizierte Behauptung. Die Wiedergabe von dokei durch „scheint“, die sich in einigen Übersetzungen findet, ist irreführend. Der Ausdruck dokei drückt in solchen Zusammenhängen das Vorliegen einer allgemeinen Meinung aus, und dies ist für Aristoteles ein wichtiges Indiz für die Wahrheit einer Aussage. Das bestätigt der zweite Satz, in dem Aristoteles die referierte These nochmals
Ziel, Gut, bestes Gut, eudaimonia (I 1–5)
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zustimmend („zu Recht“) aufnimmt,2 allerdings ohne sie zu erläutern. Wir müssen uns jetzt insbesondere fragen, in welchem Sinn der zentrale Ausdruck „Gut“ (agathon) eingeführt wird. Die Aufzählung nennt die Hauptbereiche menschlichen Tuns, die Aristoteles auch sonst unterscheidet, technē, wissenschaftliche Untersuchung, Handlung sowie prohairesis. Eine technē (Kunst, praktisches Können) ist eine praktische Fertigkeit, Dinge hervorzubringen oder Ergebnisse zu erzeugen, wobei sie ein Wissen der Gesetzmäßigkeiten einschließt, von denen Gebrauch gemacht wird.3 Der Ausdruck methodos (Untersuchung, Lehre) dürfte das bezeichnen, was Aristoteles gewöhnlich epistēmē (Wissenschaft) nennt; sie steht der technē nahe, da zu ihr ebenfalls das Wissen der Gesetze gehört, die ihren Gegenstandsbereich konstituieren (z. B. zur technē der Medizin die Kenntnis der Gesetze über die Gesundheit, zur epistēmē (methodos) der Mathematik die Kenntnis der Gesetze über die Zahlen usw.). In anderer Hinsicht ist die technē der praxis (Handlung) verwandt, da beide praktisch sind. Jedoch unterscheiden sich technē und praxis darin, dass eine technē Ergebnisse hervorbringt (die technē des Hausbauens beispielsweise Häuser), während mit praxis hier eine Handlung gemeint ist, die ihr Ziel in sich selbst hat. Darunter fallen für Aristoteles Tätigkeiten wie Flötespielen, aber auch das ethische Handeln, das durch den Begriff der prohairesis (Entscheidung, Entschluss, Wählen) angesprochen sein dürfte, der Entscheidung zur Ausübung einer Charaktereigenschaft wie z. B. Tapferkeit. Auch hier gilt, dass eine tapfere Handlung nicht Tapferkeit produziert, dass sie vielmehr tapfer ist und getan wird, weil man tapfer sein will. Aristoteles schließt daher in 1094 a3–6 den Hinweis an, dass es zwei Arten von Handlungszielen gibt: Das telos (Ziel) kann entweder eine energeia (Tätigkeit, Aktivität) selbst sein (wie beim ethischen Handeln, aber auch bei Tätigkeiten wie Flötespielen) oder das ergon (Werk, Ergebnis, Produkt) einer Handlung (beim technē-Handeln ist das Ziel z. B. ein Haus, dieses ist gegenüber dem Bauen das größere Gut, das wünschenswerter ist).4 Das Zitat findet sich auch in Topik 116a19f. und Rhetorik 1362 a23. Das Wort technē bleibt im Weiteren unübersetzt. Das Wort „Kunst“, mit dem es manchmal wiedergegeben wird, ist zwar möglich, wenn man es im Sinn von „Können“ versteht, jedoch assoziiert man bei diesem Ausdruck zu leicht die „schönen Künste“. „Fertigkeit“ oder „Geschicklichkeit“ andererseits haben den Nachteil, dass wir sie auch auf ein bloß erfahrungsmäßiges Können anwenden, während für Aristoteles zur technē das explizite Kennen der Gründe gehört, die die Bewirkung eines Ergebnisses erklären (vgl. Metaphysik 981a1ff.). 4 Verwirrend ist, dass Aristoteles hier „Handlung“ (praxis) kurz hintereinander in zwei Bedeutungen gebraucht, die noch dazu nicht mit der im ersten Satz verwen2 3
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Das Gut für den Menschen (Buch I)
Dass Aristoteles in 1094 a3–6 den Ausdruck „Ziel“ ins Spiel bringt, könnte uns nun auch als Hinweis für die gesuchte Bedeutung des Wortes „gut“ in der Anfangspassage dienen. Im ersten Satz ist von agathon ti die Rede, das man mit „etwas Gutes“ oder – ungefähr gleichbedeutend – „ein Gut“ übersetzen kann.5 Wenn Aristoteles kurz darauf das Wort „Gut“ durch „Ziel“ aufnimmt, dann würde der Ausdruck „ein Gut“ das Ziel einer jeweiligen Handlung oder den Gegenstand eines Strebens bezeichnen. Entsprechend würde der zweite Satz die Definition des Wortes „Gut“ knapp auf den Punkt bringen, wonach das Gut das Ziel allen Strebens ist. Doch der erste Satz scheint entweder trivial oder falsch zu sein und der zweite einen Fehlschluss zu enthalten. Um mit dem zweiten Problem zu beginnen, so folgt aus dem Satz „Alles strebt nach einem Gut“ nicht „Es gibt genau ein Gut (das Gut, das Gute), wonach alles strebt“. Nun betont Aristoteles wenige Zeilen später die Vielheit der Ziele (a6) und stellt wiederholt die Frage, ob es ein solches Gut gibt, so dass man ihm diesen Fehlschluss nicht unterstellen kann. Da Aristoteles einen Ausspruch zitiert, kann man den bestimmten Artikel vor agathon am Beginn des zweiten Satzes einfach als Anführungszeichen nehmen und den zweiten Satz als knappe Zusammenfassung des ersten. Dann behält agathon den Sinn von „ein Gut“,6 und das Wort „alles“ wird vor dem Hintergrund des ersten Satzes distributiv gelesen. Also nicht: „(Das) Gut ist das, wonach alles (zusammen) strebt“, sondern: „Gut ist jeweils das, wonach jedes strebt“.7 Andeten identisch sind. Im ersten Satz meint praxis das Handeln, das nicht hervorbringend ist. In a5 hingegen wird praxis als Oberbegriff für alle Arten von Tun verwendet, wozu auch die Ausübung von technē gehört. 5 Beide Varianten haben Vor- und Nachteile. Substantivierungen sind in der Philosophie immer ein Problem, bei „Gut“ assoziiert man leicht „Wert“, und dieses Wort hat eine sehr unklare Verwendung, während der Ausdruck „etwas Gutes“ den Vorteil hat, die Herkunft aus dem Adjektiv „gut“ deutlich anzuzeigen. Andererseits ist durch das Substantiv „Gutes“ die Gefahr der Verwechslung mit „das Gute“ größer, das den Begriff oder die Eigenschaft des Guten bezeichnet, das, was allen Dingen, Handlungen etc., die gut sind, gemeinsam ist. Um diese Assoziation der platonischen Idee des Guten zu vermeiden, verwende ich die Übersetzung „ein Gut“. Andere Sprachen bieten hier gar keine Unterscheidungsmöglichkeit. 6 Es gibt drei Übersetzungsmöglichkeiten für tagathon (Zusammenziehung von to (Artikel) und agathon) an dieser Stelle: „das Gute“, „ein Gut“, „das Gut“. Manche Übersetzer verwenden zwar im ersten Satz das Wort „ein Gut“, nehmen dieses aber im zweiten Satz mit „das Gute“ auf. Damit verschiebt man jedoch den Sinn in die in Anm. 5 erwähnte platonische Richtung. Für diese Unterscheidungen in der Verwendung von „gut“ ist immer noch die beste Quelle v. Wright, siehe insbesondere 10. Zu Aristoteles auch Ricken 1976, 21. 7 Ähnlich formuliert Schmidt 303 Anm. 3. Dass Aristoteles in Rhetorik I 5 sagt, es gebe für jeden einzelnen und für alle gemeinsam einen Zielpunkt, der das Stre-
Ziel, Gut, bestes Gut, eudaimonia (I 1–5)
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ders gesagt, ein Gut ist jeweils das Ziel einer technē, Handlung usw. Aber was ist mit dieser Aussage gewonnen? Man könnte denken, Aristoteles habe mit dem ersten Satz die triviale analytische Aussage machen wollen, dass alles Handeln, wie man heute formuliert, intentional oder teleologisch ist, dass es im Begriff der Handlung liegt, immer auf etwas abzuzielen, und sei es auch nur auf das Tun der Handlung selbst. Dass Aristoteles verschiedene menschliche Betätigungsfelder aufzählt, spricht jedoch eher für eine induktive Verallgemeinerung, die sich auf Beobachtung des menschlichen Verhaltens stützt.8 Unabhängig davon, ob wir den Satz analytisch oder empirisch lesen, scheint er jedoch außerdem unzutreffend oder zumindest ungenau zu sein. Denn er gilt nur für das Wort „Ziel“, das in seinem Sinn wertneutral ist. Das Wort „gut“ bzw. „ein Gut“ hingegen wird objektiv wertend verwendet; wir unterscheiden zwischen dem, was gut ist oder ein Gut ist, und dem, was gut scheint oder für ein Gut gehalten wird. Man kann also nicht nur ein Gut erstreben, sondern auch etwas, das nur ein vermeintliches Gut und in Wirklichkeit ein Übel ist. Wie wir sehen werden, nimmt Aristoteles eine entsprechende Präzisierung in III 6 selbst vor. Aber wäre diese nicht bereits für unsere ersten beiden Sätze erforderlich? Beachten wir genau, was Aristoteles sagt, ist sie entbehrlich. Denn die Rede ist vorläufig nicht von Menschen, die etwas tun und dadurch Ziele verfolgen und Absichten realisieren, die sie für gut halten; ein „ich“ oder „wir“, das handelt, tritt erstmals in 1094 a19 auf. Es geht auch nicht um die Beschaffenheit einzelner Handlungen, sondern um die Struktur von größeren Wirkungsbereichen oder Tätigkeitsfeldern.9 In 1094 a1–3 sind es die Wissenschaft, die technē, das Tätigsein sowie das ethische Handeln, die auf ein Gut ausgerichtet sind; in 1094 a6–9 betont Aristoteles, dass es viele solche technai usw. gibt, entsprechend auch viele Ziele. Bleiben wir bei der technē, da dieser Fall am leichtesten zu erklären ist und auch von Aristoteles gewöhnlich zur Erläuterung herangezogen wird, ben leitet (1360 b4 f.), ist kein Einwand, sondern erklärt sich daraus, dass die eudaimonia als das beste Gut für den Menschen dort sofort genannt wird. Denn in der Rhetorik zählt Aristoteles einfach populäre Vorstellungen des guten Lebens auf, während er in der EN an der Erklärung des Stellenwerts und der Herleitung des Inhalts des besten Guts interessiert ist. In der EE betont Aristoteles ausdrücklich, es sei falsch zu sagen, dass alles nach einem Gut strebt, vielmehr habe jedes sein eigenes Gut (EE 1218a30ff.). 8 So auch Broadie 10. Gegen eine empirische Lesart Dirlmeier 1956, 265. 9 Man könnte denken, dass die Erwähnung der praxis gegen diese Deutung spricht. Jedoch geht es Aristoteles hier vermutlich nicht um das detaillierte Ziel einer z. B. tapferen Handlung im Hier und Jetzt, sondern eher um die tapfere usw. Handlung als Typ, die als Ziel das Tapfersein im Leben insgesamt hat.
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Das Gut für den Menschen (Buch I)
dann ist mit dem Ziel die Aufgabe einer gesamten technē gemeint. Zum Beispiel ist die Gesundheit das Ziel der Medizin, das Haus das Ziel der technē des Hausbauens usw. Ein solches Ziel einer technē kann man, wie Aristoteles am Anfang von I 5 sagt, als ihr Gut bezeichnen; „ihr Gut“, weil sie durch dieses Ziel definiert ist, und „ihr Gut“, weil innerhalb der technē alle einzelnen Verrichtungen um dieses Ziels willen geschehen, weil es innerhalb des relevanten Wirkungsbereichs sämtliche Mittel- und Teilhandlungen organisiert. Das Gut, durch das eine jeweilige technē definiert ist, ist ein Gut im Sinn des Erstrebten oder Wünschenswerten nicht für denjenigen, der die technē ausübt, sondern für den, der ihre Produkte braucht, erwirbt und benutzt. Dass jede technē auf ein Gut ausgerichtet ist, sagt also vorläufig nichts über die Strebensziele der Person, die sie ausübt, sondern bedeutet nur, dass es irgendeinen Zweck oder ein Bedürfnis im Staat gibt, wofür das Produkt wünschenswert ist.10 Die Vielfalt der Ziele oder Güter lässt sich reduzieren (1094 a9–18). Denn nicht alle Ziele sind gleichwertig, vielmehr besteht eine bestimmte Rangordnung der Ziele, wenn sie in ein zusammenhängendes Gebiet gehören, und entsprechend eine Rangordnung der technai, die ihre Realisierung zur Aufgabe haben. Durch diese Hierarchisierung der Ziele sind größere Handlungsbereiche auf ein leitendes Ziel hin organisiert, und entsprechend unterstehen die technai, die die untergeordneten Ziele realisieren, der zuständigen leitenden technē. So ist die technē der Sattlerei um des Reitens willen da, das Reiten wiederum ist der technē der Kriegsführung untergeordnet. Dabei ist jeweils das Ziel der leitenden technē wählenswerter als das der untergeordneten, weil die untergeordneten Ziele um der übergeordneten willen verfolgt werden.
b) Letztes Ziel und bestes Gut (1094a18–b11) Die Rangordnung von Zielen und technai legt die Frage nach einer Spitze der Hierarchie nahe. Während Aristoteles bisher mit dem Begriff des Guts (agathon) operiert hat, wird jetzt der Superlativ ariston (das Beste, das vollkommen Gute, das höchste Gut), bestes Gut11 eingeführt. Die Einführung erfolgt in einem ersten Schritt für das individuelle Handeln (a18– 24) und in einem zweiten Schritt für die technē (a24–b11). Dieser zweite Dazu Ricken 1976, 24. Die Übersetzung „bestes Gut“ hat den Vorteil, den Zusammenhang mit „ein Gut“ deutlich zu machen, ohne bereits eine bestimmte Interpretation zu präjudizieren, wie es der Ausdruck „höchstes Gut“ tut. Ich übernehme diese Lösung von Irwin 1985, 2. 10
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Schritt setzt unmittelbar den bisherigen Gedankengang fort und sei daher vorgezogen. Aristoteles wirft dort die Frage auf, was das beste Ziel ist und welcher Fähigkeit es zugehört. Diese letztlich leitende Instanz ist die Politik; sie ordnet an, welche Wissenschaften und technai in der Polis gebraucht werden, wer sie in welchem Grad erlernen soll, wofür sie eingesetzt werden sollen usw. Das Ziel, das sie dabei im Auge hat, ist das Gut für den Menschen (anthrōpinon agathon), das im Grunde für Individuum und Polis dasselbe ist. Dieses stellt ein Gut ganz anderer Art dar als die Güter, die die jeweiligen technai verfolgen; es ist nicht ein Gut, das für manche in der Polis nützlich ist, sondern ein Gut, das auf die Frage antwortet, welche Ziele in welchem Maß und in welcher Anordnung für den Einzelnen und die Polis überhaupt zu erstreben gut ist. Warum die Frage nach diesem letzten Ziel oder besten Gut unausweichlich ist, macht Aristoteles aus der Beschaffenheit des individuellen Wollens heraus plausibel (a18–24). Dabei ist jetzt die Rede nicht mehr von Handlungsbereichen und deren interner Ordnung und Rangordnung; argumentiert wird vielmehr aus der Wir-Perspektive handelnder Menschen: Wenn es ein Ziel der Handlungen gibt, das wir um seiner selbst willen wollen und das andere um seinetwillen, und wenn wir nicht alles um eines anderen willen wollen, dann ist klar, dass dieses Ziel das beste Gut ist. Obwohl der Satz hypothetisch formuliert ist, will Aristoteles nahe legen, dass es in der Tat ein bestes Gut gibt. Die Begründung lautet, ohne ein solches Ziel gehe das Streben ins Unendliche, sei leer und vergeblich. Fragen wir uns, was der genaue Sinn dieser Begründung ist und ob sie überzeugt. Es leuchtet ein, dass das Wollen leer läuft, wenn wir auf jede Frage „Warum tust du dies?“ antworten können „Um jenes zu erreichen“, und so immer weiter. Doch um das Problem der Leere des Wollens zu beseitigen, scheint es zu genügen, dass es überhaupt Endpunkte des Wollens gibt, ohne dass es genau einer sein muss. Verschiedene Handlungsketten könnten ja bei verschiedenen Endpunkten zum Stehen kommen, die wir um ihrer selbst willen wünschen. Warum also ein letztes Ziel? Aristoteles verweist auf die Wichtigkeit eines solchen Ziels im Leben des Individuums: es ermögliche uns wie Bogenschützen, die ihr Ziel vor Augen haben, das Richtige zu treffen. Im parallelen Zusammenhang in der EE sagt Aristoteles (1214b10ff.), sein Leben nicht auf ein letztes Ziel hinzuordnen, sei ein Zeichen von großem Unverstand. Das zeigt, dass die Annahme eines letzten Ziels normativ oder praktisch begründet ist, einen vernünftigen Ratschlag für ein gutes menschliches Leben enthält. Aber worin besteht die Begründung? Nehmen wir an, es gibt im Leben einer Person drei Ziele, die sie um ihrer selbst willen erstrebt, beispielsweise Ehre, Reichtum und Bildung. Damit ihr Streben nicht ins Leere läuft, würde es genügen, dass sie ein oder zwei dieser Ziele oder auch alle drei unverbunden realisiert. Da je-
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doch eine Person als einheitlicher Organismus ein Leben in der Zeit vollzieht und Überlegungsfähigkeit besitzt, steht sie vor der Frage, wie sie die verschiedenen Ziele anordnet, welchem Ziel sie welches Gewicht und welchen zeitlichen Aufwand einräumt usw. Auch wenn die Konfrontation mit dieser Frage nicht absolut zwingend ist, ist es zumindest plausibel zu sagen, dass sich für ein Wesen, dessen Überlegungsfähigkeit die verschiedenen Strebensinhalte übergreift, die Frage nach ihrer Ordnung stellt. Dann aber verfolgt die Person, auch wenn sie mehrere gleichrangige in sich erwünschte Ziele hat, ein letztes Ziel, das Ziel nämlich, die geordnete Menge der drei genannten Ziele zu realisieren.12 Das führt zu einer weiteren strittigen Interpretationsfrage. Man könnte das letzte Ziel des Strebens so verstehen wie gerade erläutert, dass es deswegen um seiner selbst willen gewollt wird und das Streben zum Stehen bringt, weil es alle anderen Ziele enthält. So sagt Aristoteles von der Politik, ihr Ziel, das Gut für den Menschen, umfasse alle anderen Ziele (1094 b6). Andererseits legen die Ausführungen über die Rangordnung der technai (1094 a9–18) und der Vergleich mit dem Bogenschützen ein hierarchisches Modell der Güter nahe. Unter dieser Interpretation müsste die Person, die Ehre, Reichtum und Bildung als Ziele verfolgt, entscheiden, welches von diesen für sie das höchste ist (EE 1214 b8). Nehmen wir an, sie sehe das höchste Gut, das sie in ihrem Leben insgesamt realisieren will, in der Ehre, so müsste sie die Ziele Reichtum und Bildung dem Wunsch nach Ehre unterordnen, sie also nur in dem Maß erstreben, als sie Mittel sind, die die Erreichung des letzten Ziels fördern. Die Debatte darüber, welche dieser beiden Auffassungen vom letzten Ziel der Text stützt, ist angestoßen worden von Hardies Aufsatz „The Final Good in Aristotle’s Ethics“. Hardie bezeichnet die zuerst erläuterte Konzeption als inklusive, die zweite als dominante, und er wirft Aristoteles vor, er vermische diese beiden Konzeptionen vom letzten Ziel oder besten Gut. Vorläufig finden sich in der Tat für beide Konzeptionen Hinweise im Text. Welche von beiden die richtige ist oder ob Aristoteles vielleicht etwas anderes Drittes meint, können wir erst auf der Grundlage der folgenden Abschnitte und endgültig erst anhand von Buch X entscheiden.
c) Die eudaimonia als das beste Gut (I 2–5) (i) Die Einführung des eudaimonia-Begriffs (I 2, 1095 a14–30). Während die EE unmittelbar mit der Frage nach der eudaimonia beginnt, setzt Aris toteles in der EN für das letzte Ziel oder beste Gut erst an dieser Stelle 12
Ähnlich Ricken 1976, 22.
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die eudaimonia (Glück, Glückseligkeit) ein. Der Ausdruck eudaimonia entspricht in seiner Bedeutung nicht genau unserem Begriff des Glücks. Nicht nur ist das deutsche Wort „Glück“ zu blass; es lässt sich außerdem sowohl für das innere Glück wie für den glücklichen Zufall verwenden, während die Griechen für Letzteres ein eigenes Wort, eutychia, haben. Was eudaimonia bedeutet, macht die Erläuterung deutlich, die Aristoteles nachreicht, dass es nämlich um das eu zēn kai prattein (Gut-Leben und Sich-Gut-Verhalten, gutes Leben und gutes Handeln, Gut-Leben und Sich-Gut-Gehaben), das „gut leben und gut handeln“ gehe. Beide Ausdrücke bedeuten, dass es einer Person in ihrem Leben gut geht, wobei der zweiteilige Ausdruck wohl deutlich machen soll, dass das Wohlergehen nicht nur ein passives Sich-Befinden ist, sondern auch eine aktive, handelnde Seite hat.13 Damit ein menschliches Leben eudaimonia aufweist, muss es in allen Hinsichten und, wie wir sehen werden, auch in seiner ganzen Dauer gelingen. Ist die Gleichsetzung von eudaimonia und bestem Gut zwingend, und wenn ja, warum erwähnt Aristoteles in der EN die eudaimonia erst jetzt? Die Gleichsetzung wird begründet mit dem Hinweis, dass alle das letzte Ziel der Politik und das beste der durch Handeln realisierbaren Güter in der eudaimonia sehen (a18). Aristoteles erklärt jedoch diese Übereinstimmung für eine bloß verbale, während über den Inhalt der eudaimonia Meinungsverschiedenheiten bestünden. Dann scheint der Ausdruck eudaimonia einfach dieselbe Rolle zu spielen wie der Begriff des besten Guts. Das ist jedoch nicht der Fall. Der Begriff des besten Guts ist ein formaler Begriff, der unabhängig von inhaltlichen Überlegungen anzeigt, an welcher Stelle das Gesuchte innerhalb des größeren Rahmens der Begriffe des Ziels, des Guts, des Strebens, der technē usw. steht. Mit diesem Begriff zu beginnen, hat also den Vorteil, dass auf diese Weise das Gesuchte begrifflich verortet wird.14 Der Ausdruck eudaimonia bezeichnet demgegenüber eine inhaltlich bestimmte Weise des Lebens, auch wenn dieser Inhalt von verschiedenen Menschen verschieden bestimmt wird (a20–30) und daher vorläufig nicht vorausgesetzt werden kann.15 Dass es die eudaimonia ist, 13 Am nächsten kommt die Übersetzung „gutes Leben“. Jedoch ist dieser Ausdruck im hier gemeinten Sinn gerade als Übersetzung für eudaimonia aufgekommen und lässt sich nur durch Rückgriff auf das griechische Verständnis dieses Begriffs erläutern. Daher kann man ebensogut das Wort eudaimonia stehen lassen. 14 Dass der systematisch grundlegende Begriff in der EN nicht eudaimonia, sondern ariston ist, sieht ähnlich Cooper 1975, 91. 15 Die andere Frage, ob es überhaupt zwingend ist, das beste Gut mit der eudaimonia gleichzusetzen, würde den Gedankengang länger unterbrechen und soll daher erst in der Zusammenfassung aufgenommen werden (siehe unten S. 55).
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was im Streben der Menschen den Stellenwert des besten Guts hat, liegt nicht offensichtlich im Begriff der eudaimonia, sondern muss erst gezeigt werden (siehe I 5, unten (iv)). (ii) Die drei wichtigsten Lebensformen (I 3). Die bereits in 1095 a20–30 aufgezählten verschiedenen Vorstellungen von eudaimonia werden in I 3 kurz erläutert. Worin die Menschen die eudaimonia sehen, kann man den Lebensweisen entnehmen. Dabei zeigen sich drei Grundtypen, das Leben der Lust, das politische und das betrachtende Leben. (Eine weitere Lebensweise, die Aristoteles am Ende des Textstücks erwähnt, das Leben des Gewinnstrebens (1096a5–10), wird nicht mitgezählt, weil der Reichtum als Mittel und nicht um seiner selbst willen erstrebt wird.) Das Leben der Lust (1095 b16 f., 19–22), welches die große Menge der Ungebildeten sucht, kritisiert Aristoteles als sklavisch. Wir werden später sehen, dass diese Kritik auf einer Vereinfachung beruht, weil sie nur eine bestimmte primitive Vorstellung von Lust betrifft. Aristoteles selbst wird auf andere Arten der Lust hinweisen und den wesentlichen Zusammenhang zwischen eudaimonia und Lust herausarbeiten. Das politische Leben (1095 a22–1096 a4) wird von Aristoteles zunächst ebenfalls in der gängigen Auffassung beschrieben, wobei er allerdings diese Konzeption schon hier korrigiert. Nach der üblichen Vorstellung hat das politische Leben die Ehre zum Ziel. Aristoteles kritisiert diese Vorstellung als abgeleitet, mit zwei Gründen: Erstens liegt die Ehre mehr im Ehrenden, wird dem Geehrten also von außen zu teil, während das gesuchte Gut etwas der Person Eigenes und Unverlierbares sein soll. Der zweite Grund besteht darin, dass die wohlverstandene Ehre ihre Grundlage nicht im bloßen Faktum des Geehrtwerdens hat, dass man vielmehr geehrt werden will, weil man gut ist, weil man die aretē besitzt und ausübt. Als das eigentliche Ziel des politischen Lebens erweist sich daher die aretē. Aristoteles fügt zwei weitere Qualifikationen an, die das Leben der aretē als Inhalt der eudaimonia betreffen, einmal dass es um die Betätigung der aretē und nicht um ihr bloßes Besitzen gehe, sodann dass auch der, der die aretē besitze, in äußeres Unglück geraten könne. Der erste dieser Punkte wird in I 6 weitergeführt (unten 2.), mit dem zweiten befassen sich ausgiebig die Texte I 8–12 (3.). Das Leben der theōria (1096a4–5), welches die dritte Lebensform bildet, wird hier nur erwähnt. In Buch X werden wir erfahren, dass es die höchste Form der eudaimonia darstellt (Kapitel X). (iii) Die Kritik an Platons Idee des Guten (I 4). Die Beschäftigung mit Platon beginnt ohne Anbindung an das Vorherige, dient jedoch in I 5 als Folie für die weitere Überlegung. Da der Text ohne eine Kenntnis der platonischen Ideenlehre und der aristotelischen Metaphysik schwer zu entschlüsseln ist, seien hier nur die Kernthesen genannt, die für das Folgende
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benötigt werden. Platon nimmt, sehr vereinfacht gesagt, an, dass es eine einzige und von der Erfahrungswirklichkeit losgelöste Idee des Guten gibt, dass nur diese Idee vollkommen und andauernd gut ist und dass alle anderen Güter durch die Teilhabe an dieser Idee näherungsweise gut sind. Aristoteles bestreitet nun erstens, dass eine gemeinsame Idee des Guten das Gutsein aller Güter erfassen kann. Vielmehr ist vom Guten in verschiedenen Kategorien die Rede. Aristoteles unterscheidet in seiner theoretischen Philosophie Kategorien des Seienden. Die erste Kategorie ist die der selbständigen Dinge, die anderen Kategorien enthalten Eigenschaften von Dingen, Relationen zu Dingen usw., die immer einen – je nach Kategorie verschiedenen – Bezug auf die Dinge der ersten Kategorie haben. Für „gut“ soll nun ebenso wie für „seiend“ gelten, dass es in verschiedenen Kategorien ausgesagt wird. Angenommen wir nennen den Reichtum ein Gut und die aretē ein Gut, dann heißt das nicht, dass beiden dieselbe Eigenschaft des Gutseins zukommt, sondern es heißt, dass beide auf verschiedene Weise auf eines hin ausgesagt werden (pros hen). Wenn dieses eine auch hier ein Gutes der ersten Kategorie sein soll, müssten wir sagen, dass es der gute Mensch ist; die aretē wäre auf diesen bezogen, indem sie eine Eigenschaft von ihm ist, der Reichtum, indem er ein Mittel zum Gutsein ist. Der zweite und dritte Kritikpunkt sind einfacher. Eine von der Erfahrungswelt losgelöste Idee des Guten können wir als Menschen nicht realisieren, während wir doch gerade das prakton agathon suchen, das Gut für den Menschen, das durch Handeln erreichbar ist (1096 b32 ff.). Selbst als idealer Orientierungspunkt für diese Suche sei die Annahme einer losgelösten allgemeinen Idee des Guten nicht brauchbar, da sich niemand, der ein Gut in einem bestimmten Handlungsbereich, etwa einer technē, verwirklichen wolle, an einer solchen allgemeinen Idee ausrichte (1097 a5 ff.). (iv) Die eudaimonia erfüllt die Anforderungen, die der Begriff des besten Guts enthält (I 5). Aristoteles knüpft in I 5 an die Ausführungen in I 1 an, wo er die Vielheit der menschlichen Unternehmungen, die durch je eigene Ziele definiert sind, betont hat. Wie in I 1 wird die Frage, ob es ein letztes Gut gibt, zunächst aus der Struktur der technē usw. heraus gestellt, sodann aus der Perspektive des handelnden Wir präzisiert (1097a25ff.). Wenn es viele Ziele gibt, wir aber manche Ziele nur um anderer willen erstreben, dann sind diese, wie Aristoteles sagt, nicht teleion (Endziel, vollendet, vollkommen). Obwohl das Wort teleion je nach Kontext alle in der Klammer genannten Bedeutungen haben kann, sind diese hier nicht passend, weil man sie nicht steigern kann. Aristoteles führt das Wort in I 5 in einem speziellen Sinn ein, der die Steigerung zulässt. In dem Adjektiv teleion steckt telos, „Ziel“, und es charakterisiert dann einfach Ziele hin-
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sichtlich ihrer Zielhaftigkeit.16 Diese müsste gemäß I 1 und Anfang von I 5 darin bestehen, dass etwas um seiner selbst willen gewollt wird und dadurch das Streben erfüllt. An das beste Gut stellt Aristoteles die Anforderung, dass es absolut zielhaft sein muss. Sollte es mehrere Ziele geben, die wirklich zielhaft sind, dann müsste das gesuchte Gut für den Menschen dasjenige von ihnen sein, das am meisten zielhaft ist. Aristoteles expliziert nun die Zielhaftigkeit in ihren Stufen und zeigt, dass sie in der höchsten Form genau von der eudaimonia erfüllt wird. Dasselbe führt er in einem zweiten Schritt für die Bedingung der Autarkie durch. Die Bedingung des teleion (1097 a30–b6). B ist zielhafter als A, wenn A nur di’ heteron (um anderer Ziele willen, eines anderen wegen, als Mittel) erstrebenswert ist, B dagegen auch kath’ hauto (um seiner selbst willen, seiner selbst wegen, für sich) als Ziel gewählt werden könnte (zum Beispiel ist Lust zielhafter als Reichtum, weil Reichtum nur um der Lust oder anderer Güter willen gewollt wird, die Lust aber in sich wünschenswert ist). C wiederum ist zielhafter als B, wenn C nie um eines anderen willen erstrebt wird, während B sowohl für sich selbst gewünscht wie auch um eines anderen willen gesucht werden kann (die eudaimonia ist zielhafter als die Lust, weil sie nur selbst Ziel ist und nie wegen etwas anderem erstrebt wird, während man die Lust zwar einfachhin, aber auch wegen der eudaimonia suchen kann). Das schlechthin oder im absoluten Sinn Zielhafte ist daher das, was nur um seiner selbst und nie um eines anderen willen gewünscht wird. Die eudaimonia erweist sich als dasjenige, was diese Bedingung vorzüglich erfüllt. Denn wir erstreben zwar auch Ziele wie Lust oder Vernunft um ihrer selbst willen und unabhängig davon, ob wir einen weiteren Nutzen von ihnen haben, jedoch erstreben wir sie auch um der eudaimonia willen. Umgekehrt aber würde niemand sagen, dass er die eudaimonia um eines dieser anderen Ziele willen erstrebt.17 16 Die Übersetzung „zielhaft“ entspricht ungefähr Kennys Hinweis, mit teleion werde ein telos als besonders „endy“ charakterisiert ( Kenny 2001, 21). „Endziel“ (Dirlmeier und Gigon) und „fin finale“ (Gauthier/Jolif) haben den Nachteil, dass sie nur für den Superlativ teleiotaton passen und sich in adjektivischen Verwendungen nicht durchhalten lassen. Wirklich zielhaft ist ein Ziel, das nur um seiner selbst willen gewünscht wird. Ich verwende bewusst die informellen Ausdrücke „um eines anderen willen“, weil Übersetzungen wie „Mittel“ Vorentscheidungen über die Relation der eudaimonia zu ihren Teilen und Bedingungen treffen, die wir an dieser Stelle noch nicht überprüfen können (siehe dazu unten S. 56). 17 Diese Ziele sind also offenbar nur in der Weise weniger zielhaft als die eudaimonia, dass sie sich um der eudaimonia willen erstreben lassen, nicht aber in dem Sinn, als sie der eudaimonia ihre Wünschbarkeit verdanken. Es scheint allerdings
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Die Bedingung der Autarkie (1097 b6–b20). Dieselbe Überlegung wird mit dem Kriterium der autarkeia (Selbstgenügsamkeit) wiederholt, wobei Aristoteles die Selbstgenügsamkeit eines Ziels in der Zielhaftigkeit impliziert sieht.18 Das Selbstgenügsame wird bestimmt als das, was für sich allein das Leben lebenswert macht und dem nichts fehlt. Auch hier gilt, dass es die eudaimonia ist, die genau diese Anforderung erfüllt. Das wird bestätigt durch die Hinzufügung, die eudaimonia sei das Wählenswerteste, ohne als ein Gut unter anderen gezählt zu werden. Denn wenn sie so eingereiht würde, dann wäre die Summe aus der eudaimonia und dem kleinsten anderen Gut größer als die eudaimonia allein und somit noch wählenswerter. Der Sinn dieser Passage ist nicht leicht zu verstehen und dementsprechend strittig. Manche Autoren sehen hierin einen Beleg für die inklusive Konzeption, derzufolge die eudaimonia alles, was wir um seiner selbst willen wollen, umfasst.19 Doch das ist genau genommen nicht, was der Text sagt. Er macht vielmehr die strukturelle Aussage, dass die eudaimonia nicht ein Ziel wie die vielen Einzelziele ist, die Menschen anstreben, sondern auf einer anderen Ebene steht. Sie ist das beste Gut, das die Einheit oder Anordnung der anderen Güter bewirkt, und nicht ein Gut neben anderen, die zusammengezählt werden können. Diese strukturelle These ist ebenso mit der dominanten wie mit der inklusiven Lesart vereinbar. Für die inklusive Interpretation würde folgen, dass die eudaimonia nicht einfach die Summe der Einzelgüter sein kann, weil diese in der Tat durch Addition eines weiteren Guts zielhafter würde, vielmehr eine geordnete Ganzheit von Gütern enthalten muss. Für die dominante Lesart, die das beste Gut als Spitze in einer Rangordnung von Zielen sieht, gilt ähnlich, dass die eudaimonia nicht in einer Reihe mit den untergeordneten Gütern steht. Aristoteles stellt, so können wir festhalten, die Verbindung der Begriffe des besten Guts und der eudaimonia durch die Bedeutungskomponente der Zielhaftigkeit her, die in beiden Begriffen impliziert ist. Das beste Gut ist trivialerweise absolut zielhaft, nur Ziel, weil es sonst nicht das Beste schwer zu verstehen, wie es Handlungen geben kann, die Selbstzweck sind, gleichzeitig aber um eines anderen (der eudaimonia) willen geschehen. Zu diesem Problem Jacobi und Engberg-Pedersen. 18 Aristoteles beginnt mit der konkreten Frage, ob die Autarkie für das isolierte Individuum gilt oder seinen engeren sozialen Kontext einbezieht (1097 b8–14). Diese Abschweifung passt nicht in die begriffliche Überlegung des Abschnitts, und ich werde ihren Inhalt daher erst im Zusammenhang mit I 8–12 behandeln, wo ähnliche Probleme erörtert werden (siehe unten S. 49). 19 So Hardie 1980, 22.
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wäre. Doch aufgrund der Begriffsbedeutung von „zielhaft“ ist nicht auszuschließen, dass es mehrere absolut zielhafte Güter geben kann. Dass es sich beim Gut für den Menschen um ein schlechthin zielhaftes Strebensziel handeln muss, ergibt sich eher, wenn wir vom eudaimonia-Begriff ausgehen. Auch er impliziert die absolute Zielhaftigkeit, das teleion in dem in I 5 verwendeten Sinn; dieses hat aber nun durch die Verknüpfung des eudaimonia-Begriffs mit dem des menschlichen Lebens und seiner Strebensstruktur einen konkreteren Sinn. Aus dieser Perspektive ist ein Ziel dann absolut zielhaft, wenn es das Leerlaufen des Strebens verhindert, mit anderen Worten, wenn es das Streben eines Menschen insgesamt und auf Dauer erfüllt, sein Leben insgesamt gut macht.20 Und „gut“ heißt hier im Sinn von I 1 wiederum nichts anderes als „erwünscht“ oder „erstrebenswert“; es bedeutet das Gutsein des einen Lebens, das jeweils ein Mensch lebt, in allen Hinsichten und der ganzen Dauer. Man darf daher das Kriterium der Autarkie, auch wenn seine Bestimmung („dem nichts fehlt“) das auf den ersten Blick nahe legt, nicht so lesen, als ob es den Einschluss sämtlicher denkbaren Güter verlangte. 21 Was Aristoteles mit der Autarkie meint, wird deutlicher an der parallelen Stelle in der EE, wo sich die Formulierung findet, wir suchten dasjenige, das, wenn man es erlangt, das Streben erfüllt (1215b18). Zur Erläuterung der Rede, dass ein Ziel das Streben erfüllt, stellt sich Aristoteles dort vor, man würde uns vor der Geburt bestimmte Übel und Güter anbieten und wir könnten entscheiden, unter welchen Bedingungen wir das Leben und unter welchen das Nicht-Leben vorziehen würden. Wir würden, so seine Antwort, das Leben nicht wählen, wenn uns nur Übel wie Krankheiten erwarteten; auch dann nicht, wenn uns nur Güter angeboten würden, die für uns nicht um ihrer selbst willen erwünscht sind; ebenso wenig, wenn wir auf dem Entwicklungsstand von Kindern bleiben oder das ganze Leben schlafend verbringen würden; schließlich auch nicht, wenn nur unsere sinnlichen Begierden erfüllt würden, weil dann unser Leben nicht von dem der Tiere verschieden wäre. Wenn das beste Gut, die eudaimonia, teleion und autark ist, muss es also das menschliche Streben so sehr erfüllen, dass wir das Leben insgesamt für wünschenswert halten. Dazu braucht es nicht jedes denkbare Gut zu enthalten; es genügt, dass seine Anwesenheit die Wünschbarkeit eines ganzen menschlichen Lebens in seiner besonderen Strebensstruktur sichert. Um dies zu leisten, muss es auch nicht entweder dominant oder inklusiv sein. Wenn wir uns an die Pla20 Dieser aktivische Sinn von teleion, wonach es „Erfüllung bringend“ bedeutet, ist zwar nur in der Dichtung belegt, scheint aber hier mitzuschwingen. 21 Dazu auch Reeve 121f.
Eudaimonia als Tätigkeit gemäß der aretē (I 6 und 13)
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tonkritik erinnern, spricht einiges dafür, dass es weder das eine noch das andere ist, vielmehr die Ordnung in der dort erwähnten Weise eines pros hen-Verhältnisses herstellt. Doch wenn die eudaimonia ein durch Handeln erreichbares Gut (prakton agathon, 1097 a23) sein soll, lässt sich dann etwas finden, was diesem Anspruch der absoluten Zielhaftigkeit in der Wirklichkeit genügt, die sich nicht immer nach den menschlichen Wünschen richtet?22 Um diese Frage zu klären, müssen wir als Nächstes sehen, wie Aristoteles selbst die eudaimonia inhaltlich bestimmt.
2. Die eudaimonia als Tätigkeit gemäß der arete¯ (I 6 und 13) a) Die Begriffe ergon und aretē (1097b22–27, 1098a8–12) Dass die eudaimonia das beste Gut darstellt, ist, wie Aristoteles sagt, eher ein Gemeinplatz und sagt noch nichts über ihre Beschaffenheit (1097 b22–24). Diese muss daher im Folgenden genauer bestimmt werden. Nachdem Aristoteles in I 1–5 bekannte Phänomene und gängige Meinungen über das menschliche Streben und die eudaimonia dargestellt hat, würde man jetzt erwarten, dass er die vorhandenen Meinungen prüft und einen haltbaren und konsistenten Kern herausarbeitet. Dieses dialektische Verfahren kommt insbesondere dort zur Anwendung, wo wir es mit einem Thema zu tun haben, das nicht Gegenstand einer umgrenzten Einzelwissenschaft ist. Und in einer solchen Situation scheinen wir uns im Falle des besten Guts zu befinden, wenn dieses sämtliche anderen Ziele oder Güter im Staat unter sich hat oder umfasst. In Wirklichkeit jedoch geht Aristoteles nicht dialektisch vor, sondern beginnt mit einer typischen Definitionsfrage, der Frage „Was ist (ti estin) die eudaimonia? (b23)“. Solche Definitionsfragen bezieht Aristoteles immer auf begrenzte Seinsbereiche, weil nur sie inhaltlich bestimmt und dadurch definierbar sind.23 Die eudaimonia ist kein selbständiges SeienÄhnlich Bostock 14f. Im engeren Sinn definierbar sind für Aristoteles Arten von Gegenständen. Nach der Lehre in den Analytica Posteriora sind jedoch auch Zustände oder Eigenschaften von Gegenständen definierbar, sofern sie wesentlich mit einer bestimmten Art oder Gattung von Gegenständen verbunden sind; beispielsweise ist Gesundheit definierbar, sofern sie wesentlich auf Lebewesen bezogen ist. Das heißt dann aber, dass die Definition in derartigen Fällen immer einen Bezug auf die Gegenstandsart enthalten muss, die Träger der zu definierenden Eigenschaft ist (also bei der Gesundheit auf Lebewesen, bei der eudaimonia auf Menschen). 22
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des, sondern eine Weise des menschlichen Lebens,24 und sie kann folglich nur bestimmt werden, indem sie als Seinsweise desjenigen Wesens, dem sie zukommen kann, definiert wird, also des Menschen. Dieses Vorgehen spricht dafür, dass wir es in I 6 mit einer in der EN selten verwendeten (siehe auch unten S. 61) Zugangsweise zu tun haben, die Aristoteles gewöhnlich als naturwissenschaftliche bezeichnet.25 Wie Aristoteles ankündigt, lässt sich die Definition auffinden, wenn wir nach dem ergon des Menschen fragen. Um die Anbindung dieses Schritts an das Bisherige zu verstehen, muss man sich an die Zweigleisigkeit der Einführung des besten Guts in I 1–5 erinnern. Aristoteles erläutert dort einerseits ohne Erwähnung des handelnden Subjekts die Struktur menschlicher Unternehmungen, und zwar sowohl ihre interne teleologische Struktur als auch ihre Ordnung auf das Ziel der Politik, das Gut für den Menschen hin. Er zeigt andererseits aus der Beschaffenheit des individuellen Strebens, dass dieses nur dann ganz erfüllbar ist, wenn es sich an einem letzten Ziel orientieren kann, dass wir ein bestes Gut annehmen müssen und dieses die eudaimonia ist. Die neue Wendung, die Aristoteles dem Gedankengang in I 6 gibt, kann man so verstehen, dass er diese beiden Stränge der Einführung eines besten Guts zusammenzuführen versucht. Das geschieht mittels des Begriffs des ergon, der beiläufig schon in I 1 aufgetreten ist, aber erst jetzt ins Zentrum rückt. Der Begriff des ergon (eigentümliche Leistung, eigentümliche Tätigkeit, Aufgabe, Funktion) hängt eng mit den bisher verwendeten Begriffen des Ziels und des Guts zusammen. Während das Wort telos (im Sinn des zweiten gerade erwähnten Strangs) jedes Ziel bezeichnet, das jemand gerade erstrebt, wird der Ausdruck ergon immer dort verwendet, wo eine technē oder Handlungsweise, aber auch ein Werkzeug oder Organ usw. (im Sinn des ersten Strangs) durch ein bestimmtes Ziel oder Gut definiert ist. Die Hausbau-technē ist dadurch definiert, dass das Haus ihr ergon ist. Das ergon des Auges ist das Sehen, das ergon des Messers das Schneiden, das ergon des Flötenspielers das Flötespiel. Das ergon braucht also nicht ein Produkt zu sein, sondern kann auch in der Handlung selbst bestehen (1097 b26) .26 24 Trotz Halper, der die These vertritt, Aristoteles halte sie für eine Quasi-Substanz. 25 Anders Reeve 132, der meint, wir sollten entgegen dieser nahe liegenden Vermutung auch hier eher mit einem dialektischen Vorgehen auf der Basis von gängigen und bewährten Überzeugungen rechnen. 26 Aristoteles nimmt damit die in I 1 erwähnte Unterscheidung zwischen Zielen auf, die ein Produkt (ergon) sind, und solchen, bei denen die Handlung (praxis) selbst das Ziel ist. Manchmal verwendet er auch den ergon-Begriff im weiten Sinn,
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Um die Verbindung der beiden Stränge herzustellen, spricht Aristoteles jetzt nicht wie in I 1 vom Ziel einer technē, sondern vom Ziel oder ergon dessen, der die technē ausübt, des technitēs. Außerdem führt er im Kontext des ergon-Begriffs neue wertende Redeweisen ein. Für jeden technitēs, jedes Werkzeug wie für alles, was ein ergon hat, liegt das Gut (agathon) und das „auf gute Weise“ (eu) im ergon (1097 b27 f.). „Das Gut“ hat den bisherigen Sinn des Erstrebten; die Bedeutung von eu wird expliziert in 1098 a12. Wenn jemand ein ergon hat, kann er dies besser oder schlechter ausführen. Das ergon des Flötenspielers ist es, Flöte zu spielen, das ergon des guten (spoudaios; hervorragend, tüchtig) Flötenspielers, auf gute Weise (eu) oder gemäß der aretē Flöte zu spielen. In der Wendung „ein guter Flötenspieler“ ist „gut“ ein Adjektiv, das attributiv und graduierend gebraucht wird, das Dinge oder Personen mit Bezug darauf bewertet, ob sie ihr ergon gut ausführen. Das zugehörige Substantiv ist aretē (Tugend, Tüchtigkeit, Trefflichkeit, Vortrefflichkeit); wer eine Fähigkeit nicht nur besitzt, sondern sie in überdurchschnittlichem Maß besitzt, hat die entsprechende aretē. Ein Messer, das nicht nur schneidet, sondern gut schneidet, ist gut als Messer oder besitzt die entsprechende aretē. Wer gute Schuhe verfertigen kann, hat die aretē in der technē der Schuhmacherei. Das Wort aretē bezeichnet also letztlich nichts anderes als „Gutsein“.27 Allerdings ist auch „Gutsein“ keine optimale Übersetzung von aretē, weil es eher den passiven Zustand bezeichnet, während aretē die Disposition zu einer guten Betätigung in etwas ist. Beim menschlichen Handeln aufgrund des Charakters, um das es Aristoteles in Buch II–V gehen wird, entspricht das Wort aretē ungefähr dem deutschen „Tugend“. Wenn wir jedoch den Übergang zur Problematik der ethischen Tugenden angemessen verstehen wollen, dürfen wir gerade nicht den aretē-Begriff, der im Griechischen jede Qualität, die einer guten Betätigung zugrunde liegt, meint, schon im Vorhinein auf unseren Bereich des Moralischen einschränken.
so dass er beide Bedeutungen, dass das Ziel ein Produkt jenseits der Handlung ist oder die Tätigkeit selbst das Ziel ist, umgreift (EE 1219a12 ff.). 27 Die Übersetzung von aretē durch „Vortrefflichkeit“ und spoudaios durch „hervorragend“ ist zu stark. Es geht um die gute Qualität, die über dem Durchschnitt liegt, nicht um die extreme Spitze des Hervorragenden. „Tüchtig“ erscheint passender, hat aber den Nachteil, dass es heute nicht mehr gebräuchlich ist und außerdem zwar auf Menschen, aber weniger gut auf Werkzeuge passt.
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b) Ergon und aretē des Menschen (i) Die Frage nach dem ergon des Menschen (1097 b27–1098 a7). Aristoteles stellt die Frage, ob denn alles ein ergon habe, nur der Mensch nicht. Die Frage ist rhetorisch gemeint und soll suggerieren, dass durchaus auch der Mensch als Mensch ein ergon hat. Von den Interpreten wird diese Annahme mit verschiedenen Gründen kritisiert. Nahe liegend ist der Einwand, der Übergang komme nur zustande, wenn dem Menschen von außen, von Gott oder der Natur oder der Polis, eine Aufgabe vorgegeben ist. Die erläuterte Unterscheidung zwischen Handlungen, die wegen eines Ergebnisses gewollt werden, und Handlungen, die in sich wünschenswert sind, macht diesen Punkt jedoch eher unproblematisch. So scheint es harmlos, vom ergon des Flötenspielers in dem Sinn zu reden, dass er bestimmte für seine Rolle typische Handlungen vollzieht, die ihr Ziel in sich selbst haben. In der parallelen Argumentation in der EE weist Aristoteles ausdrücklich darauf hin, dass wir in zwei Bedeutungen vom ergon reden, erstens so, dass es ein Produkt des Tuns gibt, zweitens aber auch so, dass die Ausübung der Tätigkeit selbst das ergon sein kann (1219 a13 ff.). Doch während es offensichtlich ist, dass diese Tätigkeit für den Flötenspieler im Spielen auf der Flöte liegt, ist weniger offenkundig, in welcher Tätigkeit der Mensch sein ergon realisieren könnte. Durch das naturwissenschaftliche Vorgehen versucht Aristoteles eine solche Bestimmung des Menschen aufzuweisen.28 Dazu benutzt er das übliche Definitionsverfahren durch Angabe von Gattung und spezifischer Differenz.29 Der Gattung nach ist der Mensch ein Lebewesen, welches von den anderen Spezies dieser Gattung unterschieden werden muss. Genauer werden diese Unterscheidungen in I 13 beschrieben (siehe c)). Das Leben im Sinn von Wachstum und Ernährung haben auch Pflanzen, Leben in der So Roche 1992. In der Metaphysik definiert er die Form (eidos) von Gegenstandsarten (ihre wesentliche Beschaffenheit) so, dass Bezugspunkt der Definition die sogenannte Zweckursache, das telos oder ergon der Art ist. Diese teleologische oder funktionale Art der Definition des reinen eidos ermöglicht es, dass auch die Art als konkrete, das eidos in seinem Bezug auf die Materie, definiert werden kann, weil das telos eine bestimmte Beschaffenheit und Anordnung der materiellen Teile vorgibt. Zum Beispiel: Das telos des Hauses ist es, Schutz für Menschen und Güter zu bieten, und daraus ergibt sich, dass Steine oder Holz in einer bestimmten Weise angeordnet werden müssen, um diesen Schutz herzustellen (1043a31 f.). Bei Lebewesen ist das interne telos das Leben, die Form ist die Seele, die dieses Leben organisiert und vollzieht (1050a34ff.). In der praktischen Abhandlung der EN redet Aristoteles zwar zunächst vom Menschen, der sein Leben vollzieht, jedoch verfällt er dann doch in die exaktere Ausdrucksweise aus der Metaphysik, wonach dies die Seele tut (1098a7). 28 29
Eudaimonia als Tätigkeit gemäß der aretē (I 6 und 13)
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Weise von Wahrnehmung und Bewegung teilt der Mensch mit allen Tieren. Als das dem Menschen eigentümliche Leben bleibt so nur das handelnde Leben des logon echon (des vernunftbegabten, rationalen Seelenteils)30 übrig. Mit Bezug auf diesen Seelenteil werden zwei Differenzierungen angedeutet; zunächst wird unterschieden zwischen einem der Vernunft gehorchenden und einem selbst Vernunft besitzenden Teil, sodann zwischen dem Haben des letzteren und seiner Betätigung.31 Das scheint verständlich, da sich das spezifisch Menschliche eines Lebens nicht im Schlaf zeigt, sondern in der Betätigung seiner Fähigkeiten. (ii) Das Gut des Menschen als Leben der Vernunftbetätigung gemäß der aretē (1098 a7–17). Das bisherige Vorgehen könnte man als deskriptives verstehen, das heißt als Suche nach der tatsächlichen Beschaffenheit des Menschen.32 Die These wäre einfach, dass Menschen im Unterschied zu anderen Lebewesen ihr Leben unter Betätigung ihrer Vernunft, der Fähigkeit zu sprechen und denken, vollziehen. Da sich aus dieser spezifischen Betätigung zugleich die Bestimmung der eudaimonia ergeben soll, wendet sich Aristoteles jedoch im Weiteren Aussagen über das gute Leben zu, wobei dies in einem langen mit neuen Begriffen und Übergängen voll gepackten Satz geschieht, den wir schrittweise zu analysieren versuchen müssen.33 Er lautet: (1) Wenn nun das ergon des Menschen eine Tätigkeit der Seele gemäß der Vernunft ist oder nicht ohne Vernunft und (2) wenn wir sagen, dass ein So-und-so und ein guter (spoudaios) So-und-so ein ergon haben, das zur selben Art gehört, beispielsweise ein Kitharaspieler und ein guter Kitharaspieler, und so in allen Fällen, indem das Überragen gemäß der aretē zum ergon hinzugefügt wird (denn die Aufgabe eines Kitharaspielers ist, die Kithara zu spielen, und die Aufgabe des guten Kitharaspielers, das gut zu tun) – wenn das der Fall ist, (3) [wenn wir aber als das ergon des Menschen eine bestimmte Weise des Lebens annehmen und diese als eine Tätigkeit der Seele und Handlungen gemäß der Vernunft, als das ergon des 30 Das griechische Wort logos ist in seinem Sinn weiter als „Vernunft“; es kann je nach Kontext „Satz, Rede, Sprache, Rechnung, Erklärung, Vernunft usw.“ bedeuten. 31 Die Unterscheidung zwischen dem Besitz einer Fähigkeit (dynamis) und ihrer Ausübung oder Betätigung (energeia) entwickelt Aristoteles ausführlich in Metaphysik IX 1 und 6. Dass das in der Betätigung der Vernunft bestehende Leben kyrioteron (eigentlicher, wichtiger, schärfer den Begriff treffend) ist als der bloße Besitz der Vernunft, lässt sich am einfachsten im Sinn der Prioritätskriterien verstehen, die Aristoteles in Metaphysik IX 8 präzisiert: Wir können eine Fähigkeit nur als diese bestimmte erkennen und definieren über die Tätigkeit, zu der sie die Fähigkeit ist. 32 Einen solchen neutral-deskriptiven Schritt nimmt Gómez-Lobo an. 33 Der Satz nimmt mehrere Anläufe, um zu seinem Ergebnis zu kommen, und manche Kommentatoren nehmen daher an, dass es sich um zwei Redaktionen desselben Gedankengangs handelt. So Gauthier/Jolif II 58.
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guten Menschen aber die gute und richtige Ausführung hiervon, und wenn jede Handlung gut ausgeführt ist, wenn sie gemäß der eigentümlichen aretē vollendet wird – wenn das so ist], (4) dann erweist sich das Gut für den Menschen als Tätigkeit der Seele gemäß der aretē, (5) und wenn es mehrere aretai gibt, gemäß der besten und zielhaftesten.
Wennsatz (1) nimmt die Bestimmung des ergon des Menschen auf. Teilsatz (2) führt den bereits erläuterten Begriff der aretē und die attributive Verwendung von „gut“ allgemein ein, der dritte (3) überträgt diese Begrifflichkeit auf das menschliche Leben und der vierte (4) schließt daraus auf das Gut für den Menschen. Das entscheidende Argument lautet: Wenn (3) das ergon des Menschen in der Tätigkeit gemäß der Vernunft besteht, das ergon des guten Menschen in der guten Ausübung dieser Tätigkeit, dann (4) liegt in dieser guten Ausübung der vernunftgemäßen Tätigkeit, in der Betätigung der menschlichen aretē, das Gut für den Menschen, d.h. die eudaimonia. Spitzen wir die Aussage etwas zu, dann behauptet Aristoteles: Dass wir erreicht haben, was wir letztlich wollen und erstreben, das zielhafteste Ziel oder beste Gut, die eudaimonia, ist identisch damit, dass wir gut als Menschen sind bzw. aufgrund dieses Gutseins handeln. Doch kommt es nicht vor, dass jemand gut als Mensch ist bzw. gut handelt und es ihm trotzdem nicht gut geht, oder auch umgekehrt, dass es jemandem gut geht, obwohl er nicht gemäß der menschlichen aretē handelt? Wir müssen also noch etwas genauer herauszufinden versuchen, welcher Gedankenschritt dem Übergang von der eudaimonia zur aretē zugrunde liegt. Die gesuchte Verbindung wird schon zu Beginn von I 6 vorbereitet, wenn Aristoteles unterstellt, für alles, was ein ergon oder eine typische Handlung habe, liege in diesem ergon das Gut (1097 b26 f.). Diese Voraussetzung ist in einer bestimmten Hinsicht richtig, in einer anderen aber unzutreffend. Im Kontext der technē, in dem Aristoteles den ergon-Begriff zunächst erläutert, kann man sagen, dass für den technitēs als technitēs (den Baumeister als jemanden, der diesen Beruf ausübt) das ergon in der Herstellung des Guts liegt, durch das diese technē definiert ist (Haus), und man kann ebenfalls sagen, dass der Baumeister dann gut als Baumeister ist, wenn er gemäß der aretē im Bauen tätig ist, wenn er gute Häuser baut. Wie Aristoteles in Metaphysik IX 2 und 5 erläutert, sind die technai jedoch zweiseitige Fähigkeiten, das heißt, wer eine technē wie die Medizin beherrscht, bewirkt in relevanten Situationen nicht automatisch Gesundheit, sondern könnte mit demselben Wissen auch Krankheit bewirken. Welches von beidem er tut, ergibt sich nicht mehr aus dem Ziel, das seine technē definiert, sondern aus seiner ethischen Entscheidung, die er nicht als technitēs, sondern als Mensch mit einem bestimmten Charakter, bestimmten Wünschen usw. trifft.
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Diese Diskrepanz zwischen dem Ziel oder Gut der technē oder Handlungsweise und dem Gut der handelnden Person könnte geringer scheinen, wenn wir nicht technai betrachten, sondern Tätigkeiten wie Flöte spielen, die kein Produkt erzeugen. Hier scheint es ein Bindeglied zwischen der aretē in der Tätigkeit und dem Gut der Person zu geben, das Aristoteles zwar vorläufig nicht erwähnt, das er aber später selbst einführen wird, nämlich die Lust (erstmals genannt wird diese in I 9, siehe unten S. 48). Wenn eine Tätigkeit um ihrer selbst willen getan wird, liegt es nahe anzunehmen, dass man sie tut, weil die Ausübung Freude macht und sie dadurch Bestandteil der eudaimonia sein kann. Es ist jedoch denkbar, dass jemand gut im Flötespielen ist, aber die Lust daran verloren hat und vielleicht nur noch um eines Ergebnisses willen, etwa um Geld zu verdienen, weiterhin spielt.34 Wer die Tätigkeiten, die typisch für das Flötespielen sind, gut ausführt, ist (das gilt analytisch aufgrund der Begriffsbedeutungen) ein guter Flötenspieler, aber ein guter Flötenspieler ist darum nicht auch ein glücklicher Flötenspieler.35 Und entsprechend müsste dann für den Menschen gelten: Wer die typischen menschlichen Tätigkeiten gut ausführt, ist ein guter Mensch, aber ein guter Mensch ist darum nicht auch ein glücklicher Mensch. Häufig wird Aristoteles daher vorgeworfen, er begehe in I 6 einen so genannten naturalistischen Fehlschluss, leite also eine normative oder wertende Aussage aus einer deskriptiven Aussage, einer bloßen Tatsachenbehauptung, ab. Daraus, dass Menschen sich faktisch von Tieren durch die Fähigkeit zur Vernunftbetätigung unterscheiden, die wie alle Fähigkeiten besser oder schlechter ausgeübt werden kann, folgt, so der Einwand, nichts darüber, was das Beste für den Menschen ist oder wie zu leben für den Menschen gut ist. Nun muss man hier zwei Fragen auseinander halten. Erstens ob wirklich ein Fehlschluss vorliegt und worin genau der unzulässige Übergang besteht. Zweitens muss man sich aber auch fragen – und das ist für die Bewertung der Position wichtiger –, ob die Konzeption der eudaimonia, die Aristoteles in I 6 über bestimmte Schritte herleitet, für ihn letztlich auf der Schlüssigkeit dieser Schritte beruht. Was die erste Frage angeht, so trifft der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses nicht exakt zu. Aristoteles schließt nicht aus dem Faktum unserer Vernunftbegabtheit, dass wir vernünftig leben sollen, vielmehr verweist er auf den begrifflichen Tatbestand, dass in Fähigkeiten ein Spiel34 Auch Tätigkeiten können natürlich faktisch mit Ergebnissen verbunden sein. Der Unterschied zur technē bleibt davon unberührt, denn die technē ist durch ihr Ergebnis definiert, während es für die Frage, was Flötespielen wesentlich ist, nichts beiträgt, dass man damit unter Umständen Geld verdienen kann. 35 Siehe Everson 1998b, S.99.
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raum von „besser und schlechter“ liegt. Einen problematischen Übergang nimmt Aristoteles jedoch an einer anderen Stelle vor, nicht von einem deskriptiven zu einem normativen Begriff, sondern zwischen zwei normativen Begriffen, nämlich den oben erläuterten Übergang vom Begriff der aretē zu dem der eudaimonia. Wenn man darin etwas Naturalistisches sehen will, dann liegt das eher in der Vermischung von zwei Arten der Teleologie, einer definitionsinternen oder funktionalen (naturwissenschaftlichen) Teleologie36 und einer ethischen Teleologie. Aristoteles definiert die Form (eidos) einer Spezies, indem er die Anordnung der Teile auf die Erfüllung des ergon oder telos hin angibt. Beim Menschen besteht dieses ergon in der vernunftgemäßen Tätigkeit, und entsprechend müsste eine Definition zeigen, wie alle menschlichen Teile so zusammenarbeiten, dass die Vernunfttätigkeit ermöglicht wird. 37 Dass dies das telos, das Ziel ist, das die Anordnung der Definitionsteile leitet, beweist aber nicht, dass auch für die Person, die ihr Leben vollzieht, die andauernde Vernunfttätigkeit der Inhalt des letzten Ziels für das Handeln ist. Die handelnde Person könnte die Vernunft auch als Mittel ansehen, um ihre inhaltlichen Ziele, die aus anderen Quellen stammen, zu realisieren. Ich komme zur zweiten Frage. Man kann zugeben, dass es keinen analytischen Zusammenhang zwischen aretē und eudaimonia gibt, und es trotzdem plausibel finden, dass es Lebewesen dann gut geht, wenn sie ihre spezifischen Anlagen gut entwickelt haben und ausüben, und für den Menschen wäre das eben die Vernunftfähigkeit. Auch wenn es nicht streng beweisbar ist, gilt es allgemein als einleuchtend, dass es für den Menschen besser ist, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein.38 Für Aristoteles ist ein weiterer Grund wichtig. In der EE setzt er, noch ehe er eine ähnliche Herleitung wie in I 6 durchführt, voraus, dass die seelischen Güter allen anderen vorzuziehen sind (1218 b33). Warum das so ist und wie daher die zweite Frage endgültig zu beantworten ist, werden wir genauer in 3.) sehen. Im Augenblick genügt der Hinweis, dass die Aus übung der Tätigkeit gemäß der aretē bei uns liegt und so am ehesten geeignet erscheint, eine erreichbare und dauerhafte Art der eudaimonia zu gewähren. Dass es um das ganze Leben geht, betont Aristoteles denn auch in einem Zusatz am Ende von I 6 (1098a18–20).39 Diese ist für Aristoteles zugleich begrifflich und biologisch, da für ihn eine Definition nicht einfach eine Verbaldefinition ist, sondern eine Realdefinition, das heißt zugleich eine wissenschaftliche Erklärung. 37 So hält Whiting die Argumentation für durchgängig normativ. 38 Diese Formulierung stammt von J. St. Mill, Der Utilitarismus, Stuttgart 1976, 18. 39 Es ist strittig, ob en biō teleiō wirklich „in einem vollständigen Leben“ bedeutet oder teleios hier den Sinn von „voll entwickelt“, „reif“ hat. Auch wenn es gute 36
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Die Frage, welche seelischen Güter das Leben eudaimōn machen, ist auch mit dem Hinweis auf die Tätigkeit gemäß der spezifisch menschlichen aretē noch nicht präzise beantwortet. In Teilsatz (5) der Ableitung der eudaimonia stellt Aristoteles in Aussicht, es könne mehrere solche aretai geben. Eine erste Konkretisierung dieses Hinweises erhalten wir in I 13, die genaue inhaltliche Ausführung der Arten der eudaimonia erfolgt erst in Buch X. c) Die Arten der menschlichen aretē (I 13) Das menschliche Gut, die eudaimonia, besteht in der Tätigkeit der menschlichen Seele gemäß der ihr eigentümlichen aretē. Um die menschliche aretē oder die verschiedenen menschlichen aretai aufzufinden, müssen daher die typischen menschlichen Tätigkeiten herausgestellt werden. Das geschieht in I 13 anhand der Beschreibung der Teile der menschlichen Seele, der einige Bemerkungen über Politik und Psychologie vorangestellt sind. In unausgesprochener Entgegensetzung zu Platon betont Aristoteles, gesucht sei das menschliche Gut und die eudaimonia des Menschen, deren Sicherung Aufgabe der Politik ist (1102 a5–a26). Die Bestimmung der eudaimonia als Tätigkeit der Seele gemäß der menschlichen aretē sieht Aristoteles dadurch bestätigt, dass der Politiker sich primär um die aretē der Bürger bemüht. Das setzt voraus, dass er ein Wissen von der Seele, also die nötigen psychologischen Kenntnisse hat (1102a26–32). Aristoteles verweist, was die Bestimmung der Seele angeht, zunächst auf die sog. exoterischen Schriften, vermutlich die populären Texte.40 Dort findet sich die Unterscheidung in einen vernunftlosen und einen vernunftbegabten Teil der Seele. Wie Aristoteles betont, braucht die Rede von Teilen nicht so verstanden zu werden, dass es sich um in der Wirklichkeit Trennbares handelt. Die Seele ist für die Griechen kein Ding mit Teilen, sondern das Ganze der Lebensfähigkeiten, das Lebensprinzip des Körpers (im einfachsten Fall der Pflanze z. B. der Stoffwechsel). Die Teile sind nur begrifflich trennbar; es handelt sich um verschiedene Aspekte des Lebensprinzips eines Lebewesens.41 Argumente für Letzteres gibt (siehe Gauthier/Jolif II 59 f.), scheint mir der folgende Satz, eine Schwalbe mache noch keinen Sommer, doch für die üblichere Interpretation zu sprechen, wonach es um die Dauer geht. Dafür sprechen auch die weiteren Überlegungen in I 8–12. 40 Zur Frage, was genau sich hinter den „exoterischen Schriften“ verbirgt, ausführlich Dirlmeier 1956, 274f. 41 Innerhalb der philosophischen Schriften gibt es eine eigene Abhandlung über die Seele, De Anima. Dort legt Aristoteles Wert darauf, dass man „Seele“ allgemein
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Die Einteilung der menschlichen Seele (1102 a32 ff.) lässt sich durch das folgende Schema darstellen: Seele vernunftlos vegetativ
mit Vernunft Strebevermögen
Vernunft
ethische aretē
dianoetische aretē
Das Vermögen der Ernährung und Fortpflanzung (1102 a32–b12). Aris toteles beginnt mit dem vernunftlosen Teil der menschlichen Seele, und hier demjenigen Teil, den wir mit den Pflanzen gemeinsam haben, dem Ernährungs- und Fortpflanzungsvermögen, der vegetativen Seele. Dieser Teil der Seele arbeitet auch im Schlaf, setzt also kein Bewusstsein voraus, weshalb er nicht zu den spezifisch menschlichen Aspekten der Seele gehören, seine aretē also nicht die gesuchte menschliche aretē sein kann. Das Strebevermögen (1102 b13–1103 a1). Die zweite Stufe der Seele, das Vermögen des Strebens und der Bewegung, schreibt Aristoteles in anderen Abhandlungen auch den Tieren zu. Es enthält alle Antriebe (Begierden, Wünsche usw.) und Affekte. Beim Menschen liegt dieses Vermögen in einer besonderen Form vor. Es ist zwar selbst vernunftlos, aber anders als der vegetative Seelenteil in der Lage, sich nach der Vernunft zu richten. Entsprechend wird es am Ende von I 13 nochmals angeführt und diesmal von der anderen Seite als Teil des Vernunftvermögens eingeordnet (1103 a2).42 Erläutert wird die Stellung des Strebevermögens am Beispiel des Beherrschten und Unbeherrschten, in dem die Strebungen und Affekte gegen die Vernunft kämpfen, während sie sich beim guten Menschen in Einklang befinden (1102 b28). Dass hier der Sonderfall des Konflikts zur Grundlage der Darstellung gemacht wird, könnte daran liegen, dass sich im Fall des Widerstreits leichter sehen lässt, dass zwei verschiedene Seelenteile im Spiel sind, dass es also sinnvoll ist, diese zwei Aspekte der Seele begrifflich zu trennen.43 nur im Umriss bestimmen kann, während eine Definition nur möglich ist für die Seele einer jeweiligen Art von Lebewesen. 42 Ich folge Gauthier-Jolif II 97, dass wir es mit einer Mehrfacheinordnung des Strebevermögens und daher im Großen mit einer Dreiteilung zu tun haben, gegen Dirlmeier 1956, 292, der eine Vierteilung annimmt. 43 Ähnlich Joachim 62f.
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Das Vernunftvermögen (1103 a1–3). Das Vernunftvermögen wird nur kurz erwähnt. Ihm schreibt Aristoteles ebenfalls zwei Aspekte zu, einmal den vernünftigen Seelenteil im engeren Sinn, sodann das Strebevermögen, sofern es der Vernunft zu folgen vermag. Ziel des Textstücks war von Anfang an die Herausarbeitung der Formen der menschlichen aretē (1103 a3–10). Die spezifische menschliche aretē besteht in der guten Verfassung und Betätigung der spezifisch menschlichen Seelenteile. Als spezifisch menschlich erwies sich der vernünftige Seelenteil, und zwar dieser im engeren Sinn sowie das Strebevermögen, sofern es der Vernunft gemäß sein kann. Folglich gibt es zwei Arten menschlicher aretē, die des Vernunftvermögens selbst, die so genannten dianoetischen aretai, und die des Strebevermögens, die so genannten ethischen aretai. Letztere, die aretai des Charakters, sind Thema in den nun folgenden Büchern II–V, erstere, die intellektuellen aretai, in Buch VI.
3. Tätigkeit gemäß der arete¯ und übliche eudaimonia-Vorstellung Aristoteles war in I 1–5 von den üblichen Meinungen ausgegangen und hatte dann in I 6 eine schärfere eigene Position zu entwickeln versucht. Danach kehrt er in I 8–12 zurück zu den legomena, den alltäglichen Überzeugungen, um die Plausibilität seines Vorschlags zu überprüfen. Das entspricht nicht unbedingt der Art, wie er normalerweise verfährt. Wo Aristoteles sich sonst nach der Ausarbeitung seiner eigenen Antwort nochmals den verbreiteten Meinungen zuwendet, geschieht dies meist, um zu zeigen, wie seine Position alles anfangs Gesagte aufnehmen und dessen richtigen Kern bestätigen kann. Hier jedoch ist das nur teilweise seine Absicht (insbesondere in I 8–9; siehe a)); vielmehr weist er auch auf Phänomene hin, die sein Ergebnis in Schwierigkeit bringen, und er schwankt deutlich in ihrer Einschätzung (I 10–11; siehe b)). In I 12 (c) wird deutlich, dass die Probleme an einer begrifflichen Differenz zwischen aretē und eudaimonia liegen. a) Bestätigungen der entwickelten eudaimonia-Konzeption (I 8–9) Aristoteles nimmt zunächst den populären Gedanken der Dreiteilung der Güter in äußere, körperliche und seelische auf (I 8, 1098 b9–22). Dass die seelischen Güter allgemein als die besten gelten, bestätigt seinen Vorschlag, dass die eudaimonia eine bestimmte Tätigkeit gerade der Seele ist. Auch die Betonung des Tätigseins erweist sich als sinnvoll, denn Tätigkeiten sind Äußerungen der Seele. Schließlich passt diese Betonung auch zur Gleichsetzung der eudaimonia mit dem eu zēn kai prattein (dass es einem gut geht und man gut handelt).
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Dafür, dass Aristoteles im Zusammenhang der eudaimonia das Seelische und den Tätigkeitsaspekt hervorhebt, gibt es plausible Gründe, die auch den Hintergrund der ganzen weiteren Ausführungen in I 8–12 bilden. Wer das Glück im Besitz äußerer Güter sieht, ist abhängig von zufälligen Bedingungen, denen wir passiv ausgeliefert sind. Auch das Vorhandensein körperlicher Güter wie Gesundheit liegt nur teilweise bei uns. Die Erfahrung vom Wechsel der äußeren Umstände, der Abhängigkeit vom Schicksal (tychē), das zwischen glücklichem Zufall (eutychia), der die eudaimonia fördert, und unglücklichem Zufall (atychia), der sie mindert, schwankt, ist für die Griechen eine Grunderfahrung, die alle Konzeptionen des guten Lebens prägt. Man kann daher als das Motiv, das hinter der Betonung des Tätigkeitsaspekts in der eudaimonia steht, die Suche nach einer Konzeption vermuten, deren Realisierung bei uns liegt, die wir, wenn wir uns entsprechend bemühen, als Menschen wirklich erreichen und bewahren können. Wie Aristoteles in I 10 (1100 b13) sagen wird, verleiht nichts dem Leben so viel Beständigkeit wie das Tätigsein gemäß der aretē. Die Bestimmung der eudaimonia als einer seelischen Tätigkeit kann aber, wie Aristoteles in I 9 expliziert, auch die weiteren Aspekte integrieren, die gewöhnlich unter dem Begriff der eudaimonia gefasst werden. So passt sie erstens zu den verbreiteten Vorstellungen, die eudaimonia bestehe in der aretē oder in der phronēsis oder in der sophia; Aristoteles meint hier mit aretē wohl die ethische aretē, während die sophia die aretē der theoretischen und die phronēsis die aretē der praktischen Vernunft ist (siehe Kap. VI). Die menschlichen aretai, oder genauer – wie Aristoteles (1098 b30–1099a7) erneut betont – ihre Betätigung, sollten aber gerade die eudaimonia ausmachen. Zweitens kann die eudaimonia-Definition die bekannte These aufnehmen, das Leben der eudaimonia müsse mit Lust verbunden sein (1098 b25, 1099 a7–31). Diesen Aspekt wird Aristoteles ge nauer in Buch II und den Lustabhandlungen entwickeln: Die Tätigkeiten gemäß der aretē sind lustvoll, wenn sie aus einem guten Charakter hervorgehen, der keine Widerstände gegen das Tun des Richtigen enthält. Wichtig im jetzigen Kontext ist, dass nach dem alltäglichen Begriff der eudaimonia das gute Leben wesentlich als angenehm, befriedigend, lustvoll erfahren wird. Wenn daher die Herleitung des Inhalts der eudaimonia in I 6 nicht ein philosophisches Diktat von außen bleiben soll, muss Aristoteles zeigen können, dass das Leben der aretē in der Tat zugleich ein subjektiv befriedigendes Leben ist. Auch die weitere Überzeugung, zur eudaimonia gehöre das äußere Wohlergehen (1098 b26), greift Aristoteles schließlich als Bestätigung seiner Position auf. Er nennt (1099 a31 ff.) zwei Gruppen von Gütern, von denen die eudaimonia abhängt. Die einen sind Werkzeuge oder Mittel: Um gemäß der ethischen aretē tätig zu sein, braucht man Besitz, Freunde,
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politischen Einfluss. Zur anderen Gruppe gehören adlige Abstammung, Schönheit, wohlgeratene Kinder. In der ersten Gruppe sind Voraussetzungen zusammengefasst, die die Ausübung der Tätigkeiten der aretē ermöglichen.44 Für die Betätigung einer ethischen aretē müssen bestimmte Normalbedingungen vorliegen. Die handelnde Person muss die – für den Bürger der damaligen Polis – normale Ausstattung mit äußeren Gütern aufweisen; sie muss in einem Zusammenhang mit anderen Menschen leben, an denen sie die aretē ausüben kann usw. Aristoteles kann daher mit Recht behaupten, dass sich auch die Erforderlichkeit äußerer Güter mit seiner Konzeption der eudaimonia erklären lässt. Die Güter der zweiten Gruppe, die Aristoteles nennt, scheinen auf den ersten Blick nicht äußere zu sein, sondern der Person zuzugehören, ohne allerdings seelischer Natur zu sein. So scheint z. B. physische Schönheit oder adlige Geburt keine Voraussetzung dafür, gemäß der Vernunft tätig zu sein. Dasselbe gilt für die Wohlgeratenheit der Kinder. Dieser letztere Punkt war in allgemeinerer Form bereits in I 5 (1097 b8–14) genannt (aber dort von mir noch ausgeklammert) worden. Die Autarkie, so hieß es dort, bezieht sich nicht auf das allein lebende Individuum, sondern auf den Menschen als soziales Lebewesen, dessen Leben nur dann gut ist, wenn es auch seinen Verwandten und Freunden gut geht. Wenn wir an der Autarkie als Kriterium der eudaimonia festhalten, dann scheint Aristoteles also in Schwierigkeiten zu geraten, da es nach den referierten alltäglichen Vorstellungen weitere Güter gibt, ohne deren Gegebenheit man die eudaimonia nicht als vollständig ansehen würde. Die meisten Beispiele lassen sich jedoch in die aristotelische Konzeption der eudaimonia integrieren. In der Rhetorik interpretiert Aristoteles Schönheit als die Erscheinungsweise, in der sich die gute Verfassung des Körpers äußert (1361 b7 ff.); Letztere aber, die Gesundheit und Stärke des Körpers, ist Bedingung für die eudaimonia. Die adlige Herkunft ordnet er dort ebenfalls als äußeres Gut ein, und in der Tat entscheidet die Stellung durch Geburt über die Chance, die für die eudaimonia erforderliche Charakterbildung zu erwerben. Schwierig ist allein die Einordnung des Hinweises auf das Schicksal der nahen Verwandten und Freunde. Denn dieser Punkt ist in I 5 nicht in dem Sinn gemeint, dass wir Freunde brauchen, um den guten Charakter betätigen zu können, sondern er bedeutet, dass das Schicksal der näheren Menschen unmittelbar Teil des eigenen ist.45 Wie Hierzu Cooper 1985. In I 11 wird darüber hinaus die in gängigen Intuitionen verankerte Möglichkeit ins Auge gefasst, dieser Zusammenhang könne sogar so wesentlich sein, dass das Schicksal Nahestehender in gewisser Weise noch nach dem Tod einer Person auf deren eudaimonia zurückwirkt, dass also das Leben einer verstorbenen Person 44
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das genauer zu verstehen ist, müssen wir bis zur Freundschaftsabhandlung zurückstellen. Klammern wir die Thematik der Freundschaft noch ein, dann kann Aristoteles in der Tat alle Güter, die gewöhnlich mit der eudaimonia in Zusammenhang gebracht werden, als Bedingungen der eudaimonia erweisen und in seinen Vorschlag integrieren. Eine andere Schwierigkeit, auf die die alltägliche Auffassung hinweist, bleibt allerdings bestehen. Denn da die Bedingungen der eudaimonia vom Zufall abhängen, scheint das Problem der tychē in die vorgeschlagene Konzeption der eudaimonia selbst einzudringen. Die Zufallsabhängigkeit kann dabei entweder ein gegebenes nicht änderbares Faktum wie die Herkunft oder die physische Konstitution betreffen (siehe unten b(i)), oder sie kann in der Wechselhaftigkeit der äußeren Lebensumstände bestehen, aufgrund derer wir Güter wie Reichtum und Ehre je nach Situation gewinnen oder verlieren können (siehe b(ii)). Aristoteles legt den Problemen, die die Kontingenz und Zeitlichkeit des Lebens an seine Konzeption der eudaimonia stellen, offenkundig einiges Gewicht bei, denn sie werden in I 10–11 ausführlich erörtert.
b) Probleme für die entwickelte eudaimonia-Konzeption (I 10–11) Der Text behandelt zwei Fragen: (i) Wie entsteht die eudaimonia? (ii) Wann und unter welchen Umständen können wir jemanden eudaimōn nennen? Frage (ii) ergibt sich aus der zweiten Art der Zufallsabhängigkeit, der Abhängigkeit von den wechselnden äußeren Umständen; Frage (i) könnte man mit dem Problem gegebener kontingenter Tatsachen zusammenbringen. Aristoteles geht so vor, dass er zunächst bekannte Schwierigkeiten darlegt und sodann eine Antwort aus der wissenschaft lichen Definition der eudaimonia zu gewinnen versucht. (i) Wie entsteht die eudaimonia? (I 10 bis 1100 a5). Diese Frage, die hier in den Nachträgen nach dem Höhepunkt in I 6 auftaucht, steht in der EE an prominenter Stelle; dort wird die Frage, worin die eudaimonia besteht und wie man sie erwirbt, gleich zu Anfang als Thema der Ethik genannt rückblickend weniger glücklich war, wenn nach ihrem Tod etwa ihre Kinder scheitern oder früh sterben (1100 a13–32). Obwohl es begrifflich zu Paradoxien führt, wenn Tote vom Glück ins Unglück wechseln können (1100 a28), gibt Aristoteles der Alltagsvorstellung recht, dass es ebenso seltsam ist, wenn das Schicksal der Nachkommen nicht ein Stück weit auf die eudaimonia der Verstorbenen zurückwirke. Die definitive Stellungnahme zu diesem Problem erfolgt in 1101 a21–b9: Das Schicksal nahestehender Menschen wirkt auf die Toten ein, jedoch in so schwacher Form, dass ihre eudaimonia dadurch nicht aufgehoben werden kann.
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(1214 a15), und Buch VIII der EE verfolgt auf breitem Raum die Frage, ob die eudaimonia auf Zufall beruhen könnte.46 In unserem Text werden drei gängige Antworten genannt: Die eudaimonia könnte entstehen durch Übung, durch ein Geschenk Gottes oder durch Zufall. Die weitere Möglichkeit, dass sie durch die Natur entsteht (EE 1214 a16), wird in der EN nicht erwähnt. Nachdem er zunächst einige populäre Argumente referiert, folgert Aristoteles (1099 b25 ff.) aus seiner eigenen Bestimmung der eudaimonia als Tätigkeit gemäß der aretē, sie entstehe durch Übung (dazu unten Kap. III). Entsprechend versucht die Politik, die das beste Gut zum Ziel hat, die Bürger zu bilden und zur aretē zu erziehen. Hingegen können Kleinkinder und Tiere keine eudaimonia erwerben, weil sie nicht zu den geeigneten Tätigkeiten in der Lage sind. Wenn die eudaimonia durch Übung oder Lernen entsteht, ist damit das Problem der Kontingenz weitgehend entschärft. Entstünde sie durch Zufall oder wäre sie ein Geschenk der Natur, dann gäbe es für die meisten Menschen keine Hoffnung, sie zu erlangen (EE 1215 a12 ff.). Nur wenn sie durch Übung entsteht, ist sie für die meisten erreichbar (1099 b18 ff.), jedoch auch dann nicht für alle. Wie Aristoteles einschränkt, können diejenigen sie nicht erwerben, die für die Übung durch Erziehung nicht zugänglich sind (a19). Wie man darüber hinaus einschränken müsste, auch diejenigen nicht, die nicht als gut situierte Bürgerkinder aufwachsen (denn nur unter solchen Verhältnissen erfahren sie überhaupt Bildung). Und schließlich werden auch unter diesen nur diejenigen die eudaimonia erreichen, die gute Erzieher haben, die selbst die ethische aretē kennen und praktizieren und andere in sie einüben können. Die Zugangsbedingungen zur eudaimonia sind also, folgt man seinen Hintergrundannahmen, für weniger Menschen gegeben, als Aristoteles ausdrücklich sagt. (ii) Wann kann man jemanden eudaimōn nennen (1100 a5–9, I 11)? Der Frage, zu welchem Zeitpunkt man jemandem die eudaimonia zusprechen kann, kommt für die Griechen deswegen besondere Bedeutung zu, weil sie aus der Erfahrung hervorgeht, dass auch jemand, dessen ganzes bisheriges Leben gut verlaufen ist, plötzlich im Alter durch äußere Ereignisse ins Unglück geraten kann, wie beispielsweise Priamos, der König von Troja, der die Zerstörung seiner Stadt und den Tod seiner Söhne erleben musste. Auf derartige Schicksale spielt der bekannte Satz des Politikers und Dichters Solon (6. Jh. v. Chr.) an, man könne niemanden vor dem Ende seines Lebens als eudaimōn preisen (1100 a11).47 Allerdings lautet, wie Aristoteles erläutert, Solons Frage, wann man einen Menschen glücklich preisen kann (1100 a16), nicht, wann er glücklich ist. Diese Formulierung lenkt eher von 46 47
Dazu ausführlich Kenny 1992, Kap.5 und 6. Zur Zeitauffassung Solons siehe Theunissen 2000, Kap. 3.
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der für die Haltbarkeit der aristotelischen Konzeption entscheidenden Frage ab, ob die in I 6 wissenschaftlich hergeleitete Auffassung der eudaimonia, für die die äußeren Güter, die in den Bereich der tychē gehören, nur den Status von zusätzlichen Bedingungen haben (1100 b7–22), alle Aspekte der gewöhnlichen Vorstellung von der eudaimonia erfassen kann. Die Einschätzung, die Aristoteles selbst zu dieser Frage hat, ist schwankend. Wir finden einerseits den Hinweis, die eudaimonia bestehe letztlich in den Tätigkeiten gemäß der aretē (1100b9ff.), weil diese eine Lebensweise von besonderer Beständigkeit garantieren, während das Hineinnehmen der eutychia in die eudaimonia dazu führen würde, dass der eudaimōn zu einer Art Chamäleon wird, das ständig vom Glück ins Unglück wechselt. Damit ist erneut das Motiv deutlich, das die aristotelische Konzeption der eudaimonia leitet: Das beste Gut für den Menschen muss Dauer und Beständigkeit aufweisen, und die kontinuierliche Tätigkeit gemäß der aretē soll gerade diesem Motiv innerhalb des Lebens gerecht werden. Wir finden andererseits in der ersten Lustabhandlung (1153 b19 ff.) die entgegengesetzte Auffassung, es sei abwegig, jemanden, der in großes äußeres Unglück geraten sei, als eudaimōn anzusehen, wenn er nur gut ist. Dennoch betont Aristoteles auch an dieser Stelle den Unterschied von eudaimonia und tychē. Wie genau der Zusammenhang zwischen eudaimonia und tychē zu fassen ist, erläutert Aristoteles bereits in I 11 mit einem Vorgriff auf seine Lehre von der Lust am Tätigsein (siehe unten S. 195, Kap. VIII). Diese Lust stellt sich dann ein, wenn das menschliche Tätigsein unbehindert vollzogen wird (1100 b29), während Widerstände als Unlust erfahren werden. Glückliche Zufälle können die eudaimonia steigern, unglückliche Zufälle hingegen trüben sie (1100 b22–1101 a21). Auch wer eudaimōn im Sinn der Definition von I 6 ist, kann also im Vollzug dieser Lebensweise gehemmt werden, entweder indem ihm selbst Unglück durch Krankheit, Verlust der Güter usw. widerfährt oder wenn ihm nahe stehende Personen ums Leben kommen oder Unglück erleiden. In I 11 versucht Aristoteles eine Position dazwischen zu vertreten: Die eudaimonia könne auch unter widrigen Umständen nicht ganz verloren gehen, solange jemand äußeres Unglück angemessen erträgt und trotz Widerständen die Tätigkeiten der aretē ausübt. Andererseits würde man eine solche Person nicht vollkommen glücklich nennen; vollkommen glücklich scheint nur, wer sein Leben unter Bedingungen lebt, die die Tätigkeit gemäß der aretē so fördern, dass ihre Ausübung Freude macht. Aristoteles verwendet hier ein zweites Wort, makarios (selig, glücklich, die Vollform des Glücks habend), das die eudaimonia einschließlich der eutychia bezeichnet. Schwankt Aristoteles hier also zwischen zwei Glücksvorstellungen, einer alltäglichen maximalen und einer philosophisch ausgewiesenen, die
Zusammenfassung
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auf das Mögliche beschränkt ist? 48 In den „wissenschaftlichen“ Passagen entscheidet er sich eindeutig für die Auffassung, die eudaimonia bestehe allein in der Tätigkeit gemäß der aretē, alles andere sei nur Bedingung für diese. Andererseits weist die Unterscheidung zwischen makarios und eudaimōn auf eine gewisse Spannung in der Sache hin, der sich Aristoteles, wie der folgende Text zeigt, durchaus bewusst ist.
c) Abschließende Aussage zum Verhältnis von aretē und eudaimonia (I 12) Nachdem Aristoteles in I 6 die nicht ganz schlüssige Bestimmung der eudaimonia als Leben der Betätigung der aretē entwickelt hat, stellt er jetzt einen logischen Unterschied zwischen den beiden Begriffen heraus. Wer aretē besitzt und betätigt, ist tüchtig oder gut in etwas, und wer Qualitäten aufweist und Leistungen erbringt, der wird gelobt. Für die eudaimonia hingegen, die etwas Vollkommenes und Göttliches ist, wird man nicht gelobt, sondern gepriesen. Mit dem Hinweis, dass die eudaimonia etwas kategorial anderes ist als die aretē bzw. deren Betätigung, scheint Aristoteles also selbst einzuräumen, dass es ihm nicht vollständig gelungen ist, das Zusammenfallen von eudaimonia und Tätigkeit gemäß der menschlichen aretē zu zeigen. 4. Zusammenfassung Aristoteles entwickelt die ethische Untersuchung ausgehend von der Struktur des menschlichen Handelns und Strebens, das wesentlich auf ein Ziel oder Gut gerichtet ist. Auch wenn er beiläufig immer wieder betont, das Ziel sei dasselbe für Individuum und Polis und sogar besser noch für die Polis (1094 b7 ff.), ist seine Ethik in ihrem begrifflichen Ansatz am individuellen Leben orientiert.49 Denn die emphatische Frage nach dem besten Gut, die Aristoteles schon in I 1 einführt, ergibt sich aus der Beschaf48 Dieses Bedenken könnte man durch den Hinweis entkräften, in I 8–12 gehe es nicht um die Frage, was die eudaimonia ist, sondern um die Frage, wann wir einen Menschen oder sein Leben eudaimōn nennen (so Reeve 149 ff.). Doch scheint Aris toteles selbst eher der Auffassung zu sein, dass von diesem Unterschied nicht viel abhängt. 49 Für die Auffassung, das gesuchte letzte Ziel sei nicht in der Struktur des individuellen Wollens angelegt, sondern sei der Gegenstand der Politik, plädiert Roche 1992. Dafür, dass nicht nur Aristoteles dies anders sieht, sondern dass es sich auch in der Sache umgekehrt verhält, ausführlicher Wolf 1999 a, Einleitung und Kap. 2.
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fenheit des individuellen Strebens, das ins Leere läuft, wenn alles, was es tut, um eines anderen willen gewünscht wird, wenn es keine Ziele gibt, deren Erreichen das Streben erfüllt. Genauer, so der entscheidende nächste Schritt, sollte es sich dabei um ein letztes Ziel oder bestes Gut handeln. Wie bereits oben angedeutet (S. 30), ist dieser Schritt zwar nicht zwingend, hat jedoch einige Plausibilität, die sich nach dem Durchgang durch I 8–11 noch verstärkt. In der Zeitlichkeit der Existenz liegt eine ständige Gefährdung des Lebens durch den äußeren Zufall, die im Gegenzug den Wunsch nach einem dauerhaft oder im Ganzen guten Leben erzeugt. Wie wir genauer in der Ausarbeitung der aretai in Buch II–VI sehen werden, führt auch die Komplexität der Person schon zu einem und demselben Zeitpunkt zu einem ähnlichen Ergebnis. Aristoteles sieht die menschliche Person so, dass sie mit disparaten Affekt- und Strebensbereichen ausgestattet ist, jedoch auch mit der Fähigkeit zur praktischen Überlegung, die alle Bereiche übergreift und uns daher mit der Frage nach dem insgesamt besten Leben konfrontiert, in dem die unterschiedlichen Teile der Persönlichkeit harmonisch integriert sind. Was sich aus der Zeitlichkeit bzw. Veränderlichkeit des Lebens und der Vielheit der psychischen Aspekte plausibel machen lässt, ist, dass sich uns als Lebewesen mit einer solchen Beschaffenheit die Frage nach einem besten Ziel stellt, an dem wir das Leben im Ganzen ausrichten können, oder dass es für uns wünschenswert oder ratsam wäre, uns in allem Tun an einem solchen Ziel zu orientieren. Nicht hingegen ist damit gezeigt, dass es ein solches Ziel gibt, und zwar, worauf Aristoteles gegen Platon wert legt, als ein durch Handeln erreichbares Ziel. Die Existenz eines besten Guts wird zunächst durch den Hinweis gestützt, alle stimmten darin überein, dass das beste Gut die eudaimonia ist, auch wenn die Auffassungen seines Inhalts divergieren. Diese alltägliche Auffassung wird untermauert durch die schwierigen Ausführungen über die Zielhaftigkeit von Zielen in I 5. Auch wenn deren Interpretation im Detail umstritten ist, besagen sie aber sicherlich, dass die eudaimonia deswegen als das beste Gut qualifiziert ist, weil sie der Anforderung genügt, das Streben ganz zu erfüllen oder das Leben insgesamt gut zu machen. Aber kann es in der Wirklichkeit etwas geben, was das menschliche Streben ganz erfüllt? Dagegen spricht zweierlei. Erstens die Existenz von Wünschen, die miteinander in Konflikt stehen und sich daher nicht alle zusammen befriedigen lassen. Zweitens ist die Reichweite unserer Wünsche, wie Aristoteles selbst in Buch III betont, sehr viel umfangreicher als die unserer Handlungsmöglichkeiten. Die „naturalistische“ Wendung in I 6 hat die Aufgabe, eine Lebensweise zu finden, die einerseits den Anforderungen an das beste Gut gerecht wird und die andererseits dennoch bei uns liegt, also realisierbar ist. Das Leben in der Betätigung der spezifisch
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menschlichen aretē, das vernunftgemäße Tätigsein, erfüllt weitgehend die zweite Bedingung, durch Handeln erreichbar zu sein. Es ist, wie wir gesehen haben, nicht für jeden errreichbar, aber doch für alle jene, die unter normalen (in der Bedeutung, die das für Aristoteles und seinesgleichen hat) Bedingungen aufwachsen. Weniger klar ist, ob es der ersten Anforderung genügt, also das Streben ganz erfüllen, die eudaimonia ausmachen kann. Dazu fehlt zum einen ein Zwischenschritt, den Aristoteles erst später ausarbeiten wird, der Nachweis, dass diese Lebensweise subjektiv befriedigend oder lustvoll ist. Zum andern kann man bezweifeln, ob es Aristoteles in I 8–11 wirklich gelingt, die Bedenken gegen die Identität von eudaimonia und Tätigkeit gemäß der aretē auszuräumen. Auch wenn die eudaimonia notfalls ohne die Voraussetzung des günstigen Schicksals, der eutychia nicht ganz verloren geht, so würde man es doch vorziehen, makarios statt nur eudaimōn zu sein. Das heißt, dass die eudaimonia genau genommen nur dann das Streben einer Person ganz erfüllt, wenn sie unter zumindest nicht katastrophalen äußeren Bedingungen realisiert wird. Wenn dem so ist, fragt man sich, ob Aristoteles nicht doch noch näher an einer idealen metaphysischen Auffassung des besten Guts ist, als seine Kritik an Platon erwarten lässt. Auch wenn wir die Überlegung akzeptieren, dass es für Wesen unserer Seinsstruktur nahe liegt, nach einer ganzheitlichen Lebensorientierung zu suchen, könnte man aus der Abhängigkeit der Wunscherfüllung von äußeren Bedingungen ja auch die Konsequenz ziehen, nicht nach der vollkommenen eudaimonia zu suchen, sondern die Frage unter Berücksichtung der Realität anders zu stellen. Etwa zu fragen, wie für ein Wesen, dessen Streben aufgrund seiner und der Welt Beschaffenheit grundsätzlich nicht ganz erfüllbar ist, ein möglichst befriedigendes oder sinnvolles Leben aussieht. Fasst man die Frage so, dann ist es allerdings auch nicht mehr trivial, die gesuchte Lebensorientierung mit der eigenen eudaimonia gleichzusetzen. Es gibt Menschen, die ihr höchstes Lebensziel nicht im eigenen Glück sehen, sondern z. B. in der Aufopferung für andere, in der Herstellung eines besseren Gesellschaftszustands.50 Zu behaupten, dass sie dann eben darin ihre eudaimonia finden, würde nicht mehr dem Sinn dieses Begriffs entsprechen. Überzeugend an der griechischen Konzeption scheint mir jedoch, dass sich die Ebene der Beschaffenheit des eigenen Lebens, auch wenn man darüber hinausgehende Lebenskonzeptionen hat, nicht überspringen lässt oder dass es wenig ratsam scheint sie zu überspringen, eben aufgrund der von Aristoteles herausgestellten Tatsache, dass, was immer wir tun, wir damit auf bestimmte Weise unser eigenes Leben in Handlungen vollziehen. 50
Dazu Kenny 1969, 48.
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Wie der Zusammenhang zwischen der eudaimonia und dem Vollzug einzelner Tätigkeiten genauer aussieht, ist vorläufig noch offen. Die eudai monia, das beste Gut, ist das Ziel, an dem das Leben im Ganzen sich orientiert. Sie ist, wie Aristoteles am Anfang von I 7 sagt, nur im Umriss bestimmt und muss von jedem Individuum für seine konkreten Lebenssituationen jeweils konkret ausgearbeitet werden. Dass wir jeweilige Handlungen um der eudaimonia willen tun, wäre dann nicht so zu verstehen, dass wir sie als Mittel zu einem vorgegebenen übergeordneten Ziel, der eudaimonia, tun (dominante Interpretation). Auch nicht so, dass wir damit Teile zu einem vorgegebenen Inhalt namens eudaimonia beitragen (inklusive Interpretation). Die mangelnde konkrete Bestimmtheit des Inhalts der eudaimonia legt nahe, dass es vielmehr darum geht, durch einzelne Handlungen allererst zu konkretisieren oder zu artikulieren, was eudaimōn zu leben für eine bestimmte Person unter bestimmten Umständen bedeutet. Das beste Gut für ein Individuum, seine konkrete eudaimonia, würde also durch die Abfolge solcher Artikulationen bestimmt. Der skopos, der Orientierungspunkt, wäre dann die im Umriss bekannte eudaimonia, an der sich die Artikulation ausrichtet. Dass das selten gesehen und stattdessen die Kontroverse über die dominante oder inklusive Interpretation perpetuiert wird, mag daran liegen, dass Aristoteles hier ausnahmsweise eine wenig differenzierte Begrifflichkeit hat, nämlich nur über den Begriff des „um willen“ verfügt, der in der Tat alle diese Verhältnisse, das von Mittel und Ziel ebenso wie das von Teil und Ganzem wie das von Artikulation und umrisshaftem Leitziel, ausdrücken kann.
II. Ethische Methode Die umfangreichsten Äußerungen zur Methode finden sich in Buch I der EN, 1 kürzere Hinweise auch eingestreut in den weiteren Text. Sie passen nicht ganz zusammen, und sie passen nicht immer zu dem, was Aristoteles in seinem übrigen Werk zur Methode sagt; auch ist ihr Sinn und Status in der Sekundärliteratur strittig. Daher werde ich mich mit den Methodenäußerungen nicht allzu detailliert beschäftigen, zumal die Meinung zutreffen könnte, es sei besser, darauf zu achten, was Aristoteles in der EN faktisch tut.2 1. Hintergrund der Methodenfrage Obwohl Aristoteles die empirischen Wissenschaften begründet hat, die mit dem Bereich des Wahrscheinlichen befasst sind, steht er letztlich noch in der Tradition des griechischen Wissensbegriffs, wonach wir strenges notwendiges Wissen suchen und dieses nur von Gegenständen möglich ist, die ihrerseits notwendig und unveränderlich sind. Die Möglichkeit von Wissen in den einzelnen Wissenschaften beruht darauf, dass sie einen umgrenzten Gegenstandsbereich haben, der definierbar ist, wobei Definieren nicht im Sinn einer Wortdefinition gemeint ist, sondern im Sinn einer Erklärung des Wesens der Sache, welche die Gesetzmäßigkeiten aufzeigt, die sie konstituieren. Dabei kommt Aristoteles zu der Einsicht, dass es begründetes Wissen auch in empirischen Wissenschaften wie der Physik oder Biologie geben kann, deren Gesetze manchmal nur Wahrscheinlichkeitscharakter haben. Unter den praktischen Disziplinen gleicht die technē der empirischen Wissenschaft, da sie sich ebenfalls auf die Kenntnis von Definitionen des zu Bewirkenden stützt, allerdings mit dem Unterschied, dass die Definition nicht wie in der Physik vom gegebenen Gegenstand ausgeht, sondern von der Konzeption des herzustellenden Gegenstands (640a1 ff.). Diese Methode des technē-Wissens ist das einzige Modell praktischen Wissens, das Platon, der als Erster über ethische Methode nachgedacht Sie enthalten allerdings eine Reihe von Unstimmigkeiten, es kommen Wiederholungen und Unterbrechungen vor, weshalb Gauthier/Jolif einige Umstellungen im Text vornehmen. 2 Vgl. Barnes 1981, 510f. 1
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Ethische Methode
hat, vorfindet. 3 Es lässt sich in einem ersten Schritt vielleicht auch in der Ethik oder zumindest in der Politik verwenden. Denn man könnte sagen, dass die Politik zur Aufgabe hat, den guten Menschen und die gute Polis herzustellen. Jedoch setzt dieser Schritt einen anderen voraus, der sich nicht mehr im Sinn der technē verstehen lässt. Der Politiker muss, ehe er die Bürger erzieht, wissen, was ein guter Mensch ist. Das Gutsein des Menschen ist aber anders als z. B. das Gutsein eines Hauses nichts fest Vorgegebenes (siehe oben S. 40), das sich definieren lässt. Worin das Gutsein besteht, kann der Erzieher daher nur herausfinden, indem er selbst überlegt, was für sein eigenes Leben und die Regelung des Staates gut ist, wie also jeweils die eudaimonia zu konkretisieren ist. Wie diese vorangestellten Ausführungen zeigen, haben wir es bei der Frage nach der ethischen Methode mit einem Komplex von Problemen zu tun, so dass wir damit rechnen müssen, dass denjenigen, die wie Platon und Aristoteles erstmals auf diese Methodenfrage stoßen und in ihrer Ausarbeitung Neuland betreten, gewisse Vermischungen und Unklarheiten unterlaufen. Aristoteles wird insbesondere die Einsicht zugeschrieben, dass die Ethik keine strenge Methode benötigt, sondern mit Recht eine gewisse Ungenauigkeit aufweist. Diese These soll zunächst erläutert werden; danach wird ein kurzer Überblick über die Verfahren gegeben, die Aristoteles in der Ethik verwendet.
2. Die angemessene Genauigkeit der Ethik (1094b11–95a11, 1098a20–33, 1102a23–26) Der Sinn der Ungenauigkeitsthese ist nicht ohne Weiteres klar, da Aristoteles sie in zwei, wenn nicht drei Varianten vertritt.4
a) Genauigkeit relativ zum Gegenstand Die erste und einfachste Variante ist diejenige, die in I 1 aufgestellt wird, dass nämlich in den verschiedenen Wissenschaften verschiedene Grade von Exaktheit gefordert sind. Diese These ist nicht originell, vielmehr findet sie sich bereits bei Platon (Philebos 56a ff.) und lautet ähnlich auch bei Aristoteles: Nicht in allen Gebieten ist dieselbe Genauigkeit angemessen, der Grad der Genauigkeit hängt vielmehr ab von der Beschaffenheit des Dazu Wolf 1996, Kap. III. Zu den Unstimmigkeiten in den Methodenpassagen siehe auch Bostock 2000, Kap. X. 3 4
Die angemessene Genauigkeit der Ethik
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Gegenstandsbereichs. Während beispielsweise die Mathematik, die den unveränderlichen Bereich der Zahlen zum Gegenstand hat, notwendige Aussagen machen kann, sind in den Wissenschaften und technai, die sich auf die veränderlichen Gegenstände der Erfahrung beziehen, nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich. Das gilt vielleicht schon für Teile der Physik, und mehr noch für die Biologie und Medizin, ebenso für die Ethik und Politik. Man kann keine notwendigen Aussagen über das Gerechte oder über die menschlichen Güter machen. Denn was im einen Fall gerecht ist, kann im anderen ungerecht sein, und was vielen Menschen nützt, etwa Reichtum oder Tapferkeit, kann im Einzelfall auch schaden. Diese Auffassung ist für den heutigen Leser vielleicht befremdlich, denn selbst wenn wir einmal Aussagen über das Nützliche als empirische einstufen, würden wir doch die mangelnde Exaktheit von Gerechtigkeitsurteilen anders erklären. Wenn diese schwankend sind, so nach unserer Sicht deswegen, weil es sich überhaupt nicht um theoretische Sätze handelt, weder um notwendige noch um empirische Sätze, sondern um normative Aussagen darüber, was zu tun richtig ist.
b) Genauigkeit relativ zum Erkenntnisinteresse In I 7 (1098 a28 ff.) wird eine weitere Hinsicht der Genauigkeit genannt. Nicht nur sei, wie Aristoteles in Wiederaufnahme von I 1 sagt, der Genauigkeitsgrad dem Gegenstand anzupassen; er müsse sich vielmehr auch nach der Art der Untersuchung richten. Mit Bezug auf einen und denselben Gegenstand können also unterschiedliche Genauigkeitsgrade sinnvoll sein. Der Schreiner und der Geometer haben beide mit der geraden Linie zu tun. Doch während es zur Aufgabe des Geometers gehört, das Was der Linie zu untersuchen, nach ihrem Wesen zu fragen, also eine exakte Definition zu finden, ist es für die Zwecke des Schreiners unnötig zu klären, worin das Linie-Sein besteht. In diesem Beispiel ist die These durchaus nicht, dass keine exakten Aussagen möglich sind; vielmehr geht es um die Frage, wie viel Genauigkeit für den Zweck, zu dem jemand mit Linien umgeht, nötig ist. Überträgt man das auf die Ethik und Politik, scheint Aristoteles zu sagen, dass auch für ihren Gegenstand, den Menschen und die Polis, exakte Arten der Untersuchung denkbar wären, dass es aber für die praktische Zielsetzung dieser Disziplinen ausreichend und daher auch angemessener ist, sich mit schwächeren Aussagen zu begnügen. Diese Auffassung steht allerdings in Widerstreit zu Thesen, die Aristoteles in anderen Texten vertritt. So betont er in der EE (1216b38ff.), die politische Wissenschaft dürfe nicht darauf verzichten, philosophisch zu arbeiten, also den Grund der
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Ethische Methode
Sachen aufweisen, Wesensdefinitionen zu geben.5 Dagegen spricht die oben erörterte These in I 1, wonach der Gegenstandsbereich der Ethik zu schwankend ist, als dass exakte Aussagen möglich wären. Was ist dann das Fazit für die Genauigkeitsanforderung an die Ethik?
c) Grad der Genauigkeit der Ethik Zu Beginn von I 7 findet sich ein Hinweis, der die gerade genannten Unstimmigkeiten auflösen könnte. Im Rückblick auf I 6 sagt Aristoteles, dort sei etwas im Umriss oder in den Grundlinien geklärt worden, während die konkrete Ausgestaltung Sache des Individuums sei und sich mit der Zeit finden werde (1098 a21 ff.). Was in I 6 im Umriss dargelegt worden war, ist die Definition der eudaimonia. Wie wir gesehen haben (oben S. 38), geht Aristoteles dabei naturwissenschaftlich oder – so könnte man im Sinn der erwähnten Stelle aus der EE auch sagen – philosophisch vor, d. h. er zeigt den Grund oder das Warum (dia ti) der eudaimonia auf. Da die eudaimonia kein eigenständiges Seiendes, sondern nur als Eigenschaft bzw. Tätigkeit des Menschen zu verstehen ist, bedeutet dies aufzuzeigen, was am Menschen aufgrund welcher Struktur des menschlichen Seins die Tätigkeiten der eudaimonia ausüben kann. Es ist nicht anzunehmen, dass Aristoteles die Genauigkeit dieses wissenschaftlichen Verfahrens in I 6 bestreiten will.6 Aus dem Exaktheitsanspruch ausgenommen sind vielmehr die konkreteren Aussagen, die das im Umriss Definierte ausfüllen. Das Bild ist übernommen aus einer Passage in Platons Nomoi (768c3 ff.), wo ebenfalls ein erster Umriss gegeben und dann gesagt wird, die konkreten Gesetze, Verordnungen, Institutionen im Staat müsse man mit der möglichen Genauigkeit abfassen, deren Grad allerdings weiteres Ausmalen und späteres Korrigieren unerlässlich mache. Das Konkrete scheint, wenn von Gesetzen etc. die Rede ist, immer noch in allgemeinen, aber inhaltlich bestimmteren Allerdings wird in diesem Kontext in der EE auch eines der Motive deutlicher, aus denen Aristoteles für die Zwecke der Ethik eine weniger strenge Methode als die philosophische empfiehlt. Er weist dort nämlich darauf hin (1216 b40 ff.), jemand, der nicht in der Philosophie ausgebildet sei, könne leicht auf Scheinargumente hereinfallen, weshalb es besser sei, dass er sich gar nicht auf philosophische Argumentationen einlasse. Dem entspricht, dass Aristoteles in der EN (1094 b22 ff.) betont, auch der Hörer müsse, wenn er gebildet sei, wissen, welcher Genauigkeitsgrad dem jeweiligen Gegenstand angemessen ist. Das könnte heißen, dass Aristoteles in seinen ethischen Vorlesungen mit einem Publikum rechnet, das zwar gebildet, aber nicht philosophisch geschult ist. Dazu Tessitore 1996, 15 ff. 6 Vgl. Ross 1995, 197. 5
Die Verfahren der Ethik
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Aussagen oder Normen zu bestehen, etwa dass man tapfer sein und entsprechend handeln sollte. Analoges würde für die Regeln gelten, nach denen der individuelle Charakter zu bilden ist. Wenn hier immer weiter konkretisiert werden muss, gelangt man schließlich zu der Frage, was jeweils in einer Einzelsituation zu tun gut ist. Dass letztlich diese konkrete Entscheidungssituation gewonnen und expliziert werden soll, liegt in der These, das Ziel der ethischen Untersuchung sei nicht Erkenntnis, sondern Handeln. Wie wir genauer in Buch VI (Kap. VI) sehen werden, ist die Handlungsentscheidung aus der Perspektive der ersten Person in einer konkreten Handlungssituation eine Angelegenheit der phronēsis, des guten ethischen Überlegens, und eine solche konkrete Entscheidung lässt sich nicht wissenschaftlich begründen. Die Ungenauigkeit der Sätze, die die umrisshafte Definition der eudaimonia ausfüllen, ist die Ungenauigkeit im ersten Sinn. Solche Sätze können aufgrund ihres Gegenstands nicht exakter sein. Ein echter Fall von Ungenauigkeit im zweiten Sinn, der sich allein aus der Zielsetzung der Untersuchung ergibt, scheint vorläufig nicht vorzukommen. Fragen wir jetzt, ob er denkbar ist, indem wir die verschiedenen Methoden, die Aristoteles in der Ethik verbindet, kurz zusammenstellen. Neben dem schon erwähnten Vorgehen, das physikōs ist, ist dabei das dialektische Verfahren zu nennen. Als Drittes spielen konkrete Verfahren der Anwendung eine Rolle, und wie sich zeigen wird, sind insbesondere diese für die Ungenauigkeit der Ethik verantwortlich.
3. Die Verfahren der Ethik (1095 a31–b8, 1098a33–b8, 1103b26–1104a11, 1145b2–7, 1172b3–7) a) Wissenschaftliche Erklärung Wissenschaftliche Erklärungen sind nur innerhalb einer bestimmten Disziplin möglich, die einen umgrenzten Gegenstandsbereich hat. Wenn Aristoteles in I 6 den Menschen und seine eudaimonia definiert, kann man also annehmen, dass er sich innerhalb einer Wissenschaft bewegt, und da er die Bestimmung durch Abgrenzung von den übrigen Lebewesen gewinnt, wird dies die Biologie sein.7 Obwohl es die Biologie mit veränderlichen Wesen zu tun hat, wird Aristoteles die allgemeine Bestimmung des Menschen in I 6 kaum zu den ungenauen Aussagen rechnen. Allerdings führt diese Definition, wie wir gesehen haben und wie Aristo7 Das naturwissenschaftliche Verfahren kommt in der EN selten vor, außer in I 6 auch in der Freundschaftsabhandlung, siehe unten S. 175.
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Ethische Methode
teles am Anfang von I 7 selbst sagt, nicht sehr weit. Der Mensch ist, so kann man vermuten, Gegenstand noch anderer Wissenschaften und technai, der Psychologie etwa, aber auch der Metaphysik und Theologie, da er, wie wir in Buch X sehen werden, in Beziehung zum höchsten Seienden steht. b) Dialektik In der EN begegnen uns zahlreiche Erklärungen grundlegender handlungstheoretischer Begriffe (Lust, Unbeherrschtheit usw.), die nicht physikōs sind, also nicht das innerhalb einer Einzelwissenschaft übliche Definitionsverfahren verwenden, sondern dasjenige Verfahren, das Aristoteles im Gegensatz zu physikōs als logikōs oder auch als dialektisch bezeichnet.8 Dieses Verfahren ist, wie Aristoteles in Topik I 2 erklärt, insbesondere in zwei Kontexten relevant, in denen die gewöhnlichen wissenschaftlichen Verfahren nicht weiterhelfen. Erstens lassen sich die letzten Prinzipien einer Einzelwissenschaft, ihre Grundbegriffe und Axiome, innerhalb der Wissenschaft nicht weiter zurückführen und müssen daher auf andere Weise plausibel gemacht werden. Zweitens gibt es eine Wissenschaft, die anders als die übrigen Wissenschaften keinen ausgegrenzten Gegenstandsbereich hat, sondern sich mit allem beschäftigt, nämlich die Philosophie, und auch für sie ist daher eine von der einzelwissenschaftlichen verschiedene Methode erforderlich. Das dialektische Vorgehen, in dem diese Methode besteht, findet sich in der Ethik häufig (aber auch in der theoretischen Philosophie, wo es denselben Sinn hat). Die bekannteste Stelle in der EN, an der Aristoteles die dialektische Methode erläutert, ist der Beginn der Abhandlung über die Unbeherrschtheit in Buch VII (1145 b2 ff.): „Wir müssen zuerst die Phänomene vor uns bringen und sodann, nachdem wir die Aporien erörtert haben, die Wahrheit aller angesehenen Meinungen … beweisen, oder, wo das nicht gelingt, der meisten und maßgeblichsten; denn wenn wir sowohl die Aporien auflösen wie die angesehenen Meinungen übrig behalten, werden wir den Fall hinreichend bewiesen haben.“ Es geht also darum, hinsichtlich einer Frage die bekannten Phänomene und bewährten Meinungen zu sammeln und zu sehen, wo diese zusammengenommen in Aporien, etwa Inkonsistenzen führen. Ist das der Fall, muss die Lösung der Aporien versucht werden. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Eine Möglichkeit besteht in der Überprüfung der Meinungen an den Tatsachen.9 Zum Beispiel: Dass alle Lebewesen nach Lust streben, ist ein so unübersehbares Faktum, dass 8 9
Zum Vorkommen dieser beiden Methoden auch Hardie 1980, 40 f. Dazu Kraut 1998, 274.
Die Verfahren der Ethik
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es sich nicht übergehen lässt (1153 b25 f.), also die entgegengesetzte Meinung aufgegeben werden muss. Ein andere Möglichkeit besteht darin, dass man weitere begriffliche Differenzierungen vornimmt und so eine Aporie als nur scheinbare erweist. Um beim Beispiel der Lustheorie zu bleiben, so lassen sich nach Aristoteles die Aporien, die die Lust als etwas ebenso Gutes wie Schlechtes erscheinen lassen, auflösen, wenn man zwischen der sinnlichen Lust und der Lust am Vollzug von Tätigkeiten unterscheidet. Das dialektische Verfahren ist weniger streng geregelt als Definition und Begründung in den Einzelwissenschaften. Es unterliegt jedoch durchaus gewissen Regeln (Konsistenz, Begriffsdifferenzierung usw.), und seine Ergebnisse sind sicher nicht ungenau in dem Sinn, in dem Aristoteles der Ethik Ungenauigkeit zuschreibt. Denn die Dialektik wird ja ebenso in der Metaphysik verwendet, die es mit unveränderlichem Seienden zu tun hat.
c) Methoden der Anwendung Wissen ist dort ungenau, wo wir uns im Bereich des Veränderlichen bewegen. Für die Veränderlichkeit ist, wie Aristoteles es ausdrückt, die Materie verantwortlich. Formen und Strukturen ändern sich nicht, doch je mehr Materie oder Konkretheit, umso schwankender die Wahrscheinlichkeit und in der Folge auch unser Wissen. Mit der größten Konkretheit sind wir dort konfrontiert, wo wir in Einzelsituationen eine technē anwenden oder eine ethische aretē ausüben. Der Arzt, der überlegt, was diesem Kranken mit dieser individuellen Beschaffenheit unter diesen besonderen Umständen nützt, kann nicht mechanisch allgemeine Regeln anwenden. Er braucht vielmehr Erfahrung, die ihn zu einer richtigen Einschätzung des Einzelfalls führt. Ebenso wenig kann die Person, die überlegt, was in dieser bestimmten Situation zu tun gerecht ist, einfach aus der Regel, dass man gerecht handeln soll, die richtige Handlung ableiten. Wie Aristoteles betont, zielt auch die ethische Untersuchung nicht auf ein bloßes Erkennen praktischer Zusammenhänge ab, sondern auf das Handeln (1095 a5 f.).10 Da gutes Handeln für Aristoteles aus der aretē, dem charakterlichen Gutsein, hervorgeht, ist praktisches Wissen nicht ohne einen guten Charakter möglich. Daraus ergibt sich, dass sich als Hörer der ethischpolitischen Abhandlung nur eignet, wer nicht zu jung ist (1095 a2 ff., 1142 a11 ff.), vielmehr schon über einen festen Charakter und Erfahrung im ethischen Urteilen und Handeln verfügt. Wenn die Hörer all dies bereits haben, wozu, so könnte man sich fragen, brauchen sie dann überhaupt noch eine ethische Abhandlung? 10
Zur praktischen Zielsetzung siehe Höffe 1995a, 30 ff.
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Ethische Methode
Um die Antwort zu finden, müssen wir uns dem bisher noch übersprungenen Methodenabschnitt in I 2 zuwenden. Dort steht die Bemerkung, in der Ethik und Politik sei von dem „uns Bekannteren“ auszugehen (1095 b22 ff.), um dann das „der Sache nach Bekanntere“ zu suchen. Diese Unterscheidung zwischen dem uns Bekannteren und dem der Sache nach Bekannteren ist ein Topos in der aristotelischen Methodenlehre. 11 Schon Platon hatte gefragt, wie es möglich ist, dass wir etwas Bestimmtes suchen, ohne es bereits zu kennen – denn offenbar müssen wir ja wissen, was wir suchen, um sicher zu sein, dass wir es gefunden haben. Die Lösung des Aristoteles liegt im Hinweis auf das uns Bekanntere als Ausgangspunkt. Dieses uns Bekanntere ist, wie wir heute sagen würden, das Vorwissen, das Vorverständnis. Im theoretischen Bereich und im Bereich der technē entsteht dieses Vorwissen durch Induktion, durch Verallgemeinerung aufgrund bekannter Fälle. Im praktischen Bereich entsteht es durch Übung, durch Gewöhnung (1098 b4) an richtige Handlungen, die zur Ausbildung von Charaktergewohnheiten führt. Fragen wir nun nach dem der Sache nach Bekannteren, so wird dieses in den Wissenschaften durch Erklärung und Begründung erreicht, durch das, was Aristoteles das Aufzeigen des Warum nennt, welches ein Phänomen auf allgemeine Gesetze oder Prinzipien zurückführt. Wie wir aber im Zusammenhang der dialektischen Methode gesehen haben, ist dies nicht immer möglich; es ist nicht mehr möglich bezüglich der letzten Prinzipien selbst. In I 2 ebenso wie in I 7 erfahren wir, dass auch die ethische Untersuchung nicht in einer Erklärung des Warum bestehe, also einer Rückführung auf Gründe, dass es vielmehr genüge, das Dass aufzuzeigen (1098 b1 f.). Das Dass sind die schon vorhandenen Charaktergewohnheiten der Hörer. Diese enthalten, wie wir genauer erst in Buch II, III und VI sehen werden, implizite Vorstellungen vom guten Handeln in den wichtigsten Bereichen des Lebens. Die These ist dann, dass diese nicht begründet zu werden brauchen. Was stattdessen möglich ist, das Aufzeigen des Dass, könnte man so verstehen, dass die impliziten Vorstellungen explizit gemacht und reflektiert werden. Auf die Frage, wozu das nötig ist, erhalten wir die Antwort erst in Buch VI. Wer nur implizit Vorstellungen vom guten Handeln in seinen Charakter aufgenommen hat, könnte in der Handlungssituation eine falsche Entscheidung treffen, solange er nicht zusätzlich in der Lage ist, den Inhalt der guten Handlung in der Situation zu konkretisieren, solange nicht seine praktische Überlegungsfähigkeit (phronēsis) die konkreten Umstände richtig einschätzt. Die Hörer sollen also nicht von bestimmten ethischen Inhalten überzeugt, sondern dazu gebracht werden, die Anwendung dieser Inhalte selbständig zu reflektieren. 11 Zu solchen Methodenaspekten, die für die Philosophie des Aristoteles allgemein charakteristisch sind, ist immer noch empfehlenswert Wieland 1970.
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Es sind nicht zuletzt solche Passagen, auf die der Vorwurf zurückgeht, die Ethik des Aristoteles sei konservativ und expliziere nur die bestehenden Wertvorstellungen seiner Zeit und Gruppe. Ob Aristoteles grundsätzlich meint, ethische Untersuchungen würden sich auf eine Explikation des gelebten Standpunkts beschränken, ist jedoch schon angesichts der objektiven Bestimmung der eudaimonia in I 6 fraglich.12 Wie die Methodenpassagen in Buch I der EN zeigen, setzt Aristoteles hier einfach Hörer voraus, die seine, und das heißt die richtige, Vorstellung vom guten Leben und der guten Polis internalisiert haben. Dieses Publikum braucht keine Begründung, sondern eine Explikation oder Reflexion der geteilten Vorstellungen. Wie erwähnt, insistiert Aristoteles jedoch in der EE, die stärker in seine metaphysische Begrifflichkeit eingebettet ist, ganz im Gegenteil darauf, man müsse auch in der politischen Wissenschaft nach dem Warum, den Gründen (1216 b38 ff.) suchen. Das könnte dafür sprechen, dass Aristoteles eine Begründung ethischer Inhalte noch ein Stück weit über das in I 6 Gezeigte hinaus für denkbar hält (wobei am Ende immer nicht begründbare letzte Sätze oder Begriffe bleiben). Dann wäre hier auch der gesuchte Fall gefunden, in dem eine Ungenauigkeit im Vorgehen bereits in Bereichen empfehlenswert sein könnte, in denen der Gegenstand diese noch nicht erfordert.
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So auch Höffe 1995, 7f.
III. Die ethische arete¯ (II–IV 15) Eine ethische aretē entspricht ungefähr dem, was wir eine Tugend, eine gute Charaktereigenschaft nennen würden. Die Thematik des Charakters wurde in der Philosophie lange vernachlässigt. Inzwischen sind jedoch einige Moralphilosophen zu der Auffassung gelangt, man könnte gewisse Mängel der vorherrschenden kantischen Moraltheorie beheben, wenn man sie durch eine Tugendmoral ergänzt oder ersetzt.1 Wie sich das neue Interesse an der aristotelischen Konzeption der ethischen aretē fast ausschließlich der Moraltheorie verdankt, so ist auch das Wort „Tugend“, mit dem aretē traditionell übersetzt wurde, in der heutigen Debatte meist auf seinen moralischen Sinn beschränkt. Wir haben jedoch gesehen, dass Aristoteles das Leben in der Ausübung der ethischen aretai nicht aus mora lischen Fragen heraus empfiehlt. Vielmehr schließt die Untersuchung der ethischen aretē unmittelbar an I 6 und I 13 an und erläutert die entsprechende Lebensweise als die eine von zwei Formen der menschlichen eudaimonia, des individuellen guten Lebens. Die moralische Seite der ethischen aretē steht erst in Buch V im Zentrum, das den Gerechtigkeitsbegriff zum Thema hat. Aristoteles entwickelt in Buch II in allgemeiner Form die Lehre von der ethischen aretē als einer Mitte (mesotēs). Diese Erklärung bleibt allerdings unvollständig. Wie wir aus I 13 wissen, ist das Strebevermögen dann gut verfasst, wenn es auf die Vernunft hört. Die Vernunft hat wiederum ihre eigenen aretai; diejenige, die sich auf das ethische Überlegen bezieht, ist die phronēsis. Die ethische aretē und das aus ihr hervorgehende ethisch gute Handeln, die eupraxia, liegen daher, wie wir in Buch III und VI sehen werden, im vollen Sinn erst dann vor, wenn die ethische aretē und die intellektuelle aretē der phronēsis zusammenspielen. Die folgende Interpretation wird daher nicht ohne Vorgriffe auskommen, und sie wird einige lose Enden haben, die sich erst in späteren Kapiteln zusammenfügen werden. Sie erläutert zunächst die allgemeine Theorie der ethischen aretē (in den Abschnitten 1.–3.); sodann in 4. einige Beispiele konkreter aretai, die Aristoteles in III 8-IV 15 gibt. Zu dieser Anwendung gehört ebenfalls noch Buch V über Gerechtigkeit, das im nächsten Kapitel gesondert behandelt wird, da es eine relativ eigenständige umfangreiche Untersuchung darstellt. 1 Einen Überblick über die heutige Tugendethikdebatte bietet Rippe/Schaber 1998. Zu diesem Kapitel siehe auch Wolf 1995.
Entstehung der ethischen aretē (II 1 und 3)
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Der Haupttext ist II 1–5. Er ist so aufgebaut, dass II 1–3 Überlegungen zur Entstehung der aretē enthalten, während in II 4–5 die ethische aretē definiert wird. In II 2 finden sich für das Verständnis von II 4–5 wichtige Aussagen, so dass II 2 im Zusammenhang mit II 4–5 ausgewertet wird. In II 6–9 folgen eine Zusammenfassung, eine Liste der konkreten aretai und einige Nachbemerkungen. Die Zusätze in II 6, 8 und 9 werden nach Möglichkeit integriert. II 7 enthält eine Liste sämtlicher ethischer aretai und wird daher dem 4. Unterteil des Kapitels als Einleitung vorangestellt.
1. Die Entstehung der ethischen arete¯ (II 1 und 3) a) Entstehung der ethischen aretē durch Gewohnheit (II 1) Aristoteles nimmt die Unterscheidung von zwei Arten der aretē am Ende von Buch I auf und stellt fest, die aretē des vernünftigen Seelenteils, die dianoetische aretē, entstehe durch Belehrung, die ethische aretē nicht (1103 a14–18). Wenn die ethische aretē nicht durch Belehrung entsteht, liegt es nahe, sie für eine natürliche Gegebenheit zu halten (1103 a18 f.). Aristoteles schließt dies jedoch aus. Denn, so das Argument, bei natürlichen Fähigkeiten geht das Besitzen der Fähigkeit der Ausübung voraus (die Wahrnehmungsfähigkeit zum Beispiel haben wir von Natur aus und aktualisieren sie dann (1103 a26–b2)). Bei der ethischen aretē hingegen, wie in anderer Weise auch bei der technē, geht die Ausübung bestimmter Tätigkeiten dem Haben der aretē voraus. Baumeister wird man nur durch wiederholtes Bauen, und gerecht nur durch wiederholtes Ausführen gerechter Handlungen. Für die ethische aretē, so Aristoteles, bleibt dann nur, dass sie auf Gewohnheit beruht. Die Fähigkeit, die aretē zu erwerben, setzt allerdings auch eine natürliche Gegebenheit voraus, nämlich die natürliche dynamis (Fähigkeit, Vermögen, Anlage), die ethische aretē aufzunehmen. Als Ergebnis der Gewöhnung entstehen die guten ebenso wie die schlechten technē-Fertigkeiten und ethischen Haltungen (1103 b2 ff.). Zum Beispiel hat man von Natur aus die Anlage, Geige spielen zu lernen. Erwerben kann man die technē des Geigespielens nur durch häufiges Aus üben dieser Tätigkeit. In diesem Ausüben in der Phase des Lernens, unter Anleitung, erweisen sich die einen als besser, die anderen als schlechter, und so erreichen die einen die aretē im Geigespielen, die anderen nicht. Was bei der technē die Belehrung, ist bei der ethischen aretē die Übung in der Erziehung. Daher betont Aristoteles am Ende des Absatzes (1103 b23 ff.), wie wichtig die Formung, die richtige Gewöhnung von Kindheit an ist. Zum Beispiel (1103 b13 ff.): Von Natur aus haben wir die Anla-
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Die ethische aretē (II–IV 15)
ge, Furcht und Mut zu empfinden. Das sind diejenigen Affekte, die unsere Reaktion auf Gefahrensituationen bestimmen. Wer sich in solchen Situationen an Tätigkeiten des Standhaltens gewöhnt oder daran gewöhnt wird, wird nach und nach zu einem tapferen Menschen, entwickelt die ethische aretē der Tapferkeit. Wer sich an Weglaufen und Feigheit gewöhnt, erwirbt stattdessen die kakia (Schlechtigkeit, Laster, sittlicher Fehler, Minderwertigkeit) der Feigheit.
b) Ein scheinbares Paradox (II 3) Wie kann es aber sein, dass eine ethische aretē, etwa die Gerechtigkeit, dadurch erworben wird, dass man in relevanten Situationen auf gerechte Weise handelt, wenn gerechtes Handeln bereits voraussetzt, dass man gerecht ist (II 3)? Aristoteles fragt zunächst, ob bei der technē nicht auf ähnliche Weise das Paradox entsteht, dass jemand, um eine technē zu erlernen, die Tätigkeiten, in denen diese praktiziert wird, bereits ausführen muss. Aristoteles zeigt zunächst, dass das Paradox im Fall der technē nur scheinbar besteht. Würde jemand zufällig oder unter Anleitung eine richtige grammatikalische Erkenntnis äußern, würden wir aus einer solchen einmaligen Äußerung noch nicht schließen, dass er ein Grammatikkundiger ist. Diese Fähigkeit würden wir ihm vielmehr erst dann zusprechen, wenn seine grammatischen Aussagen meistens richtig sind und wenn er sie selbständig und ohne Anleitung macht. Erforderlich ist hier die Unterscheidung zwischen Einzelhandlungen und dauerndem Besitz eines technē-Könnens. Das Paradox lässt sich dann im Bereich der technē so auflösen: Das technē-Können impliziert, dass es sich in Einzelhandlungen äußert, während die Implikation in der anderen Richtung nicht besteht. Eine einmalige Handlung kann auf Zufall oder Fremdeinwirkung beruhen und genügt daher nicht als Kriterium für den Besitz einer technē. Unabhängig vom Zustandekommen der Handlung gilt allerdings im Fall der technē: Auch wenn die grammatische Aussage nur zufällig wahr und der Sprecher nicht wirklich grammatikkundig ist, bleibt sie wahr. Die Wahrheit eines Satzes hängt von den Tatbeständen und nicht von den Fähigkeiten des Sprechers ab. Da die Parallelität von technē und aretē nicht in allen Punkten besteht, muss jetzt untersucht werden, ob das Paradoxon auf ähnliche Weise im Bereich der Ethik aufgelöst werden kann. Anders als im Bereich der technē lässt sich im ethischen Bereich zwischen der Bewertung der Handlung und der Verfassung des Handelnden nicht trennen, und das Paradox lässt sich daher hier nur auflösen, wenn wir eine Zweideutigkeit in der Rede von „gerechte Handlungen tun“ beachten. Dass jemand eine gerech-
Definition der aretē der Gattung nach (II 4)
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te Handlung tut, kann erstens im schwachen Sinn verwendet sein und heißen, dass er eine Handlung tut, die so beschaffen ist, wie ein Gerechter sie tun würde. Jedoch handelt jemand erst dann im eigentlichen Sinn gerecht, wenn er selbst die Handlung aus einer bestimmten Verfassung heraus tut. Aristoteles nennt drei Bedingungen für das Vorliegen der geeigneten Verfassung (1105 a30 ff.): Die Handlung muss erstens wissentlich (eidōs) geschehen, zweitens prohairoumenos (aufgrund einer Entscheidung, vorsätzlich), drittens fest und unerschütterlich. Während die ersten beiden Punkte erst in Buch III erläutert werden, lässt sich das Paradoxon für den ethischen Bereich bereits mithilfe des dritten Punktes auflösen (1105 b6 ff.): Jemand kann, etwa unter Anleitung, gerechte Handlungen tun, ohne schon selbst gerecht zu sein, in dem Sinn, dass er Handlungen tun kann, die so sind, wie sie der Gerechte in dieser Situation tun würde. Im eigentlichen Sinn gerechte Handlungen kann erst derjenige tun, der die Gerechtigkeit als dauerhafte Charakterdisposition besitzt und aus dieser ethischen Verfassung heraus handelt.
2. Die Definition der arete¯ der Gattung nach (II 4) Nach den Vorüberlegungen in II 1–3 wird in 4–5 präzise bestimmt, was die ethische aretē ist, und zwar nach dem üblichen Verfahren der Definition durch Angabe der Gattung und der spezifischen Differenz; in II 4 wird die Gattung bestimmt, in II 5 die Spezies. Um die Antwort vorwegzunehmen: Die ethische aretē ist dem Genus bzw. der Gattung nach eine hexis, der Spezies oder Art nach eine mesotēs, also eine bestimmte Art von Mitte. a) Die ethische aretē als hexis Die Gattung wird durch Ausschlussverfahren gefunden. Aristoteles nennt zunächst drei mögliche Kandidaten (1105 b20), nämlich pathos (Leidenschaft, Affekt, irrationale Regung), dynamis (Fähigkeit, Vermögen, Anlage) und hexis (Eigenschaft, Beschaffenheit, Habitus, feste Grundhaltung), und stellt am Ende fest, in welche dieser Gattungen die aretē nicht gehört: Sie ist nicht ein Affekt und nicht eine Anlage, so dass nur übrig bleibt, dass sie eine hexis ist (1106a11 f). Die ethischen aretai können, so Aristoteles, keine Affekte sein, weil diese als Bestandteil unserer natürlichen Ausstattung weder gut noch schlecht sind (1105 b28–1106 a6). Wir loben oder tadeln Personen nicht deswegen, weil sie bestimmte Affekte erleben; getadelt wird nicht, wer
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Die ethische aretē (II–IV 15)
überhaupt Zorn empfindet, sondern nur, wer das auf die falsche Weise tut (1106 a1). Die aretē bzw. kakia aber ist gerade die Basis für Lob bzw. Tadel. Ähnlich wird „Anlage“ als Kandidat für die Gattung der aretē mit dem Argument ausgeschlossen (1106 a6–10), dass Werturteile über Personen sowie Lob und Tadel sich nicht auf die Anlage beziehen, Affekte erleiden zu können. Wenn Affekte und Anlagen zum Empfinden von Affekten wertneutral sind, müssen aretē und kakia, die gerade gelobt und getadelt werden, unter eine andere Gattung fallen. Von den genannten Möglichkeiten bleibt nur übrig, dass sie in die Gattung der hexis gehören. Das Wort hexis bezeichnet ungefähr das, was man heute eine Charakterdisposition nennt, eine andauernde Haltung, die sowohl die affektive wie die handelnde Reaktion auf Situationen bestimmt. Aristoteles selbst erläutert die Bedeutung des Wortes als Einstellung, durch die wir uns zu den Affekten richtig oder falsch verhalten (1105 b25 ff.). Dann allerdings kommt der Affektivität, auch wenn die ethische hexis kein Affekt ist, doch als Gegenstand der hexis zentrale Bedeutung zu, so dass wir den Begriff des Affekts klären müssen.
b) Zum Begriff des Affekts Aristoteles zählt in EN II nur Beispiele für Affekte auf und beschränkt sich auf den lapidaren Hinweis, Affekt sei alles, dem Lust und Unlust folge (1105 b23). Das ist sicher keine hinreichende Erläuterung, denn Aristoteles selbst ist der Auffassung, dass neben den Affekten noch anderes von Lust und Unlust begleitet ist, etwa sinnliche Empfindungen oder Tätigkeiten. Die Affekte sind Bestandteil des Strebevermögens, das außerdem Begierden und Wünsche enthält.2 Beispiele für Affekte sind Zorn, Mut, Neid, Liebe, Mitleid. Ein pathos ist wörtlich etwas, das man erleidet. Genauer handelt es sich beim Affekt darum, dass das Strebevermögen durch die Wahrnehmung eines Sachverhalts affiziert wird. Wie die Beispiele zeigen, haben diese Sachverhalte meistens mit unserer Beziehung zu anderen Menschen zu tun. Ausführlichere Darstellungen der Affekte finden sich in anderen Texten, insbesondere in der Rhetorik. Den Affekt des Zorns beispielsweise erläutert Aristoteles dort folgendermaßen (1378 a30 ff.): Zorn ist ein unlustbetontes Streben nach Rache aufgrund einer vermeinten oder tatsäch lichen Geringschätzung, die man selbst oder jemand, der zu einem gehört, 2 Hierzu ausführlicher Ricken 1976, Kap. IV, zur gesamten Problematik des Zusammenhangs zwischen Affekt, Lust, aretē und eudaimonia zusätzlich dort Kap. V und VI. Zur Affektivität außerdem Riedenauer, Kap. IV.
Definition der aretē der Spezies nach (II 2, II 5, II 6)
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erleidet. Es handelt sich also um ein Phänomen mit mehreren Aspekten, mit einer relativ komplexen Struktur: (i) Der Affekt wird jeweils hervorgerufen durch einen Sachverhalt, er enthält eine Meinung darüber, dass ein bestimmter Sachverhalt gegeben ist, dass die Situation so und so beschaffen ist. Im Beispiel des Zorns: Der Betroffene meint, er werde gering geschätzt. (ii) Dabei handelt es sich immer um Sachverhalte, die von Bedeutung für das Leben oder gute Leben der Person sind. Man könnte also sagen: Im Strebevermögen, in der Affektivität, liegt ein wertender Bezug auf das eigene Leben. (iii) Der Affekt reagiert auf diesen Sachverhalt, wobei er jeweils eine Komponente der Lust oder Unlust enthält. Bei einem negativen Affekt wie dem Zorn, der darauf antwortet, dass etwas für die Person oder ihre eudaimonia Schlechtes geschieht, tritt Unlust auf. Affekte sind daher wertend: Sie beziehen uns auf unser gutes Leben, indem sie die Betroffenheit durch für uns Gutes und für uns Schlechtes im Gefühl erfahrbar machen. (iv) Der Affekt ist zunächst eine passive Reaktion auf einen Sachverhalt, führt dann aber auch zu einer Strebung. Ein Sachverhalt, der mit Lust erfahren wird, führt zu der Strebung, ihn zu erhalten; ein Sachverhalt, der mit Unlust erlebt wird, ruft, wie im Beispiel des Zorns, die Strebung hervor, den Sachverhalt zu beseitigen, im Beispiel das Streben nach Rache. Anders als der Affekt enthält die Strebung auch bei Sachverhalten, die der Person schaden, nicht nur Unlust, sondern es folgt ihm auch Lust, die in der Hoffnung auf Beseitigung des Übels liegt. Hier deutet sich ein Punkt an, der für das Weitere wichtig sein wird: Aristoteles ist offensichtlich bemüht, die ethische aretē so zu bestimmen, dass die Seite des SubjektivAngenehmen, die zum alltäglichen eudaimonia-Begriff gehört, jedoch in der „wissenschaftlichen“ Definition der eudaimonia in I 6 nicht ohne Weiteres sichtbar war, deutlich berücksichtigt wird.
3. Die Definition der arete¯ der Spezies nach (II 2, II 5, II 6 bis 1107a8) Wie wir gesehen haben, ist die ethische aretē der Gattung nach eine hexis. Um zu bestimmen, welche hexis sie ist, entwickelt Aristoteles die ebenso bekannte wie oft missverstandene Lehre von der Mitte (mesotēs). Der erste Schritt ist allgemein und knüpft an die Lehre vom Kontinuum an, die Aristoteles in seinen theoretischen Schriften ausgeführt hat (1106 a26–b16), der zweite Schritt überträgt diese Überlegung auf die ethische aretē (1106 b16ff.).
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Die ethische aretē (II–IV 15)
a) Allgemeine Bedeutung der Mitte (1106a26–b16) Ein Kontinuum ist etwas, das teilbar ist und wovon man mehr, weniger oder gleichviel nehmen kann. Dieses Gleichviel kann in zwei Weisen gemeint sein. Es kann sich einerseits um das arithmetische Mittel handeln, wie 6 die Mitte zwischen 2 und 10 ist. Oder die Rede von der Mitte kann proportional gemeint sein, mit Bezug auf uns (oder vielleicht auch auf sonst etwas). Was Nahrung angeht, ist eine bestimmte Kalorienmenge viel, eine andere wenig; die richtige Mitte ist nicht die zahlenmäßige Mitte, sondern für verschiedene Personen verschieden je nach ihrer Situation.3 Wer Sport treibt, braucht mehr Kalorien als jemand, der am Schreibtisch sitzt, also liegt für ersteren die Mitte näher am Maximum, für den anderen näher am unteren Ende. Die allgemeine These ist jetzt, dass die gute Ausführung eines ergon immer auf die richtige Mitte zielt, und zwar auch im Fall der technē und epistēmē. Wer etwas herstellen möchte, etwa ein Haus, muss geeignete materielle Teile, hier Steine und Balken, in der richtigen Menge und Anordnung verwenden.4 Woher weiß der Baumeister, wie viel von welchem Material er nehmen soll? Das Richtige ist nicht die rechnerische Mitte zwischen Viel und Wenig, sondern das Richtige ist, auf mittlere Weise in dem Sinn vorzugehen, dass er von jedem Stoff so viel nimmt, dass das Produkt ein möglichst gutes Haus ist, seine Aufgabe als Haus möglichst gut erfüllt. Die Mitte bestimmt sich also relativ zur guten Ausführung des ergon, und insofern dieser Ausführung die aretē zugrundeliegt, zielt sie auf die Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig.
b) Die ethische aretē als eine Mitte (mesotēs) (1106b16–1107a8, II 2) Die Übertragung dieser Überlegung auf die ethische aretē erfolgt in II 5 sehr knapp; ausführlichere Erläuterungen finden sich in den bisher übersprungenen Stücken in II 2, das in den Kontext der Frage der Entstehung der aretē gehört. Dort wird erläutert, dass unsere natürliche Anlage, Affekte zu empfinden, durch Gewöhnung zu verschiedenen hexeis entwickelt werden kann. Die Gewöhnung, die zur aretē führt, ist eine Gewöhnung daran, sich angemessen an die Situation entweder zu freuen oder zu leiden 3 Ob sich für Aristoteles die Unterschiede immer an der Situation festmachen lassen oder auch in der Person liegen können, ist strittig, kann aber im Augenblick offenbleiben. Siehe dazu Leighton. 4 Das Beispiel stammt aus Platon, Gorgias 503e1 ff., wo sich bereits eine ähnliche Vorstellung findet.
Definition der aretē der Spezies nach (II 2, II 5, II 6)
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und die richtigen Handlungen mit Lust und die schlechten mit Unlust zu tun (1104 b12 ff.). Was diese Entstehung der aretē ebenso wie ihre Bewahrung mit einer Mitte zu tun hat, warum das Zuviel und das Zuwenig für sie schädlich ist, wird anhand von zwei Beispielen erklärt (1104a11ff.). Das erste Beispiel betrifft die Einstellung zur sinnlichen Lust, etwa zur Lust am Essen, die allerdings kein Affekt ist. Wer so lebt, dass er ständig sinnliche Lust sucht und auf keine Lust, die sich bietet, verzichtet, der wird unmäßig. Wer andererseits keine Lust genießt, wird empfindungslos. Die beiden hexeis der Unmäßigkeit (das Suchen von zu viel Lust) und der Empfindungslosigkeit (das gänzliche Fehlen der Lustsuche) sind die Extremformen der Schlechtigkeit (kakia) im Umgang mit der sinnlichen Lust. Dazwischen liegt die aretē mit Bezug auf die sinnliche Lust, die auf die Mitte zielt, die das richtige Maß an Lust sucht, die Mäßigkeit (sōphrosynē). Ähnliches gilt für den Affekt der Furcht: Wer die Gewohnheit entwickelt, alles für gefährlich zu halten und ständig wegzulaufen, der wird feige; wer nichts fürchtet und vor nichts flieht, wird tollkühn. Die aretē liegt wiederum zwischen diesen beiden hexeis; sie besteht in der Tapferkeit, welche die richtige oder mittlere hexis zwischen Tollkühnheit und Feigheit darstellt. Die entscheidende Frage für das Verständnis dieser Theorie ist, was die Vorstellung, die ethische aretē sei eine mesotēs, eine mittlere hexis, genau bedeutet. Einiges ist klar. Aristoteles will sicher nicht irgendein Mittelmaß im Handeln und den Charakterhaltungen empfehlen. Die Rede von der Mitte dient nirgends als Kriterium des praktisch Richtigen, sie dient vielmehr in verschiedenen Hinsichten zur Erläuterung der Beschaffenheit der ethischen aretē und der aus ihr hervorgehenden Handlung. So betont Aristoteles selbst, die aretē sei zwar der Art nach als mittlere hexis zu definieren, habe jedoch hinsichtlich ihres Werts gerade nichts mit Mittelmäßigkeit zu tun, sondern liege an der Spitze (1107a6–8).5 Wie ist die Vorstellung von der Mitte aber dann zu verstehen? Das ist schon angesichts wechselnder Formulierungen schwer erkennbar. Einmal ist die aretē die Mitte zwischen zwei Extremen, die mittlere hexis zwischen zwei Schlechtigkeiten. Sodann aber wird die aretē auch als diejenige hexis bezeichnet, die auf die Mitte (to meson) zielt (1106 b28). Hinzu kommt, dass Aristoteles die Rede von der Mitte auf die hexis ebenso wie auf den Affekt, aber auch auf die Handlung anwendet (1104 b14, 1106 b24 f.). Man kann daher vermuten, dass sich in der Lehre von der mesotēs verschiedene Aspekte überlagern, die von Aristoteles selbst nicht deutlich getrennt werden. Mindestens drei unterschiedliche Bedeutungen lassen sich herausgreifen, die verschiedenen Sinn haben, obwohl Aristoteles sie in der Zusammenfassung in 1106b36–1107a6 kombiniert: 5
Vgl. auch Hartmann, 193.
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Die ethische aretē (II–IV 15)
(i) Jede ethische aretē ist eine Mitte in einem Kontinuum, an dessen Enden jeweils eine Schlechtigkeit steht. (ii) Affekte und aus ihnen resultierende Handlungen befinden sich dann in der richtigen Mitte, wenn sie dem auslösenden Sachverhalt angemessen sind. (iii) Affekte und die entsprechenden Handlungen treffen dann die Mitte, wenn sie das ergon des Menschen im Blick haben. Genauer: Affekte sind dann mittlere, wenn sie das Tätigsein gemäß der Vernunft ermöglichen, und Handlungen treffen dann das Mittlere, wenn sich in ihnen die eudaimonia des Handelnden vollzieht. Vielleicht könnte man sagen, dass Bedeutung (i) primär auf die hexis passt, Bedeutung (ii) primär auf den Affekt und Bedeutung (iii) primär auf die Handlung. (i) Dass jede aretē die Mitte zwischen zwei Schlechtigkeiten ist, lässt sich im Blick auf die affektive Basis verstehen. Bezüglich der Affekte scheint die Rede von der Mitte auf einer Skala zwischen zwei Extremen zunächst einen gewissen Sinn zu haben, weil die Affekte in der Tat einen quantitativen Aspekt aufweisen, stärker oder schwächer sein können.6 Der Kontext, in dem es sinnvoll ist zu sagen, dass man innerhalb eines beliebig teilbaren Kontinuums von einem Affekt nicht zu viel und nicht zu wenig haben sollte, ist der der Erziehung. Aristoteles meint, die große Mehrzahl der Menschen gelange nicht dahin, selbständig zu überlegen, was zu tun gut ist, lebe vielmehr nach momentanen Antrieben und müsse daher ständig durch den Staat weiter erzogen werden. Für denjenigen, der die Überlegungsfähigkeit nicht besitzt, bleibt dann nur die vage Anweisung, nicht zu viel und nicht zu wenig von einem Affekt und der reagierenden Strebung zu haben. Diesen Ratschlag gibt Aristoteles in einem quantitativen Sinn in den eher populären Ausführungen in III 9: Man solle, da das exakte Treffen des Richtigen schwer sei, versuchen, sich von den Extremen fern zu halten, insbesondere von demjenigen Extrem, zu dem man von Natur aus mehr neigt. Schließlich solle man sich vor der Lustempfindung in Acht nehmen, weil die Lust uns häufig zu unrichtigen Handlungen veranlasst. Doch auch wer richtig gewöhnt ist, hat damit die ethische aretē, wie wir in Buch VI sehen werden, noch nicht im vollen Sinn. Denn das Entscheidende sind für Aristoteles nicht die Gewohnheiten, sondern ihre Betätigung, und die richtige Betätigung erfordert neben der geeigneten Charakterdisposition die phronēsis, die Fähigkeit, die Situation richtig zu beurteilen und im Hinblick auf das menschliche ergon in die richtige Handlung umzusetzen. Dann könnte man die quantitative Vorstellung von der Mitte 6 Dass sich der zentrale Sinn der Lehre von der Mitte auf die Affektivität bezieht, vertritt Urmson 1980, 161.
Definition der aretē der Spezies nach (II 2, II 5, II 6)
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in Analogie zu den technē-Beispielen so zu interpretieren versuchen: Die Affekte sind die natürlich vorgegebenen Materialien in der Seele. Der Erzieher, der die Seele formen will, muss von den Materialien so viel nehmen, dass das Erreichen des menschlichen ergon, der Vollzug des vernunftgemäßen Tätigseins, ermöglicht wird.7 Das würde heißen, dass man von einem bestimmten Affekt wie Zorn nicht in beliebig großer Heftigkeit betroffen sein darf, wenn die Vernunftüberlegung nicht behindert werden soll. Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich diese Erklärung als ungeeignet. Denn bei einer Person, die eine schlechte hexis hat, könnte selbst ein schwacher Affekt die Vernunft ausschalten, und umgekehrt könnte bei einer Person, die eine gute hexis hat, auch ein sehr starker Affekt sich nach der Vernunft richten. So wechselt Aristoteles innerhalb eines Satzes, in dem er die Mitte quantitativ zu beschreiben versucht (1106 b18–23), in eine ganz andere Redeweise: (ii) Man kann, so führt Aristoteles aus, zu viel oder zu wenig zürnen, Furcht empfinden usw., das Mittlere und Beste aber sei, den jeweiligen Affekt zu erleiden, wann man soll, wobei man soll, wem gegenüber man soll und wie man soll (hōs dei). Diese Formulierung weist auf eine wichtige Eigenart der Affekte hin. Sie sind nicht einfach Gefühlsphänomene, sondern haben gleichzeitig, wie man heute sagt, einen kognitiven Gehalt, insofern sie sich auf eine Meinung über einen Sachverhalt, eine Situationsdeutung beziehen, die wahr oder falsch sein und in weiteren Urteilsbezügen stehen kann. Daher können Affekte ihrerseits mehr oder weniger berechtigt oder angemessen sein. Wer beispielsweise in einer lebensgefährlichen Situation große Furcht empfindet, der hat einen angemessenen Affekt, der fürchtet sich, wann und wie usw. man soll. Wer hingegen angesichts einer Maus in Panik gerät, zeigt eine der Sache nicht angemessene Furcht, weil es nicht zutrifft, dass in dieser Situation seinem Leben ein großes Übel droht. Ein Affekt ist angemessen, wenn seine Stärke der Größe der Bedrohung oder Förderung entspricht, die der auslösende Sachverhalt für die eudaimonia des Handelnden darstellt. Tod oder Verletzung im Krieg sind die größten Gefahren, also ist hier starke Furcht angemessen. Verstehen wir auf diese Weise das Treffen der Mitte im Sinn der Sachangemessenheit des Affekts, ergibt sich jedoch ein Problem auf der Ebene der Handlung: Die zu starker Furcht passende Handlung ist Weglaufen. Dann stellt sich die Frage, wie tapferes Handeln unter Lebensgefahr z. B. im Krieg erstrebenswert oder überhaupt nur richtig sein kann. 7 Ähnlich formuliert der Verfasser der Magna Moralia 1208 a8 ff., der – wer immer es gewesen sein mag – sicherlich eine Position im Sinn des Aristoteles vertritt.
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Die ethische aretē (II–IV 15)
Eine Möglichkeit wäre, die Angemessenheit oder Richtigkeit der tapferen Handlung moralisch zu verstehen. So nimmt Aristoteles die Qualifikationen der Angemessenheit (was, wann, wem, wie man soll usw.) durch to deon (das Gesollte, das Richtige, 1107 a4) auf. Die Ausdrücke to deon und hōs dei sind im Griechischen die Standardtermini zur Bezeichnung des moralisch Richtigen. Wie wir gesehen haben, entsprechen die ethischen aretai teilweise dem, was wir moralische Tugenden nennen, und wie ebenfalls angedeutet, verfolgt Aristoteles in der EN sicher auch das Ziel, die Moral innerhalb seines eudämonistischen Ansatzes zu verankern.8 Wieweit das für seine Konzeption der aretē eine Rolle spielt, müssen wir in der Interpretation der einzelnen aretai sehen. Dass im jetzigen Kontext das „wie man soll“ nicht im engeren moralischen Sinn gemeint ist, wird jedoch deutlich, wenn wir uns dem dritten Sinn des Mittleren zuwenden, der für die Ebene der Handlung der entscheidende ist. (iii) Wenn auch starke Affekte je nach Situation berechtigt sein können, geht es im Hinblick auf das menschliche ergon nicht um die Quantität (Intensität) des Affekts, auch nicht um die proportionale Quantität (die Mitte mit Bezug auf uns), sondern um die Frage, ob in das Erleiden von Affekten gleichgültig welcher Stärke eine gewisse reflexive Distanz eingebaut ist, die die Vernunft zu Gehör kommen lässt. Nur dies kann gemeint sein, wenn Aristoteles sich manchmal so ausdrückt, dass die aretē auf die Mitte ausgerichtet ist (1106 b28). Die Affektivität muss dann, wie die Steine ins Haus, in das Ganze des menschlichen Lebewesens so eingefügt sein, dass dieses sein ergon gut erfüllen kann, und das ist dann der Fall, wenn es sich an den Anweisungen der Vernunft orientiert. Dass die Mitte, auf die die ethische aretē zielt, im Blick auf das ergon des Menschen zu finden ist, wird deutlich, wo Aristoteles die Rede von der Mitte vom Affekt auf die Handlung ausdehnt (1106b23ff.). Das Zustandekommen einer Handlung, in der die Person auf einen Affekt reagiert bzw. in der sich eine ethische hexis manifestiert, stellt Aristoteles sich, wie wir genauer erst in Buch III und VI sehen werden, so vor, dass das affektive Streben eine Überlegung in Gang setzt, die zu einer prohairesis (Entscheidung, Wahl) darüber führt, welche konkrete Handlung zu tun ist. Diese Vorstellung nimmt Aristoteles am Anfang von II 6 vorweg, wenn er die ethische aretē bestimmt als „eine hexis prohairetikē (Verhalten der Entscheidung, Habitus des Wählens, feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung), die in der Mitte mit Bezug auf uns liegt, wobei diese Mitte durch den logos (Vernunft, richtiger Plan) bestimmt ist, und zwar durch den 8 Dass dies das eigentliche Anliegen von Aristoteles ist und dass dieses Anliegen schon die Schwierigkeiten des ergon-Arguments in I 6 verursacht, vertritt Tugendhat 1993, 248.
Die einzelnen aretai
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logos, durch den der phronimos (der Verständige, Kluge, Einsichtige) sie bestimmen würde“. Der phronimos aber ist, wie wir in Buch VI erfahren werden, derjenige, der gut zu überlegen vermag mit Bezug auf die eudaimonia im Ganzen. Dass eine Handlung die richtige Mitte trifft, heißt dann, dass sie zur eudaimonia der Person beiträgt, dass sich in ihr hier und jetzt das Tun im Sinn der eudaimonia realisiert. Da wir jedoch die eudaimonia anders als die Ziele der technē nicht vorab konkret bestimmen können, bleibt die Frage, wie wir die Handlung, die auf die Mitte zielt, finden sollen, vorläufig offen. Während wir diese Frage erst anhand von Buch VI aufnehmen können, bleibt im jetzigen Kontext ein oben aufgeworfenes Problem immer noch ungelöst: Das Leben in der Betätigung der ethischen aretē soll eine der beiden Formen der eudaimonia bilden, und dazu gehört, dass die Tätigkeiten, in denen sich die aretē äußert, in sich Freude machen. So angemessen starke Furcht vor einer großen Gefahr ist, ist die Furcht ein mit Unlust besetzter Affekt, d. h. eine Hemmung des Lebensvollzugs, folglich eine Beeinträchtigung der eudaimonia. Dann muss das Treffen der Mitte bedeuten, dass der Affekt die Person nicht ganz einnimmt, sondern einen Spielraum lässt, in dem Motive wirksam werden können, die die Hemmung des Lebensvollzugs überwinden, so dass wenn nicht Freude – was beim Standhalten in Todesgefahr schwierig ist –, so doch zumindest keine Unlust erfahren wird (1104 b7 f). Dieses Motiv liegt nicht in der Affektivität selbst, sondern ist ein Motiv zweiter Stufe, nämlich der Wunsch, das kalon (das Edle, das sittlich Gute) realisieren zu wollen. Was damit gemeint ist, soll im Folgenden anhand der Darstellung der einzelnen aretai untersucht werden. 4. Die einzelnen aretai Die aristotelische Auffassung der konkreten aretai ist lange Zeit von den Interpreten eher vernachlässigt worden. Was Aristoteles hier beschreibt und empfiehlt, ist teilweise für unsere von der christlichen Tradition geprägten Vorstellungen befremdlich, aber vielleicht nicht uninteressant, weil es dazu anregen kann, Selbstverständliches zu hinterfragen. Andererseits ist die philosophische Substanz und der argumentative Schwierigkeitsgrad dieser Textstücke weitaus geringer als der der anderen Teile der EN, so dass hier auf eine Erläuterung der Details verzichtet werden kann. Aristoteles zählt in II 7 die einzelnen Affekt- und Handlungsbereiche auf und nennt die jeweilige Mitte, die aretē mit Bezug auf den jeweiligen Bereich.9 Die Behandlung der einzelnen aretai erfolgt erst nach der 9
In II 6, 1107 a8 ff. verweist Aristoteles auf Handlungen und Affekte, die bereits
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Die ethische aretē (II–IV 15)
Einführung der Begriffe des hekousion und der prohairesis in Buch III (III 8–IV 15). a) Liste der verschiedenen aretai und kakiai (II 7) Wie Aristoteles zu seinem Tugendkatalog kommt und wie er dessen Vollständigkeit erweisen würde, ist unklar. Vermutlich handelt es sich um ein teilweise empirisches Vorgehen, wenn auch nur, was das Auffinden der Bereiche des Handelns betrifft. Jedoch verhalten Menschen sich in der Wirklichkeit nicht immer im Sinn der aretē, so dass die Bestimmung der aretai sicher nicht nur eine Beschreibung faktischen Verhaltens, sondern auch eine Empfehlung richtigen Verhaltens ist. Da die Überzeugungskraft dieser Empfehlung darauf beruht, dass das Leben in der Betätigung der ethischen aretai eine der beiden Formen der eudaimonia ausmacht, liegt für die Interpretation dieser Abschnitte die Leitfrage nahe, ob es Aristoteles gelingt, jede einzelne aretē als Bestandteil eines Lebens zu erweisen, das man als eudaimōn bezeichnen würde. An der Liste fällt mehreres auf. Obwohl eine hexis bestimmt worden war als eine Einstellung zu einem Affektbereich, die sich dann in Handlungen äußert, sind die Beispiele nur teilweise so beschrieben, dass sie den Handlungsbereich durch einen Affekt wie Mut, Zorn usw. benennen; in anderen Fällen wird von vornherein nur die Handlung angeführt, z. B. Geben und Nehmen von Geld. Aber auch dort, wo ein Affekt den Bereich bestimmt, ist die aretē immer als eine Disposition zu guten Handlungen gefasst. Im Einzelnen ist zu beobachten, dass für die Gerechtigkeit, die in Buch V Thema sein wird, Handlungsbereich und affektive Basis offen bleiben. Schamhaftigkeit und Entrüstung, die als Nachträge aufgeführt werden, fallen aus dem Schema heraus; sie stellen eine Mitte beim Affekt dar, die nicht eine aretē im eigentlichen Sinn, jedoch lobenswert ist. Der Inhalt der relevanten Bücher gliedert sich wie folgt: Nach einem einleitenden Paragraphen (III 8) wird in III 9–12 die Tapferkeit (andreia) behandelt, in III 13–15 die Mäßigkeit (sōphrosynē). Als Nächstes wenin ihrer Benennung die Schlechtigkeit implizieren, so dass man bei ihnen nicht nach der Mitte fragen kann. Zum Beispiel ist Neid ein Affekt, der anders als Furcht oder Zorn nicht neutral ist, sondern bereits in der Bezeichnung die Schlechtigkeit impliziert. Man könnte also höchstens fragen, von welchem neutralen Affekt Neid eines der negativen Extreme ist. Ähnlich kann man bei denjenigen hexeis, die eine kakia, ein Laster darstellen, wie Feigheit, Ungerechtigkeit usw., nicht nach der mittleren hexis fragen, weil es von einer kakia keine richtige Mitte gibt. Umgekehrt gibt es von der aretē, etwa der Mäßigkeit, nicht Übermaß und Mangel, weil sie gerade die richtige Mitte ist.
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Affekt/Handlungsbereich
aretē
erste kakia
zweite kakia
phobos (Furcht, Angst) und tharsos (Mut, Zuversicht)
andreia (Tapferkeit, Mut)
thrasytēs (Tollheit/ Tollkühnheit)
deilia (Feigheit)
hedonē (Lust) und lypē (Unlust, Schmerz)
sōphrosynē (Besonnenheit, Mäßigkeit)
akolasia (Zügellosigkeit, Unmäßigkeit, Zuchtlosigkeit)
anaisthēsia (Stumpfheit)
Geben und Nehmen von Geld oder Besitz im Kleinen
eleutheriotēs (Großzügigkeit Freigebigkeit)
asōtia (Verschwendung, Verschwendungssucht)
aneleutheria (Kleinlichkeit, Geiz)
Geben und Nehmen von Geld oder Besitz im Großen
megaloprepeia (Großartigkeit, Großgeartetheit, Hochherzigkeit)
apeirokalia kai banausia (Geschmacklosigkeit und Spießigkeit, geschmackloser und großtuerischer Aufwand)
mikroprepeia (Knauserigkeit, Engherzigkeit)
timē (Ehre) und atimia (Unehre, Ehrlosigkeit, Schande) im Großen
megalopsychia (Großgesinntheit, Hochsinn, Hochgesinntheit, Hochsinnigkeit)
chaunotēs (Eitelkeit, Prahlerei, Aufgeblasenheit, Dummstolz)
mikropsychia (Kleinmütigkeit, Ängstlichkeit, niederer Sinn, Engsinnigkeit)
timē (Ehre) und atimia (Unehre, Ehrlosigkeit, Schande) im Kleinen
Ohne Namen
philotimia (Ehrgeiz)
aphilotimia (Ehrgeizlosigkeit, Gleichgültigkeit, Nichtehrgeiz)
orgē (Zorn)
praotēs (Milde Sanftmut, „vornehme Ruhe“)
orgilotēs (Jähzorn, Zornmütigkeit, „heftige Erregbarkeit“)
aorgēsia (Schwächlichkeit, Zornlosigkeit)
to alēthes (das Wahre)
alētheia (Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit)
alazoneia (Unverschämtheit, Aufschneiderei, Prahlerei)
eirōneia (Ironie, geheuchelte oder hintergründige Bescheidenheit, verstellte Unwissenheit)
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Affekt/Handlungsbereich
aretē
Erste kakia
Zweite kakia
to hēdy en paidi‚ (das Gefällige beim Spiel, das Angenehme in geselliger Unterhaltung)
eutrapelia (Gewandtheit, Artigkeit, gesellschaftliche Gewandtheit)
bōmolochia (Ungezogenheit, Possenreißerei, Hanswursterei)
agroikia (Tölpelhaftigkeit, Ungebildetheit, Steifheit, Rüpelhaftigkeit)
to loipon hēdy (sonstige Gefälligkeit im Leben, das übrige Angenehme im Leben, Annehmlichkeit im Verkehr überhaupt)
philia (Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit)
areskeia (Gefallsucht, Liebedienerei) und kolakeia (Schmeichelei, Kriecherei)
aphilia (Streitsucht, Grobheit, Widerborstigkeit)
aidōs (Scham)
aidōs (Schamhaftigkeit, Feinfühligkeit)
kataplēxis (Schüchternheit, Blödheit)
anaischyntia (Unverschämtheit, Schamlosigkeit)
Freude und Schmerz über das, was unseren Nächsten zustößt
nemesis (Entrüstung, ehrliche Empörung)
phthonos (Neid, Missgunst)
epichairekakia (Schadenfreude)
Bereich bleibt offen
dikaiosynē (Gerechtigkeit)
det sich Aristoteles zwei Tugenden zu, die mit dem Umgang mit Geld zu tun haben, der Großzügigkeit oder Freigebigkeit (eleutheriotēs), die sich auf alle Handlungen in Geldsachen bezieht (IV 1–3), und der Großartigkeit oder Großgeartetheit (megaloprepeia), die spezieller den angemessenen Aufwand im Großen betrifft (IV 4–6). Die Großgesinntheit oder Hochsinnigkeit (megalopsychia), die sich auf die Ehre bezieht, ist Thema in IV 7–9, die ebenfalls auf die Ehre bezogene zwischen Ehrgeiz und Ehrgeizlosigkeit liegende Tugend, die keinen Namen hat, in IV 10. Auch mit Bezug auf den Zorn (IV 11) ist die mittlere Haltung ohne Bezeichnung, Aristoteles schlägt „Milde“ oder „Sanftmut“ vor, weist aber darauf hin, dass dieses Wort eher an das Extrem des Mangels an Zorn denken lässt. In
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IV 12–14 geht es um drei Tugenden des geselligen Verkehrs, Freundlichkeit (IV 12), Aufrichtigkeit (IV 13), und Gewandtheit (IV 14). Schließlich ist in IV 15 die Scham Gegenstand der Untersuchung, die wie der Zorn ein Affekt ist, zu der es aber nach Aristoteles, anders als beim Zorn, keine aretē gibt. Die folgende Darstellung geht nicht auf alle diese Phänomene ein, sondern erläutert nur exemplarisch einige aretai. Sie behandelt b) Tapferkeit und Zorn, c) Mäßigkeit, d) Umgang mit Geld und Ehre. Auf eine Darstellung der aretai des Zusammenlebens wird ganz verzichtet, da das Verhalten zu anderen Menschen ausführlicher das Thema der Abhandlungen über Gerechtigkeit (Kap. IV) und Freundschaft (Kap. IX) sein wird.
b) Tapferkeit und Verhalten zum Zorn In III 9–12 wird zunächst die Tapferkeit im engeren Sinn als tapferes Verhalten insbesondere bei Lebensgefahr im Krieg behandelt, mit einem Anhang über analoge Vorstellungen in anderen Bereichen (III 11). In III 9 wird der Gegenstandsbereich der Tapferkeit bestimmt, in III 10 wird erläutert, in welcher Weise die Tapferkeit eine mittlere Haltung ist. Der Zorn ist Thema von IV 11. (i) Der Handlungsbereich der Tapferkeit (III 9). Aristoteles beginnt mit dem Hinweis, die Tapferkeit sei die richtige Mitte im Hinblick auf Furcht und Zuversicht, orientiert sich aber dann bei der Bestimmung des Bereichs primär an der Furcht. Mit dem Affekt der Furcht reagiert die Person auf die Meinung, dass ihr ein Übel geschehen wird. Aristoteles kommt zu dem Ergebnis, dass die Tapferkeit sich nicht auf sämtliche Arten von Übel bezieht. So gibt es Übel wie Schande oder Unehre, die man durch schlechtes Handeln verursacht, und diese Übel soll man in der Tat fürchten und so zu ihrer Verhinderung beitragen. Andere Übel wie Krankheit oder Armut kann man oft nicht verhindern; das angemessene Verhalten zu ihnen nennt Aristoteles nur tapfer in einem übertragenen Sinn. Die Tapferkeit im engeren Sinn bezieht sich für ihn auf die größten Übel, und daher insbesondere auf den Tod, hier jedoch nicht auf den Tod durch Krankheit oder den Tod auf See, sondern auf den „edlen“ (kalos) Tod im Krieg, der ehrenvoll ist. Aristoteles grenzt also den Begriff so ein, dass nur diejenigen Übel sein Gegenstand sind, die besonders groß sind und die man im Prinzip verhindern oder fliehen kann. (ii) Die Tapferkeit als eine mesotēs (III 10). Warum es schwierig ist, die Tapferkeit als wünschenswerten Bestandteil der eudaimonia zu erweisen, wurde oben schon angedeutet: Starke Furcht ist angesichts einer lebensbedrohlichen Gefahr angemessen. Ein starker negativer Affekt aber ist mit
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Unlust verbunden, er hemmt den Lebensvollzug und bedeutet so eine Minderung der eudaimonia. Hinzu kommt, dass Furcht die Strebung des Fliehens hervorruft, und wo die Furcht angemessen ist, müsste auch diese Strebung angemessen sein. Hingegen verlangt die Tapferkeit das Standhalten. Es gibt zwei Strategien, wie man diesen Befund zurechtbiegen kann; sie entsprechen den Lesarten der mesotēs-Lehre, die oben unter 3.b) als Punkt (i) und (iii) genannt sind. Erste Lösung. Da Aristoteles im Fall der Tapferkeit anders als bei den anderen aretai nicht mit einem Affekt als Grundlage operiert, sondern mit zweien, der Furcht und der Zuversicht, könnte man sagen, dass die affektive Mitte hier nicht zwischen zu viel Furcht und zu wenig Furcht liegt, sondern zwischen Furcht vor dem Übel und Zuversicht auf Rettung. Der Tapfere hätte dann in einer großen Gefahr keine Furcht, aber auch keine Zuversicht. Doch das Fehlen der Zuversicht bedeutet, wenn nicht Unlust, so doch Fehlen der Freude am Tätigsein. Diese Sicht würde daher letztlich auf das Ideal der Freiheit von Affekten (apatheia) hinauslaufen, wie es später Epikur empfiehlt: Man solle sich, um jede Störung durch Unlust zu vermeiden, die Affekte ganz abgewöhnen. Aristoteles zieht eine Lebenskonzeption der apatheia in der EE in Erwägung (1222a4), wo er schwankt, ob der Tapfere berechtigte Furcht empfindet oder ganz frei von ihr ist (1228 b27 ff.). Er verwirft das Ideal deswegen, weil als seine Kehrseite mit den negativen auch die positiven Affekte und die Freude am Lebensvollzug verschwinden. Wenn der Tapfere frei von Furcht ebenso wie Zuversicht ist, bedeutet das ja, dass ihm der Verlust seines Lebens und also auch sein Leben selbst gleichgültig ist. Mit diesem ersten Vorschlag gelingt es also kaum, die Tätigkeiten der Tapferkeit als Realisierung der eudaimonia zu erweisen. Außerdem spricht gegen diese Lösung die Bedeutung, die die Rede von der Mitte in 3.b) (ii) hat, wonach der Affekt dann das Mittlere trifft, wenn er dem Sachverhalt, auf den er sich bezieht, angemessen ist. In diesem Sinn betont Aristoteles, es gebe Übel, die so groß sind, dass von Menschen nicht erwartet werden kann, ihnen standzuhalten, und es gebe andere immer noch große, aber im Bereich des menschlichen Maßes bleibende Übel, denen der Tapfere zwar standhält, die er aber gleichwohl fürchtet (1115 b 11 ff.). Dem Tapferen erscheint das furchtbar, was in Wahrheit zu fürchten ist (1229 b26). Tod und Verletzungen sind für den Tapferen schmerzlich und nicht gewollt (1117 b7 ff.), und daher wäre es unangemessen, würde er sie nicht fürchten. Zweite Lösung. Dann liegt es nahe, die Empfehlung der Tapferkeit bzw. des tapferen Handelns im Sinne von 3.b) (iii) zu verstehen. Die Mitte der aretē hätte dann mit der Weise zu tun, wie jemand Furcht empfindet, wo sie berechtigt ist, so nämlich, dass er trotzdem noch für das richtige, ver-
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nunftgemäße Handeln offen ist. Im Sinn der Kritik am Ideal der apatheia könnte man diese Lebensweise empfehlen als Mitte zwischen der Aufgabe des eigenen Seins und dem distanzlosen Aufgehen in diesem. Doch diese Empfehlung ist vorläufig noch nicht hinreichend begründet. Die entsprechende Handlungsweise scheint nur eine Voraussetzung der eudaimonia zu sein, erklärt hingegen noch nicht, wie ein vernunftgeleitetes Standhalten vor einem großen Übel, das die Freude an der Lebenstätigkeit hemmt, ein konstitutiver Bestandteil der eudaimonia sein kann. Der Gedanke, mit dem Aristoteles die Unlust der Furcht in die Konzeption der eudaimonia einbaut, geht denn auch über das bisher Gesagte hinaus. Der Tapfere, so heißt es in EN 1115 b11 ff., werde die für menschliche Verhältnisse Furcht erregenden Dinge in angemessener Weise und gemäß dem orthos logos fürchten, aber er werde sie aushalten um des kalon (das Edle, das sittlich Gute) willen, das das Ziel der aretē sei. Das kalon ist das, was bewirkt, dass der unlustbesetzte, den Lebensvollzug hemmende Affekt der Furcht, obwohl angemessen, in den Hintergrund tritt. Er wird bei demjenigen, der die entsprechende aretē erworben hat, von einer Lust zweiter Stufe überlagert, der Freude daran, das kalon zu tun (1115 b10 ff., 1117 b7 ff., 1105 a1). (iii) Die Bedeutung des kalon. Das Wort kalon lässt sich schwer übersetzen. Es ist ähnlich wie agathon ein allgemeines Wertwort, das sich in seiner Bedeutung teilweise mit diesem überschneidet, teilweise andere Bedeutungsnuancen hat, die im Übrigen unter den Interpreten strittig sind. Diejenigen, die das Wort mit „das Edle“ wiedergeben, können sich darauf berufen, dass manche Passagen, in denen Aristoteles den Tapferen beschreibt, an die Ideale des Heldenruhms und der Kriegerehre erinnern, wie sie in der archaischen Epoche vorherrschten. Solche Vorstellungen könnten, wie wir auch unten in der Beschreibung des großmütigen und des freigebigen Mannes sehen werden, durchaus bei Aristoteles noch mitschwingen und vielleicht auch in seine inhaltlichen Vorstellungen einfließen.10 Der Vorteil dieser Auffassung des kalon ist, dass sie einsichtig macht, wieso das kalon genügend Motivationskraft hat, gegen die berechtigte Furcht vor großen Gefahren anzukommen. Die Lebensgefahr ist die größte Gefahr überhaupt, und entsprechend muss das Motiv, ihr standzuhalten, enorme Kraft und Attraktivität besitzen. Ewigen Heldenruhm zu erwerben, ist ein Motiv, das hier geeignet scheint. Der Nachteil dieses Verständnisses ist, dass Aristoteles nicht mehr in der heroischen Epoche lebt und sich die Bedeutung der Wertbegriffe unter den Bedingungen des Zusammenlebens in der Polis verschoben hat. 10 Dass wir die Griechen nicht verstehen können, wenn wir uns nicht klarmachen, dass diese Vorstellungen tief verankert sind, betont Urmson 1988, 1 f.
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Darauf können sich diejenigen stützen, die das kalon mit dem sittlich Guten gleichsetzen. In der Tat gibt es bei Aristoteles (wie auch sonst in der griechischen Literatur) stehende Redewendungen, die das kalon mit dem prepon (was sich gehört) zusammenbringen sowie mit dem hōs dei (wie man soll), das uns schon begegnet ist. Diese Ausdrücke entsprechen ungefähr unserer Rede vom moralisch Richtigen, von dem, was die gesellschaftlichen Sitten fordern.11 Dabei ist im griechischen Begriff des kalon der intersubjektive oder soziale Aspekt wichtig, die Wertschätzung oder Ehre, die man erlangt, wenn man entsprechend handelt. Dass dies für Aristoteles die zentrale Bedeutung des kalon darstellt, könnte eine Stelle in der EE nahe legen (1249 a6 ff.), wo Aristoteles die Bedeutung von agathon und kalon auf folgende Weise unterscheidet: ein agathon, ein Gut, ist etwas, das um seiner selbst willen gewünscht wird, wie beispielsweise die Gesundheit. Dieses Gut kann jedoch nicht als kalon bezeichnet werden; agathon und zugleich kalon sind vielmehr nur die Handlungen gemäß der aretē, weil sie als Einziges nicht nur in sich gewollt, sondern außerdem lobenswert bzw. ehrenvoll sind. Was unsere Frage nach dem Motiv für die tapfere Handlung angeht, wäre dies also der Wunsch nach Lob oder Ehre.12 Dieses Motiv ist vielleicht etwas schwächer als der Wunsch nach ewigem Heldenruhm. Aber da für die Griechen das Leben wesentlich ein Leben in der Polis ist, könnte es immer noch stark genug sein. Dennoch ist diese Interpretation des kalon unzureichend. Denn erstens werden wir sehen, dass nicht alle aretai, die Aristoteles als Bestandteil der einen der beiden Formen von eudaimonia empfiehlt, sozialen Charakter haben. Zweitens und wichtiger aber hatte Aristoteles bereits in I 3 betont, dass die Ehre sekundär gegenüber der aretē ist (1095 b30); man will nicht die Ehre als solche, sondern man will von den Guten, die ihrerseits die aretē ausüben, geehrt werden als Bestätigung dafür, dass man aretē besitzt und praktiziert. Weiterhin war der Zielpunkt der ethischen Handlung, das Mittlere bzw. kalon, nicht durch Bezug auf moralische Kriterien definiert, sondern sollte dort liegen, wo der orthos logos es bestimmt. Die phronēsis, die den orthos logos zu treffen in der Lage ist, ist aber definiert als die Fähigkeit, mit Bezug auf die eudaimonia gut zu überlegen. In der Tat nennt Aristoteles die eudaimonia manchmal das, was am meisten kalon ist, obwohl er in I 12 eudaimonia und aretē dadurch unterschieden hatte, dass 11 Dass kalon immer „richtig“ bedeutet, vertritt Owens 1981. Dass Aristoteles nicht meint, das Handeln der ethischen aretē sei als bloße moralische Pflicht wählenswert, argumentiert Kraut 1995. 12 Dazu Rogers 1993 II. Im Englischen wird kalon manchmal mit admirable übersetzt. Jedoch scheint klar, dass der Aspekt der Schätzung für Aristoteles sekundär gegenüber dem Eigenwert der Handlung ist (siehe 1095 b28 ff.).
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letztere Gegenstand von Lob ist, die eudaimonia hingegen nicht, weil sie etwas Göttliches und Ursprung aller Güter ist. Wenn die eudaimonia ebenso wie das höchste agathon auch das höchste kalon ist, kann kalon hier also weder „lobenswert“ noch „moralisch gut“ bedeuten, sondern nur einen bestimmten Aspekt des höchsten Guts zum Ausdruck bringen.13 Es liegt dann nahe, es in dem ontologisch-ästhetischen Sinn zu verstehen, in dem es schon bei Platon das Gute unter dem Gesichtspunkt seines Glanzes, seiner Attraktivität meint. Auch in der EN wird der Ausspruch erwähnt, mit dem die EE einsetzt, die eudaimonia sei das Beste, Schönste (kalliston) und Lustvollste von allem (1099 a24 ff.). Das Beste und Schönste ist, wie wir erst im 10. Buch genauer sehen werden, ein Leben der reinen und beständigen Aktualität, das Menschen nur annähernd erreichen können, während das höchste göttliche Seiende, der unbewegte Beweger, die vollkommene eudaimonia im dauernden Tätigsein realisiert. Er hat die vollkommene eudaimonia, weil seine Tätigkeit ununterbrochen ohne Hindernisse lustvoll und absolut wünschenswert ist; denn er ist frei von Materie, aus der die Widerstände, die die menschliche Tätigkeit unterbrechen, stammen. Eine Handlung um des kalon willen zu tun heißt dann zu handeln, um sich möglichst weit an eine beständige Vernunfttätigkeit nach Art des höchsten Seienden anzunähern. Diese ontologisch-metaphysische Interpretation des kalon passt zwar weniger gut zu unserem Interesse, die aristotelische Tugendlehre für die heutige Moralphilosophie fruchtbar zu machen. Sie scheint aber die einzig konsistente Interpretation der Auffassung zu sein, der ethisch Gute handle um des kalon willen, auch die einzige Interpretation, die die starke Betonung der Tätigkeit gegenüber der hexis erklärt. Fragen wir zur Bestätigung dieser Deutung, ob der Tapfere als jemand beschrieben werden kann, der das kalon dadurch realisiert, dass er die ununterbrochene Tätigkeit des höchsten Seienden nachahmt. Er läuft ja gerade Gefahr, sein Leben zu verlieren, also den Abbruch des Tätigseins zu erleiden. Da Aristoteles betont, es sei nicht ein Zeichen von Tapferkeit, wenn man stirbt, um einem Übel wie Armut oder Liebeskummer zu entgehen, muss man das Gemeinte vielleicht so ausbuchstabieren, dass der Krieger unter Todesgefahr die eigene Form der eudaimonia (und vielleicht auch die der Polis) verteidigt, also das kalon im Ganzen zu retten versucht. Wie Aristoteles selbst sagt, gibt es nicht bei jeder aretē eine Freude am Tätigsein (auf der ersten Stufe); in diesen Fällen stellt sich nur Freude ein, wenn das Ziel (zweiter Stufe), das kalon erreicht wird (1117 b15 f.). Letzteres kann auf zwei Weisen realisiert werden: Entweder der Tapfere wendet 13 Das Folgende stützt sich auf die Interpretation des kalon in der EE durch Buddensiek, Kap.5.
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die Gefahr ab, womit er auf der ersten Ebene unlustvoll handelt, jedoch auf der zweiten Ebene das kalon tut und außerdem bewirkt, dass er sein Tun des kalon auch in Zukunft fortsetzen kann. Oder er verliert sein Leben, bewahrt damit aber die Einheit seines Lebens als einer durchgängigen Realisierung des kalon, während er durch Fliehen der Gefahr seiner Ausrichtung auf das kalon untreu würde und so in innere Konflikte geriete (dazu unten Kap. IX 3.). (iv) Tapferkeit im erweiterten Sinn. Es bleibt die weitere Frage, warum die Tapferkeit nur auf größte Gefahren bezogen wird und nicht auf alle Arten von Gefahren. Aristoteles selbst führt in III 11 weitere Arten der Tapferkeit an, die er allerdings als abgeleitet bezeichnet, weil ihr Motiv nicht das kalon, sondern die Vermeidung von Ehrverlust oder von Strafe u. Ä. ist. Ein erweiterter Begriff der Tapferkeit findet sich in der Freundschaftsabhandlung. In IX 4 redet Aristoteles wenn nicht von Tapferkeit, so doch von Feigheit mit Bezug auf das Handeln allgemein und nicht nur in lebensbedrohlichen Situationen. Die Schlechten, so heißt es dort (1166 b8 ff.), unterlassen aus Feigheit und Trägheit, das zu tun, was ihnen das Beste zu sein scheint. Feigheit ist dann umfassender verstanden als eine Haltung übermäßiger Ängstlichkeit, die einen Menschen daran hindert, die Verfolgung seiner Ziele durchzuhalten. Sieht man Feigheit und Trägheit, wie Aristoteles es hier tut, zusammen, könnte man sagen, dass sie eine Haltung zu beliebigen Faktoren (und nicht nur Gefahrensituationen) darstellen, die unser Streben bzw. Handeln behindern. In diesem weiten Verständnis wäre Tapferkeit so etwas wie Ausdauer oder Standhaftigkeit in der Verfolgung unserer Ziele und Wünsche im Angesicht von Widerständen beliebiger Art. Die Aktualisierung dieser Standhaftigkeit müsste ebenfalls durch die Motivationskraft des kalon im ästhetisch-metaphysischen Sinn zu erklären sein. In der Tat erläutert Aristoteles das gute Tätigsein so, dass es die Einheit der Person mit sich bringt, die Selbstübereinstimmung über die Lebenszeit hinweg. (v) Zorn (IV 11). Der Affekt des Zorns kommt mit dem der Furcht darin überein, dass er sich auf ein Übel bezieht, und zwar darauf, dass man selbst oder Angehörige von anderen beschimpft oder missachtet werden. Die beiden extremen Reaktionsweisen wären hier blinder Zorn, der sofort in Rache übergeht, oder gar nicht zornig zu werden und sich nicht zu wehren. Für die mittlere Haltung fehlt, wie Aristoteles sagt, der Name; er nennt sie daher Sanftmut oder Milde (praotēs), obwohl das eher der Seite des Nicht-Zürnens nahe kommt. Der Affekt des Zorns wirft ähnliche Probleme auf wie der der Furcht. Da es Anlässe gibt, unter denen Zorn angemessen ist, und da Zorn ein Affekt ist, der auf ein Übel reagiert und daher mit Unlust einhergeht, unterbricht oder hemmt er den Vollzug des eigenen Lebens in lustvollen Tätigkeiten. Wie Aristoteles die aretē der Milde in die
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eudaimonia integrieren will, ist dem Text nicht so deutlich zu entnehmen wie im Fall der Tapferkeit. Die Hinweise schwanken wie häufig zwischen den oben unter 3.b) erläuterten Möglichkeiten (i) und (iii). Im Sinn von (i) wird die Mitte in einem affektiven Kontinuum empfohlen, weil man durch zu häufiges und zu heftiges Zürnen sich selbst und anderen beschwerlich ist (1126 a25 f.); wer andererseits gar nicht zürnt, hält nichts auf sich und ist wie ein Sklave (1126 a8). Im Sinn von (iii) besteht die aretē bezüglich des Zorns darin, auf eine Weise zu zürnen, die offen für die Vernunft bleibt und zu Handlungen führt, die der Überlegung folgen. Anders als bei der Tapferkeit ist hier nicht explizit die Rede von einer positiven Motivation, dem Ziel des kalon, das die Unerwünschtheit der Situation und den hemmenden Affekt auf zweiter Stufe überlagert. Der Hinweis, Zorn sei beschwerlich und behindere das überlegte Handeln, scheint eher zu besagen, dass diese Haltung als Voraussetzung des vernunftgemäßen Tätigseins erforderlich ist. Dann wären die Tätigkeiten der ethischen aretē nicht immer Bestandteil der eudaimonia, sondern manchmal nur Vorstufen. Diese Interpretation ist allerdings insofern problematisch, als das Tätigsein gemäß der ethischen aretē selbst eine Form der eudaimonia sein sollte. Doch vielleicht ist im Text auch eine positive Motivation angedeutet. Sie stammt allerdings eher aus alltäglichen Wertvorstellungen, die bei Aristoteles neben dem metaphysischen Sinn des kalon immer mitspielen, aus dem Ideal des freien und großen Mannes, dessen Lebensweise das kalon verkörpert und daher als Motivation zweiter Stufe das Hemmende des Zorns überwindet.
c) Mäßigkeit (III 13–15) Aristoteles erläutert in III 13 den Bereich der Mäßigkeit, in III 14 wird ihr mittlerer Charakter dargelegt, und III 15 enthält Bemerkungen zum unterschiedlichen Willentlichkeitssgrad von Tapferkeit und Mäßigkeit. Die aretē der Mäßigkeit bezieht sich anders als die meisten aretai nicht auf einen Affekt, sondern auf die Begierde (epithymia), den Bereich der Lust. Aristoteles unterscheidet Arten der Lust, um den Bereich genauer einzugrenzen. Die Mäßigkeit bezieht sich nicht auf seelische Lust, sondern auf Lust im Bereich der Sinne, und auch hier nicht auf alle Arten, nämlich nicht auf die Lust, die durch Sehen, Hören und Riechen entsteht, sondern nur auf diejenige, die mit Tasten und Schmecken zu tun hat. Es geht also um den Bereich der sinnlichen Begierde, derjenigen Triebe, die wir mit den Tieren teilen (1118 a25). Aristoteles differenziert weiterhin zwischen natürlichen, allen gemeinsamen Begierden wie Hunger und Durst und zusätzlichen individuenspezifischen Begierden wie dem
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Begehren bestimmter Speisen (1118 b8 ff.). Diese zweite Art der Begierden benutzt Aristoteles, um das Zustandekommen eines übermäßigen Begehrens zu erklären.14 Bei natürlichen Begierden verschwindet die Begierde mit ihrer Befriedigung, während spezielle Begierden auf die Lust, auf angenehme Erfahrungen gerichtet sind, von denen ein Übermaß gesucht werden kann. Die mittlere Haltung besteht darin, dieses Übermaß zu meiden. Das Zuwenig kommt hier, wie Aristoteles sagt, kaum vor, da wir als natürliche Lebewesen nach Lust streben (1119a10ff.). Wer zu viel oder die falsche Lust sucht, hat die kakia der Unmäßigkeit (akolasia). Wer die aretē der Mäßigkeit besitzt, begehrt die richtigen Dinge und freut sich an den richtigen Dingen. Stellen wir wiederum die Frage, welchen Beitrag diese aretē zur eudaimonia leistet. Er scheint von anderer Art zu sein als derjenige der Tapferkeit. So bekundet Aristoteles mehr Verständnis für den Feigen, der in einer Gefahrensituation, die er nicht absichtlich gewählt hat, von Furcht überwältigt flieht, als für den Unmäßigen, der das Angenehme jeweils mit Absicht sucht (III 15). Im Unterschied zu Tapferkeit und Milde, die sich auf unlustbesetzte Affekte und das Leben hemmende Situationen beziehen, ist die Mäßigkeit eine aretē, die sich auf Gewünschtes bezieht. Die aretē ist erforderlich, insofern ein Übermaß dieses Gewünschten, des sinnlich Angenehmen, langfristig insbesondere der Gesundheit schaden kann, die eine der Bedingungen für das Tätigsein gemäß der aretē ist. Eindeutiger noch als im Fall des Zorns ist also hier der Beitrag der aretē lediglich einer der Nützlichkeit für die eudaimonia; die Mäßigkeit gehört nicht zu denjenigen aretai, in deren Ausübung die eine der beiden Formen der eudaimonia, die eupraxia besteht. Das ergibt sich im Übrigen auch daraus, dass sie im maßvollen sinnlichen Genießen, also einem Erleben, besteht und nicht im Vollziehen bestimmter Tätigkeiten. Man könnte bei der Mäßigkeit ähnlich wie schon bei der Tapferkeit überlegen, ob sie nicht in einem erweiterten Sinn verstanden werden könnte. Ein solcher weiter Begriff von Mäßigkeit würde verlangen, dass wir uns weder von sinnlichen Begierden noch von anderen Wünschen blind bestimmen lassen, sondern jeweils eine überlegende Distanz zu ihnen einnehmen, also reflektiert mit ihnen umgehen.
d) Die aretai im Umgang mit Geld und Ehre Aristoteles beschreibt mehrere Tugenden, die sich auf den Umgang mit Geld und Ehre beziehen, die ich nicht im Einzelnen durchgehen werde. Es fällt zunächst auf, dass er hier nicht Affekte benennt, die zugrunde liegen, 14
Diese Interpretation gibt Young 1988, 532.
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sondern nur Bereiche des Handelns und entsprechende Handlungsdispositionen. Im Umgang mit Geld geht es insbesondere um die richtigen Haltungen beim Erwerb und der Verwendung von Vermögen. Ich greife die aretē der Freigebigkeit (Großzügigkeit) heraus, weil hier der Bezug der aretē auf das kalon besonders deutlich formuliert wird. Die Freigebigkeit bezieht sich auf das Ausgeben des Vermögens und besteht in der richtigen Mitte zwischen Geiz und Verschwendung. Das Argument gegen Verschwendung erweist die Freigebigkeit zunächst als Mittel zur eudaimonia; das Vermögen sollte nicht vergeudet werden, da es zu den äußeren Gütern gehört, die Bedingung für die eudaimonia sind (1120 a1 ff.). Das Argument gegen das andere Extrem, den Geiz, sowie die Erläuterung der aretē der Freigebigkeit operiert dagegen nicht mit dem Motiv des Nutzens, sondern mit dem des kalon. Die Ausübung der Freigebigkeit gehört zur Realisierung des Lebens der ethischen aretē. Das zeigt sich schon daran, dass Aristoteles das richtige Empfangen für weniger wichtig hält als das richtige Geben – das Empfangen ist passiv, während die eudaimonia ja in der Tätigkeit gemäß der aretē bestehen sollte (1120a11ff.). Aristoteles wiederholt in diesem Zusammenhang explizit seine allgemeine These, dass die Handlungen der aretē kalon sind und um des kalon willen getan werden; sie sind in sich wünschenswert und lustvoll, in ihrer Ausübung realisieren wir die für Menschen mögliche Weise der eudaimonia im dauerhaften lustvollen Tätigsein. Angewendet auf den Freigebigen: Er gibt deswegen, weil er dadurch das kalon tut und richtig handelt (1120 a23 ff.), und er gibt mit Freude oder zumindest ohne Bedauern, denn wenn es ihm um das, was er gibt, Leid täte, wäre ihm der Besitz wichtiger als das kalon. Aristoteles konstatiert, dass Menschen von Natur aus eher zum Geiz neigen, womit wir hier ähnlich wie bei der Tapferkeit eine Zweistufigkeit von Motiven haben. Freigebigkeit bedeutet nicht das Fehlen einer affektiven Bindung an den eigenen Besitz; vielmehr behält dieses Motiv auf der ersten Stufe sein Recht, muss jedoch in einer Weise gewöhnt werden, dass das Motiv des kalon, das sich im Handeln gemäß dem richtigen logos äußert, nicht behindert wird. Wenden wir uns von den aretai im Umgang mit Geld den aretai zu, die auf die Ehre bezogen sind. Hier greife ich nur das bekannteste Beispiel heraus, die megalopsychia (Großgesinntheit, Hochsinn, Hochgesinntheit). Die Großgesinntheit ist die richtige Haltung zum größten der externen Güter, zu Ehre und Unehre; der Grossgesinnte hält sich für der Ehre wert (1123 b19 ff.). Geehrt wird man idealiter dafür, dass man in der Polis gut handelt. Deswegen muss der Großgesinnte jemand sein, der gemäß der aretē handelt, und zwar gemäß jeder aretē (1123 b28 ff.), so dass die Großgesinntheit so etwas wie ein Schmuck der aretai ist (1124 a1 f.). Anders als bei den übrigen aretai gibt Aristoteles hier eine detaillierte Beschreibung
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des Benehmens des Großgesinnten, die für uns allerdings so merkwürdig erscheint, dass manche Interpreten sich fragen, ob die Beschreibung ernst zu nehmen oder nicht eher eine Karikatur dessen ist, was der gebildete Grieche sich unter dem „edlen Mann“ vorstellt.15 Er bewegt sich langsam, hat eine tiefe ruhige Stimme; er unternimmt wenig, aber wenn er etwas unternimmt, dann Großes; er ist offen und wahrhaftig, weil er auf andere herabsieht (1124 b29); er denkt, da er überlegen sein will, gern an die, denen er Gutes getan hat, aber nicht an die, von denen er Gutes erfahren hat; entsprechend bittet er auch ungern um etwas; er wundert sich auch nicht, da nichts ihm groß erscheint. Was unsere Leitfrage betrifft, könnte man hier den Eindruck haben, dass die Empfehlung der Tätigkeit gemäß dieser aretē mehr den Vorstellungen damaliger Bürger gehobener Abstammung entnommen ist und weniger der philosophischen Konzeption der Realisierung des kalon in ethischen Tätigkeiten. 5. Zusammenfassung und Bewertung Die Lehre von der ethischen aretē enthält wichtige Einsichten, aber auch Konfusionen. Die wichtige Seite ist wie immer die handlungstheoretische. Während die spätere praktische Philosophie oft mit einem verkürzten punktuellen Handlungsmodell arbeitet, geht Aristoteles mit Recht davon aus, dass wir nicht einfach Vernunft und einzelne Wünsche und Gefühlserlebnisse haben, sondern dass wir Organismen mit natürlichen Anlagen sind, die sich unter wiederholten gleichartigen Einwirkungen von außen zu dauerhaften Dispositionen verfestigen. Entsprechend sind Einzelhandlungen keine isolierten Vorkommnisse, sondern sind zu verstehen als Aktualisierungen solcher Dispositionen. Die ethischen hexeis sind spezieller solche Dispositionen, mit denen wir auf gegebene äußere Sachverhalte passiv-affektiv und zugleich aktiv-strebend reagieren (mit Ausnahme der Mäßigkeit, die nicht auf Sachverhalte, sondern Gegenstände reagiert, und nicht mit Affekten, sondern Begierden zu tun hat), und zwar in einer Weise, die immer Lust oder Unlust enthält. Dies zu sehen ist wichtig für Fragen der Erziehung ebenso wie der Zurechnung und Verantwortung (wie wir in Kapitel V sehen werden). Zu dieser Grundtatsache, dass wir das Leben in der Verflechtung von Passivität und Aktivität, also in Abhängigkeit von äußeren Umständen und daher potentiell auch immer gegen Widerstände vollziehen, kommt eine zweite, nämlich die der Mannigfaltigkeit der auf uns einwirkenden Sachverhalte, der die Vielfalt der affektiven Bereiche entspricht. Sie wirft, wie man heute sagen würde, die Frage nach 15
Eine Zusammenfassung dieser Reaktionen bei Hardie 1995, 65 f.
Zusammenfassung und Bewertung
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der Integration oder Einheit der Person auf. Das gilt in vereinfachter Form auch für den ersten Kontext, da hier Vernunft und Affektivität im Ganzen in Einklang gebracht werden müssen. 16 Während diese Beobachtungen ebenso treffend scheinen wie ihre handlungstheoretische Berücksichtigung unabweisbar ist, erwies sich die Lehre von der aretē als einer Mitte, die einen bestimmten Umgang mit den genannten Tatsachen des menschlichen Lebens empfiehlt, als problematisch. Sie krankt einerseits daran, dass sie verschiedenartige Probleme gleichzeitig zu lösen versucht, andererseits daran, dass sie wenig Erklärungswert hat. Einen solchen besitzt sie am ehesten für diejenigen aretai, die nicht eigentlich Bestandteil der eudaimonia sind, sondern nur ihre Voraussetzungen sichern, also Mäßigkeit und Tapferkeit im oben vorgeschlagenen weiten Sinn des Durchhaltens der eigenen Ziele. Diese beziehen sich auf verschiedene Weise auf den Umgang mit Gewünschtem, führen also weniger Motivationsprobleme mit sich17 wie diejenigen aretai, die das Verhalten zu Hindernissen für den Vollzug der Tätigkeiten der eudaimonia betreffen. Für Letztere war das Motiv, das Unlust auf der unteren Ebene der Affekte aufwiegen sollte, das kalon, das auf der zweiten, reflektierten Ebene erstrebt wird. Wenn dieses die eudaimonia als das letztlich Wünschenswerte ist, welches das zeitlich ebenso wie in seiner natürlichen Ausstattung komplexe Leben zu einem macht, dann gilt auch für das kalon, dass es uns in seinem konkreten Inhalt nicht vollständig vorgegeben ist. Es übt seine Attraktivität und ordnende Kraft vielmehr als eine Art Fluchtpunkt (skopos) aus, auf den hin jede einzelne Handlung zielt. Eine Handlung, die das kalon oder meson trifft, ist dann genau genommen nicht Mittel zur eudaimonia oder Bestandteil von ihr, sondern eine Artikulation des kalon für die jeweilige Situation (vgl. oben S. 56). Wie wir gesehen haben, trägt dann die Rede von der Mitte nichts bei, denn die Realisierung des kalon in der Situation ist nicht aufzufinden als die Mitte zwischen etwas, sondern liegt dort, wo der orthos logos, also die praktische Überlegung sie bestimmt. Allerdings war zu beobachten, dass Aristoteles in der Darstellung der einzelnen aretai neben der philosophischen Bestimmung des Mittleren und Richtigen auch inhaltliche Vorstellungen anführt, die mit dem alltagssprachlichen Begriff des kalon zu tun haben, der das bezeichnet, was der „Edle“ tut, was in der Polis ehrenvoll ist. Da diese nicht einfach die faktisch geltenden, sondern gereinigte Vorstellungen sind, könnte man vermuten, dass Aristoteles die Konkretisierung des kalon vielleicht so vornehmen würde, dass die alltäglichen Wertüberzeugungen im Hinblick auf 16 17
Dazu Wolf 1999a, Kap.2. Warum auch sie das in gewisser Weise tun, werden wir in Kap. VII sehen.
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Die ethische aretē (II–IV 15)
den vagen skopos des kalon überprüft werden. Diese Frage der Bestimmung der richtigen Mitte im Handeln müssen wir anhand der Lehre von der phronēsis in Buch VI weiterverfolgen. Nachdem sich bisher Handlungen der ethischen aretē deswegen als empfehlenswert erwiesen haben, weil sie entweder instrumentell oder als deren konkrete Artikulation auf die eudaimonia, das individuelle gute Leben bezogen sind, scheint die aristotelische Lehre von der ethischen aretē als mesotēs mit moralischen Fragen, wie sie dem heutigen Interesse am Tugendbegriff zugrundeliegen, nichts zu tun zu haben. Das ist in einer Hinsicht richtig, in anderer muss es präzisiert werden. Zunächst ist für Aristoteles das individuelle Leben ein wesentlich politisches, und daher kann die eudaimonia nur im Kontext der Polis stattfinden. Viele Typen von Affekten, die den ethischen aretai zugrundeliegen, sind auf andere Menschen bezogen, wie Zorn, Mitleid, Scham, Neid usw. Dieser Bezug der ethischen aretē auf andere wird jedoch erst im Rahmen des allgemeinen Gerechtigkeitsbegriffs in Buch V aufgenommen (siehe Kap. IV). Die Lehre von der Mitte hingegen ist für die Moraltheorie wenig relevant. Nicht nur ist der Bezugspunkt der Mitte ausschließlich das Leben der Person, der möglichst ungehinderte (lustvolle) Vollzug der individuellen Existenz, ihre Einheit über Zeit hinweg ebenso wie bezüglich der inneren und äußeren Komplexität. Auch dort, wo die mesotēs-Lehre bezüglich der Affekte im wörtlichen Sinn verständlich war, gibt die Vorstellung von einer Mitte für die moralische Beurteilung von Einstellungen und Handlungen keine plausiblen Hinweise. So könnte man es gerade besonders bewundernswert finden, wenn jemand über das Mittlere hinaus hilft oder gibt. Was die moralische Bewertung angeht, könnte also durchaus eine extreme Haltung wertvoller sein als eine mittlere. Aber selbst wenn wir uns auf den griechischen Standpunkt stellen und eine solche moralische Haltung als unvereinbar mit dem Persönlichkeitsideal des freien Mannes ablehnen, bleibt der grundsätzliche Einwand, dass die moralische Frage nicht lautet, ob die handelnde Person in einer guten Verfassung ist, sondern ob die Adressaten der Handlung gerecht oder richtig behandelt werden. Dennoch gibt es einen Punkt, an dem sich Charakterlehre und Moral berühren. Zur Moral gehört anders als zum Recht die Vorstellung, dass sie von Personen ausgeübt wird, die aus Moral handeln, die moralisch motivierte Menschen sind. Es ist diese Seite der Verankerung der Moral im Charakter von Personen, die von der Tugendkonzeption von Moral erfasst wird und anders nicht erfasst werden kann.18 Die Tugendmoral ist dann nicht eine Alternative zu einer Moralkonzeption, die auf Pflichten oder Rechten aufbaut, sondern eine notwendige Ergänzung. 18
Ähnlich Tugendhat 1993, 256; siehe auch Wolf 1999 c.
IV. Gerechtigkeit (Buch V) Die moralische Bedeutung der Lehre von der ethischen aretē, der Bezug der aretē auf andere Menschen bzw. auf gesellschaftliche Normen, wird, wie schon angekündigt, erst in Buch V unter dem Titel der Gerechtigkeit behandelt. Für Aristoteles umfasst nämlich der Begriff der Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn alle einzelnen aretai unter dem Aspekt, dass sie bzw. die Handlungen, in denen sie sich äußern, auf andere Menschen bezogen sind. Er unterscheidet davon die Gerechtigkeit im speziellen Sinn, die eine einzelne aretē auf derselben Ebene wie die bisher behandelten konkreten aretai ist. Der Text stellt die Interpretation vor besondere Schwierigkeiten. Das liegt nicht nur daran, dass er teilweise in keinem guten Zustand ist, Wiederholungen, Unstimmigkeiten und unmotivierte Übergänge enthält.1 Hinzu kommen zwei sachliche Schwierigkeiten. Die erste besteht darin, dass Aristoteles die Gerechtigkeit in seine Lehre von der aretē als einer mittleren hexis einzupassen versucht, obwohl sie in Wirklichkeit von anderer Struktur ist, und diese nicht durchführbare Absicht hat einige begriffliche Konfusionen zur Folge. Die zweite Ursache für Unklarheiten liegt darin, dass Aristoteles hier offenbar als Erster ein komplexes Begriffsfeld zu ordnen versucht und sich über die geeignete Einteilung noch nicht ganz sicher ist, wie die für ihn ganz untypische Umständlichkeit nahe legt.2 Der Text enthält sehr viele Unterscheidungen, die teilweise variierend benannt werden und deren Verhältnis zueinander nicht immer deutlich wird. Daher ist, was Aristoteles hier leistet, zwar interessant und anregend, aber anders als die übrigen Teile der EN nicht so ausgereift, dass wir in heutigen Untersuchungen direkt davon Gebrauch machen könnten. Das V. Buch hat aus diesen Gründen keine neuen Übersetzungen und Kommentierungen erfahren. V 1–9 enthält eine einigermaßen zusammenhängende Abhandlung, während der Rest weniger klar strukturiert ist. Nach einigen Vorbemerkungen zu Thema und Methode in V 1 führt Aristoteles in V 2 die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit im allgemeinen und Gerechtigkeit im speziellen Sinn ein. Die allgemeine Gerechtigkeit wird in V 3 behandelt, während V 4–5 den speziellen Begriff der Gerechtigkeit einführt und ihre verschiedenen Unterarten benennt. Die erste Unterart der Gerechtigkeit 1 2
Siehe Hardie 1980, 184. Bien 1995, 145f.
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Gerechtigkeit (Buch V)
im speziellen Sinn, die Verteilungsgerechtigkeit, ist das Thema in V 6 und V 7 bis 1131 b24. Die zweite Unterart, die ausgleichende Gerechtigkeit, welche die vertraglichen Beziehungen zwischen Menschen regelt, wird im weiteren Verlauf von V 7 erläutert. In V 8 geht es um die reziproke Gerechtigkeit, von der in der Literatur strittig ist, ob es sich um eine eigenständige Unterart handelt. V 9 fasst die Ergebnisse im Hinblick auf die Untersuchung der Gerechtigkeit als mittlere Haltung zusammen. V 14 erörtert das Verhältnis des Begriffs der Gerechtigkeit zu dem der Billigkeit und könnte so noch als Fortführung der begrifflichen Einteilungen betrachtet werden. V 10–13 und 15 enthalten Nachträge, die keine klare Systematik aufweisen. Die Interpretation folgt ungefähr dem beschriebenen Aufbau des Textes. Zur besseren Übersicht seien hier die Unterarten der Gerechtigkeit schematisch dargestellt: Gerechtigkeit dikaiosynē
im allgemeinen Sinn
im speziellen Sinn
ausgleichende Gerechtigkeit diorthōtikē/epanorthōtikē
(reziproke Gerechtigkeit) (antipeponthos)
Verteilungsgerechtigkeit dianemetikē
im willentlichen Rechtsverkehr
im unwillentlichen Rechtsverkehr
verborgen
gewaltsam
1. Thema und Methode (V 1) Aristoteles leitet die Gerechtigkeitsabhandlung als Fortsetzung der Untersuchung der einzelnen aretai ein (1129 a3–5). Gefragt werden soll, auf welche Handlungen sich diese aretē bezieht, was für eine Art von Mitte die Gerechtigkeit ist und zwischen welchen Extremen das Gerechte die Mitte ist. Diese Leitfrage umklammert den Text bis V 9, wo die Antwort zusammengefasst wird. Ehe er die Frage aufnimmt, macht Aris -
Thema und Methode (V 1)
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toteles einige nicht sehr durchsichtige methodische Vorbemerkungen (1129 a5–26). Gerechtigkeit ist wie jede ethische aretē eine hexis, und zwar diejenige hexis, durch die man disponiert ist, das Gerechte zu wünschen und zu tun. Vielleicht in Gedanken an begriffliche Spielereien, die Platon in seinen Dialogen vorführt, stellt Aristoteles klar, dass sich der Begriff der hexis logisch anders verhält als der Begriff der Wissenschaft (epistēmē) oder Fähigkeit (dynamis).3 Während derjenige, der eine technē oder epistēmē beherrscht, sie zu ihrem spezifischen ergon, aber auch dem Gegenteil verwenden kann, der Arzt beispielsweise mit seinem medizinischen Wissen Gesundheit ebenso wie Krankheit bewirken kann, ist eine Charakterdisposition so definiert, dass sie nur eine Richtung der Aktualisierung zulässt. Der gerechte Charakter einer Person äußert sich wesentlich in gerechten Handlungen; wer ungerechte Handlungen tut, hat nicht die gute hexis, die aretē der Gerechtigkeit, sondern die schlechte Haltung, die kakia der Ungerechtigkeit. Vielleicht betont Aristoteles diese Eigenart der aretē auch deswegen, weil er für seine Frage, wie wir erkennen, welche hexis die Gerechtigkeit ist, gerade die Betrachtung der Ungerechtigkeit für hilfreich hält (und nun befürchtet, man werde dadurch zu der Annahme verleitet, die gesuchte aretē selbst könne sich in entgegengesetzten Handlungen äußern). Diese methodische These, dass sich eine hexis oft durch die Untersuchung ihres Gegenteils erkennen lasse, ist in der Tat einleuchtend und wird auch heute bei Wertbegriffen häufig vertreten. Denn eine uneingeschränkt gute, gerechte usw. Handlung ist sowohl für den Handelnden wie für den Urteilenden schwer zu treffen, während die Bandbreite schlechter, ungerechter usw. Handlungen groß ist. Eine zweite methodische Ankündigung lautet, man könne eine hexis auch durch Betrachtung des Zugrundeliegenden erkennen. Mit dem Zugrundeliegenden meint Aristoteles jeweils das Ding oder die Person, die eine Eigenschaft oder Haltung besitzt oder manifestiert. Gemeint sein kann hier allerdings kaum eine Erkenntnis des Zugrundeliegenden als solchen. Vielmehr muss Aristoteles etwas Ähnliches wie die manchmal bei Platon formulierte Auffassung im Auge haben, dass nämlich eine Person, die eine bestimmte Charakterhaltung besitzt, Auskunft darüber geben können muss, worin diese Haltung besteht.4 Diese Annahme beruht da3 Die Frage, die in Platons Dialogen mehrmals aufgeworfen und nicht explizit beantwortet wird, lautet, ob der Gerechte, da er mit dem Gerechten auch das Ungerechte wisse, auch ungerecht handeln könne. Er kann es, so meint wohl schon Platon, nicht, weil die Gerechtigkeit keine Fähigkeit oder Wissenschaft, sondern eine Charakterhaltung ist. Vgl. Joachim 127 und Wolf 1996, 59 ff. 4 Deutlich ausgesprochen ist diese Vorstellung etwa am Anfang des Dialogs Charmides 159a.
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Gerechtigkeit (Buch V)
rauf, dass eine ethische hexis, wie auch Aristoteles sie in Buch II und III versteht, die internalisierte Vorstellung des in einem bestimmten Handlungsbereich Guten enthält, also implizite Meinungen darüber, was im Allgemeinen mäßig oder tapfer oder gerecht ist. Was die hexis beispielsweise der Gerechtigkeit ist, müsste sich dann dadurch klären lassen, dass man die Wertvorstellungen des Trägers der hexis expliziert. Wenn die eine Seite eines Gegensatzes mehrdeutig ist, gilt das gewöhnlich auch für die andere Seite. Wie wir also von „gerecht“ in mehrfachem Sinn reden, so auch von „ungerecht“. Dieser Hinweis ist die Überleitung zur Unterscheidung zwischen zwei Hauptbedeutungen von „gerecht“, die Aristoteles nun einführt.
2. Die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit im allgemeinen und im speziellen Sinn (V 2) Im Sinn der erläuterten methodischen Hinweise geht Aristoteles im Folgenden so vor, dass er nicht sofort nach dem Begriff der Gerechtigkeit fragt, sondern sich erstens am Zugrundeliegenden orientiert, also fragt, wer der Gerechte ist, und dies zweitens mittels des Gegenteils tut, also anhand der Frage, wer der Ungerechte ist. Da Aristoteles den Begriff der Gerechtigkeit für mehrdeutig hält, führt so die Untersuchung der Gerechtigkeit zu der Frage, in welchen Bedeutungen der Begriff der Ungerechtigkeit verwendet wird, bzw. – orientiert am Träger – in welchen Bedeutungen davon geredet wird, dass eine Person ungerecht ist (1129a 31). Die Antwort lautet (1129 a32 ff.): Ungerecht ist erstens der paranomos (der Gesetzwidrige, Gesetzesübertreter), derjenige, der gegen die Gesetze handelt, gerecht in diesem Sinn also, wer sich an die Gesetze hält. Da die Gesetze sich auf alle Bereiche des Handelns beziehen, wird diese Bedeutung als allgemeine oder universale Gerechtigkeit bezeichnet. Zweitens ist ungerecht der pleonektēs (der Unersättliche, Habsüchtige), der mehr haben will bzw. anisos (ungleich, Feind der Gleichheit, Gleichheit missachtend), unfair ist. Gerecht ist hier, wer fair ist, wer auf Gleichheit aus ist. Diese zweite Art der Gerechtigkeit heißt gewöhnlich „partikulare Gerechtigkeit“. Da genau genommen nicht die Gerechtigkeit universal oder partikular ist, sondern die Wortverwendung, wäre es weniger irreführend, von „Gerechtigkeit im allgemeinen oder weiteren Sinn“ und „Gerechtigkeit im speziellen oder engeren Sinn“ zu reden.5 Die Gerechtigkeit im allge5 Auf die nahe liegende Frage, warum für diese beiden verschiedenen Bedeutungen ein und dasselbe Wort verwendet wird, antwortet Aristoteles, es handle sich nicht um eine schlichte Zweideutigkeit wie beim Wort „Schlüssel“, das sowohl das
Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn (V 3)
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meinen Sinn ist Thema in V 3, die Gerechtigkeit im speziellen Sinn und ihre zahlreichen Unterbedeutungen in V 4–9.
3. Die Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn (V 3) In der heutigen Moralphilosophie ist es gängig, den gesamten Bereich des moralisch Richtigen als den der Gerechtigkeit zu bezeichnen, also das Wort „gerecht“ gleichbedeutend mit „moralisch richtig“ zu verwenden; dabei sind mit dem Moralischen – im Unterschied zu Fragen des guten Lebens – alle Fragen gemeint, die mit unserem Handeln gegenüber anderen zu tun haben. Ähnlich definiert Aristoteles nun die Gerechtigkeit im weiten Sinn so, dass sie die ganze aretē ist, jedoch nicht für sich betrachtet, sondern in ihrem Handlungsbezug auf andere (dazu b)). Zuvor jedoch bestimmt er das Gerechte als das Gesetzmäßige, das dem nomos Entsprechende (a)). Darin liegen zwei Probleme. Einmal fällt nach unserer Vorstellung nicht alles Moralische unter die Reichweite der Gesetze. Zum anderen sind Gesetze nicht immer gerecht. Das erste Problem stellt sich, wie wir sehen werden, in dieser Form für Aristoteles nicht, während er auf das zweite durchaus aufmerksam ist.
a) Das Gerechte als das Gesetzliche (1129b11–25) Was die erste der genannten Schwierigkeiten angeht, hat Aristoteles eine andere Sichtweise, als sie heute üblich ist. Nach der heutigen liberalen Auffassung von Staat und Recht ist der Staat nur dort für Regulierungen zuständig, wo Interessenkonflikte auftreten.6 Hingegen ist für Aristoteles, wie besonders der zur Politik überleitende Text X 10 deutlich macht, die Gesetzgebung auch zur Erziehung der Bürger da, verhindert also nicht nur Kollisionen zwischen dem Glücksstreben der Individuen. Die Gesetze beziehen sich daher auf alles; gerecht in diesem allgemeinen Sinn ist, was für die politische Gemeinschaft die eudaimonia und ihre Bestandteile herstellt und bewahrt (1129b17–19). Die eudaimonia besteht aber, was das menschliche Leben in der Polis angeht, in der Ausübung der ethischen aretē, und daher ist, was die GesetSchlüsselbein beim Lebewesen wie den Schlüssel zum Verschließen einer Tür bezeichnen kann; vielmehr seien beide Bedeutungen verwandt. In V 4 wird die Verwandtschaft dadurch erläutert, dass beide einen Bezug auf andere Menschen enthalten (1130a33ff.). Die Wichtigkeit der Frage betont Bambrough 160. 6 Dazu Trude 69, Bostock 2000, 57.
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Gerechtigkeit (Buch V)
ze vorschreiben, das Handeln gemäß der im Bisherigen beschriebenen einzelnen ethischen aretai, der Tapferkeit, Mäßigkeit usw. Die Gesetze ordnen an, die Handlungen der Tapferkeit zu tun, also nicht zu fliehen, die Handlungen der Sanftmut zu tun, also nicht zu schlagen usw., das heißt diejenigen Handlungen zu unterlassen, die das Zusammenleben gefährden und daher unter Strafe gestellt sind.7 Unter der Voraussetzung, dass die richtigen Gesetze vorhanden sind, fällt also, was diese anordnen, genau mit dem zusammen, was die Betätigung der ethischen aretē ausmacht. Doch diese Voraussetzung ist, das war die zweite Schwierigkeit, unter wirklichen politischen Bedingungen nicht immer gegeben. Dass Aristoteles darauf aufmerksam ist, zeigt sich in der Aussage (1129 b11), wenn man als gerecht denjenigen bezeichne, der sich an das Recht, die Gesetze hält, dann sei alles Gesetzliche (nomima) in gewissem Sinn gerecht (dikaia). Dabei ist nomos im Griechischen zur Zeit des Aristoteles hauptsächlich das gesetzte Recht, aber darüber hinaus auch die von der Gesellschaft sanktionierten Sitten.8 Mit „in gewissem Sinn“ zeigt Aristoteles an, dass er nicht alles, was das in einer Gesellschaft geltende Recht vorschreibt, für wirklich gerecht hält. Deutlicher ist das am Ende des Absatzes formuliert, wo Aristoteles explizit vom richtig verfassten Gesetz redet (b24f.). Das Problem wird vertieft in einer Passage, die sich an einer außerhalb des Zusammenhangs stehenden Stelle in V 10 findet (1134 b18–1135 a15). Dort unterscheidet Aristoteles innerhalb des politischen Gerechten zwischen dem natürlichen und dem gesetzlichen Gerechten. Ob er damit genau dasselbe meint wie unsere Unterscheidung zwischen Naturrecht und positivem Recht, ist nicht völlig klar, da sich in seiner Unterscheidung mehrere Aspekte überlagern.9 Eingeführt wird die Unterscheidung zunächst als eine zwischen dem von Natur aus Gerechten, das unabhängig von der menschlichen Meinung feststeht (etwa dass Antigone es gegen das geltende Recht für gerecht hält, ihren Bruder zu begraben),10 und dem durch änderbare menschliche Konventionen Geregelten (etwa ob das Opfer für einen bestimmten Gott in einer Ziege oder zwei Schafen bestehen soll). Das unveränderte Feststehen ist allerdings kein adäquates Krite7 Dass die Beispiele, die Aristoteles in b20 ff. aufführt, gerade gängige Fälle strafbarer Handlungen sind und dass sie deswegen strafbar sind, weil sie das Gut der Gemeinschaft bedrohen, betont mit Recht Joachim 130. 8 Dazu Trude 55. Anders Joachim 130, der annimmt, die allgemeine Ungerechtigkeit betreffe grundsätzlich Verstöße gegen das Strafrecht. 9 Zum Problem Hardie 1980, 204f. und ausführlich Trude Teil D. 10 Dieses Beispiel gibt Aristoteles selbst in der Rhetorik (1373 b9), wo er in Buch I 10–15 bei der Behandlung von Anklage und Verteidigung ausführlich Fragen erörtert, die mit dem Begriff des Gerechten zusammenhängen.
Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn (V 3)
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rium des Naturgemäßen; denn dieses regelt die veränderlichen menschlichen Lebensverhältnisse und ändert sich daher mit diesen Verhältnissen. Es lässt sich abstrakt bestimmen relativ zur besten Polis, als dasjenige Gerechte, das in der bestmöglichen politischen Verfassung, die am besten der menschlichen Natur entspricht, geltendes Recht wäre. Doch wie wir im Zusammenhang mit der Billigkeit in V 14 sehen werden, stellt auch die beste Verfassung nur das Gerechte im Allgemeinen dar, das in der Anwendung den wechselnden Umständen angepasst werden muss. Die Definition der allgemeinen Gerechtigkeit durch Bezug auf das Gesetzliche enthält also eine offene Stelle, von der wir sehen müssen, ob sie durch die zweite Definition gefüllt werden kann.
b) Die Gerechtigkeit als die vollständige aretē, sofern sie auf andere bezogen ist (1129b25–1130a13) Wenn die Gesetze verlangen, alle ethischen aretai handelnd zu realisieren, dann ist der Gerechte derjenige, der die ganze aretē hat, und die Gerechtigkeit ist nichts anderes als die Gesamtheit der ethischen aretai. Allerdings mit einer zusätzlichen Qualifikation. Die Gesetze sichern das gemeinsame Gut, also nicht nur die eudaimonia des handelnden Individuums. Die Gerechtigkeit ist die ganze aretē, aber nicht einfachhin, sondern pros heteron (im Hinblick auf den anderen Menschen, auf andere Bezug habend, in Bezogenheit auf den Mitbürger; 1129b 27). Die Gerechtigkeit ist insofern, wie Aristoteles formuliert, als einzige aretē ein „fremdes Gut“ (1130 a3); derjenige, der gerecht handelt, tut das für einen anderen Zuträgliche. Das muss in zwei Hinsichten präzisiert werden. Erstens sind mit den gerechten Handlungen nicht solche gemeint, die in dem spezielleren Sinn auf andere bezogen sind, dass man unmittelbar etwas für Freunde oder Angehörige tut. Diese Handlungen bleiben auf die eigene eudaimonia bezogen, während Handlungen dann als gerechte betrachtet werden, wenn man sie als öffentlich-politische Handlungen sieht, was auf die erste Definition der Gerechtigkeit zurückführt. Der andere, der von der Gerechtigkeit des Bürgers profitiert, muss in politischen Begriffen beschrieben werden. Dieser andere ist nun, das ist die zweite Präzisierung, je nach Staatsverfassung verschieden, er kann der Beste, der Herrschende, die Gemeinschaft usw. sein. Das Gerechte ist so je nach Verfassung das für die Gemeinschaft Gute, das für die Besten Gute oder das für die Regierenden Gute (1129 b15 f., 1130 a5). Die gute Polis wird das für die Polis im Ganzen und so auch für jedes Individuum Gute sichern. 11 11
Dass Aristoteles den Bezug der Gerechtigkeit auf das „fremde Gut“ betont,
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Gerechtigkeit (Buch V)
Fragen wir uns, ob Aristoteles die Reichweite der ethischen aretē und die der Gerechtigkeit vollständig gleichsetzt, so lautet seine Antwort, dass beides faktisch zusammenfällt, dass es sich jedoch um begrifflich unterschiedene Phänomene handelt (1130 a10 ff.). Der These von der Gleichheit des Umfangs scheint zu widersprechen, wenn Aristoteles sagt, die Ausübung der ethischen aretē sei leichter mit Bezug auf das eigene Wohl (1129 b32). Denn wenn das eine leichter ist als das andere, könnte man sich Personen vorstellen, die die aretē nur bezogen auf die eigene eudaimonia praktizieren, ohne sie mit Bezug auf andere, auf das gemeinsame Gut, anzuwenden. Aristoteles könnte antworten, seine These betreffe den Umfang des Begriffs und dies lasse offen, dass Personen, die kein richtiges Verständnis dieser Begriffe haben, anders handeln. Doch liegen hier auch Probleme in der Sache. So schien die Mäßigkeit, der richtige Umgang mit der sinnlichen Begierde, eine Angelegenheit allein der individuellen eudaimonia zu sein. Für Aristoteles hat allerdings auch diese eine soziale Dimension. Er führt als Beispiel den Ehebruch an (1129 b21 f.), wo die mangelnde Beherrschung von Begierden die Person in Konflikt mit „staatstragenden“ Institutionen, hier der Ehe, bringt. Wir könnten uns jedoch andere Beispiele denken, in denen Mäßigkeit für die Person selbst empfehlenswert, aber ihr Gegenteil für die Gemeinschaft harmlos wäre, etwa wenn die Suche nach sinnlichem Genuss die Person an der Erreichung ihrer ehrgeizigen beruflichen Ziele hindert. Hier ergibt sich für Aristoteles die gleiche Reichweite von ethischer aretē und allgemeiner Gerechtigkeit aus der erläuterten weitergehenden Staatsauffassung, die nicht nur das konfliktfreie Zusammenleben, sondern auch die eudaimonia der Bürger als Aufgabe der Polis betrachtet.
4. Die Gerechtigkeit im speziellen Sinn. Existenz und Einteilung (V 4–5) a) Nachweis der Existenz einer speziellen aretē der Gerechtigkeit (V 4) Wenn Aristoteles meint, vor der Erläuterung der besonderen Gerechtigkeit ihre Existenz allererst begründen zu müssen, bestätigt dies die Vermutung, dass er mit der Gerechtigkeitsuntersuchung Neuland betritt und zum könnte auch dazu dienen, eine Gemeinsamkeit der allgemeinen Gerechtigkeit und der Gerechtigkeit im engeren Sinn hervorzuheben. Die letztere Gerechtigkeit besteht ja darin, dass man gleich sein, nicht mehr haben will, und darin liegt immer eine Beziehung des „gleich sein wie die anderen“, „nicht mehr haben wollen als die anderen“. Wenn deutlich ist, dass auch die allgemeine Gerechtigkeit eine solche Beziehung auf den anderen hat, dann könnte das erklären, warum eine Verwandtschaft zwischen den beiden Bedeutungen besteht. Darauf verweist Joachim 130.
Gerechtigkeit im speziellen Sinn (V 4–5)
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ersten Mal eine genaue Gliederung dieses begrifflichen Felds vornimmt. Der Existenznachweis stützt sich auf drei Indizien. Erstens (1130 a16 ff.): Wie bereits in V 2 herausgestellt, nennt man ungerecht denjenigen, der unfair (anisos) ist, der mehr haben will, der die Gleichheit nicht achtet. Wer nun gemäß einer der anderen Schlechtigkeiten handelt, beispielsweise aus Feigheit desertiert, tut zwar Unrecht, dies jedoch im allgemeinen Sinn der Ungerechtigkeit, und nicht aus dem Motiv, dass er mehr haben will. Handelt hingegen jemand aus diesem Motiv der Gewinnsucht, so handelt er weder aus einer der schon bekannten speziellen Schlechtigkeiten noch aus Ungerechtigkeit im allgemeinen Sinn. Daraus folgt, dass sein Handeln auf einer weiteren speziellen Schlechtigkeit beruhen muss, die eben die Ungerechtigkeit im speziellen Sinn ist. Also gibt es eine Ungerechtigkeit, die ein spezieller Teil der allgemeinen Ungerechtigkeit (der Gesetzwidrigkeit) ist. Zweitens (1130 a24 ff.): Die Ungerechtigkeit als besondere Schlechtigkeit entspringt einem eigenen Motiv, das sie von anderen speziellen Schlechtigkeiten unterscheidet. Begeht z. B. jemand Ehebruch aus Begierde, ist er unmäßig. Wenn jemand hingegen eines Gewinnes wegen Ehebruch begeht, ist sein Motiv Habsucht und seine Handlungsweise nicht ein Fall von Unmäßigkeit, sondern von Ungerechtigkeit im speziellen Sinn. Drittens (1130 a28 ff.). Die anderen Unterarten der Ungerechtigkeit im allgemeinen Sinn werden jeweils auf eine bestimmte Schlechtigkeit zurückgeführt, der Ehebruch auf die Unmäßigkeit, Gewaltanwendung auf Zorn usw. Hat hingegen jemand aus Gewinnsucht gehandelt, wird das auf keine andere Schlechtigkeit als die Ungerechtigkeit im Sinn des Mehrhabenwollens zurückgeführt, so dass diese eine besondere Schlechtigkeit sein muss. Es gibt also, konstatiert Aristoteles, eine spezielle Ungerechtigkeit als gleichnamigen Teil der allgemeinen Ungerechtigkeit. Wie jede spezielle aretē bzw. kakia lässt diese sich durch Angabe des zugehörigen Affektes bzw. Strebens und ihres Gegenstandsbereich bestimmen. Der relevante Affekt ist, wie wir gesehen haben, das Mehrhabenwollen, die Gewinnsucht. Der Gegenstand dieses Affekts sind teilbare und zufallsabhängige Güter wie Ehre, Geld und Sicherheit (1130b2, 1129b1–11).
b) Unterteilung der Gerechtigkeit im engeren Sinn (V 5) An den Nachweis der Existenz einer speziellen aretē der Gerechtigkeit schließt sich die Frage an, was diese ist und wie sie beschaffen ist. Nach einer etwas umständlichen Wiederholung des Bisherigen und einigen Andeutungen über Fragen der Politikabhandlung beginnt Aristoteles die Un-
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tersuchung der speziellen aretē der Gerechtigkeit, indem er zunächst eine Reihe von Unterteilungen vornimmt (1130 b30 ff.). Zwei Arten der Gerechtigkeit im engeren Sinn werden unterschieden, erstens die dianemetikē, die man heute Verteilungsgerechtigkeit oder distributive Gerechtigkeit nennt, zweitens die so genannte diorthōtikē oder (in 1132 a18) epanorthōtikē (ordnende, ausgleichende, wiederherstellende, regelnde) Gerechtigkeit, für die wir keine genaue Entsprechung in den heutigen Einteilungen haben. Der Bereich der Verteilungsgerechtigkeit betrifft die Güter, die unter die Mitglieder der Polis verteilt werden können und die so geartet sind, dass man von ihnen mehr haben wollen kann als andere. (Damit deutet sich bereits an, dass die am Ende von a) genannte Bestimmung der speziellen Gerechtigkeit, die dem üblichen Muster der Definition einer speziellen aretē entspricht, wenn überhaupt, dann nur auf die Verteilungsgerechtigkeit passen dürfte.) Für uns schwerer zu fassen ist die zweite Art der speziellen Gerechtigkeit, die ausgleichende Gerechtigkeit. Aristoteles nennt als ihren Gegenstandsbereich die vertraglichen Verhältnisse zwischen Menschen. Innerhalb dieser Verhältnisse nimmt er erneut eine Zweiteilung vor, und zwar zwischen willentlichen (hekousion) und unwillentlichen Vertragsbeziehungen. Willentliche Beziehungen liegen dort vor, wo ein Vertragsverhältnis mit Absicht eingegangen wurde, insbesondere in ökonomischen Beziehungen wie Kauf und Verkauf, Darlehen und Miete. Bei den unwillentlichen Verkehrsformen werden zwei Unterarten unterschieden, die verborgenen und die gewaltsamen. Beispiele für verborgene unwillentliche Transaktionen sind Diebstahl oder Ehebruch, für gewaltsame Transaktionen Freiheitsberaubung, Mord und Beleidigung. Die Rede von Vertragsbeziehungen oder Transaktionen wirkt befremdlich, da man unter einem Vertrag normalerweise ein Geschäft zwischen zwei Personen verstehen würde. Doch wenn wir allgemeiner vom Verkehr der Bürger untereinander und entsprechend vom Rechtsverkehr reden,12 ist diese Ausdehnung vielleicht denkbar. Fragen wir uns, wie Aristoteles zu diesen Einteilungen kommt und welche Absichten er mit ihnen verfolgt, dann sind zwei Auffassungen möglich. Die eine nimmt an, Aristoteles unterscheide wesentlich getrennte Arten der engeren aretē der Gerechtigkeit, die auf unterschiedlichen Aspekten der menschlichen Natur beruhen.13 Die andere und häufigere Interpreta tion besagt, Aristoteles spreche von der speziellen aretē der Gerechtigkeit in einem einheitlichen Sinn und treffe die weiteren Unterscheidungen 12 13
So Trude 99. So Aubenque 1995.
Gerechtigkeit im Verteilen
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vielmehr in der Absicht, diesen Sinn für die verschiedenen Handlungsbereiche, in denen diese Gerechtigkeit eine Rolle spielt, konkret auszuarbeiten.14 Für Letzteres spricht, dass Aristoteles den Gerechten im engeren Sinn in allen Teilbereichen durchweg als den isos bestimmt, als die faire Person, die eine Einstellung der Gleichheit hat, und dass er diese Bestimmung, die offenkundig aus dem Vorverständnis kommt, nicht für erklärungsbedürftig hält. Strittig ist auch, auf welche Bereiche des Lebens Aristoteles sich in der weiteren Ausarbeitung bezieht. So wird teilweise behauptet, die allgemeine Gerechtigkeit beziehe sich auf den Beitrag des Handelns zum Gemeinwohl, während die Gerechtigkeit als spezielle aretē die Handlungen der Individuen als Privatpersonen betreffe.15 Die Anwendung solcher heutigen Unterscheidungen ist jedoch für das Verständnis des Textes wenig hilfreich, da für Aristoteles der Mensch wesentlich ein politisches Wesen ist. Ich werde das in der Erläuterung der Verteilungsgerechtigkeit anhand eines Exkurses zur Politik demonstrieren (5.c).
5. Gerechtigkeit im Verteilen (1131a10–1131b24) Die Gerechtigkeit im engeren Sinn, und damit auch die Verteilungsgerechtigkeit, ist eine einzelne aretē und muss sich daher gemäß der aristotelischen Auffassung wie jede aretē als eine mittlere Haltung verstehen lassen.16 Wenn die Mitte in diesem Fall in der Ausrichtung auf Gleichheit besteht, dann ist zu klären, welches die besondere Art der Gleichheit bei der gerechten Verteilung ist. Da „gleich“ ein Relationsausdruck ist, geschieht das so, dass die Glieder der Gleichheitsrelation und die Art der Relation erläutert werden.
So Salomon, Trude 104ff., Bien 1995, 152. So Joachim 133. 16 Aristoteles redet hier genau genommen noch nicht von der Verteilungsgerechtigkeit, sondern erläutert den relationalen Charakter der speziellen Gerechtigkeit allgemein (so mit Recht Joachim 141). Da bereits in V 6 Verteilungssituationen zur Erläuterung verwendet werden, auch wenn diese explizit erst in V 7 Thema werden, folge ich dennoch der Gliederung von Gauthier/Jolif, zumal es auch Gründe dafür gibt, dass Aristoteles nach der Einteilung in V 5 jetzt die Erläuterung anhand der ersten Form des Gerechten beginnt. 14 15
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Gerechtigkeit (Buch V)
a) Die Art der Gleichheitsrelation bei der gerechten Verteilung (1131a15–b24) Aristoteles nennt drei Arten von Gleichheitsrelationen, die in der gleichen Verteilung enthalten sein sollen: Das Gerechte im Sinn der Verteilungsgerechtigkeit muss sowohl ein Mittleres wie ein Gleiches wie ein Relatives sein. Als Mittleres ist das Gerechte die Mitte zwischen Zuviel und Zuwenig. Als Gleiches ist es die Gleichheit von zwei Sachen (der Güter, die verteilt werden). Als Relation ist es gerecht für die betroffenen Personen. Von diesen sechs Bezugspunkten werden die ersten beiden, die jede aretē als mittlere Haltung betreffen, ausgeklammert. Das Gerechte in der Verteilung wird dann so bestimmt, dass es eine Relation mit mindestens vier Gliedern ist: Es handelt sich um zwei Personen, für die eine Verteilung gerecht ist, und um zwei Sachen, die verteilt werden. Die Art dieser Relation erläutert Aristoteles so (1131 a20–29), dass sie zwischen den Personen und den Sachen dieselbe ist. Wenn die Personen nicht gleich sind, müssen auch die Sachen ungleich verteilt sein. Streitigkeiten entstehen, so Aristoteles, gerade daraus, dass Gleiche Ungleiches oder Ungleiche Gleiches haben. Als Bestätigung wird auf die allgemeine Praxis verwiesen, dass sich die Verteilung an der axia (Würdigkeit, Wert) der Person orientiert, dass also jede Person so viel erhalten muss, wie ihrem Wert entspricht. Spätestens hier wird deutlich, dass die Rede von einer Gleichheitsrelation leer läuft, solange nicht geklärt ist, worin die axia besteht, an der sich die Beurteilung der Gleichheit festmacht. Das erläutert Aristoteles durch seine Konzeption der proportionalen Gleichheit.
b) Erläuterung der proportionalen Gleichheit (1131a29–b24) Die einfachste Art der Gleichverteilung wäre die nach der arithmetischen Gleichheit. Wenn z.B. unter zwei Personen ein Stück Land zu verteilen ist, würde die gleiche Verteilung einfach so aussehen, dass die Fläche durch die Zahl Zwei geteilt wird. Das aber ist für Aristoteles gerade nicht, was eine gerechte Verteilung kennzeichnet, weil die Personen, an die verteilt wird, sich in den für die Verteilung relevanten Hinsichten unterscheiden können. Eine solche Teilung, die Hinsichten enthält, nennt Aristoteles proportionale Gleichheit oder Gleichheit gemäß der Analogie. Dabei geht es um die Gleichheit der Verhältnisse zwischen den vier Relata. Aristoteles erläutert das zunächst allgemein. Proportionale Gleichheit liegt vor, wenn sich Person A zu Person B so verhält wie Sache x zu Sache y oder, gleichbedeutend damit, sich A zu x ebenso verhält wie B zu y. Dann muss sich auch das Ganze gleich verhalten, also A + x zu B + y wie A zu B.
Gerechtigkeit im Verteilen
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Dieses Proportionalitätsverhältnis wendet Aristoteles nun auf die Frage der gerechten Verteilung an (1131 b3 ff.). Die Übertragung wird abstrakt durchgeführt, aber wir können eines der früher (1130 b31 f.) erwähnten Beispiele heranziehen. Am Beispiel des Geldes würde eine proportionale Verteilung bedeuten: Wie sich Person A zu Person B hinsichtlich ihres Werts (axia) verhält, im gleichen Verhältnis müssen Geldbetrag x und Geldbetrag y zueinander stehen. Oder im Sinn der Proportionalität des Ganzen: Die Verteilung ist gerecht, wenn die Person A mit der ihr zugeteilten Geldmenge sich zur Person B mit der ihr zugeteilten Geldmenge genauso verhält wie Person A zu Person B. Wirklich klar wird diese mathematische Fassung der Verteilungsgerechtigkeit allerdings nur für materielle Güter wie Geld, die sich als Anzahlen ausdrücken lassen. Und selbst in diesen Fällen bleibt die Frage, wie sich das Verhältnis der anderen beiden Relata, der Personen bzw. ihres Werts, in Zahlen fassen lässt. Für Aristoteles lautet aber jedenfalls das vorläufige Ergebnis, dass das Gerechte, das Mittlere, in dieser Proportion liegt; was gegen die Proportion im Sinn des Mehr oder Weniger verstößt, ist das Ungerechte (1131b 16ff.). Hierbei ist zu beachten, dass solche Verteilungen nicht Angelegenheit individuellen Handelns sind, sondern ein Verteilungsverhältnis im Staat betreffen, also die Form der politischen Gerechtigkeit. Dass Aristoteles in der Zusammenfassung (1131 b19 ff.) und auch sonst von individuellen Handlungen redet, die gerecht oder ungerecht sind, lässt sich am einfachsten dadurch erklären, dass wir uns innerhalb einer ethischen Abhandlung und dort innerhalb der Erläuterung der einzelnen aretai von Personen befinden. Damit ist vorgegeben, dass Thema die Gerechtigkeit als aretē, als Charakterhaltung einer Person ist, die sich in gerechten Handlungen äußert, und entsprechend hatte Aristoteles ja auch angekündigt, er wolle sich am Zugrundeliegenden, an der gerechten Person, orientieren. Diese Rede von gerechten Personen ist insbesondere im Bereich der Verteilungsgerechtigkeit allerdings sekundär gegenüber der Rede von einer gerechten politischen Verteilung, also von gerechten Verhältnissen oder Strukturen,17 und so klammert Aristoteles denn auch den Bezug auf die aretē in der Darlegung der Proportionalität aus. Außerdem erörtert er die Fragen der politisch gerechten Verteilung ausführlich in der Politik. Diese Darlegung müssen wir wenigstens in ihren Grundzügen zur Kenntnis nehmen, wenn wir verstehen wollen, in welchen Bezugsrahmen die abstrakte mathematische Erläuterung der proportionalen Verteilung gehört.18
Vgl. Williams 1980, 196f. Das sieht auch Trude, der sich in der Interpretation der Verteilungsgerechtigkeit (94ff.) auf den Text in der Politik stützt. 17
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c) Exkurs: Politische Gerechtigkeit (1134a24–1135a15, Politik III 9–13) Auch in der Politik erörtert Aristoteles Fragen der Gerechtigkeit im speziellen Sinn, insbesondere der Gerechtigkeit im Verteilen. Dabei wird schnell deutlich, was das einzige Verteilungsproblem ist, das Aristoteles interessiert. Es geht um die Frage, wer den Staat regieren soll, welche Verteilung von Regierungsämtern gerecht ist. Wie in der EN beginnt Aristoteles in Politik III 9 mit der Aussage, das Gerechte im Verteilen scheine in der Gleichheit zu bestehen (1280 a11). Auch hier verweist er als Hinsicht der Gleichheit auf den Wert (axia) der Personen. Er erläutert diesen jetzt so, dass er nicht in irgendeinem inneren Wert der Person besteht, sondern in demjenigen Wert, welcher der Person durch ihren Beitrag zur Polisgemeinschaft bzw. deren telos zukommt. Der Inhalt des Beitrags bzw. des Werts ist damit allerdings immer noch nicht festgelegt, weil verschiedene Polisgemeinschaften verschiedene Konzeptionen ihres Ziels haben können. Das Ziel der Polis ist für Aristoteles nicht zureichend bestimmt, wenn man die Polis als bloßes Bündnis zur Abwehr von äußeren Gefahren sieht oder als bloße ökonomische Tauschgemeinschaft. Was das Ziel ist, hängt von der jeweiligen Staatsverfassung ab. In der Oligarchie etwa, wo wenige Reiche herrschen, ist das Ziel, auf das die Staatsverfassung ausgerichtet ist, deren Reichtum, in anderen Verfassungen das Wohl derer, die von adliger Herkunft sind usw. (EN 1131 a26 ff.). In der guten Polis dagegen ist nach Aristoteles das gute Leben aller das Ziel, die gemeinsame vollkommene und autarke Lebensweise, in der alle die eudaimonia realisieren (1134 a26 ff., 1280 b40ff.). Nun ist dies ein komplexes Ziel, und daher kommt Aristoteles zu der Auffassung, dass verschiedene Gruppen zu ihm beitragen können, allerdings in verschiedenem Grad. Als Kriterium der Ämtervergabe auszuschließen sind sachfremde Fähigkeiten; dass jemand schnell laufen kann, ist relevant beim sportlichen Wettkampf, aber kein Kriterium, das mit der Verteilung der Ämter im Staat zu tun hat (1283 a10 ff.; vgl. auch 1282 b30 ff.). Für das Bestehen des Staates erforderlich sind die Adligen, die Freien und die Reichen. Für das gute gemeinsame Leben liefern den höchsten und entscheidenden Beitrag diejenigen, die die ethische aretē und die phronēsis besitzen. Ihnen stehen daher die eigentlichen Regierungsämter zu, untergeordnete Aufgaben jedoch auch solchen Gruppen, die geringere Fähigkeiten haben. Die verbreitete Auffassung, wonach Aristoteles mit dem Wert, der axia, der Person in Verteilungsfragen so etwas wie ihre Würdigkeit für die Zuteilung von Gütern, ihren Verdienst meint, trifft daher nicht zu. 19 Die Ver19
Das Verdienstkriterium wird Aristoteles beispielsweise unterstellt bei von
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teilung der Regierungsämter richtet sich nicht nach dem Verdienst, sondern nach den Fähigkeiten: Jeder soll diejenigen Regierungsaufgaben erhalten, die am besten seinen dafür relevanten Fähigkeiten entsprechen (sowie diejenigen Mittel, die zur Erledigung dieser Aufgaben erforderlich sind).20 Was Aristoteles hier konkret ausführt, entspricht im Prinzip der alten Formel „Jedem das Seine“ und arbeitet diese näher aus.21 Sie meint bei den Griechen immer schon, dass man sich seiner Stellung oder Rolle im Ganzen, die sich aus den eigenen Fähigkeiten ergibt, bewusst ist, sie akzeptiert und nicht über die von ihr definierten Grenzen hinauszugehen versucht, nicht mehr an Ämtern und Machtmitteln an sich zu reißen versucht, als zu dieser Funktion gehören.22
6. Gerechtigkeit des Ausgleichens (V 7 ab 1131b25 und V 8) Am Aufbau dieses Textstücks fällt auf, dass Aristoteles mit dem Bereich des unwillentlichen (akousion) Verkehrs beginnt, obwohl er am Ende von V 7 selbst sagt, die Rede von einem Ausgleich passe hier nicht wörtlich (1132 b11–20), stamme vielmehr aus dem willentlichen (hekousion) Rechtsverkehr. Als Beispiel für letzteren nennt Aristoteles das Beispiel von Kauf und Verkauf: Einen Gewinn hat hier, wer mehr erhält, als er vorher besaß, und einen Verlust, wer für das Verkaufte weniger erhält, als es wert war; wird hingegen Gleiches gegen Gleiches getauscht, haben die Beteiligten am Ende das, was ihnen zusteht. Der willentliche Rechtsverkehr scheint nur in diesen Zeilen erwähnt und sonst nicht eigens erläutert zu werden. Der übrige Text behandelt vielmehr den unwillentlichen Verkehr.
a) Gerechtigkeit des Ausgleichens im unwillentlichen Rechtsverkehr (1131b25–1132a6) Auch die ausgleichende Gerechtigkeit bestimmt Aristoteles durch Erläuterung der entsprechenden Gleichheitsrelation. Diese ist in ihrer Form einfacher als die Relation bei der verteilenden Gerechtigkeit. Zwar haben wir auch jetzt vier Relationsglieder, zwei Personen und zwei Sachen. Wenn Leyden 1985, 48, die Idee eines Verdienstes im Sinn des sittlichen Werts der Person von Fechner 34. 20 So richtig Salomon 29 und 131. 21 Siehe Kullmann 1994, 370. 22 Aubenque 1995, 37.
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jedoch ein Ausgleich dafür zu schaffen ist, dass Person A Person B einen Schaden zugefügt hat, geht es in der ausgleichenden Gerechtigkeit einfach darum, dass Schadenersatz in einer Höhe erfolgt, die die ursprüngliche Situation so gut wie möglich wiederherstellt. Die Beschaffenheit der Personen dagegen spielt hier keine Rolle, es kommt nicht darauf an, ob den Schaden ein guter oder ein schlechter Mensch verursacht hat. Zu vergleichen sind einfach die Sachen, und insofern vereinfacht sich die komplizierte Relation, mit der wir bisher zu tun hatten, in diesem Fall zu einer schlichten arithmetischen Relation. Aristoteles übernimmt, obwohl er sie selbst als eher metaphorisch bezeichnet, die Rede von Gewinn und Verlust, wo es um den Ausgleich im unwillentlichen Verkehr geht. Das Gleiche ist, wie er sagt, für den Schädiger die Mitte zwischen dem zu großen Gewinn, den er jetzt hat, und dem zu geringen Gewinn, den er hätte, wenn er in der Position des Geschädigten wäre. Aristoteles beschreibt die Konstellation zunächst aus der Perspektive des Richters, der den Ausgleich vorzunehmen hat (1132 a7). Das Verfahren, mit dem das Gleiche zu bestimmen ist, wird in verschiedenen Anläufen breit beschrieben. Die Form der Gleichheit, die dabei Verwendung findet, bezeichnet Aristoteles als Gleichheit gemäß der arithmetischen Proportion (1132 a1 ff.), im Gegensatz zur geometrischen Proportion bei der Verteilungsgerechtigkeit; denn die Personen sind ja hier gleich, und ihr Wert spielt keine Rolle. Andererseits handelt es sich nicht um schlichte arithmetische Gleichheit in dem Sinn, dass die eine Seite einfach das, was sie zu viel hat, der anderen gibt; denn im Fall des unwillentlichen Verkehrs, also etwa bei Totschlag oder Ehebruch, ist ein solcher direkter Ausgleich nicht möglich, der Richter muss also nach einer analogen Handlung suchen, durch die sich ein Ausgleich herstellen lässt.23 23 Dass die Rede von Gewinn und Schaden oder Verlust unpassend ist, empfindet man besonders bei Beispielen wie dem Töten. In der Tat würden wir eher annehmen, dass diese Handlung in den Bereich des Strafrechts gehört. Nun war von Anfang an klar, dass wir bei Aristoteles keine Einteilung des Rechts in Entsprechung zu unseren heutigen Vorstellungen finden. Es gibt Interpreten, die zēmia mit „Strafe“ übersetzen und daher das Strafrecht in die ausgleichende Gerechtigkeit mit hineinlesen. Da aber Aristoteles explizit betont, dass die Eigenschaften und Motive der Person nicht die geringste Rolle spielen und es nur um das Verhältnis der „Sachen“ geht, kann das kaum beabsichtigt sein, vielmehr muss dann zēmia im Sinn von „Schaden“ oder auch „Buße“ verstanden werden (so richtig Salomon 32). Dafür, dass Aristoteles das Strafrecht überhaupt nicht erwähnt, sind verschiedene Erklärungen denkbar. Zum einen ist das Strafrecht als eigenständige Kategorie bei den Griechen kaum entwickelt und kaum vom bürgerlichen Recht geschieden. Vergehen wie Diebstahl und Tötung sind Gegenstand von Privatklagen, die nur die
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b) Die Reziprozität (V 8) Im folgenden Text führt Aristoteles einen weiteren Begriff des Gerechten ein, den Begriff des antipeponthos (Wiedervergeltung, Reziprozität). Der Status dieser Einführung ist strittig. Nach manchen Interpretationen steht dieser Begriff für einen eigenständigen dritten Bereich der speziellen Gerechtigkeit; diese Interpretation wird durch Hinweis auf die Aussage gestützt, das antipeponthos sei sowohl von der verteilenden wie von der wiederherstellenden Gerechtigkeit verschieden (1132 b24).24 Der Textverlauf spricht jedoch m. E. gegen diese Interpretation. Der Gedankengang sieht so aus, dass Aristoteles nach der Erläuterung des Ausgleichens im unwillentlichen Verkehr kurz den willentlichen Verkehr erwähnt (1132 b12 ff.), diesen aber nicht, wie man erwarten würde, erläutert, sondern sich zunächst von einer Assoziation über reziproke Gerechtigkeit ablenken lässt. Diese Assoziation hat die pythagoräische Konzeption einer schlichten Wiedervergeltung zum Inhalt, die Aristoteles jedoch zurückweist (1132 b21–31). Man würde nun erwarten, dass er im Anschluss an diese Bemerkung die noch nicht behandelte Thematik des Gleichen im willentlichen Rechtsverkehr aufnimmt. Das geschieht jedoch auch jetzt nicht, vielmehr bleibt es bei einer assoziativen Gedankenfolge. Zwar kommt Aristoteles als Nächstes auf eine Art des willentlichen Austauschs zwischen Personen zu sprechen, jedoch handelt es sich hierbei um den Warentausch (1132 b31–1133 a5), der mit dem Thema der Gerechtigkeit und Gleichheit nur indirekt in Beziehung steht. (i) Zurückweisung einer Konzeption der schlichten Wiedervergeltung (1132 b21–1133 a5). Die pythagoräische Konzeption bestimmt das Gerechte allgemein als das antipeponthos, womit gemeint ist, dass jemand genau das, was er getan hat, im Gegenzug erleiden soll.25 Dies entspricht dem, was man lex talionis nennt, dem Gesetz der Wiedervergeltung (Auge um Auge, Zahn um Zahn). Die Pythagoräer sehen die Dinge als Zahlen an; das antipeponthos, die Reziprozität, ist ein mathematischer Terminus, und vermutlich setzen die Pythagoräer die Reziprozität in der Gerechtigkeit mit der mathematischen Operation der Herstellung von Reziprozität im engeren Sinn Betroffenen, bei Tötung die Verwandten, anstrengen können (dazu Bleicken 242 ff.). Zum anderen könnte es auch sein, dass strafrechtliche Fragen deswegen nicht vorkommen, weil sie nicht in den Bereich der Gerechtigkeit als Gleichheit von oder zwischen Personen gehören (das erwägt Bostock 2000, 60). Sie gehören für Aristoteles eher in den Bereich der Erziehung zur aretē und damit in der Bereich der Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn. 24 Diese Auffassung vertritt beispielsweise Scaltsas. 25 Vgl. Joachim 147.
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gleich. Diese pythagoräische Auffassung der Gerechtigkeit weist Aristoteles gleich zu Anfang zurück. Wenn Aristoteles sagt, das antipeponthos passe weder auf die verteilende noch auf die ausgleichende Gerechtigkeit (1132 b23 ff.), kann daher nicht gemeint sein, dass es eine dritte Bedeutung der speziellen Gerechtigkeit darstellt. Die Konzeption der reziproken Gerechtigkeit wird von Aristoteles nicht als weitere Variante der Gerechtigkeit eingeführt, sondern als irrige Vorstellung zurückgewiesen. Der Argumentationsgang sieht genauer so aus, dass Aristoteles erstens kurz die Vorstellung einer einfachen Wiedervergeltung für den unwillentlichen Verkehr ausschließt (1132 b25–31) und dann zweitens (1132 b31– 33a5) unterstreicht, dass wir es im willentlichen Verkehr nicht mit einem schlichten, sondern immer mit einem proportionalen Ausgleich zu tun haben. Für den unwillentlichen Verkehr führt Aristoteles gegen die Konzeption des antipeponthos das Gegenbeispiel eines Beamten an, der eine Privatperson schlägt; in diesem Fall darf die Privatperson nicht zurückschlagen, wie es aus dem Prinzip der einfachen Wiedervergeltung folgen würde. Umgekehrt muss jemand, der einen Beamten schlägt, nicht nur geschlagen, sondern zusätzlich bestraft werden. Gezeigt wird hierdurch, dass auch dort, wo anders als beispielsweise beim Töten eine schlichte Vergeltung möglich wäre, der richtige Ausgleich nicht unbedingt in der schlichten Wiedervergeltung besteht. Das zweite Argument besagt, dass Reziprozität durchaus eine Rolle spielt, nämlich in Tauschbeziehungen, dass es sich dabei aber nicht um die einfache Reziprozität handelt, von der die Pythagoräer ausgehen, sondern um proportionale Reziprozität. Aristoteles lässt sich jetzt also offenbar von der Frage des gerechten Ausgleichs, die zuvor sein Thema war, zu der allgemeineren Frage führen, nach welchen Kriterien überhaupt ein Austausch richtig zustandekommt. Von dieser Frage nach dem fairen Tausch lässt sich Aristoteles dann weiter ablenken zur Frage, was überhaupt die Bedeutung von Tauschverhältnissen für die Polis ist und welchen Kriterien die Reziprozität beim Warentausch folgt. (ii) Exkurs über den Warentausch (1133 a5–1133 b28). Obwohl man sich fragen kann, was der Warentausch mit der Gerechtigkeit als Charakter tugend zu tun hat,26 hat dieses Textstück, das die grundlegende Bedeutung der ökonomischen Tauschrelation für die Gesellschaft, die Rolle des Geldes usw. behandelt, einige Berühmtheit erlangt.27 Aristoteles weist in diesem Zusammenhang auf die Struktur der arbeitsteiligen Gesellschaft hin, Vgl. Ross 219. Bien 1995, 156 etwa führt es mit überschwänglichen Worten ein, und Karl Marx Bd. 1, 73ff. benutzt es ebenfalls. 26
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in der die Mitglieder eine je verschiedene Aufgabe (ergon) haben (a16 ff.), und er betont, dass gerade durch diese Verflechtung Ungleicher, die Güter und Leistungen austauschen, sich Gemeinschaft (koinōnia) konstituiert. Wie Aristoteles sich diesen Tausch genauer vorstellt, ist nicht leicht zu verstehen. Die Produkte (z. B. des Schusters) oder Leistungen (etwa des Arztes) sind qualitativ und quantitativ verschieden und müssen vor dem Tausch so verglichen werden, dass die Waren gleichviel wert sind. Dieser proportionale Ausgleich beim Warentausch geschieht, wie Aristoteles es ausdrückt, gemäß der Diagonale (a6), in einer Beziehung über Kreuz. Das heißt, vor dem Tausch hat der Bauer A eine Nahrung C, der Schuster B hat Schuhe D (1133 b4ff.). Nach dem Tausch hat A D und B hat C: A
B
C
D
Konkret soll nun das Tauschäquivalent so bestimmt werden, dass beispielsweise der Schuster so viele Schuhe zum Tausch geben muss, wie sich zum Schuster der Bauer verhält. Anders gesagt, Gleichheit ist hergestellt, wenn sich am Ende das Produkt des Bauern zu dem des Schusters so verhält wie der Schuster zum Bauern (a20 f., a32 ff.). Darüber, was Aristoteles hier sagen will, ist viel gerätselt worden. Manchen Interpreten gilt die Stelle schlicht als unverständlich28, andere lesen den merkwürdigen Hinweis auf das Verhältnis von Bauer zu Schuster so, dass ein Vergleich der Tätigkeiten gemeint ist, genauer von Arbeitszeit und Aufwand, von Produktionskosten.29 Aber dass wir im Anschluss an Marx zu dieser Vorstellung neigen, heißt nicht, dass Aristoteles sie im Auge gehabt hat. Später wiederholt Aristoteles die Tauschbeispiele in einfacherer Form, ohne die Produzenten und deren Verhältnis zu erwähnen. Betrachtet wird vielmehr nur noch das Verhältnis zwischen den Waren, im Beispiel: fünf Betten entsprechen einem Haus (b23ff.). Das könnte bedeuten, dass in den früheren Beispielen die Personen nur genannt wurden, um zum Ausdruck zu bringen, dass die eine Person der anderen etwas gibt und diese etwas anderes dagegen gibt, also das Geben und Nehmen über Kreuz. Die Beschaffenheit der Personen oder ihrer Arbeit würde bei dieser Interpretation keine Rolle spielen, man könnte vielmehr die beteiligten Personen einfach als gleich zählen.30 Siehe z.B. Joachim 150, ähnlich Bostock 2000, 64. Hardie 196. 30 Das scheint die Auffassung bei Gauthier/Jolif II, 377 zu sein. Eine ebenso 28 29
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Auch dann bleibt noch die Frage, was das Kriterium für den Wert eines Produkts oder einer Leistung ist. Nach Aristoteles gibt es nun in der Tat ein Maß, das alles zusammenhält und den Tausch reguliert, nämlich das Bedürfnis (chreia,1133 a27, b7); wo kein Bedürfnis vorhanden ist, kommt kein Tausch zustande.31 Als Vertreter des Bedürfnisses ist das Geld eingeführt, das die Dinge vergleichbar macht (a20, b29) und außerdem einen Tausch auch bei ungleichzeitigen Bedürfnissen ermöglicht (b10ff.). Aristoteles selbst betont dabei, dass die sehr verschiedenartigen Dinge, die getauscht werden, nicht wirklich kommensurabel sind, dass das Geld vielmehr ein konventionelles Maß ist, mit dem wir die Dinge vergleichbar machen im Hinblick auf das Bedürfnis (1133b16ff.). Die These scheint also zu sein, dass es nicht das richtige Kriterium des Warenvergleichs gibt, dass wir vielmehr entsprechende Konventionen haben, die für praktische Zwecke ausreichen.32 Im Kontext einer Abhandlung über Gerechtigkeit würde man allerdings erwarten, dass Aristoteles darüber hinaus die Frage stellt, wann ein Tausch oder Warenpreis „gerecht“ oder „fair“ ist. Das ist es aber nicht, was Aristoteles hier interessiert. Die Problematik des Warentauschs wird erörtert, weil Aristoteles im Zusammenhang mit der Kritik an der pythagoräischen Lehre von einem Eins-zu-eins-Ausgleich auf Verhältnisse zu sprechen kommt, die zeigen, dass wir nach einem Maß tauschen. Der Warentausch ist ein Beispiel, das Aristoteles assoziert, obwohl es in der dargestellten Form mit Gerechtigkeitsfragen nichts zu tun hat.33
7. Billigkeit (V 14) Dass das Textstück über die Billigkeit noch zu der geschlossenen Gerechtigkeitsabhandlung gehört, könnte man dem Hinweis entnehmen, auch die epieikeia (Billigkeit, Güte in der Gerechtigkeit) sei eine Charakterhaltung, eine aretē (1137 b34–1138 a3). Demnach ist billig eine Person, polemische wie überzeugende Zurückweisung diverser seltsamer Interpretationen der aristotelischen Beschreibung des Tauschverhältnisses findet sich bei Salomon im Anhang. 31 Dass der Poliszusammenhang durch das Bedürfnis zustandekommt, das nur arbeitsteilig befriedigt werden kann, indem jeder gemäß seinen Fähigkeiten eine Aufgabe erfüllt und alles, was er sonst braucht, eintauscht, hat bereits Platon im Staat ausgeführt (369b ff.), allerdings ohne genauere Überlegungen über die Kriterien der Gleichwertigkeit von Leistungen aufzustellen. 32 Siehe dazu Castoriadis, insbesondere 258f. 33 Darauf verweist auch schon Salomon 157.
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die sich Handlungen der Billigkeit zum Vorsatz macht und ausführt. Sie hält sich nicht exakt an den Buchstaben des Gesetzes, ist vielmehr auch mit weniger zufrieden, kann also großzügig nachgeben, selbst wenn sie das Recht auf ihrer Seite hat. Die aretē, die hier vorliegt, ist keine neue Art der aretē, sondern eine bestimmte Spielart der Gerechtigkeit, und zwar der Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn. Zu Beginn des Textstücks wirft Aristoteles die Frage auf, wie sich die Billigkeit zur Gerechtigkeit verhält. Es scheint zunächst die Aporie zu bestehen (1137 a31–b5), dass sie beide weder dasselbe noch verschieden sein können: Das Billige gehört in den Bereich der Gerechtigkeit, ohne doch mit ihr identisch zu sein. Nun gilt das Billige als besonders lobenswert und gut; wenn es aber vom Gerechten unterschieden ist, fragt man sich, wie es besonders gut sein und dennoch neben dem Gerechten bestehen kann. Die Antwort lautet (b5–11), das Billige sei besser als eine bestimmte Art des Gerechten, ohne deswegen in eine andere Gattung zu gehören. Beide, das Billige und das Gerechte, gehören vielmehr der Gattung der Gerechtigkeit an, wobei das Billige das Überlegene ist. Die Aporie entsteht dadurch, dass das Billige gerecht ist, jedoch nicht gemäß dem Gesetz, sondern als eine Korrektur des gemäß dem Gesetz Gerechten (b11–19). Aristoteles ist hier auf ein wichtiges Problem aufmerksam geworden, die Frage, wie sich Gesetz und Einzelfall verhalten und was dabei der Status des Gesetzes ist. Weniger klar ist, ob er in dem knappen Text, der diesem Phänomen gewidmet ist, zu einer angemessenen Lösung oder auch nur zur richtigen Diagnose der Probleme kommt. Die These ist zunächst, dass die Korrektur des Gesetzes erforderlich ist, weil das Gesetz nur das Allgemeine regeln kann, sich aber in manchen Bereichen keine lückenlos geltenden Regeln aufstellen lassen (1137 b14 ff.). Aristoteles meint also anscheinend, dass grundsätzlich Gesetze möglich sind, unter die sich Situationen einfach subsumieren lassen, dass solche Gesetze aber manchmal nur so formulierbar sind, dass sie sich auf die meisten Fälle beziehen. Im weiteren Verlauf des Textes könnte man dagegen den Eindruck gewinnen, dass die unvermeidliche Allgemeinheit von Gesetzen ein grundsätzliches Problem darstellt, insofern es in der Natur des Handelns liegt, dass dieses unter wechselnden und nicht ein für alle Mal antizipierbaren Umständen stattfindet, während das Gesetz allgemein ist und daher immer von konkreten Umständen absehen und vereinfachen muss (b19–27). Das legt die vermutlich über die aristotelische Intention hinausgehende Vorstellung nahe, dass das Verhältnis von Gesetz und Anwendungsfall grundsätzlich eine Interpretationsfrage ist, dass hier also nicht nur, wie Aristoteles meint, Lücken in der Anwendung bestehen, die nach und nach gefüllt werden können, sondern dass die Anwendung von Geset-
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Gerechtigkeit (Buch V)
zen ein dauernder Prozess der Interpretation ist, der den Gesetzen erst ihren Inhalt verleiht.
8. Zusammenfassung (V 9). Ethik und Moral Aristoteles fasst die Darstellung der Gerechtigkeit als spezieller aretē jetzt zusammen, indem er sie in die Lehre von der aretē als mittlerer Haltung einzubauen versucht. Das geschieht in der Behauptung, gerechtes Handeln sei die Mitte zwischen Unrechttun und Unrechtleiden (b30 f.). Auf die Merkwürdigkeit dieser Aussage ist vielfach hingewiesen worden.34 Dass Unrechtleiden bezüglich des Gerechthandelns das eine Extrem einer kakia darstellt, ist wenig plausibel, denn Unrechtleiden ist nichts, was man jemandem als Mangel an aretē vorwerfen würde. Wer Unrecht leidet, indem er beispielsweise bei einer Verteilung zu wenig bekommt, handelt im Übrigen überhaupt nicht. Umgekehrt ist der Politiker oder Richter, der eine Verteilung durchführt oder einen Ausgleich herstellt, jemand, der handelt und dies gut oder schlecht tun kann, nicht hingegen gehört es zu seinen Handlungsoptionen in einer solchen Situation, Unrecht zu erleiden. Die Konfusionen mögen daher kommen, dass Aristoteles zwar einerseits sieht, dass es verschiedene Gerechtigkeitsfragen gibt (welchen Anteil man selbst an einem teilbaren Gut beansprucht, wie man als Politiker Verteilungen von Gütern vornehmen sollte, an denen man selbst nicht beteiligt ist, wie man als Richter Ausgleich bei geschehenem Unrecht schafft usw.), dass er aber andererseits diese Beobachtung nicht zum Anlass nimmt, eine klare Einteilung des Gerechtigkeitsproblems je nach seiner Form vorzunehmen, also u. a. zwischen persönlichem Mehrhabenwollen, der Ungerechtigkeit politischer Strukturen, mangelnder Fairness eines Richters zu differenzieren. Der Versuch, alle speziellen Gerechtigkeitsfragen an einer Charaktereinstellung zum Affekt des Mehrhabenwollens festzumachen, kann angesichts der Verschiedenartigkeit dieser Kontexte kaum zum Erfolg führen. Was Aristoteles über die Gerechtigkeit im speziellen Sinn zu sagen hat, ist daher zwar in vielen Punkten anregend, bleibt aber mangels der nötigen strukturellen Unterscheidungen unbefriedigend und verwirrend. Bezüglich der Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn ist festzuhalten, dass sie nach unserer Terminologie die moralische Komponente der Ethik enthält. Wie wir gesehen haben, besteht diese Komponente für Aristoteles darin, dass wir alles ethische Handeln unter dem Gesichtspunkt betrachten können, dass die Handlung auf andere Menschen bezogen ist bzw. 34
Siehe u.a. Ross 220, Hardie 1980, 201.
Zusammenfassung (V 9). Ethik und Moral
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unter geltende Rechtsnormen oder soziale Normen fällt. Da faktisch nicht jede Handlung aufgrund einer ethischen hexis eine andere Person tangiert, ist die zweite Fassung des moralischen Aspekt ethischen Handelns, also die Fassung durch Bezug auf Normen, die brauchbarere. Allerdings ist dann der Verweis auf Rechtsnormen zu eng, gemeint sein müssen soziale Normen, die allerdings inhaltlich nicht die faktisch geltenden, sondern die wahrhaft gerechten sein müssten. Aristoteles müsste also genau genommen die These vertreten, dass jede ethische aretē eine moralische Norm impliziert, die durch die Erziehung im Charakter internalisiert ist. Dass Normen und Tugenden nur zwei Seiten derselben Sache sind, wurde bereits am Ende des letzten Kapitels angedeutet. Das V. Buch der EN zeigt, dass Aristoteles selbst dies so sieht. Allerdings gibt Aristoteles dem Begriff der aretē nicht nur Priorität hinsichtlich der Verankerung der Moral im Charakter von Personen; dieser Begriff liegt auch der Einteilung der Moral in inhaltliche Bereiche zugrunde, die Aristoteles nicht durch eine Einteilung der Normen auffindet, sondern durch die Unterscheidung von Affektbereichen und korrespondierenden Situationstypen. Dafür, dass der Tugendbegriff in der Tat auch für die Formulierung des Inhalts der Moral Priorität gegenüber dem der Norm besitzen könnte, wird manchmal angeführt, dass manche Handlungsbereiche überkomplex sind und sich nicht auf schlichte Regeln bringen lassen. In diese Richtung könnte man die Konzeption der Billigkeit interpretieren, die Aristoteles vertritt. Hier müsste man jedoch weiterfragen, erstens ob der Ansatz bei der aretē wirklich besser geeignet ist, die moralischen Inhalte zu artikulieren und einzuteilen, und zweitens, aus welchem Grund dies, sollte es zutreffen, der Fall ist.
V. Hekousion und prohairesis Die ethischen aretai sind, da das menschliche Strebevermögen in einem Bezug zum Vernunftvermögen steht, erst dann in vollem Sinn vorhanden, wenn gleichzeitig die korrelative dianoetische aretē der phronēsis gegeben ist. Während diese selbst erst in Buch VI als intellektuelle aretē im Kontext der anderen intellektuellen aretai erläutert wird, wird ihre Beteiligung am ethischen Handeln von unten her, also aus der Frage nach den aretai des Strebevermögens heraus, bereits in Buch III dargelegt. Dass eine Handlung äußerlich einer gerechten Handlung gleicht, bedeutet, wie wir im zweiten Buch gesehen hatten, nicht, dass sie wirklich auf gerechte Weise geschieht; dazu muss vielmehr die Person in einer entsprechenden Verfassung handeln, nämlich wissentlich und aufgrund einer prohairesis (Entscheidung, Wille; 1105 a28 ff., siehe oben S. 69). Was das heißt, blieb offen und wird im dritten Buch erläutert. Dieses Buch entwickelt zentrale handlungstheoretische Kategorien, deren genaue Erfassung schwierig ist, weil sie sich mit Begriffen der neuzeitlichen Philosophie und heutigen Einteilungen nur teilweise decken. Anthony Kenny beginnt sein Buch Aristotle’s Theory of the Will (1979) mit dem Hinweis, es sei ein Gemeinplatz der heutigen Aristotelesforschung, dass Aristoteles keinen Begriff des Willens habe. Kenny stellt jedoch sogleich klar, dass diese gängige Meinung der Präzisierung bedarf. Besagt sie, Aristoteles kenne keinen Willensbegriff, wie ihn teilweise die neuzeitliche Philosophie verwendet hat, keinen Begriff eines Willens als innerlich wahrnehmbarer Entität, trifft sie zu. Versteht man hingegen den Willensbegriff so, wie er heute in der analytischen Philosophie im Anschluss an Wittgensteins Kritik am metaphysischen Begriff des Willens verwendet wird, nämlich als Titel für eine bestimmte Konstellation von Meinung, Wunsch und Fähigkeit, von Willentlichkeit, Intentionalität und Vernunft, dann erweist sich die aristotelische Konzeption gerade als besonders aktuell. Trotzdem ist beim Vergleichen Vorsicht geboten. Unsere Konzeption des Willens und der mit ihr verknüpfte Freiheitsbegriff sind durch zwei Problemstränge geprägt, die Aristoteles fremd sind, einerseits die mit der jüdisch-christlichen Tradition verbundene Vorstellung göttlicher Willkür, welche außerhalb der Naturgesetze steht,1 andererseits das strenge Kausalitätsdenken der modernen Naturwissenschaft. 1
Aufschlussreich dazu Dihle v.a. Kap.1.
Hekousion und prohairesis
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Die zwei Hauptbegriffe, die Aristoteles in Buch III einführt, sind der Begriff des hekōn bzw. hekousion und der Begriff der prohairesis. Hekousion wird in den gängigen deutschen Ausgaben der EN mit „freiwillig“ übersetzt. Damit assoziiert man leicht den Begriff der Willensfreiheit; der aristotelische Begriff des hekousion hat jedoch eine wesentlich schwächere Bedeutung. Selbst der Begriff der Handlungsfreiheit, der auch in der heutigen Terminologie schwächer verwendet wird als der der Willensfreiheit, wäre als Übertragung immer noch zu stark. Denn Aristoteles schreibt das hekousion auch Kindern und Tieren zu (1111 a26), während der Begriff der Handlungsfreiheit gewöhnlich nicht so gebraucht wird. Die englischen Texte benutzen meist „voluntary“, was ebenso „willentlich“ wie „freiwillig“ heißen kann, Gauthier/Jolif verwendet „de plein gré“. Letzteres ist in der Tat am engsten am Original; dass jemand etwas hekōn tut, heißt genau genommen, dass er es mit Absicht oder gern tut, dass er es tut, weil es aus seinem eigenen Streben oder Wollen hervorgeht.2 Im Deutschen bietet sich hierfür der Ausdruck „willentlich“ an (für den Gegenbegriff akousion, der meist mit „unfreiwillig“ übersetzt wird, der Ausdruck „unwillentlich“). Wie wir sehen werden, passt allerdings auch diese Übersetzung nicht in allen Zusammenhängen. Ich werde daher hekousion nach Möglichkeit im Original stehen lassen, obwohl das teilweise zu unhandlichen Formulierungen führt, da der Ausdruck an verschiedenen grammatischen Positionen vorkommt, außerdem teils von hekōn mit Bezug auf den Handelnden, teils von hekousion mit Bezug auf die Handlung die Rede ist. Wo das nicht möglich ist und „willentlich“ nicht passt, wird das Original zumindest in Klammer genannt. Was in den Übersetzungen meist mit „Entscheidung“, manchmal auch mit „Wahl“ oder „Willenswahl“ oder „Vorzugswahl“ wiedergegeben wird, ist griechisch prohairesis. Darin steckt haireisthai, „wählen“, und außerdem pro, das ein Vorziehen ausdrücken kann, aber auch die zeitliche Priorität der Entscheidung vor der Handlung. Die prohairesis ist, wie wir sehen werden, das Resultat einer Überlegung (bouleusis), die ein jeweiliges Streben in einen expliziten Handlungsvorsatz verwandelt. Erst das Handeln aufgrund einer prohairesis stellt für Aristoteles die spezifisch menschliche Form des willentlichen Handelns dar. Dieser Begriff ist zumindest in dem Punkt stärker als die heutigen Begriffe der Freiwilligkeit, als er das tatsächliche Stattfinden der Überlegung impliziert und nicht nur die Möglichkeit des Überlegens. Der Text ist so gegliedert, dass III 1–3 den Begriff des hekousion behandelt, III 4–6 den Begriff der prohairesis. III 7 greift Fragen auf, die wir heute unter dem Begriff der Zurechnung oder Verantwortlichkeit fassen würden. 2 Klärend hierzu Loening 139 ff. Ausführlicher zum Übersetzungsproblem von hekousion Wolf 2006, Anm. 1 zu Buch III.
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1. Der Begriff des Willentlichen (hekousion) (III 1–3) Die Untersuchung des hekousion ist, wie Aristoteles zu Beginn von Buch III sagt (1109b30–1110a1), deswegen erforderlich, weil die Handlungen, in denen sich die ethische hexis, die Charaktereinstellung, zeigt, Gegenstand von Lob und Tadel bzw. Belohnung und Strafe sind; Lob und Tadel, Belohnung und Strafe sind nur sinnvoll mit Bezug auf Handlungen, die willentlich (hekōn) getan werden. Aristoteles geht dabei so vor, dass er zunächst den negativen Begriff bestimmt, also wann wir ein Verhalten akousion, nennen. Die zwei Bedingungen, die Handlungen zu unwillentlichen machen, sind Zwang (III 1) und Unwissenheit (III 2); in III 3 werden die Konsequenzen für den positiven Begriff gezogen.
a) Die Bedingung des Zwangs (1110a1–b17) Aristoteles unterscheidet mit Bezug auf das hekousion drei Bereiche, die unwillentlichen, die willentlichen und die gemischt unwillentlichwillentlichen Handlungen. Zum Unwillentlichen gehört, was durch bia (Zwang, Gewalt) geschieht (1110 a1–4). „Zwang“ ist für Aristoteles der Gegenbegriff zur „Natur“ (physis) eines Lebewesens. Was aus der physis hervorgeht, ist eigenes Bewegen, Selbstbewegung, was durch Zwang geschieht, ist ein von einer äußeren Bewegursache verursachtes Bewegtwerden. Wie das Beispiel vom Sturm zeigt, der jemanden irgendwohin trägt, ist das in dem einfachen Sinn gemeint, dass man durch eine äußere Kraft an einen anderen Ort bewegt wird, ohne selbst zu der Bewegung beizutragen. Genau genommen würde man dies überhaupt nicht als eine Handlung der weggetragenen Person bezeichnen; der Begriff des hekousion hat also denselben Umfang wie der der Handlung und markiert gerade das, was ein Handeln ausmacht. Obwohl viele Menschen schlechte Handlungen damit entschuldigen, sie seien von der Begierde oder vom Zorn überwältigt worden, sind Handlungen aus Begierde willentlich und nicht gezwungen (1110 b9–17, 1111 a 24–b3). Wer Schlechtes tut, weil er das Angenehme sucht, kann nicht sagen, er habe unter Zwang und nicht aus eigenem Antrieb gehandelt. Dass wir Angenehmes begehren, ist uns nicht äußerlich, sondern liegt in der menschlichen Natur. Dasselbe gilt für die Erregbarkeit durch Zorn. Dieses Motiviertwerden hat sowohl gute wie schlechte Handlungen zur Folge. Da wir uns aber gute und lobenswerte Handlungen selbst zuschreiben, und nicht einem Zwang, den das Gute ausübt, muss dasselbe auch für tadelnswerte Handlungen gelten. Zwischen den eindeutig willentlichen und den klarerweise unwillent -
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lichen Handlungen liegt für Aristoteles die Gruppe der gemischten Handlungen (1110 a4–a19). Wer etwas Schlechtes tut, um einen guten Zweck zu erreichen oder ein großes Übel zu vermeiden, handelt nach Aristoteles in mancher Hinsicht willentlich, in anderer nicht. Beispiele sind: Jemand führt eine schlechte Handlung aus, die ein Tyrann befiehlt, weil er so seine Kinder retten kann, die in der Hand des Tyrannen sind. Oder: Man wirft in Seenot Güter weg, um sein Leben zu retten. Dass die fraglichen Handlungen im Sinn der präzisen Definition des hekousion durch die Abwesenheit von Zwang klarerweise willentlich sind, sieht Aristoteles deutlich. Wie er vorgreifend auf den Begriff der prohairesis sagt, sind die Handlungen sogar solche, die man wählt, für die man sich entscheidet (1110 a12, b4 f.). Denn auch wenn das kaum jemand tun würde, könnte man diese Handlungen prinzipiell unterlassen. Auf jeden Fall sind die Handlungen willentlich im oben festgelegten Sinn, der Handelnde setzt seine Glieder selbst in Bewegung und wird nicht physisch gezwungen (1110a15ff.). Warum also schwankt Aristoteles, ob diese Handlungen willentlich sind? Dafür könnte man zwei Gründe anführen. Erstens könnte das einfach an Konnotationen des Wortes hekōn liegen; verwendet man dieses nicht in der von Aristoteles vorgenommenen terminologischen Fixierung, sondern in der alltäglichen Bedeutung, dann liegt in dieser, dass man etwas aufgrund eines Wollens oder gern tut.3 Niemand möchte gern aus freien Stücken z. B. Güter wegwerfen. Gemischt willentliche Handlungen sind also Handlungen, die man nicht einfachhin wollen würde (1110 a19, b2 f.), sondern zu denen man sozusagen durch die spezielle Situation gezwungen ist, die man nicht absichtlich aufgesucht hat. Ein zweiter Grund für das Schwanken liegt sicher darin, dass Aristoteles nicht immer deutlich zwischen begrifflichen Festlegungen und Bewertungen trennt.4 Was die Bewertung gemischter Handlungen angeht (1110a19– 1110 b1), gibt es in der Tat Fälle, in denen wir eine Person moralisch entschuldigen, wenn sie darauf hinweist, sie habe eine bestimmte Handlung in einer Zwangslage getan. Aristoteles betrachtet verschiedene Konstellationen: (i) Wer Unangenehmes oder Schlechtes auf sich nimmt um eines großen Gutes willen, wird manchmal sogar gelobt, wer also beispielsweise lügt, um einen Freund zu retten. (ii) Wer ohne solchen Grund Schlechtes tut, wird getadelt. (iii) Wer Schlechtes tut unter dem „Zwang“ einer äußeren Situation, der zu widerstehen die Menschennatur übersteigt, wird nicht getadelt, sondern erfährt Nachsicht. (iv) Diese Nachsicht wird nicht gewährt, wo das „aufgezwungene“ Übel ein so großes Verbrechen darstellt, dass es besser ist, den Tod zu wählen (als Beispiel führt Aristoteles 3 4
Ähnlich Hardie 1980, 155f. Vgl. Kenny 1979, 34.
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den Muttermord an). Wie gerade das letzte Beispiel zeigt, bleiben also alle diese Handlungen, auch wenn der Hinweis auf Zwang ein möglicher moralischer Entschuldigungsgrund ist, im präzisen Sinn willentlich; denn man kann grundsätzlich auch den Tod wählen, statt sich zu einer bestimmten Handlung zwingen zu lassen (1110a26ff.). Die besondere Aufmerksamkeit, die Aristoteles den gemischten Handlungen schenkt, ist vielleicht dennoch nicht unbegründet. Denn an ihnen wird ein allgemeines Strukturmerkmal des Handelns deutlich, dass nämlich eine Handlung immer ein Handeln in der Welt ist, ein Handeln in einer bestimmten Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt. Genau genommen ist keine Handlung ausschließlich von unserem Streben bestimmt, weil jede Handlung unter äußeren Bedingungen stattfindet, welche die Wahlspielräume vorgeben und uns daher in gewisser Weise mit Notwendigkeiten konfrontieren.5 Die Situation kann so beschaffen sein, dass sich in ihr unsere Strebungen unbehindert realisieren können. Sie kann aber auch Hindernisse für unser Wollen enthalten. Die gemischt willentlichen Handlungen stellen einen Extremfall innerhalb dieser zweiten Art dar, nämlich denjenigen Fall, in dem alle in der Situation offenen Möglichkeiten unerwünscht sind und daher nur noch die Frage nach dem kleineren Übel besteht.
b) Die Bedingung der Unwissenheit (III 2) Mit dem Handeln aus oder aufgrund von Unwissenheit (di’ agnoian) sind Fälle der folgenden Art gemeint: Der Arzt gibt einem Kranken ein Getränk in der Meinung, es sei für den Kranken heilsam; ohne Wissen des Arztes ist jedoch Gift in dem Glas, das den Kranken tötet. Nach dem bisherigen Kriterium der Abwesenheit von Zwang ist diese Handlung hekousion. Jedoch nimmt Aristoteles jetzt auch alle Handlungen, die das zweite Kriterium, das der Unwissenheit, erfüllen, vom Bereich des hekousion aus. Das hekousion hat hier den Sinn des Absichtlichen oder Intentionalen6: Der Arzt hat dem Kranken seiner Absicht nach ein Glas mit einem heilsamen Getränk gegeben; hingegen hat er ihm unabsichtlich ein Glas mit tödlichem Gift gegeben. Wie man in der heutigen Handlungstheorie sagt, ist die Handlung unter der einen Beschreibung absichtlich, unter der anderen nicht. 5 Dass hekousion für die Griechen streng genommen nicht der Gegenbegriff zu dem des Zwangs ist, sondern immer in einen Situationskontext gehört, der teilweise durch Notwendigkeit oder Zwang festgelegt ist, zeigt Rickert. 6 So auch Rapp 1995, 116.
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Da Aristoteles noch nicht über diese Begrifflichkeit verfügt, mit der sich Handlungen klar individuieren, Handlung und Ergebnis sowie verschiedene Beschreibungen derselben Handlung unterscheiden lassen,7 sind seine Differenzierungen des Wissenskriteriums (1110 b18–1111 a2) nicht immer ganz klar. Er nimmt insbesondere zwei Differenzierungen vor. Unterschieden wird zunächst zwischen Handlungen, die nicht hekousion sind, und solchen, die akousion sind (1110 b18–24), sodann zwischen unwissendem Handeln und Handeln aus Unwissenheit (1110 b24–27). Im Anschluss daran werden die Hinsichten des Wissens erläutert (1113a3–21). Alle Handlungen aus Unwissenheit gehören, wie Aristoteles sagt, zu dem, was nicht hekousion ist; akousion jedoch sind nur diejenigen Handlungen, die der Handelnde nachträglich bedauert.8 Wie Aristoteles am Beginn von III 2 formuliert, scheint das akousion eine Teilklasse des Nichthekousion zu sein, eben diejenige Teilklasse, die durch das Bedauern ausgezeichnet ist. Man fragt sich jedoch, welchen Unterschied es für die Willentlichkeit der Handlung zum Zeitpunkt der Ausführung bedeuten kann, ob der Akteur sie nachher bedauert oder nicht bedauert.9 Eine mögliche Erklärung wäre, dass Aristoteles den Begriff des hekousion im Kontext der ethischen aretē erörtert, die mit der moralischen Bewertung von Personen zu tun hat. Für die Bewertung des Charakters eines Handelnden spielt es in der Tat eine Rolle, mit welchen Gefühlen er auf Fehlhandlungen reagiert.10 Das trifft zwar zu, erklärt aber keinen Unterschied in der Willentlichkeit. Vielleicht hängen die Unklarkeiten dann mit dem unklaren Status des Verhaltens zusammen, das nicht hekousion ist. Versuchen wir ein Beispiel einer Handlung zu finden, die nicht hekousion ist, ohne akousion zu sein. Nehmen wir an, der Arzt will den Kranken mit dem Getränk heilen, das ohne sein Wissen giftig ist, und nehmen wir gleichzeitig an, er ist mit dem Kranken verfeindet und im Grunde froh, wenn dieser stirbt. Dann scheint der Tod des Kranken nicht gegen das Wollen des Arztes, und er würde seinen Tod kaum bedauern. Doch was für den Arzt genau genommen nicht hekousion ist, ist das Ergebnis, dass der Patient tot ist. Wenn der Handelnde die ethische aretē besitzt und es ihm wichtig ist, jemand zu sein, der sie besitzt, dann wird das Ergebnis, dass er den Patienten getötet hat, dennoch für ihn akousion, gegen sein Wollen bleiben, und er wird bedauern, unwisDazu Ackrill 1980, Loening 172. Ich folge Dirlmeier 1956, 325 und verwende „Bedauern“ statt „Reue“, um keine falschen Assoziationen an die christliche Konzeption von Reue zu wecken, die den Griechen fremd ist. 9 So fragt auch Kenny 1979, 53. 10 Diesen Vorschlag macht Rapp 1995, 119. 7 8
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sentlich etwas getan zu haben, was die Aktualisierung seines ethischen Charakters unterbrochen hat. Anders als Aristoteles behauptet, scheinen also Handlungen, die nicht hekousion sind, immer auch akousion zu sein. Die zweite Unterscheidung (1110 b24–27) ist die zwischen Handlungen, die aus Unwissenheit getan werden (di’ agnoian), und solchen, die unwissend (agnoōn) getan werden. Ein Kriterium dafür, dass eine Handlung akousion ist, ist ersteres, dass sie aus Unwissenheit getan wird. Dieser Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass der Handelnde zwar grundsätzlich um seine Handlung weiß, jedoch in einer bestimmten Hinsicht, unter einer bestimmten Beschreibung über sie im Irrtum ist. Dass jemand unwissend handelt, bedeutet hingegen, dass er sich insgesamt in einem Zustand befindet, in dem das Wissen getrübt ist, sei es durch Betrunkenheit, Jähzorn oder andere besondere Umstände. Diese Verfassungen können natürlich auch Irrtümer über Situationsfaktoren begünstigen, sie können aber auch die ganze ethische Ausrichtung der Person überlagern und sind daher eher mit der charakterlichen Schlechtigkeit als mit dem akousion verwandt. Der charakterlich Schlechte (1110 b28–1111 a2) befindet sich in einem Zustand der Unwissenheit oder des Irrtums über das Gute, wobei dieser Zustand anders als der der Betrunkenheit andauernd ist. 11 Die jeweilige hexis enthält Vorstellungen darüber, was in einem Handlungsbereich gut ist, und wer eine falsche Charakterhaltung hat, also eine kakia statt der jeweiligen aretē, dem erscheint Schlechtes als gut; aufgrund dieser falschen allgemeinen Einstellungen tut er auch im Einzelnen das Schlechte. Wie schon unter a) erläutert wurde, ist die gute ebenso wie die schlechte hexis nichts der Person Äußerliches, und daher sind auch Strebungen, die ein Nichtwissen (im Sinne des agnoōn) des Guten zeigen, willentlich und entsprechend Gegenstand von Tadel. Mit dem Ungewollten aus Unwissenheit sind hingegen Irrtümer über einzelne Tatsachen der Situation gemeint, die nicht aus dem Charakter oder dem Wollen hervorgehen, sondern in der Wahrnehmung der Handlungssituation auftreten, nachträglich bedauert werden und im Allgemeinen entschuldbar sind. Die Hinsichten, in denen diese Art der Unwissenheit vorkommen kann, werden von Aristoteles detailliert aufgeführt (1111 a3–21): wer handelt, was er tut, welches der Gegenstandsbereich der Handlung ist (über was oder worin er handelt), womit, das heißt mit welchem Werkzeug, wozu und wie. Der erste Aspekt, dass der Handelnde weiß, wer er selbst ist, kann, so Aristoteles, normalerweise als gegeben unterstellt werden. Hingegen kann man sich über das Was täuschen, etwa wenn jemand etwas weitererzählt, ohne zu wissen, dass es sich um ein Ge11 Für diese Parallelisierung von „durch Unwissenheit handeln“ und „Nicht-Wissen des Allgemeinen“ argumentiert Sauvé-Meyer 177.
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heimnis handelt. Ein Irrtum über den Gegenstand oder die Person, die von der Handlung betroffen ist, liegt vor, wenn jemand beispielsweise den eigenen Sohn für einen Feind hält.12 Das Womit wird falsch erkannt, wenn jemand von einer Lanze, die er gebraucht, denkt, sie ende nicht spitz, sondern mit einer Rundung. Einen Irrtum über das Wozu enthält das oben verwendete Beispiel, in welchem jemand ein Getränk reicht, um zu heilen, in Wirklichkeit aber den Tod verursacht. Und schließlich besteht eine falsche Meinung über das Wie, wenn jemand meint, er zeige ruhig und vorsichtig die Griffe beim Ringen, die Griffe aber in Wirklichkeit heftig sind und den anderen niederschlagen. Als die wichtigsten Hinsichten hält Aristoteles das Wozu und den Gegenstand der Handlung fest. Das liegt nahe, da die einfachste Form der Handlungsbeschreibung eine Absicht, also ein Wozu, enthält und die meisten Handlungen auf einen Gegenstand oder eine Person bezogen sind.
c) Positive Bestimmung des hekousion (III 3) Die Bedingungen für das Vorliegen des akousion werden zusammengefasst und jetzt der positive Begriff des hekousion definiert: Wenn unwillentlich das ist, was durch Zwang und aus Unwissenheit geschieht, dann ist eine Handlung willentlich, wenn der Ursprung im Handelnden liegt, der die einzelnen Situationstatbestände kennt.
d) Zusammenfassung und Bewertung Der letztlich entscheidende Gesichtspunkt für den hekousion-Charakter von Handlungen scheint die Abwesenheit von Zwang oder die Selbstbewegtheit zu sein. Aristoteles begeht dabei nicht den Fehler, der modernen Indeterministen vorgeworfen wird, den Begriff des Zwangs mit dem der kausalen Bestimmtheit zu verwechseln. Zwang ist vielmehr im engeren Sinn der physischen Einwirkung gemeint, die die Selbstbewegung verhindert. Hingegen nimmt die Tatsache, dass eine Handlung eine kausale Reaktion auf eine bestimmte Situation ist, wie es beispielsweise für eine Handlung im Zorn gilt, dieser Handlung nichts von ihrer Willentlichkeit. Schwieriger als die Bedingung der Selbstbewegung ist die des Wissens einzustufen. Da Aristoteles mehrmals die Willentlichkeit auch von Hand12 Das Beispiel, das hier angeführt wird, stammt aus einem verlorenen Stück des Euripides. Aristoteles hätte ebensogut das Beispiel des Ödipus anführen können, der einen Menschen erschlägt, ohne zu wissen, dass es sein Vater ist.
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lungen in Zorn oder Begierde betont und darauf hinweist, dass auch Tiere und Kinder die Fähigkeit zu willentlichem Handeln haben, fragt man sich, was überhaupt der Status der Wissensbedingung ist. Denn diese dürfte im Fall der Tiere keine Rolle spielen, kann also keine notwendige Bedingung für das hekousion darstellen. In gewissem Sinn gilt das auch beim Menschen; eine Handlung, die aus Selbstbewegung hervorgeht, ist insgesamt willentlich. Wenn Aristoteles sagt, ein Kriterium der Willentlichkeit sei das Wissen der einzelnen Situationsumstände, könnte man das als unbeholfenen Versuch interpretieren, die Einsicht in Begriffe zu fassen, dass das wirkliche Ereignis, welches die Handlung darstellt, sich verschieden beschreiben lässt und dass sie nur in denjenigen Beschreibungen als Selbstbewegung des Handelnden betrachtet werden kann, die er kennt und unter denen er sie will. Dies zeigt zugleich, dass hier größere Probleme liegen, als sie Aristoteles bewusst sind. Denn man kann jetzt weiter die Frage aufwerfen, ob es sich dabei um ein explizites Wissen handeln muss oder ein implizites Wissen genügt, ob das Wissen nicht nur gegeben sein, sondern auf näher zu formulierende Weise in die Gründe der Handlung eingehen muss usw. Wie Aristoteles am Anfang von III 4 sagt, sind auch plötzliche Handlungen willentlich, bei denen vermutlich die Situationsfaktoren nicht vorab festgestellt werden. Das Wissenskriterium scheint dann bereits in den Kontext des spezifisch menschlichen Handelns zu gehören, das erst durch den Begriff der prohairesis vollständig charakterisiert wird.
2. Prohairesis und Überlegung (III 4–6) Aristoteles führt den Begriff der prohairesis so ein, dass die prohairesis einen Teilbereich des hekousion bildet (1111 b4–1111 b10), der in III 4 zunächst durch Abgrenzung von verwandten Phänomenen eingekreist wird. III 5 bestimmt den Gegenstandsbereich der prohairesis und endet mit ihrer Definition, während in III 6 der Unterschied zwischen dem Guten und dem scheinbar Guten erläutert wird.
a) Abgrenzung der prohairesis von verwandten Phänomenen (III 4) Wie Aristoteles zeigt (1111 b10–1112 a13), ist die prohairesis nicht identisch mit epithymia (Begierde), thymos (Zorn), boulēsis (Wunsch) oder doxa (Meinung). Aristoteles führt zunächst drei Gründe dafür an, warum die prohairesis nicht dasselbe ist wie Begierde und Zorn (1111b10–19). Erstens teilen wir Begierde und Zorn mit den Tieren, während sich die pro-
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hairesis bei Tieren nicht findet. Zweitens gibt es die Phänome der Beherrschtheit und Unbeherrschtheit (siehe Kap. VII), bei denen Begierde und prohairesis nicht wie beim charakterlich Guten in Einklang sind, sondern in getrennte Richtungen weisen, so dass sie nicht identisch sein können. Drittens bezieht sich die Begierde auf Angenehmes und Unangenehmes, die prohairesis hingegen nicht. Die prohairesis ist ferner nicht mit der boulēsis, dem Wunsch, gleichzusetzen (1111 b19–30). Das Wünschen ist wie das Begehren Bestandteil des menschlichen Strebens. Im Unterschied zur Begierde, die durch die Wahrnehmung des sinnlich Angenehmen hervorgerufen wird, ist das Wünschen ein Streben, das von der Vorstellung eines Guts geleitet ist.13 Da unsere Vorstellungsfähigkeit weiter reicht als unsere Handlungsfähigkeit, können sich Wünsche auf Sachverhalte beziehen, die grundsätzlich nicht durch menschliches Handeln bewirkt werden können, etwa die Unsterblichkeit. Ebenso können sie sich auf Dinge beziehen, die zwar prinzipiell durch Menschen erreichbar sind, die man aber nicht selbst tun kann; ein Beispiel hierfür wäre der Wunsch, ein bestimmter Sportler möge gewinnen. Demgegenüber bezieht sich die prohairesis immer auf das, was man selbst herbeiführen kann; ihr Bereich ist, wie es am Ende des Absatzes (b30) heißt, das eph’ hēmin (steht bei uns, steht in unserer Macht), das, was bei uns liegt. Ein weiteres Argument für den Unterschied von Wunsch und prohairesis (b26 ff.), das uns uns noch länger beschäftigen wird, lautet, das Wünschen beziehe sich eher auf das Ziel, die prohairesis mehr auf das, was zum Ziel führt. So ist es nach Aristoteles korrekt zu sagen, dass wir wünschen, gesund oder glücklich zu sein; hingegen sind diese Ziele keine möglichen Gegenstände einer prohairesis; vornehmen können wir uns nur die Mittel, die zu diesem Erwünschten führen. Auch von der Meinung, der doxa, ist die prohairesis zu unterscheiden (1111 b30–1112 a13). Denn die Meinung bezieht sich auf alles, auch auf Unveränderliches oder Unmögliches, die prohairesis hingegen, wie wir gesehen haben, nur auf das, was bei uns liegt. Außerdem ist die Meinung wahr oder falsch, die prohairesis gut oder schlecht. Anders gesagt: Die prohairesis ist, im Unterschied zur doxa, wesentlich praktisch, sie bezieht sich auf das, was wir handelnd ergreifen oder meiden. Entsprechend bezieht sich auch das ethische Urteil über eine Person nicht auf ihre Meinungen, auch nicht auf ihre ethischen Meinungen, sondern auf ihre prohairesis (so hat der Handelnde im schon erwähnten Fall der Unbeherrschtheit zwar richtige ethische Meinungen, ohne jedoch entsprechend zu handeln). Nach der Abgrenzung gegen Verwandtes fragt Aristoteles, was die prohairesis sein könnte, wenn sie mit keinem der bisher erläuterten Phänome13
Dazu Ricken 1976, 58f.
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ne zusammenfällt (1112 a13–17). Wie wir schon wissen, ist sie hekousion, jedoch ist nicht alles, was hekousion ist, Gegenstand einer prohairesis. Aristoteles bestimmt jetzt das gesuchte Spezifische der prohairesis: Sie ist dasjenige hekousion, das vorher überlegt (probebouleumenon) ist, dem also eine Überlegung (bouleusis) vorausgegangen ist. Damit ist klar: Die prohairesis ist das rationale, überlegte Wollen, und zwar das überlegte Wollen in der Weise, dass die Überlegung unmittelbar handlungsbezogen ist, also fragt, was hier und jetzt zu tun gut ist. Für die Übersetzungsfrage zeigt sich, dass das pro zeitlich gemeint ist, nicht ein Vorziehen einer Möglichkeit vor anderen ausdrückt, sondern das Tun von etwas, das man vorher bedacht hat.14 Eine genau passende Übersetzung dafür zu finden, ist schwierig; aber nach der jetzigen Erläuterung dürfte geeigneter als „Entscheidung“ oder „Wahl“ der Ausdruck „Vorsatz“ sein.
b) Bestimmung der prohairesis (III 5) Die Definition der prohairesis erfolgt erst ganz am Ende von III 5. Der Text davor erläutert ausführlich die spezifische Fähigkeit, die die prohairesis aus dem weiteren Bereich des hekousion ausgrenzt, nämlich die bouleusis, die Überlegung. Irritierend wirkt, dass diese nicht für den ethischen Bereich, sondern für den der technē erläutert wird. Genauer werden in III 5 zwei Punkte vertieft, die bereits in der Differenzierung zwischen Wunsch und prohairesis kurz erörtert wurden und sich jetzt anhand des Überlegungsbegriffs deutlicher darstellen lassen: erstens was sinnvollerweise Gegenstand von Überlegung sein kann (siehe unten (i)), zweitens dass der Wunsch auf das Ziel und die Überlegung auf die Wege zum Ziel bezogen ist (siehe unten (ii)). Der Bezug des Wunsches auf das Ziel wird in III 6 zum Thema. (i) Die Überlegung bezieht sich auf das uns Mögliche (1112 a18–b11). Was die Gegenstände der Überlegung betrifft, macht Aristoteles von Unterscheidungen Gebrauch, die er in seinen theoretischen Schriften eingeführt hat. Über den Bereich des Immer-Seienden stellt man keine Überlegungen an; das gilt ebenso für Außerzeitliches, etwa mathematische Gegenstände, wie für Raum-Zeitliches, das ewig und unveränderlich ist, wie beispielsweise den Kosmos. Auch bewegliche Dinge, die sich gesetzmäßig 14 Für eine zeitliche Interpretation plädiert u.a. Joachim, 100. Joachim weist auch darauf hin, dass die Griechen sich Entscheidungsprozesse nicht als eine Wahl zwischen mehreren Optionen vorstellen, deren Vor- und Nachteile abgewogen werden, sondern dass die Vor- und Nachteile einer Handlung, die sich dem Handelnden zunächst nahelegt, bedacht werden (98).
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immer auf dieselbe Weise verhalten, sind nach Aristoteles kein geeigneter Gegenstand von Überlegung, denn wo etwas naturgesetzlich oder aus anderen Gründen in seinem Ablauf festliegt, ist kein Spielraum für Handeln. Andererseits kommt auch der Bereich des völlig Unberechenbaren und Zufälligen nicht in Frage, weil dieser keine vernünftige Planung zulässt. Es bleibt der Bereich des Wahrscheinlichen, dessen, was meistens geschieht (hōs epi to poly, 1112 b8). In diesem Bereich, zu dem Aristoteles u. a. die technai der Medizin und der Erwerbskunst rechnet, sind Regelmäßigkeiten erkennbar, die aber Lücken haben und daher Spielräume für das menschliche Eingreifen eröffnen.15 Sinnvoller Gegenstand von Überlegung ist genauer dasjenige von Menschen Bewirkbare, das in unserer Macht steht und von uns ausgeführt werden kann (ta eph’ hēmin kai prakta). (ii) Die Überlegung betrifft nicht die Ziele, sondern die Wege zum Ziel (1112 b11–1113 a2). Obwohl Aristoteles die Überlegung erläutern will, wie sie in der Aktualisierung der ethischen aretē vorkommt, setzt er mit Beispielen aus dem Bereich der technē ein: Der Arzt überlegt nicht, ob er heilen soll, sondern sein telos, das Heilen, ist ihm (jedenfalls wenn er als Arzt handelt) vorgegeben, und die Aufgabe der Überlegung besteht darin herauszufinden, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden, die Frage, durch welche Mittel das Ziel zu erreichen ist, und die Frage, wie es durch ein bestimmtes Mittel zu erreichen ist. Gewöhnlich wird es sich dabei um zwei Schritte in demselben Überlegungsprozess handeln. Wenn ein Ziel sich durch mehrere Mittel erreichen lässt, muss zuerst überlegt werden, durch welches Mittel es am leichtesten und besten zu realisieren ist. Nachdem diese Frage beantwortet ist, wäre dann als Nächstes zu überlegen, wie das Ziel durch dieses Mittel zu erreichen ist. Der erste Schritt wird von Aristoteles nicht im Detail beschrieben, und auch die Erläuterung des zweiten Schritts bleibt abstrakt. Sehen wir uns daher an, wie der zweite Schritt am Beispiel der Gesundheit in der Metaphysik (1032b6ff.) ausgeführt wird. Die Gesundheit ist das telos, das, was am Ende bewirkt werden soll. Nun ist Gesundheit kein Ergebnis, das der Arzt allein durch eine Bewegung, 15 Ob diese Erklärung der menschlichen Wirkungsmöglichkeit angemessen ist, wäre zu überlegen. Schließlich benutzt eine technē wie das Hausbauen nicht Wahrscheinlichkeitsgesetze, sondern strenge Gesetze der Physik und der Statik, so dass technē-Handeln offensichtlich nicht allein im Bereich von Regelmäßigkeiten möglich ist, die nur meistens gelten. In Wirklichkeit geht es wohl eher darum, dass zwar die Naturgesetze allgemein und notwendig gelten, dass aber in konkreten Situationen Spielräume bestehen, in denen das menschliche Handeln eingreifen und so unter Benutzung der Naturgesetze wirken kann.
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die bei ihm liegt, unmittelbar und vollständig bewirken kann. Er muss vielmehr nach einer Handlung suchen, die in seiner Macht steht, die er selbst tun kann, die dann aber erst über einen Kausalprozess, dessen weitere Elemente nicht in seiner Hand liegen, normalerweise Gesundheit herbeiführt. Welches die geeignete Handlung ist, ist der Definition der Gesundheit zu entnehmen. Mit einer Definition ist dabei nicht eine Worterklärung gemeint, sondern eine Realdefinition, also eine Erklärung dessen, was Gesundheit wesentlich ist, eine Explikation des eidos (Wesen, Form) der Gesundheit. Was ist Gesundheit? Gesundheit ist Ausgeglichenheit im Körper. Wodurch kann man diese Ausgeglichenheit herstellen? Durch Wärme. Wie kann man Wärme bewirken? Durch Reibung. Reiben aber ist eine Handlung, die wir hier und jetzt direkt ausführen können. Erst dieser letzte Analyseschritt führt zu etwas, das in unserer Macht steht. Einen derartigen Überlegungsprozess muss man sich also vorstellen, wenn Aristoteles an unserer Stelle in der EN sagt, das Letzte in der Analyse sei das Erste im Entstehen: Der Überlegungsprozess führt zuletzt zur Handlung des Reibens, und diese ist der erste (und einzige) Schritt, den wir tun können, um das Entstehen von Gesundheit in der Realität zu bewirken. Wenn die Analyse richtig war, setzt diese Handlung einen Kausalprozess in Gang, an dessen Ende das gewünschte Ziel realisiert ist. Dabei kann es auch vorkommen, dass die Analyse nicht zu einer geeigneten Mittelhandlung führt, die in unserer Macht steht; in diesem Fall gibt man das Ziel auf. Wo sich ein Mittel zeigt, geht die Überlegung, da hinter ihr ein Streben stand, in eine prohairesis und im Normalfall zugleich in die Handlung selbst über, die – wiederum im Normalfall – das gewünschte Ziel realisiert (1112 b24–27). Die Hinzufügung „im Normalfall“ ist deswegen erforderlich, weil Störfaktoren in verschiedenen Stadien des Prozesses auftreten und so das erstrebte Ergebnis oder auch schon das Ausführen der Handlung verhindern können; z. B. könnte der Arzt durch physische Gewalt an der Handlung des Reibens gehindert werden, oder die durch Reiben erzeugte Wärme könnte unter außergewöhnlichen Witterungsbedingungen wirkungslos bleiben.16 Nachdem Aristoteles das Vorgehen der Überlegung erläutert hat, hält er fest, sie suche die Werkzeuge oder den Gebrauch der Werkzeuge, mit denen sich ein Ziel bewirken lässt (1112 b29). Diese Aussage ist ganz auf den technē-Bereich zugeschnitten, auf Handlungen, die um eines äußeren Produkts oder Ergebnisses willen getan werden, während das Handeln in der Ausübung der ethische aretē seinen Zweck in sich selbst haben sollte.17 16 17
Zur Rolle der Normalbedingungen siehe Wolf 1979, 24, 30 ff. Vgl. Gauthier/Jolif 203f.
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Worauf bezieht sich aber dann die Überlegung, wenn wir Beispiele nicht aus dem Bereich der technē, sondern aus dem des ethischen Handelns betrachten? Lässt sich beides überhaupt parallel verstehen? Für eine unterschiedliche Struktur spricht, was Aristoteles in der Metaphysik sagt, dass nämlich die Vermögen der Wissenschaft und technē zweiseitige Vermögen sind, d. h. offen lassen, ob sie in ethischer Hinsicht zum Guten oder Schlechten eingesetzt werden (1046 b19 f.). Die Medizin ist zwar definiert als die Fähigkeit zu heilen, aber das Wissen davon impliziert das Wissen, wie man jemanden krank macht. Aus dem medizinischen Wissen selbst heraus lässt sich nur überlegen, welche Schritte zu einem gegebenen konkreten Anwendungsziel führen, nicht aber, wann und wie man die technē gebraucht. Darüber gibt den Ausschlag die prohairesis (1048 a11), die wiederum von den ethischen hexeis des Handelnden abhängt, und deren Betätigung ist wesentlich nicht zweiseitig. Wer beispielsweise die ethische aretē der Gerechtigkeit besitzt, für den stellt sich in einer Situation, in der es um Gerechtigkeit geht, nicht die Frage, ob er in dieser Situation gerecht oder ungerecht sein will. Dass er ein gerechter Mensch ist, bedeutet gerade, dass er in relevanten Situationen aufgrund seines Charakters nach Gerechtigkeit strebt und gerechte Handlungsvorsätze fasst. Damit wird verständlicher, einerseits warum Aristoteles sagt, die Überlegung beziehe sich nicht auf Ziele, und andererseits, warum das nicht ganz stimmt. Beim ethischen Handeln wäre das Ziel etwa, dass man eine gerechte oder tapfere Handlung tun will, oder allgemein, dass man das tun will, was kalon ist. Das Tun des kalon ist wiederum eine Form des Guts für den Menschen, der eudaimonia. Wie Aristoteles bereits in III 4 angedeutet hat, überlegt niemand, ob er die eudaimonia will, auch nicht, ob er das kalon tun soll; überlegt werden vielmehr ta pros ta telē, das zum Ziel Beitragende. Die gängigen Übersetzungen dieses Ausdrucks, „die Wege zum Ziel“ oder „Mittel zum Zweck“, sind irreführend, sie klingen so, als hätten wir beim ethischen Handeln letztlich eine ähnliche Überlegungsstruktur wie in der technē, nur dass es nicht um dieses oder jenes Ziel geht, sondern um das letzte Ziel, die eudaimonia. Doch in Wirklichkeit ist der Unterschied grundsätzlich. Während die Ziele des technē-Handelns wie das Bauen eines Hauses, aber auch die Gesundheit klar umrissen sind, sind das kalon und die eudaimonia Ziele, die das ganze Leben umfassen und entsprechend abstrakt und vage bleiben. Dann kann man hier nicht im gewöhnlichen Sinn nach Mitteln zu diesen Zielen fragen. Wer in einer Situation gerecht handeln will, fragt nicht, was das kausale Mittel oder, wie Aristoteles sagen würde, die Wirkursache zur Realisierung der Gerechtigkeit ist, sondern was in dieser Situation das Gut der Gerechtigkeit erfordert, wie es in dieser Situation zu spezifizieren
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oder zu konkretisieren ist.18 Wer glücklich sein will, fragt nicht, welche Handlung die eudaimonia bewirkt, sondern welche konkrete Handlung einen Beitrag zur eudaimonia darstellt. Dann aber bezieht sich die Überlegung in gewisser Weise doch auf das Ziel, insofern sie das, was die eudaimonia inhaltlich ausmacht, erst schrittweise durch die Reihe der Handlungen ausfüllt, in denen das Leben sich vollzieht.19 Aristoteles verfügt nicht über die begrifflichen Mittel, diese strukturellen Unterschiede zwischen technischem und ethischem Handeln zu fassen, aber der Ausdruck ta pros to telos hat anders als unser Wort „Mittel“ einen genügend informellen Sinn, um die unterschiedlichen Relationen ausdrücken zu können. (iii) Definition der prohairesis (1113a2–14). Überlegung (bouleusis) und Vorsatz (prohairesis) haben denselben Gegenstand, unterscheiden sich jedoch darin, dass wir uns mit dem Begriff der Überlegung mehr auf den noch offenen Prozess des Erwägens einer Handlung beziehen, während der Begriff der prohairesis das Ergebnis dieses Prozesses bezeichnet. Dieser Punkt, an dem die Überlegung zum Stehen kommt, ist erreicht, wo wir den Ursprung der Handlung auf uns selbst, und in uns auf das Leitende, also den vernünftigen Seelenteil, zurückgeführt haben. Da die Überlegung ihrerseits durch eine Strebung ausgelöst wird und deren geeignete Umsetzung ins Handeln aufzufinden hat, lässt sich die prohairesis definieren als überlegtes Streben (hexis bouleutikē) nach dem, was in unserer Macht steht.
c) Der Zielbezug des Wünschens (III 6) Während sich die Überlegung auf ta pros ta telē, das zum Ziel Beitragende, bezieht, geht für Aristoteles das Ziel aus dem Streben bzw. Wünschen hervor. Das Strebevermögen enthält die internalisierte Ausrichtung auf das Gute bzw. die verschiedenen Güter. Wie im Zusammenhang mit Buch I schon vermutet wurde (oben S. 27), ist jedoch nicht alles, was jemand erstrebt oder wählt, wirklich ein Gut. Aristoteles unterscheidet daher jetzt zwischen dem, was nur manchen Individuen als ein Gut erscheint, und dem, was haplōs (schlechthin, an sich), im unqualifizierten Sinn oder einfachhin ein Gut ist. Dennoch ist auch für Letzteres das Kriterium das Werturteil eines bestimmten Menschen, desjenigen, der spou daios (hervorragend, tüchtig, gut) ist. Dem ethisch Guten erscheint nämlich das als ein Gut, was in Wahrheit ein Gut ist, dem Schlechten hingegen Beliebiges. Der spoudaios, der im Besitz der ethischen aretai ist, ist daher Maß und Richtschnur (kanōn kai metron) für die Erkenntnis der Güter. 18 19
Diese Interpretation vertritt auch Wiggins 228. Ähnlich Hughes 103ff., siehe aber auch schon Ricken 1976, 83.
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Dass etwas mit Recht als Gut gewünscht ist, könnte man auch so formulieren, dass es nicht nur faktisch gewünscht wird, sondern tatsächlich wünschenswert ist. Der normative Begriff des Wünschenswerten wird also von Aristoteles übersetzt in einen deskriptiven Begriff, indem er auf eine Art von ethischen Experten verweist, die faktisch das wünschen, was wünschenswert ist. Doch wenn der spoudaios die Richtschnur für die Bestimmung der wahren Güter ist, wie weiß dieser selbst, was zu wünschen gut ist? Sicher ist sein Charakter, sein Strebevermögen, auf die wirklichen Güter ausgerichtet. Doch dieses Wünschen ist vage und erklärt nicht, wie er in der einzelnen Situation herausfindet, in welchen konkreten Vorsatz das Wünschen zu fassen ist. Diese Schwierigkeit müssen wir anhand des VI. Buchs weiterverfolgen.
d) Zusammenfassung: Der Mensch als Bewegursache und das Zustandekommen ethischer Handlungen (i) Zielursache. Nach Aristoteles entsteht, so haben wir gesehen, eine ethische Handlung durch ein Zusammenspiel von Streben und Überlegung. Dieses Zusammenspiel ist komplex. Weder haben wir automatisch aufgrund der ethischen aretē schon die richtige Strebung bzw. den richtigen Wunsch in der konkreten Situation, noch finden wir den richtigen Vorsatz einfach durch die Überlegung, um ihn uns dann nachträglich im Streben zu Eigen zu machen. Vielmehr muss man sich das Eintreten einer Handlung so vorstellen: Wir finden zunächst einen Wunsch bzw. eine Strebung in uns vor, oder eine äußere Situation löst ein Streben bzw. einen Wunsch aus. Worauf sich dieses Streben richtet, was eine Person für gut hält und sich zum Ziel setzt, wird im Bereich des ethischen Handelns bestimmt durch die relevante hexis, durch eine andauernde Disposition, in der die Wertvorstellungen bzw. Zielausrichtungen internalisiert sind. Am Anfang steht also genau genommen das, was Aristoteles in seinen theoretischen Schriften die Zielursache nennt, das telos, das das Handeln leitet, die Vorstellung eines Guts. Diese Vorstellung wird nun in der Überlegung in eine prohairesis, einen Handlungsvorsatz für die gegebene Situation konkretisiert. Der Inhalt dieses Vorsatzes, das durch die Überlegung hindurchgegangene Ziel, der reflektierte Wunsch, ist nicht mit dem ursprünglichen Wunsch, der unmittelbar aus dem Strebevermögen hervorgeht, identisch. 20 Das konkretisierte Ziel muss aber seinerseits vom Streben übernommen werden (1113 a12), weil nur das Strebevermögen Handlungen in Gang setzen kann. 20 Dass die aus der Überlegung hervorgehende Strebung von der ursprünglichen Strebung zu unterscheiden ist, betont mit Recht Joachim 104 f.
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(ii) Überlegung. Am Anfang der Handlung steht also das Erstreben eines Ziels. Dieses löst eine Überlegung darüber aus, wie es zu realisieren ist. Die Überlegung führt über eine mehr oder weniger große Anzahl von Zwischenschritten zu einer Handlung, die man unmittelbar selbst vollziehen kann. Im Bereich der technē besteht die Überlegung in der Analyse des gewünschten Ziels, in der Explikation seines eidos. Im ethischen Bereich hingegen sind wir auf das Problem gestoßen, dass das Ziel des kalon oder auch die spezielleren Güter der einzelnen aretai (wie Tapferkeit oder Gerechtigkeit), in die das kalon sich auseinander legt, vage und nicht klar definierbar sind. Dass Aristoteles sich über die Unterschiede zwischen dem Überlegen im Bereich der technē und dem Überlegen über ethische Güter im Klaren ist, lässt sich anhand einer Stelle aus III 7 demonstrieren, die ich daher vorziehen möchte. Dort findet sich der auf den ersten Blick seltsam anmutende Hinweis, der Mensch sei auf dieselbe Weise Ursprung (archē) und Erzeuger seiner Handlungen wie seiner Kinder (b18 ff.). Ausführlicher wird das in der EE erläutert (1222 b19 ff.). Alle Lebewesen sind gemäß ihrer Natur Ursprünge, sie erzeugen andere Wesen derselben Art bzw. Form (eidos). Der Mensch allein ist außerdem Ursprung der Handlung (praxis), welche eine Bewegung (kinēsis) ist, und zwar erster Ursprung (kyrios), d. h. er selbst kann Handlungen in Gang setzen. Was aber bedeutet es, dass der Mensch Ursprung seiner Handlungen wie seiner Kinder ist? Wenn der Mensch einen Menschen zeugt, versteht Aristoteles das so, dass jeweils die Form bzw. Gestalt (eidos) weitergegeben wird, die der Samen enthält. Nun dürfte Aristoteles weiter meinen, dass auch Handlungen eine Gestalt realisieren, von der der Handelnde sich vorher eine Vorstellung macht. Wenn jemand die in einer gegebenen Situation tapfere Handlung realisieren will, muss seine Überlegung zunächst darin bestehen herauszufinden, welche konkrete Gestalt dem Ziel der Tapferkeit in dieser Situation zu verleihen ist, durch welche konkrete prohairesis es am besten artikuliert wird. Da nun in der Aktualisierung der ethischen aretē, im Hinzielen auf das kalon, gerade die eine der beiden wesentlichen Formen des guten Menschseins liegt, ist es letztlich der Handelnde selbst, der sich, indem er den Handlungsvorsatz realisiert, mit der entsprechenden Gestalt versieht und sie durch wiederholte ähnliche Vorsätze immer weiter konkretisiert.21 Während also ein Ziel im Bereich der technē durch Analyse seines gegebenen eidos zu einer prohairesis führt, wird ein ethisches Ziel, das weniger ein Ziel als eine vage Ausrichtung ist, durch die Reihe der Handlungsvorsätze erst nach und nach zu einem eidos ausgearbeitet.22 21 22
Ich übernehme diese Interpretation von Müller 190 ff. Dabei könnte es natürlich sein, dass die ethische Überlegung zu einer Hand-
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(iii) Bewegursache. Das erstrebte Gut setzt eine Überlegung in Gang, die zu einer konkreten Handlung führen muss, die in der Macht des Handelnden steht, so dass er sie sich zur unmittelbaren Ausführung vornehmen kann und sie unter Normalbedingungen sodann tun wird. Der Mensch ist in diesem Sinn, wie Aristoteles sagt, eine archē praxeōn (Ausgangspunkt, bewegendes Prinzip von Handlungen (1112 b31)), er ist das, was Aristoteles in seiner Lehre von den Ursachen die Bewegursache nennt und was ungefähr unserem Begriff einer Wirk- oder Kausalursache entspricht. Zu den Bewegursachen gehören für Aristoteles neben dem menschlichen Handeln die Natur, die Notwendigkeit, der Zufall und der nous (Geist, Verstand), die göttliche Vernunft (1112a31–34). Dass der Mensch eine archē praxeōn ist, wird manchmal so interpretiert, als sei menschliches Handeln ein Bewegungsursprung in dem absoluten Sinn, dass der Mensch Kausalketten neu initiieren kann, dass er eine eigenständige Art von Verursachung neben der Naturkausalität in die Welt bringt. Träfe diese Interpretation zu, müsste Aristoteles, in Begriffen der modernen Freiheitsdebatte ausgedrückt, den so genannten Inkompatibilisten zuzurechnen sein, also denjenigen Theoretikern, die die Unvereinbarkeit von Handlungsfreiheit und kausaler Determination vertreten. Doch in Wahrheit stellt die aristotelische Position eine Spielart dessen dar, was man heute die Vereinbarkeitstheorie nennt. 23 Nur das göttliche Seiende, der unbewegte Beweger, ist, wie der Name sagt, eine Instanz, die tätig ist, ohne dazu anderer Ursachen zu bedürfen. Der Mensch hingegen handelt in der Weise des bewegten Sich-Bewegens,24 die prohairesis bzw. Handlung steht am Ende eines Prozesses, der nur abläuft, weil zur Selbstbewegung des Handelnden noch andere, von außen kommende Faktoren mitwirken. Die Besonderheit menschlichen Handelns liegt nach Aristoteles darin, dass äußere Ursachen nicht unmittelbar eine Wirkung auslösen, sondern dass dies vermittelt durch eine Überlegung geschieht, die in eine prohairesis bzw. Handlung mündet. Diese ist also nicht absoluter Ursprung einer Kausalkette; vielmehr ist die Kausalkette hier nur um ein Glied komplexer als bei Naturvorgängen.25 lungsbeschreibung führt, die noch die Frage offenlässt, durch welche physische Handlung das konkretisierte telos zu realisieren ist, also noch eines weiteren Überlegungsschrittes bedarf, der nicht mehr ethischer Art ist, sondern eine technē-Überlegung erfordert. 23 So richtig Jedan 129, 161. 24 Diesen Aspekt der aristotelischen Naturauffassung hat überzeugend Wieland (siehe Lit. II.) 234ff. herausgearbeitet. 25 Siehe Metaphysik IX 5, 1048 a11. Ähnliche Auffassungen werden heute z. B. von Tugendhat 1992 und Hospers vertreten; sie sind in dem Punkt schwächer als
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3. Fragen der Zurechnung (III 7) Dieses Textstück knüpft zunächst an die Definition der prohairesis an und beginnt mit der Behauptung, wenn die Handlungen, in denen sich die ethische hexis nach einer Überlegung äußert, hekousion sind und auf einer prohairesis beruhen, stehe auch die hexis selbst in unserer Macht, liege es also bei uns, welche hexis wir haben. Der Bezug auf die prohairesis wird allerdings in der weiteren Durchführung fallen gelassen, und das Ergebnis ist auf die These beschränkt, auch der ethischen hexis komme das hekousion zu. Was Aristoteles in dieser Passage interessiert, sind Fragen der moralischen und rechtlichen Zurechnung von Handlungen, der Verantwortung des Handelnden und der Anwendbarkeit von Strafe. Wo es um diese Fragen geht, liegt es nahe zu sagen, dass jemand dann für eine Handlung verantwortlich ist, wenn sie bei ihm liegt, wenn die Ausführung oder Unterlassung in seiner Macht steht. In der Tat herrscht im Kontext der Zurechnungsthematik der schon erwähnte Ausdruck eph’ hēmin vor, „was bei uns liegt, in unserer Macht steht“. Dieser Ausdruck ist ungefähr gleichbedeutend mit dem des hekousion.26 Im Alltag ist es üblich, sich aus der Verantwortung durch gewisse Entschuldigungsgründe herauszureden.27 Das Argumentationsziel in III 7 besteht in der Hauptsache darin zu zeigen, dass diese Gründe häufig nicht haltbar sind. Die Ausführungen sind allerdings eher lose und zeigen keine klare Systematik, so dass ich nicht der Reihe nach dem Text folge, sondern die wichtigsten Punkte herausgreife. Das Zentrum der Überlegungen bildet die Frage, die auch in der heutigen Zurechnungsdebatte besondere Beachtung findet: ob, wenn die Handlungen aus Charakterdispositionen, aus einer jeweiligen ethischen hexis hervorgehen, diese hexis ihrerseits der Person zuzurechnen ist oder nicht.
die aristotelische, als sie nicht verlangen, dass jeder Handlung eine explizite Überlegung vorausgehen muss. Vielmehr genügt es, dass der Handelnde mit Bezug auf die Handlung fähig ist zu überlegen, für Gründe zugänglich ist. 26 Wenn ihn Aristoteles im jetzigen Zusammenhang vorrangig verwendet, kann man jedoch vermuten, dass er eine andere Nuance hat. Das eph’ hēmin passt am besten auf die Situation vor oder während der Überlegung, wo wir mit offenen Handlungsperspektiven konfrontiert sind. Hingegen ist im Zusammenhang des hekousion eher die Frage, unter welchen Bedingungen eine Handlung nachträglich dem Handelnden zugerechnet oder entschuldigt wird. Auf diesen Unterschied verweist Loening 151, während er das eph’ hēmin ansonsten mit dem hekousion gleichsetzt. 27 Für die heutige Praxis der Entschuldigung von Handlungen vgl. Austins berühmten Aufsatz „A Plea for Excuses“.
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a) Präzisierung der Kriterien der Unabsichtlichkeit Wie Aristoteles konstatiert, bestätigt die juristische Praxis die beiden in III 1 und 2 ausgearbeiteten Kriterien dafür, wann ein Verhalten aus dem hekousion auszunehmen ist: das Kriterium des Zwangs und das Kriterium der Unwissenheit mit Bezug auf die konkreten Umstände (1113 b24). Dieses letztere Kriterium wurde bereits dahingehend präzisiert, dass die Person die Handlung nachträglich bedauert. Nun wird es weiter dadurch eingegrenzt, dass die Unwissenheit ihrerseits entschuldbar sein muss. Ähnlich unseren heutigen Vorstellungen ist für Aristoteles die Unkenntnis der Gesetze im Allgemeinen kein Entschuldigungsgrund; vom Staatsbürger wird verlangt, dass er sich über die Gesetze informiert, solange es sich nicht um sehr ausgefallene Dinge handelt (1113 b34). Auch in anderen Hinsichten gibt es Standards, welches Wissen man von einem Handelnden erwartet, und wer sich weniger als üblich oder angemessen über die Umstände kundig macht, handelt, wie wir heute ebenfalls meinen, fahrlässig. Die Bedingung, dass die Unkenntnis konkreter Situationsfaktoren das hekousion aufhebt, wird also eingeschränkt. Eine andere Art der Unwissenheit war bereits in III 2 als Kriterium der Ungewolltheit abgelehnt worden. Sie betraf dasjenige Handeln, das nicht aus Unwissenheit geschieht, sondern unwissend, d. h. in einem Zustand, in dem das Wissen insgesamt vorübergehend getrübt ist, oder in einer Verfassung, in der dauerhaft das ethische Wissen vom Guten fehlt. Auch hier sind damals wie heute Versuche der Entschuldigung gängig. Aristoteles weist diese für den Fall der vorübergehenden Wissenstrübung, wie sie etwa durch Betrunkenheit entsteht, mit dem Argument zurück, es sei dem Handelnden selbst zuzurechnen, dass er sich betrunken hat (1113 b32 f.). Mit der Entschuldigung, das Nichtwissen des Guten komme aus dem Charakter, für den die Person nicht selbst verantwortlich sei, setzt Aristoteles sich dagegen ausführlicher auseinander.
b) Sind wir für unseren Charakter verantwortlich? Wie in 1113 b14 deutlich wird, steht im Hintergrund der Erörterung dieser Frage die sokratische These, niemand sei willentlich (hekōn) schlecht (ponēros). Die Überzeugung des Sokrates wird von Platon gewöhnlich so formuliert, dass niemand willentlich Schlechtes tut;28 sie bezieht sich also auf einzelne Handlungen, während Aristoteles sie auf den Charakter be28 Zu der Frage, warum Sokrates bzw. Platon diese für uns zunächst verwunderliche These vertreten, siehe Kapitel VII.
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zieht, auf die Frage, ob man willentlich schlecht ist. Nachdem der Begriff des hekousion auch von Aristoteles für Einzelhandlungen eingeführt war, ist unklar, welche Bedeutung er mit Bezug auf Charakterhaltungen haben kann. Da Aristoteles am Ende der relevanten Textpassagen selbst auf diesen Punkt hinweist (1114 b30 f.), geht es ihm also genau darum zu klären, in welchem besonderen Sinn auch die hexeis willentlich sein oder bei uns liegen können. Eine ethische hexis, beispielsweise die aretē der Gerechtigkeit oder die kakia der Ungerechtigkeit, entsteht, wie wir bereits aus Buch II wissen, durch die wiederholte Ausführung von gerechten bzw. ungerechten Einzelhandlungen. Da diese Handlungen willentlich sind, liegt, so argumentiert Aristoteles, auch die aretē und die kakia bei uns. Erinnert wird an die Aussage aus III 1, es sei inkonsistent, sich die guten Handlungen zuzurechnen und Lob für sie zu erwarten, hingegen die Verantwortung für die schlechten Taten abzulehnen. Wenn es bei uns liegt, die gerechte Handlung zu tun, dann liegt auch das Nichttun des Gerechten bei uns. Denn der Mensch ist, wie Aristoteles genauer in Metaphysik IX 2 und 5 ausführt, in der Weise Urheber von Handlungen, dass er die Dinge, die im Bereich seiner Macht liegen, immer tun kann oder nicht tun kann. Da im Tun bzw. Nichttun gerechter oder anderer ethisch guter Handlungen aber gerade die aretē bzw. kakia besteht, liegt es auch bei uns, gut oder schlecht im Charakter zu sein (1113 b3–14). Die Antwort, die Aristoteles auf die Frage nach der Verantwortung für die eigenen hexeis gibt, lautet also: Wenn die Einzelhandlungen, durch die der Charakter entsteht und in denen er sich manifestiert, willentlich sind, ist auch der Charakter willentlich. Dagegen liegt folgender Einwand nahe: Durch viele Einzelhandlungen, die man in der Situation gewollt hat, könnte sich eine schlechte Charakterhaltung wie Ungerechtigkeit oder Unmäßigkeit bilden, die nicht dem entspricht, wie man sein will. Hat diese sich aber verfestigt, dann bestimmt sie die einzelnen Handlungen, so dass wir nicht mehr anders handeln können und für die schlechten Handlungen nicht mehr verantwortlich sind. Aristoteles hält diesen Entschuldigungsgrund für nicht überzeugend (1114 a3– b25); wir hätten vorhersehen können, dass wir später schlechte Hand lungen tun werden. Denn wir wissen aus anderen Handlungsbereichen, etwa dem Sport, dass aus wiederholten Tätigkeiten bestimmte Haltungen oder Dispositionen entstehen. Aus diesem Wissen zusammen mit der Willentlichkeit der einzelnen Handlungen ergibt sich für Aristoteles, dass es bei uns liegt, welche ethischen Haltungen wir erwerben, dass also jemand, der Handlungen tut, die ungerecht sind, in der Tat ungerecht sein will. Aus dieser Willentlichkeit der hexis folgt jedoch nicht, dass wir eine Haltung, die sich einmal festgesetzt hat, sofort ändern können; sie gleicht
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darin einer Krankheit, die man durch eine ungesunde Lebensweise ursprünglich selbst verursacht hat (1114 a14 ff.), oder dem Verletzen einer anderen Person als Folge eines Steinwurfs, durch den man eine Kausalkette mit Folgen auslöst, die sich der Kontrolle entziehen. Was bei uns lag, war der erste Bewegursprung (archē); es war uns am Anfang möglich, nicht so zu werden. Neu in diesem Zusammenhang ist der Ausdruck exestin (man hat in der Hand, es steht frei, man hat die Möglichkeit), der eher die äußere Möglichkeit, die Gelegenheit ausdrückt, während das eph’ hēmin das Tunkönnen in der Handlungssituation betont.29 Das Beispiel des Steinwurfs zeigt, dass wir auch Folgen von Handlungen zurechnen, die jenseits unserer Einwirkung liegen. Man wird die Folgen auf jeden Fall kausal zurechnen; moralisch wird man sie zurechnen, wenn der Handelnde die Folgen kannte oder hätte kennen sollen. Die Person kann sich zur Rechtfertigung schlechter Handlungen auch nicht damit herausreden, das schlechte Ziel sei ihr als gut erschienen und dieses Erscheinen gehe nicht letztlich auf sie zurück (1114 a31–b25, b30– 1115 a3). Denn wenn die Vorstellung der Ziele von den ethischen hexeis abhängt, die jemand erworben hat, diese aber, wie wir gesehen haben, hekousion sind, dann liegt es im bisherigen Sinn auch bei einem selbst, welche Ziele einem gut erscheinen. Aristoteles räumt an dieser Stelle30 ein, dass der Begriff des hekousion genau genommen nicht in vollem Sinn auf die hexis anwendbar ist(1114b30–1115a3): Im eigentlichen Sinn hekousion ist allein die Einzelhandlung, weil wir hier in Kenntnis der Situationsumstände handeln und der ganze Verlauf der Handlung bei uns liegt. Hingegen haben wir beim Entstehen der hexis nur den Anfang in der Hand, während wir den weiteren Verlauf nicht mehr kontrollieren können. Dennoch lautet das Fazit, dass die ethische hexis letztlich zum hekousion gehört (1114b19).
c) Zusammenfassende Bewertung Diese Auffassung wirft mehrere Probleme auf. Aristoteles scheint sich, wie das Beispiel des Steinwerfens zeigt, das Entstehen der hexis vorzustellen als das Resultat menschlicher Handlungen. Der Anfang, eine bestimmte ungerechte Handlung, liegt bei der Person, und tut sie eine solche mehrmals, entsteht, wie sie weiß, die Ungerechtigkeit als feste hexis; also ist ihr dieses Ergebnis zuzurechnen. Doch in Wirklichkeit sind die Beispiele Vgl.Loening 166ff. Diese Zeilen gehören sinngemäß hierher, und einige Herausgeber (Gauthier/ Jolif, Gigon) stellen sie daher um. 29
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nicht ganz analog. Was bewirkt wird, ist kein einzelnes Ereignis, sondern eine Charakterhaltung. Das Bewirkende ist nicht eine einzelne Handlung, sondern viele wiederholte Handlungen.31 Dann liegt die Frage nahe, ob wir es nicht auch in der Hand haben, eine schlechte hexis zwar nicht auf einen Schlag zu ändern, aber durch viele Einzelhandlungen der richtigen Art zu einer guten umzugewöhnen. Das ist eine Möglichkeit, die Aristoteles nicht explizit erwägt, obwohl sie vielleicht im Sinn seiner Konzeption wäre. Diese Unklarheit hängt mit dem weiteren Problem zusammen, dass hinsichtlich der Zurechnung der hexis eine gewisse Diskrepanz zwischen den Äußerungen in Buch II und denen in III 7 besteht.32 Die hexis erwerben wir, wie in Buch II zu erfahren war, von frühester Kindheit an, indem wir durch Erziehung gewöhnt werden, bei den richtigen Dingen Lust und Unlust zu empfinden, also lange ehe wir wissen, welche hexis gut ist, wie sie entsteht usw. Sobald wir aber ethische Haltungen erworben haben, hängt es von diesen ab, was uns gut erscheint, was wir wollen und tun. Wenn die Menschen von klein auf zu bestimmten hexeis erzogen werden, dann liegt die Verantwortung genau genommen nicht bei ihnen, sondern beim Erzieher und Gesetzgeber. In der Tat fasst Aristoteles nirgends die Möglichkeit ins Auge, dass der erwachsene Mensch einen Überlegungsspielraum hinsichtlich seiner Ziele und Wünsche oder bezüglich seines Charakters hat, der diese Wünsche enthält. Vielmehr erfahren wir in X 10, dass auch die Mehrzahl der erwachsenen Menschen andauernder Erziehung durch die Gesetze und Gerichte bedarf, um im Charakter gut zu bleiben oder zu werden (1180a1 ff.). Dann könnte man die zur sonstigen Theorie nicht ganz passende Auffassung, wonach der Charakter hekousion ist, dadurch erklären, dass sie im Kontext von Äußerungen über Erziehung und Strafe steht. Sie eignet sich als Grundlage für eine bestimmte Strafauffassung, die Aristoteles in politischen Zusammenhängen vertritt, dass nämlich Strafe eine Art von Besserungs- und Abschreckungsfunktion hat.33 Der Charakter muss, so könnte Vielleicht sieht Aristoteles hier deswegen eine Analogie bereits im Einzelfall, weil er die schon erläuterte Vorstellung hat, wir gestalteten in jeder Handlung unser ganzes eidos. Wenn man sich durch einzelne Handlungen eine bestimmte Gestalt zu geben vornimmt, heißt das, dass die Handlung als Ausdruck einer Persönlichkeitsgestalt, also einer Charakterhaltung gemeint ist. Damit scheint dann der Zusammenhang zwischen der Willentlichkeit der einzelnen Handlung und der Willentlichkeit des Charakters hergestellt. In Wirklichkeit hilft dieser Schachzug nicht weiter, da das eidos in der Anfangsphase, in der sich die hexeis verfestigen, nicht von der Person selbst, sondern von den Erziehern geformt wird. 32 Ähnliche Probleme konstatiert auch Hughes 136. 33 Zum Folgenden auch Loening Anhang I. 31
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Aristoteles argumentieren, zumindest hekousion im Sinn der Selbstbewegung sein, weil sonst Tadel und Strafe, die den Charakter ändern sollen, nicht greifen können. Doch was in Wirklichkeit selbstbewegt ist und Strafandrohungen als Situationsfaktor in Rechnung stellen kann, ist die Einzelhandlung. Ob derjenige, der die Strafandrohung ignoriert und trotz ihrer schlecht handelt, es in der Hand hatte, jemand zu werden, der nichts Schlechtes tun will, spielt dafür keine Rolle. Wenn Aristoteles dennoch so großen Wert darauf legt, dass man die Schlechtigkeit ursprünglich in der Hand hatte, dann spielen hier vielleicht doch Reste einer anderen, älteren Strafauffassung eine Rolle, wonach die Strafe eine Vergeltung für Schuld ist und verdient sein muss.34
34 Für die Einteilung der wichtigsten Strafvorstellungen siehe Schmidhäuser, Honderich, Pothast Kap.IX.
VI. Phrone¯sis (Buch VI) Das VI. Buch behandelt die dianoetischen oder intellektuellen aretai. Diese Untersuchung ist aus zwei Gründen vom Bisherigen gefordert. Erstens haben wir im letzten Kapitel gesehen, dass die ethische aretē erst dann vollständig vorhanden ist, wenn sie verbunden mit Überlegung ausgeübt wird; die Überlegung aber ist ihrerseits die Betätigung einer dianoetischen aretē, der phronēsis. Zweitens hatte Aristoteles in I 6 und 13 zwei spezifisch menschliche Seelenvermögen unterschieden, die ihre jeweils eigene aretē haben und daher zwei Formen der eudaimonia konstituieren, das bisher behandelte Strebevermögen und das Vernunftvermögen, das jetzt zum Thema wird. Nach Meinung vieler Interpreten ist das VI. Buch der EN in vielen Punkten sehr knapp und außerdem in der Darstellung eher verworren.1 Es beginnt zwar mit einer systematischen Anknüpfung an die bisherigen Bücher, hat aber in sich keine klare Systematik. Die Frage nach den intellektuellen aretai wird zu Anfang aufgeworfen, jedoch werden die verschiedenen Kandidaten in variierender Form aufgezählt und in lockerer Aneinanderreihung, vielfach ohne Zuspitzung auf die Eingangsfrage, beschrieben. Damit vermischt sind Passagen, die den Argumentationsgang der Bücher II und III weiterführen, also das Zusammenspiel der ethischen aretē und der phronēsis betreffen. Angesichts dieser Textlage werde ich diejenigen Teile, die für das Verständnis der ethischen Abhandlung nicht unbedingt erforderlich sind, nur kursorisch behandeln und mich auf die Darstellung der phronēsis konzentrieren. Das Kapitel ist wie folgt gegliedert: 1. Einbettung und Einteilungen (VI 1, VI 2 bis 1139 a3), 2. intellektuelle Haltungen (hexeis) und aretai (VI 3–7), 3. die Rolle der phronēsis im guten Handeln (Teile von VI 2, 5, 8– 12), 4. das Verhältnis von ethischer aretē, phronēsis und sophia (VI 13).
1. Einbettung und Einteilungen a) Einbettung (VI 1 und VI 2 bis 1139a3) Aristoteles macht die systematische Anknüpfung der Untersuchung selbst deutlich. Sie ist erstens notwendig zur Vervollständigung der Lehre 1
So u.a. Flashar 1985, Ebert.
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von der ethischen aretē. Diese war in Buch II bestimmt worden als eine mittlere hexis mit Bezug auf Affekt und Handlung. Die Mitte sollte nicht arithmetisch zu verstehen sein, sondern wird bestimmt durch den orthos logos (rechte Einsicht, rechte Vernunft, richtige Planung (1138 b20)); der richtige logos wiederum ist derjenige, über den der phronimos (der Verständige, der Kluge, der Einsichtige) verfügt. Aristoteles räumt jetzt selbst ein, dass diese These zwar zutrifft, jedoch kein klares Kriterium zur Bestimmung des Richtigen liefert (1138 b25 ff.). Denn die Frage bleibt offen, welches der richtige logos ist und wie er gefunden wird. Der zweite Kontext, der nach einer Erörterung der phronēsis verlangt, sind die Überlegungen in I 6 und 13. Die menschliche eudaimonia war in I 6 bestimmt worden als Betätigung des vernunftbegabten Teils der menschlichen Seele gemäß der aretē. In I 13 war genauer erläutert worden, dass es zwei Seelenteile gibt, die spezifisch für den Menschen sind, einerseits das Strebevermögen, das sich nach der Vernunft richten kann, und andererseits das Vernunftvermögen im engeren Sinn. Folglich gibt es auch zwei Arten der menschlichen aretē, die aretai des Strebevermögens, die ethischen aretai, auf der einen Seite, und die aretai des Vernunftvermögens, die dianoetischen aretai, auf der anderen Seite (1138 b35 ff.). Was diese zweite Anknüpfung betrifft, so ist Thema nicht nur die phronēsis, die unmittelbar für die Ethik relevant ist, sondern alle intellektuellen aretai.
b) Einteilung und Art der intellektuellen aretai (VI 21139a3–18, VI 31139b14–18) In I 13 hatte Aristoteles drei Bereiche der Seele unterschieden, den vegetativen Teil, der als völlig jenseits unserer Kontrolle ausgeklammert wurde, das Strebevermögen, das nicht selbst vernünftig ist, aber beim Menschen auf die Vernunft hören kann, und das Vernunftvermögen. Die gesuchte menschliche aretē erwies sich so als zweigeteilt. Sie ist einmal die aretē des Strebevermögens, also die ethische aretē, zweitens die des Vernunftvermögens, die dianoetische aretē. Wie das Strebevermögen je nach Handlungsbereich verschiedene aretai hat, so unterscheidet Aristoteles auch beim Vernunftvermögen je nach Bereich verschiedene aretai. Die Unterscheidungen führen zu folgender Verfeinerung des Schemas der Seelenteile, das wir anhand von I 13 dargestellt hatten (siehe S. 142). Aristoteles unterscheidet zwei Hauptbereiche des vernünftigen Seelenteils (1139 a12), das epistēmonikon, den theoretischen oder denkenden (forschenden, spekulativen, wissenden) Teil, und das logistikon, den praktischen oder überlegenden (berechnenden, reflektierenden, abwägenden) Teil. Hinter dieser Einteilung steht die ontologische Unterscheidung von
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psychē Seele alogon vernunftlos orektikon Strebevermögen
logos Vernunft logistikon überlegender Teil
aretē:
Form der eudaimonia:
aretē ethikē
epistēmonikon denkender Teil
praxis das Handeln
poiēsis (technē) das Hervorbringen
epistēmē Wissenschaft
nous
phronēsis
phronēsis(?)
sophia Weisheit
sophia Weisheit
eupraxia gutes Handeln
theōria Betrachtung
Phronēsis (Buch VI)
threptikon vegetativ
logon echon mit Vernunft
Einbettung und Einteilungen
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Gegenstandsbereichen (1139 a9 ff.), nämlich zwischen dem unveränderlichen und notwendigen Seienden, das Gegenstand der Wissenschaft ist, und dem veränderlichen Seienden, das Gegenstand der Überlegung ist. Der wissenschaftliche Teil hat, wie sich im Weiteren zeigen wird, wiederum zwei Unterteile, die epistēmē (Wissenschaft, Wissen, Erkenntnis) im engeren Sinn und den nous (Geist, (intuitiver) Verstand, Intellekt), der die letzten Prinzipien der Wissenschaft erfasst. Zum überlegenden Teil gehören, um auch hier die weitere Unterteilung vorwegzunehmen, die technē (Kunst, Hervorbringen, praktisches Können, „Technik“) bzw. poiēsis (Hervorbringen) und die praxis ((ethisches) Handeln) (1140a1ff.).2 Obwohl sich im Text zeitweise die Darstellung der intellektuellen Seelenteile verselbständigt, ist die entscheidende Frage aufgrund des Sachzusammenhangs die Frage nach den aretai des Vernunftbereichs. Ihre Untersuchung beginnt in VI 2 im Rückgriff auf I 6 mit der Frage nach dem ergon der relevanten Teile; denn etwas betätigt sich gemäß seiner spezifischen aretē, wenn es sein ergon gut erfüllt. Das Denken ebenso wie das Überlegen sind, wie Aristoteles sagt, auf Wahrheit ausgerichtet; das ergon beider Teile der vernünftigen Seele ist die Wahrheit (1139 b12). Daher sind diejenigen hexeis, aufgrund derer die Seele die Wahrheit trifft, die dianoetischen aretai. Auffällig ist, dass Aristoteles Wissenschaft, technē usw. nicht wie in der Metaphysik als Vermögen (dynamis) bezeichnet, sondern als hexis (1139 b12).3 Zunächst würde man wohl denken, dass wir es im Bereich der vernünftigen Seele mit Fähigkeiten zu tun haben, in denen man besser oder schlechter sein kann. Die aretē in der epistēmē der Mathematik würde 2 Wie schon im Zusammenhang von Buch III erwähnt, ist die Einteilung nach ontologischen Kriterien nicht unbedingt überzeugend (siehe oben S. 127). Darüber hinaus ist sie deswegen merkwürdig, weil es auch theoretische Beschäftigungen mit dem nicht-Notwendigen gibt, während Aristoteles nur technē und praxis als Unterarten nennt. Deutlich wird das, wenn er den überlegenden Teil manchmal auch als das doxastikon (1140 b26) bezeichnet, als ein Vermögen nicht des Wissens, sondern des Meinens (siehe dazu Ebert 175). Auffällig ist ferner, dass die Unterteile des logistikon durch die Begriffe der poiēsis und praxis gefasst werden, die sich auf einzelnes Tun beziehen, während wir es sonst mit Ausdrücken für hexeis zu tun haben. Das mag daran liegen, dass wir anstelle von poiēsis zwar in der Tat das entsprechende Vermögen, die technē nennen können, dass aber für den ethischen Bereich offenbar ein geeigneter Ausdruck fehlt, da die phronēsis bereits die aretē und nicht ein Vermögen ist. Sofern sich doch ein Begriff findet, ist es die Umschreibung hexis meta logou praktikē, also eine mit Vernunft verbundene hexis, welche sich in Handlungen äußert (1140a4). 3 Dass Aristoteles zwischen dynamis und hexis nicht immer klar unterscheidet, zeigt im Fall des nous Engberg-Pedersen 1983, 213.
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Phronēsis (Buch VI)
demnach besitzen, wer nicht nur ein durchschnittlicher, sondern ein hervorragender Mathematiker ist, die aretē in der technē des Hausbauens, wer besonders gute Häuser bauen kann usw. Diese Vorstellung von einer aretē in einer technē oder epistēmē kommt bei Aristoteles durchaus vor, in EN Buch VI jedoch meint er mit der aretē der vernünftigen Seele weniger dieses Gutsein in einer bestimmten intellektuellen Fähigkeit als vielmehr das Gutsein in der Orientierung an Wahrheit. Um das verstehen zu können, müssen wir uns klarmachen, welche Rolle im aristotelischen Handlungsmodell die Vernunft spielt. Heute ist eher die auf Hume zurückgehende Auffassung vorherrschend, dass unsere Lebensausrichtung in verschiedenen inhaltlichen Zielen liegt und dass die Vernunft die Funktion eines Hilfsmittels hat, mit dem wir unsere Ziele besser erreichen. Aristoteles sieht das anders. Wie insbesondere in Metaphysik A 1–2 deutlich ist, geht er davon aus, dass alle Menschen aufgrund ihrer Natur nach Wissen bzw. Wahrheit streben. Sie haben also nicht nur Vernunftfähigkeiten, die zur Erreichung anderer Ziele angewendet werden, sondern die Tätigkeit der Vernunft, die Suche nach Wahrheit ist selbst etwas Erwünschtes, ein Strebensinhalt. Dann ist es durchaus verständlich, warum Aristoteles die vernünftigen Teile der Seele nicht als Fähigkeiten ansieht, sondern sie im Kontext der Ethik als hexeis behandelt; als Haltungen zum Erkenntnisstreben passen sie unter den Begriff der hexis.4 Entsprechend ist dann die Frage nach den intellektuellen aretai nicht die Frage nach dem Gutsein in einer je bestimmten technē oder epistēmē, sondern die Frage, was Gutsein im Vernunftbereich unter dem Gesichtspunkt ist, dass sich in der Vernunftbetätigung das spezifisch menschliche Leben und Streben realisiert. Wie wir sehen werden, nimmt Aristoteles zwei dianoetische aretai an, 4 Dann fragt man sich jedoch, ob die aretē hier genau genommen eine intellektuelle ist. Sie ist insofern eine intellektuelle, als sie das Interesse an intellektuellen Gegenständen betrifft. Aber sie ist nicht eine aretē in einer epistēmē, sondern eine aretē in einer hexis zur epistēmē, und diese Haltung basiert auf Affekten und Strebungen wie Neugier, Wissensdurst usw. Vom ethischen Streben unterscheidet dieses Streben sich, so könnte man denken, dadurch, dass es nicht auf die Mitte zielt, sondern gerade dann besonders gut ist, wenn es die ganze Wahrheit sucht. Das wäre eine mögliche Sichtweise. Eine mittlere Haltung könnte man jedoch auch hier empfehlen, wenn man den Standpunkt des Sokrates vertritt, der Mensch als mittleres Wesen zwischen Tieren und Göttern müsse sich über sein Nicht-Wissen(-Können) der notwendigen Dinge klarsein. Und eine mittlere Haltung empfiehlt sich auf jeden Fall für die praktische Seite der Vernunft, die fragt, welche Handlung hier und jetzt die richtige ist. Wer hier die Absicht verfolgte, alles überlegen zu wollen, würde mit der Überlegung nie an ein Ende und daher nie zum Handeln kommen (1113a2).
Die dianoetischen aretai (VI 3–7)
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die sophia (Weisheit) und die phronēsis. Diese findet er, indem er eine Reihe von Kandidaten nennt und per Ausschlussverfahren nach den aretai sucht. Aufgeführt werden (1139 b16 ff.): technē (Thema in VI 4), epistēmē (VI 3), phronēsis (VI 5), sophia (VI 7), nous (VI 6). Das Ergebnis wird sein, dass epistēmē, technē und nous hexeis sind, während sophia und phronēsis sich als aretai erweisen, und zwar die sophia als die aretē der theoretischen und die phronēsis als die aretē der praktischen Vernunft. Ich verzichte auf eine Nachzeichnung der Ausschlussargumentation und gebe in 2. nur kurz in systematischer Ordnung die Definitionen an.
2. Die dianoetischen aretai (VI 3–7) a) sophia Die dianoetische aretē, die das Gutsein des theoretischen Vernunftteils ausmacht, ist die sophia (Weisheit, philosophische Weisheit). Da der vernünftige Teil zwei hexeis enthält, epistēmē und nous, ist sie die aretē dieser beiden Unterbereiche. (i) epistēmē (VI 3) und nous (VI 6). Die epistēmē (Wissenschaft, Wissen, Erkenntnis) hat das Notwendige oder Gesetzmäßige zum Gegenstand. Denn verlässliches Wissen gibt es nach griechischer Vorstellung nur von dem, was sich nicht anders verhalten kann, was sich immer auf die gleiche Weise verhält, was unveränderlich und ewig ist. Charakteristisch für die Wissenschaft ist weiter, dass sie lehr- und lernbar ist. Die Wissenschaft ist eine beweisende Haltung (hexis apodeiktikē). Sie geht normalerweise von allgemeinen Sätzen aus und begründet aus diesen speziellere Aussagen. Dabei beruhen die Gesetzmäßigkeiten einer Wissenschaft für Aristoteles auf der wesentlichen Beschaffenheit der Gegenstände, die den Bereich der Wissenschaft konstituieren; Ausgangspunkt der Begründung sind Realdefinitionen dieser Gegenstände. Da sich nicht alle Sätze aus allgemeineren herleiten und nicht alle Begriffe durch bekanntere definieren lassen, können die Axiome und die höchsten Begriffe der Wissenschaft nicht mehr diskursiv durch Sätze erklärt, sondern nur erfasst werden. Dafür ist ein besonderes Vermögen innerhalb des denkenden Seelenteils zuständig, nämlich der nous (Geist, (intuitiver) Verstand, Intellekt). Dieser ist, da er sich mit den höchsten Sätzen und Begriffen befasst, für Aristoteles auch das höchste unserer Vermögen bzw. die höchste hexis. (ii) Weisheit (VI 7, 1141a9–20). Der Abschnitt über die sophia ist durchsetzt mit der Erwähnung alltäglicher Redeweisen. So beginnt Aristoteles mit der Bemerkung, sophos würde man all jene nennen, die eine technē
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Phronēsis (Buch VI)
meisterhaft und genau beherrschen (1141 a12); nach dieser Wortverwendung wäre die sophia also auch die aretē der technē. Da Aristoteles einen populären Sprachgebrauch zitiert, ist allerdings zweifelhaft, ob er sich diesem anschließt. Der Begriff der sophia, wie Aristoteles ihn terminologisch etwa im ersten Buch der Metaphysik verwendet, hat einen engeren Sinn. Demnach besitzt die sophia, wer die höchsten Dinge und die letzten Prinzipien der Wissenschaft kennt (1141 a16–20). Die sophia (manchmal auch philosophia genannt) ist hier die höchste Wissenschaft, die alle diejenigen Eigenschaften, die die Wissenschaft auszeichnen (Allgemeinheit, Genauigkeit, Notwendigkeit usw.), in höchstem Maß besitzt. Während die anderen Wissenschaften abgegrenzte spezielle Gegenstandsbereiche haben, bezieht sich die Weisheit oder Philosophie auf die höchsten Sätze und die immer seienden (göttlichen) Dinge, die hinter allen Wissenschaften stehen. Die Weisheit besitzt also nicht, wer in einer jeweiligen Einzelwissenschaft am besten Bescheid weiß, sondern wer über ein Wissen in der höchsten Wissenschaft verfügt. Die sophia ist, so können wir festhalten, die aretē von Wissenschaft und nous. b) phronēsis (i) hexis meta logou poiētikē und hexis meta logou praktikē (VI 4). Die bisher nur beiläufig erwähnte Unterscheidung zwischen hervorbringendem Tun und ethischem Handeln wird in VI 4 erstmals von Aristoteles selbst explizit herausgestellt. Der praktische Bereich der Vernunft ist zweigeteilt: er enthält einerseits die mit Vernunft (logos) verbundene hexis, die sich in der praxis betätigt, und andererseits diejenige, die sich in der poiēsis manifestiert. Die auf die praxis bezogene vernünftige hexis ist eine Aktualisierung der menschlichen physis und hat als solche ihr Ziel in sich selbst, während die technē äußere Ziele realisiert. Die hexis meta logou poiētikē (die technē) und die hexis meta logou praktikē sind verwandt, insofern beide praktisch sind. Da für Aristoteles die technē anders als die bloße Erfahrung (empeiria) ein Wissen von Gesetzesaussagen enthält (so Metaphysik A 1–2), sieht Aristoteles aber auch epistēmē und technē als benachbart. (ii) phronēsis (VI 5, 1140 a24–b11, b21–30). Die Bestimmung der phronēsis (Klugheit, sittliche Einsicht) beginnt Aristoteles mit der Frage nach den Kriterien, nach denen wir eine Person phronimos (klug, verständig, einsichtig) nennen (1140 a24–31). Das wichtigste Kriterium lautet: phronimos ist derjenige, der über das für ihn Gute und Nützliche richtig überlegen (bouleuesthai) kann. Genauer soll dieses Überlegen nicht das in
Phronēsis im guten Handeln (Teile von VI 2, 5, 8–12)
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dieser oder jener Hinsicht Nützliche, also zum Beispiel das für die Gesundheit Zuträgliche suchen, denn das wäre eine Frage nach Mitteln, mit denen man etwas bewirken oder hervorbringen kann, also eine Angelegenheit der technē. Vielmehr muss der phronimos gut überlegen können im Hinblick auf das gute Leben insgesamt (pros to eu zēn holōs, 1140 a28), also über die Dinge, die die eudaimonia ausmachen.5 Es geht nicht um ein Hervorbringen, sondern Ziel ist das gute Handeln (die eupraxia) selbst (1140 b7). Aristoteles grenzt hier also deutlich Zwecke der technē von Zielen des guten Lebens ab, ebenso Mittel-Zweck-Überlegungen, wie sie die technē durchführt, von ethischen Überlegungen, deren Aufgabe die Ausformulierung der eudaimonia bzw. eupraxia ist. Obwohl er den Unterschied scharf herausstellt, fällt jedoch die Durchführung hinter diese Klarheit zurück. So ist irreführend, dass der Ausdruck „überlegen“ in beiden Bereichen verwendet wird. Insbesondere der parallele Ausdruck logizesthai hat auch die Bedeutungskomponente „berechnen“, die zwar zur Anwendung der technē passt, aber weniger gut in den Kontext des ethischen Handelns. Ebenso überrascht es, wenn Aristoteles am Ende von VI 5 konstatiert, dass die beiden Teile, die wir auseinander halten sollen, ein und dieselbe aretē haben, also die phronēsis die aretē des gesamten berechnenden oder, wie er hier sagt, meinenden (doxastikon) Seelenteils ist (1140 b26) – nicht nur der hexis, welche sich in der praxis manifestiert, sondern auch der technē, die sich in der poiēsis äußert.6
3. Die Rolle der phrone¯sis im guten Handeln (Teile von VI 2, 5, 8–12) Wie unter 1. angedeutet, ist die Erörterung der phronēsis nicht nur als Teil der Erörterung der dianoetischen aretai erforderlich, sondern sie führt gleichzeitig die Theorie vom ethischen Handeln weiter. Das Leben in der Ausübung der ethischen aretē ist eine der beiden Formen der mensch lichen eudaimonia. Damit diese Lebensweise in vollem Sinn realisiert wird, genügt aber, wie mehrfach zu sehen war, die aretē des Strebevermögens nicht. Die eupraxia hat zwei Voraussetzungen, einmal die gute Ver fassung des Strebevermögens, sodann das Vorhandensein derjenigen dianoetischen aretē, die die Art der Betätigung der ethischen aretē bestimmt, der phronēsis. Sie ist also erst dann zureichend charakterisiert, wenn nicht nur die aretē des Strebevermögens bestimmt und die phronēsis für sich de5 Das zeigt, dass man phronēsis nicht mit „sittliche Einsicht“ übersetzen kann. Sie ist nicht auf den Bereich des Moralischen beschränkt. 6 Vgl. Ebert 174f.
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Phronēsis (Buch VI)
finiert, sondern wenn die genaue Rolle der phronēsis in der Ausübung der ethischen aretē erläutert ist. 7
a) Phronēsis, bouleusis und prohairesis (1139b5–9,1141b8–14, 1141b23–1142a10) Im III. Buch wird die ethische aretē erklärt als hexis prohairetikē, als eine Haltung, die sich in Handlungsvorsätzen äußert, und die prohairesis wiederum als orexis bouleutikē, als überlegtes Streben. Dort wird gezeigt, wie sich die bouleusis, die Überlegung, auf den Bereich des Möglichen bezieht, in dem menschliches Handeln stattfindet, auf das, was in unserer Macht steht (to eph’ hēmin). Im VI. Buch betont Aristoteles dieselbe Zuständigkeit für die phronēsis: Im Unterschied zur sophia, die sich mit dem Notwendigen und Ewigen befasst, bezieht sich die phronēsis auf das Mögliche, auf die Dinge, die durch menschliches Handeln getan werden können (1140 a31–b4). In Anknüpfung an die Terminologie des III. Buchs wird der phronimos mit dem Wohlberatenen (euboulos) gleichgesetzt, also demjenigen, der gut zu überlegen vermag (1141 b8–14). Dann scheint die phronēsis nichts anderes zu sein als diejenige dianoetische aretē, deren Ausübung im richtigen Überlegen besteht. Das ist teilweise richtig, muss aber präzisiert werden. Die phronēsis ist gleichzeitig weiter und enger als die bouleusis. Sie ist enger als die Überlegung, denn der Überlegungsbegriff wird von Aristoteles so verwendet, dass der ganze Bereich dessen, was durch Handeln beeinflusst werden kann, Gegenstand von Überlegung ist, wozu auch technē-Überlegungen über Mittel zu beliebigen Zielen gehören. Der phronimos sollte aber nicht der im Hinblick auf dieses oder jenes Ziel Wohlberatene sein, sondern der im absoluten Sinn Wohlberatene, d. h. derjenige, der in der Überlegung die eudaimonia zu treffen vermag. Die phronēsis ist zugleich weiter als die Überlegung. Letztere führt, wie wir gesehen haben (oben S. 128), von einem gewünschten Ziel zu einer Handlung, die hier und jetzt konkret und ohne weitere Mittel ausführbar ist. Die phronēsis hingegen hat auch mit dem Erfassen des Ziels zu tun, und zwar sowohl mit dem Erfassen des allgemeinen Guts wie mit der Formulierung der konkreten prohairesis. Dass die phronēsis das allgemeine Ziel erfasst, ergibt sich aus einer Stelle innerhalb der Erläuterung der euboulia in VI 10. Hier sagt Aristoteles, der Wohlberatene kenne die Wege zu dem Ziel, von dem die phronēsis eine 7 Die folgenden Überlegungen verdanken viel der subtilen Interpretation der aristotelischen phronēsis-Lehre durch Engberg-Pedersen 1983, Kap. 7 und 8 sowie durch Broadie Kap.4.
Phronēsis im guten Handeln (Teile von VI 2, 5, 8–12)
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wahre Auffassung (hypolēpsis) ist (1142 b33). Im Kontext ist vom Über legen im absoluten Sinn die Rede (1142 b29), das Ziel kann also nur die eudaimonia bzw. eupraxia insgesamt sein. Da diese inhaltlich vage ist, sich nicht vollständig ausbuchstabieren lässt, fragt man sich, wie es davon überhaupt eine wahre Auffassung geben kann. Sollte hypolēpsis den schwächeren Sinn von „Vermutung“ haben, ist andererseits der Zusatz „wahr“ schwer zu verstehen. Wir werden im weiteren klären müssen, was mit der Ausrichtung der phronēsis auf das allgemeine Ziel genauer gemeint ist. Die phronēsis ist aber auch für die Formulierung des konkreten Handlungsziels bzw. das handelnde Ergreifen des konkret Erstrebten zuständig (1141 b14 f.). So besagt ein allerdings im Ganzen eher dunkler Abschnitt in VI 2, dass in einer guten Handlung auf der Ebene des Strebens und der des Überlegens in verschiedener Weise dasselbe vorliegt: Das Streben sucht oder meidet etwas, und parallel dazu wird dasselbe von der prohairesis bejaht oder verneint. Das dürfte heißen, dass der Beitrag des Strebens und des Überlegens derselbe ist, wenn auch in verschiedener Form, dass also in einer guten Handlung das Richtige überlegend bejaht und strebend gesucht wird. Die phronēsis hätte dann die Aufgabe, das Gut einer jeweiligen aretē (Tapferkeit, Gerechtigkeit usw.), das vom Streben gewünscht wird, in einen konkreten Vorsatz zu explizieren. Das schien allerdings in Buch III teilweise schon die Aufgabe der bouleusis zu sein. Die phronēsis steht jedoch darüber hinaus in manchen ihrer Funktionen der aisthēsis (Wahrnehmung, Sinnesempfindung) nahe. Die bouleusis ist ein analytisches Verfahren (1142 b15), das bei Aussagen darüber endet, was in einer konkreten Situation einer bestimmten Art ratsam ist. Zu bestätigen, dass diese Art Situation in der Tat gegeben und im Handeln zu ergreifen ist, ist Aufgabe der phronēsis, die sich auf das Konkrete bezieht, welches Gegenstand des Handelns ist (1143 a32 f., 1142 a24). Wie Aristoteles sagt, entsteht die phronēsis gerade durch Erfahrung, die auf Wahrnehmung im Einzelfall aufbaut (1142a15). Nun kann damit nicht die gewöhnliche sinnliche Wahrnehmung gemeint sein, weil diese nicht zu ethischem Urteilsvermögen verhilft. Die Aussage, dass die phronēsis sich wahrnehmend auf das Einzelne bezieht, ist also ebenso klärungsbedürftig wie die Vorstellung, dass sie das allgemeine Ziel erfasst.
b) Der Bezug der phronēsis auf Einzelnes und Allgemeines Versuchen wir die schwankenden Beschreibungen des Beitrags der phronēsis zu klären, indem wir uns die standardisierte Form einer Handlungsüberlegung ansehen, wie Aristoteles sie im so genannten praktischen Syllogismus gibt. Das Beispiel in VI 8 lautet (1141b18ff.):
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Phronēsis (Buch VI)
Obersatz (allgemein): Leichtes Fleisch ist gut verdaulich bzw. gesund. Untersatz (bezogen auf das Einzelne): Geflügel ist leichtes Fleisch. Folgerung: Geflügel ist gesund. Dieses Beispiel ist, wie schon die Beispiele in der Erläuterung des praktischen Überlegens in Buch III, gerade nicht dem Bereich der phronēsis, sondern dem der technē entnommen, wie die Rede vom Bewirken (poiein) der Gesundheit zeigt. Zwar ist die Gesundheit eine Bedingung der eudaimonia, doch hatte Aristoteles in VI 5 deutlich gemacht, dass er Überlegungen mit Bezug auf ein solches bestimmtes Ziel nicht in den Bereich der phronēsis einordnen will (1140 a27 f.). Sodann wird die praktische Einbettung, der Bezug auf ein Ziel, nicht explizit gemacht, sondern müsste noch ergänzt werden (etwa vor dem Obersatz durch: „Ich will gesund sein“ und nach der Folgerung durch: „Dies ist Geflügel, also will ich dies essen.“) Wie Aristoteles betont, wird, wer den Untersatz nicht kennt, praktisch nichts ausrichten (1141b19). Er sagt von diesem Satz, er sei kath’ hekaston, wörtlich: er werde vom Einzelnen ausgesagt. Unklar ist, was mit dem „Einzelnen“ gemeint ist. Denn auch die Prämisse „Geflügel ist leichtes Fleisch“ ist ein genereller Satz, nur konkreter als die erste Prämisse. Versuchen wir daher die Art, wie die phronēsis sich auf Allgemeines und auf Einzelnes bezieht, anhand eines der wenigen ethischen Beispiele zu klären, die Aristoteles für den praktischen Syllogismus gibt (An. Post. 85b30–32). Dieser hat allerdings die umgekehrte Form, er soll erklären, warum jemand eine Handlung ausgeführt hat: „Warum ist er gekommen? Um das Geld zu erhalten. Das wiederum, um zurückzugeben, was er schuldig ist. Und das, um nicht Unrecht zu tun.“ Beschränken wir uns auf den ethischen Teil,8 dann ergibt sich aus der Perspektive des Handelnden folgender Schluss: Obersatz: Ich will nicht ungerecht sein. Untersatz: Geschuldetes nicht zurückgeben ist Unrecht. Folgerung: Ich will das Geschuldete zurückgeben. Fragen wir zunächst, in welchem Sinn der Untersatz kath’ hekaston ist, so ist im Beispiel der Satz „Geschuldetes nicht zurückgeben ist ungerecht“ zwar spezieller als der Obersatz, aber immer noch allgemein. Andererseits betont Aristoteles wiederholt, dass die richtige Überlegung sich auf das Was, Wem, Wann, Wie usw. in der konkreten Situation bezieht (so erneut in 1142 b28). Dafür, dass das kath’ hekaston im Sinn der konkreten Situation gemeint ist, spricht der Hinweis, das Urteilen bestehe hier in einer Art 8
Zur genaueren Form Müller 42ff. (siehe Lit. V).
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aisthēsis (Wahrnehmung, Sinnesempfindung (1142 a27)), sowie der Vergleich der phronēsis mit dem nous. Dieser ist im theoretischen Bereich das Vermögen, das für den Erwerb letzter Begriffe zuständig ist, die nicht durch andere Begriffe erklärt, sondern nur noch erfasst werden können. Aristoteles nennt manchmal die phronēsis selbst eine Art von nous (1143 a35–b3), sagt jedoch auch, sie liege am anderen Ende des nous (1142 a25). Das kann man so erklären, dass beide sich auf ein Letztes (eschaton) beziehen; der nous erfasst die höchsten, abstraktesten Begriffe, die phronēsis – jedenfalls wo sie als aisthēsis zu verstehen ist – das Konkreteste. Die entscheidende Frage ist dann, was Aristoteles meint, wenn er die phronēsis als eine Art aisthēsis bezeichnet. Häufig wird Aristoteles in diesem Zusammenhang ein ethischer Intuitionismus zugeschrieben, das heißt die Auffassung, dass wir konkrete ethische Urteile mittels eines besonderen ethischen Wahrnehmungsvermögen in einem intuitiven Akt erfassen.9 Aristoteles selbst erläutert die gemeinte Wahrnehmung anhand der Geometrie (1142 a25 ff.). Was er meint, ist nicht die spezielle Wahrnehmung wie das Sehen von Farben oder das Hören von Tönen, sondern eine „allgemeine“ Wahrnehmung, wie wenn jemand „wahrnimmt“, dass das Letzte in der Geometrie das Dreieck ist. Offensichtlich denkt Aristoteles hier an einen Analyseprozess, wie er sie im III. Buch aus dem wissenschaftlich-technischen Bereich beschrieben hatte (oben S. 127). Jemand versucht eine komplizierte geometrische Figur zu verstehen, und das geschieht gewöhnlich, indem man sie in einfachere Figuren zu zerlegen versucht, bis die Analyse bei etwas Halt macht, das sich nicht mehr weiter zurückführen lässt und mit dem beginnend wir nun die Konstruktion der komplizierten Figur durchführen können. Die Analyse führt auf die Figur des Dreiecks, und dieses kann man nicht mehr diskursiv erklären, sondern es ist ein eschaton, ein Letztes. Mit dem „allgemeinen“ Sehen ist dann also nicht gemeint, dass man ein Dreieck intuitiv wahrnimmt. Es scheint ohnehin unklar, was das heißen sollte, denn sofern man etwas sieht, ist es das während der Analyse gezeichnete Dreieck auf dem Blatt Papier, und dieses Sehen ist eine spezielle Wahrnehmung mit dem Auge. Vielmehr meint Aristoteles mit dem „allgemeinen Sehen“, dass man das Dreieck als letzten Schritt der Analyse erfasst. Obwohl es paradox klingen mag, dass diese „Wahrnehmung“ sich sowohl auf das letzte Konkrete richtet wie allgemein ist, ist diese Charakterisierung durchaus verständlich: In der Analyse der geometrischen Figur erweist sich das Dreieck als letzter, nicht weiter analysierbarer Bestandteil. Mit der „allgemeinen Wahrnehmung“ des Dreiecks ist gemeint, dass man es in einem Kontext der Begründung und Erklärung wahrnimmt; man 9
Etwa Dirlmeier 1956, 459.
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sieht es als letzten Schritt in einem Begründungszusammenhang. Insofern es in einen solchen gehört, wird es, obwohl es selbst nicht mehr in Sätzen erklärbar ist, zu einem Gegenstand des Denkens; so kann man beispielsweise mit Gründen darüber streiten, ob es wahr ist, dass das Dreieck die gesuchte einfachste Figur ist oder nicht eher das Viereck. Versuchen wir diesen Hinweis auf das ethische Überlegen zu übertragen, in welchem Sinn stellt dann die phronēsis ein allgemeines Wahrnehmen dar? Die Analogie macht von vornherein deutlich, dass die phronēsis das „letzte Konkrete“, das in der individuellen Situation Richtige wahrnimmt, aber nicht in der Weise einer intuitiven ethischen Erkenntnis. Vielmehr müsste sie es erfassen als etwas in einem Kontext, nämlich als letzten Schritt in einem Überlegungsprozess. Wie die geometrische Analyse die komplizierte Figur auf eine einfache, nicht mehr weiter reduzierbare zurückführt, analysiert die ethische Überlegung den Begriff der eupraxia oder des Gerechtseins, bis sich eine Handlung findet, die nicht mehr auf andere verweist, die wir vielmehr direkt ausführen können.10 Und wie man in der geometrischen Analyse diskutieren kann, ob das Dreieck oder eine andere elementare Figur der richtige Endpunkt ist, können wir nun auch in der praktischen Überlegung erwägen, welche der konkreten Handlungsalternativen, die die Situation ermöglicht, die richtige oder bestmögliche ist, die zum Inhalt der prohairesis wird. Auf diese Weise haben wir es auch hier mit einer „allgemeinen“ aisthēsis zu tun, die in einem Vernunftzusammenhang steht. Die prohairesis bzw. die konkret auszuführende Handlung wird erfasst als richtige innerhalb des praktischen Überlegungszusammenhangs. Bei all dem bleibt allerdings das früher schon erwähnte Problem bestehen, dass sich das Ziel des ethischen Handelns, letztlich die eupraxia, das Gut-Handeln, nicht wie ein technisches Ziel oder eine Konstruktions absicht in der Geometrie in klare Schritte analysieren lässt. Die Frage der praktischen Überlegung hat eine andere Form. Im obigen Beispiel wäre zu erwägen, nicht, welches die Schritte sind, die eine gerechte bzw. letztlich eine gute Handlung bewirken, sondern worin unter den gegebenen Um10 In diesem Sinn ist die phronēsis das Gegenstück zum nous: In der Wissenschaft sind die nicht mehr definierbaren Begriffe, die wir induktiv erwerben, nicht die spezielleren Begriffe, sondern die höchsten und inhaltsleersten Begriffe, während in der praktischen Überlegung gerade die untersten konkreten Handlungen durch Erfahrung gelernt werden und nicht diskursiv erklärt werden können. Gleichzeitig ist die phronēsis damit selbst eine Art nous, weil für das Allgemeinste in der Wissenschaft wie für das Konkreteste im Handeln gleichermaßen gilt, dass es sich nicht diskursiv darlegen lässt, sondern nur durch Erfahrung gewonnen werden kann (1143a35ff.).
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ständen die gute Handlung besteht, welches die gerechte Handlung ist.11 Hier ist schon die Überlegung, die der aisthēsis vorausgeht, schwer in geregelte Schritte zu zerlegen. Der Handelnde müsste erstens das Ziel oder Gut explizieren, das Inhalt der aretē ist, um deren Realisierung es in der gegebenen Situation geht, sodann diese Explikation anwenden, indem er es auf die konkreten Umstände bezieht. Genau genommen müsste dabei das Urteil zeigen, dass die Handlung in mehrfacher Hinsicht in den Kontext passt: zum einen in die konkreten Umstände des Was, Wem, Wie, Wann usw.; zum anderen aber auch so, dass sie sich in das Leben der Person, in ihre letztliche Lebensausrichtung, einfügt, dass sie im Kontext ihrer Ausrichtung auf die eudaimonia die richtige Handlung ist. Dass es Aristoteles insbesondere auf diese zweite Hinsicht ankommt, zeigt sich darin, dass er auch im VI. Buch vom Menschen als einer besonderen archē, als überlegendem Streben redet (1139 b4 f.). Das erinnert an die Vorstellung in Buch III, Taten seien wie Kinder, weil wir in ihnen unsere eigene Form ausgestalten oder fortführen (oben S. 132). Die aisthēsis, in der die phronēsis auf der konkreten Ebene besteht, könnte man dann als eine Gestaltwahrnehmung verstehen, die „sieht“, welche Handlung das Sein der Person so formt, dass ihr Leben im Ganzen gut ist. Auch dies hat nicht den Sinn einer intuitiven ethischen Schau, sondern steht innerhalb eines vernünftigen Überlegungsprozesses, der die in den aretai implizit enthaltenen Wertvorstellungen zur Artikulation bringt und – gestützt auf empirische Daten – Handlungsmöglichkeiten durchspielt, bis er einen Handlungsentwurf wahrnimmt, der zusammen mit den expliziten Überlegungskomponenten die gewünschte Gestalt der eupraxia ergibt. Dazu passt, dass Aristoteles für das Verhältnis von Wissen des guten Lebens und konkreter Überlegung das Bild des Bogenschützen aus Buch I fortführt (1138 b22): Wer in der konkreten Situation den orthos logos, das Richtige sucht, der spannt, auf den Zielpunkt blickend, den Bogen an und lockert ihn. Das heißt, wir haben hier kein in klare Schritte zerlegbares Vorgehen wie bei der technē, sondern eine tastende Suchbewegung auf ein inhaltlich nicht vorab definiertes Ziel. Das erklärt nun zugleich, warum die phronēsis sich nach den Aussagen von Buch VI nicht nur auf das Einzelne, sondern auch auf das Allgemeine, das Ziel bezieht. Das Ziel, im Kontext von Buch II–VI das Leben in der Praktizierung der ethischen aretē, besteht je nach Handlungsbereich in der Gerechtigkeit, Tapferkeit usw. Gemäß der Lehre von Buch III müsste dieses Ziel, das Allgemeine oder der Obersatz der praktischen Überlegung, durch die ethische hexis, die Verfassung des Strebevermögens, vorgegeben sein. Nun steht das menschliche Strebevermögen in einem Bezug zur Ver11
Dazu Joachim 218.
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Phronēsis (Buch VI)
nunft, die Strebungen können sich so äußern, dass sie in Begriffe gefasst sind, also die Form sprachlich artikulierter Wünsche annehmen. Einen Wunsch wie den nach Tapfersein oder Gerechtsein kann das Strebevermögen nicht aus sich allein formulieren. Nicht nur erfordert, wie wir gerade gesehen haben, die Konkretisierung dessen, was in der Situation zu tun ist, die Überlegung. Diese Überlegung wird auch nur durchführbar sein, wenn die Person bereits eine reflektierte Vorstellung von der eupraxia im relevanten Bereich hat, wenn also die phronēsis sich auch auf das Ziel bezieht; denn andernfalls hätte die handelnde Person nichts, woran sie sich in ihrer Überlegung darüber, was in der jetzigen Situation die beste Realisierung der aretē ist, orientieren könnte. Außerdem muss ja die implizite Vorstellung des guten Lebens, die in der aretē enthalten ist, von jemandem in den Charakter eingepflanzt worden sein, der selbst eine reflektierte Vorstellung davon hat, woraufhin zu erziehen ist. Diese doppelte Aufgabe der phronēsis wird bestätigt durch eine Erwägung, die Aristoteles bezüglich der Politik anstellt. Da auch die Aufgabe der Politik in der Verwirklichung der eudaimonia besteht, fragt Aristoteles, ob die Politik ebenfalls als eine Form der Wohlberatenheit oder phronēsis anzusehen ist (1141 b23–1142 a10). In diesem Zusammenhang betont er, dass die phronēsis in der Politik zwei Teile hat, die Gesetzgebung (nomothesia) und die Exekutive (politikē im engeren Sinn). Erstere ist der leitende oder anordnende Teil, Letztere der konkret handelnde Teil, auf den sich das Überlegen bezieht. Ebenso muss man dann den individuellen Erzieher als im Sinn dieser Zweiteilung leitend ansehen, so dass er eine Vorstellung von Regeln hat, in die sich die eupraxia auseinander legt. Aber könnte nicht dort, wo jemand die aretē bereits besitzt, ein Fall vorliegen, wo der Bezug der phronēsis auf das Allgemeine sich erübrigt und sie nur für die Überlegung über das Einzelne nötig ist? Auf diese und weitere noch offene Fragen antwortet Aristoteles selbst in VI 13.
4. Das Verhältnis von ethischer arete¯, sophia und phrone¯sis (VI 13) Nachdem Aristoteles die Weisheit, sophia, und die Klugheit, phronēsis, als die beiden aretai des vernünftigen Seelenteils erwiesen hat, wirft er abschließend in VI 13 die Frage auf, wozu sie beide nützlich sind. Dabei untersucht er erstens ihr Verhältnis zueinander und zweitens die Rolle der phronēsis im Leben gemäß der ethischen aretē. Die Erläuterungen zum ersten Punkt bleiben eher knapp und lassen sich endgültig erst anhand von Buch X beurteilen. Den größten Raum nehmen die Ausführungen zur Funktion der phronēsis im ethischen Leben ein.
Ethische aretē, sophia und phronēsis (VI 13)
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a) Die Gründe, aus denen der Nutzen der intellektuellen aretai fraglich scheint (1143b19–36) (i) Der Nutzen der sophia scheint fraglich, da sie sich mit dem notwendig Seienden befasst, das außerhalb des menschlichen Lebens in der veränderlichen Welt steht und daher wohl kaum zur eudaimonia innerhalb der Menschenwelt beitragen kann. Der Nutzen der phronēsis andererseits lässt sich bezweifeln, da sie sich zwar auf das für den Menschen Gute und Richtige bezieht, aber zum guten Handeln offenbar nicht erforderlich ist, weil dieses aus dem Charakter, aus der ethischen aretē, hervorgeht. Wer also die ethische aretē besitzt, braucht, so könnte man denken, die phronēsis nicht. (ii) Wer aber die ethische aretē noch nicht besitzt und sie erst erwerben will, braucht die phronēsis, wie es scheint, ebenso wenig; er kann denen folgen, die sie besitzen. Auch wer gesund sein will, studiert deswegen nicht selbst Medizin, sondern geht zum Arzt, der das nötige Wissen hat. (iii) Die dritte Schwierigkeit, die Aristoteles nennt, betrifft genau genommen nicht mehr die Nutzenfrage, sondern das Verhältnis von Weisheit und phronēsis: Wie kann die phronēsis alles anordnen und damit auch über die sophia herrschen, obwohl die sophia höher steht, weil sie den wertvolleren Gegenstandsbereich hat?
b) Drei Argumente für den Wert der intellektuellen aretai (1144a1–11) (i) Das erste und lapidare Argument lautet, Weisheit und phronēsis seien ganz unabhängig von einem Nutzen wählenswert, weil sie spezifisch menschliche aretai, die aretai der beiden Bereiche der vernünftigen Seele sind. (ii) Das zweite Argument besteht in dem Hinweis, dass sie beide etwas hervorbringen, nämlich die eudaimonia. Allerdings bringen sie diese nicht im gewöhnlichen kausalen Sinn, als Bewegursache, hervor, sondern als Formursache. Aristoteles spielt hier auf seine Lehre von den vier Ursachen in der Metaphysik an, der zufolge man bei jedem Ding und bei jeder Eigenschaft usw. nach der Stoff-, Form-, Beweg- und Zielursache fragen kann. Dass die Medizin die Bewegursache ist, antwortet auf die Frage, wie die Person gesund geworden ist, wodurch die Gesundheit in ihr entstanden ist. Die Formursache, das eidos „Gesundheit“, antwortet auf die Frage, was die der Person zukommende Eigenschaft des Gesundseins ist. Dass die sophia und die phronēsis die eudaimonia nicht in dem Sinn bewirken, wie die Medizin die Gesundheit bewirkt, sondern so, wie die Gesundheit selbst als Form die Gesundheit konstituiert, heißt dann, dass sie die Form
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oder ein Bestandteil der Form der eudaimonia sind. Auffällig ist, dass dieses Argument nur für die sophia durchgeführt wird, nicht für die phronēsis, vielleicht weil die phronēsis nur zusammen mit der ethischen aretē einen Teil der eudaimonia ausmacht. (iii) Umgekehrt gilt das dritte Argument nur für die phronēsis: Das gute Handeln erfordert beides, die phronēsis und die ethische aretē. Der Ausarbeitung dieses dritten Arguments ist der größte Teil des weiteren Textes gewidmet. c) Die Rolle der phronēsis im ethisch guten Handeln (1144a11–1145a6) (i) Der Beitrag der phronēsis zur guten Handlung (1144 a11–1144 a22). Aristoteles nimmt noch einmal den Einwand auf, die phronēsis erhöhe nicht unser Vermögen, gut zu handeln. Dagegen erinnert er an die im II. Buch gemachte Unterscheidung zwischen bloß äußerlich gerechten Handlungen und gerechten Personen (siehe oben S. 68 f.). Demnach ist jemand, der eine gerechte Handlung tut, weil sie vorgeschrieben ist, jedoch ohne sie als solche zu wollen, keine gerechte Person. Gerecht ist erst, wer die guten Handlungen aus einer bestimmten Haltung heraus tut, weil sie gut sind, wer also aufgrund einer entsprechenden prohairesis oder um des Gerechten selbst willen handelt. Aristoteles konstatiert deswegen im Sinn des III. Buchs, die ethische aretē mache das Ziel gut, während es Sache einer anderen Fähigkeit sei herauszufinden, was genau zur Realisierung des Ziels getan werden müsse. (ii) Die Fähigkeit der deinotēs (Gewandtheit, Geschicklichkeit (1144 a22–b1)). Die Rede von einer „anderen“ Fähigkeit klingt zunächst geheimnisvoll. Man würde eher wie bisher die Aussage erwarten, die ethische aretē mache das Ziel gut, die phronēsis finde die hier und jetzt geeignete Handlung zu seiner Realisierung. Die Einführung der „anderen“ Fähigkeit macht erst die Merkwürdigkeit deutlich, die von Anfang an im Begriff der phronēsis liegt. Die phronēsis ist, wie wir gesehen haben, nicht die aretē einer intellektuellen dynamis (Fähigkeit), Mittel zu beliebigen Zielen zu finden. Sie ist die aretē einer intellektuellen hexis, sich im praktischen Überlegen am Wahren bzw. Richtigen zu orientieren; als solche und als Pendant zur ethischen aretē ist sie von vornherein an ethisch gute Ziele gebunden. Nur diejenige praktische Überlegung geht aus der intellektuellen aretē der phronēsis hervor, die nach der Realisierung eines ethisch guten Ziels fragt. Das scheint auf den ersten Blick nicht sehr sinnvoll. Denn warum soll das Überlegen über die Verwirklichung guter Ziele ein anderer Typ von Überlegung sein als die Überlegung, wie man ein schlechtes Ziel realisiert?
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Aristoteles selbst weist auf eine zugrunde liegende intellektuelle Fähigkeit, die deinotēs (Gewandtheit, Geschicklichkeit) hin. Diese ist anders als die phronēsis wertneutral; wir loben sie, wo sie gute Zwecke verfolgt, während wir sie tadelnd panourgia (Gerissenheit, Schlauheit) nennen, wo sie schlechten Zielen dient. Die Gewandtheit ist eine Fähigkeit, eine dynamis, nicht eine hexis. Aber würde man dann nicht erwarten, dass die aretē in dieser Fähigkeit besitzt, wer besonders geschickt überlegen kann – statt wie Aristoteles zu sagen, die aretē im praktischen Überlegen habe, wer das Überlegen auf ethisch gute Ziele richtet? Auch Aristoteles stellt die Zusammenhänge so dar, dass die Gewandtheit in der phronēsis enthalten ist, er betont jedoch, eine Person könne mit der phronēsis nur das Richtige finden, wenn sie die ethische aretē besitzt. Aber wieso kann man dann das Erfassen des jeweils Richtigen nicht der ethischen aretē zuordnen und die Überlegung über seine Realisierung der deinotēs als einer neutralen Fähigkeit?12 Die Unklarheiten entstehen letztlich wohl auch hier dadurch, dass Aristoteles teils von Fähigkeiten, teils von Haltungen redet und dass die aretai beider verschieden sind (vgl. oben S. 143 f.). Was das intellektuelle Können angeht, ist jemand umso bewundernswerter, je mehr deinotēs er besitzt. Die phronēsis hingegen ist die aretē nicht einer dynamis, sondern einer hexis, einer derjenigen Haltungen, mit denen der Mensch auf die Wahrheit ausgerichtet ist. Hier war uns schon bei der Behandlung der Wissenschaft die Merkwürdigkeit begegnet, dass gut im Sinn der dianoetischen aretē, wie sie in Buch VI verstanden wird, nicht ist, wer besonders gut in einer Wissenschaft wahre Sätze weiß oder herausfindet, sondern wer sich wissenschaftlich mit den besten Dingen befasst. Ähnlich hat nun beim praktischen Überlegen die gute hexis, die phronēsis, wer über die Realisierung guter Ziele, letztlich der eupraxia, richtig zu überlegen vermag.13 Die Bindung der phronēsis an gute Ziele würde sich also erklären lassen, wenn man sie als eine aretē einer intellektuellen hexis versteht; Zur Exposition des Problems auch Ebert 183. Wenn Aristoteles in der EE 1221 a12 und 1221 a36 ff. die phronēsis als die richtige Mitte zwischen Gerissenheit und Einfältigkeit hinstellt, scheint mir das nur verständlich unter der Annahme, dass er phronēsis hier in einem inoffiziellen Sinn als Namen einer ethischen aretē gebraucht (anders Dirlmeier 1962, 253). Dafür spricht, dass der Bezug an dieser Stelle nicht das richtige Handeln im Ganzen ist, sondern das Mehrhabenwollen, also ein bestimmter Bereich des Handelns, wie es für ethische aretai typisch ist. Wollte man die intellektuelle aretē der phronēsis als Mitte zwischen Gerissenheit und Dummheit charakterisieren, wäre das eher merkwürdig, denn was die intellektuelle hexis der Wahrheitsorientierung angeht, ist das höchste Extrem besser als die Mitte. 12
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dann würde sie allerdings die deinotēs nicht beinhalten, sondern wäre etwas kategorial anderes. Dass Aristoteles überhaupt auf die deinotēs zu sprechen kommt, könnte man vielleicht dadurch erklären, dass er für technisches und ethisches Überlegen dieselbe Begrifflichkeit von Zielen und Wegen zum Ziel verwendet und sich von dieser parallelen Ausdrucksweise verleiten lässt. Will man darüber hinaus einen richtigen Kern in der Vorstellung finden, die deinotēs sei in der phronēsis impliziert, könnte man darauf verweisen, dass auch in der Realisierung ethischer Vorsätze empirische Tatsachen und kausale Zusammenhänge eine Rolle spielen, also eine Geschicklichkeit im Ergreifen der geeigneten Situation, im Tun der richtigen Dinge in der richtigen Reihenfolge usw. erforderlich ist. Der ethisch gute Mensch ist für Aristoteles ja nicht nur jemand, der die richtigen Absichten hat, sondern auch jemand, dem die Verwirklichung seiner Vorsätze im Normalfall gelingt – die Folgerung der praktischen Überlegung ist letztlich die Handlung selbst. Was dieses Gelingen betrifft, könnte es aber einleuchten, dass der phronimos eine Geschicklichkeit über das richtige ethische Erwägen hinaus braucht. So muss der Handelnde auf der untersten Ebene nicht nur herausfinden, was die in der Situation beste Handlung zur Konkretisierung der eupraxia ist, sondern auch, wie die Situation möglichst gut zur Realisierung des ethisch Besten genutzt werden kann. Letzteres ist sicher keine ethische Fähigkeit; eben deswegen könnte man sagen, dass sie eine eigene Komponente darstellt, die nicht an das ethische Ziel der eupraxia gebunden ist, sondern auch in der Realisierung beliebiger anderer Ziele eine Rolle spielt. Was Aristoteles dann genau genommen gezeigt hätte, wäre zweierlei. Erstens dass die phronēsis an eine angemessene Ordnung des Strebevermögens gebunden ist, an eine mittlere Einstellung zu den Affekten, die das Überlegen mit Bezug auf das insgesamt gute Leben nicht behindert. Zweitens dass im Kontext der ethischen Überlegung mehrere nicht-ethische Schritte vorkommen können, sowohl Mittel-Zweck-Überlegungen, die zur technē gehören, als auch Geschicklichkeitserwägungen, die mit dem Ergreifen der Handlungssituation zu tun haben und mit dem untersten Schritt der phronēsis, der „allgemeinen Wahrnehmung“, darin übereinkommen, dass sie nicht im Einzelnen operationalisierbar sind. (iii) Die natürliche aretē (1144 b1–17). Aristoteles versucht nun eine ähnliche Konstellation wie die von phronēsis und deinotēs auch auf der Seite der ethischen aretē ausfindig zu machen: Wie sich die phronēsis zur Gewandtheit verhalte, so die ethische aretē zur natürlichen (physikē) aretē. Während es in Buch II so aussah, dass wir als natürliche Basis der aretē eine Anlage (dynamis) haben, in unseren Affekten und Strebungen in die eine oder andere Richtung (also zur aretē oder zur kakia) gewöhnt zu wer-
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den, nimmt Aristoteles also jetzt an, man sei von Natur aus eher zur aretē geneigt. Diese Vorstellung, dass das Streben seiner Natur gemäß auf das Gute gerichtet ist und nur dann das Schlechte sucht, wenn es durch die Umstände verdorben wird, ist bei Aristoteles und auch sonst bei den Griechen durchaus üblich. Die natürliche Tendenz zum Guten führt jedoch noch nicht zur aretē im vollen Sinn. Die natürliche Tapferkeit, Gerechtigkeit usw. kann sich vielmehr auch in einer Weise betätigen, die der eudaimonia abträglich ist. Erläutert wird das durch die Analogie zur physischen Gesundheit und Stärke. Wer physische Stärke besitzt, ohne das Sehvermögen zu haben, mit dem sich Handlungssituationen und ihre Gefahren richtig einschätzen lassen, der kann etwa ausrutschen und sich verletzen. Ähnlich kann jemand durch Betätigung einer natürlichen aretē Schaden anrichten, wenn die Vernunft fehlt, die die richtige Situationseinschätzung liefert.14 Eine gute hexis allein garantiert also noch keine eupraxia, kein Gutsein des Handelns in jedem Einzelfall. Die aretē im eigentlichen Sinn liegt daher erst vor, wenn die gute Charakterhaltung sich mit der phronēsis verbindet. Die Gewandtheit, der die Bindung an ethisch gute Ziele fehlt, und die natürliche aretē, der die Vernunft fehlt, dienen Aristoteles als Folie, um nochmals die wechselseitige Abhängigkeit von ethischer aretē und phronēsis zu verdeutlichen, die am Ende des nächsten Abschnitts als Ergebnis festgehalten wird: Man kann nicht im eigentlichen Sinn gut sein ohne die phronēsis, und man kann nicht phronimos sein ohne die ethische aretē (1144 b30–32). (iv) Abhebung gegen die intellektualistische Auffassung der ethischen aretē durch Sokrates (1144 b17–b32). Was die ethischen aretai betrifft, ist bisher gezeigt, dass sie nicht ausschließlich eine Verfassung des Strebevermögens sein können, dass vielmehr die dianoetische aretē der phronēsis hinzukommen muss. Das könnte zu der entgegengesetzten extremen Auffassung veranlassen, eine ethische aretē sei ausschließlich etwas Intellek tuelles, nämlich eine jeweilige phronēsis. Aristoteles weist diese Vorstellung, die er dem Sokrates zuschreibt, zurück bzw. korrigiert sie. Was man sagen kann, ist nur, dass die ethische aretē nicht ohne phronēsis möglich ist, dass sie diejenige hexis des Strebevermögens ist, die sich gemäß dem orthos logos (und das heißt, der phronēsis) manifestiert. Aristoteles präzisiert, die ethische aretē sei genau genommen nicht eine hexis gemäß (kata) dem richtigen logos, sondern mit (meta) dem richtigen logos. Diese Unterscheidung zwischen „gemäß“ und „mit“ könnte man so erklären, dass die 14 Aristoteles redet vom nous, während man eigentlich den Ausdruck phronēsis erwarten würde. Vermutlich ist daher der Ausdruck nous hier informelll im Sinn des Achtgebens o. ä. gemeint.
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Ausdrucksweise mit „gemäß“ nahe legt, der richtige logos bestehe schon unabhängig von der aretē und diese richte sich jetzt nach ihm, während das „mit“ die wesentliche Verbindung zwischen beidem deutlich macht.15 (v) Die Einheit der aretai. Der wesentlichen Verknüpfung von ethischer aretē und phronēsis verdankt sich auch die Einheit der ethischen aretai untereinander. Wir würden es vielleicht für möglich halten, dass jemand eine bestimmte ethische aretē, etwa die Tapferkeit, besitzt, und eine andere, etwa die Gerechtigkeit, nicht. Aristoteles räumt diese Möglichkeit ein für die natürliche aretē, bestreitet sie jedoch für die aretē im eigentlichen Sinn. Die These wird im Text nicht detailliert begründet, könnte aber vielleicht so erklärt werden: Die ethischen aretai sind mehrere, weil wir inhaltlich verschiedene Affektbereiche haben und mit inhaltlich verschiedenen Situationstypen konfrontiert sind. Die Ausrichtung auf die eudaimonia andererseits ist, wie wir in Buch I gesehen haben, eine, und entsprechend ist auch die phronēsis, die mit Bezug auf das gute Leben insgesamt gut zu überlegen vermag, eine. Da jedoch die phronēsis nicht ohne die ethische aretē möglich ist, muss, wer die eine phronēsis besitzt, alle ethischen aretai besitzen. d) Das Verhältnis von phronēsis und sophia (1145a2–11) Im letzten Teil von VI 13 kehrt Aristoteles zur Ausgangsfrage des Textstücks, der Frage nach dem Nutzen der dianoetischen aretai, zurück und resümiert die bisherigen Ergebnisse. Zunächst das Argument, die phronēsis sei, auch wenn sie nicht zum Handeln beitragen würde, nötig als aretē des einen Teilbereichs der vernünftigen Seele. Sodann das Argument der wechselseitigen Abhängigkeit von phronēsis und ethischer aretē, also der Unentbehrlichkeit der phronēsis innerhalb derjenigen Form der eudaimonia, die in der eupraxia, im ethisch guten Handeln besteht. Diese Seite der phronēsis könnte nun zu der Vermutung führen, die phronēsis stehe, da nur sie praktische Anweisungen gibt, über der sophia, der aretē des theoretisch-vernünftigen Seelenteils. In dieselbe Richtung könnte die in VI 7 erwähnte Tatsache weisen, die sophoi, die Philosophen, seien oft unfähig, Handlungsanweisungen zu geben, ja es fehle ihnen oft an der phronēsis mit Bezug auf das für sie selbst Zuträgliche (1141 b2 ff.). Dennoch steht nach aristotelischer Auffassung die Weisheit über der phronēsis, und zwar deswegen, weil der Weise schwierige und göttliche Dinge weiß, weil der Gegenstandsbereich der sophia die allgemeinen und ewigen Dinge sind, die wertvoller sind als die vergänglichen. Die phronēsis hingegen hat, wie Aristoteles ebenfalls in VI 7 erläutert, nicht denselben 15
Diesen Interpretationsvorschlag übernehme ich von Dirlmeier 1956, 472 f.
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Allgemeinheitsgrad wie die sophia. Sie findet das Gute für eine jeweilige Spezies, ist beispielsweise eine andere, wo es um das Wohl des Menschen geht, als dort, wo es um das Wohl von Fischen geht.16 Dass die Weisheit höher bewertet wird als die phronēsis, hängt also letztlich an der ontologischen Auszeichnung ihres Gegenstandsbereichs. Dann bleibt die Frage, wie es sein kann, dass die phronēsis im individuellen ebenso wie im politischen Bereich alles anordnet, womit sie dann auch über die sophia zu herrschen scheint. Aristoteles antwortet, dass die phronēsis nicht über die sophia herrscht, sondern Anweisungen um der sophia willen erteilt, also um diejenige Form der eudaimonia, die in der Ausübung der höchsten dianoetischen aretē, der sophia besteht, zu ermög lichen. Wie das genauer zu verstehen ist, werden wir ausführlicher in der zweiten Hälfte des X. Buches erfahren.
5. Zusammenfassung Die in Buch II begonnene Erläuterung der einen der beiden Formen der eudaimonia, des Lebens der eupraxia, der Betätigung der ethischen aretē oder der Realisierung des kalon, ist damit weitgehend abgeschlossen (einige Modifikationen werden sich noch aus Buch VII ergeben). Das Bild der guten Handlung, das Aristoteles entwirft, erwies sich als komplex. Jede Handlung entspringt zunächst dem Strebevermögen, Ausgangspunkt des Überlegens und Handelns ist ursprünglich eine Strebung oder ein Wunsch (der wiederum durch eine innere oder äußere Situation ausgelöst ist). Beim guten Menschen enthält dieser Wunsch eine implizite Ausrichtung auf ein Gut wie Tapferkeit, Gerechtigkeit usw., das Bestandteil des kalon bzw. der eudaimonia ist. Ein solches Gut ist nicht vollständig definierbar wie Ziele der technē. Es ist daher für das Streben nur Orientierungspunkt in der Weise eines skopos, der von der phronēsis in ihrer Funktion, das Allgemeine zu ergreifen, gefasst werden muss. Dieses Gut geht als Obersatz in den praktischen Syllogismus, die Handlungsbegründung, ein. Sie ist Aufgabe der bouleusis bzw. der phronēsis, die in einem Abwägen der in der Situation möglichen Handlungen mit Bezug auf die Frage besteht, welche Handlung am besten die eupraxia realisiert. Das erfordert neben explizierbaren Überlegungsschritten am Ende eine „Wahrnehmung“, die „sieht“, dass die Handlung angemessen sowohl als Reaktion auf die Situation wie als Schritt in der kontinuierlichen Selbstgestaltung der Person ist. Diese Handlung muss nun vom Strebevermögen bejaht werden, damit 16 In diesem Zusammenhang schreibt Aristoteles eine Art phronēsis sogar Tieren zu, sofern sie mit einer gewissen Voraussicht für ihr Leben sorgen.
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eine prohairesis zustandekommt, die bei Abwesenheit von Hindernissen mit der Handlung zusammenfällt. Da beim ethisch guten Menschen die ethische hexis und die phronēsis die gleiche Ausrichtung haben und das Strebevermögen auf den orthos logos hört, ist die Bejahung der richtigen konkreten Handlung gesichert. Dass Handlungsgründe aus dem eigenen Wollen hervorgehen und so zugleich motivierend sind, könnte man in der heutigen Terminologie ein internalistisches Handlungsmodell nennen.17 Die plausible Grundidee hinter diesem Modell liegt in der Annahme, dass im Streben ebenso wie im praktischen Überlegen ein Bezug auf das gute Leben im Ganzen angelegt ist.18 Gegen eine solche internalistische Auffassung des Handelns scheint zu sprechen, dass es Handlungsgründe wie die moralischen gibt, die gerade das Zurückstellen unserer eigenen Strebungen zugunsten anderer verlangen. Es ist jedoch, wie wir in Kapitel III und IV gesehen haben, eine der Absichten der Lehre von der ethischen aretē, das zu geben, was man heute eine eudämonistische Moralbegründung nennt, also zu zeigen, dass moralisches Handeln zum eigenen guten Leben beiträgt. Dann sind die auf andere bezogenen Strebungen schon in das Wollen des eigenen guten Lebens eingebunden und motivieren so auf die oben erläuterte interne Weise das Handeln. Fragen wir nach diesem kurzen Rückblick auf die gesamte Lehre von der ethischen aretē, ob Aristoteles in Buch VI leistet, was er zu Beginn des Buchs ankündigt, nämlich die seit Buch II offene Bestimmung der richtigen Mitte im Handeln nachzutragen. Lässt sich jetzt, nach dem Durchgang durch das VI. Buch, Genaueres darüber sagen, wie die phronēsis bzw. der orthos logos die richtige Mitte findet, welches die Kriterien sind, nach denen der phronimos urteilt? Wo die phronēsis auf das letzte Konkrete bezogen ist, erwies sie sich als eine Art Wahrnehmung, die nicht den Sinn einer besonderen ethischen Intuition hat, sondern das Passen der Handlung in der Situation und als Beitrag zur Realisierung des menschlichen eidos erfasst. Da dieses Wahrnehmen keinen explizit formulierbaren Kriterien folgt, bleibt uns Aristoteles, so scheint es, eine klare Angabe der Kriterien des richtigen Handelns schuldig. Ein Vorwurf ist das nur dann, wenn eine solche Angabe der Kriterien grundsätzlich möglich ist. Das ist eindeutig nicht der Fall. Gründe, Kriterien, sind wesentlich allgemein und lassen sich daher nur für allgemeine Zusammenhänge formulieren. Die Frage, was in der konkreten EinzelsituatiFür eine Darstellung der heutigen Debatte siehe etwa Schueler. Dies ist eine strukturelle These, bedeutet also nicht, dass faktisch in jeder Handlungssituation eine Überlegung im Hinblick auf das Lebensganze durchgeführt werden müsste. 17
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on richtig ist, lässt sich nicht durch vorab definierte Kriterien allgemeiner Art entscheiden, sondern erfordert Urteilsfähigkeit im Konkreten. Für das im Einzelfall Richtige oder Gute gilt so dasselbe wie für das allgemeinste Gute, die eudaimonia; beides lässt sich nicht in Sätzen vollständig aussprechen und bestimmen. Was sich formulieren lässt, ist die mittlere Ebene zwischen diesen beiden, die Ebene der aretai bei Aristoteles, die Ebene der inhaltlichen moralischen Normen nach den meisten heutigen ethischen Theorien. Daraus ergeben sich grobe Anhaltspunkte für das Handeln. Die Tapferkeit des Charakters sagt dagegen noch nicht, was unter den gegebenen Umständen zu tun gut ist, und die Zustimmung zu der Norm, man solle andere gerecht behandeln, sagt noch nicht, was in einer bestimmten Konstellation die Gerechtigkeit verlangt. Der gängige Vorwurf, Aristoteles lasse in seiner Lehre von der ethischen aretē und ethischen Überlegung gerade die entscheidende Kriterienfrage offen und drehe sich hinsichtlich dieser Frage im Kreis, ist daher unberechtigt. Aristoteles leistet durch seine Darstellung der verschiedenen aretai in der Ausarbeitung der mittleren Ebene mehr als viele heutigen Theorien (auch wenn manches davon für uns nicht mehr interessant ist, da jede Epoche ihre eigenen Handlungsprobleme hat), und was die untere konkrete Ebene betrifft, ist auch keine andere Theorie in der Lage, explizite Kriterien festzulegen, weil das aus prinzipiellen Gründen nicht möglich ist.
VII. Unbeherrschtheit (akrasia) (VII 1–11) Nachdem es am Ende von Buch VI so scheint, als sei die Behandlung der ethischen aretē abgeschlossen, wirft Buch VII die Frage auf, in welchen Weisen der Mensch das ethische Gutsein verfehlen kann. Aristoteles nennt drei Verfassungen des Charakters, die zu meiden sind: kakia (Schlechtigkeit, Laster, sittlicher Fehler, Minderwertigkeit), akrasia (Unbeherrschtheit, Unenthaltsamkeit) und thēriotēs, Bestialität (Rohheit, tierische Rohheit, tierisches Wesen). Dabei wissen wir bereits, was die kakia, die Schlechtigkeit ist, nämlich das Gegenteil der aretē. Mit der Bestialität ist eine Extremform der Schlechtigkeit gemeint; ihr Gegenteil ist die heroische oder göttliche aretē, die weit über die menschliche aretē hinausgeht. Das Gegenteil der Unbeherrschtheit schließlich ist die enkrateia (Beherrschtheit, Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit).
1. Die drei Arten der Verfehlung der arete¯ (VII 1) Wie Aristoteles sagt (1145 a34 f.), braucht die kakia nicht eigens erklärt zu werden, da sie als die ihr entgegengesetzte Haltung zusammen mit der aretē behandelt wurde. Die Thematisierung der Bestialität wird für später angekündigt, geschieht dann aber nur in kleineren Passagen, die in die Untersuchung der Unbeherrschtheit eingestreut sind. Da der Begriff erstmals auftritt, wird er von Aristoteles bereits hier in der Einleitung kurz erläutert. Die Bestialität äußert sich in Handlungen, die so entsetzlich sind, dass für uns schwer vorstellbar ist, dass Menschen Derartiges tun können; daher der Ausdruck, der von thērion, „wildes Tier“, abgeleitet ist. Erfüllt vom griechischen Gefühl der kulturellen Überlegenheit vermutet Aristoteles, die Bestialität komme mehr unter den Barbaren, also den Nicht-Griechen vor, sei aber überhaupt selten und könne krankhaft sein. In der Tat lässt sich, so Aristoteles, dieses Phänomen ebenso wie sein Gegenteil genau genommen schwer als menschliches ansehen. Die Bezeichnungen „bestialische Schlechtigkeit“ und „göttliche aretē“ unterstellen zwar, Tieren und Göttern seien ethische Haltungen zuzuschreiben. Die ethische hexis jedoch ist spezifisch gerade für den Menschen als Wesen, das in der Mitte steht zwischen einerseits den Tieren, die zwar ebenfalls Strebungen haben, diese aber nicht an der Vernunft ausrichten können, und andererseits den Göttern, die ebenfalls
Die drei Arten der Verfehlung der aretē (VII 1)
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Vernunft besitzen, jedoch keine Strebungen haben, weil sie frei von materiellen Bestandteilen sind. Das eigentliche Thema ist die akrasia, die Unbeherrschtheit, und die enkrateia, die Beherrschtheit, und, wie Aristoteles jetzt hinzufügt (1145a35f.), noch ein zweites Begriffspaar, die karteria (Abgehärtetheit, Ausdauer) und als ihr Gegensatz die malakia kai tryphē (Weichheit). Dieses zweite Begriffspaar bleibt zunächst außer Betracht und wird erst in VII 8 erläutert. Aristoteles deutet sogleich an, dass die Existenz dieser vier Phänomene für die begriffliche Systematik irritierend ist, da sie aus den bisherigen Einteilungen herausfallen: sie sind weder eine aretē noch eine kakia, gehören aber in denselben Bereich1 wie diese (1145 b1 f.). Das Phänomen der Unbeherrschtheit besteht im Kern darin, dass eine Person weiß, was zu tun gut ist, aber dennoch das Schlechtere tut, gegen das Ergebnis ihrer Überlegung handelt. Wer andererseits beherrscht ist, überlegt nicht nur richtig, sondern handelt auch entsprechend, obwohl er entgegengesetzte Strebungen hat. Diese Phänomene scheint es alltäglich zu geben, sie passen jedoch schlecht in die aristotelische Handlungstheorie,2 wie wir sie bisher kennen gelernt haben. Denn für diese war es entscheidend, dass in der guten Handlung Strebung und phronēsis zusammenstimmen. Dann stellt sich die Frage, ob Aristoteles das alltäglich bekannte Phänomen erklären kann, ohne dass es seinen handlungstheoretischen Ansatz sprengt. In Anwendung der in Kapitel II erläuterten Methodenkonzeption sammelt Aristoteles zunächst die Aspekte des Phänomens bzw. die gängigen Meinungen darüber (VII 2) und zeigt sodann, in welche Aporien sie führen (VII 3) und wie diese sich ordnen lassen (VII 4). Der weitere Text dient der Lösung dieser Aporien. Als die zentrale Aporie wird sich bereits in VII 2 die Frage erweisen, ob und wie man wissentlich das Schlechtere tun kann, und bereits dort werden mögliche Antworten diskutiert. Ge nauer ist dieses Kernproblem dann Thema von VII 5, aber auch die Ausführungen in VII 8, 9 und 11 gehören in diesen Kontext. Der zweite wich tige Strang betrifft die Frage nach dem Gegenstandsbereich der UnbeGenauer heißt es im Text (1145 b2), dass sie in dasselbe genos wie aretē und kakia gehören. Ich gebe genos deswegen nicht mit „Genus, Gattung“ wieder, weil nicht sicher ist, ob der Ausdruck hier im engeren Sinn gebraucht wird und somit die hexis bezeichnet, die sich in II 4 als genos von aretē und kakia erwies. Man könnte ihn auch in einem informellen Sinn lesen, wonach Beherrschtheit und Unbeherrschtheit nicht auf eine völlig andere Ebene als aretē und kakia gehören, wie das für das göttliche Gutsein oder die Bestialität der Fall war (diese Interpretation bei Gauthier/Jolif II, 2). 2 Ebenso wenig passen sie in manche Spielarten der heutigen Handlungstheorie, wo ähnliche Schwierigkeiten unter dem Stichwort „Willensschwäche“ diskutiert werden; dazu mehr unten in 5. 1
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Unbeherrschtheit (akrasia) (VII 1–11)
herrschtheit (VII 6, 7, 10). Die folgende Darstellung wird diesem sachlichen Zusammenhang folgen und zuerst die Meinungen und Aporien vorstellen (2.), sodann die zentrale Aporie, die in der Wissensbedingung liegt, behandeln (3.) und schließlich die Frage nach dem Gegenstandsbereich aufnehmen (4.).
2. Die Meinungen und Aporien bezüglich der Beherrschtheit und Unbeherrschtheit (VII 2–4) a) Die Meinungen (VII 2) (i) Die Beherrschtheit und Abgehärtetheit gehören zum Guten, Lobenswerten, die Unbeherrschtheit und Weichlichkeit zum Schlechten. (ii) Der Beherrschte bleibt bei der Überlegung, der Unbeherrschte nicht. (iii) Der Unbeherrschte weiß, dass es schlecht ist, was er tut, und tut es doch unter dem Einfluss des Affekts. Der Beherrschte weiß ebenfalls, dass seine Begierden schlecht sind, folgt ihnen aber anders als der Unbeherrschte nicht, sondern handelt gemäß der Vernunft. (iv) Teils werden Mäßigkeit und Beherrschtheit gleichgesetzt, teils gelten sie als verschieden. Analog setzen einige Unmäßigkeit und Unbeherrschtheit gleich, andere unterscheiden sie. (v) Einige sagen, der phronimos könne nicht unbeherrscht sein; andere meinen, es gebe Menschen, die die phronēsis haben, aber unbeherrscht sind. (vi) Die Rede von Beherrschtheit und Unbeherrschtheit gibt es nicht nur mit Bezug auf sinnliche Begierden, sondern auch mit Bezug auf Zorn, Ehre und Gewinn. Was die Identifikation des Phänomens angeht, sind die zentralen Meinungen (ii) und (iii) und (v), dass also entweder jemand weiß, was zu tun gut ist, aber dennoch das Schlechtere tut, oder auch dass jemand weiß, was zu tun gut ist, es auch tut, aber auf diese Weise gegen seine Strebungen handelt. Die Meinungen (i), (iv) und (vi) beziehen sich auf die Einordnung des Phänomens. Wie (iv) und (vi) zeigen, siedelt Aristoteles seinen Kern im Bereich der sinnlichen Begierde an. Hier war, wie wir gesehen haben, die aretē die Mäßigkeit (sōphrosynē), die kakia die Unmäßigkeit (akolasia). Wenn Beherrschtheit und Unbeherrschtheit also inhaltlich in denselben Bereich gehören wie diese aretē und kakia, wirft das die Frage auf, wie die vier Verhaltensweisen zueinander stehen. In der Tat liegt es, insofern (gemäß (i)) die Beherrschtheit gelobt und die Unbeherrschtheit getadelt wird, nahe, Mäßigkeit und Beherrschtheit auf der einen Seite und
Beherrschtheit und Unbeherrschtheit (VII 2–4)
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Unmäßigkeit und Unbeherrschtheit auf der anderen Seite gleichzusetzen. Aus (ii) und (iii) jedoch geht hervor, dass es sich um verschiedene Phänomene handeln muss. Die Meinungen unter (v) führen auf das Problematische des Phänomens hin. In den Büchern II–VI wurde immer wieder die Zusammengehörigkeit von ethischer aretē und phronēsis betont. Wer eine falsche Haltung beispielsweise zur sinnlichen Begierde besitzt, überlegt auch nicht richtig, weil die Begierde die Überlegung verdreht (1140 b11–20). Umgekehrt dürfte also, wer in diesem Bereich gut zu überlegen vermag, in ihm keinen schlechten affektiven Charakter haben können. Die Phänomene der Beherrschtheit und Unbeherrschtheit stellen also diese wechselseitige Abhängigkeit und damit letztlich die gesamte bisherige handlungstheoretische Konzeption des Aristoteles in Frage: Der Beherrschte hat nicht die richtige ethische hexis, überlegt und handelt aber trotzdem richtig; der Unbeherrschte hat ebenfalls nicht die richtige hexis, überlegt dennoch richtig, handelt jedoch nicht gemäß der Überlegung.
b) Die Aporien (VII 3) Nachdem Aristoteles die Aufzählung der gängigen Meinungen abgeschlossen hat, führt er die Aporien an, in die diese Vorstellungen führen. Der Text ist merkwürdig aufgebaut, insofern zunächst (1145 b21–1146 a9) eine der Aporien sehr ausführlich behandelt wird, obwohl auch sie später erneut Erörterung findet, während die übrigen Aporien an dieser Stelle nur genannt (1146 a9–bb5) und erst später oder auch gar nicht behandelt werden. Von diesen ist außerdem unklar, ob es sich nicht teilweise nur um Fragen handelt statt um echte Aporien. Als Aporie im engeren Sinn bezeichnet man eine widersprüchliche, unlösbar erscheinende Konstellation, in die wir ausgehend von mehreren gesicherten Aussagen gelangen. Ich spare Aristoteles’ vorläufige Behandlung der 1. Aporie noch aus und folge zunächst nur der Aufzählung der Aporien: 1. Aporie (1145 b21 ff.). Wenn der phronimos, der das richtige ethische Urteil hat, immer auch die ethische aretē besitzt, die richtigen Strebungen (v), wie kann dann der Unbeherrschte richtig urteilen und gemäß (iii) trotzdem falsch streben und handeln? 2. Aporie (1146 a9–16). Beherrschtheit und Mäßigkeit erscheinen teils identisch, teils verschieden. Die Mäßigkeit ist die ethische aretē mit Bezug auf die sinnliche Lust; der Mäßige hat richtige, gemäßigte Begierden. Die Beherrschtheit ist auf denselben Bereich bezogen und wird ebenfalls gelobt. Als etwas Lobenswertes scheint auch sie eine aretē zu sein, und da sie sich auf denselben Bereich des Strebens bezieht, müsste
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sie mit der Mäßigkeit zusammenfallen. Andererseits jedoch ist der Beherrschte gerade dadurch charakterisiert, dass er, obwohl er starke und schlechte Begierden hat, dennoch dem richtigen Urteil folgt. So gesehen kann die Beherrschtheit nicht mit der Mäßigkeit identisch sein. 3. Aporie (a16–21). Wenn die Beherrschtheit gemäß (ii) ein Bleiben bei jedem Urteil, also auch bei einem schlechten Urteil ist, entsteht zusammen mit (i), wonach die Beherrschtheit zum Guten gehört, ein Widerspruch. 4. Aporie (a21–a31). Man könnte beweisen, dass Unverstand zusammen mit Unbeherrschtheit aretē ergibt: Wenn eine Person überzeugt ist, dass das Gute schlecht ist, aber aus Unbeherrschtheit nicht gemäß dieser Überzeugung handelt, wird sie das Gegenteil, also das Gute tun. Diese Aporie entsteht aus (ii) in Kombination mit dem bisherigen Verständnis guten Handelns, wonach dieses eine Ausrichtung auf gute Ziele impliziert. 5. Aporie (a31–b2). Die Unmäßigkeit müsste, da sie eine kakia ist, schlechter sein als die Unbeherrschtheit; andererseits scheint derjenige besser zu sein, der sich das Angenehme vorsätzlich zum Ziel macht, da er einem logismos, einer Überlegung folgt, also auf Vernunftgründe reagiert, während der Unbeherrschte einfach der Begierde nachgibt. 6. Aporie (b2–5). Wenn wir von Unbeherrschtheit gemäß (vi) nicht nur mit Bezug auf die sinnliche Begierde, sondern mit Bezug auf alle Handlungsbereiche reden, aber niemand in allen Hinsichten unbeherrscht ist, auf wen bezieht sich dann die absolute Verwendung des Worts „unbeherrscht“, also diejenige Verwendung, bei der wir nicht hinzufügen „unbeherrscht in diesem oder jenem Bereich“?
c) Zusammenfassung der Fragen und Plan der Untersuchung (VII 4) Aristoteles findet nicht alle diese Aporien erörternswert, sondern hält zwei große Fragen fest, die er behandeln will. Die erste Frage ist die vorläufig schon in VI 3 diskutierte und letztlich zentrale Frage, ob und auf welche Weise der Unbeherrschte wissend handelt. Zweitens untersucht Aristoteles, auf welche Arten von Lust und Unlust sich Beherrschtheit und Unbeherrschtheit beziehen, welches ihr Gegenstandsbereich ist. Nachdem er diese Fragen aufgezählt hat, benennt Aristoteles übergangslos den Ausgangspunkt der Untersuchung auf eine andere Weise (1146 b14 ff.),3 die aber letztlich auf dieselben zwei großen Themenkomplexe hinausläuft. Die Frage sei, ob Beherrschtheit und Unbeherrschtheit eine Sache des Gegenstandsbereichs (die zweite der gerade genannten Fragen) oder der Art (die erste der Fragen) der Handlung sind. Die Antwort 3
Genaueres dazu, dass dieses Textstück nicht gut passt, bei Gauthier/Jolif II, 600.
Lösung der Aporie (VII 3, 5, 8–9, 11)
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wird sofort angedeutet: Der Gegenstandsbereich der Unbeherrschtheit in der absoluten Wortverwendung ist derselbe wie der der kakia der Unmäßigkeit, also die sinnliche Lust; sollen beide nicht zusammenfallen, müssen sie sich also in der Art unterscheiden. Der Unterschied liegt darin, dass der Unmäßige meint, man solle immer die gegenwärtige Lust suchen, also eine falsche Vorstellung vom Guten im Bereich der sinnlichen Begierden hat, folglich auch einen falschen Handlungsvorsatz (prohairesis) in der konkreten Situation. Der Unbeherrschte hingegen hat nicht diese falsche allgemeine Zielvorstellung, folgt aber trotzdem der Begierde. Der weitere Text ist wie folgt aufgebaut: VII 5 behandeln den ersten Fragenkomplex und damit die erste und zentrale Aporie, wie unbeherrschtes Handeln wissentlich möglich ist. VII 6–8 behandelt den zweiten Fragenkomplex und antwortet damit auf die 6. Aporie, wie von akrasia absolut und in bestimmten Bereichen die Rede ist und wie diese speziellen Arten der akrasia zu bewerten sind. VII 8 und 9 enthalten Nachträge zur Unbeherrschtheit im engeren Sinn. VII 10 bezieht sich auf die 3. Aporie, ob sich Beherrschtheit und Unbeherrschtheit auf beliebige Überzeugungen beziehen oder nur auf richtige. VII 11 enthält weitere Nachträge. Die folgende Interpretation orientiert sich, wie bereits angekündigt, nicht an dieser Detailgliederung, sondern an den beiden Hauptfragen nach der Art und dem Gegenstandsbereich der Unbeherrschtheit.
3. Die Lösung der Aporie um das ethische Wissen (VII 3, 5, 8–9, 11) a) Exposition der Schwierigkeiten (1145b21–1146a9, 1146b24–31) Aristoteles exponiert die Problematik der Wissensbedingung in VII 3, indem er sich mit der Leugnung der akrasia durch Sokrates auseinandersetzt (1145 b21–1146 a9). Diesem schreibt er eine Position zu, die man heute als intellektualistische bezeichnen würde und die besagt, das Wissen sei im Handeln leitend und könne nicht von anderem beherrscht werden, man könne daher nicht wissentlich gegen das Beste handeln. Aristoteles wendet gegen diese Auffassung ein, sie widerspreche den Phänomenen, der Erfahrung.4 Die These des Sokrates, wie Aristoteles sie referiert, enthält zwei Teile. Die erste Behauptung besagt, dass Wissen grundsätzlich etwas so Festes und Herausragendes ist, dass nichts es ins Wanken bringen kann. Die zweite Teilthese macht verständlich, warum an der Unbeherrschtheit etwas Pa4 Dass phainomena hier nicht die gängigen Meinungen sein können, sondern nur die Phänomene, erläutern Gauthier/Jolif II, 593.
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radoxes ist. Das ethische Überlegen bezieht sich, wie in der These des Sokrates formuliert, auf das Beste oder, wie Aristoteles in VI 1 sagt, auf das gute Leben insgesamt, die eudaimonia. Wer ein richtiges Urteil darüber hat, was für ihn die in der Situation richtige Handlung ist, der hat nicht einfach irgendeine praktische Meinung, sondern eine Meinung darüber, was im Sinn seines Glücks für ihn zu tun gut ist. Für Aristoteles ebenso wie für Sokrates steht aber alles Streben im Horizont unseres Strebens nach der eudaimonia. Wer also trotzdem anders handelt, verfehlt das von ihm selbst letztlich Gewünschte, und dass jemand wissentlich gegen die eigene eudaimonia handelt, hat in der Tat etwas Merkwürdiges an sich, erscheint zumindest erklärungsbedürftig. Ein Erklärungsbedarf besteht auf zwei Ebenen. Die erste Ebene ist die begriffliche. Der Begriff des ethischen Wissens, der phronēsis, ist so erklärt worden, dass eine widerspruchsfreie Formulierung des Phänomens unmöglich scheint. Um diese Frage geht es in den meisten Argumenten in VII 5. Ihre Erörterung ist teilweise technisch und vertrackt, und man gewinnt den Eindruck, dass Aristoteles nicht immer die ethische Problematik im Auge behält, sondern sich das Interesse an den begrifflichen Differenzierungen zwischendurch verselbständigt. So steht im Zentrum der Unterscheidungen nicht der Begriff der phronēsis, sondern der Begriff der epistēmē, der eigentlich in den Bereich der theoretischen Vernunft gehört,5 und es fehlt oft eine klare Auswertung der Beispiele und Einteilungen für die Leitfrage. Die zweite Ebene ist die kausale oder psychologische, die ebenfalls in VII 5 und einigen kleineren späteren Passagen erörtert wird. Wenn der Unbeherrschte im Rahmen der aristotelischen Handlungstheorie nicht nur in irgendeinem Sinn irrational handelt, sondern sehenden Auges seine eigene eudaimonia verfehlt, dann scheint ein solches Verhalten, selbst wenn es begrifflich ohne Widersprüche beschreibbar sein sollte, in der Tat psychologisch schwer erklärlich, so dass einsichtig gemacht werden muss, wie es zustandekommen kann. 6 Aristoteles beginnt mit der begrifflichen Ebene und scheidet vorab eine Lösungsmöglichkeit aus: Es werde manchmal versucht, die sokratische Auffassung dadurch an die Phänomene anzupassen, dass der Begriff der epistēmē durch einen schwächeren Begriff wie den der doxa (Meinung) ersetzt wird. Diese Strategie trage aber nichts bei, da man von einer doxa ebenso fest überzeugt sein könne wie von einer epistēmē. Wie Aristoteles das Problem beschreibt, gehört also zu den Bedingungen der Unbeherrschtheit, dass die handelnde Person eine sichere Überzeugung davon Siehe dazu auch Wilkerson 165. Hier und im Folgenden stütze ich mich auf Kenny 1966 und Kenny 1979, Kap.14. 5 6
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hat, was zu tun gut ist. Dieser Schritt ist einleuchtend. Denn hätte sie nur eine schwankende Meinung, könnte es durchaus gerechtfertigt sein, im Handeln vom Ergebnis der Überlegung abzuweichen. Aristoteles selbst versucht die Aporie auf der begrifflichen Ebene ebenfalls durch Unterscheidungen innerhalb des Wissensbegriffs zu lösen; diese Unterscheidungen betreffen jedoch nicht den Grad der Überzeugung, sondern die Art, wie jemand das Wissen besitzt und anwendet. Es handelt sich um eine mehrfache Differenzierung. Unterschieden wird zwischen dem Besitz und dem Gebrauch des Wissens, zwischen mehreren Stufen des Wissensbesitzes sowie zwischen verschiedenen Auswirkungen, die diese Unterscheidungen auf die verschiedenen Teilsätze der praktischen Überlegung haben. b) Besitz und Gebrauch von Wissen (i) Stufen von Wissen (1146 b31–35, 1147 a10–24). Kriterium für die Zuschreibung eines Wissens ist, dass dieses sich in geeigneten Situationen zeigt. Trotzdem würden wir z. B. einem Mathematiker sein Wissen nicht absprechen, während er es nicht äußert. Diese scheinbare Diskrepanz lässt sich durch die Unterscheidung zwischen einer Fähigkeit und ihrer Aktualisierung auflösen, die Aristoteles ausführlich in Metaphysik IX entwickelt: Im zweiten Fall weiß der Mathematiker bestimmte Sätze in dem Sinn, dass er die Fähigkeit der Mathematik latent besitzt, sie aber gerade nicht ausübt (wenn er hier und jetzt gerade etwas ganz anderes tut, beispielsweise Flöte spielt). In beiden Fällen würden wir ihm das Wissen zuschreiben, dann, wenn er es anwendet, aber auch dann, wenn er es besitzt und gerade nicht betätigt. Der Bezug auf die ethische Problematik, in der die zuständige intellektuelle Instanz nicht die epistēmē, sondern die phronēsis ist, die in Buch VI als aretē einer intellektuellen hexis bestimmt worden war, wird nur in einem Satz (1146b35) hergestellt. Es sei schlimm, wenn jemand, obwohl er das Wissen, dass etwas Beabsichtigtes schlecht ist, aktualisiert, dennoch das Schlechte tut, nicht hingegen, wenn ihm dieses Wissen gerade nicht präsent ist. Hier verwundert zum einen Aristoteles‘ milde Beurteilung desjenigen, der in Handlungssituationen an seine grundlegenden Wertorientierungen einfach nicht denkt. Zum andern fragt man sich, wie Aristoteles die Existenz dieses Phänomens zulassen kann, wenn nach seiner Auffassung das ethische „Wissen“ charakterlich verankert und die phronēsis wesentlich mit dem richtigen Streben verknüpft ist. Ausführlicher berücksichtigt wird die ethische Thematik auf der nächsten Betrachtungsebene, wenn Aristoteles innerhalb des Wissensbesitzes mehrere Formen unterscheidet (1147 a10–24). Im Sinn der bisherigen
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Unterscheidung zwischen Besitzen und Gebrauchen besteht die Möglichkeit, dass jemand mathematisches Wissen hat, es aber nicht anwendet, weil er gerade etwas anderes tut. In diesem Fall kann er, sobald er es nur will, dieses Wissen sogleich aktualisieren. Jedoch gibt es auch mit Bezug auf das Haben selbst die paradox erscheinende Möglichkeit, dass jemand ein Wissen besitzt und auch wieder nicht besitzt, etwa dann, wenn er schläft oder betrunken ist. In derartigen Verfassungen kann nicht einfach das Wissen nach Wunsch realisiert werden, vielmehr muss zuvor erst der Zustand wiedergewonnen werden, in dem dies möglich ist. Im Kontext dieser Unterscheidung redet Aristoteles nicht nur von der epistēmē, sondern auch von der hexis und stellt den Zusammenhang mit dem Problem der akrasia her. Für die Erklärung der akrasia sind einschlägiger als das Schlafen die Zustände der Trunkenheit und des Wahnsinns. Wer von Affekten oder Begierden beherrscht wird, kann wie der Betrunkene in einem veränderten körperlichen Zustand sein, in dem das Wissen, das er sonst besitzt, vorübergehend nicht zugänglich, gewissermaßen in Vergessenheit geraten ist. Daran ändert nichts, dass der Unbeherrschte manchmal richtige Sätze äußert, denn es könnte sein, dass die Unbeherrschten wie Schauspieler Sätze aussprechen, die sie nicht verstehen. Dieser Hinweis erscheint zunächst als nicht sehr befriedigend. Er läuft ja darauf hinaus, dass zumindest während der Handlungssituation das Wissen nicht nur nicht aktualisiert wird, sondern auch nicht aktualisierbar ist.7 Worin unterscheidet sich dann aber die aristotelische Position noch von der des Sokrates? Fraglich ist weiter, wie es möglich ist, dass die phronēsis, die die ethische aretē impliziert, zeitweilig abhanden kommen kann. Nun geht dem Abschnitt, der die Ebenen des Wissensbesitzes unterscheidet, eine Passage voraus, die fragt, welche Arten von Sätzen es sind, die in der Überlegung des Unbeherrschten möglicherweise nicht gebraucht werden bzw. nicht gebraucht werden können. Vielleicht lässt sich mit dieser weiteren Präzisierung die Lösung, die Aristoteles beabsichtigt, besser verstehen. (ii) Besitz und Gebrauch des Wissens mit Bezug auf die zweite Prämisse der Überlegung (1146b35–1147a10). Wie wir im III. und VI. Buch gesehen haben, enthält die ethische Überlegung verschiedene Sätze, die Aristoteles bereits in VI 8–9 auf die Form des praktischen Syllogismus bringt. Auf diese Darstellungsform greift Aristoteles jetzt zurück, um die Schritte der Überlegung besser sichtbar zu machen. Da die Beispiele in Buch VII oft mehr als zwei Prämissen erfordern und nicht immer vollständig ausformuliert sind, sei zunächst ein einfacheres Beispiel angeführt: 7 In Metaphysik IX 7 schränkt Aristoteles selbst die Rede vom Besitzen einer Fähigkeit so ein, dass nur ein Schritt bis zur Aktualisierung fehlen darf.
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(P1) Unrecht ist zu vermeiden. (P2) Ehebruch ist Unrecht. (C) Ehebruch ist zu vermeiden. In der Standardform besteht also der praktische Syllogismus aus zwei Teilen, einer allgemeineren Prämisse (P1) oder dem Obersatz, und einer spezielleren Prämisse oder dem Untersatz (P2). Aus beiden wird eine Folgerung gezogen (C), die im praktischen Syllogismus eine prohairesis bzw. unter Normalbedingungen die Handlung selbst ist. Dass ein Satz zwar latent gewusst, aber nicht aktualisiert wird, könnte dann sowohl die allgemeine Prämisse betreffen wie auch die spezielle Prämisse, vielleicht aber auch die Folgerung bzw. den Syllogismus im Ganzen. Wir können annehmen, dass die in (i) behandelten Unterscheidungen bezüglich des Wissens sich auf die allgemeine Prämisse (P1) beziehen, die die prinzipielle ethische Ausrichtung, die ethischen Ziele enthält. Im Folgenden geht es hingegen um die Art, auf die die zweite Prämisse gewusst wird. Da das Beispiel im Text kompliziert ist, versuche ich diesen Fall an dem oben angeführten Beispiel zu erläutern. Nehmen wir an, dass die allgemeine Prämisse P1 aktualisiert wird, und das heißt, auf den Fall des Ehebruchs angewendet wird, dieser also in sie eingesetzt wird. Nicht wirksam werden soll in diesem Fall hingegen die zweite Prämisse. Wie Aristoteles die jeweilige zweite Prämisse versteht, ist strittig. Viele Interpreten sind der Meinung, dass diese sich auf den Einzelfall bezieht, der Syllogismus also lauten müsste: (P1’) Ehebruch ist Unrecht, das zu vermeiden ist. (P2’) Dies, was ich hier zu tun im Begriff bin, ist Ehebruch. (C’) Folglich ist dies Unrecht, das zu vermeiden ist. Aristoteles meint jedoch mit der zweiten Prämisse, die er partikulär (kata meros) nennt, gewöhnlich einen immer noch generellen, nur inhaltlich spezielleren Satz. Andernfalls fehlte auch eine Erklärung, wie jemand ein Wissen der zweiten Prämisse besitzen kann, ohne sie zu gebrauchen; denn P2 ist eine singuläre Wahrnehmungsaussage, und auf solche Aussagen lässt sich die Unterscheidung zwischen Besitzen und Aktualisieren nicht anwenden. Legt man die zuerst angeführte Version des Syllogismus zugrunde, kann hingegen in der Tat der Fall auftreten, dass jemand zwar die erste Prämisse auf den Fall des Ehebruchs anwendet und daher realisiert, dass Ehebruch als ungerecht zu vermeiden ist, dass jedoch die zweite Prämisse (P2) nicht auf die Situation angewendet wird, die Person also nicht realisiert, dass die beabsichtigte Handlung als Fall von Ehebruch unter die zweite Prämisse zu subsumieren ist. Die Fortsetzung des Syllogismus, die erst zur richtigen Handlung führen würde –
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(P3) Ehebruch ist zu vermeiden. (P4) Dies, was ich hier tun will, ist Ehebruch. (C) Dies ist zu vermeiden – kommt so gar nicht zustande. Und das hat zur Folge, dass auch das allgemeine ethische Prinzip, dass Unrecht zu vermeiden ist, im Handeln nicht zum Tragen kommt. 8 (iii) Zwischenergebnis. Aristoteles hat mit den bisher gemachten Unterscheidungen begriffliche Möglichkeiten aufgezeigt, wie man widerspruchsfrei sagen kann, dass jemand etwas weiß, obwohl er dieses Wissen bei einer Gelegenheit, bei der es sich im Normalfall aktualisieren müsste, nicht gebraucht. Diese Möglichkeiten werden aber weithin für den Begriff der epistēmē erläutert und nicht speziell auf das Ausgangsproblem, wie akrasia innerhalb des aristotelischen Handlungsmodells denkbar ist, bezogen. Genau genommen besteht hier das Problem nicht darin, wie man konsistent von einem ethischen Wissen reden kann, das sich nicht manifestiert, sondern ob nicht der aristotelische Begriff der phronēsis, der eine Kongruenz von ethischem Urteil und Streben annimmt, revidiert oder aufgegeben werden muss, wenn ein Auseinanderfallen von richtigem ethischem Urteil und Streben als möglich eingeräumt wird. Auch diese Frage 8 Aristoteles selbst gibt als Beispiel für die Nicht-Aktualisierung der zweiten Prämisse einen Syllogismus der Zuträglichkeit (1147 a5 ff.), jedoch auch diesmal, ohne ihn für das Problem der akrasia explizit auszuarbeiten: (P1) Allen Menschen ist trockene Nahrung zuträglich bzw. alle Menschen sollten trockene Nahrung essen. (P2) a) Ich bin ein Mensch; b) derartige Nahrung (etwa Huhn) ist trocken; c) dies ist Huhn. (C) Ich sollte dies essen. Aristoteles konstruiert das Beispiel so, dass die allgemeine Prämisse aktualisiert wird. Dann kann es immer noch sein, dass jemand Teil b) der – in diesem Beispiel komplexen – speziellen Prämisse nicht gebraucht, indem er den Satz, dass Huhn trockene Nahrung ist, nicht aktualisiert. Das müsste jetzt heißen, dass er in der Situation nicht wahrnimmt, dass die Nahrung hier Huhn ist, der konkrete Fall also nicht in die spezielle Prämisse eingesetzt wird. Nun ist dieses Beispiel deswegen in seinem Beitrag nicht klar, weil die ‚Wahrnehmung’, dass eine Handlung Ehebruch bedeutet, eine Bewertung darstellt, während die Frage, ob dies Huhn ist, eine schlichte empirische Wahrnehmung zum Inhalt hat. Gemäß III 2 aber ist Nichtwissen konkreter Handlungsumstände entschuldbar, während die Unbeherrschtheit etwas Schlechtes sein sollte. Um dem Beispiel Sinn abzugewinnen, müsste man es daher wohl in der Weise des Süßigkeitenbeispiels weiterführen, das später ausgearbeitet wird, also weitere Prämissen einbringen, die zeigen, warum die handelnde Person die Prämisse „Huhn ist trocken“ nicht auf das vorhandene Hühnerfleisch anwendet (vermutlich weil da noch andere, eher fette und ungesunde Nahrung ist, die sie lieber mag).
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kann man als begriffliche verstehen, sie ist jedoch nicht eine Frage der widerspruchsfreien Explikation der vorhandenen Begrifflichkeit, sondern eher die Frage, ob die vorgeschlagenen begrifflichen Einteilungen und Zuordnungen angemessen oder zureichend sind, um die Phänomene zu erfassen. Vielleicht ist die nun folgende Erklärung der Unbeherrschtheit als Antwort auf diese Frage zu verstehen.
c) Die „naturwissenschaftliche“ Erklärung der akrasia (1147a24–b9) Diese neue Erklärung der akrasia führt Aristoteles mit dem Hinweis ein, sie sei physikōs, also „naturwissenschaftlich“. Das ist gewöhnlich als Gegensatz zu logikōs gemeint, das heißt dazu, dass ein Problem durch begriffliche Differenzierungen gelöst wird. Die Erklärung wird anhand eines weiteren praktischen Syllogismus S° entwickelt, zunächst in der einfachen Form mit einer allgemeinen Prämisse, in die eine Wahrnehmungsaussage über einen konkreten Fall eingesetzt wird: (P1°) Man soll alles Süße kosten. (P2°) Dieses Einzelne hier ist süß. (C°) Ich soll dies kosten. Wie Aristoteles sagt, wird die Folgerung, wenn diese beiden Prämissen zusammenkommen, unmittelbar ausgesprochen bzw. ins Handeln umgesetzt, sofern die Person dazu fähig ist und keine hindernden Faktoren vorliegen. Aristoteles konstruiert nun sein Beispiel so, dass neben dem schon erwähnten Syllogismus S° gleichzeitig eine allgemeine Meinung vorhanden ist, die das Kosten verbietet. Wie die allgemeine Prämisse lautet, die das Kosten verbietet, ist in der Literatur strittig.9 Häufig wird angenommen, dass wir neben dem Syllogismus S°, der zur unbeherrschten Handlung führt, einen zweiten Syllogismus S* haben, der in die Folgerung mündet, man solle die Handlung unterlassen: (P1*) Man soll nichts Süßes kosten. (P2*) Dies ist süß. (C*) Ich soll dies nicht kosten. Wir hätten also zwei Syllogismen mit entgegengesetzten Folgerungen, einmal den der Begierde (S°), der zum Kosten führt, und dagegen den der 9
Dazu immer noch Kenny, insbesondere 1966, 178ff.
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Vernunft (S*), der dies verbietet.10 Das kann aber nicht gemeint sein, denn dann wäre der Unbeherrschte jemand, der explizit zwischen der vernunftgemäßen und der von der Begierde gewünschten Handlung entscheidet und die letztere vorsätzlich tut. Wer vorsätzlich der Begierde folgt, also nach dem Prinzip der Lust handelt, ist jedoch nicht der Unbeherrschte, sondern der Unmäßige, der die kakia im Bereich der sinnlichen Lust hat (1146 b22 ff.). Dann kann nur gemeint sein, dass wir einen Syllogismus S^ der Vernunft haben, dessen letzte Schritte S* entsprechen und der an einer bestimmten Stelle von der Begierde unterbrochen oder ausgeblendet wird. Dieser könnte lauten: (P1^) Alles Angenehme ist zu meiden. (P2^) Alles Süße ist angenehm, und dies ist süß. (C^) Dies ist zu meiden. Wie Aristoteles sagt, wird die zweite Prämisse (P2^) aktualisiert, und so wird die Folgerung zunächst vollzogen. Es ist jedoch gleichzeitig eine Begierde vorhanden, vielleicht gerade hervorgerufen durch den Satz über den angenehmen Charakter des Süßen, und diese, so könnte man sagen, überlagert jetzt die Schlussfolgerung. Der Satz „Dies ist zu meiden“ wird zwar noch verbal bejaht, aber das Streben nach dem Vernunftgemäßen, das normalerweise mit ihm verbunden sein müsste, fehlt oder wird vom Streben nach dem Angenehmen außer Kraft gesetzt. Man darf sich also dadurch, dass Aristoteles das Operieren der Begierde in einen Syllogismus fasst, nicht zu der Interpretation verleiten lassen, die Begierde stelle zur vernünftigen Überlegung konkurrierende ethische Überlegungen an. Die Form des Syllogismus macht hier nur die im Einzelnen ablaufenden Schritte leichter sichtbar.11 Was diesen Ablauf betrifft, scheinen zwei entgegengesetze Reihenfolgen denkbar. Die eine beginnt mit der Überlegung, wie man Angenehmes vermeiden kann. Während dieser Überlegung wird durch die Vorstellung von Süßigkeiten eine Begierde hervorgerufen, die dann die Überlegung ablenkt. Es könnte aber auch umgekehrt am Anfang eine Begierde stehen, also etwas Süßes wahrgenommen und mit der Meinung verbunden werden, dass es angenehm ist. Nun führt eine natürliche Begierde, wenn nichts hindert, zu einem Verhalten, das auf den Genuss des Angenehmen zielt. 10
Die Interpretation, wonach zwei Syllogismen vorliegen, vertritt u. a. Santas
179. 11 Auch diese Explikation bleibt eine grobe Stilisierung wirklicher Entscheidungen. Aristoteles ist natürlich, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, nicht der Meinung, alles Angenehme sei zu meiden.
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Bei Tieren, die keine Gründe der Vernunft erkennen können, ergibt sich, sofern keine Störfaktoren auftreten, aus der Begierde sofort die Handlung (1147 b4). Hindernde Bedingungen können aber nicht nur in äußeren Umständen liegen, sie können beim Menschen auch in Verboten der Vernunft liegen; so sagt Aristoteles von der allgemeinen Prämisse der Vernunft (P1^), dass sie am Kosten hindert. Es könnte also auch sein, dass die Wahrnehmung des Süßen zusammen mit der Meinung, dass es angenehm ist, das Wissen der vernünftigen Regel aktualisiert, dass Angenehmes zu meiden ist. Beim Beherrschten wird dieses Wissen wirksam, hindert also daran, dass die Begierde zur Handlung führt, beim Unbeherrschten wird es nur scheinbar aktualisiert, ohne eingesehen zu werden. Das kann man im Sinn von b (i) so interpretieren, dass die Begierde ähnlich wie Trunkenheit und Wahnsinn vorübergehend einen Zustand herstellt, in dem man vernünftige Sätze zwar noch äußern kann, aber ohne von ihnen überzeugt zu sein. Auf diese Weise ließe sich auch die Bemerkung einordnen, die Unwissenheit im Fall der Unbeherrschtheit sei ähnlich aufzulösen wie die bei der Trunkenheit (1147b6ff.).12
d) Zusammenfassung (1147b9–19) Aristoteles hält als Antwort auf die Frage, wie der Unbeherrschte Wissen hat bzw. nicht hat, zwei Fälle fest. Im ersten Fall weiß die Person die zweite Prämisse unter dem Einfluss der Begierde nur im Sinn des Besitzens, aktualisiert sie jedoch nicht, es kommt also kein Schluss zustande, der die Handlung verbietet. Der zweite Fall liegt vor, wo die Folgerung zwar gezogen, jedoch, abgelenkt durch die Begierde, nur so geäußert wird, wie ein Betrunkener Sätze des Empedokles zitiert, nämlich ohne Einsicht. In beiden Fällen ist es also der komplexe Untersatz, der eine partikuläre Aussage und eine Wahrnehmungsaussage enthält, welcher bei Vorhandensein einer Begierde nicht oder defizient gewusst wird. Aristoteles gibt Sokrates daher so weit recht, dass nicht das Wissen im eigentlichen Sinn, also das Wissen der allgemeinen Prämisse, von der Begierde hin- und hergerissen wird, sondern nur die Wahrnehmungsaussage. Auch Aristoteles lässt also nicht die Unbeherrschtheit in dem starken Sinn zu, dass jemand bei vollem Wissen des Richtigen das Schlechtere tut. Vielmehr besteht seine Strategie der Auflösung der Paradoxie darin, die Wissensbedingung abzuschwächen. Das zeigt zwar, wo sich in dem Prozess, der zur Handlung führt, Unbeherrschtheit einschleichen kann, erklärt aber nach wie vor nicht, wie dieses 12
Kenny 1966 z.B. hält sie dagegen für deplaziert, 183.
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Phänomen in das aristotelische Handlungsmodell integriert werden kann. Es ist ja nicht ganz exakt, wenn Aristoteles seine Position so resümiert, dass nur eine Wahrnehmungsaussage von der Begierde überspielt wird. Denn gemeint ist nicht die gewöhnliche Wahrnehmung „dies ist süß“, die in der Begierde wie der Überlegung gleichermaßen vorkommt, sondern die so genannte allgemeine Wahrnehmung, das Erfassen dessen, was sich in der individuellen Situation als richtig darstellt, also der orthos logos der phronēsis (siehe oben S. 151). Die Annahme, die partikuläre Prämisse werde nicht aktualisiert bzw. die (allgemeine) Wahrnehmungsaussage führe nicht zum Handeln, übersieht, dass auf diese Weise die allgemeine Prämisse, die Vorstellung vom Guten, die sowohl von der phronēsis erfasst wie vom Strebevermögen internalisiert sein müsste, faktisch ebenfalls nicht präsent ist. Dann aber wird, wenn für Aristoteles die ethische hexis und die Überlegung in einem wesentlichen Zusammenhang stehen, erneut fraglich, wie es zwischen dem Mäßigen und dem Unmäßigen den Unbeherrschten geben kann. Ebenso schwierig ist die Einordnung der Beherrschtheit, die Aristoteles bisher nicht eigens erörtert hat. Beim Beherrschten muss der richtige logos wirksam werden, denn er handelt ihm entsprechend, jedoch gegen Begierden, die in eine andere Richtung gehen. Das würde bedeuten, dass Strebevermögen und praktische Vernunft grundsätzlich voneinander unabhängige Instanzen sind, die beide Handlungen in Gang setzen können, während Aristoteles sonst die Auffassung zu vertreten schien, dass letztlich immer das Streben Handlungen bewirkt.13 Um die Möglichkeit beherrschten und unbeherrschten Verhaltens verständlich zu machen, müsste man daher erläutern, welche Art von Person sich unter welchen Umständen so verhält und wie das zu verstehen ist. Dazu finden sich im weiteren Text noch einige verstreute Hinweise, die ich jetzt auswerten möchte. e) Ergänzungen (VII 8–11) Aristoteles hatte zu Beginn zwei Begriffspaare eingeführt, das der Beherrschtheit und Unbeherrschtheit auf der einen Seite und das der Abgehärtetheit und Weichlichkeit auf der anderen Seite. Diese Unter13 In der Tat gibt es Textstellen, an denen Aristoteles sagt, dass sowohl Gedachtes wie Erstrebtes Handeln in Gang setzen kann (De Motu An. 700b15 ff.). In der Schrift De Anima nennt Aristoteles ebenfalls zunächst diese beiden Handlungs ursprünge, präzisiert dann jedoch, das Bewegende sei letztlich immer das Erstrebte. Denn die Vernunft in ihrem theoretischen Teil habe keinen Bezug aufs Handeln, und das praktische Überlegen werde vom Erstrebten bewegt (433a13 ff.).
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scheidung wird nun erläutert: Die Begriffe der Beherrschtheit und Unbeherrschtheit beziehen sich auf den Umgang mit der Lust, die der Abgehärtetheit und Weichlichkeit auf den Umgang mit Unlust oder Schmerz (1150 a13 ff.). Aristoteles unterscheidet weiterhin innerhalb der Unbeherrschtheit zwei Arten, die propeteia (Überstürztheit,Voreiligkeit) und die astheneia (Schwäche) (1150 b19 ff.). Wer unbeherrscht aus Überstürztheit ist, wartet die Überlegung nicht ab, sondern lässt sich sofort von der Begierde leiten; unbeherrscht aus Schwäche handelt, wer zwar überlegt, aber nicht bei der Überlegung bleibt. Dies bestätigt die Interpretation, dass die Unbeherrschtheit für Aristoteles nicht aus einem expliziten Konflikt zwischen einem Syllogismus der Vernunft und einem Syllogismus der Begierde hervorgeht. Zwar kann sich auch die Begierde der Überlegung bedienen, nämlich einer Kausalüberlegung darüber, mit welchen Mitteln sie sich befriedigen lässt, einer Überlegung nach Art der deinotēs (1152 a6–14). Die Überlegung darüber, was hier und jetzt im Hinblick auf das gute Leben zu tun richtig ist, die Überlegung der phronēsis, wird jedoch von der Begierde nicht anders beantwortet (das gilt vielmehr für die kakia der Unmäßigkeit), sondern außer Kraft gesetzt. Das kann an zwei Stellen des Prozesses geschehen, der normalerweise in der prohairesis bzw. Handlung endet. Entweder so, dass die Begierde den Überlegungsvorgang unterbricht und vor dessen Ende unmittelbar zum Handeln drängt (Voreiligkeit). Oder so, dass die Überlegung zu Ende geführt, aber von der Begierde überlagert und so in ihrem Ergebnis nicht wirklich eingesehen wird (Schwäche). Der Unbeherrschte handelt also zwar willentlich (hekōn), da sein Handeln aus ihm selbst kommt, jedoch nicht mit prohairesis; er bildet entweder gar keine prohairesis, oder er spricht sie zwar aus, jedoch ohne sie ernsthaft zu fassen, folglich auch ohne entsprechend zu handeln (1152a14–36). Aristoteles versucht also die Unbeherrschtheit und ähnliche Phänomene in seine bisher entwickelte Handlungstheorie zu integrieren. Er verwendet jetzt nicht mehr wie in der Auseinandersetzung mit Sokrates den Begriff der epistēmē, sondern den der phronēsis. So sagt er jetzt explizit, dass der Unbeherrschte nicht zugleich phronimos sein kann, weil ethische aretē und phronēsis zusammengehören (1152a6f.). Wie sich das auf die Beherrschtheit anwenden lässt, scheint schwieriger, und daher ist es vielleicht kein Zufall, dass Aristoteles Erläuterungen immer nur für den Unbeherrschten gibt. Genau genommen müsste auch für den Beherrschten gelten, dass er, wenn er seiner Überlegung folgt und das Richtige tut, obwohl er entgegengesetzte Begierden hat, nicht die phronēsis ausübt. Wie kann man aber dann erklären, dass er richtig handelt? Und auch schon mit Bezug auf den Unbeherrschten könnte man fragen: Wenn richtiges ethisches Überlegen ein Zusammenstimmen von aretē und phronēsis erfor-
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dert, wie kann der Unbeherrschte überhaupt eine Überlegung bis zur richtigen prohairesis führen, selbst wenn er dann nicht bei dieser bleibt? Soweit Aristoteles eine Antwort hat, findet sich diese in der Art und Weise, wie er diese Phänomene zwischen die aretē und kakia im Umgang mit der sinnlichen Lust und Unlust, also zwischen Mäßigkeit und Unmäßigkeit, einbaut (1148 a4–22 sowie VII 9). Alle vier Phänomene, Beherrschtheit und Unbeherrschtheit sowie Abgehärtetheit und Weichlichkeit, gehören in denselben Bereich, auf den sich auch die aretē der Mäßigkeit und die kakia der Unmäßigkeit beziehen. Der Unmäßige orientiert sich, wie Aristoteles ihn charakterisiert, grundsätzlich am Angenehmen, sucht also auch kleine Lust und meidet geringe Unlust, er hat die prohairesis, immer das Angenehme zu suchen. Der Unbeherrschte dagegen hat die prohairesis, das Angenehme im richtigen Maß zu verfolgen, und es scheint jetzt, dass er häufig auch so handelt, also mäßig ist, nur im Fall heftiger Begierden von seinem Vorsatz abkommt (1148 a20). Fasst man das Phänomen so, dann wird verständlich, wieso der Beherrschte und Unbeherrschte auch dann, wenn die Begierde überwiegt, richtig überlegen können. Sie können es deswegen, weil sie in Fällen schwacher Begierden die ethische aretē der Mäßigkeit erworben haben und daher grundsätzlich im Bereich der Sinnlichkeit mit phronēsis handeln können, nur nicht in allen Fällen, in denen man das vom Mäßigen erwartet. Dazu passt, dass Aristoteles die Unmäßigkeit mit einer chronischen, die Unbeherrschtheit mit einer periodisch auftretenden Krankheit vergleicht (1150 b29 ff.). Der Unmäßige handelt nach dem Prinzip, immer die gegenwärtige Lust zu suchen, tut also vorsätzlich und immer Schlechtes und bereut es nicht, ist folglich unheilbar, so als hätte er eine chronische Krankheit. Der Unbeherrschte hingegen ist der Reue fähig und gleicht jemandem, der eine periodisch auftretende Krankheit hat.14 14 Es gibt allerdings eine Passage in der Behandlung der Freundschaft mit sich selbst (IX 4), wo Aristoteles diese Unterscheidung nicht macht und auch den Schlechten als innerlich zerrissen und voll von Reue hinstellt (1166 b8). Wie ist diese Diskrepanz zu verstehen? Eine Möglichkeit wäre, dass an dieser Stelle ähnlich wie bei Platon eine klare Unterscheidung zwischen Schlechtigkeit und Unbeherrschtheit fehlt. Für Platon besteht schlechtes Handeln darin, dass die Antriebe sich nicht nach der Vernunft richten. Aristoteles legt demgegenüber stärkeres Gewicht auf die Charaktereinstellungen, schwankt aber offenbar bei der Ausarbeitung der schlechten Einstellungen. Gegen Platons intellektualistisches Verständnis der Schlechtigkeit nimmt er an, dass der Schlechtigkeit eine eigene – falsche – Vorstellung vom Guten immanent ist, die zu praktischen Überlegungen führt, welche in einer prohairesis enden. Andererseits war in Buch VI deutlich, dass die praktische Vernunft im vollen Sinn, die phronēsis, an die ethische aretē gebunden ist. Dann müsste man die Rede von der prohairesis des Schlechten vielleicht so interpretie-
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Der Vergleich der Unbeherrschtheit mit einer intermittierenden Krankheit legt zwei psychologische Erklärungen der Unbeherrschtheit nahe. Der Unbeherrschte könnte, das wäre die erste Erklärungsmöglichkeit, jemand sein, der von Natur aus stärkere sinnliche Begierden hat als die Mehrzahl der Menschen, bei dem daher die normale Gewöhnung zur Mäßigkeit nicht ausreicht, in allen Fällen den richtigen Umgang mit der sinnlichen Begierde zu sichern. In Situationen, in denen besonders starke ren, dass die prohairesis hier einen schwächeren Status hat, zwar aus allgemeinen Lebensmaximen hervorgeht, aber nicht aus einer vollständig durchdachten Gesamtkonzeption des guten Lebens (während der Unbeherrschte diese Konzeption hat, sich aber nicht immer an sie hält). Für den zweiten Bereich, den Aristoteles in IX 4 neben der Unmäßigkeit nennt, die Feigheit, ist es allerdings schwieriger (1166 b10), sich eine Lebensmaxime zu denken. Denn wie Aristoteles sagt, erreicht der Feige seine Ziele nicht, weil er bei jedem Widerstand aufgibt, und das ist offenbar nichts, was man als Lebensweise wollen kann. Hier erscheint also eine klare Unterscheidung zwischen Schlechtigkeit und Unbeherrschtheit als nicht sinnvoll. In der Tat siedelt Aristoteles ja die Unbeherrschtheit im engeren Sinn im Bereich der sinnlichen Lust an, wo der Schlechte, der Unmäßige, ein im Prinzip wünschenswertes Ziel hat, das Angenehme. Diese Lebensregel, immer die gegenwärtige Lust zu suchen, ist allerdings so geartet, dass sie gerade empfiehlt, sich von den jeweiligen Begierden leiten zu lassen, statt auf das gute Leben im Ganzen zu sehen und sich klarzumachen, dass man sich langfristig schadet, wenn man jede Lust sucht. Anders gesagt, Aristoteles meint offenbar, dass der sogenannte Hedonismus des gegenwärtigen Augenblicks keine stabile Lebenskonzeption ist, sondern früher oder später einbricht, weil er Folgen hat, die im Sinn dieser Konzeption selbst unerwünscht sind. Während der Unbeherrschte bereits in der Gegenwart, sozusagen synchron, mit sich uneins ist und das eine für gut hält und das andere wünscht und tut, so ist, wie Aristoteles selbst in der EE nahelegt (1240 b22 ff.), der Schlechte synchron noch eins mit sich, aber über die Zeit hinweg (diachron) mit sich uneins, indem er später bereut, was er früher genossen hat (ähnlich Stern-Gillet 1995, 96). Demgegenüber meint Annas 1977, die Freundschaftsabhandlung sei ein früher Text des Aristoteles, der noch dem platonischen Modell folge, wonach Gutsein Harmonie und Einheit der Seelenkräfte bedeutet und Schlechtsein Widerstreit und Aufruhr der Teile, während Aristoteles sonst in der Ethik die Position vertrete, eine kakia sei eine in sich konsistente falsche Sicht des Lebens (553 ff.). Dieser Eindruck entsteht, denke ich, nur, weil Aristoteles genauer als Platon verschiedene Handlungsbereiche und kakiai unterscheidet, zu denen jeweils eine Vorstellung des Gutes für diesen Bereich gehört, die fehlgeleitet sein und sich auf ein nur scheinbares Gut beziehen kann. Allerdings beschränkt Aristoteles in Buch VI die phronēsis als Überlegung mit Bezug auf das gute Leben im Ganzen klar auf die ethische aretē. Mit der kakia kann dann nur eine Teilvorstellung für ihren jeweiligen Bereich verbunden sein, die, wenn das entsprechende Handeln langfristig in anderen Bereichen für die Person schlecht ist, zu einer Inkonsistenz zwischen den Wünschen der verschiedenen Lebensbereiche führt.
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Begierden auftreten, wird eine schwache Reaktion der Ausrichtung auf das gute Handeln zwar stattfinden, aber von der Begierde unterbrochen werden. Für diese Beschreibung des Falls spricht, dass Aristoteles den Unbeherrschten mit jemandem vergleicht, der weniger Wein verträgt als die Mehrzahl der Menschen (1151a3ff.). Die zweite psychologische Erklärung sieht die Unbeherrschtheit als ein Übergangsphänomen im Prozess der Gewöhnung zur Mäßigkeit. Der Unbeherrschte wäre dann jemand, der bereits teilweise zur Mäßigkeit erzogen ist, aber noch nicht vollständig. Auch für diese Auffassung lassen sich Hinweise im Text finden; so vergleicht Aristoteles den Unbeherrschten mit jemandem, der Sätze ohne Verständnis ausspricht, weil er noch im Lernen begriffen ist, und betont, es gehe um ein Hineinwachsen, das Zeit braucht (1147 a22). Unbeherrscht wäre dann eine Person, die bereits so weit zur Mäßigkeit gewöhnt ist, dass sie die Ausrichtung auf das mäßige Handeln internalisiert hat, aber noch nicht so tief oder fest, dass sie auch mit starken Begierden umgehen kann. Beherrscht wäre, wer auf diesem Weg einen Schritt weiter ist. Allerdings würde man erwarten, dass jemand, der jedes Mal beherrscht handelt, mit der Zeit auch die Haltung der Mäßigkeit mit Bezug auf die Begierden entwickeln wird. Umgekehrt würde man erwarten, dass der Unbeherrschte, wenn er immer unbeherrscht handelt, bald ganz im Griff der Begierden sein und unmäßig werden wird. Als solche Übergangsphänomene, die im Verlauf der Gewöhnung entweder zur aretē oder zur kakia auftreten, scheinen Beherrschtheit und Unbeherrschtheit denkbar. Aristoteles jedoch sieht sie offenbar eher als dauernde hexeis, die zwischen Mäßigkeit und Unmäßigkeit stehen.15 Da sich für beide der psychologischen Erklärungen Stützen im Text finden, die jedoch in beiden Fällen von geringem Gewicht sind, lasse ich die Frage offen, welche Erklärung Aristoteles letztlich geben möchte. Offen ist auch immer noch die Frage, wie man die Motivation des Beherrschten verstehen soll, der richtig handelt, aber schlechte Begierden hat. Vielleicht lassen sich die Besonderheiten, die Aristoteles der Beherrschtheit und Unbeherrschtheit bezüglich der sinnlichen Begierde zuschreibt, noch ein Stück besser verstehen, wenn wir herauszufinden versuchen, warum er das Phänomen im eigentlichen Sinn auf diesen Bereich beschränkt und in anderen Bereichen des Strebens und Handelns nur uneigentliche Varianten von Unbeherrschtheit annimmt.
15 Dass akrasia und enkrateia am ehesten als Übergangsphänomene verständlich sind, Aristoteles selbst das jedoch offenbar nicht so verstehen möchte, vertritt Gould.
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4. Gegenstandsbereich (VII 6–7) Eine der Schwierigkeiten, die Aristoteles eingangs aufgezählt hatte, betraf die Frage, auf welchen Bereich sich die Unbeherrschtheit im engeren Sinn bezieht und ob wir Unbeherrschtheit auch in anderen Handlungsbereichen finden. Wir erfahren jetzt, dass sich dort nur von Unbeherrschtheit im übertragenen Sinn reden lässt.
a) Unbeherrschtheit im eigentlichen und im übertragenen Sinn (1147b20–1148b14) Aristoteles unterscheidet zwei Arten der Lust, solche, die durch Notwendiges erzeugt wird, und solche, die mit dem in sich Wünschenswerten einhergeht. Mit dem Notwendigen sind die Gegenstände derjenigen Lust gemeint, die mit der Befriedigung lebenserhaltender Bedürfnisse verbunden ist (1148 a4–22), also der sinnlichen Lust, die bei der Erfüllung von Begierden wie Hunger und Sexualität auftritt. Mit diesem Bereich hatten wir es bisher zu tun, er ist der Gegenstand der aretē der Mäßigkeit und kakia der Unmäßigkeit, zwischen denen die Beherrschtheit und Unbeherrschtheit im engeren Sinn angesiedelt sind. Wir suchen jedoch, wie Aristoteles erläutert, nicht nur Angenehmes als Folge der Befriedigung lebenserhaltender Bedürfnisse, sondern auch Lust in Verbindung mit dem, was wir um seiner selbst willen, als Bestandteil des guten Lebens, wählen (1147 b24–1148 a4). Dazu gehören z. B. Sieg, Ehre, Reichtum. Wer hiervon mehr als das Angemessene erstrebt, wird unbeherrscht nur im übertragenen Sinn genannt (1148 a22–b14), da es sich hier grundsätzlich um Güter handelt, deren Erstreben lobenswert ist, auch wenn es dabei ein Übermaß geben kann. Was Aristoteles hiermit meint, scheint nicht sehr klar. Denn auch das Begehren des Lebensnotwendigen, etwa die Empfindung des Hungers, ist ja nicht als solches schlecht.16 Ferner hatte Aristoteles im I. Buch hervorgehoben, dass Geld nur als Mittel und nicht um seiner selbst willen wünschenswert ist, und Ehre nur sekundär als Folge des eigenen Gutseins. Daher ist zu vermuten, dass er sich hier an populären Vorstellungen orientiert. Die Rede von der Unbeherrschtheit im engeren Sinn auf die sinnliche Begierde zu beschränken, könnte trotzdem einleuchtend sein, inso16 Eine mögliche Erklärung gibt Broadie 241: Die Beschaffenheit unserer biologisch verankerten Triebe sei derart, dass die Entwicklung des Menschen zur Vernunft nur gelingen kann, wenn man diese Triebe so behandelt, als ob sie und ihre Gegenstände zu verachten seien.
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fern die sinnlichen Antriebe auf unmittelbar Gegenwärtiges zielen, während das Streben nach Geld, Ehre usw. von vornherein auf zeitlich Entferntes bezogen ist und daher eine Komponente der vernünftigen Planung enthalten muss.17
b) Die Bewertung der verschiedenen Arten der Unbeherrschtheit (VII 7) Dass die Unbeherrschtheit im metaphorischen Sinn weniger streng missbilligt wird als die Unbeherrschtheit im engeren Sinn, wird in VII 7 nicht anhand des Strebens nach Geld, Ehre usw. erörtert, sondern an einem Phänomen, das der akrasia im engeren Sinn näher zu stehen scheint, dem Zorn (thymos). Dieser ist ein natürlicher Affekt, der, wie Aristoteles hier in Anlehnung an Platon sagt, eine Art übereifriger Diener der Vernunft ist.18 Platon versteht den thymos als einen natürlichen Affekt der moralischen Entrüstung, und Aristoteles selbst definiert ihn gewöhnlich als Streben nach Rache aufgrund der Wahrnehmung einer Beleidigung oder Geringschätzung. Warum die Unbeherrschtheit im Zorn weniger tadelnswert ist als die Unbeherrschtheit im engeren Sinn, begründet Aristoteles damit, dass der Affekt des Zorns, wenn die Vernunft das Vorliegen einer Beleidigung konstatiert, grundsätzlich berechtigt ist, obwohl er zur Rache drängen kann, noch ehe die Vernunft überlegt hat, ob und wie große und welche Rache in dieser Situation angemessen ist. Die Unbeherrschtheit in der Begierde hingegen greift an der Vernunft vorbei nach dem Angenehmen.
5. Zusammenfassung Fragen wir jetzt rückblickend, ob es Aristoteles erstens gelingt, die Spannung, die das Vorkommen beherrschten und unbeherrschten Verhaltens für seine Handlungstheorie bedeutet, zu lösen (i), und ob seine Lösung zweitens tatsächlich besser als die des Sokrates in der Lage ist, die Phänomene zu retten (ii). (i) Wie wir gesehen haben, hält Aristoteles auch in seiner Erklärung der Unbeherrschtheit an der Lehre aus Buch VI fest, dass es weder phronēsis ohne ethische aretē noch ethische aretē ohne phronēsis gibt; der phronimos kann nicht unbeherrscht sein. Dann scheint bereits die Auffassung in Schwierigkeiten zu führen, dass der Handelnde in derjenigen Art der 17 18
Für den Zeitaspekt im Handeln siehe Vigo. Zum Platonbezug genauer Dirlmeier 1956, 486, Joachim 231.
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akrasia, die nicht aus Überstürztheit, sondern aus Schwäche hervorgeht, zuerst die richtige prohairesis fasst; denn diese zu finden ist Sache der phronēsis. Nun könnte Aristoteles sagen, schon hier laufe die Überlegung zwar ab, werde aber wie beim Zitieren des Betrunkenen nicht vollständig mitvollzogen. Das trifft aber nicht auf den Fall des Beherrschten zu. Der Beherrschte vollzieht dieselben Handlungen wie der Besonnene, nur dass er den Widerstand starker Begierden zu überwinden hat, während beim Mäßigen Vernunft und Begierde in Einklang sind. Er kommt zum selben Urteil wie der Mäßige, und dieses Urteil kann auch nicht wie beim Unbeherrschten ausgeblendet sein, sondern muss vollständig aktualisiert werden, da es ja das Handeln bestimmt. Wie ist dann aber das Zustandekommen seiner Handlung überhaupt zu verstehen, wenn das letztlich Motivierende, wie wir gesehen haben, für Aristoteles immer die Strebungen sind? Vielleicht kann man sich den Fall so vorstellen, dass beim Beherrschten wie bei dem aus Schwäche Unbeherrschten die richtige Überlegung bis zum Ende durchlaufen wird, also das richtige Streben und Überlegen grundsätzlich vorhanden sind, dann aber von einer Begierde überlagert werden. Beim Beherrschten müsste dann anders als beim Unbeherrschten auch das richtige Streben, der Wunsch, mäßig zu handeln, länger und stärker präsent bleiben und die richtige Handlung bewirken, deren Realisierung allerdings durch das Fortwirken einer gegenläufigen Begierde erschwert wird. Doch dann würde der Beherrschte ja letztlich doch die entsprechende ethische aretē, den Wunsch, sich mäßig zu verhalten, haben. Aristoteles nimmt aber vielmehr an, dass der Beherrschte schlechte Begierden hat, denen er aufgrund des logos nicht folgt (1145 b14). Dann könnte man denken, dass die Ausrichtung auf das menschliche Gut in der Vernunft ein Stück weit über die im Charakter, in den ethischen aretai enthaltene Ausrichtung hinausreicht. Wenn die Beherrschtheit eine intermittierende Schlechtigkeit, eine Unterbrechung der guten Ausrichtung ist, könnte also der Beherrschte von den Fällen, in denen er richtig strebt und urteilt, ein generelles Interesse am Vernünftigsein übrig behalten, das allerdings weniger affektgebunden ist als die ethische Vernunft, die phronēsis. Mit dieser Vorstellung, dass auch die Vernunft selbst eine gewisse handlungsmotivierende Kraft hat, wäre jedoch ein Aspekt in das aristotelische Handlungsmodell eingeführt, der sich nicht aus der bisherigen Konzeption ethischen Handelns entnehmen lässt und dessen Stellenwert zu klären wäre.19 Vielleicht wird die Sonderstellung von Beherrschtheit und Unbe19 Eine eigenständige, wenn auch schwache Motivationskraft der Vernunft nimmt auch Platon an, siehe Nomoi 644d7ff.
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herrschtheit leichter verständlich, wenn wir berücksichtigen, dass Aristoteles sie auf den Bereich derjenigen Begierden, die auf das Lebensnotwendige bezogen sind, beschränkt. Wer hier gut verfasst ist und handelt, realisiert genau genommen damit noch nicht eine Weise des guten Lebens, der eudaimonia oder eupraxia. Mäßig zu essen ist keine praxis wie gerecht oder tapfer sein, nicht etwas, worin die eudaimonia besteht, vielmehr bewahren mäßige Handlungen die Gesundheit und Überlegungsfähigkeit, sind also Mittel zur Sicherung der Bedingungen der eudaimonia. Aristoteles bezeichnet zwar manchmal auch die Aktualisierung der Mäßigkeit als ein Tun des kalon, jedoch hat kalon dann den schwachen Sinn der Richtigkeit oder Angemessenheit, während der für die Griechen gewöhnlich mitschwingende Aspekt, dass es sich um etwas Vollkommenes han delt, fehlt. Entsprechend wäre dann auch die Überlegung in diesem Bereich nicht die phronēsis im engeren Sinn, denn diese hatte Aristoteles in VI 5 so eingegrenzt, dass sie sich nicht auf technē-Artiges und nicht auf Teilbereiche des Zuträglichen wie Gesundheit bezieht, sondern auf das gute Leben im Ganzen (1140 a27 ff.). Im Bereich des sinnlich Angenehmen muss aber die Überlegung gerade dessen Notwendigkeit bzw. Zuträglichkeit für die eudaimonia berechnen, also eine Kalkulation von Folgen und Vergleichung von Lustbeträgen vornehmen,20 was eher eine technische als eine ethische Überlegung darstellt. 21 Die sinnliche Begierde ist anders als Wünsche nach Geld oder Ehre gegenwartsbezogen und lässt daher das gegenwärtig Angenehme als schlechthin gut erscheinen. In diesem Bereich der Begierde kann man daher verstehen, wieso es nahe liegt, die Vernunft selbst mit motivationaler Kraft auszustatten: die Begierde im engeren Sinn der sinnlichen Antriebe enthält nicht selbst einen Bezug auf die Zukunft oder das Leben im Ganzen und kann daher nur von einer anderen Kraft konterkariert werden. Damit wird vielleicht auch verständlich, dass die Gewohnheit des richtigen Umgangs mit dem sinnlich Angenehmen besonders störungsanfällig ist und daher einen Raum für das Vorkommen von Beherrschtheit und Unbeherrschtheit eröffnet. Wie Platon sie im Protagoras 356aff. beschreibt. Klären müsste man das Beispiel des Ehebruchs, wo es nicht um eine Abwägung jetziger gegen künftige Lust geht, sondern wo das Gelingen eines gemeinsamen Lebens mit einer anderen Person auf dem Spiel steht. Da Aristoteles immer nur fragt, ob jemand in einem bestimmten Handlungsbereich einen Affekt oder eine Begierde auf die richtige Weise oder zu viel oder zu wenig hat, also nur die Frage stellen kann, ob jemand zu viel oder zu wenig sexuelle Lust will, kann er solche Konflikte nicht wirklich konzeptualisieren. Ehebruch wird von ihm aber in Buch V als Ungerechtigkeit oder Vertragsbruch eingeordnet, so dass hier zusätz liche Komplikationen bestehen, die man berücksichtigen müsste. 20
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(ii) Fragen wir jetzt zweitens, ob es Aristoteles mit dieser Vorstellung tatsächlich besser als Sokrates gelingt, die Phänomene angemessen aufzunehmen, die wir alle aus der Erfahrung kennen und im Alltag anders als in der Philosophie selten bestreiten. Seine eigene Lösung gibt am Ende Sokrates weitgehend Recht: Wer unbeherrscht handelt, hat zum Zeitpunkt der Handlung keine volle Einsicht in das Richtige; er überlegt entweder gar nicht oder nur so, dass das Überlegen auf defiziente Weise abläuft und von der Begierde überlagert wird. Verfehlt dann nicht auch Aristoteles selbst das Phänomen der Unbeherrschtheit in dem engeren Sinn, der in begriffliche Paradoxien geführt hatte? Um das entscheiden zu können, müssten wir eine unabhängige Beschreibung des Phänomens haben. Orientieren wir uns an der heutigen Debatte um die Willensschwäche, dann bestünde das Phänomen darin, dass jemand nicht tut, was er für das Beste hält, obwohl er es tun könnte. Es ist allerdings nicht ganz klar, ob diese heutige Debatte, die sich als Fortsetzung der klassischen Debatte um die Unbeherrschtheit sieht, genau dasselbe Problem im Auge hat wie die antiken Autoren.22 Für deren Anliegen ist die Klausel „was er für das Beste hält“ nicht genügend präzise. Was der Unbeherrschte nicht realisiert, sind nicht irgendwelche Meinungen über irgendein Bestes, sondern die Bedingungen des für ihn selbst Besten, seiner eigenen eudaimonia. Es scheint dann schwer verständlich, dass jemand, der die richtige Konzeption der eudaimonia hat, gegen diese handeln könnte,23 dass jemand, der eine klare Einsicht in die Größenverhältnisse der Güter hat, das kleinere Glücksgut wählen könnte, wenn er deutlich das größere vor sich sieht.24 Dass Platon und Aristoteles die akrasia als ein Phänomen erörtern, das in begriffliche Aporien oder Paradoxien führt, spricht andererseits dafür, dass auch sie mit dem alltäglichen Phänomen vertraut sind. Diese Erfahrung durch die Abschwächung des Wissensbegriffs wegzuinterpretieren, liegt schon wegen des griechischen Terminus akrasia nahe. Unbeherrschtheit versteht man vor dem Hintergrund des üblichen griechischen Seelenmodells leicht so, dass die Vernunft die Herrschaft über die Begierden verliert oder vorübergehend ganz ausgeschaltet ist.25 Jedoch scheint es alltäglich auch Beispiele für das Abweichen von der richtigen Überlegung zu geben, die keinen solchen Verlust der Vernunft implizieren. Die Person, 22 Für einen Vergleich der wichtigsten klassischen und modernen Positionen siehe Spitzley. 23 So zu Sokrates Woods 1990, 239. 24 So formuliert Wiggins 1980, 253. 25 Gleichwohl gibt es antike Beschreibungen des Phänomens, die den Konflikt zwischen Überlegung und Lust stehenlassen, etwa Euripides, Hippolytos, 373 ff.
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die der Lust auf ein Stück Sahnetorte nachgibt, obwohl dies gegen ihren überlegten Wunsch verstößt, nicht zuzunehmen, ist normalerweise von dieser Lust nicht so überwältigt, dass sie sich wie ein Tier auf die Torte stürzt und nicht mehr weiß, was sie tut.26 Wie kann man diesem Beispiel unter Aufrechterhaltung der aristotelischen Handlungstheorie gerecht werden? In der heutigen Debatte findet sich bei Davidson eine Auffassung, die der aristotelischen einigermaßen ähnlich ist, ohne mit der Vorstellung einer „Überwältigung der Vernunft“ zu operieren.27 Nach dieser Beschreibung könnte die Person in einer Überlegung darüber, was hier und jetzt die beste Handlung ist, unter Berücksichtigung sämtlicher Faktoren zu dem Ergebnis kommen, sie sollte auf die Torte verzichten. Sie könnte jedoch gegen dieses Urteil, das unter Berücksichtigung aller Gründe zustandekam, handeln, weil sie ein Verlangen nach der Torte hat. Ein Verlangen nach etwas zu haben, ist ebenfalls ein Handlungsgrund, der durchaus akzeptabel ist, solange keine stärkeren Gründe dagegensprechen. Der Willensschwache folgt nun gegen sein auf Abwägung aller Gründe beruhendes Urteil diesem zweiten schwächeren Grund, er handelt damit irrational. Auch wenn man sicher so reden kann, fehlt immer noch eine Erklärung dafür, warum die Person gegen die besten Gründe handelt. Denn es erscheint in der Tat merkwürdig zu sagen, dass jemand vorsätzlich das für ihn selbst Schlechtere tut. Was wir in einer solchen Situation im Alltag sagen würden, wäre wohl eher, dass uns in diesem Augenblick die langfristigen Folgen der Handlung gleichgültig sind, dass man eben manchmal lieber unvernünftig ist usw. Das kann man zwar sagen, aber der Auffassung des Aristoteles, dass so die Situation nicht vollständig erfasst ist, liegt, denke ich, eine richtige Einsicht zugrunde. Wenn alles Handeln zumindest implizit im Kontext der Suche nach der eudaimonia steht und wenn der schwächere Grund (dass man Lust auf die Torte hat) nicht so konstruiert ist, dass er die Person völlig überwältigt und der Vernunft beraubt, dann kann sie im Prinzip immer erneut fragen – oder jemand anders könnte sie mit der Frage konfrontieren –, ob sie den besten Gründen (der langfristigen Sorge um die Gesundheit) oder dem schwachen guten Grund folgen soll. Das würde heißen, dass sich das Phänomen, dass jemand sehenden Auges das Schlechtere tut, in der Tat der begrifflich konsistenten Beschreibung entzieht; denn sobald man es zu fassen meint, erweist es sich seinem Sinn nach als Abweichen von einem für richtig Gehaltenen, als – wenn auch vorläufig nur einmaliges – Streben nach dem Schlechten, als Schritt 26 27
Das Beispiel stammt von Austin 1961, 146 Anm. Davidson. Siehe auch Spitzley, Kap.5.
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auf dem Weg zur Schlechtigkeit. Die unbeherrschte Handlung sollte aber gerade von der schlechten unterschieden sein. Man kann also nur noch sagen, dass solche Handlungen vorkommen, aber man kann sie – mit dieser Theorie – nicht beschreiben, folglich auch nicht erklären in dem Sinn, dass man sie verständlich macht. Dann bleibt entweder die antike Lösung, derzufolge das Wissen des Richtigen hier defizient ist. Oder man beruft sich auf die mangelnde inhaltliche Bestimmtheit der eudaimonia, die breite Interpretationsspielräume für die gute Einzelhandlung lässt und daher zum Rationalisieren von unbeherrschten Handlungen einlädt. Aristoteles würde allerdings unter dieser Konstellation kaum von akrasia reden, und auf jeden Fall wäre der schwierige Fall einer offenen akrasia-Handlung damit übersetzt in eine Angelegenheit von Rationalisierung, Wunschdenken, Selbsttäuschung.28
28 Einen Versuch, das Problem der Willensschwäche in das der Selbsttäuschung zu überführen, mache ich in Wolf 1999b.
VIII. Die Lustabhandlungen (VII 12–15 und X 1–5) Die EN enthält zwei Abhandlungen über die Problematik der Lust (hēdonē), die erste in Buch VII und eine zweite in Buch X. Die beiden Texte sind voneinander unabhängig und es gibt keine Querverweise. Die Annahme liegt daher nahe, dass die eine der Abhandlungen ursprünglich in die EE gehört, und zwar die erste, die sich innerhalb der Bücher befindet, die beiden Ethiken gemeinsam sind. Während dies relativ unstrittig ist, gehen die Meinungen über die Bewertung der beiden Abhandlungen auseinander. Der Auffassung, die Abhandlung in Buch X sei die reifere und philosophisch ergiebigere Version,1 steht die Meinung entgegen, die erste Abhandlung sei klarer, konziser und besser auf den ethischen Argumentationszusammenhang bezogen.2 Was diesen sachlichen Zusammmenhang angeht, so muss Aristoteles mit der Theorie der Lust mehrere Lücken innerhalb der bisher erreichten ethischen Konzeption schließen. Zunächst ist eine Erörterung der Lust von den Ausgangsfragen in Buch I her erforderlich. Diese Einbettung macht Aristoteles durch Rückgriff auf I 1 deutlich, wenn er sagt (1152 b1–3), wer politische Philosophie treibe, müsse das leitende Ziel bestimmen, auf das hin wir alles andere als gut oder schlecht beurteilen.3 In I 3 wurden drei leitende Ziele genannt, die drei mögliche Lebensformen konstituieren, das Leben der Lust, das politische Leben und das Leben der Betrachtung. Da nach der alltäglichen Vorstellung zur eudaimonia ein subjektives Wohlbefinden gehört, liegt es nahe, die Lust als Ziel oder jedenfalls entscheidendes Element der eudaimonia anzusehen. Eine Überprüfung dieser alltäglichen Auffassung steht bisher noch aus. Insbesondere scheint die Lust eine wichtige Rolle bei der Suche nach in sich wünschenswerten Zielen zu spielen, deren Eigenart in Buch I noch in mancher Hinsicht im Dunkeln blieb. Aristoteles selbst bestimmt in I 6 die menschliche eudaimonia als ein gemäß der Vernunft tätiges Leben. Dieser objektive Ansatz, der sich auf die Natur des Menschen beruft, muss aber, wie in I 8–12 deutlich war, für das Individuum auch subjektiv plausibel gemacht werden. Zu zeigen wäre, So etwa Ricken 1995, 208. So Kenny 1978, 237f. 3 Dies erinnert im Wortlaut an I 1 der EN (1094 a27), spricht also eher für eine Zugehörigkeit des Textstücks zur EN. Dazu Dirlmeier 1956, 497. 1 2
Die erste Lustabhandlung (VII 12–15)
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dass diese Lebensform das Moment des Wohlgefühls (der Lust) enthält, das, wie Aristoteles konstatiert, zum alltäglichen Glücksbegriff hinzugehört (1152 b6). Diese Erklärungslücke müsste für beide die menschliche aretē realisierenden Lebensformen geschlossen werden, sowohl für das Leben der ethischen aretē wie für das Leben der theōria. Aristoteles versucht das durch die Einführung eines neuartigen Lustbegriffs zu leisten, des Begriffs der Tätigkeitslust, die von der sinnlichen Lust unterschieden ist. Was diese Auffassung zur Lebensform der theōria beiträgt, können wir endgültig erst in X 6–9 beurteilen, während der Stellenwert von Lust und Unlust im ethischen Leben, wie Aristoteles selbst in VII 12 und X 1 (1152 b4 ff., 1172 a20 ff.) erwähnt, bereits in der Lehre von der ethischen aretē vorläufig bestimmt wurde. Die erste Lustabhandlung schließt sich nicht nur im Text unmittelbar an die Erörterung des ethischen Lebens an, sondern ist auch in ihren Sachbezügen stärker auf diese Problematik zugeschnitten. Hingegen ist die zweite Lustabhandlung der Erläuterung der betrachtenden Lebensform vorangestellt und verweist auch inhaltlich stärker auf diese. Wegen ihrer verschiedenartigen Einbettung werden die beiden Lustabhandlungen auch hier getrennt vorgestellt, indem zunächst die erste Lustabhandlung interpretiert und sodann die zweite im Vergleich mit ihr erläutert wird.
1. Die erste Lustabhandlung (VII 12–15) Die Erörterung der Lust im VII. Buch schließt unmittelbar an die Thematik der vorherigen Abschnitte über die akrasia an. Wenn Unmäßigkeit und Unbeherrschtheit, die aus der Begierde nach dem Lustvollen hervorgehen, schlecht sind, dann fragt man sich, ob die Lust nicht, im Gegensatz zur gewöhnlichen Vorstellung, etwas Schlechtes ist.4 Dass Aristoteles in Buch VII anders als in Buch X ausschließlich negative Auffassungen der Lust diskutiert, liegt sicherlich nicht zuletzt an diesem Kontext. Aristoteles rettet die alltägliche Auffassung, dass die Lust zur eudaimonia gehört, durch die Unterscheidung zwischen zwei Arten der Lust, der sinnlichen Lust und der Lust am Vollzug von Tätigkeiten. Die letztere Art besteht im unbehinderten Tätigsein; sie ist gut in einem unqualifizierten, absoluten Sinn. Das lustvolle unbehinderte Tätigsein erfüllt daher auch die Bedingung, etwas um seiner selbst willen Erstrebtes zu sein; es eignet sich daher gerade als Inhalt der eudaimonia. Der objektive Begriff der eudaimonia, den Aristoteles aus der Natur des Menschen abgeleitet hat, 4
Zur Anbindung siehe Joachim 233.
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und der subjektive Glücksbegriff des alltäglichen Verständnisses lassen sich dann zusammenführen. Die Bedenken betreffen, so Aristoteles, eine andere Art von Lust, nämlich die sinnliche Lust, die entsteht, wenn ein physischer Mangel aufgefüllt wird. Diese Lust ist, sofern sie gut ist, nur in qualifiziertem Sinn gut, oder sie ist überhaupt nicht gut. Der Text ist so aufgebaut, dass in VII 12 drei negative Ansichten über die Lust und die Argumente hinter ihnen genannt werden. Erstens: Keine Lust ist ein Gut. Zweitens: Einige Formen der Lust sind gut, die meisten aber schlecht. Drittens: Zwar sind alle Arten der Lust ein Gut, jedoch kann die Lust nicht das beste Gut sein. Die drei negativen Ansichten werden in VII 13 und 14 widerlegt, wobei Aristoteles seine eigene Auffassung innerhalb dieser Auseinandersetzung entwickelt, statt sie, wie es sonst seine Gewohnheit ist, nach der Erörterung anderer Auffassungen herauszustellen. VII 15 enthält Ergänzungen, die nicht klar in den Text eingebaut sind, jedoch mit den schon erörterten Punkten zusammenhängen. Ich werde in der Interpretation die negativen Ansichten zugleich mit ihrer Widerlegung darstellen und die Ergänzungen, soweit sie wichtig sind, in den fortlaufenden Gedankengang integrieren. Daraus ergibt sich folgende Gliederung: a) Die Unterscheidung zwischen sinnlicher Lust und Lust an Tätigkeiten (Auseinandersetzung mit der ersten Auffassung), b) Die Bewertung der verschiedenen Arten der Lust (Auseinandersetzung mit der zweiten Auffassung), c) Tätigkeitslust und eudaimonia (Auseinandersetzung mit der dritten Auffassung).
a) Die Unterscheidung zwischen sinnlicher Lust und Lust an Tätigkeiten Die erste negative Meinung bezüglich der Lust lautet: Keine Lust ist ein Gut, und zwar ist die Lust weder wesentlich noch akzidentell ein Gut (1152 b8–10,12–20). Aristoteles referiert sechs Argumente, die hinter dieser Auffassung stehen können. Von diesen soll hier nur das erste, zentrale vorgestellt werden. Es lautet (1152 b13): Jede Lust ist ein sinnlich empfundener Prozess der Rückkehr in den sogenannten natürlichen Zustand (oder, wie Aristoteles manchmal auch sagt, ist eine sinnliche Empfindung, die mit einem solchen Prozess einhergeht, 1153 a9). Zustand und Prozess gehören verschiedenen Kategorien an. Wenn daher das Ziel, der natürliche Zustand, ein Gut ist, dann kann der Vorgang seiner Entstehung, die Lust, nicht ebenfalls ein Gut sein. Die folgende Widerlegung basiert auf der Überzeugung, dass die Lustgegner mit einer falschen oder zumindest verkürzten Auffassung von Lust operieren. Sie verstehen alle Lust nach dem Modell der sinnlichen Lust,
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die aufgrund eines empfundenen Mangels gewünscht wird. Selbst diese Lust kann, wie Aristoteles zeigen wird, in gewissem Sinn ein Gut sein, doch treffen gegen diese in der Tat einige der gängigen Bedenken zu. Die wichtigere Art der Lust aber, die für die menschliche eudaimonia eine entscheidende Rolle spielt, die Lust an Tätigkeiten, die wir als solche wünschen, unterliegt diesen Bedenken nicht und ist wesentlich ein Gut. Da die These der Lustgegner schon in ihrer Bedeutung nicht ohne weiteres durchschaubar ist, versucht Aristoteles Klarheit in die Kontroverse zu bringen, indem er mit mehrfachen begrifflichen Einteilungen operiert (die allerdings für uns das Verständnis nicht ohne weiteres erleichtern, da sie seine metaphysische Lehre als Hintergrund voraussetzen). Genauer führt Aristoteles seine Konzeption der Tätigkeitslust durch die Unterscheidung von drei Stufen ein, auf denen das menschliche Leben sich befinden kann, dem Zustand eines Mangels, der naturgemäßen Verfassung und der Aktualisierung dieser Verfassung. Dem vorgeschaltet ist eine weitere Unterscheidung, die quer zu dieser Stufung steht, die Unterscheidung zwischen dem für jemanden Guten und dem absolut Guten oder Lustvollen. Zunächst also (1152 b26–33) weist Aristoteles darauf hin, dass wir manchmal von einem Gut für jemanden, manchmal aber auch von einem Gut im absoluten Sinn reden und Entsprechendes auch für den lustvollen Prozess der Entstehung des Guts gilt. Wie wir inzwischen wissen, bestimmt Aristoteles auch den absoluten Sinn durch einen Bezug, nämlich in Beziehung auf den gut verfassten Menschen, den spoudaios. Damit gelingt es Aristoteles, das Argument, die Lust könne kein Gut sein, weil es schlechte oder mit Unlust verbundene Lust gibt, auf einer ersten Ebene zu entkräften: Im absoluten Sinn schlechte Lust kann demjenigen, der in einer schlechten Verfassung ist, gut erscheinen, und ein Prozess, der absolut mit Unlust verbunden ist, kann einem Menschen zeitweise unter besonderen Bedingungen lustvoll erscheinen, etwa während er krank ist.5 Nun gibt es, womit wir zu den angekündigten Stufen kommen (1152 b 33 ff.), im Leben jedes Menschen, auch des gut verfassten, regelmäßig wiederkehrende Mangelzustände, die der Auffüllung bedürfen, wie z. B. Hunger oder Durst. Diese Mangelzustände sind mit Empfindungen der Unlust verbunden, die das Streben nach Beseitigung der Unlust hervorrufen. Die Tätigkeiten, die zur Auffüllung des Mangels führen, etwa das Essen beim 5 Die aristotelische Ausdrucksweise ist an dieser Stelle merkwürdig, da die Lust etwas subjektiv Empfundenes ist, so dass man genau genommen nicht zwischen scheinbarer und wirklicher Lust unterscheiden kann. Ob eine Lust ein Gut oder Übel absolut oder unter bestimmten Bedingungen ist, ändert nichts daran, dass eine Person, die etwas als lustvoll wahrnimmt, eine Lustempfindung hat.
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Hunger, sind von Lustempfindungen begleitet, und die Lustgegner, mit denen Aristoteles sich auseinandersetzt, verstehen alle Lust auf diese Art. Aristoteles argumentiert, dass auch diese Lust, obwohl sie (1152 b36) mit Unlust gemischt ist (weil das Unlustgefühl des Hungers bis zum Endpunkt der Sättigung mit der Auffüllung mitläuft), in gewissem Sinn ein Gut sein kann.6 Dabei macht er Gebrauch von der Unterscheidung zwischen Arten des Guten, die er in Buch I vorgenommen hatte – eine Tätigkeit kann ein Gut (etwas Wünschenswertes) sein, weil sie um ihrer selbst gewollt wird, aber auch, weil sie zu einem anderen Zweck gewollt wird, den sie bewirkt. Auf diese Weise gelingt es Aristoteles zwar zu zeigen, dass die Tätigkeit bzw. der Prozess der Auffüllung eines Mangels ein Gut sein kann, jedoch entsteht dann die Schwierigkeit, dass solche Tätigkeiten, die nur als Mittel zu einem Gut erwünscht sind, nicht unbedingt als lustvoll empfunden werden. Aristoteles trägt dieser Schwierigkeit Rechnung, indem er erklärt, der Auffüllungsprozess sei nicht als solcher, sondern nur beiläufig lustvoll, sofern in den Begierden unsere Restnatur – der von dem Mangelzustand nicht betroffene Teil – Tätigkeiten vollzieht, die in sich lustvoll sind (1152 b35 f., siehe auch 1154 b19). Der Auffüllungsprozess, so heißt das, scheint nur in sich lustvoll, während die Lust in Wirklichkeit in einer anderen, gleichzeitig stattfindenden Tätigkeit liegt.7 Wie Aristoteles sich das vorstellt, wird klarer, wenn wir zu den beiden nächsten Stufen übergehen. Tätigkeiten der Auffüllung bewirken, was Aristoteles die Rückkehr in die naturgemäße Verfassung (physis, hexis physikē, hexis kata physin) nennt. Damit ist nicht irgendein natürlicher Zustand gemeint (natürlich ist ja auch der Hunger), sondern die dem Menschen wesentliche Verfassung (die zweite der obigen Stufen). Die Aktualisierung dieser naturgemäßen hexis (die dritte Stufe) besteht nun gerade in den spezifisch menschlichen Lebenstätigkeiten, den Tätigkeiten, in denen sich die menschliche eudaimonia realisiert. Beispiele sind für 6 Das findet sich ausführlich dargestellt in Platons Philebos und in Gorgias 462b3–466a3. Unabhängig von der antiken Debatte kann man sich natürlich fragen, warum man nicht auch die Wahrnehmung einer prozesshaften Empfindung zum Ziel haben könnte. Der dargestellte Einwand ist ja für uns eher seltsam und lässt sich nur verstehen vor dem Hintergrund der ontologischen Lehre, dass ein Prozess kein einheitlicher Gegenstand ist, das Gute aber wie das Seiende auf die Seite des Umgrenzten gehören soll. 7 Daher kann man hier wohl nicht die Gegensatzpaare „um seiner selbst willen gewünscht“ und „um eines anderen willen gewünscht“ (di heteron) einerseits und „als solches lustvoll“ und „beiläufig lustvoll“ (kata symbebēkos) andererseits gleichsetzen (wie Ricken 1995, 210). Das zweite erklärt erst für den speziellen Fall der Auffüllungstätigkeit, wieso hier das Tun einer Mittelhandlung immer als lustvoll wahrgenommen wird.
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Aristoteles insbesondere Tätigkeiten wie Wahrnehmen und Denken; deren Ausübung wird nicht durch einen Mangel hervorgerufen, sondern sie werden um ihrer selbst willen getan und machen in sich Freude.8 Diese Freude oder Lust ist, wie Aristoteles sagt, nicht ein wahrnehmbares Werden, sondern eine unbehinderte Tätigkeit (1153a15). Damit sind wir beim Lustverständnis der ersten Lustabhandlung: Aristoteles setzt hier die Lust gleich mit der auf bestimmte Weise qualifizierten Tätigkeit, nämlich mit der Tätigkeit, die unbehindert vollzogen wird. Die Bedingung der Unbehindertheit macht deutlich, dass sich in Tätigkeiten das menschliche Streben vollzieht, denn ein Behindern ist nur dort möglich, wo es ein Streben oder Wollen gibt.9 Dass eine Tätigkeit dann lustvoll ist oder Freude macht, wenn sie ohne äußere und innere Hindernisse abläuft, scheint intuitiv plausibel. Weniger klar ist, warum Aristoteles sagt, der Ausdruck „wahrnehmbar“ sei durch den Ausdruck „unbehindert“ zu ersetzen (1153 a15). Wird nicht gerade auch der lustvolle Vollzug einer Tätigkeit von der Person wahrgenommen? Die einfachste Erklärung lautet, dass eine unbehinderte Tätigkeit, bei der die Selbstwahrnehmung durch nichts unterbrochen wird, das Wahrgenommenwerden der Tätigkeit, das Bewusstsein ihres Vollzugs, so selbstverständlich impliziert, dass es überflüssig erscheint, den Ausdruck „wahrnehmbar“ beizubehalten.10 Da Aristoteles, wie erläutert, auch die sinnliche Lustempfindung so zu erklären versucht, dass sie beiläufig eine Tätigkeitslust ist, will er wohl die These vertreten, jede Lust bestehe im unbehinderten Tätigsein. Eine solche Umdeutung der sinnlichen Lust ist auf den ersten Blick eher unplausibel, denn in Wirklichkeit scheint es in sich lustvolle Empfindungsqualitäten ebenso zu geben wie Freude am Ausführen von Tätigkeiten. Ein gewisses Schwanken in dieser Frage zeigt Aristoteles selbst in der Erörterung der zweiten, schwächeren lustfeindlichen Position.
8 Platon versteht auch diese Lust als die Auffüllung eines Mangels (Politeia 585b). 9 Siehe Ricken 1976, 18. 10 Siehe dazu Gauthier/Jolif II, 798. Joachim 279 verweist auf klare Aussagen in der Freundschaftsabhandlung, wonach lustvolles Tätigsein automatisch wahrgenommen wird (1170 a29 ff.). Die Rede vom „Wahrnehmen“ darf man nicht im engen Sinn verstehen, und keinesfalls so, als sei die Lust als separates Gegenständliches neben der Tätigkeit für die Wahrnehmung gegeben. Gemeint ist vielmehr, dass das Vollziehen der Tätigkeit, gerade wenn es unbehindert und das heißt lustvoll ist, bewusst erfahren wird. Die Lust ist dann einfach die Art und Weise des unbehinderten bewussten Aktualisierens der spezifisch menschlichen Fähigkeiten.
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b) Die Bewertung der verschiedenen Arten der Lust (1152b10f., 20–22, 1153a17–20, 1154a7–b19) Die zweite und gemäßigtere These der Lustgegner lautet, einige Arten der Lust seien vielleicht ein Gut, andere Arten aber schädlich. Die Erwiderung, die Aristoteles hierauf gibt, ist knapp und besagt, dass viele Dinge, die in einer Hinsicht ein Gut sind, in einer anderen Hinsicht schlecht sind. Dass etwas teuer und daher schlecht für den Wohlstand ist, schließt nicht aus, dass es gut für die Gesundheit ist. Dass einige Lust der Gesundheit schadet, schließt dann ebenfalls nicht aus, dass sie als Lust etwas Gutes und Erwünschtes ist. Die Bedeutung dieser Argumentation ist nicht sehr klar. Denn wenn Aristoteles sich auf die sinnliche Lust bezieht, plädiert er gewöhnlich für die aretē der Mäßigkeit, mit der man sinnliche Lust nur an dem empfindet, was für die Erhaltung der Gesundheit notwendig ist. Aristoteles erwähnt in diesem Zusammenhang aber auch die Lust am Tätigsein, wenn er sagt, selbst die Tätigkeit des Denkens – für Aristoteles die am höchsten bewertete Tätigkeit – könne der Gesundheit schaden (zum Beispiel Kopfschmerzen verursachen). Andererseits ist klar, dass die Gegner sicher nicht diese, sondern die sinnliche Lust meinen, wenn sie einige Arten der Lust als schädlich hinstellen. Da der Stellenwert dieser Argumentation dunkel bleibt und auch die Nachträge zur Bewertung der sinnlichen Lust am Ende von VII 14 und in VII 15 nicht viel zur Klärung beitragen, wende ich mich dem dritten Teil der Auseinandersetzung mit den Lustgegnern zu.
c) Tätigkeitslust und eudaimonia (1153b1–1154a7) Aristoteles richtet sich zunächst gegen Speusippos, der die Meinung vertritt, das Gute sei sowohl der Unlust wie der Lust entgegengesetzt. Seine Erwiderung lautet, Speusippos wäre wohl kaum bereit die Konsequenz zu ziehen, dass die Lust einfachhin ein Übel ist. Während das gegen alle üblichen Vorstellungen wäre, akzeptiert Aristoteles die Auffassung, dass es schlechte Arten von Lust gibt, also manche Lust ein Übel ist. Dies schließt aber, wie Aristoteles betont, nicht aus, dass eine bestimmte Lust sogar das höchste Gut sein kann (1153 b7 ff.). Dieses Beste, die eudaimonia, war in I 6 bestimmt worden als Tätigkeit der menschlichen Seele gemäß der guten hexis, also der aretē. Die unbehinderte Tätigkeit, d. h. Realisierung einer naturgemäßen hexis, ist nach der obigen Definition aber genau das, worin die Lust besteht. Eine solche unbehinderte Tätigkeit ist das Wählenswerteste; eine bestimmte Lust ist also das Beste und die eudaimo-
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nia. Das folgt deswegen, weil Aristoteles – jedenfalls in Buch VII – nicht von einer Lust an Tätigkeiten redet, sondern Lust und unbehinderte Tätigkeit gleichsetzt. Damit ist der bisher fehlende Zusammenhang der objektiven Glücksdefinition durch die Tätigkeit gemäß der spezifisch menschlichen aretē und der alltäglichen Glücksvorstellung, die das subjektive Erleben des Glücks betont, hergestellt. Aristoteles gibt der gängigen Meinung recht, das glückliche Leben sei angenehm und die Lust sei mit der eudaimonia zu verflechten.11. Gleichzeitig wird jetzt auch der Stellenwert der äußeren Güter deutlicher (1153 b19 ff.). In direkter Anknüpfung an Buch I 8–10 macht Aristoteles klar, dass wir die Güter des körperlichen Wohlergehens, die äußeren Güter und das glückliche äußere Schicksal brauchen, weil deren Fehlen die Tätigkeiten, in denen die eudaimonia sich vollzieht, behindern und unterbrechen. Anders als im ersten Buch zieht er hieraus die Konsequenz, dass der, dem großes Missgeschick widerfährt, nicht eudaimōn sei (also nicht nur, wie es in Buch I hieß, nicht makarios, siehe oben S. 52). Da Aristoteles angetreten ist, das anthrōpinon agathon, das durch Handeln realisierbare gute Leben zu suchen, vollkommen unbehindertes Tätigsein jedoch nicht immer möglich ist, hat dieser präzisierte Vorschlag der Bestimmung der eudaimonia allerdings seine Grenzen. Das bestätigt eine Passage in den unsystematischen Nachträgen am Ende des VII. Buchs (1154 b20ff.). Hier fragt Aristoteles, warum die Lust der Aktualisierung der menschlichen physis in Tätigkeiten nicht anhält, warum dieses wirklich Wünschenswerte für uns nicht immer lustvoll ist. Die Antwort verweist auf die Metaphysik, wo Aristoteles die Lehre von der reinen unbehinderten Tätigkeit entwickelt. Das unbehinderte Tätigsein ist auf Dauer möglich nur für das göttliche Seiende, weil dieses einfach, also frei von Materie ist und keine Veränderungen erleidet. Es bewegt sich kontinuierlich, ohne bewegt zu werden (daher seine Bezeichnung als „unbewegter Beweger“), freut sich ununterbrochen am wirklich Lustvollen, nämlich seiner eigenen Tätigkeit, die nicht störbar ist. Als Menschen, die eine körperliche Natur haben, sind wir hingegen zu dieser dauernden Tätigkeit nicht fähig; diese ist vielmehr Störungen verschiedenster Art ausgesetzt. Nicht nur wird sie durch äußere Widerfahrnisse gehemmt, son11 Annas 1980, 296 hat zwar Recht, dass jemand, der wie Aristoteles eine objektive Konzeption des Guten vertritt, auch eine objektive Konzeption der Lust vertreten muss, wonach wahrhaft lustvoll das ist, was dem Guten so erscheint. Dennoch besteht das Motiv, aus dem Aristoteles sich so ausführlich mit der Integration der Lust in seine Konzeption beschäftigt, darin, die objektive Glückskonzeption als eine zugleich subjektiv erfahrbare zu erweisen.
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dern sie wird auch von Bedürfnissen, die aus der Körperlichkeit stammen und deren Befriedigung mit nur beiläufiger Lust einhergeht, immer wieder unterbrochen. Aus demselben Grund unserer materiellen Komplexität kann sich die Lust verschiedener Tätigkeiten stören. Das Argument der Lustgegner, die Lust sei schlecht, weil sie das Denken behindere (1153 a20–23), beachtet nach Aristoteles nicht, dass die Lust den jeweiligen Tätigkeiten immanent ist und die einer Tätigkeit zugehörige Lust diese gerade steigert. Jedoch räumt Aristoteles in diesem Zusammenhang ein, fremde Lust, also solche, die zu einer anderen Tätigkeit gehört, könne das Denken behindern (etwa die Lust am Hören eines Musikstücks). Daher gibt es für den Menschen keine im absoluten Sinn unbehinderte Tätigkeit, und es bleibt die Frage, ob dann das lustvolle Tätigsein als einziger Bestandteil des besten Lebens geeignet ist. d) Zusammenfassung Der entscheidende Beitrag der ersten Lustabhandlung besteht im Hinweis auf die Lust an Tätigkeiten. Aristoteles hat damit als Erster ein Phänomen begrifflich herausgehoben, das in der Tat eine wichtige Rolle innerhalb des menschlichen Lebens spielt, das Phänomen, dass für ein gutes Leben Tätigkeiten konstitutiv sind, in denen sich spezifisch menschliche Fähigkeiten oder Haltungen realisieren und die zu vollziehen uns Freude machen kann. Dass diese Lust an Tätigkeiten etwas anderes ist als sinnliche Lust, ist ebenfalls einsichtig. Allerdings lässt vorläufig die Bestimmung beider Arten der Lust ebenso wie ihrer Abgrenzung noch eine Reihe von Fragen offen. Ein erstes Problem liegt in der Redeweise, dass die Lust die Tätigkeit ist, während wir eher sagen würden, dass man Lust an einer Tätigkeit hat. So habe ich jetzt die übliche Redeweise von der Lust an Tätigkeiten verwendet, während Aristoteles sagt, dass die Lust die Tätigkeit, allerdings nur die unbehinderte, ist. Vielleicht steht hinter dieser Gleichsetzung die Intuition, dass das unter dem Titel des Besten Gesuchte, das nur um seiner selbst willen erstrebt wird, nur etwas sein kann, was eine in sich positive Qualität hat. Ein zweites Problem betrifft die Frage, was alles unter die Tätigkeiten, in denen sich die menschliche Natur lustvoll realisieren kann, fällt. Das einfachste Beispiel einer Tätigkeit, die in sich lustvoll und deswegen zugleich wünschenswert ist, ist für Aristoteles das denkende Betrachten, dessen Ausübung die erste Form der eudaimonia bildet. Jedoch fragt man sich, ob die Tätigkeiten der ethischen aretē, die die zweite Form der eudaimonia ausmachen, genau in derselben Weise lustvolle Betätigungen
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sind. Man tut sie um des kalon willen, und dieses ist zwar nichts jenseits der Handlungen, sondern ihre eigene ethische Qualität, doch das scheint auch mit einem als richtig beurteilbaren Inhalt und nicht nur mit einer Vollzugsqualität zu tun zu haben. In der Tat scheint hier nicht so sehr das Vollziehen das Lustvolle und Wünschenswerte zu sein wie die Vorstellung, dass man eine Person ist, die das kalon tut. Die Rolle dieses Inhalts der Tätigkeit bleibt also vorläufig offen bzw. wird in Buch VII nicht beachtet. Drittens stellt sich das Problem, ob die Angleichung der sinnlichen Lust an die Tätigkeitslust überzeugend ist. Dass das Gewünschte, etwa der Zustand der Sättigung, nicht mehr lustvoll ist, der Vorgang der Nahrungsaufnahme hingegen nur beiläufig lustvoll, aber nicht selbst wünschenswert, scheint übertrieben. Erstens könnte auch ein Sättigungszustand als angenehm erlebt werden, und nicht nur der Prozess, der zu ihm führt. Zweitens kann der Prozess der Auffüllung, wenn er Lust enthält, also eine angenehme Empfindungsqualität, durchaus in sich selbst wünschenswert sein.12 Dass er gleichzeitig Unlust enthält, ist kein plausibles Gegenargument; denn zum einen sind, wie gesagt, auch Tätigkeiten selten absolut frei von hindernden Aspekten; zum anderen sind normaler Hunger und andere physische Bedürfniszustände nicht unbedingt mit so großer Unlust verbunden, dass diese die Lust überwiegen müsste. Liegt hier das Lustvolle und Wünschenswerte aber in der Empfindungsqualität, handelt es sich um ein eigenständiges Phänomen, das sich nicht mit dem Hinweis auf eine Tätigkeit eines Rests der naturgemäßen Verfassung beschreiben lässt. Drittens könnte man auf sinnliche Lust hinweisen, die nicht mit dem Notwendigen verbunden ist, sondern ein Genießen ohne vorherigen Mangel bedeutet. Allerdings könnte hier Aristoteles vielleicht sagen, dass das Genießen etwa durch den Gourmet letztlich im Wahrnehmen einer harmonischen Kombination liegt, also letztlich eine Lust an einer Art ästhetischer Wahrnehmung, somit eine Reflexionslust ist.
2. Die zweite Lustabhandlung (X 1–5) Die zweite Lustabhandlung entspricht in der systematischen Einordnung ungefähr der ersten. Wie in Buch VII ist ferner auch hier von Anfang an klar, dass Aristoteles nicht einfachhin nach einer Definition des Lustbegriffs sucht, dass vielmehr seine Beschäftigung mit der Lust der Frage dient, ob die Lust ein Gut oder eventuell sogar das höchste Gut sein 12 Urmson 1968, 329, legt nahe, dass Aristoteles dies in der Beschreibung der Unmäßigkeit in Buch III im Grunde selbst so sieht.
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kann.13 Die Untersuchung geht jedoch unmittelbar der Erläuterung der betrachtenden Lebensform voraus und zeigt daher stärkere Affinitäten zu dieser. Als die zwei wichtigsten Unterschiede zur ersten Lustabhandlung werden sich folgende herausstellen: Anders als in der ersten Lustabhandlung setzt Aristoteles jetzt Lust und unbehinderte Tätigkeit nicht einfach gleich, sondern bestimmt die Lust als Aspekt der unbehinderten Tätigkeit. Die zweite Lustabhandlung geht über die erste außerdem dadurch hinaus, als nun der dort vernachlässigte Inhalt der Tätigkeit eine wichtige Rolle spielt. Der Text in Buch X ist nach dem üblichen Muster so aufgebaut, dass Aristoteles zunächst Ansichten nennt (X 1–2) und dann in einem neuen Anlauf seine eigene Vorstellung entwickelt (X 3–4); es folgen einige Ergänzungen (X 5). a) Die Meinungen über die Lust (X 1–2) Während Aristoteles sich in der ersten Lustabhandlung hauptsächlich mit negativen Meinungen über den Wert der Lust auseinandersetzt, beginnt die Untersuchung in Buch X mit der Nennung der zwei extremen Positionen, die Lust sei das Gute und die Lust sei etwas durchweg Schlechtes. Die negative Theorie lässt sich Speusippos zuordnen, die positive wird am Anfang von X 2 Eudoxos zugeschrieben. Diese beiden Auffassungen werden in X 1 eingeführt und in X 2 erörtert. Aristoteles kommt zu Ergebnissen, die zwischen den beiden extremen Positionen stehen: Erstens. Die Lust ist nicht das einzige und nicht das höchste Gut. Zweitens. Nicht jede Art der Lust ist wählenswert und gut, manche Arten aber sind es (1174 a8–12). Da die Auseinandersetzung mit den Lustgegnern bereits ausführlich in Buch VII geführt wurde, konzentriere ich mich hier auf die aristotelische Stellungnahme zur Lehre des Eudoxos. Das für das Folgende wichtigste Argument der Lustgegner, dass die Lust kein Gut sein kann, weil ein Gut Zielcharakter haben muss (1173 a29–b 20), nehme ich jedoch im Rahmen der Lustdefinition unter b) auf. Eudoxos hält die Lust für ein (das höchste) Gut (X 2). Die wichtigsten Argumente, mit denen Eudoxos seine Position untermauert, erinnern dabei im Wortlaut an die Formulierungen, mit denen Aristoteles in Buch I nicht den Begriff der Lust, sondern den Begriff eines Guts, des besten Guts und der eudaimonia einführt. Da Aristoteles damit rechnen kann, So Gosling 1973/74, 33 gegen Owen 1971/72, der die Verdopplung der Lustthematik damit zu erklären versucht, Aristoteles interessiere sich in Buch VII für die Frage, was Gegenstand der Lust ist, in Buch X für die Frage, was es heißt, sich an etwas zu freuen, bzw. wie das Verb „sich freuen an“, „gern tun“ verwendet wird. 13
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dass auch sein Publikum die Thesen des Eudoxos kennt, können wir also rückblickend annehmen, dass er bewusst auf diese Sätze anspielt. Das heißt dann aber auch, dass die Frage, warum Aristoteles bestes Gut und Lust nicht von Anfang an gleichsetzt, sondern auf neue Art verknüpft, von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Eigenart seiner ethischen Theorie ist. Eudoxos behauptet, alles Streben habe ein einziges identisches Ziel, die Lust. Er stützt sich dabei auf die Beobachtungstatsache, dass alle Wesen, vernünftige wie vernunftlose, nach der Lust streben. Er sagt weiterhin, dasjenige sei am meisten wünschenswert, was wir nicht um eines anderen willen erstreben. Dass sie um ihrer selbst willen gewünscht wird, gilt aber am meisten für die Lust; denn man fragt niemanden, zu welchem Zweck er sich freut. Seine Zustimmung zu diesem Argument bestätigt die Vermutung, dass Aristoteles die Tätigkeitslust deswegen für zentral hält, weil der Verweis darauf, dass etwas einfachhin Freude macht, am ehesten geeignet ist, die Frage nach dem letztlich Gewollten zum Stehen zu bringen. Anders als in Buch VII kritisiert Aristoteles jedoch die Meinung des Eudoxos, die Lust sei das höchste Gut. Eudoxos begründet diese Überzeugung damit, die Lust mache jedes, dem sie hinzugefügt wird, wie Gerechtigkeit oder Mäßigkeit, noch besser; das Gute aber werde nur durch sich selbst vermehrt, folglich müsse die Lust das Gute sein. Aristoteles setzt dem entgegen, dass auch das Leben der Lust durch Hinzufügung anderer Güter in seiner Wünschbarkeit gesteigert werden kann, dass ein aus Vernunft und Lust gemischtes Leben besser ist als ein Leben, das nur Lust enthält. In der Tat halten wir Wissen, aretē usw. für Güter ganz unabhängig von der Frage, ob sie von Lust begleitet sind (1174 a4 ff.). Die Lust kann aber nicht das beste Gut sein, wenn zu den Kriterien für dieses (gemäß I 5) die Autarkie gehört.14
b) Definition der Lust (X 3–4) Bereits in Buch VII hatte Aristoteles seine eigene Bewertung der Lust gegen das Argument der Lustgegner entwickelt, die Lust könne kein Gut sein, weil sie ein empfundener Prozess der Rückkehr in die naturgemäße Verfassung ist. Aristoteles setzt dem entgegen, die Lust sei nicht ein Prozess oder eine Bewegung, sondern eine Tätigkeit, eine energeia. Diese im VII. Buch sehr knappe Überlegung führt Aristoteles jetzt in Buch X genauer unter Rückgriff auf seine Terminologie in der Metaphysik aus. Die Erklärung beginnt bereits innerhalb der Antwort auf die Lustgegner in 14
Aristoteles bezieht sich hier auf Platons Philebos 20e–22e und 60b–61b.
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X 2 (1173 a29–b20). In X 3 wird die Lust als Tätigkeit bestimmt, in X 4 wird das Spezifische dieser Tätigkeit herausgearbeitet. (i) Die Lust als Tätigkeit (X 3). Um die Einordnung der Lust in X 3 genau zu verstehen, muss die zentrale Unterscheidung zwischen einer kinēsis und genesis auf der einen Seite und einer energeia auf der anderen Seite erläutert werden, die Aristoteles in Metaphysik IX 6 einführt.15 Aristoteles nennt eine genesis ein Werden, bei dem aus Materie ein geformtes Ding entsteht oder eine zugrunde liegende Materie von einer Form in eine andere übergeht, während er Prozesse der Bewegung oder Veränderung an Dingen als kinēsis bezeichnet. Dass aus dem Stein eine Statue oder aus Steinen und Balken ein Haus entsteht, wäre also ein Beispiel für ein Werden; dass ein Mensch gesund wird, wäre ein Beispiel für eine Veränderung. Der Begriff der kinēsis kann aber auch als Oberbegriff verwendet werden, der gegenständliches Werden und andere Vorgänge zusammen umfasst. Entscheidend für Aristoteles ist nun, dass die kinēsis, die Bewegung grundsätzlich nicht Zielcharakter haben kann, sondern nur ein Mittel oder Weg zu einem Ziel ist. Eine Bewegung wie Gesundwerden ist nur in Gang, solange das Ziel, der Zustand der Gesundheit, noch nicht erreicht ist. Sie ist erst vollendet, wenn das Ziel hergestellt ist. 16 Jedoch ist der erreichte Zustand der Gesundheit gerade nicht mehr Teil der Bewegung. Von der kinēsis unterscheidet Aristoteles die energeia. Dieser Begriff hat in der Metaphysik zwei Bedeutungsaspekte, einmal den der Aktualität bzw. Verwirklichung, sodann den der Aktualisierung bzw. Tätigkeit. Diese Unterscheidung wird in der EN nicht explizit eingeführt, wir sollten sie aber an dieser Stelle kurz zur Kenntnis nehmen, da sie zum Verständnis der Verbindung von objektiver eudaimonia-Bestimmung und Lustauffassung unentbehrlich ist. Auf der einen Seite also ist die energeia die Verwirklichung. Wie wir schon gesehen haben, sind für Aristoteles Dinge aus Materie und Form (eidos) zusammengesetzt. Diese Verbindung konzeptualisiert Aristoteles so, dass die Materie dem Vermögen nach die Form ist und das konkrete Ding ein der Wirklichkeit nach Seiendes ist. Im Beispiel der materiellen Dinge: Steine und Balken sind dem Vermögen nach ein Haus. Das fertige Haus ist der Wirklichkeit nach ein Haus, das heißt, die Form „Haus“ hat hier Aktualität als Strukturprinzip der Teile. Beim Lebewesen sind Stoff und Form nicht in der Realität trennbar, Materie (körperliche Teile) als 15 Für eine Erläuterung dieser Begriffe siehe den Exkurs in Joachim 269 ff. sowie Gosling/Taylor 1982, 302ff. 16 Wobei sie in diesem Augenblick aber gerade nicht mehr vorhanden ist; denn sobald das Ziel fertiggestellt ist, ist die Bewegung schon zuende, weshalb Aristoteles sagt, die Bewegung sei wesentlich unvollendet, siehe Physik III 1–3 und V–VIII.
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das, was dem Vermögen nach das Lebewesen ist, und Form (Seele) als Grund dafür, dass das konkrete Lebewesen der Wirklichkeit nach ist, daher nur zwei Gesichtspunkte, unter denen man es betrachten kann. Dieses durch Anwesenheit des eidos der Wirklichkeit nach Seiende ist das Lebewesen im natürlichen Zustand, das durch eine Gesamtheit von Fähigkeiten und Haltungen gekennzeichnet ist, und die Form, die Seele, ist seine erste Aktualisierungsstufe, die erste entelecheia. Die höhere Form der Aktualität ist die zweite entelecheia, in der diese Fähigkeiten usw. aktualisiert sind. Der zweite Begriff der energeia, und das ist derjenige, mit dem wir bisher zu tun hatten, gehört in den Bereich dieser Aktualisierungen, die entweder in Bewegungen (kinēsis) oder eben in Tätigkeiten (energeia) bestehen können. Die Tätigkeit ist hier die reine Tätigkeit im Unterschied zur Bewegung. Diese ist wichtig, insofern Aristoteles die Lust besonders an Tätigkeiten wie Sehen oder Denken festmacht, die ihr Ziel in sich selbst haben (1048 b18 ff.). In Metaphysik IX 6 verdeutlicht Aristoteles diesen Punkt durch das Perfektkriterium, wonach man bei einer energeia im Sinn der reinen Tätigkeit gleichzeitig sagen kann „ er sieht“ und „er hat gesehen“. Das heißt, dass sich die Form (eidos) der Tätigkeit nicht erst im Verlauf fertig stellt, sondern in jedem Augenblick ganz vorhanden ist, dass sie kontinuierlich als diese gleiche fortführbar ist (1048b26).17 In EN X 3 bestimmt Aristoteles nun die Lust in einem ersten Schritt dadurch, dass sie nicht eine Bewegung, sondern eine Tätigkeit ist (1174 b5 ff.): Das eidos der Lust ist in jedem Augenblick vollständig vorhanden, sie gehört zum Ganzen und Vollendeten. So ist eine Lusterfahrung anders als in der Zeit, nämlich im Jetzt, möglich, während Bewegungen nur in der Zeit ablaufen können.18 Damit hängt zusammen, dass es keine Bewegung und kein Werden der Lust geben kann.19 Durch Bewegung oder Werden kommen nur die Dinge in die Existenz, deren eidos schrittweise realisiert wird. Was hingegen wie das Sehen oder die Lust in jedem Augenblick ganz und vollendet ist, kann nur so eintreten, dass es unmittelbar aktualisiert wird. Neben dem Perfektkriterium aus der Metaphysik führt Aristoteles hierfür in EN X 2 als weiteres Kriterium (1173 a32 ff.) an, ob die adverbia17 Wie genau Aristoteles das Kriterium meint, ist strittig. Für den ethischen Kontext ist der wichtigste Aspekt, dass auf diese Weise eine Tätigkeit als kontinuier liche fortführbar ist. Zur Problematik siehe Ackrill 1965. 18 Die aristotelische Auffassung des „jetzt“ ist schwierig und könnte nur anhand einer genaueren Beschäftigung mit der Physik geklärt werden, worauf hier verzichtet werden muss. Für eine knappe Erläuterung siehe Joachim 278. 19 Die Handschriften lesen, die Lust sei keine Bewegung und kein Werden. Jedoch spricht b 12 für die Konjektur tēs hēdonēs, der viele Übersetzer folgen.
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le Bestimmung „schnell“ oder „langsam“ anwendbar ist: Eine Bewegung könne immer langsam oder schnell ablaufen, hingegen könne man sich nicht langsam oder schnell freuen (nur langsam oder schnell in Freude geraten). Aristoteles versucht jetzt – eindeutiger noch als in Buch VII – alle Lust, auch die sinnliche, auf die Seite der Tätigkeit zu stellen. Er kritisiert in X 2 die Vorstellung, die Unlust sei ein Mangelzustand, die Lust seine Auffüllung (b7 ff.). Da Mangelzustände physiologischer Art sind, müsste sich an der Auffüllung der Körper freuen. Das ist aber nach Aristoteles nicht der Fall, und daher kann die Lust nicht im Prozess der Rückkehr in die naturgemäße Verfassung bestehen; vielmehr freuen wir uns, wenn die Auffüllung stattfindet, was wohl besagen soll, die Lust liege in der Wahrnehmung des Aufgefülltwerdens.20 Wahrnehmen aber ist nicht eine Bewegung, die aus einem Mangelzustand hervorgeht, sondern eine Tätigkeit aus dem naturgemäßen Zustand, oder, wie wir jetzt auch sagen können, aus der ersten Entelechie. Entsprechend weist Aristoteles auch als Nächstes auf Beispiele hin, die nichts mit Mangelzuständen zu tun haben, wie die Lust am Lernen oder an bestimmten Sinneseindrücken, also auf Tätigkeiten, die die zweite Entelechie des menschlichen Lebewesens darstellen. (ii) Die Art der Tätigkeitslust (X 4). Aristoteles fragt jetzt nach der besten oder vollkommensten Tätigkeit und bestimmt die Bedingungen dieser Vollkommenheit, wobei er sich an der Wahrnehmung orientiert (1174 b14): Die vollkommene Wahrnehmung ist die Aktualisierung desjenigen Wahrnehmungsvermögens, das in der besten Verfassung ist und sich auf das beste der Objekte richtet, die zu seinem Bereich gehören. Am Beispiel des Sehens: Vollkommen ist das Sehen dann, wenn sich das Auge in der bestmöglichen Verfassung befindet und der Gegenstand, der das Sehvermögen in Aktualität versetzt und der gesehen wird, das bestmögliche Objekt für das Sehvermögen ist.21 Diese Konstellation gibt es für alle Wahrnehmungsvermögen und für das Denken (1174 b20 f.). Wo der Handelnde in der besten Verfassung ist und sich am besten Objekt wahrnehmend oder denkend betätigt, ist die Tätigkeit die vollkommenste und lustvollste (1174 b19 ff.). Die Lust macht, wie Aristoteles sagt, die Tätigkeit So u.a. Bostock 1988, 269. Man könnte sich fragen, wie Tätigkeiten reine Tätigkeiten sein können, wenn es jetzt so aussieht, dass sie nicht einfachhin Vollzug der menschlichen Natur sind, sondern offenbar durch Objekte hervorgerufen werden, also anscheinend einen Aspekt von Passivität bzw. Bewegtwerden haben. Diese Schwierigkeit löst sich auf, wenn wir beachten, dass nach Aristoteles nicht der Wahrnehmungsgegenstand eine Bewegung oder Veränderung im Sehenden hervorruft, vielmehr der Gegenstand so auf das Auge wirkt, dass er die Fähigkeit zum Sehen in Aktualität versetzt, also zum Tätigsein bringt. Dazu Joachim 279f. 20
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vollkommen, jedoch nicht in derselben Weise, wie das die Vollkommenheit der Verfassung des Tätigen und des Gegenstands der Tätigkeit tut. Den Beitrag der beiden letzteren vergleicht Aristoteles mit dem Arzt und dem eidos der Gesundheit als Ursachen des Gesundseins. Wie der Arzt die Wirkursache und die Gesundheit die Form- bzw. Zweckursache des Gesundseins darstellen (vgl. oben S. 155 f.), so müsste der Gegenstand, der das Wahrnehmungs- oder Denkvermögen aktualisiert, die bewirkende Ursache und die hexis bzw. die aus ihr hervorgehende Tätigkeit die Form- bzw. Zielursache sein. Die Lust hingegen, so Aristoteles, vervollkommnet die Tätigkeit nicht wie die innewohnende hexis, sondern wie ein hinzukommendes telos, wie das Blühen bei denen, die in der vollen Kraft der Jugend stehen. Der Sinn dieser Stelle ist nicht sehr klar.22 Aristoteles weist jetzt seine eigene Formulierung aus Buch VII, die Lust sei identisch mit der Tätigkeit, zurück, da man nicht sagen könne, die Lust sei Wahrnehmen oder Denken (1175 b33 ff.). Dass er in Buch X die Lust stattdessen „hinzukommend“ nennt bzw. sagt, sie sei in der Tätigkeit, könnte man als Argument dafür anführen, Aristoteles habe seine Auffassung geändert oder verfolge in Buch X eine andere Frage als in Buch VII.23 Ob das zutrifft, hängt u. a. davon ab, wie man die Rede vom Hinzukommen der Lust versteht. Wenn die Lust zur vollkommenen Tätigkeit noch hinzukommt, hätte man in der Tat eine andere Konzeption als in Buch VII. Doch das kann Aristoteles nicht meinen, denn wenn die Lust in dieser Weise zur eudaimonia, die ja im Tätigsein besteht, hinzukäme, wäre das Wünschenswerteste die Kombination von Lust und eudaimonia, was gegen die Anforderungen an die eudaimonia verstößt. Gemeint sein muss also eher, dass die Lust ein Aspekt oder eine Erfahrungsweise der Vollkommenheit ist. Dafür spricht auch der Vergleich: Das Blühen derjenigen, die in voller Jugendkraft stehen, ist nichts real Zusätzliches, sondern die Art und Weise, wie sich das Vorhandensein dieser Kraftfülle zeigt. Ähnlich wäre dann die Lust die Art und Weise, wie die Vollkommenheit der Tätigkeit erfahren wird. Der Unterschied zwischen den Lustdefinitionen in Buch VII und X wäre dann eher gering. Eine Tätigkeit, die aus dem Zusammentreffen eines vollkommenen Objekts mit einem gut verfassten Vermögen hervorgeht, ist ebenso vollkommen wie unbehindert, und darin liegt gerade, dass sie Freude macht.24 Dafür, dass die Tätigkeitslust nicht eine eigene Tätigkeit neben den ein22 Auch die vorliegenden Interpretationen divergieren. Siehe Gauthier/Jolif II, 839 ff. für eine Zusammenfassung der Positionen, auch wenn ich seiner eigenen Deutung nicht folge. 23 Letzteres vertritt Owen 1971/72. 24 So Gosling 1973/74, 28.
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zelnen menschlichen Tätigkeiten ist, spricht auch der Hinweis, dass die Lüste sich voneinander in der Art unterscheiden (1175 a21–b24), je nachdem, welche Tätigkeit sie vervollkommnen. Die verschiedenen Wahrnehmungstätigkeiten etwa haben ein anderes eidos als das Denken, und daher ist auch die Lust, die diese Tätigkeiten vollkommen macht, eine andere als die Lust am Denken. Die Lust ist jeweils der Tätigkeit, die sie vollendet, zugehörig und fördert sie. Wem eine Tätigkeit Freude macht, der wird sie möglichst lange und häufig tun wollen und sich immer weiter in ihr verbessern. Fremde, einer anderen Tätigkeit zugehörige Lust hingegen kann eine Tätigkeit behindern. So hemmen Flötenklänge die gerade ausgeübte Denktätigkeit bzw. nehmen die Lust an ihr, wenn für den Denkenden das Hören des Flötenspiels lustvoller ist. Die fremde Lust hat eine ähnlich hindernde Wirkung wie eine der Tätigkeit selbst zugehörige Unlust. Die Unlust zerstört die Tätigkeit, denn wer eine Tätigkeit als unangenehm erfährt, der wird sie nicht ausüben. Wenden wir uns nach der Erläuterung des Tätigkeitsaspekts der Lust nun der zweiten und gegenüber Buch VII neuen Komponente der Lustauffassung in Buch X zu, dem Objekt der lustvollen Tätigkeit. Dass Aristoteles überhaupt auf das Objekt der Tätigkeit eingeht, liegt daran, dass viele Tätigkeiten, auch wenn sie nicht wie eine Bewegung auf ein Ziel außerhalb gerichtet sind, doch einen Inhalt haben, einen intentionalen Gegenstand, an dem sie sich vollziehen. Das gilt auch für diejenigen Tätigkeiten, die in Buch X im Zentrum stehen, das Sehen und Denken. Man kann nicht sehen, ohne etwas zu sehen, und nicht denken, ohne etwas zu denken. So richtig dieser Hinweis ist, wirft er doch für die aristotelische Unterscheidung zwischen Bewegung und Tätigkeit sowie die Konzeption der Tätigkeit Probleme auf. Erstens gibt es Tätigkeiten, die kein Objekt haben und bei denen der bloße Vollzug Freude machen kann; Beispiele wären Spazierengehen oder Tanzen. Hier scheint es eine Lust an der bloßen Körperbewegung zu geben. Ähnliches könnte auch im Bereich des Denkens vorkommen, etwa wenn eine Person Denksportaufgaben löst, weil ihr die bloße Betätigung ihrer Denkfähigkeit Spaß macht. Allerdings setzt schon das voraus, dass die Aufgaben von einer bestimmten Qualität sind, und vielleicht könnte man Aristoteles Recht geben, dass die Lust größer ist, wenn das Denken sich an wichtigeren Inhalten vollzieht. Auf jeden Fall müsste geklärt werden, ob es sich bei der bloßen Tätigkeitslust und bei der Lust an Tätigkeiten, die sich an einem Objekt vollziehen, um dasselbe Lustphänomen handelt. Ein zweites Problem liegt darin, dass zwar die Lust an reinen Tätigkeiten wie Tanzen die von Aristoteles genannten Kriterien zur Unterscheidung von Tätigkeit und Bewegung erfüllt, die objektbezogene Tätigkeits-
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lust jedoch diese Unterscheidung aufzuweichen scheint. Aristoteles selbst überlegt an einer Stelle in der EE (1230 b36 ff.), weshalb Tiere zwar sehen und hören, aber nicht Freude am Sehen und Hören erfahren können.25 Seine Erklärung lautet, die Freude beruhe darauf, dass das Objekt des Sehens Schönheit, kallos, aufweise, das Objekt des Hörens Harmonie, euharmostia. Dann ist das Hören eines Musikstücks zwar eine Tätigkeit, die auf kein äußeres Ziel bezogen ist, nicht hingegen überzeugt, dass sie keinen Endpunkt hat und sich das Perfektkriterium auf sie anwenden lässt. Denn die Struktur eines Musikstücks lässt sich nur in der Zeit wahrnehmen, so dass das Hören, wenn es sich an diesem Objekt vollzieht, nicht in jedem Moment ganz realisiert und auch nicht beliebig fortsetzbar ist.26 Der Ausweg, das Hören vollziehe sich zwar an einem zeitlich verlaufenden Stück, aber die Hörtätigkeit, das Musikhören, sei dabei in jedem Augenblick gleich, scheint wenig überzeugend. Ebenso wenig plausibel ist die Lösung, das Hören betreffe punktuell einzelne Töne oder dies gelte zumindest für die Lust am Hören.27 Also können wir höchstens noch zu verstehen versuchen, wie die Verwirrung zustandekommt. Eine Erklärung könnte sein, dass das Modell für das Verhältnis von Tätigkeit und intentionalem Gegenstand bei Aristoteles nicht das Hören, sondern das Sehen ist. Das Sehen gilt ihm als Vorstufe des Denkens (wie in Metaphysik I 1 erläutert wird), und beides, Sehen wie Denken, ist nicht als Prozess gemeint, sondern als Betrachten einer Sache, das diese im Ganzen erfasst. Weiterhin dürfte hinter den Konfusionen eine Vermengung von zwei Gesichtspunkten eine Rolle spielen, demjenigen, ob etwas eine Tätigkeit im Unterschied zu einer Bewegung ist, und demjenigen, ob etwas um seiner selbst willen gewünscht wird oder nur als Mittel zu einem Ziel außerhalb. Die ontologisch-begriffliche Einsicht, dass eine Bewegung in dem von Aristoteles gemeinten Sinn keinen Endpunkt hat, vielmehr gerade nicht mehr vorhanden ist, sobald der gewünschte Zielpunkt, der sie definiert, erreicht ist, müsste man unterscheiden von der Frage, was um eines anderen Zweckes willen und was in sich selbst erstrebt wird. Hier wäre es denkbar, dass eine Bewegung, die wesentlich keinen Endpunkt hat, in sich so beschaffen ist, dass man ihre bloße Durchführung wollen könnte: BeiAuf diesen Punkt bin ich durch Gonzalez aufmerksam geworden. Für eine Darstellung des Problems siehe Ackrill 1965, 132 ff., der zu dem Ergebnis kommt, dass Aristoteles sich hier in einer Verwirrung befindet, die nicht auflösbar ist. 27 Diese letztere Deutung versucht Liske 171. Sie scheitert aber daran, dass Aristoteles die Freude am Hören auf das Hören einer harmonisch geordneten Tonfolge bezieht und Freude am Hören und Hören unter vollkommenen Bedingungen zusammenfallen. 25
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spielsweise ist Hausbauen eine poiēsis, also eine Unterart der kinēsis, daher ontologisch so beschaffen, dass der Vorgang wesentlich unvollendet ist; doch das schließt nicht aus, dass das Bauen von Häusern etwas ist, was manche Menschen gern tun. 28 Bewegungen und Tätigkeiten wären dann nicht in der Wirklichkeit zweierlei, sondern zwei Aspekte derselben Handlung. Vielleicht könnte man das Problem auch mit der Unterscheidung zwischen den zwei Bedeutungen von energeia fassen und sagen: Auch in einer technē-Handlung, die keine reine Tätigkeit ist, ihr Ziel nicht in sich selbst hat, kann sich das menschliche Sein aktualisieren. Sofern es sich dabei um unbehinderte Aktualisierungen der naturgemäßen Verfassung handelt, müssten auch diese Handlungen lustvoll sein.
3. Zusammenfassung und Vergleich der beiden Lustabhandlungen Aristoteles findet einen Lustbegriff vor, der auf das elementarste Lustphänomen, die sinnliche Lust, zugeschnitten ist, etwa wenn er gängige Thesen derart referiert, alle Menschen und Tiere suchten die Lust. Dabei ist gerade im elementaren Fall der Tiere deutlich, dass die Lust unmittelbar mit dem Bedürfnis zusammenhängt, dass sie Vorgänge begleitet, die einen Mangelzustand beseitigen. Noch bei Platon ist der Aspekt des Mangels, des Bedürfnisses, ein zentraler Bestandteil der Lustkonzeption.29 Aristoteles entdeckt demgegenüber neu, dass es Lust an Tätigkeiten gibt, die nicht aus einem Mangel hervorgehen, sondern in denen sich die menschliche Natur verwirklicht, wenn kein Mangel erfahren wird. Diese Art von Lust wird zwar in der ersten Lustabhandlung so beschrieben, dass sie die unbehinderte Tätigkeit selbst ist, während es in der zweiten Lustabhandlung heißt, die Lust sei nicht die Tätigkeit, sondern sei eine Tätigkeit in oder an der jeweiligen Tätigkeit, die Freude macht. Wie wir gesehen 28 Aristoteles selbst nennt in den Nachträgen in X 5 Beispiele, die für eine solche Auffassung sprechen, etwa die Vorliebe, ein Hausbauer zu sein (1175 a34). Dies hat eine Reihe von Interpreten zu der Annahme veranlasst, Aristoteles weite den Lustbegriff in der zweiten Abhandlung so aus, dass nicht nur eine Tätigkeit, sondern auch eine Bewegung als lustvoll erfahren werden kann (so z. B. Owen 1971/72, 151). Das ist schwer zu entscheiden. Einerseits scheint es merkwürdig, dass Aristoteles seine Lustkonzeption ohne jeden Kommentar auf die Bewegung ausdehnt. Andererseits gibt es Hinweise auf die Vorstellung, dass wir auch in technē-Handlungen das menschliche eidos verwirklichen (wenn auch in der Gestaltung äußerer Dinge), etwa in IX 7 (siehe unten S. 231). Für eine Explikation des Problems siehe Bostock 1988 und Ricken 1995, 214f. 29 Für einen Vergleich der Lustauffassungen von Platon und Aristoteles siehe Frede, Appendizes IV.
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haben, meint Aristoteles aber auch mit dieser zweiten Formulierung des Lustbegriffs, dass die Lust ein Aspekt oder eine bestimmte Qualität der Tätigkeit selbst ist. Was die Fassung des Tätigkeitsaspekts der Lust angeht, besteht daher zwischen den beiden Lustabhandlungen allenfalls ein Unterschied in der Nuance. Gemeinsam ist beiden Lustabhandlungen der Versuch, nun auch die sinnliche Lust nach dem Modell der Tätigkeitslust zu fassen, indem die Lust am Auffüllungsprozess als Wahrnehmungslust eines Rests der naturgemäßen Verfassung verstanden wird, der während der Auffüllung Tätigkeiten ausübt und sich dessen bewusst ist.30 Wie schon erwähnt, scheint das nicht sehr plausibel, und es gibt wenig Grund zu bestreiten, dass bestimmte Empfindungsqualitäten einfach in sich angenehm und wünschenswert sein können. Darüber hinaus gibt es sicher weitere Formen der Lust, die nicht in das Tätigkeitsmodell passen, etwa die Freude darüber, dass etwas der Fall ist. Aristoteles versucht stattdessen, alle Arten der Lust in die neu entdeckte Tätigkeitslust einzuordnen, indem er Lust als Weise des Vollzugs einer Tätigkeit fasst und sie dort, wo das nicht unmittelbar angemessen ist, als Lust der Wahrnehmung oder des Betrachtens der ursprünglichen Tätigkeit versteht. Wenn so die Lustempfindung letztlich an die eine Tätigkeit des Wahrnehmens bzw. Betrachtens gebunden wird, geht damit gerade die mehrmals formulierte Beobachtung verloren, dass jede Tätigkeit ihre eigene Lust hat und daher verschiedene Tätigkeiten um die menschliche Aufmerksamkeit konkurrieren und sich als vielfältige Bestandteile der eudaimonia anbieten. Die für uns nahe liegende Vorstellung, das gute Leben könne unter anderem in der Ausübung verschiedener Tätigkeiten bestehen, die Freude machen, würde Aristoteles sicher nicht bestreiten. Sein Punkt ist jedoch von Buch I an, dass gerade eine solche Vielfalt von Tätigkeiten, die miteinander in Konflikt stehen können, sich also gegenseitig behindern können (ebenso wie sie durch äußere Umstände behindert werden können), die Frage nach einer einheitlichen Konzeption der eudaimonia aufwirft, die das Leben im Ganzen und kontinuierlich gut macht. Wenn sich äußere und innere Hindernisse in der Realität nicht ausschließen lassen, liegt es nahe, diese Konzeption eher in einer Art und Weise oder Form des Lebens als in bestimmten Inhalten zu sehen. Die These in I 6, die die menschliche eudaimonia als Leben in der Betätigung der Vernunft bestimmt, scheint in der Tat ein eher formaler Vorschlag zu sein. Das gilt zumindest für die eine 30 Da der Rest ja die Auffüllung leisten müsste, ist nicht ganz klar, wie er Tätigkeiten statt Bewegungen ausüben kann. Aber vielleicht könnte man sich vorstellen, dass er nicht die Aufnahme, sondern die Assimilation etwa der Nahrung vornimmt und dieses Assimilieren eine Tätigkeit ist. Vgl. Gauthier/Jolif II, 793 f.
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der beiden Lebensweisen, die für Aristoteles Möglichkeiten der menschlichen eudaimonia darstellen, für das Leben in der Betätigung der ethischen aretē. Die Ausarbeitung dieser Lebensform für verschiedene Bereiche sagt nicht, welche Ziele wir uns im Leben vornehmen sollen, sondern erläutert, wie wir mit den verschiedenen Bereichen von Strebungen und Affekten, die Aristoteles als gegeben annimmt, umgehen sollten. Der Hinweis auf diejenige Art der eudaimonia, die in der Betätigung der menschlichen aretē besteht, kann vielleicht auch erklären, warum die erste Lustabhandlung anders als die zweite nicht von einem Objekt der Tätigkeit redet. Die erste Lustabhandlung steht am Ende der Untersuchung des Lebens der ethischen aretē. Hier ist das gute Handeln selbst, die eupraxia, das Ziel. Wenn eine äußere oder innere Situation, etwa das Auftreten einer Gefahr, die ethische aretē der Tapferkeit aktualisiert, dann ist nicht dieses auslösende Objekt das Objekt der praxis. Das Objekt der praxis ergibt sich aus der Aktualisierung der aretē; es besteht darin, das Richtige, das kalon, hier das Tapfere tun zu wollen, und dieses ist nicht wie das Wahrnehmungsobjekt ein vorgegebener intentionaler Gegenstand, sondern etwas, was vom Handelnden erst in der Betätigung der phronēsis für die gegenwärtige Situation ausformuliert werden muss. Das erklärt m. E., warum Aristoteles in Buch VII nur auf das Fehlen von Behinderung verweist, ohne das Objekt des Handelns zu nennen: weil hier nicht die Handlung an einem vorgegebenen Gegenstand vollzogen, sondern durch die Handlung erst ein Richtiges konstituiert wird. Genau genommen aber ist gerade für den Bereich der ethischen praxis die Bedingung der Unbehindertheit problematisch. Wie wir aus Buch II wissen, heißt Tapferkeit beispielsweise nicht, dass man keine Furcht kennt; angesichts großer Gefahren ist Furcht angemessen, und Tapfersein heißt in einer solchen Situation nur, dass man sich nicht blind der Furcht überlässt, sondern vernünftig überlegt, ob und wie man der Gefahr begegnen kann. Dann bleibt die Furcht auf einer ersten Ebene auch für den Tapferen eine Behinderung des lustvollen Vollzugs des gewollten Lebens. Um eine Konzeption dauerhafter und vollkommener eudaimonia anbieten zu können, wendet Aristoteles die Handlung der Tapferkeit aber auf zweiter Ebene in eine praxis um, deren Vollzug Freude macht. Diese Umwendung geschieht dadurch, dass die in ihrer Affektivität richtig gewöhnte Person es als lustvoll erfahren wird, die eupraxia auszuüben, das kalon zu realisieren. Diese höherstufige Lust an der Betätigung der ethischen aretē ist also eine Reflexionslust; sie tritt ein, wenn man sich selbst als eine Person betrachtet, die das Richtige tut. Sie konstituiert ein insgesamt gutes Leben, wenn die Person mit dem kalon dauerhaft identifiziert ist, sich daher immer wieder mit Freude als eine Person betrachten kann, die jetzt das kalon realisiert, auf diese Weise mit ihrem bisherigen Tun in Einklang
Zusammenfassung
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bleibt und auch künftig so handeln wird. Die Person gibt ja mit jeder einzelnen Handlung nicht nur eine jeweilige Konkretisierung dessen, was eupraxia heißt, sondern sie gibt damit, weil sich in den Handlungen des Menschen sein eidos verwirklicht, sich selbst Gestalt (siehe oben S. 132). Dann liegt die Lust nicht im Tätigsein ohne Hindernisse auf der ersten Handlungsebene, sondern in der Wahrnehmung des kalon, soweit es im eigenen Personsein bis zum jetzigen Zeitpunkt Gestalt angenommen hat, in einer reflexiven Wahrnehmung, die zugleich Verwirklichung des Menschen und Tätigkeit ist. Nach den Kriterien, mit denen Aristoteles Tätigkeiten von Bewegungen unterschieden hat, gilt außerdem für die Tätigkeit das Perfektkriterium, und das heißt, dass das eidos in jedem Augenblick des Tätigseins ganz aktualisiert wird. Auf dieser zweiten Ebene wäre das kalon weniger das ethisch Angemessene als vielmehr to kallos im Sinn der erwähnten Passage aus der EE, Schönheit in einem Sinn, der einheitliche Gestalt und Dauer umfasst und also als ästhetisch-ontologisch beschrieben werden kann. Dafür, dass Aristoteles die Lust an der ethischen praxis auf diese Weise an die Lust am Betrachten angleichen möchte, spricht die noch zu interpretierende Freundschaftsabhandlung. Dort sagt Aristoteles nicht nur, dass der ethisch gute Mensch mit sich selbst eins ist und sein Sein bejaht und daher als lustvoll erfährt (IX 4). Er sagt darüber hinaus (IX 9), dass der tätige Vollzug des eigenen Lebens mit Wahrnehmung einhergeht und dieses Wahrnehmen des Lebens, das gut vollzogen wird, lustvoll ist. Wenn Aristoteles letztlich auch die Freude an der eupraxia als Reflexionslust oder Lust an der Wahrnehmung versteht, erweist sich, dass er letztlich alle Arten der Lust auf Wahrnehmungslust zurückzuführen versucht. Dass diese Art der Lust in Buch X im Vordergrund steht, erklärt auch, warum in der zweiten Lustabhandlung von einem Objekt die Rede ist, an dem sich die Tätigkeit vollzieht. Das Leben der Betrachtung ist, wie wir gleich im nächsten Kapitel sehen werden, für Aristoteles die höchste Art der eudaimonia. Sie besteht in einer besonderen Tätigkeit, die sich an einem ausgezeichneten Gegenstand vollzieht, im Betrachten der immer seienden notwendigen Dinge, letztlich des göttlichen Seienden. Dieses, der unbewegte Beweger, ist für Aristoteles das Modell der Reflexionslust. Er ist ununterbrochen tätig, da er ohne Materie ist und daher seine Tätigkeit nicht behindert werden kann, und er erlebt seine Tätigkeit ständig als lustvoll, da er sie unmittelbar wahrnimmt und sich daran freut, dass sie kalon ist. Ein weiterer Unterschied zwischen Buch VII und Buch X betrifft die Rolle, die Aristoteles der Lust in der eudaimonia zumisst. In Buch VII scheint er eine Art von Hedonismus zu vertreten, also eine Theorie, die besagt, die Lust sei das Gute oder das Beste. Jedenfalls gibt er dort Eudo-
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xos recht, eine bestimmte Lust könne das Beste sein. In Buch X hingegen bestreitet Aristoteles das und betont, man erstrebe vieles, auch wenn es keine Lust bringt, beispielsweise das Denken oder das Handeln im Sinn der ethischen aretē. Doch auch dieser Unterschied löst sich bei näherem Hinsehen auf. Die Aussage, dass wir vieles auch ohne Lust wählen würden, ist im Sinn der Reflexionslust, auf die Aristoteles letztlich alle Lust zurückführt, nicht zutreffend, weil sie gerade mit den genannten Zielen verbunden ist. Aristoteles weist den Hedonismus in Buch X dennoch mit guten Gründen zurück. Denn wie wir gesehen haben, ist die Lust, um die es Aristoteles im Kontext der eudaimonia geht, nicht eine abgetrennte Empfindungsqualität, die man für sich zum Strebensziel machen kann. Sie ist vielmehr den Tätigkeiten und vielleicht auch anderen Teilen des Lebens inhärent, sie ist ein Aspekt an der unbehinderten Tätigkeit bzw. an der Wahrnehmung des kalon. Wie wir sehen werden, können wir dieses entweder direkt zu verwirklichen versuchen im Leben der Betrachtung des göttlichen Seienden, oder wir können es indirekt zu verwirklichen versuchen durch das ethische Leben, in dem wir bestrebt sind, uns selbst nach und nach eine dem kalon nahe kommende Form zu geben und uns in dieser Form zu betrachten. Die Erläuterung dieser beiden Lebensweisen ist das Thema der zweiten Hälfte des X. Buchs. Zuvor können wir festhalten, dass Aristoteles ein bestimmtes Phänomen entdeckt hat, die Freude an Tätigkeiten, die nicht der Bedürfnisbefriedigung dienen, sondern in denen wir unsere Fähigkeiten und Haltungen verwirklichen, dass er jedoch die alltägliche Rolle dieses Phänomens nicht sehr weit ausarbeitet, weil er mit seiner eudaimonia-Konzeption bestimmte metaphysische Absichten verfolgt und daher die Tätigkeitslust und vielleicht sogar jede Lust der Reflexionslust angleicht. Das ist nicht immer angemessen, denn die Freude an Körperbewegungen z.B. ist gewiss nicht eine Reflexionslust. Es ist vielleicht auch umgekehrt (wenn wir jetzt nicht alle Lust der Reflexionslust gleichsetzen) nicht angemessen, dass wir zum guten Leben nur Tätigkeiten rechnen, die lustvoll im Sinn der Unbehindertheit sind. Es könnte auch lustvoll sein, gerade etwas gegen Widerstände zu tun, etwa um an ihnen die eigenen Kräfte zu erfahren. Für die Frage, was alles subjektiv wünschenswerte Bestandteile eines guten Lebens sein können, reicht daher der Hinweis auf den Lebensvollzug in unbehinderten Tätigkeiten wohl nicht aus.31 Andererseits ist er für viele Lebensbereiche wichtig und müsste daher in seinem gewöhnlichen Sinn näher ausgearbeitet werden.
31 Einen Vorschlag, wie man ausgehend vom subjektiv Gewünschten zu einer Konzeption guten Lebens gelangen könnte, mache ich in Wolf 1984, Kap.VII.
IX. Freundschaft (VIII und IX) Noch vor zwanzig Jahren wurden Interpretationen über die Freundschaftsabhandlung in der EN mit dem Hinweis eingeleitet, dieses Thema sei, obwohl es bei Aristoteles breiten Raum einnimmt, in der Forschung wenig beachtet worden. Das hat sich geändert, seit das Thema „Freundschaft“ selbst neues Interesse findet. Man greift dabei häufig auf Aristoteles zurück, da er als Erster versucht hat, die Arten und Strukturen von Freundschaftsbeziehungen zu klären. Dabei ist allerdings zu beachten, dass das griechische Wort philia breiter verwendet wird als unser Wort „Freundschaft“. So ist für Aristoteles beispielsweise auch die Beziehung von Eltern zu Kindern oder zwischen Ehegatten ein Fall von Freundschaft.1 Übersetzungsprobleme bereiten auch verbale und adjektivische Formen wie philēton, das, was der Freundschaft wert ist, wofür gewöhnlich der Ausdruck „das Liebenswerte“, zu verstehen im weiten Sinn von „das Erstrebenswerte, Wünschenswerte“, verwendet wird. In den einleitenden Bemerkungen (VIII 1) nennt Aristoteles zwei Gründe, die die Behandlung der Freundschaft im Rahmen der ethischen Untersuchung erforderlich machen. Erstens: Die Freundschaft ist eine aretē oder mit aretē verbunden. Zweitens: Die Freundschaft ist ein notwendiger Bestandteil des guten Lebens. Der zweite Punkt wird unmittelbar im Anschluss erläutert, der erste nur kurz in 1155 a28 ff. Zur Stützung des zweiten Punkts, der im Wesentlichen die Perspektive der Freundschaftsabhandlung insgesamt ausmacht, betont Aristoteles den Nutzen der Freundschaft in verschiedenen Lebenslagen und Lebensaltern (1155 a5 ff.), weist auf die natürliche Grundlage der Freundschaft hin, die in der Tierwelt ebenso wie zwischen Menschen vorkomme (a16 ff.), und erwähnt schließlich den Beitrag der Freundschaft zum Zusammenhalt der Polis, der durch Gerechtigkeit allein nicht zu sichern sei (a22ff.). Der als erster genannte Grund für die Behandlung der Freundschaft, die Nähe von Freundschaft und ethischer aretē, wird nur kurz angesprochen (1155 a28 ff.) und zunächst dahingehend beschieden, die philia sei ein 1 Zu unserem Begriff der Freundschaft im engeren Sinn dürfte hingegen gehören, dass diese Beziehung nicht von Natur aus besteht, sondern freiwillig eingegangen wird – wobei man die Möglichkeit einbeziehen kann, dass sich zwischen von Natur aus Nahestehenden nachträglich eine Freundschaft entwickelt. Vgl. dazu Vogt 522f.
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Freundschaft (VIII und IX)
kalon und es sei lobenswert, viele Freunde zu haben. Lobenswert und kalon zu sein aber waren Merkmale der aretē. Die Frage, ob die philia selbst eine aretē oder nur ein verwandtes Phänomen ist, wird von Aristoteles nicht zusammenhängend, sondern an verstreuten Textstellen erörtert (diese werden ausgewertet in 1.c) (iii)). Die Freundschaftsabhandlung erstreckt sich über zwei Bücher, nimmt also großen Raum ein. Der Text ist insgesamt in keiner guten Verfassung; er enthält Wiederholungen und abrupte Sprünge, und manche Passagen scheinen an die falsche Stelle geraten zu sein. Dennoch kann man eine grobe Ordnung erkennen. Die Abhandlung beginnt mit einleitenden Bemerkungen in VIII 1 und lässt sich dann in drei Hauptteile gliedern: VIII 2–10 bestimmt den Begriff der Freundschaft und erläutert die Arten der Freundschaft (dazu 1.), wobei weitere Aussagen über Arten der Freundschaft in die Passagen über die politische Freundschaft eingestreut sind; VIII 11 bis IX 3 thematisiert die politische Freundschaft (dazu 2.); IX 4 und IX 8–12 befassen sich mit der Freundschaft des Menschen mit sich selbst (3.). IX 5–7 enthält diverse Nachträge. Ich stelle die Hauptpunkte in der sachlichen Ordnung dar.
1. Definition und Arten der persönlichen Freundschaft (VIII 2–VIII 10) Wie üblich nennt Aristoteles zunächst einige Aporien und strittige Fragen (1155 a32–1155 b16), die zu seiner Zeit diskutiert werden. Sie lauten unter anderem, ob Gleiche oder Verschiedene befreundet sind (1155 a 32–b8), ob alle Menschen Freundschaft ausbilden können oder die Schlechten nicht, und ob es nur eine Form der Freundschaft oder verschiedene Formen gibt. Diese Fragen liegen dem ersten Hauptteil der Untersuchung zugrunde, den ich in drei Schritten behandle: a) Definition des Begriffs der Freundschaft, b) Arten der Freundschaft im Hinblick auf die Gründe der Freundschaft, c) Arten der Freundschaft im Hinblick auf die Gleichheit bzw. Ungleichheit der Freunde.
a) Allgemeine Bestimmung der Freundschaft (1155b17–1156a5) Aristoteles beginnt nicht mit dem Begriff der philia, sondern mit dem Begriff des philēton, des Liebenswerten bzw. Erstrebenswerten. Er nennt drei Gegenstände des Liebens oder Strebens, die der Einteilung entsprechen, die wir aus früheren Büchern kennen, das Gute, das Angenehme (die Lust) und das Nützliche. Da diese die unterschiedlichen Formen der Freundschaft konstituieren, gehe ich erst in der Bestimmung der Freund-
Arten der persönlichen Freundschaft (VIII 2–VIII 10)
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schaft auf sie ein. Während Platon im Lysis durchgängig die Thematik der Liebe zwischen Freunden mit der der Liebe zu Sachen (dem Erstreben von Zielen) verflicht, 2 nimmt Aristoteles nach den Bemerkungen über das philēton eine Aufteilung dieser beiden Phänomene vor (1155 b27 ff.): Das Lieben (philēsis) lebloser Dinge könne man nicht „Freundschaft“ (philia) nennen, weil hier zwei entscheidende Merkmale der Freundschaft fehlen: Erstens ist keine Gegenliebe möglich, und zweitens kann man hier nicht dem Gegenstand des Liebens Gutes wünschen, wie man dies für den Freund tut. Aristoteles schränkt daher die Bedeutung des Ausdrucks philia so ein, dass sie unserer Rede von Freundschaft zumindest nahe kommt, wenn sie auch immer noch etwas allgemeiner ist, nämlich jede Art von positiver menschlicher Beziehung bezeichnet, in der man dem anderen Gutes wünscht. (Dennoch bleibt der Gebrauch der Ausdrücke teilweise verwirrend, denn wie wir sehen werden, hält Aristoteles sich nicht überall an diese Ankündigung. Vielmehr wird er manchmal auch dort von philia oder zumindest von philos, „Freund“ reden, wo die Entgegnung fehlt.) Als Kern der Freundschaft erweist sich gemäß den bisherigen Beobachtungen, dass man dem Freund Gutes wünscht, ihm Wohlwollen entgegenbringt. Dieses ist nach Aristoteles jedoch nur ein Bestandteil der Freundschaft (1155 b32 ff.). Denn Wohlwollen (eunoia) liegt schon vor, wo der eine dem anderen Gutes wünscht, ohne dass dieser dasselbe tut, während zur Freundschaft gehört, dass das Wohlwollen erwidert wird. Weiterhin darf das Wohlwollen nicht verborgen bleiben, wenn man von Freundschaft reden will. Das wechselseitige Wohlwollen, das Wollen des Guten füreinander, ist das telos der Freundschaft, das, worauf Handlungen der Freundschaft abzielen. Davon unterscheidet Aristoteles den Grund (das dia ti) der Freundschaft. Dieser besteht in einem der drei Gegenstände des Strebens, also dem Guten oder dem Nutzen oder der Lust. Dann ergibt sich als allgemeine Bestimmung von Freundschaft: Freunde müssen einander wohl wollen, sich Gutes wünschen, ohne dass es verborgen bleibt, und zwar aus einem der genannten Gründe (1156a3–5). Diese Bestimmung der Freundschaft enthält zwei Komponenten, die in einer gewissen Spannung stehen. Denn wie kann man dem Freund Gutes wünschen, wenn der Grund der Freundschaft ist, dass der Freund gut, nützlich oder angenehm ist, wenn man ihn also genau genommen liebt, weil er eine dieser Eigenschaften hat?3 Dass Freundschaft nur vorliegt, wo man tatsächlich dem anderen Gutes wünscht, und nicht letztlich nur das Gute im Hinblick auf etwas, dessentwegen man die Freundschaft eingegangen ist, versucht Aristoteles durch die für uns eher pleonastische Formulierung 2 3
Dazu Annas 1977, 536. Dieses Problem wird formuliert bei Price 1989, 103 und Ricken 2004, 117.
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Freundschaft (VIII und IX)
klarzumachen, man wünsche dem Freund Gutes um seinetwillen (ekeinou heneka). Um das zugrunde liegende Problem genauer zu verstehen und zu beurteilen, ob Aristoteles es auflösen kann, müssen wir uns seiner Auffassung von den verschiedenen Arten der Freundschaft zuwenden.
b) Die drei Arten der Freundschaft aufgrund des Guten, des Angenehmen und des Nützlichen (VIII 3–7) (i) Die Freundschaft aufgrund des Angenehmen und des Nützlichen (VIII 3). Wie es drei Gründe der Freundschaft in den drei Strebensgegenständen gibt, so gibt es drei Arten der Freundschaft. Für alle gelten die Kriterien der Wechselseitigkeit der Beziehung und der Unverborgenheit des Wohlwollens. Behandelt wird zunächst die Freundschaft wegen des Nutzens und des Angenehmen. Für diese beiden Formen der Freundschaft trifft nun genau genommen nicht zu, dass man dem Freund um seinetwillen das Gute wünscht. Daher bezeichnet Aristoteles Menschen, die sich wegen des gegenseitigen Nutzens oder Lustgewinns lieben, nur als Freunde im akzidentellen Sinn; sie lieben den anderen nicht aufgrund dessen, dass er ist, was er ist (1156a17f.), und sie wünschen ihm daher auch das Gute nicht einfachhin, sondern in der Hinsicht, in der sie ihn lieben (1156 a10). Dass diese Formen sekundär sind, zeigt sich an ihrer Kurzlebigkeit (1156a19ff.); wenn sich der Inhalt des Nützlichen oder Angenehmen ändert, löst sich die Freundschaft auf, wo dies ihre alleinige Grundlage war. Fragen wir uns anhand des Nützlichen, warum das überhaupt noch eine Beziehung der Freundschaft und nicht ein bloßes Benutzen des anderen ist. Letzteres ist jedoch nicht, was Aristoteles mit der Nutzenfreundschaft meint. Gemeint ist vielmehr eine Beziehung, in der die eine Person (A) der anderen (B) das Gute wünscht im Hinblick auf den von beiden erstrebten Gegenstand des Nützlichen, ihr also das für sie (B) Nützliche wünscht.4 Zum Beispiel: Wenn zwei Geschäftsfreunde A und B aufgrund des Nutzens befreundet sind, wünscht der eine (A) dem anderen (B) das Gedeihen seiner (B’s) Geschäfte. Dennoch ist das Umwillen hier nicht die Person selbst, sondern ihr Nützliches, und daher ist dies kein Fall, wo man dem Freund um seinetwillen Gutes wünscht. Analoges gilt, wo der Grund der Freundschaft, das Erstrebte, die Lust ist. Daher handelt es sich für Aristoteles bei der Freundschaft wegen des Nutzens und des Angenehmen um sekundäre Formen der Freundschaft. 4 Dazu Ricken 2004, 118. Ich klammere vorläufig die Komplikation aus, dass die beiden Personen Verschiedenes lieben können, weil dieser Punkt im Augenblick noch keine Rolle spielt.
Arten der persönlichen Freundschaft (VIII 2–VIII 10)
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(ii) Die Struktur der Freundschaft im vollkommenen Sinn (VIII 4 bis 1156 b24). Vollkommen ist die Freundschaft zwischen den Guten, die sich darin gleich sind, dass sie die ethische aretē besitzen; sie wird daher manchmal auch als Charakterfreundschaft bezeichnet. Der Gute liebt den Freund als guten und wünscht ihm das Gute um seinetwillen oder – was für Aristoteles dasselbe bedeutet – um des Guten willen. Diese Gleichsetzung ist darin begründet, dass das ethische Gutsein das wesentliche Sein des Menschen ist. Das ethische Gutsein kommt dem Freund nicht akzidentell zu, sondern ist gerade das, was er selbst ist. Wenn das Sein der Freunde und das erstrebte ethische Gutsein zusammenfallen, ist damit die Frage beantwortet, wie man den Freund um seinetwillen lieben kann, obwohl der Grund der Freundschaft das Streben nach dem Guten ist. Die Freundschaft der Guten schließt auch das Nützliche und das Angenehme ein. Denn beiden ist das nützlich, was das Leben der Betätigung der ethischen aretē fördert. Was das Angenehme angeht, so haben wir gesehen, dass neben der sinnlichen Lust auch die Handlungen aufgrund der ethischen aretē lustvoll sind. Diese Lust wird vom Guten erstrebt, und ebenso machen ihm ähnliche Handlungen Freude, die der Freund tut, so dass sich beide an den Handlungen des jeweils anderen freuen und sich angenehm sind. (iii) Vergleich der eigentlichen Freundschaft mit den mangelhaften Formen der Freundschaft (VIII 5 und 6 bis 1157 b5, 1157 b13–24, 1158 a1–10, 1158 a18–36). Die Freundschaft zwischen Guten bedeutet, wie Aristoteles zusammenfasst, eine dauerhafte Wechselseitigkeit, da die ethische aretē etwas Beständiges ist. Die beiden anderen Formen, die auf dem Angenehmen und die auf dem Nützlichen beruhende, sind Freundschaften, sofern sie eine Ähnlichkeit mit der ersten Form aufweisen (1157 a1, a30 ff.).5 Diese Ähnlichkeit ist größer bei der Freundschaft aufgrund des Angenehmen. Aristoteles weist mehrmals darauf hin, dass alte und mürrische Menschen nicht leicht zur Freundschaft geeignet sind. Der Grund ist, dass sie keine Freude empfinden, lustlos, nicht zum Genießen des Angenehmen disponiert sind. Aristoteles betont in diesem Zusammenhang den subjektiven oder gefühlsmäßigen Aspekt der Freundschaft. Dieser ist kaum vorhanden, wo es beiden Seiten um Nutzen geht, während die Freundschaft Diese Auffassung unterscheidet sich von derjenigen in der EE (1236 a16 ff.), wo Aristoteles das Verhältnis als sogenanntes pros hen-Verhältnis bestimmt (siehe Ricken 2004, 119). Dieses ist dadurch definiert, dass in den abgeleiteten Bedeutungen die zentrale Bedeutung immer impliziert ist, was hier gerade nicht der Fall ist. Daher ist der Hinweis auf die Ähnlichkeit passender, der besagt, dass einige der Merkmale der eigentlichen Freundschaft auch in der Freundschaft aufgrund von Nutzen und Angenehmem enthalten sind. 5
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aufgrund des Angenehmen mit der eigentlichen Freundschaft diesen emotionalen Aspekt gemeinsam hat. Auch zur Freundschaft im vollkommenen Sinn gehört nicht nur das gemeinsame Sich-Freuen an der ethischen Handlung, sondern darüber hinaus, dass der andere bzw. seine Anwesenheit angenehm ist. Aristoteles erkennt hier also beiläufig ein Angenehmes an, das weder der sinnlichen Begierde noch der Wahrnehmungslust zuzurechnen ist. (iv) Die Personalität der eigentlichen Freundschaft. Ist Freundschaft eine aretē? (1156 b24–32, 1157 b5–13, 1157 b25–1158 a1, 1158 a10–18). Der Hinweis auf das Angenehme des Zusammenseins macht auf einen noch fehlenden Bestandteil in der Beschreibung der Freundschaft aufmerksam. Das wesentliche Menschsein realisieren alle, die ethisch gut sind, während der Freund, der geliebt wird, eine individuelle Person ist. Warum Freunde nicht austauschbar sind, wird erst durch die konkrete Beschaffenheit der Freundschaft verständlich. Wie Aristoteles ausführt, braucht Freundschaft zur Entstehung Zeit und Gewöhnung (1156 b26), sie baut sich allmählich nach langer Zeit des Zusammenseins auf, in der sich gegenseitige Zuneigung und Vertrauen entwickeln. Freundschaft ist dann wesentlich eine Angelegenheit zwischen bestimmten Individuen, die Teile ihres Lebens gemeinsam verbringen. Da sich auch der Charakter in der Zeit entwickelt, könnte man die Freundschaft der ethisch Guten vielleicht so auffassen, dass sie gemeinsam an der Vervollkommnung ihres Charakters und dem daraus folgenden ethischen Handeln arbeiten.6 Hat sich auf diese Weise die Freundschaft im Zusammenleben entwickelt, kann sie auch dann weiterbestehen, wenn die Freunde getrennt sind und die Aktualisierung der Freundschaft im gemeinsamen Handeln entfällt (1157b5ff.). Dass wir zwischen dem bloßen Vorhandensein und dem Aktualisieren der Freundschaft unterscheiden können, bringt Aristoteles auf die in der Einleitung in VIII 1 (1155 a4) aufgeworfene Frage zurück, ob die philia eine aretē ist; denn bei der aretē bestand ja ebenfalls der Unterschied zwischen Haben und Aktualisieren. Wenn Aristoteles durchweg mit Ausdrücken der Ähnlichkeit operiert (1157 b28), kann man vermuten, dass er die Freundschaft nicht unter die aretai einordnen will, dass seine These vielmehr lautet, sie sei etwas mit einer aretē Verwandtes. Eine aretē war, wie wir in Buch II gesehen hatten, die gute hexis zu einem jeweiligen Affektbereich, die sich in guten Handlungen äußert. Die These der Ähnlichkeit stützt Aristoteles nun auf die Aussage, das Lieben (philēsis) gleiche einem Affekt, die Freundschaft aber einer hexis. Wenn Aristoteles das Lie6 Cooper 1980, 308 weist darauf hin, dass die Freundschaft auf der Grundlage des Guten nicht immer die zwischen vollkommen guten Menschen ist, dass es vielmehr genügt, wenn beide einen durchschnittlich guten Charakter haben.
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ben mit dem Wählen parallelisiert, das kein Affekt ist (1157b26), erscheint die Annahme, dass es einem Affekt gleichen soll, allerdings problematisch. Auch die These, die Freundschaft gleiche einer hexis, ist nicht befriedigend. Zwar könnte man sagen, dass beide Freunde eine bestimmte Einstellung haben müssen. Doch war eine der Bedingungen von Freundschaft, dass sie erwidert wird, also wesentlich eine Relation zwischen zwei Personen ist. Auch der kurze Hinweis auf die Lehre von der mesotēs (1158a10ff.) verstärkt nur den Eindruck, dass die Freundschaft sich nicht als aretē einordnen lässt. Denn dass zwar mit vielen die Freundschaft auf der Grundlage des Nützlichen und Angenehmen möglich ist, die Freundschaft aufgrund des Guten jedoch nur mit wenigen, liegt – auch nach der Begründung, die Aristoteles selbst gibt – nicht daran, dass der „Affekt“ des Liebens sonst zu groß wäre, sondern daran, dass diese eigentliche Art der Freundschaft gemeinsame Lebenserfahrung und langes Sich-aneinander-Gewöhnen erfordert, was nur mit wenigen möglich ist. Die einzig klare Beziehung, die Aristoteles zwischen Freundschaft und ethischer aretē herstellt, liegt demnach darin, dass es keine Freundschaft im eigentlichen Sinn gibt, ohne dass die in der Freundschaftsrelation stehenden Personen die ethische aretē besitzen.
c) Verschiedene Arten der Freundschaft im Hinblick auf die Gleichheit (1156a16–1157b5, VIII 8–10) In den einleitenden Bemerkungen in VIII 1 hatte Aristoteles die strittige Frage erwähnt, ob Freundschaft zwischen Gleichen oder zwischen Ungleichen besteht. Wie wir inzwischen gesehen haben, ist für ihn der paradigmatische Fall von Freundschaft eine Beziehung zwischen Guten. Die vollkommene Art der Freundschaft setzt für Aristoteles Gleichheit in der ethischen aretē, und das heißt letztlich, Gleichheit im personalen Sein, voraus. Dagegen erfordern die unvollkommenen Arten der Freundschaft eine solche charakterliche und damit personale Gleichheit nicht, sind also in diesem Sinn zwischen Beliebigen möglich, auch zwischen einem Guten und einem Schlechten oder zwischen zwei Schlechten (1157a16ff.). Sie lassen Ungleichheit auch in dem weiteren Sinn zu, dass die Personen nicht aus demselben Grund Freundschaft suchen, sondern z. B. der eine die Lust, der andere den Nutzen erstrebt. Quer zu den bisherigen Einteilungen der Freundschaft stehen Beziehungen zwischen Ungleichen in dem Sinn, dass die eine Seite der anderen überlegen ist. Beispiele sind die Freundschaft von Eltern zu Kindern, die Mutterliebe, die Freundschaft von Mann zu Frau und vom Herrscher zum Beherrschten (also Fälle, in denen wir heute kaum von Freundschaft
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reden würden). Die ungleichen Beziehungen charakterisiert Aristoteles teilweise so, dass der Überlegene für den Schwächeren mehr tut, während dafür der Schwächere den Überlegenen mehr liebt (1158b25). Am Beispiel der Mutterliebe wird Aristoteles jedoch auf die Möglichkeit aufmerksam, dass gerade die überlegene Seite auch mehr liebt und sogar ohne Erwartung von Gegenliebe zu lieben bereit ist (1159a27ff.).7 Diese Beobachtung befindet sich allerdings im Widerspruch zu einem der Kriterien, die Aristoteles ursprünglich in der Definition der Freundschaft festgelegt hatte, wonach Freundschaft nur vorliegt, wo das Lieben erwidert wird (1155 b34 ff.). Wenn Aristoteles jetzt an manchen Stellen die Liebe, die vom überlegenen Teil ausgeht, als primäre Art bezeichnet, passt das zu der bisherigen Konzeption weiterhin deswegen nicht, weil in dieser die Freundschaft zwischen gleichen Guten der paradigmatische Fall ist. Da die Aussagen über die ungleiche Freundschaft schwanken und in ihrem systematischen Stellenwert unklar bleiben, nehme ich sie erst im Zusammenhang der politischen Freundschaft auf, wo sie deutlicher eingeordnet sind. Auch wenn sich vorläufig keine Erklärung des Schwankens abzeichnet, ist doch in einer Hinsicht leicht zu verstehen, wie Aristoteles auf einseitige Formen der Freundschaft kommt. Für diese gibt es nämlich, zumindest aus der Perspektive des unterlegenen Teils, eine Erklärung, während offen ist, warum der Gute Freunde braucht, wenn er die eudaimonia besitzt und diese autark ist. Die aristotelische Antwort auf diese offene Frage ist zweigeteilt. Sie besteht zum einen im Versuch, das reziproke Brauchen in die Vorstellung der eudaimonia zu integrieren, indem politische Gemeinschaft und Freundschaft zusammengesehen werden (siehe 2.). Und sie besteht zweitens in dem Versuch, vollkommene personale Freundschaftsverhältnisse sowohl gleicher wie ungleicher Art aus der Struktur der Liebe der Person zu ihrem eigenen Sein abzuleiten (siehe 3.).
2. Politische Freundschaft (VIII 11–IX 3) Bereits zu Anfang des V. Buchs hatte Aristoteles erwähnt, die Freundschaft halte die Staaten zusammen, und in VIII 1 (1155 a22 ff.) weist er da rauf hin, dass Freundschaft zwischen den Bürgern Gerechtigkeit mit umfasst, Gerechtigkeit ohne Freundschaft hingegen für die Einheit des Staates nicht ausreicht. Diese Freundschaft, die Aristoteles als politische bezeichnet (1167 b2), muss von der bisher behandelten Freundschaft zwischen Personen, die eine gemeinsame Lebenspraxis haben, verschieden sein, da sie zwischen allen Bürgern des Staates bestehen soll. 7
Die Inkonsistenz konstatiert auch Pakaluk 1998, 103.
Politische Freundschaft (VIII 11–IX 3)
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a) Die Konstitution der politischen Freundschaft Wie wir in Buch V gesehen haben, erklärt Aristoteles den Zusammenhalt der Polis durch den Bedarf, also dadurch, dass die Individuen einander bzw. ihre Produkte und Dienstleistungen brauchen. Das legt eine Nutzenfreundschaft, eine Vertragsbeziehung zum gegenseitigen Nutzen nahe. Wenn diese Art der Freundschaft nach Aristoteles nicht genügt, dann ist die Frage, wie das Mehr, das den Kooperationszusammenhang in einer stabilen Polis auszeichnet, zu verstehen ist. Das Mehr rekonstruiert Aristoteles auf verschiedene Weisen. (i) In der Politik verweist er darauf, dass die Polis sich aus kleineren Einheiten, so genannten Gemeinschaften (koinōniai) zusammensetzt, und diese wiederum aus Haushalten oder Familien. Innerhalb dieser kleinsten Einheiten bestehen persönliche Freundschaften. Aristoteles versucht nun, die politische Freundschaft als ein Netz sich überlappender persönlicher Freundschaften zwischen Verwandten zu fassen (Politik 1280 b33 ff.). (ii) Eine abstraktere Erklärung ist der Hinweis auf das gemeinsame Interesse der Bürger am Zweck des Staates, der eudaimonia aller Mitglieder (1280 b 40 ff.). Sehen wir genauer an, was diese Erklärungen leisten. (i) Die Vernetzung kleiner Gemeinschaften. In EN VIII 11 weist Aristoteles darauf hin, dass Gemeinschaft, Freundschaft und Gerechtigkeit die gleiche Reichweite haben. Der Begriff der Gemeinschaft ist also der, in den die beiden anderen eingebaut sind. Gemeinschaften unterscheiden sich zum einen wie die Freundschaft dadurch, ob sie dem Nutzen, dem Angenehmen oder dem Guten dienen, zum anderen durch ihre Größe. Die kleinste Gemeinschaft besteht aus zwei Freunden. Andere Gemeinschaften sind die Familie, die Gemeinschaft von Kriegsgenossen, Kultgemeinschaften usw. Alle diese Gemeinschaften sind letztlich Teile der Polisgemeinschaft (1160 a28 f.). Obwohl man vielleicht auf den ersten Blick die politische Gemeinschaft für die grundlegende halten könnte, ist die Erklärungsrichtung bei Aristoteles umgekehrt. So erläutert er in VIII 12 die Verschiedenheit der Staatsverfassungen durch den Hinweis, dass es Vorbilder der Strukturen, welche die Monarchie, Demokratie, Aristokratie usw. konstituieren, bereits in der Ordnung des Haushalts gibt (1160b23f.). Dass die Beziehungen im Haushalt bzw. der Familie eine besondere Rolle für die Rekonstruktion der politischen Freundschaft spielen, zeigt deren ausführliche Darstellung in VIII 14.8 Zu Beginn dieses Textstücks unterscheidet Aristoteles zwei Formen der persönlichen Freundschaft, einmal die Freundschaft zwischen Gefährten (also die in 1. behandelte) und zweitens die zwischen Verwandten bzw. innerhalb der Familie: die Bezie8
Siehe dazu auch Ricken 2004, 115–126.
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Freundschaft (VIII und IX)
hung von Mann und Frau, von Eltern (bzw. Vater) und Kindern (und später auch von Kindern zu Eltern), sowie von Geschwistern zueinander. Am wenigsten in der Familienbeziehung verankert ist die Geschwisterbeziehung, denn dieselbe Art der Freundschaft, die zwischen Geschwistern besteht, kann nach Aristoteles auch zwischen anderen Gleichaltrigen bestehen, die zusammen aufwachsen; diese Freundschaft gleicht so der zwischen Gefährten (1161 b33 ff., 1162 a9 ff.). Das bestätigt, dass gerade diejenige Freundschaft, die bisher die vollkommenste sein sollte, die Freundschaft zwischen Gleichen, zur Erklärung des Zustandekommens von Freundschaft am wenigsten beiträgt. Die beiden anderen Beziehungen hingegen spielen eine entscheidende Rolle für die Erklärung der politischen Freundschaft. Die Mann-Frau-Beziehung eignet sich als Muster für die arbeitsteilige Kooperation auf der Basis persönlicher Freundschaft, die Vater-Kind-Beziehung als Muster für die Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten. Aristoteles sieht als primär jetzt die Freundschaft der Eltern zu den Kindern an, oder genauer die Freundschaft des Vaters zu den Kindern, der für diese sorgt, ihnen die Existenz, Nahrung und Erziehung gibt (1161 a16 f.; ähnlich im Staat die Freundschaft des guten Herrschers, der für seine Untertanen sorgt wie der Hirte für die Herde, 1161 a10 ff.). Die Auszeichnung der Vaterliebe könnte mit der aristotelischen Auffassung zu tun haben, dass Lebewesen ihr Sein fortsetzen, indem sie ihre Form (eidos) an andere Individuen weitergeben. Auf diese Weise wird die Liebe der Lebewesen zu ihren Kindern letztlich zu einer Art der Selbstliebe (1161 b27 f.), die sich in IX 4 als grundlegend für die Erklärung von Freundschaft erweisen wird. Unklar bleibt dennoch, warum Aristoteles jetzt die Vaterliebe als diejenige Art der Freundschaft bezeichnet, von der alle anderen Formen abhängen (1161 b17), statt mehrere irreduzibel verschiedene Arten der Freundschaft anzunehmen. Denn auch die Freundschaft zwischen Mann und Frau in der Ehe beschreibt Aristoteles auf eine Weise, die sie in besonderem Maß als Kern der politischen Gemeinschaft erscheinen lässt (1162 a16 ff.): Die Verbindung von Mann und Frau beruht auf Natur und ist ursprünglicher als die politische Gemeinschaft; sie hat ein gemeinsames Gut, die Zeugung und das Aufziehen der Kinder; sie enthält den Aspekt der Arbeitsteilung, der zur politischen Gemeinschaft gehört, sofern sich die Aufgaben beider ergänzen, und sie umfasst die drei Aspekte, die Aristoteles bezüglich der persönlichen Freundschaft erläutert hatte, Nutzen, Angenehmes und – wo beide gut sind – wechselseitige Freude an der aretē des anderen. Während bei gleichen guten Gefährten unklar war, wozu sie sich brauchen, hätten wir hier einen Fall gemeinsamer Aufgaben, der eine elementare Kooperation konstituieren kann, die gleichzeitig eine freundschaftliche Verbindung impliziert. (Für Aristoteles allerdings ist das keine
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völlig gleiche Relation, weil er der Überzeugung ist, dass von Natur aus meistens die männliche Seite besser zu leitenden Tätigkeiten geeignet ist; Politik 1259 b2 ff.). (ii) Die Eintracht der Bürger. Unsere Ausgangsfrage war, wie sich das Mehr, das die politische Gemeinschaft über bloße Verträge hinaus kittet, verstehen lässt. Was diese Frage betrifft, kann der Hinweis auf elementare Sozialbeziehungen in Familie und kleinen Gemeinschaften und auf die Vernetzung dieser Einheiten zwar Grundlagen der politischen Freundschaft aufweisen. Es bleibt aber das Problem, dass im politischen Handeln häufig Menschen miteinander konfrontiert sein werden, die sich nicht persönlich kennen, für die diese Vernetzung abstrakt bleibt und daher kein starkes Handlungsmotiv darstellt. Nun gibt es noch einen allgemeineren Überlegungsstrang, mit dem Aristoteles die politische Freundschaft zu rekonstruieren versucht. Wie wir in Kapitel IV gesehen haben, ist der Zweck der guten Polis die gemeinsame vollkommene und autarke Lebensweise, in der alle die eudaimonia realisieren können (Politik 1280 b40 ff.). Das gemeinsame Interesse an diesem Zweck bewirkt, dass man allen anderen Mitgliedern der Polis Gutes wünscht und dass sich so ein gemeinsames Wohlwollen aufbaut.9 Dass man dem anderen Gutes wünscht, war ein Grundmerkmal der Freundschaft. In der persönlichen Freundschaft musste hinzukommen, dass dieses Wohlwollen nicht verborgen bleiben darf. Für die politische Freundschaft hingegen genügt das bloße Wohlwollen, das auch verborgen bleiben kann (IX 5) (insbesondere dort verborgen bleiben wird, wo es gegenüber Unbekannten besteht). Auch die Eintracht (homonoia; IX 6) lässt sich als Stütze der politischen Freundschaft anführen, ohne dasselbe zu sein wie die Liebe zwischen zwei Individuen. Eintracht, Gleichgesinntheit, bedeutet nicht einfach die Gleichheit beliebiger Ansichten, sondern dass die Bürger der Polis einer Meinung über das Zuträgliche sind, dass sie dasselbe wünschen und dies auch tun. Wohlgesinntheit und Gleichgesinntheit sind also für Aristoteles affektive Bindungen an das Gemeinwohl, die – zumindest in der guten Polis – über eine bloß äußerliche Zweckgemeinschaft hinausgehen, aber von den Gefühlen, die der persönlichen Freundschaft zugrundeliegen, zu unterscheiden sind. Die Erläuterung der freundschaftlichen Bindungen, die die Polis bzw. ihre gerechte Ordnung zusammenhalten, gibt allerdings keine Anwort auf die weitere Frage, was konkret die richtigen Handlungen im Sinn der politischen Freundschaft sind. Die Annahme verschiedener sich überschneidender Gemeinschaften innerhalb der Polis wirft vielmehr gerade Gerechtig9
So Cooper 1998, Kap.16.
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keitsprobleme auf: Erstens die Frage, was innerhalb der verschiedenen Formen der Gemeinschaft die jeweils richtigen Weisen des Austauschs oder der Kooperation sind (b). Zweitens die Frage, wie wir uns bei Interessenkollisionen verhalten, die sich daraus ergeben, dass jedes Individuum der Brennpunkt verschiedener näherer und weiterer Gemeinschaften ist (c).
b) Gerechter Austausch in der Freundschaft (VIII 15–IX 1) Die relevanten Textstücke greifen auf die Bestimmung der Freundschaft zwischen Individuen zurück (1162 a34 ff.), gehören jedoch insofern in den Kontext der politischen Freundschaft, als sie Gerechtigkeitsfragen erörtern. Aristoteles erinnert an die drei Formen der Freundschaft aufgrund von Nutzen, Lust und Gutem und an die quer dazu stehenden Formen der Freundschaft zwischen Gleichen und Ungleichen. Was die Kooperation innerhalb der Freundschaft der Guten angeht, betont Aristoteles, dass hier der Austausch gern geschieht und nicht nur vertraglichen Austauschcharakter hat wie zwischen Gleichen, die eine bloße Nutzenfreundschaft unterhalten. Der Betrag dessen, was dem Freund als Gegenleistung für eine freundschaftliche Handlung zurückzugeben ist, wird so bestimmt, dass der Wert (axia) der Leistungen gleich sein muss. Das entspricht der Erklärung von Tauschbeziehungen in Buch V und braucht daher hier nicht vertieft zu werden (siehe oben S. 110ff.). In der Freundschaft zwischen Überlegenen und Schwächeren (VIII 16) besteht das Problem, dass der Unterlegene mehr braucht und von seinem Freund mehr erhält, als er beitragen kann. Das Problem wird von Aristoteles so aufgelöst, dass verschiedenartige Güter getauscht werden; der Überlegene gibt beispielsweise materielle Güter, der Bedürftige vergilt das mit dem Gut der Ehre. Auch diejenigen, die zum Gut der Polis beitragen, werden auf diese Weise belohnt, dass sie Ehre erhalten. Die politische Freundschaft setzt also genau genommen immer Ungleichheit in irgendeiner Hinsicht voraus. Auch in der Freundschaft zwischen Gleichgestellten kommt ein Austausch, eine Gemeinschaft nur zustande, wo das, was beide beizutragen haben, verschieden ist. Neben der Verschiedenheit des Beitrags innerhalb einer und derselben Art der Freundschaft gibt es, wie wir gerade gesehen haben, auch Mischformen der Freundschaft, z. B. dass der eine den Nutzen (materielle Güter) sucht, der andere die Ehre (die als eine Art Bestätigung der ethischen aretē anzusehen ist, 1159 a22 ff.). In IX 1 nennt Aristoteles als weitere Mischform die homoerotische Beziehung, in der der Liebhaber mit dem Geliebten aufgrund der Lust befreundet ist, der Geliebte mit dem Liebhaber jedoch aufgrund des Nutzens (1164a7f.).
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c) Gemeinschaften verschiedener Nähe und Ferne. Moralische Konflikte (1160a3–8, IX 2) Wenn es Freundschaft ebenso zwischen nahe stehenden Personen wie zwischen Bürgern gibt, die sich nicht näher kennen, dann tritt die Frage auf, ob beide Beziehungen dieselben Verpflichtungen enthalten und wie zu entscheiden ist, wenn Ansprüche von Freunden im engeren Sinn mit solchen der bloß politischen Freundschaft bzw. Gerechtigkeit kollidieren. Aristoteles unterscheidet zwischen Gemeinschaften verschiedener Nähe und nimmt an, dass zugefügtes Unrecht mit zunehmender freundschaftlicher Nähe wächst. Diese Auffassung, dass es schlimmer ist, einem Freund oder Verwandten zu schaden oder die Hilfe zu verweigern als einem Fremden (1160 a3–8), scheint grundsätzlich plausibel, insofern zwischen Freunden mehr Verflechtungen und daher auch mehr berechtigte Erwartungen bestehen. Wie Aristoteles in IX 2 darlegt, heißt das jedoch nicht, dass in jedem Einzelfall die Ansprüche der persönlichen Freundschaft den Forderungen der politischen Freundschaft bzw. Gerechtigkeit vorzuziehen sind. So solle man z. B. eher den zum Feldherrn wählen, der dazu am besten geeignet ist, als den eigenen Vater. Die Nähe der Beziehung ist daher nur ein Kriterium der Auflösung von Konflikten. Ebenso ist nach Aristoteles auf die Art der Freundschaft zu achten. Generell kann man daher nach seiner Auffassung nur sagen, dass jedem nach der Art des Verhältnisses das ihm Zustehende zu geben ist (1165 a14 ff.), den Älteren Ehre, den Freunden im engeren Sinn Offenheit und Gemeinsamkeit usw. Fragen wir anhand der verschiedenen Beispiele, die Aristoteles gibt, ob diese Unterscheidung von Arten der Beziehung hinreichend für die Auf lösung von Interessenkollisionen ist. Dass man den Vater nicht zum Feldherrn machen sollte, sondern den Kriegskundigsten, hat weniger mit der Verschiedenartigkeit von Beziehungen zu tun als vielmehr damit, dass man für Staatsaufgaben die Fähigsten wählen sollte, die Art der Beziehung also ein sachfremder Gesichtspunkt wäre. Dass man eher einem Wohltäter eine Schuld zurückgeben als einem Freund ein Geschenk machen sollte, liegt ebenfalls nicht am Unterschied der Beziehung. Denn nehmen wir an, der Wohltäter sei zufällig ebenfalls ein Freund, müsste das Urteil lauten, man solle eher einem Freund eine Schuld zurückzahlen als einem anderen Freund ein Geschenk machen. Der Unterschied liegt dann nicht in der Art der Beziehung, sondern im Unterschied zwischen – wie man heute sagt – negativen oder strengen und positiven Pflichten. Eine Schuld nicht zurückzuzahlen, bedeutet, eine Abmachung zu brechen, und dass man Abmachungen oder Versprechen nicht brechen sollte, gehört zu den strengen Pflichten. Jemandem etwas aus freien Stücken geben, schenken ist nicht Angelegenheit
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einer strengen Pflicht und tritt daher normalerweise hinter deren Forderungen zurück. An der Art der Beziehung würde nur liegen, dass man bei gleicher Notlage eher einem Freund als einem Fremden helfen sollte. Aristoteles ist hier also auf ein wichtiges Phänomen aufmerksam geworden und hat für die konkreten Konfliktfälle teilweise plausible Entscheidungsvorschläge. Die allgemeine Erklärung, die er dafür anbietet, ist jedoch nicht ganz angemessen. Das hängt sicher damit zusammen, dass er, obwohl er das Auftreten von Konflikten innerhalb der Freundschaft und Gerechtigkeit sieht, durch Hinweis auf Artunterschiede Konflikte als prinzipiell lösbar darzustellen versucht. Denn die Anerkennung echter nicht lösbarer Konflikte würde letztlich den aristotelischen Ansatz sprengen, der, wie wir in Kapitel VI gesehen haben, von der Einheit der praktischen Überlegung ausgeht.
3. Freundschaft und Selbstbeziehung (IX 4, IX 7–12) Aristoteles hat bisher verschiedene Formen der Freundschaft erläutert und mehrere davon als ausgezeichnet hervorgehoben. Die Freundschaft zwischen den Guten wurde als vollkommene Freundschaft eingeführt, die Mutterliebe, die nichts zurückverlangt, als vorbildlich erwähnt, und von der Vaterliebe hieß es, von ihr seien alle anderen Formen der Freundschaft abgeleitet. Bisher ist also nicht wirklich geklärt, was für Aristoteles der grundlegende Fall von Freundschaft ist und was entsprechend der Gehalt des Befreundetseins ist. Erst in IX 4 beginnen längere, mit Unterbrechungen bis zum Ende des IX. Buchs reichende Ausführungen, die sich der Frage nach dem Erklärungsgrund der Freundschaft zuwenden. Ausgangspunkt ist die These, dass die Merkmale der Freundschaft mit anderen aus den Merkmalen der Selbstbeziehung abgeleitet sind. Dabei handelt es sich zunächst um eine begriffliche These: Man kann nicht verstehen, was damit gemeint ist, dass zwei Menschen sich in einer Freundschaftsbeziehung befinden, wenn man nicht versteht, was es heißt, dass eine Person mit sich selbst in einer (guten) Beziehung ist (IX 4, siehe a)). Damit verbindet Aristoteles jedoch die ganz andere Frage, warum der Gute, der diese gute Beziehung zu sich selbst hat, davon abgeleitete Arten guter Beziehungen, eben Freundschaften, überhaupt braucht. Aristoteles beantwortet diese Frage durch Rückgriff auf die menschliche Natur (IX 7 und 9, siehe b)).
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a) Der begriffliche Zusammenhang von Freundschaft und Selbstübereinstimmung (IX 4) Aristoteles versucht die Freundschaftsbeziehung dadurch zu erklären, dass die Definitionsmerkmale der Freundschaft mit anderen Menschen (ta philika) aus den Definitionsmerkmalen der Beziehung zu sich selbst abgeleitet sind. Behauptet ist damit nicht, die Übereinstimmung mit sich sei die eigentliche Freundschaft. (Der Ausdruck „Freundschaft“ wird vorläufig für das Selbstverhältnis überhaupt nicht verwendet.) Hinter der Ausgangsthese steht aber zumindest die Annahme einer Isomorphie zwischen Freundschaft und Selbstbeziehung, die Annahme also, dass die Beziehung zu einem Freund dieselbe Gestalt hat wie die Beziehung zu sich selbst, insofern der Freund ein zweites Ich ist (1166a32).10 Zur Untermauerung der These zählt Aristoteles zunächst Definitionsmerkmale der Freundschaft auf, die sich teilweise mit den in den vorherigen Abschnitten erläuterten decken, hier jedoch ohne Rückgriff auf diese als gängige Meinungen angeführt werden: Als Freund bezeichnet man denjenigen, (1) der dem Freund um des Freundes willen Gutes wünscht oder tut, (2) der das Sein und Leben des Freundes um des Freundes selbst willen wünscht,11 (3) der mit uns zusammenlebt und dieselben Vorlieben hat oder (4) mit uns leidet und sich mit uns freut. Diese Kriterien sollen nun gerade auch auf die Beziehung zutreffen, in der der ethisch gute Mensch zu sich selbst steht (1166 a10 ff.). Er ist mit sich selbst eins und hat eine einheitliche Strebensausrichtung. Das heißt im Einzelnen: (1) Er wünscht und tut sich selbst Gutes um seiner selbst willen (genauer um des denkenden Teils (dianoetikon) willen, der ein jeder wesentlich ist). (2) Er wünscht sich zu leben und am Leben zu bleiben (genauer wiederum wünscht er das für den denkenden Teil), da dem guten Menschen sein Leben etwas Gutes ist. (3) Er will mit sich selbst zusammenleben, weil er in seinem Tun und Streben mit sich in Einklang ist, sich an der Erinnerung des Getanen freut und für die Zukunft gute Hoffnungen hat. (4) Er leidet und freut sich am meisten mit sich selbst, denn es ist ihm immer dasselbe angenehm und unangenehm. Da nun diese Merkmale beim guten Menschen in Beziehung auf sich Dazu Hardie 323f., Pakaluk 1998, 165. Aristoteles bezieht dieses Kriterium speziell auf Freunde, die sich überworfen haben, wohl weil hier gemeinsames Tun und Angenehmes nicht möglich sind und nur noch das bloße Interesse an der Existenz des anderen bleibt (vgl. Pakaluk 1998, 168). Man könnte in diesem bloßen Interesse an der Existenz eines anderen den Kern der Freundschaft sehen, der je nach Art der Beziehung auf verschiedene Weise realisiert wird. 10
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selbst vorliegen und der Freund ein anderer „er selbst“, ein anderes Ich ist, sind Freunde für ihn diejenigen, die diese Bedingungen ebenfalls erfüllen (1166 a29–b2). Explizit offen lässt Aristoteles an dieser Stelle die Frage, ob die Beziehung auch dort, wo sie sich auf die Person selbst bezieht, als Freundschaft zu bezeichnen ist (1166a33f.). Fragen wir uns, ob die Struktur der Selbstbeziehung des guten Menschen auf diese Weise angemessen beschrieben und die Analogie zur Freundschaftsbeziehung begründet ist, so weist zunächst die Art, wie Aristoteles das Selbstverhältnis des Guten fasst, einige Merkwürdigkeiten auf. Einleuchtend sind sicher die ersten beiden Punkte. Was es heißt, dass man einem Menschen einfachhin das Leben und Gutes wünscht, lässt sich paradigmatisch an der Beziehung der Person auf ihr eigenes Leben festmachen. Bereits hier ist allerdings die Formulierung auffällig, dass man genau genommen dem dianoetischen Teil das Leben und das Gute wünscht und dass das Sein der Person sogar letztlich in diesem Teil besteht. Noch befremdlicher erscheint in (3) und (4) die Rede von Zusammenleben, Mitleiden und Mitfreude, Phänomenen, zu denen es normalerweise gehört, dass mindestens zwei beteiligt sind. Die Beziehung, von der die Freundschaft begrifflich abhängen soll, ist dann offenbar gar nicht die Beziehung des Guten zu sich selbst, sondern die Beziehung eines seiner Teile zu einem anderen Teil. Dass Aristoteles verschiedene Teile der Seele annimmt, haben wir mehrfach gesehen, und die Frage ist jetzt, welche dieser Teile genau in welcher Relation stehen sollen. Am Ende von Buch V, wo Aristoteles die in der Struktur ähnliche Frage erörtert, ob man gegen sich selbst ungerecht sein kann, analysiert er die Frage so als sinnvoll, dass der vernunftlose Teil, also das Strebevermögen, vom vernunftbegabten Teil (logon echon) Unrecht erleiden kann (1138 b9). Analog wäre die positive Beziehung, wonach man sich Gutes tut, so zu verstehen, wie Platon sie im Staat (443d) beschreibt, wenn er von der Gerechtigkeit der Seele redet, die sich selbst Freund ist. Die innere Gerechtigkeit liegt nach Platon dann vor, wenn die übrigen Seelenkräfte auf die Anordnungen der Vernunft hören, innerer Aufruhr hingegen, wenn sie sich widersetzen. Das Übereinstimmen des guten Menschen mit sich selbst würde darin bestehen, dass er sowohl im jetzigen Zeitpunkt (synchron) in seinen Strebungen und überlegten Vorsätzen eins ist wie über die Zeit hinweg (diachron) einheitlich auf das Gute ausgerichtete Strebungen hat.12 12 Nach dem Muster der Ungerechtigkeit gegen sich selbst, wo die Vernunft dem Strebevermögen Unrecht tun kann, wäre allerdings die Freundschaftsrelation genau genommen eine zwischen Vernunft und Strebevermögen; die Vernunft müsste also diesem Gutes tun und wünschen. In IX 4 hingegen ist es der vernünftige
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Für diese Interpretation spricht die Art, wie Aristoteles das Selbstverhältnis der Schlechten darstellt (1166 b2 ff.). Diese sind, wie er ausführt, nicht in Übereinstimmung mit sich selbst, sondern in einem Zustand der inneren Zerrissenheit; sie unterscheiden sich von sich selbst, begehren das eine und wünschen das andere wie die Unbeherrschten, die nicht tun, was sie für gut halten, weil sie je nach Situation das Angenehme vorziehen oder feige sind. Sie suchen Menschen, mit denen sie zusammen sein können, weil sie sich selbst fliehen. Da sie nichts Liebenswertes an sich haben, können sie jedoch weder sich selbst gegenüber freundschaftlich gestimmt noch für andere als Freund erwünscht sein.13 Die innere Zerrissenheit entsteht hier also dadurch, dass das Strebevermögen sich nicht nach der Vernunft richtet. Doch vielleicht geht die Absicht des Texts darüber noch hinaus. Aristoteles identifiziert ja den Menschen hier letztlich mit dem denkenden Teil. Damit ist gemeint, dass die Vernunft die Form des Menschen ist, das, was sein wesentliches Sein ausmacht, während die Strebungen auf die Seite der Materie gehören, die den unbehinderten Vollzug des eigenen Lebens stören kann. Die Beschreibung der Selbstübereinstimmung und Selbstdiskrepanz setzt deutlich die aristotelische Lusttheorie voraus. Wer in seinen Strebungen mit der Vernunft übereinstimmt, kann das Leben der ethischen aretē unbehindert vollziehen, wer zerrissen ist, wird im Lebensvollzug behindert. Nun ist, wie wir in der Lustabhandlung gesehen haben, die Lust am ethischen Handeln letztlich eine Reflexionslust zweiter Stufe, die Lust am Betrachten der eigenen guten Handlungen bzw. ihrer Gestalt. Entsprechend sagt Aristoteles, dass der Gute reich an Betrachtenswertem (1166 a26) ist. Das Betrachten ist, wie wir im Detail erst im nächsten Kapitel sehen werden, die eigentlich lustvolle Tätigkeit, die das göttliche Seiende, der unbewegte Beweger, der nous, ununterbrochen ausübt. Weil sein Sein ohne Materie ist, ist dieses ständige verwirklichte Tätigkeit, im erläuterten Doppelsinn der Aktualität und der reinen Tätigkeit (siehe oben S. 202 f.). Nun Teil, dem das Gute gewünscht wird. Andererseits passt dazu nicht, dass Aristoteles die Selbstbeziehung mehrfach mit der Mutterliebe vergleicht. Der denkende Teil, dessen Sein gewünscht wird, kann nicht dem Kind entsprechen, dessen Sein die Mutter liebt, da das Kind gerade noch nicht vernünftig ist. Dieser Vergleich würde also eher zu der Konstruktion in Buch V passen. 13 Es fällt auf, dass Aristoteles hier anders als in den bisherigen Büchern die Schlechtigkeit an die Unbeherrschtheit angleicht. Da die Probleme, die das aufwirft, für die Freundschaftsthematik irrelevant, jedoch für die Frage nach der ethischen aretē und der akrasia wichtig sind, habe ich sie in Anmerkung 14 zu Kapitel VII behandelt.
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sieht Aristoteles in Buch X das eigentliche Sein des Menschen im nous, und auch in EN IX 4 setzt er das Wesen des Menschen zunächst mit der Vernunft allgemein (dem dianoetikon), wenig später aber spezieller mit dem nous gleich (1166 a22). Die Formulierungen sind außerdem teilweise im Wortlaut dieselben wie in Buch X; ebenso wird die lustvolle Tätigkeit und Selbstübereinstimmung des guten Menschen jetzt fast mit denselben Worten beschrieben wie die Einheit des Gottes in Buch XII der Metaphysik (1072 b16 ff.). Angesichts dieser Parallelen könnte man die merkwürdige Rede, dass wir am meisten dem denkenden Teil in uns das Gute wünschen usw., also auch so interpretieren, dass es sich um den göttlichen Teil im Menschen handelt. Das Paradigma der Übereinstimmung mit sich selbst wäre dann letztlich das göttliche Seiende, das nicht in Vernunft und materielle Teile zerfällt, sondern (synchron) vollkommen einfach und (diachron) immer dasselbe ist. Diese teilweise vorgreifenden Erläuterungen waren erforderlich, weil man, denke ich, nur so verstehen kann, inwiefern Aristoteles in der Beziehung des guten Menschen zu sich selbst die Beziehung sieht, von der aus sich die Freundschaftsrelation (und zwar beide Grundtypen, die zwischen Gleichen und die zwischen Überlegenen und Schwächeren) verständlich machen lässt. Die vollkommene Selbstbeziehung ist die unbehinderte reflexive Betrachtung des eigenen guten Tätigseins. Allerdings ist das menschliche Lebewesen nicht einfach, sondern hat materielle Teile, die die vollkommene Selbstbetrachtung, die Verwirklichung des Seins in dieser Tätigkeit, unterbrechen und die unmittelbare Selbstbeziehung stören. Es kommen dann mehrere Relationen ins Spiel, wenn wir fragen, was aus dieser vollkommenen Selbstbetrachtung des nous unter menschlichen Bedingungen wird. Einmal kann, wie wir in Buch X sehen werden, auch der göttliche nous im Menschen zeitweise sich selbst betrachten. Häufiger aber wird die Selbstbeziehung so aussehen, dass wir uns in der Gestalt unserer menschlichen Handlungen gegeben sind, die nicht nur vernunftgeleitet sind, sondern gleichzeitig materielle Teile, nämlich Strebungen, enthalten. Diese verwirklichen dort, wo beides auf richtige Weise zusammengefügt ist, das kalon und damit unser eigenes Sein, insofern wir unsere Taten erzeugen, wie wir Kinder erzeugen (siehe oben S. 132). Diese Handlungen sind nun nicht wie das reine Betrachten des nous selbstgenügsam, sondern sie vollziehen sich gewöhnlich an anderen Menschen, so dass die Betrachtung der eigenen Handlungen die Betrachtung ihrer Verwirklichung in anderen ist. Das ist der Erklärungsgrund der Freundschaft der Überlegenen zu den Schwächeren (IX 7, siehe b) (i)). Auch diese Form der indirekten Selbstbetrachtung in Handlungen, die das kalon verwirklichen, ist nicht ununterbrochen und für immer möglich,
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wie die vollkommene eudaimonia es verlangen würde. Allerdings sieht der gute Mensch die guten Handlungen der Freunde als zugehörig an, und indem er sie betrachtet, weitet er so die eigene eudaimonia aus. Obwohl Aristoteles sich in der Beschreibung der Freundschaft zwischen Guten, wie wir sehen werden, schwer tut und seine Intentionen nicht vollständig deutlich werden, könnte das oder Ähnliches den Hintergrund der Erklärung bilden (IX 9, siehe b) (ii)). Wenn diese verschiedenen Arten der Selbstbeziehung nicht nur die Strukturen von Freundschaftsrelationen erklären, sondern auch der Grund für das Zustandekommen von Freundschaften sind, liegt die Frage nahe, ob es Freundschaft im alltäglichen Sinn, wo man in der Tat den Freund um seinetwillen liebt, überhaupt gibt, ob nicht alle Freundschaften letztlich Hilfsmittel zur Ausweitung der eigenen eudaimonia sind (IX 8, siehe b) (iii)).
b) Die Erklärung der gleichen und der ungleichen Freundschaft (IX 7 und 9) (i) Warum die Überlegenen die Schwächeren lieben (IX 7). Während Aristoteles im Kontext des Warentauschs Beziehungen zwischen Überlegenen und Schwächeren durch den Austausch verschiedenartiger Güter zu beschreiben versuchte, nimmt er in IX 7 die Frage der Freundschaft der Überlegenen zu den Schwächeren aus einer grundlegenden Perspektive auf, die die Beziehung aus der Natur des Menschen (1168 a8), seiner ontologischen Verfassung abzuleiten versucht. Ausgehend von der Beobachtung, dass man in einer solchen Beziehung lieber auf der Seite des Überlegenen ist, sucht er nach einer Erklärung, warum die Wohltäter den Empfänger mehr lieben als umgekehrt. Die Erklärung beruft sich darauf, dass wir unser eigenes Sein oder (gutes) Leben lieben, dieses aber in der Tätigkeit bzw. Verwirklichung liegt (1168 a5 ff.). Wie unter a) ausgeführt, ist die höchste Form dieser Verwirklichung die Betätigung des nous, die nicht auf äußere Gegenstände angewiesen ist. Im gewöhnlichen menschlichen Leben jedoch geschieht diese Verwirklichung in Handlungen, die sich an Dingen oder Personen vollziehen. Aristoteles nennt drei Stufen einer solchen Verwirklichung des eigenen Seins. Eine erste Art, die noch keine personale Beziehung enthält, ist die hervorbringende Tätigkeit dessen, der eine technē ausübt. Dieser stellt Gegenstände her, denen er eine Form gibt. Da er diese Form gedacht hat und sie dann dem Produkt verleiht, könnte man sagen, dass sich sein Tun im Werk niederschlägt oder in ihm Gestalt annimmt. Darum liebt er sein Werk als Realisierung seines Seins. Die zweite Art ist die im Beispiel des Wohltäters genannte, also die Rea-
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lisierung einer ethischen praxis, die gegenüber einer anderen Person ausgeübt wird. Wer einer anderen Person Gutes erweist, der liebt das Ergebnis seines Tuns, die Wohltat, die der Empfänger erfahren hat. Aus der Sicht des Empfängers liegt hingegen keine solche Verwirklichung seines Lebens vor, da er passiv bleibt. Außerdem hat er nur einen vergänglichen Nutzen von der Tat, während der Wohltäter eine ethisch gute Tat geschaffen hat, ein kalon realisiert hat, etwas von einer dauernden Gestalt (1168 a16). Wir könnten uns daher fragen, ob genau genommen der Wohltäter den Empfänger der Tat liebt oder nicht letztlich sein eigenes Tun, sofern es gut ist, und damit sich selbst und nicht den anderen. Als Drittes nennt Aristoteles die Mutterliebe, die er schon mehrmals als ausgezeichnetes Beispiel von Freundschaft hervorgehoben hatte. Während die Mutterliebe nicht ganz in sein System passt und ihm wohl einfach als Phänomen in den Sinn kommt, kann man die Vaterliebe hier einordnen, insofern nach Aristoteles das männliche Lebewesen den Nachkommen die Form weitergibt. Wenn der Mensch daher, wie Aristoteles meint, wesentlich seine Form, der vernünftige Teil ist, dann liebt er gerade sich selbst, wenn er ein Wesen liebt, dem er seine Form gegeben hat. (ii) Brauchen die Glücklichen Freunde (IX 9)? Aristoteles beginnt wie üblich damit, dass er die gängigen Argumente für die Bejahung bzw. Verneinung der Frage anführt und sodann eine eigene Auffassung entwickelt. Gegen die Annahme, der eudaimōn brauche Freunde, spricht, dass er autark ist, dass ihm nichts fehlt (1169 b3–22). Aristoteles selbst hatte in I 5 festgelegt, dass eine angemessene Konzeption der eudaimonia die Kriterien der Vollständigkeit und Autarkie erfüllen muss. Braucht der eudaimōn Freunde, dann war die Bestimmung der eudaimonia durch das Gutsein bzw. gute Tätigsein der Person unvollständig. Andererseits (1169 b8 ff.): Freunde zu haben gilt erstens als das größte der äußeren Güter, also wird es dem Glücklichen nicht fehlen können. Zweitens braucht derjenige, der die ethische aretē besitzt, Menschen, denen gegenüber er sie betätigen kann, und es ist besser, Freunden Gutes zu tun als Fremden. Drittens ist der Mensch von Natur aus dazu gemacht, mit anderen zusammenzuleben, also kann man sich auch den Glücklichen nicht als Einsiedler vorstellen. Aristoteles konzediert zunächst der ersten Ansicht, der eudaimōn brauche in zwei Hinsichten keine Freunde (1169 b22–28). Er braucht keine Freunde, die ihm nützlich sind, da er alle Güter hat, und er braucht nicht die im Angenehmen gründende Freundschaft, da sein Leben ihm angenehm ist und er keiner zusätzlichen Lust bedarf. Da er Freunde dieser Art nicht braucht, schließt man, er brauche gar keine Freunde. Das folgt aber nicht. Um zu begründen, warum auch der eudaimōn Freunde braucht, nennt Aristoteles zunächst drei kurze Argumente (1169 b28–1170 a13), um
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sodann neu anzusetzen und ein zentrales Argument, das Ähnlichkeit mit dem ersten der drei hat, ausführlich zu entwickeln. Argument (1) erinnert daran (1169 b28–1170 a4), dass die eudaimonia in der Tätigkeit besteht, im Ausführen von Handlungen, die gut sind und Freude machen. Die Freude ist mit Wahrnehmung verbunden (siehe oben S. 195), wir können jedoch die gute Tätigkeit des Freundes leichter betrachten als die eigene. Argument (2) besagt (1170 a4–11), für einen Menschen allein sei die Betätigung mühsam, während das Tätigsein zusammen mit anderen die Freude an der Tätigkeit erhöhe und damit ihre Kontinuität steigere. Argument (3) beruft sich (1170 a11–13) auf die bekannte und Theognis zugeschriebene Annahme, das Zusammenleben bedeute eine Übung der aretē. Erst mit dem nächsten Schritt verlässt Aristoteles die populären Vorstellungen und gibt eine Erklärung der Notwendigkeit von Freundschaft, die er als mehr auf die Natur bezogen (physikōteron) einführt. Mit dem Verweis auf die Natur dürfte gemeint sein, dass jetzt die grundlegenden Formen der Freundschaft aus der Beschaffenheit der menschlichen Existenz abgeleitet werden sollen.14 Diese Herleitung (1170 a13–b19) trägt jedoch, obwohl sie mit vielen Details durchgeführt wird, wenig über die bisherigen Argumente hinaus bei und scheint außerdem eher verdreht und obskur. 15 (Zum besseren Verständnis ziehe ich daher auch den parallelen Text in der EE (1244 b22 ff.) hinzu, der in manchen Punkten klarer ist.) Die zu beweisende These (1170 a13–16) lautet, der ethisch gute Freund sei gemäß der Natur für den guten Menschen wählenswert. Der Bezug auf die Natur wird so erläutert, dass für den Guten das von Natur aus Gute in sich gut und angenehm ist. Ganz grob kann man den Argumentationsgang, der die These stützen soll, in vier Schritten rekonstruieren16: Schritt (1) besagt (1170 a19–29), dass das Leben zum in sich Guten und Lustvollen gehört. Dafür wird erstens angeführt, dass es begrenzt ist, das heißt, eine bestimmte Gestalt hat, und zweitens, dass alle es erstreben und wünschen. Diese Aussage mag für uns zunächst unverständlich scheinen, denn in Wirklichkeit ist das Leben, und sei es auch das Leben des ethisch guten Menschen, diesem nicht als umgrenzte Einheit gegeben, sondern gerade als etwas, das im Hinblick auf die Zukunft offen ist. Es scheint jedoch, dass Aristoteles die Vorstellung hat, dass jede auf das kalon zielende Einzelhandlung das menschliche eidos ganz realisiert. Wie wir in Kapitel III gesehen haben, ist für Aristoteles das Richtige, auf das die gute HandSo überzeugend Joachim 259. So Kenny 1992, 44, 46. 16 Ich stütze mich im Wesentlichen auf Kenny 1992, 45 f. 14 15
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lung zielt, ein umgrenzter Punkt, durch den dann wohl auch das Leben eine umgrenzte Gestalt gewinnen soll. Dass in jeder Handlung in gewisser Weise das ganze eidos verwirklicht ist, müsste, sofern die Handlung keine Hervorbringung ist, aus dem Perfektkriterium folgen, wonach das Tun das Getanhaben impliziert. Schritt (2) besteht in dem Hinweis (1170 a16–19, a29–b1), das menschliche Leben vollziehe sich in der Weise, dass wir uns unserer jeweiligen Tätigkeiten bewusst sind; wir nehmen wahr, dass wir wahrnehmen, denken, dass wir denken usw. Da menschliches Sein wesentlich im Wahrnehmen und Denken besteht, bedeutet das Bewusstsein des Wahrnehmens und Denkens ein Bewusstsein davon, dass wir sind. Schritt (3) erläutert (1170 b1–5, 8–10), dass durch das Selbstbewusstsein das Leben angenehm ist. Wahrzunehmen, dass man lebt, ist in sich angenehm, da das Leben von Natur aus ein Gut ist und es angenehm ist, auf ein solches Gut zu reflektieren. Dies gilt insbesondere für denjenigen, der die ethische aretē besitzt. Das Sein ist für ihn wünschenswert, weil er sich selbst als guten Menschen betrachtet. Eine Selbstbetrachtung, die einen guten Gegenstand hat und unbehindert verläuft, ist aber einfachhin und in sich lustvoll. Schritt (4) stellt die Beziehung zur Frage der Freundschaft her (1170 b 5–8, b10–19). Der Freund ist ein anderes Selbst (heteros autos), ein alter Ego, der Gute verhält sich zum Freund wie zu sich selbst, das Sein des Freundes ist ihm ähnlich wünschenswert wie das eigene, und die Betrachtung seines Tuns ist ihm lustvoll. Dann muss ihm dieses gegeben sein, weil ihm sonst etwas zur eudaimonia fehlt; also braucht er Freunde. Fragen wir uns, was mit dieser Argumentation erreicht ist. Wenn die eudaimonia in der unbehinderten lustvollen Tätigkeit besteht und diese in der Reflexion auf die eigenen guten Handlungen liegt, ist dann wirklich erwiesen, dass der Mensch ein Bedürfnis (1170 b18) nach Freunden hat? Dass der Gute die Handlungen der Freunde ebenfalls betrachtet und sich an ihnen freut, scheint eine Erweiterung der guten Gegenstände zu sein, an denen sich lustvolles betrachtendes Tätigsein vollziehen kann. Aber wenn es um die möglichst kontinuierliche lustvolle Tätigkeit geht, könnte der Gute ja, solange er nicht durch Ermüdung unterbrochen wird, ebenso gut ständig die eigenen vergangenen guten Handlungen in der Erinnerung oder die guten Absichten seiner eigenen künftigen Handlungen betrachten. Ein klarer Grund für die Notwendigkeit von Freunden scheint daher noch nicht sichtbar, und da Aristoteles den Gedankengang auf sehr mühsame Art entwickelt, scheint er selbst Schwierigkeiten damit zu haben, die Begründung genau zu fassen. Etwas deutlicher sind die parallelen Überlegungen zur Diskrepanz von Autarkie und Bedürfnis nach Freundschaft in der EE (1244 b1 ff.). Aristo-
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teles argumentiert hier, man wünsche immer zu leben, weil man immer zu erkennen wünscht, und dies wiederum wünsche man, weil man selbst der erkannte Gegenstand sein will (1245 a9 ff.); man will sich selbst als ein umgrenztes Wesen erkennen, das so und so beschaffen ist. Ist es dann aber, fragt Aristoteles, nicht dumm, sich mit Freunden abzugeben? Dass es nicht dumm ist, könnte damit zu tun haben, dass uns die eigene Existenz nicht als geschlossenes Seiendes gegeben ist, das man erkennen kann wie ein geformtes Ganzes. Die Erklärung für die Funktion von Freunden liegt dann vielleicht am ehesten in einem Argument, das Aristoteles in einem Satz in der EN erwähnt (1169 b33 ff.) und das der Autor der Magna Moralia wie folgt erläutert: Wir können uns selbst in unserem Charakter schwer erkennen, weil wir durch Selbstüberschätzung und Affekte im Urteil getäuscht werden, während wir den Freund von außen sehen und so in ihm ohne diese Verzerrungen wie in einem Spiegel unser eigenes Selbst betrachten können (MM 1213a10ff.). Doch ist auch diese letztlich erkenntnistheoretische Begründung der Notwendigkeit von Freunden begrenzt.17 Denn für das Leben der Freunde gilt genauso wie für das eigene, dass es sich im Vollzug befindet und auf die Zukunft hin offen ist; der Wunsch, der in der EE so formuliert ist, dass wir immer leben und erkennen wollen, der Wunsch nach einer dauerhaften eudaimonia, ist also durch den Verweis auf die Einbeziehung der Wahrnehmung der Freunde nicht gelöst. Außerdem ist die Frage, ob Aristoteles (was immer der Autor der Magna Moralia gemeint haben mag) wirklich die Problematik der Verfälschung der Selbsterkenntnis im Auge hat. Die mit sich selbst übereinstimmende gute Person in IX 4 jedenfalls leidet weder an Überheblichkeit, noch verdrehen Affekte ihr Urteil. Das Problem ist in Wirklichkeit ein grundsätzliches, das nicht nur der schlechte Mensch hat, sondern auch der gute, weil es in der menschlichen Natur liegt. Das wird deutlicher, wenn wir den Vergleich mit der Selbst beziehung des unbewegten Bewegers beachten, den Aristoteles in der EE durchführt (1245 b14 ff.). Dem unbewegten Beweger, dem göttlichen Seienden, kommt das Gesuchte zu: Er erkennt immer, in ununterbrochen lustvoller Tätigkeit, und ist sich als immer vollkommen Erkennbares gegeben. Denn da er absolut einfach ist, kann seine eudaimonia nur in ihm selbst liegen. Würde man hingegen sagen, auch der Mensch brauche nichts außer sich selbst, gäbe es, so argumentiert Aristoteles, nichts, was er denken könnte; für den Menschen als ein zusammengesetztes Wesen ist die eudaimonia auf anderes bezogen (kath’ heteron). Diese These scheint auf den ersten Blick befremdlich, denn die Tätigkeit, in der die menschliche eudaimonia besteht, sollte autark und voll17
Eine Verteidigung des Arguments gibt Cooper 1980, 342 f.
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kommen und ausschließlich um ihrer selbst willen gewollt sein. In der zweiten Lustabhandlung wurde jedoch deutlich, dass sich unsere beste Erkenntnistätigkeit an etwas vollzieht, das nicht wir selbst sind, nämlich am höchsten Seienden, den höchsten Gegenständen der Wissenschaft. Und für die Tätigkeiten der ethischen aretai zeigte sich, dass sie erstens ihrerseits Gegenstände, nämlich Werte wie das Gerechte, das Tapfere usw. realisieren, und dass sie zweitens in ihrer Ausübung auf das Vorhandensein anderer angewiesen sind. Der menschliche Selbstbezug, die menschliche Selbsterkenntnis ist daher vermittelt über den Bezug des menschlichen Erkennens auf Seiendes, auf Güter und auf andere Menschen. Das scheint überzeugend, eignet sich aber eher als Erklärung der Freundschaft zu Schwächeren, in denen die Gestalt der eigenen Handlungen sich manifestiert. Hingegen fehlt immer noch eine Erklärung für die Freundschaft zwischen Gleichen, die angeblich vollkommene Freundschaft. Sofern Aristoteles sie gibt, findet sie sich in Hinweisen, die außerhalb seiner ontologischen Prämissen einfach alltägliche Phänomene beschreiben. Die ausführlichsten Hinweise dieser Art finden sich in EN IX 12. Die Zusammenarbeit mit dem Freund wird in denjenigen Tätigkeiten gewünscht, in denen nach Auffassung der Person ihr Sein besteht und um derentwillen sie das Leben wählt (1172 a1 ff.). Freunde verbringen ihre Zeit zusammen mit denjenigen Tätigkeiten, die sie im Leben am meisten lieben. Die Freundschaft wächst durch diesen Umgang, indem beide durch gegenseitige Korrekturen besser werden. Freundschaft zwischen Gleichen wäre demnach vermittelt durch das Interesse an demselben Gut, an gemeinsamen Lebenszielen. Nehmen wir dasjenige Gut, auf das Aristoteles die vollkommene Freundschaft letztlich bezieht, das ethische Leben, dann ist, wie Aristoteles selbst in diesem informellen, an das Theognis-Zitat anknüpfenden Text sagt, der Beitrag des Freundes zur eudaimonia nicht, dass wir uns an der Betrachtung seiner guten Handlung freuen, sondern dass wir uns als Freunde in unserer Orientierung auf das ethisch Gute wechselseitig unterstützen und verbessern können. Nach dieser inoffiziellen Erläuterung könnte die Freundschaft zwischen Gleichen, Guten unter anderem das gemeinsame Beraten über die richtigen Entscheidungen zum Inhalt haben oder auch die nachträgliche kritische Reflexion schon getaner Handlungen.18 18 In diesem Zusammenhang scheint Platons Freundschaftstheorie, die nicht mit einem metaphysischen Begriff der Tätigkeitslust gekoppelt ist, näher an den Phänomenen zu sein. So versteht er im Lysis Freundschaft vor dem Hintergrund, dass wir als Menschen zwischen dem Schlechten und dem Guten stehen und Freundschaft als gemeinsame Bemühung um die Annäherung an das Gute erklärt werden könnte.
Zusammenfassung
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4. Zusammenfassung Obwohl Aristoteles viele anregende Ansätze zum Thema der Freundschaft entwickelt, kommen diese nicht wirklich zur Klarheit. So findet weder die Frage, ob und wozu wir Freunde brauchen, noch die Frage, worin genau die Freundschaftsrelation besteht, eine befriedigende Antwort. Der Hauptgrund dafür dürfte sein, dass die Freundschaftsproblematik begrifflich durch die Ausrichtung auf die Frage der individuellen eudaimonia verengt wird. So hat Aristoteles in Buch I für die eudaimonia die Bedingung der Autarkie aufgestellt und die eudaimonia als Tätigkeit des Menschen in der Ausübung seiner aretē bestimmt. Wenn das Zusammenleben und das Betrachten der Tätigkeit der Freunde so wünschenswert ist, dass ohne Freunde die eudaimonia unvollkommen ist, dann besteht diese nicht, wie der Rest der EN vermuten lässt, ausschließlich im Tätigsein des Individuums.19 Entweder also die Freunde sind letztlich von der Art der äußeren Güter (wie 1169 b10 formuliert) und so genau genommen nicht Bestandteil der eudaimonia, sondern nur eine ihrer Vorbedingungen; dann werden sie letztlich nicht um ihrer selbst willen geliebt. Oder sie werden um ihrer selbst willen geliebt; dann sprengt das Phänomen der Freundschaft die aristotelische Konzeption der eudaimonia. Die Phänomene sprechen wohl eher für die zweite Alternative. Das Phänomen, auf das Aristoteles aufmerksam wird, dass man einem anderen um seiner selbst willen Gutes wünschen und tun kann, ist wichtig nicht nur, sofern Freundschaft selbst ein klärungsbedürftiges Phänomen ist, sondern auch im Rahmen der Moraltheorie. Denn sie muss ja klären, was es heißt, mit Rücksicht auf andere und nicht nur im eigenen Interessse zu handeln. Die Struktur, dass man ohne Erwartung von Gegenleistungen zugunsten eines anderen handelt, war am deutlichsten in Beziehungen zu Schwächeren und paradigmatisch in der Mutterliebe gegeben. Auch wenn Aristoteles diese Möglichkeit metaphysisch erklärt, ist doch der Hinweis auf den grundlegenden Charakter dieser Beispiele wichtig,20 da sie zeigen, dass bedingungslose Sorge für andere zumindest strukturell möglich ist. Während Aristoteles die Freundschaft zu Schwächeren durch die metaphysische Vorstellung der Weitergabe der Form einordnen kann, tut er 19 Dieses Fazit, dass Aristoteles die Spannung, die zwischen eudaimonia-Konzeption und Freundschaftstheorie besteht, nicht endgültig auflöst, zieht Kenny 1992, 54. 20 Die in diesem Kontext häufig diskutierte Frage, ob Aristoteles eine egoistische oder altruistische Auffassung des Handelns vertritt, habe ich bewusst ausgeklammert, da diese Frage in unseren Begriffen formuliert ist und keine genaue Entsprechung bei Aristoteles hat. Siehe aber dazu ausführlich Schulz Kap. 2.3.3.
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sich mit der Erklärung der Freundschaft zwischen Gleichen besonders schwer. Wie die sprachlichen Formulierungen, die jeweils ein „Mit“ des Lebens, Handelns, Betrachtens usw. ausdrücken, nahe legen, müsste man hier eine Begrifflichkeit entwerfen, die über das aristotelische Modell eines Individuums, das Tätigkeiten vollzieht, hinausgeht. Man müsste also beachten, dass es Aspekte des Tätigseins gibt, die sich adäquat nur fassen lassen, wenn man die Tätigkeit als Teil einer wesentlich intersubjektiven oder kooperativen Praxis beschreibt, wie Aristoteles sie in den erwähnten informellen Äußerungen am Ende meint. Die Freundschaft zwischen Gleichen müsste man dann auf geeignete Weise hier einordnen, wobei sie in Abgrenzung von einer bloßen Kooperation ohne Freundschaft charakterisiert werden müsste.
X. Die beiden Arten der eudaimonia (X 6–9) In X 6 kehrt Aristoteles zur Leitfrage der EN zurück, der Frage, worin die eudaimonia als das beste der für Menschen erreichbaren Güter besteht. In welche Richtung die Antwort gehen muss, wissen wir insbesondere aus I 6, I 13 und VI 13. In I 6 war die menschliche eudaimonia als Tätigkeit der Seele gemäß der ihr eigentümlichen aretē bestimmt worden. In I 13 unterscheidet Aristoteles zwei spezifisch menschliche Fähigkeiten der Seele, erstens die Vernunft und zweitens das Strebevermögen, das sich beim Menschen nach der Vernunft richten kann. Wie wir in Buch VI gesehen haben, wird innerhalb des vernünftigen Seelenteils erneut zwischen zwei Bereichen unterschieden, der theoretischen und der praktischen Vernunft; die aretē des ersten ist die sophia, die des zweiten die phronēsis, wobei letztere nur in eins mit den aretai des Strebevermögens, also den ethischen aretai, vorkommt. Entsprechend finden wir in Buch X zwei inhaltliche Antworten auf die Frage nach der eudaimonia; nach dem ersten Vorschlag besteht die eudaimonia in der theōria (Betrachtung, Weisheit, Philosophie, geistige Schau), nach dem zweiten in der Ausübung der ethischen aretē. Oder, wie manchmal auch formuliert wird: Die erste Art der eudaimonia besteht im Leben der Philosophie, die zweite im Leben der Politik. Nachdem Aristoteles das ethische Leben in Buch II–VII ausführlich behandelt hat, wird es jetzt nur kurz erwähnt und hauptsächlich im Vergleich zum Leben der theōria betrachtet, das im X. Buch im Zentrum steht. Wir werden daher im Folgenden zwei Fragen klären müssen: Erstens die Frage, wie Aristoteles sich das Leben der theōria vorstellt und warum er es so hoch bewertet, und zweitens die Frage, wie sich die beiden inhaltlichen Konzeptionen der eudaimonia zueinander verhalten. Diese zweite Frage, ob und warum wir beide Konzeptionen brauchen, ob die eine höher zu bewerten ist als die andere usw., wurde bereits in VI 13 aufgeworfen, aber noch nicht zureichend beantwortet. Der Text beginnt in der zweiten Hälfte des X. Buchs mit einer Erinnerung an den Tätigkeitscharakter der eudaimonia (X 6, erster Teil) und schließt zunächst das Angenehme als möglichen Inhalt der eudaimonia aus (X 6, zweiter Teil). X 7 stellt die nach Aristoteles erste und ausgezeichnete Form der eudaimonia vor, das Leben der theōria, das betrachtende oder philosophische Leben. Am Anfang von X 8 nennt Aristoteles die zweite Form der eudaimonia, das Leben in der Betätigung der ethischen
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aretai. In X 8–9 werden beide Formen der eudaimonia verglichen, aber auch das Leben der theōria weiter erläutert. X 10 schließlich enthält die Überleitung zur Politik. Der Text ist nicht sehr stringent aufgebaut, bereits in der Erläuterung der ersten Form der eudaimonia wird ihre Überlegenheit über das ethische Leben herausgestellt, andererseits wird der Vergleich der beiden Formen teilweise unterbrochen von einer weiteren Beschreibung und Preisung der theōria. Die Interpretation folgt daher nicht diesem Hin und Her des Textes, sondern ist wie folgt gegliedert: 1. Tätigkeitscharakter der eudaimonia und Ausschluss des Angenehmen, 2. die beiden Formen der eudaimonia, 3. Erläuterung des betrachtenden Lebens, 4. vergleichende Bewertung der beiden Formen der eudaimonia, 5. Verhältnis der beiden Formen der eudaimonia, 6. Zusammenfassung. Auf eine Darstellung von X 10 wird verzichtet, da dieser Text nicht zum Thema gehört und die wichtigsten Punkte an relevanter Stelle in Kapitel III und IV erwähnt wurden.
1. Der Tätigkeitscharakter der eudaimonia und der Ausschluss des Angenehmen (X 6) a) Der Tätigkeitscharakter der eudaimonia (X 6 bis 1176b10) Aristoteles bezieht sich zunächst auf I 3 zurück, wo er mögliche inhaltliche Arten des guten Lebens aufgezählt hatte. Dort war gesagt worden, die eudaimonia könne nicht im bloßen Besitzen der aretē bestehen, da jemand, der die aretē besitzt, sein Leben lang untätig sein oder schlafen oder ins Unglück geraten könne (1095 b32 ff.). Entsprechend betont Aristoteles jetzt, die eudaimonia sei nicht eine hexis, sondern eine energeia, also die Verwirklichung einer hexis, eine aktuale Tätigkeit; hier hat energeia als Gegenbegriff zu hexis die Bedeutung der Aktualität oder Verwirklichung (siehe oben S. 202 f.). Er nimmt weiterhin die Unterscheidung zwischen Tätigkeiten auf, die notwendig sind und um anderer Zwecke willen ausgeübt werden,1 und Tätigkeiten, die wir um ihrer selbst willen wählen; hier hat energeia den Sinn der reinen Tätigkeit im Unterschied zur Bewegung. Zugleich werden die in I 5 festgelegten Kriterien aufgegriffen, wonach die eudaimonia zielhaft (teleion) und autark sein muss. Geht man von diesen 1 Es mag merkwürdig erscheinen, dass Aristoteles von Tätigkeiten redet, die Mittel sind. Eine Erklärung könnte sein, dass der Ausdruck energeia hier in Opposition zu hexis steht, also die Verwirklichung im Unterschied zur andauernden Einstellung meint, und nicht in Opposition zu kinēsis, also nicht die Tätigkeit im Unterschied zur Bewegung bezeichnet.
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Unterscheidungen und Bedingungen aus, kann die eudaimonia nur eine aktuale Tätigkeit sein, die um ihrer selbst willen, nicht als Mittel oder Bestandteil von etwas anderem gewählt wird. Aristoteles nennt zwei Kandidaten für diese Tätigkeit (1176 b7 ff.): die Handlungen gemäß der aretē, weil das Tun des Schönen und Richtigen um seiner selbst willen wünschenswert ist, und angenehme Vergnügungen, die man offenbar ebenfalls nicht um anderer Zwecke willen sucht. Die dritte Möglichkeit, das betrachtende Leben, wird vorläufig noch nicht erwähnt.
b) Ausschluss der Vergnügungen (1176b10–1177a11) Die eudaimonia kann nach Aristoteles nicht in der paidia (Spiel, Scherz, Unterhaltung) bestehen (1176 b28), obwohl es scheint, dass diese um ihrer selbst willen gesucht wird. Was Aristoteles mit paidia meint, ist nicht auf den ersten Blick klar. Sie ist, wie erst in 1177 b4 ff. deutlich wird, nicht zu verwechseln mit der Muße (scholē), der Freiheit von der Sorge für die notwendigen Lebensbedingungen, die für Aristoteles etwas durchaus Positives ist. Die paidia, das Spiel oder, allgemeiner, die Unterhaltung oder Vergnügung ist, so könnte man sagen, eine Art, die Zeit der Muße auszufüllen. Wenn Aristoteles gegen die paidia als möglichen Inhalt der eudaimonia einwendet, dass es sich um eine Beschäftigung der Menge handelt (1176 b13) und dass auch Sklaven sinnliche Lust genießen können (1177 b7), wird deutlich, dass Aristoteles die paidia in den Bereich der sinnlichen Lust einordnet. Nachdem er diese aber im Grunde schon in Buch VII als Inhalt der eudaimonia zurückgewiesen hat, fragt man sich, warum sie unter dem Titel der paidia erneut behandelt wird. Der Grund könnte sein, dass Aristoteles hier auf das Phänomen aufmerksam wird, dass es nicht nur angenehme spielerische Betätigungen gibt, die primitive sinnliche Lust erzeugen, sondern auch solche, die eine verfeinerte Art sinnlicher Lust hervorrufen. Er vertritt nämlich jetzt die Meinung, die angenehmen Vergnügungen würden zwar um ihrer selbst willen gesucht, hätten aber darüber hinaus zugleich eine Funktion im Kontext der eudaimonia, indem sie der Erholung dienen, die gerade auch der spoudaios, also der ethisch Gute, braucht, um seine ernsthafte Tätigkeit fortsetzen zu können (1176 b28 ff.). Die Unterhaltungen, mit denen der spoudaios sich erholt, werden aber nicht primitive sinnliche Belustigungen sein, vielmehr in Vergnügungen einer höherstufigen Art bestehen.
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2. Die beiden Formen der eudaimonia (1177a12–18, 1178a9–23) a) Die theōria als Tätigkeit des nous (1177a12–18) Nachdem Aristoteles festgestellt hat, dass die eudaimonia im Tätigsein gemäß der aretē besteht, schränkt er nun ein, es sei plausibel anzunehmen, sie sei die Tätigkeit gemäß der höchsten aretē. Das war bereits in I 6 angedeutet worden, wo es hieß: „… dann ist das Gut für den Menschen die Tätigkeit der Seele gemäß der aretē, und wenn es mehrere aretai gibt, gemäß der besten und vollkommensten“ (1098 a16 ff.). Dieser Punkt wird jetzt wiederholt, und es wird hinzugefügt, die beste aretē sei die aretē des besten Teils in uns. Was dieses Beste ist, wird in mehreren Anläufen formuliert: der nous (Geist, Verstand, Intellekt), also die höchste Ebene der Vernunft; das, was von Natur aus herrscht und leitet; was das Schöne und Göttliche denkt und vielleicht selbst etwas Göttliches oder der göttlichste Teil in uns ist. Die Tätigkeit des nous gemäß seiner eigentümlichen aretē, die in Buch VI als sophia bezeichnet worden war, ist die vollkommene eudaimonia. Diese Tätigkeit ist eine betrachtende, sie besteht im theōrein. Wenn wir dem abschließenden Satz in X 8 folgen, ist sie nicht nur die vollkommene eudaimonia, sondern dann ist überhaupt nur sie die eudaimonia (1178 b32). Was mit dem nous gemeint ist, wissen wir aus Buch VI 6. Dort war unterschieden worden zwischen theoretischen und praktischen Vermögen bzw. Haltungen der Vernunft, und die theoretische Vernunft umfasste die dianoia und den nous. Die dianoia entsprach ungefähr der diskursiven Vernunft, die innerhalb der Wissenschaften allgemeine Sätze beweist, begründet und ordnet. Der nous war der höchste Bereich der theoretischen Vernunft, der sich mit den letzten Begriffen und Sätzen einer jeweiligen Wissenschaft befasst, die nicht mehr auf anderes zurückführbar, notwendig und unveränderlich sind. Diese Tätigkeit des nous nennt Aristoteles theōrein (betrachten, sich der geistigen Schau hingeben).2 Was Aristoteles 2 Obwohl Aristoteles im letzten Satz behauptet, es sei bereits gesagt, dass die Tätigkeit eine betrachtende ist (1177 a18), hat er dies im bisherigen Verlauf der EN noch nicht gesagt. Das wird konstatiert in Gauthier/Jolif II, 876. Zwar wird es, worauf Gauthier/Jolif ebenfalls verweisen, im Protreptikos (fr. 6) gesagt, aber in solchen Fällen erwähnt Aristoteles gewöhnlich seine anderen Schriften. Da er dies hier nicht tut, bleibt die Stelle also ein Problem.- Auffällig ist weiterhin die Formulierung, dass der nous oder das Göttliche in uns herrscht und leitet, wo doch seine Tätigkeit ausschließlich im theōrein, im Betrachten bestehen soll. In VI 13 war Aristoteles der anderen Auffassung, die phronēsis ordne an, der theoretische Teil der Vernunft jedoch nicht, und dort war daher gerade das Problem aufgeworfen worden, wie die Tätigkeit des nous die höchste sein könne, wenn er nicht anordne.
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mit dem theōrein genau meint, ist in der Literatur allerdings strittig.3 Strittig ist insbesondere, ob es sich dabei um ein denkendes Betrachten handelt oder um ein Aufsuchen und Erforschen der letzten Gründe. Da Aristoteles im Verlauf der Begründung der besten Lebensform sagt, das Betrachten durch den, der schon weiß, sei lustvoller als das Suchen (1177a26f.), ist zu vermuten, dass der nous nicht forscht, sondern dass er die höchsten Gegenstände unmittelbar im Denken vor sich bringt und betrachtet.
b) Das Leben in der Ausübung der ethischen aretē (1178a9–23) Was sich jetzt als nur zweitbeste Form der eudaimonia erweist, ist diejenige Lebensweise, welcher der weitaus größte Teil der EN gewidmet war, also das gute ethische oder politische Leben. Es besteht in der eupraxia, in der Ausübung der ethischen aretai, die gleichzeitig die Betätigung einer bestimmten intellektuellen aretē, der phronēsis, impliziert (1178 a16 ff.). Diese Lebensweise ist die eudaimonia für den Menschen als Menschen, den Menschen, wie er wirklich beschaffen ist. Was der Mensch als Mensch ist, macht Aristoteles hier an zwei Aspekten fest. Erstens ist er ein aus materiellen Teilen und Seele zusammengesetztes Wesen, zweitens ist er ein politisches oder soziales Lebewesen, das wesentlich in der Gemeinschaft mit anderen lebt. Diesen beiden Gesichtspunkten entsprechen die beiden Betrachtungsweisen der ethischen aretē in Buch II–V. Aus der zusammengesetzten Natur des Menschen ergibt sich die Notwendigkeit einer Ordnung der körperlich verankerten Affekte, Begierden und Strebungen, und es war dieser Gesichtspunkt des Gelingens des individuellen Lebensvollzugs, unter dem die ethischen aretai zunächst behandelt wurden. Der zweite Gesichtspunkt kam in Buch V zum Tragen, wo ausgeführt wurde, wie sich die Anwendungen der ethischen hexis prinzipiell immer auf andere Menschen beziehen und daher einen politisch-moralischen Aspekt haben. Aristoteles betont nun (1178 a20 ff.), dass die aretai, auf deren Grund lage wir als zusammengesetzte und soziale Wesen gut leben, also die ethischen aretai zusammen mit der phronēsis, die menschlichen aretai sind, und Dass die höchste Vernunft sowohl theoretisch wie praktisch ist, war Platons Auffassung, die Aristoteles ähnlich noch im Protreptikos vertritt. Allerdings ist von diesem Aspekt des Herrschens in der weiteren Erläuterung der Tätigkeit des nous nicht mehr die Rede, so dass wir diese entwicklungsgeschichtlichen Beobachtungen für die Frage nach der Position in Buch X auf sich beruhen lassen können. Dazu Cooper 1975, 168f. 3 Ausführlich zu dieser Frage Guthrie 396ff., ausserdem Kenny 1992, Kap. 8.
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dass entsprechend die eudaimonia, die in der Betätigung dieser aretai besteht, die menschliche eudaimonia ist. Hingegen ist das Leben in der Tätigkeit des nous, das die höchste, göttliche Form der eudaimonia darstellt, von der menschlichen eudaimonia abgetrennt. Nun fragt man sich, warum Aristoteles, nachdem er von Buch I an betont hatte, dass er nach dem anthrōpinon agathon sucht, das eph’ hēmin kai prakton ist, also nach dem durch menschliches Handeln realisierbaren Gut, dieses plötzlich für sekundär hält und eine Form der eudaimonia als höchste oder sogar einzige empfiehlt, die nicht auf unsere menschliche Natur zugeschnitten ist. Zum anderen erscheint es merkwürdig, dass der menschlichen Natur nur die praktische Vernunft zugehören soll und die Betätigung des nous, der theoretischen Vernunft, ausgegrenzt wird. Beide Fragen lassen sich nur beantworten, wenn wir uns kurz der aristotelischen Ontologie zuwenden.
3. Erläuterung des Lebens der theo¯ria (1178b7–32, 1177b26–1178a8) Warum das Leben der theōria das vollkommenste Glück darstellen muss, lässt sich nach Aristoteles u. a. daran sehen, dass wir die größte eudaimonia den Göttern zuschreiben, die keine ethischen Handlungen ausführen (1178 b8 ff.). Warum die Götter nicht ethisch handeln, erklärt Aristoteles für die Adressaten der ethischen Untersuchung mit dem Hinweis, es wäre lächerlich, wenn die Götter Verträge schließen, Geld besitzen, Begierden haben würden usw. Die eigentliche philosophische Begründung findet sich in der Einführung des Gottesbegriffs in Metaphysik XII 6–7.4 Hinter dieser Einführung stehen Probleme der theoretischen ebenso wie der praktischen Philosophie. Aristoteles sucht einen letzten Erklärungsgrund dafür, warum in der unbelebten Natur immer Bewegung stattfindet, die nie abbricht, und wodurch die Bewegung der Lebewesen und insbesondere das Handeln der Menschen in Gang gesetzt wird. Aristoteles argumentiert, dass immer währende Bewegung nur garantiert ist, wenn es ein erstes Prinzip gibt, das immer bewegt, ohne selbst bewegt zu werden. Da die Materie Passivität und Hemmung der Bewegung bedeutet, kann das gesuchte höchste Seiende anders als die Dinge in der wahrnehmbaren Natur keine materiellen Bestandteile haben; es muss vielmehr reine Form (eidos) und Aktualität bzw. Aktivität (energeia) sein, und Aktivität, Tätigkeit wiederum ist nach Aristoteles Leben. Aristoteles ver4 Eine fortlaufende Interpretation von Metaphysik XII auf dem neuesten Stand der Forschung findet sich in Frede/Charles.
Erläuterung des Lebens der theōria
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steht daher das erste oder göttliche Seiende als Lebewesen, das kontinuierlich in Tätigkeit ist, ohne selbst bewegt zu werden (der so genannte „unbewegte Beweger“). Dieses Lebewesen ist der nous, und seine Tätigkeit besteht im theōrein. Da er keine Teile hat, schlechthin einfach ist, kann seine Tätigkeit nichts anderes zum Zweck haben als sich selbst; der nous betrachtet ununterbrochen das beste Seiende, sich selbst. Damit sind auch die praktischen Motive hinter der Einführung des göttlichen Seienden deutlich. Das Leben des Gottes ist das Paradigma einer ausschließlich um ihrer selbst willen gewählten und ununterbrochenen Tätigkeit, die vollkommen lustvoll ist. Dem Gott kommt daher die eudaimonia immer und vollkommen zu. Der Verweis auf das göttliche Seiende sollte erklären, warum die Bewegung in der Natur nie abbricht. Da nach unserem heutigen Naturverständnis Bewegungen innerhalb einer Kausalkette stehen, in der jede Bewegung das Ergebnis einer Wirkung ist, die ihrerseits eine Ursache hat usw., erscheint diese Möglichkeit zunächst als seltsam. Die Lösung des Aristoteles lautet, dass dieses letzte Prinzip nicht kausal, sondern teleologisch oder, genauer noch, „erotisch“ wirkt.5 Das erste Seiende bewegt die materiellen Seienden nicht, indem es Wirkungen in diesen hervorruft, sondern es bewegt, indem es von allem geliebt bzw. erstrebt wird (1072 a26 f.) und daher alles ihm möglichst ähnlich zu werden versucht. Der Mensch hat durch seinen Anteil am nous nicht nur die Möglichkeit der Nachahmung, sondern er kann selbst die Tätigkeit des nous ausüben. Er kann dies anders als das göttliche Seiende allerdings nur zeitweise und mit Unterbrechungen (1072 b14 ff., b25 f.), da er anders als der Gott ein syntheton (b28 f.), ein aus Stoff (körperlichen Teilen) und Form (Seele) zusammengesetztes Wesen ist. Den nous jedoch, der ebenfalls Bestandteil der menschlichen Seele ist, hält Aristoteles für abtrennbar, er ist – anders als die übrige Seele – nicht mit dem Körper gemischt (429a24 f.).6 Dabei bestimmt Aristoteles den nous an der betreffenden Stelle in De Anima (429a23) als das, womit die Seele denkt (dianoei) und erwägt (hypolambanei). Er scheint demnach nicht nur das höchste Erkenntnisvermögen zu sein, sondern die ganze theoretische Seite der Vernunft, würde also auch die dianoia enthalten. Dieser nous soll nach der Lehre in De Anima ein eigenes Seiendes (ousia) sein, das anders als das menschliche Lebewesen nicht vergeht, also selbständig und abtrennbar ist. Wie Aristoteles zu dieser Auffassung kommt und was er genauer damit Diese Formulierung bei Höffe 1996, 155. Dazu auch Cooper 1975, 175 ff., der seine Position allerdings später revidiert Cooper 1987. 5 6
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meint, ist strittig und lässt sich an dieser Stelle nicht klären.7 Sofern der nous ein Bestandteil in der menschlichen Seele ist, kann man ihn sich schwer als ganz eigenständig vorstellen. Denn sonst wäre es unerklärlich, wie wir als Menschen mit dem nous denken und betrachten können. Ferner stünde er dann außerhalb der Naturkausalität, so dass die Frage ist, wie er durch körperlich fundierte Phänomene wie Hunger oder Müdigkeit in seiner Tätigkeit unterbrochen werden oder seine Tätigkeit körperliche Empfindungen wie Kopfschmerzen hervorrufen kann. Ebenso schwankend wie der Status des nous bleibt die Bewertung des Lebens, das seiner Betätigung gewidmet ist. Einerseits soll dieses Leben höher als ein dem Menschen gemäßes Leben, also nicht für den Menschen als Menschen geeignet sein (1177b26f.). Wenig später jedoch empfiehlt uns Aristoteles (1177b31ff.), wir sollten nicht nur an Menschliches denken, uns vielmehr gerade mit dem Besten, dem Göttlichen in uns identifizieren und uns bemühen, so weit wie möglich unsterblich zu sein und das Leben der theōria zu wählen. Die Frage bleibt, warum dieses so viel besser und erstrebenswerter für uns ist als das im engeren Sinn menschliche gute Leben. 4. Vergleichende Bewertung der beiden Formen der eudaimonia (1177a18–1177b15, X 8–9) In X 7 führt Aristoteles eine Reihe von Argumenten dafür an, dass das Leben der theōria die erste und beste Form der eudaimonia darstellt. Diese nehmen teilweise die ontologische Auszeichnung auf, die gerade erläutert wurde, teils greifen sie auf die Anforderungen zurück, die in I 5 an das beste Gut gestellt worden waren. Für den Vergleich zwischen den beiden Formen der eudaimonia sind insbesondere die letzteren wichtig. Das beste Gut sollte demnach zielhaft und autark sein. Darauf antwortet, so Aristoteles, allein die theōria: a) Die theōria ist als einzige Tätigkeit um ihrer selbst willen erwünscht (1177 b1–4), sie ist absolut zielhaft (teleion), während wir von den ethisch guten Handlungen immer auch einen Nutzen haben; b) die theōria erfüllt in besonderem Maß und mehr als das ethische Leben das Kriterium der Autarkie (1177a27–b1).
a) Vergleich im Hinblick auf die Zielhaftigkeit (1177b4–15) Erinnern wir uns an die Erläuterung dieses Kriteriums in I 5, dann müsste die Begründung für den Vorrang des betrachtenden Lebens lauten: Das politische Leben, das Leben der Praktizierung der ethischen aretē, 7
Zum Problem siehe Wedin.
Bewertung der beiden Formen der eudaimonia
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kann man um seiner selbst willen wollen, aber man kann es auch wollen, um damit ein anderes Ziel zu fördern, nämlich das Leben der theōria. Das Leben der theōria hingegen kann man nur noch um seiner selbst und nicht mehr um eines noch höheren Zieles willen wünschen. Folglich ist es das beste Gut. Was Aristoteles in Buch X sagt, widerspricht dieser bisherigen Vorstellung,8 man könne das Leben der ethischen aretē zumindest auch um seiner selbst willen wünschen. Die These ist jetzt, dass nur das philosophische Leben um seiner selbst willen gewollt wird und die politische Betätigung immer Ziele außerhalb ihrer selbst verfolgt, nämlich die Bedingungen der eudaimonia für den Handelnden oder die Polis wiederherzustellen oder zu erhalten. Die politische Tätigkeit ist eine Bemühung, eine Anstrengung, also offenbar etwas, was gegen Widerstände getan wird. Sie hat im Krieg zum Ziel, den Frieden wiederherzustellen, und in Friedenszeiten, einen Zustand der scholē, der Muße (1177 b4 f.) aufrechtzuerhalten, in dem die eigentliche eudaimonia möglich wird, die, wie Aristoteles ausdrücklich sagt, von der politischen Tätigkeit verschieden ist (1177b14ff.). Fragen wir zunächst, was mit scholē gemeint ist. Aristoteles erläutert sie im ersten Buch der Metaphysik als denjenigen Zustand, in dem Wissenschaft und Philosophie entstehen können. Muße haben die Menschen in Staaten, in denen das zum Leben Notwendige gesichert ist, die Bedürfnisse befriedigt sind. Die scholē hat also Ähnlichkeit mit dem aufgefüllten natürlichen Zustand beim Individuum. In der Metaphysik bringen das, was wir für die Erfüllung der notwendigen Bedürfnisse, aber auch für den Lebensgenuss brauchen, die technai hervor (981b18 ff.). An unserer Stelle in der EN hingegen sind es die ethischen Handlungen, die die Herstellung der scholē zum Ziel haben und selbst als eine Angelegenheit der ascholia, der Unmuße, bezeichnet werden. Man könnte versuchen, die überraschende Abwertung des ethischen Lebens durch die Annahme zu erklären, dass Aristoteles die ethische Tätigkeit hier im engeren Sinn der Verwaltung der Polis versteht und diese unter Zweckgesichtspunkten wie eine technē betrachtet,9 also nicht das gesamte ethische Leben im Auge hat, wie es in Buch II–VI unter dem Aspekt behandelt wurde, dass sich in ihm eine spezifisch menschliche Seinsweise verwirklicht. Dagegen spricht, dass Aristoteles sich ganz explizit den Vergleich der beiden bisher behandelten Lebensformen zum Thema macht. 8 Obwohl Aristoteles X 7 damit einleitet, seine jetzigen Ergebnisse stimmten mit seinen früheren Aussagen überein (1177a19). 9 Gauthier/Jolif II, 886 schlagen vor, Aristoteles subsumiere hier die praxis unter die poiēsis und vergesse, dass das gute Handeln selbst Ziel ist.
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Ein weiteres Problem kommt hinzu. Behauptet ist ja genau genommen nicht, dass die politische Tätigkeit die eudaimonia in der besten Form fördert. Diese Förderung ist vielmehr über den Zwischenschritt vermittelt, dass sie Muße bewirkt, in der wir von der Sorge für das Leben so weit freigestellt sind, dass wir unbehindert Philosophie betreiben können. Dann scheint es eher ein Kurzschluss, die theōria als das einzig vollkommen Wünschenswerte anzusehen; vermutlich ließen sich noch andere Betätigungen für Zeiten der Muße denken. So könnte es ethische Handlungen geben, die nicht der Herstellung des Zustands der Muße dienen, sondern erst in der Muße praktiziert werden – die Handlungen der Großzügigkeit und Freigebigkeit, die Äußerungen der aretai, die sich auf den Umgang mit Freunden oder andere Formen der menschlichen Geselligkeit beziehen. Wir würden wohl darüber hinaus annehmen, dass auch der Lebensgenuss in der Muße in sich erwünscht ist, während Aristoteles ihn an der referierten Stelle aus der Metaphysik mit der Bedürfnisbefriedigung zusammensieht und ihn in X 6 aus der eudaimonia ausgeschlossen hatte. Der Grund für diesen Ausschluss aller möglichen Komponenten der eudaimonia mit Ausnahme der theōria liegt in der Art, wie Aristoteles in Buch X das Kriterium der Autarkie versteht.
b) Vergleich im Hinblick auf die Autarkie (1178a23–b7) Wie das Kriterium der Autarkie in I 5 eingeführt worden war, muss die eudaimonia etwas sein, worin sich das Streben ganz erfüllt, so dass, wenn es vorhanden ist, nichts mehr fehlt. Jetzt hingegen hat der Begriff der Autarkie die andere Nuance, dass die eudaimonia in einer Lebensweise liegt, bei der einem in dem anderen Sinn möglichst wenig fehlt, dass man möglichst wenig von äußeren Gütern abhängig ist. Das menschliche Leben ist, wie Aristoteles sagt, nie vollständig autark. Die Tätigkeiten beider Lebensformen, das Leben der Philosophie ebenso wie das der Politik, setzen die Gegebenheit der zum Leben notwendigen Güter (Gesundheit, Nahrung usw.) voraus. Wer das Leben der ethischen aretē praktiziert, braucht jedoch nicht nur solche generellen Vorbedingungen, sondern darüber hinaus spezielle Bedingungen für seine jeweiligen Handlungen. Beispielsweise braucht der Freigebige Geld, um Freigebigkeit zu praktizieren. Allgemein haben die Handlungen der ethischen aretē einen Bezug auf andere Menschen, sind also auf das Vorhandensein anderer angewiesen. Hingegen ist der Philosoph, selbst wenn auch hier das gemeinsame Tätigsein dem einsamen vorzuziehen ist, grundsätzlich von der Mitwirkung anderer unabhängig. Diesem Vergleich liegt die uns schon bekannte Vorstellung zugrunde, dass die eudaimonia in einer Tätigkeit besteht, die möglichst un-
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behindert vollzogen werden kann. Doch ist das Ergebnis des Vergleichs angemessen? Das Ergebnis des Vergleichs ist zutreffend, wenn man die Definitionen der Tätigkeit der theōria und der ethischen praxis gegeneinander stellt. Hier gilt in der Tat, dass erstere weniger Komponenten enthält als letztere. Beide beziehen sich auf das agathon bzw. kalon. Aber da die theōria das anhand der immerseienden höchsten Denkgegenstände tut, weist sie keine weiteren Definitionsmerkmale auf, während die eupraxia das kalon in Handlungen realisiert, die auf andere Menschen bezogen sind, deren Anwesenheit als zusätzliche Bedingung genannt werden muss. Betrachtet man hingegen nicht die Beschaffenheit der Tätigkeiten, sondern die Voraussetzungen der beiden Lebensweisen, könnte man im Gegenteil sagen, dass das philosophische Leben sehr viel mehr erfordert als das ethische. Es setzt nicht nur wie dieses die Gegebenheit der Glücksgüter voraus, sondern zusätzlich die Ergebnisse der Politik, die Bedingungen schafft, unter denen das möglichst lange theōrein erst möglich wird, während sich die ethisch-politische Lebensform in allen Situationen des Lebens und auch unter widrigen Umständen bewähren kann. Wenn Aristoteles die theōria dennoch für autarker hält, weil sie in ihrer Beschaffenheit, in ihrer Definition, weniger Komponenten enthält, sind die Gründe für die Vorrangstellung des philosophischen Lebens letztlich ontologisch-metaphysischer Art; für Aristoteles ist etwas umso besser, je einfacher und dauerhafter es ist.
5. Das Verhältnis der beiden Formen der eudaimonia Wenn das philosophische Leben in der Wirklichkeit für seine unbehinderte Realisierung mehr Bedingungen erfordert, dann stellt sich die Frage, wer diese Voraussetzungen schafft, wie also philosophisches und politisches Leben in der Praxis verteilt sind. Zwei Möglichkeiten sind denkbar. (i) Ein und dieselbe Person betätigt sich in der Politik und in der theōria. (ii) Einige Personen üben den Beruf des Philosophen aus, andere den des Politikers.10 (iii) Auch eine Mischung der beiden Möglichkeiten könnte vorkommen: Die Philosophen werden ausnahmsweise und vorübergehend 10 Dass Aristoteles hier nicht die Tätigkeiten der ethischen aretē und die Betätigung der sophia vergleicht, sondern den Beruf des Politikers und den Beruf des Philosophen, vermutet Kraut 1989, 26ff. (siehe auch Urmson 1988, 119 ff.). Aristoteles selbst stellt die Entscheidung so dar in Politik VII 2–3. Während Platon das Ideal des Philosophenherrschers vertritt, nimmt Aristoteles eine Trennung zwischen dem Beruf des Politikers und dem des Philosophen vor.
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politisch tätig, wenn es sich zur Erhaltung oder Wiederherstellung ihrer Muße als unvermeidlich erweist. Die Diskrepanzen zwischen den bisherigen Auffassungen und Buch X lassen sich m. E. am besten auflösen, wenn wir annehmen, dass Aristoteles in Buch II–VI das gute Leben für den Politiker ausgearbeitet hat, während er in Buch X die Perspektive des Philosophen einnimmt und diese im Sinn von (iii) versteht, manchmal mit einer gewissen Neigung zu (i). Ich gehe auf die Perspektive des Philosophen unter a) ein, auf die des Politikers unter b).11 a) Die Perspektive des Philosophen Diejenigen, die das Leben der theōria wählen, könnten dies grundsätzlich auf zwei Weisen tun. Sie könnten entweder (iii) behaupten, allein die Philosophie sei um ihrer selbst willen wünschenswert, alles andere, auch Tätigkeiten gemäß der ethischen aretē, nur als Mittel zu dieser bzw. zur Herstellung der erforderlichen Muße-Bedingungen. Oder sie könnten (i) erklären, die eudaimonia enthalte Phasen der theōria ebenso wie Phasen des Tätigseins gemäß der ethischen aretē und auch letztere seien in sich wählenswert. Welche dieser beiden Möglichkeiten Aristoteles vertritt, wird nicht ganz deutlich. Eine der wenigen expliziten Aussagen zu dieser Frage lautet, der Philosoph wähle, sofern er Mensch ist und mit vielen zusammenlebt, die Handlungen gemäß der ethischen aretē und brauche insofern dieselben Mittel wie der Politiker, um ein menschliches Leben zu leben (1178 b5–7). Doch die Stelle lässt wohl verschiedene Interpretationen zu. Sie könnte besagen, dass derjenige, der die eudaimonia in der Tätigkeit der theōria sucht, zwar dieser den Vorrang unter seinen Betätigungen gibt, sich jedoch gleichwohl seines Menschseins bewusst bleibt und in dieser Hinsicht die ethische aretē kultiviert und ausübt, diese also ebenfalls um ihrer selbst willen wählt.12 Man könnte die Stelle aber auch im Sinn von (iii) verstehen. Dann würde Aristoteles vorschlagen, man solle so oft und lange wie möglich theōria betreiben und sich nur dort, wo man es nicht vermeiden kann, um Politik kümmern und mit anderen Menschen umgehen.13 Wenn 11 Ich vermeide bewusst die Frage nach der inklusiven oder dominanten Interpretation der eudaimonia (siehe oben S. 30), weil es, wie wir jetzt sehen, mehr als zwei Konstellationen gibt, die außerdem nicht alle gleichgeordnet sind, so dass die Orientierung an fixen Termini den Blick für die verschiedenen Möglichkeiten eher verstellen würde. 12 So etwa Keyt 1978, 153 und Kraut 1989, 30, Anm. 15. 13 Diese Interpretation z.B. bei Cooper 1975, 164f.
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Aristoteles (aus der Perspektive des Philosophen) sagt, dass nur das theōrein um seiner selbst willen erwünscht ist (1177 b1 ff.) bzw. dass die eudaimonia nichts anderes als eine bestimmte theōria ist, spricht das eher für diese zweite Interpretation. Aus dieser Perspektive würde auch verständlich, warum Aristoteles in Buch X die politische Tätigkeit als unlustbesetzte Anstrengung beschreibt. Der Philosoph will eigentlich unter Bedingungen der Muße leben, die andere, nämlich die Politiker, für ihn sichern, ohne dass er selbst sich politisch betätigen muss. Nur wenn diese Bedingungen sehr gefährdet sind, wird er selbst im Staat aktiv werden, um die Hindernisse für seine Lebensform zu beseitigen. Andererseits könnte man überlegen, ob nicht der Philosoph in seinem Alltag, wo er mit anderen Menschen konfrontiert ist, das ethische Handeln als etwas auch unabhängig von der theōria Gutes wählen würde, also eine gemischte Lebenskonzeption vertreten würde.14 Wenn Aristoteles sagt, dass die eudaimonia ausschließlich in der theōria besteht, dann würde er derartige Tätigkeiten, die das alltägliche Zusammenleben mit anderen betreffen, vielleicht als Erholung von der theōria ansehen; die Tätigkeiten der Erholung aber sind für Aristoteles, wie wir gesehen haben, letztlich deswegen wählenswert, weil sie uns zu erneuter ernsthafter Betätigung befähigen.
b) Die Perspektive des Politikers Die große Mehrzahl der Bürger wählt, so würde Aristoteles sicher sagen, gar nicht das Leben der theōria, sondern zieht das politische Leben vor. Ist wenigstens für diese Gruppe das Tätigsein gemäß der ethischen aretē in sich wünschenswert, also eine echte Möglichkeit der eudaimonia? Nehmen wir an, dass die Mitglieder dieser Gruppe die Sicherung der Bedingungen des philosophischen Lebens zum Ziel ihres Handelns haben, dann ist für sie die Politik aus dieser Perspektive eher eine technē mit einem äußeren Ziel, da sie selbst die theōria nicht wählen. Für sie selbst muss dann das Wünschenswerte an ihrer Tätigkeit in etwas anderem liegen. Nach allem, was Aristoteles ausführlich in den bisherigen Büchern entwickelt hat, liegt es nahe, dass dieses andere das Wissen um das Gutsein des eigenen Handelns ist. Aristoteles hatte das ethische Handeln da14 Eine solche zweifache Interpretation vertritt Kullmann 1995, die er auf überzeugende Weise auf Politik Buch VII stützt. In der EE wird Aristoteles häufig eine Auffassung der eudaimonia zugeschrieben, wonach diese aus philosophischem und politischem Leben gemischt ist. Siehe z. B. Kenny 1992, 5, für die entgegengesetzte Auffassung z.B. Buddensiek 1999, Kap.6.
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durch als eine Form der eudaimonia erwiesen, dass es lustvoll auf zweiter Ebene ist, eine Art von Reflexionslust darstellt, weil die Wahrnehmung des kalon, das man handelnd realisiert, lustvoll ist. Seinem eigenen Argument in Buch X, wonach der Politiker sich im Krieg oder bei innenpolitischen Problemen mit Hindernissen und Widerständen abzumühen hat, müsste Aristoteles daher entgegensetzen, für den ethisch guten Menschen sei z. B. das tapfere Handeln im Krieg lustvoll, weil er sich mit dem kalon identifiziert und so die Unlust, die durch die Hindernisse auf der unteren Ebene entsteht, auf der zweiten Ebene überwunden wird. Auch die in Buch X abgewertete Konzeption des ethischen Lebens stellt daher eine kohärente Konzeption der eudaimonia dar, wenn wir den ontologisch-metaphysischen Sinn des kalon heranziehen (siehe oben S. 83 ff.). Das letzte kalon ist der unbewegte Beweger. Dieser war an der oben angeführten Stelle aus Metaphysik Buch XII deswegen als kalon bezeichnet worden, weil er vollkommen einfach und notwendig, daher reine und kontinuierliche Aktualität ist, also nichts enthält, was seine Einheit und Dauer stören könnte. Erinnern wir uns jetzt, dass Aristoteles in Buch III den Menschen als Ursprung von ethischen Handlungen bezeichnet hatte (siehe oben S. 133). Dort wird das Handeln nicht im Hinblick auf seine ethische Beschaffenheit betrachtet, sondern als das, worin sich das Menschsein, das menschliche eidos, im Sinn der zweiten entelecheia verwirklicht. Der Mensch setzt Handlungen zwar nicht ganz aus sich selbst in die Welt wie der unbewegte Beweger, er erzeugt aber doch Handlungen wie Kinder. Der Sinn dieser Stelle lässt sich erst jetzt vollständig verstehen, nachdem wir einen kurzen Blick auf die aristotelische Theologie geworfen haben.15 Der Gott, der unbewegte Beweger, ist in ewiger kontinuierlicher Tätigkeit, die nie abbricht, und hält die Bewegung in der Welt in Gang, sofern alles ihn liebt und erstrebt. Der Mensch allein kann ihn direkt nachahmen, indem er als Individuum, wenn auch mit Unterbrechungen, die theoria ausüben kann. Den anderen Lebewesen ist die Nachahmung nur durch 15 Dafür, dass Aristoteles mit dem Vergleich von Handlungen mit Kindern auch diesen Punkt, die Nachahmung des göttlichen Seienden, im Auge hat, spricht EE 1222 b15 ff. Hier kommt der Vergleich im Kontext einer allgemeinen Überlegung über Handlungsursprünge vor, in der auch der unbewegte Beweger genannt wird. Aufschlussreich zu diesem ganzen Argument Buddensiek 1999, Kap. 5.4, der die weitergehende These vertritt, dass durch den Bezug auf das kalon das ethische Handeln letztlich als Instrument für den nous zu sehen ist. Da Buddensiek die EE interpretiert, müsste man allerdings prüfen, ob seine Argumente auch für die EN überzeugend sind, wo Aristoteles, etwa in VI 13, betont, beide Formen der menschlichen aretē, die sophia ebenso wie die phronēsis, seien unabhängig von einem weiteren Nutzen einfach schon deswegen wünschenswert, weil sie jeweils eine aretē der menschlichen Seele darstellen.
Zusammenfassung
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Fortpflanzung der Spezies möglich, indem also immer neue Wesen mit der entsprechenden Gestalt sich ablösen. Die Rede vom Menschen als Erzeuger seiner Taten dürfte nun implizieren, dass es zwischen der direkten Nachahmung in der Tätigkeit der theōria (geeignet für den menschlichen nous als göttliches Wesen) und der Fortpflanzung der Spezies (für die übrigen Lebewesen) noch eine weitere Möglichkeit der Annäherung an die unaufhörliche Tätigkeit des Gottes gibt, nämlich die Annäherung durch das beständige ethisch gute Handeln. Der Mensch kann seinem individuellen Leben Kontinuität und Einheit geben, indem er mit jeder Handlung sein eidos gestaltet, indem er jeder praxis eine prohairesis, die das kalon zum Ziel hat, zugrunde legt. Er kann zwar nie das verwirklichte Ganze seines Lebens vor sich bringen und betrachten, wie der göttliche nous sich selbst in jedem Augenblick vollständig betrachten kann. Er kann jedoch die kontinuierlich abfolgenden Handlungsgestalten wahrnehmen, in denen sich sein Leben verwirklicht, und diese Wahrnehmung ist lustvoll, weil sie sich an einem Gegenstand vollzieht, der zwar nicht vollständig kalon ist wie der Gott, aber doch eine Nachahmung dieses kalon darstellt, Einheitlichkeit in dem Sinn aufweist, dass Erinnerungen und Erwartungen übereinstimmen und man sich am eigenen Tun freuen kann. 6. Zusammenfassung Aristoteles entwickelt die beiden inhaltlichen Konzeptionen der eudaimonia bewusst aufgrund der begrifflichen Kriterien und allgemeinen Beobachtungen, die er in den bisherigen Ausführungen aufgestellt hat. Die Bedingungen an die eudaimonia waren insbesondere, dass sie immer um ihrer selbst willen gewollt wird, dass sie autark ist und sich ihr nichts hinzufügen lässt, dass sie das Leben möglichst ununterbrochen und im Ganzen umfasst. Diese Bedingungen ergaben sich daraus, dass die eudaimonia die inhaltliche Ausfüllung dessen ist, was begrifflich-formal eingeführt war als bestes Gut, als letztes Strebensziel, als das, was alle Menschen letztlich wünschen. An der Schnittstelle in I 6 versucht Aristoteles, wie wir gesehen haben, diesen Ansatz mit einer anderen Begrifflichkeit zu verbinden, wonach der Mensch ein spezifisches ergon hat, die Tätigkeit gemäß der Vernunft, und in der guten und unbehinderten, lustvollen Ausübung dieser Tätigkeit die eudaimonia besteht. Begrifflich hatte dieser Übergang, der, wie sich in I 7–12 zeigte, eher praktisch motiviert war, Lücken.16 Im Hintergrund steht etwas, das die gesamte griechische Philosophie und Literatur leitet, die Erfahrung der Wechselhaftigkeit des Schicksals, des 16
Dazu ausführlicher Wolf 1999a, Kap.2 (s. Lit. I) und Wolf 1994, 13 f.
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Die beiden Arten der eudaimonia (X 6–9)
Ausgeliefertseins an äußere Bedingungen. Sie legt eine Konzeption der eudaimonia nahe, deren Erreichbarkeit hauptsächlich von unserem eigenen Beitrag zum Gelingen des Lebens abhängt. Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag der ersten Form der eudaimonia, des philosophischen Lebens, zu sehen, insofern die theōria am wenigsten unter allen Tätigkeiten von empirischen Bedingungen abhängt. Wie oben erläutert, ist diese Unabhängigkeit jedoch begrifflich-ontologischer Art, während in der menschlichen Wirklichkeit gerade diese Lebensweise besonders viele Voraussetzungen hat. Genau genommen ist daher die erste Form der eudaimonia nicht eine Weise guten Lebens, die unter allen äußeren Bedingungen dauerhaft realisierbar ist. Der unbewegte Beweger und die entsprechende menschliche Lebensweise der theōria ist in Wahrheit der Entwurf eines Gegenmodells zur schwankenden menschlichen Lage, in dem die Wechselhaftigkeit gerade überwunden ist. In der Realität ist die erste Form der eudaimonia nur als Teil eines gemischten Lebens möglich, das zeitweise dem theōrein gewidmet ist. Wie dieses gemischte Leben aussehen soll, kommt jedoch nicht zur Klarheit. Dass es auf ein letztes und bestes Ziel, die theōria, gerichtet ist, hilft für konkrete Entscheidungsfragen nicht weiter. Denn die theōria ist nicht ein Ziel, für das die anderen Teile des Lebens einfach Mittel sind, sondern etwas, was man während bestimmter Zeiten betreibt, während man in anderen Zeiten Entspannung und Geselligkeit sucht, sich um Lebensbedingungen kümmern muss usw. Das aber ergibt keine einheitliche Struktur eines Lebens, der man entnehmen könnte, wie man die Bestandteile gewichten soll, welche und wie viele Zeiten man in der Betrachtung tätig sein soll.17 Insbesondere fehlt ein Vermögen, das diese Entscheidungen treffen könnte, denn die phronēsis hat die Anwendung der ethischen aretē zur Aufgabe, die sophia ist im Betrachten selbst tätig. Es sei denn, Aristoteles würde auch diese umfassende Überlegungsfrage der phronēsis zuweisen. Da sie so in Buch VI nicht eingeführt wird, wäre aber völlig im Dunkeln, wie sie bei dieser Aufgabe vorzugehen hätte. Nachdem Aristoteles in I 4 Platons abgehobene Idee des Guten kritisiert und bereits zu Beginn der EN betont, er frage stattdessen nach dem 17 Man könnte an dieser Stelle den Hinweis auf die pros hen-Struktur des Guten aufnehmen, den Aristoteles in I 4 gemacht hat (siehe oben S. 33). Demnach ist das Verhältnis zwischen theōria und anderen Gütern nicht einfach das der Mittel zu einem höchsten Zweck, sondern hat eine kompliziertere Form: Manche Güter sind dann Qualitäten des höchsten Guts, andere stehen in Relation zu ihm usw. Da Aristoteles für diese verschiedenartigen Verhältnisse jedoch seine Einteilung in Kategorien zugrunde legt, die aus Problemen der theoretischen Philosophie stammt und von ihm nicht für die Ethik ausgearbeitet wird, führt dieser Hinweis nicht sehr weit.
Zusammenfassung
255
menschlichen Gut, nach dem durch Handeln realisierbaren Gut, würde man ohnehin den zweiten Vorschlag, das ethische Leben, als den entscheidenden erwarten. Doch auch dieser Vorschlag ist, wenn man nach einem in allen Hinsichten guten menschlichen Leben fragt, eher einseitig und verkürzt. Zum Leben gehört mehr als das Sich-Verhalten zu den eigenen Affekten (bzw. zu den menschlichen Handlungen und Situationen, auf die diese antworten). Es gehört dazu beispielsweise auch, wie Aristoteles in den Büchern über Lust und Freundschaft ansatzweise sieht, aber nicht wirklich auswertet, dass man an verschiedenen Lebenstätigkeiten Freude hat, dass man Freunde hat, dass man genießen kann usw. Dass Aristoteles alle diese Komponenten eines guten Lebens bemerkt, sie aber auch in die zweite Konzeption der eudaimonia nicht klar integriert, könnte daran liegen, dass auch hinter der Empfehlung des ethischen Lebens ein praktisches Problem liegt, das wir nicht vollständig lösen können. Während hinter der ersten Form der eudaimonia das existentielle Problem stand, wie trotz äußerer Wechselhaftigkeit Dauer der eudaimonia möglich ist, könnte hinter der zweiten Form der eudaimonia das Problem stehen, wie trotz innerer und äußerer Komplexität (also trotz der Mannigfaltigkeit unserer Begierden und Affekte auf der einen Seite und der Diffusität und Heterogenität der äußeren Handlungssituationen auf der anderen Seite) die Einheit des guten Lebens möglich ist. Hier scheint der Vorschlag sinnvoll zu sein, dass man durch eine jeweilige Konkretisierung des kalon die mannigfaltigen Gegebenheiten in eine prohairesis versammelt, die das eine menschliche eidos in einer Handlung artikuliert. Dieser Vorschlag stößt in der Realität darin an eine Grenze, dass wir mit konfligierenden Affekten und Wünschen konfrontiert sind (wie Aristoteles im Zusammenhang der Tätigkeitslust selbst einräumt) und es keine Garantie gibt, dass diese sich immer zu einer Einheit bringen lassen. Dann liegt es nahe, die Einheit des ethischen Lebens formal zu bestimmen, als Leben mit einer vernünftigen Grundhaltung, die eine gewisse Einheitlichkeit dadurch erreicht, dass man mit den Situationen, die uns begegnen, auf einheitliche, nämlich vernunftgeleitete Weise umgeht. Anders als der Vorschlag, den Aristoteles macht, dürfte dieser Vorschlag jedoch allenfalls eine Voraussetzung der eudaimonia formulieren und nicht wie das Zielen auf das kalon eine Art der eudaimonia selbst darstellen. Haben dann die inhaltlichen Vorschläge, die Aristoteles macht, uns heute noch irgendetwas zu sagen? Was die erste und höchste Form der eudaimonia betrifft, so gibt es vereinzelt immer Menschen, die den Rückzug aus dem Alltag in die theōria, die möglichst große Befreiung vom wechselhaften Leben, besonders attraktiv und erfreulich finden.18 Die 18 Vgl. Urmson 1988, 123, der die Brauchbarkeit der Glückskonzeptionen kritisch bewertet. Wohlwollender Höffe 1996, Kap.14.4.
256
Die beiden Arten der eudaimonia (X 6–9)
Mehrzahl der Menschen allerdings scheint diese Lösung nicht für wünschenswert zu halten. Dann bleibt als Vorschlag das ethische Leben in der Polis. Dieser Vorschlag bleibt zwar, wie oben erläutert, begrenzt, weil er manche Lebensbereiche auslässt. Er betrifft jedoch einen wichtigen und umfangreichen Bereich des Lebens, dessen begriffliche Struktur Aristoteles, wie wir gesehen haben, auf detaillierte und erhellende Weise ausarbeitet. Die Inhalte der ethischen aretai allerdings können sich nur aus einer kritischen Reflexion auf die konkreten Wertvorstellungen der eigenen Kultur und Epoche ergeben, müssten also von uns auf der Grundlage des heutigen ethischen Bewusstseins aufgefunden werden.
Konkordanz der Übersetzungsäquivalente GIGON
ROLFES
WOLF
ROSS
adikia
Ungerechtigkeit
Ungerechtigkeit
Ungerechtigkeit
Ungerechtigkeit
injustice
agathos
gut
gut
gut
gut
good
(to) agathon
ein Gut
ein Gut
ein Gut
ein Gut
a good
agnoōn
in Nichtwissen
unwissend
ohne zu wissen
in Unwissenheit
in ignorance
aisthēsis
Sinnesempfindung
Wahrnehmung
Wahrnehmung
Wahrnehmung
(power of) perception
akolasia
Zuchtlosigkeit
Zügellosigkeit
Unmäßigkeit
Unmäßigkeit
self-indulgence
akousion
unfreiwillig
unfreiwillig
unfreiwillig
ungewollt
involuntary
akrasia
Unbeherrschtheit
Unbeherrschtheit
Unenthaltsamkeit
Unbeherrschtheit
incontinence
alogos
irrational
vernunftlos
unvernünftig
vernunftlos
irrational
anthrōpinon agathon
das oberste Gut für den Menschen
das Gute für den Menschen
das menschliche Gut
das Gut für den Menschen
the good for man
antipeponthos
Wiedervergeltung
Wiedervergeltung
Wiedervergeltung
Reziprozität
reciprocity
apatheia
Stumpfsinnigkeit
Stumpfheit
Unempfindlichkeit
Affektlosigkeit
insensibility
257
DIRLMEIER
Konkordanz
Griechisch
GIGON
ROLFES
WOLF
ROSS
archē praxeōn
bewegendes Prinzip von Handlung
Ausgangspunkt der Handlung
Prinzip der Handlungen
Ursprung der Handlungen
moving principle of actions
aretē (pl.: aretai)
(sittl. o. charakterl.) Tüchtigkeit, Trefflichkeit
Tüchtigkeit, Tugend, Befähigung
Tugend, Tüchtigkeit
Gutheit, Tugend
excellence
(to) ariston
das oberste Gut
das Beste/das vollkommen Gute
das Beste, das höchste Gut
das beste Gut
the chief good
astheneia
kraftloses Wesen
Schwäche
Schwäche
Schwäche
weakness
atychia
Unglück
Unglück
Unglück
Unglück
bad fortune
autarkeia
Autarkie
Selbstgenügsamkeit
das Genügen
Autarkie
self-sufficiency
axia
Angemessenheit
Würdigkeit
Würdigkeit
Würdigkeit
merit
bia
Zwang
Gewalt, Zwang
Zwang
Zwang
compulsion
boulēsis
Wünschen
Wollen
Wille
Wunsch
wish
bouleusis
Überlegen
Überlegung
Überlegung
Überlegung
deliberation
chreia
Bedarf
Bedürfnis
Bedürfnis
Bedürfnis
demand
Konkordanz
DIRLMEIER
258
Griechisch
Gewandtheit
Geschicklichkeit
Geschicklichkeit
cleverness
(to) deon
das Richtige
das Gesollte
das rechte Maß
das Gesollte
what is right
di’ agnoian
aufgrund von Unwissenheit
aus Unwissenheit
aus Unwissenheit
aufgrund von Unwissenheit
by reason of ignorance
dī’ heteron
zu einem anderem Zweck
um anderer Ziele willen
eines andern wegen
um eines andern willen
for the sake of something else
dianemetikē
Gerechtigkeit der Verteilung
das Gerechte der Verteilung
das Gerechte der Verteilung
die Gerechtigkeit in der Verteilung
the just in distribution
dianoia
Denken, Verstand
Überlegung
Vernunft
Denken
thought
dikaiosynē
Gerechtigkeit
Gerechtigkeit
Gerechtigkeit
Gerechtigkeit
justice
diorthōtikē (dikaiosynē)
regelnde Gerechtigkeit
ordnende Gerechtigkeit
ausgleichende Gerechtigkeit
ausgleichende Gerechtigkeit
rectificatory justice
doxa
Meinung
Meinung
Meinung
Meinung
opinion
doxastikon
der meinende Teil
der meinende Teil
Teil der Vernunft, dessen Funktion das Schließen oder Meinen ist
der meinende Teil
part (of the soul that possesses reason) which forms opinions
dynamis
Anlage, Grundlage
Fähigkeit
Vermögen
Vermögen, Anlage
faculty, capacity
259
(intellektuelle) Gewandtheit
Konkordanz
deinotēs
GIGON
ROLFES
WOLF
ROSS
eidos
Wesen Wesenseigenschaft, Wesensgestalt
Wesen,
Form
Form
form
energeia
Tätig-sein, aktive Entfaltung, Aktivität
Tätigkeit
Tätigkeit
Fähigkeit
activity
enkrateia
Beherrschtheit
Selbstbeherrschung Beherrschtheit
Enthaltsamkeit
Beherrschtheit
continence
epanorthōtikē (dikaiosynē)
das Gerechte als ein Regulierendes
ordnende Gerechtigkeit
Ausgleichendes, wiederherstellendes Recht
ausgleichende Gerechtigkeit
corrective justice
eph’ hēmin (einai)
in unsere Macht gegeben (sein)
bei uns stehen
bei uns stehen
bei uns liegen
to be in our power
epieikeia
Güte in der Gerechtigkeit
Billigkeit
Billigkeit
Billigkeit
equity
epistēmē
(wissenschaftliche) Erkenntnis
Wissenschaft
Wissenschaft Wissen
Wissenschaft
knowledge
epithymia
Begehren
Begierde
Begierde
Begierde
appetite
ergon
eigentümliche Leistung
eigentümliche Leistung
eigentümliche menschliche Tätigkeit
Funktion
function
Konkordanz
DIRLMEIER
260
Griechisch
das Letzte
das Letzte
das Letzte
an ultimate
euboulia
Wohlberatenheit
Wohlberatenheit
Wohlberatenheit
Wohlberatenheit
excellence in deliberation
eudaimonia
Glück
Glückseligkeit
Glückseligkeit
Glück
happiness
eunoia
Wohlwollen
Wohlgesinntheit
Wohlwollen
Wohlwollen
goodwill
eupraxia
wertvolles Handeln
gutes Handeln
gutes Handeln
gutes Handeln
good action
(to) eu zēn kai prattein
gutes Leben und gutes Handeln
das Gut-Leben und das Sich-GutVerhalten
das Gut-Leben und das Sich-GutGehaben
daß man gut lebt und gut handelt
living well and faring well
genesis
Werden
Werden
Werden (und Entstehen)
Werden
coming into being
gnōmē
verständnisvolles Wesen, Takt
Takt
Diskretion, Unterscheidung
Einsicht
judgement
haplōs
an sich
schlechthin
schlechthin
überhaupt
simply
hēdonē
Lust
Lust
Lust
Lust
pleasure
hekōn, hekousion
freiwillig
freiwillig
freiwillig
mit Wollen, gewollt
voluntary
hexis
(feste) Grundhaltung
Eigenschaft
Beschaffenheit, Habitus
Disposition
state
261
das letzlich Gegebene, das Letztgegebene
Konkordanz
(to) eschaton
GIGON
ROLFES
WOLF
ROSS
hexis meta logou poietikē
auf ein Hervorbringen abzielende reflektierende Grundhaltung
mit Vernunft verbundenes hervorbringendes Verhalten
mit Vernunft verbundener Habitus des Hervorbringens
mit Überlegung verbundene Disposition der Herstellung
reasoned state of capacity to make
hexis meta logou praktikē
auf ein Handeln abzielende reflektierende Grundhaltung
mit Vernunft verbundenes handelndes Verhalten
mit Vernunft verbundener Habitus des Handelns
mit Überlegung verbundene Disposition des Handelns
reasoned state of capacity to act
hexis prohairetikē
feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung
Verhalten der Entscheidung, des Willens
Habitus des Wählens, der Willenswahl
Disposition, die sich in Vorsätzen äußert
state concerned with choice
homonoia
Eintracht
Eintracht
Eintracht
Eintracht
unanimity
hōs dei
in der richtigen Weise
wie man soll
wie man soll, auf die rechte Art
wie man soll
in the right way
(to) ison
Gleichheit
Gleichheit
Gleichheit
Gleichheit
equality
isos
der die bürgerliche Gleichheit achtet
der sich an die Gleichheit hält
der Freund der Gleichheit
der eine Einstellung der Gleichheit hat
equal man
kakia
sittlicher Fehler, Minderwertigkeit
Schlechtigkeit
Laster, Schlechtigkeit
Schlechtigkeit, Laster
vice
Konkordanz
DIRLMEIER
262
Griechisch
das Edle
das sittliche Gute
das Werthafte
the noble
kalos
ehrenvoll, edel
edel
rühmlich, schön, sittlich gut
werthaft
noble
karteria
kraftvolle Ausdauer
Abgehärtetheit
Abgehärtetheit
Ausdauer
endurance
(to) kath’ hekaston
im Bereich der Einzelfälle, des Einzelnen sein
zum Einzelnen gehören
zum Einzelnen gehören
das Einzelne
to be included among particulars
kath’ hauto
für sich, an sich
um seiner selbst willen, an sich
seiner selbst wegen, an sich
für sich
in itself
kinēsis
Bewegung
Bewegung
Bewegung
Bewegung
movement
logismos
erwägende Reflexion
Nachdenken
Nachdenken
Überlegung
calculation
(to) logistikon
abwägend reflektierender Teil, abwägende Reflexion
berechnender Teil
ratiocinierender, reflektierender, abwägender Teil
überlegender Teil
calculative part
(to) logon echon
rationaler Seelenteil
vernunftbegabter Teil
vernunftbegabter Seelenteil
vernunftbesitzender Teil
element that has a rational principle
logos
richtiger Plan, rationales Element
Vernunft, Denken
Vernunft, Verstand
Vernunft, Überlegung
reason
263
das Sittlich-Edle
Konkordanz
(to) kalon
GIGON
ROLFES
WOLF
ROSS
lypē
Unlust
Schmerz
Unlust
Unlust
pain
makarios
die Vollform des Glückes habend
selig
glücklich
glückselig
blessed
(to) meson
Mitte
das Mittlere
das Mittlere
das Mittlere
the mean
mesotēs
Mitte das Mittlere
Mitte Mittelmaß
Mitte
Mitte, mittlere Disposition
intermediate, mean
nomimos
der das Gesetz achtet
der die Gesetze beobachtet
der die Gesetze beobachtet
der die Gesetze beachtet
law-abiding man
nomos
Gesetz
Gesetz
Gesetz
Gesetz
law
nous
intuitiver Verstand
Geist
Verstand, Intellekt
intuitive Vernunft
comprehension
(to) orektikon
Strebevermögen
das Strebende
strebendes Vermögen
Strebevermögen
desiring element
orexis bouleutikē
überlegtes Streben
überlegendes Streben
überlegtes Begehren
mit Überlegung verbundenes Streben
deliberate desire
orthos logos
richtige Planung
rechte Einsicht
rechte Vernunft
richtige Überlegung
right reason
ouch hekousion
nicht-freiwillig
nicht-freiwillig
nicht-freiwillig
nicht gewollt
non-voluntary
Konkordanz
DIRLMEIER
264
Griechisch
Spiel
(lustiges) Spiel, das Lustige und Scherzhafte
Vergnügung
amusement
panourgia
Gerissenheit
Gerissenheit
Schlauheit Durchtriebenheit
Verschlagenheit
villainy
paranomos
der die Gesetze missachtet
der Gesetzwidrige
der Gesetzesübertreter
der das Gesetz verletzt
lawless man
pathos
irrationale Regung Affekt
Leidenschaft
Affekt
Affekt
passion
philein
sich befreunden, lieben
befreundet sein, lieben
lieben
lieben
love
(to) philēton
das Liebenswerte
das Liebenswerte
das Liebenswerte
das Liebenswerte
the lovable
philia
Freundschaft
Freundschaft
Freundschaft
Freundschaft
friendship
philos
Freund
Freund
Freund
Freund
friend
phronēsis
sittliche Einsicht
Klugheit
Klugheit
Klugheit
practical wisdom
phronimos
der Einsichtige
der Verständige
kluger Mann
der Kluge
man of practical wisdom
pleonektēs
der die gleichmäßige Verteilung der Güter missachtet
der Unersättliche
der Habsüchtige
der mehr haben will
grasping man 265
Spiel
Konkordanz
paidia
DIRLMEIER
GIGON
ROLFES
WOLF
ROSS
poiēsis
Hervorbringen
Hervorbringen
Hervorbringen
Herstellen
making
ponēros
schlecht
schlecht
schlecht
schlecht
wicked
praxis
Handeln
Handeln,
das geziemende Maß
das Angemessene
Handlung, Handeln das Angemessene
action
(to) prepon
Handeln Handlung das Geziemende
probebouleumenon
etwas, dem Überlegung voraufgegangen ist
ein VorherBedachtes
(etwas, das) vorbedacht (ist)
was vorher überlegt ist
previous deliberation
prohairesis
Entscheidung
Entscheidung, Wille, Willensentscheidung
Entschließung, Willenswahl
Vorsatz
choice
propeteia
überstürztes Wesen
Voreiligkeit
Übereilung
Voreiligkeit
impetuosity
pros heteron
in Bezogenheit auf den Mitbürger
im Hinblick auf den anderen Menschen
auf andere Bezug habend
in Bezug auf den anderen Menschen
in relation to others
(ta) pros ta telē
Mittel zum Zweck
Wege zum Ziel
Mittel zum Zweck
was zum Ziel führt
what contributes to the ends
scholē
Muße
Muße
Muße
Muße
leasure
266
Griechisch
what is becoming
Konkordanz
Weisheit
Weisheit
Weisheit
philosophic wisdom
spoudaios
hervorragend
hervorragend
gut, tüchtig
gut
good
spoudē
Anstrengung, ernste Tätigkeit
Ernst
(ernste) Arbeit das Ernste
Ernsthaftigkeit
exertion
synallagma
vertragliche Beziehung
vertraglicher Verkehr
Verkehr
Transaktion
transaction
synesis
Verständigkeit
Verständigkeit
Verständigkeit
Verstehen
(good) understanding
syntheton
zusammengesetzte Wesenheit
zusammengesetztes Wesen
zusammen gesetztes Wesen
das Zusammengesetzte
composite nature
technē
praktisches Können, Technik, Hervorbringen
Kunst, Wissenschaft, Hervorbringen
Kunst, Hervorbringen
Herstellungswissen
art, making
teleion
Endziel, vollkommen, ein Vollendetes
Endziel, vollkommen, das Vollkommene
Endziel, etwas Vollendetes
abschließendes Ziel
complete end, complete
telos
Ziel
Ziel
Ziel
Zirl
end
theōrein
sich der geistigen Schau hingeben
betrachten
betrachten
betrachten
contemplate
267
philosophische Weisheit
Konkordanz
sophia
GIGON
ROLFES
WOLF
ROSS
theōria
geistige Schau, Philosophie, Tätigkeit des Geistes
Betrachtung, Philosophie
Betrachtung, Weisheit, das Betrachten
Betrachtung
contemplative activity, philosophy, contemplating
thēriotēs
tierisches Wesen
Roheit
tierische Roheit
tierische Rohheit
brutishness
tryphē
Weichlichkeit
Weichlichkeit
Weichlichkeit
Genussliebe
softness
tychē
Zufall
Zufall
Glück
Zufall
chance
zēmia
Verlust
Schaden
Nachteil
Verlust
loss
Konkordanz
DIRLMEIER
268
Griechisch
Literatur Gesamtausgabe der Werke des Aristoteles: Bekker, I. (1831–1870), Berlin, Nachdruck Berlin/New York 1960–1987. Gesamtübersetzungen: Barnes, J. (Hrsg.) (1984): The Complete Works of Aristotle: The Revised Oxford Translation, Princeton (N.J.). Flashar, H. (Hrsg.) (1956ff.): Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Berlin. Benutzte griechische Ausgabe der EN: Bywater, I. (1894), (Neudruck 1954, 1962, 1970), Oxford.
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Register Abgehärtetheit 165, 178f. Affekt 69ff., 75, 172 Aktualisierung 172f., 193, 208 Anlage, s. dynamis Antigone 98 Anwendung 63, 113 apatheia 82 Aporie 62, 167 aretē 32, 37–56 aretē, dianoetische 46, 140–163, 171 aretē, Einheit der 160 aretē, ethische 46, 66–92, 99f., 127, 154– 160, 164–189, 199, 210, 213f., 217, 219, 232, 243f. aretē, natürliche 158 f. Aufklärung 16 Autarkie 35, 49, 234f., 237, 240, 246, 248f. Begierde 88, 124, 172, 179, 182 Beständigkeit, s.Dauer Bestes (Gut) 28–37, 55 Bestialität 164 Betrachtung (s. auch theōria) 32, 211 Bewegung 132, 202ff. Bewegursache 133, 155 Bogenschütze 29, 153 Charakter 15, 23, 70, 92, 105, 115, 118, 121f., 129, 135–139, 154f., 167 Dauer 36, 45 A 39, 48, 52, 211, 255 Davidson 188 De Anima 178 A 13 De Motu Animalium 178 A 13 Dialektik 62f. dominante vs. inklusive Interpretation des höchsten Guts 30, 35, 57 dynamis 67, 69, 95, 143, 157
Ehre 32, 84, 89, 166 eidos 40, 40 A 29, 128, 132, 155, 162, 202, 205, 234, 244 Einheit der Person 91, 253, 255 Energeia, s. auch Tätigkeit 25, 41, 244 Entelechie 202 ff. eph’ hēmin, to 125, 127, 134 ergon 37, 72, 74, 143 Erziehung 67, 74, 90, 115, 138 Ethik 15, 17 eudaimonia 23–56, 75, 85, 129, 155, 161, 170, 198, 209, 231, 239–256 Eudemische Ethik (EE) 19, 23, 36, 40, 50, 59, 60 A 5, 65, 82, 132, 157 A 13, 157 A 13, 181 A 14, 207, 211, 233, 234, 252 A 15 Eudoxos 200 eupraxia 31, 66, 88, 147, 152, 154, 158, 210 Euripides 187 A 25 Fähigkeit, s. dynamis Fehlschluss, naturalistischer 43 Form s. eidos Formursache 155 Freiheitsbegriff 116 Freundschaft, Freunde 49, 213–238 Gemeinschaft 111, 221, 224, 243 Gerechtigkeit 15, 17, 93–115, 213 Gerechtigkeit, natürliche 98 f. Gesetz 96, 99, 113 Gesollte (das) 15 Gesolltes 76 Gewandtheit (deinotēs) 156–159 Gewohnheit 67, 72 Gleichheit 101–112 Glück 23, 31
Register
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Gott, göttliches Seiendes, s. auch unbewegter Beweger 85 Gut 23–56, 84, 125, 148f., 194, 196 Gut für den Menschen 33, 244 Gut, durch Handeln erreichbares 37 guter Mensch, s. spoudaios gutes Handeln, s. eupraxia gutes Leben (s. auch eudaimonia) 15, 17, 23, 213 gutes Leben, subjektiver Aspekt 48, 71, 190, 197
Meinung 125 Metaphysik (Text des Aristoteles) 25 Anm. 3, 40 A 29, 143, 144, 146, 155, 202, 203, 252 Metaphysik 55, 85, 212, 237, 249 Mitte, Mittleres 71–92, 141, 219 Mittel 34, 56, 125, 158, 186, 202 Moral 15, 17, 76, 84, 92 f., 97, 114 f., 120, 162f., 237 Muße 247f. Mutterliebe 220, 232, 237
Handlung 25, 118, 132, 135, 173 Handlungen, gemischte 119 Handlungsfreiheit 117 Handlungstheorie 17f., 90, 116, 120, 162, 165 Hardie 30 Hedonismus 181 A 14, 211f. hekousion 118–124, 134–139, 179 hexis 69f., 72, 85, 131, 134–139, 143, 157 Hume 144
Natur (physis) 118 Natur des Menschen 40–44, 191, 231 notwendig (Seiendes) 59, 145, 155 nous 143, 145, 229, 242 f.
Idee des Guten 33 Internalismus 162 Intuitionismus, ethischer 151–153, 162 kalon 83–87, 91, 129, 132, 161, 199, 210f., 213, 249, 255 Kant 17, 66 Kausalprozess 128, 133 Kenny 19, 116 Kinder 117, 124, 132, 153, 222, 230 Lebensformen 32 logos, s. auch Vernunft 41 A 30 Lust 32, 43, 48, 52, 70f., 90, 168, 190– 212 Lust an Tätigkeiten 191–212 Lust, sinnliche 73, 87, 167, 192 Mäßigkeit 73, 87f., 167, 180ff. Magna Moralia (MM) 1, 23, 235 makarios 52 Marx 111 Materie 202, 211, 229, 243
orthos logos 84, 89, 91, 153, 159, 162 Philosophie 239–256 phronēsis, s. auch Überlegung 48, 64, 74, 84, 92, 140–163, 164–189, 239, 243 Physik 202 A 16 Platon 16, 18, 26, 32 f., 54 f., 58 f., 60, 64, 85, 95, 135, 180 A 14, 194 A 6, 195 A 8, 208, 215, 228, 243 A 2, 249 A10, 254 Polis 53, 99, 106, 213 Politik (Text des Aristoteles) 106 f. Politik 15, 17, 23, 29, 32, 154, 239, 251 prohairesis 25, 69, 124–133, 148 f., 156, 169 Protreptikos 242 A 2 Pythagoräer 109 f. Realdefinition 44 A 36, 57, 128, 145 Reflexionslust 199, 210, 212, 229 Rhetorik 25 A 2 Richtige (das) 15, 76 Schlechtigkeit 164, 180 A 14 Seele 41, 45–47, 141, 144, 243 Selbstbewegung 118, 123 Selbstwahrnehmung 195 Sokrates 135, 144 A 4, 159, 170, 172, 177, 179, 184, 187 Solon 51
280
Register
sophia, s.Weisheit Sophisten 16 Speusippos 196 spoudaios 39, 130, 193, 241 Strafe 138 Strebevermögen, Streben, Strebung 46, 70f., 131, 141, 195, 229, 239 Syllogismus, praktischer 149–154, 161, 171–178 Tapferkeit 73, 81–86 Tätigkeit 191 Tätigkeit, unbehinderte 191, 195, 248f. Tausch 110ff., 224 technē 24, 25, 28, 42, 57, 67, 68, 72, 126, 128, 132, 146, 150, 161, 231 Teleologie 44 Telos, s. Ziel Theognis 233 theōria 33, 242–255 Tiere 36, 117, 124, 164, 213 Topik 25 A2 Tugendmoral 66, 92 Überlegung, praktische 64, 117, 124– 133, 148–154, 158, 165 um seiner selbst willen erstrebt 29, 34, 183, 191, 201, 240, 245, 247, 250, 253 Unbeherrschtheit 46, 125, 164–189 unbewegter Beweger, s. auch Gott 85, 133, 197, 211, 229, 235, 245 Ursprung 132f.
Vaterliebe 222, 232 Verantwortung, s. Zurechnung Vernunft 41, 47, 140–163, 187, 228, 239 Vorsatz 126, 131, 149 Wahrheit 143, 144, 157 Wahrnehmung 151 ff., 158, 177 f., 195 A 10, 233 Wahrscheinlichkeit 59, 127 Warentausch 110 ff. Wechsel(haftigkeit), s. auch Zufall 48, 253 Weichlichkeit 166, 178 f. Weisheit 48, 145 f., 160 f. Wert (axia) 104 Willen 116 Willensschwäche 165, 187 Willentlichkeit, s. hekousion Wirkursache 129, 133 Wissenschaft 25, 61 ff., 72, 95, 143, 145, 172 Wohlberatenheit 148, 154 Wohlwollen 215f., 223 Wunsch 125 Ziel (telos) 24–37, 126–133, 148, 202 Zielhaftigkeit 34 ff. Zorn 86f., 166, 184 Zufall 50, 127 Zurechnung 134–139
Informationen Zum Buch Urlsula Wolf legt eine Einführung in das erste systematische Werk zur Ethik vor. Diese Werkinterpretation macht den schwierigen Text insbesondere für Studierende zugänglich, die noch nicht mit der antiken Begrifflichkeit vertraut sind. Sie erschließt den komplexen Text und erleichtert die Orientierung durch Register, Konkordanz und Bibliographie.
Informationen Zum Autor Ursula Wolf, geb. 1951, Professorin für Philosophie mit Schwerpunkt Ethik an der Universität Mannheim.