142 9 3MB
German Pages 657 Year 2005
KRÖNERS TASCHENAUSGABE 459
Aristoteles-Lexikon herausgegeben von
Otfried Höffe
Redaktion: Rolf Geiger und Philipp Brüllmann
ALFRED KRÖNER VERLAG STUTTGART
Aristoteles-Lexikon herausgegeben von Otfried Höffe Stuttgart: Kröner 2005 (Kröners Taschenausgabe; Band 459) ISBN Druck: 978-3-520-45901-5 ISBN E-Book: 978-3-520-45991-6
© 2005 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart Datenkonvertierung E-Book: Alfred Kröner Verlag, Stuttgart
Inhalt Autorenverzeichnis
. . . . . . . . . . . . VI
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . VII Hinweise zur Benutzung. . . . . . . . . . . XI Abkürzungen: Werke antiker Autoren . . . . . . . . . . . XII Lexika und Zeitschriften . . . . . . . . . . XIV Lexikon A–Z . . . . . . . . . . . . . . . 1 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . 638 Register Deutsch-Griechisch . . . . . . . . . 629 Register Lateinisch-Griechisch
. . . . . . . . 636
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Jochen Althoff, Mainz Prof. Dr. Michael Bordt SJ, München Philipp Brüllmann, Berlin Prof. Dr. Hubertus Busche, Hagen Klaus Corcilius, Berlin Prof. Dr. Wolfgang Detel, Frankfurt am Main PD Dr. Ralf Elm, Weingarten Katharina Fischer, Berlin Prof. Dr. Sabine Föllinger, Bamberg Dr. Rolf Geiger, Tübingen Stephan Herzberg, Tübingen Prof. Dr. Dr. h. c. Otfried Höffe, Tübingen Prof. Dr. Christoph Horn, Bonn PD Dr. Johannes Hübner, München Dr. Ludger Jansen, Stuttgart PD Dr. Richard King, München Prof. Dr. Anton Friedrich Koch, Tübingen Naomi Kubota, Berlin Prof. Dr. Michael-Thomas Liske, Passau Prof. Dr. Ulrich Nortmann, Saarbrücken Dr. Carolin Oser-Grote, Würzburg Prof. Dr. Christian Pietsch, Münster Prof. Dr. Christof Rapp, Berlin Prof. Dr. Dr. Friedo Ricken SJ, München Dr. Jens Timmermann, St. Andrews PD Dr. Martin Vöhler, Berlin Tim Wagner, Berlin Prof. Dr. Hermann Weidemann, Münster
Vorwort Selbst unter den großen Philosophen nimmt Aristoteles einen besonderen Rang ein. Die Wißbegier, die nach dem Einleitungssatz seiner Metaphysik den Menschen auszeichnet, pflegt er derart umfassend und gründlich, daß man ihn Jahrhunderte lang als Maestro aller Wissenden rühmte. Philosophen unterschiedlicher Disziplinen und Richtungen schätzen seine einzigartige Verbindung von begrifflicher Schärfe mit Offenheit für Erfahrung und spekulativer Kraft. Aber nicht nur Philosophen studieren Aristoteles. Sein geradezu enzyklopädisches Werk inspiriert auch Naturforscher und Theologen, hier sowohl christliche als auch jüdische und islamische Theologen, sogar Schriftsteller und Dichter, ohnehin Literatur-, Sozialund Politikwissenschaftler, Juristen, Ökonomen und Psychologen. »Natürlich« befaßt sich Aristoteles mit den bis heute klassischen Themen der Philosophie: der Logik und der Erkenntnistheorie, der philosophischen Physik und der Metaphysik sowie der Ethik und Politik, also mit Themen, die nicht nur für Philosophen vom Fach, sondern ebenso für die Grundlagenreflexion anderer Disziplinen von Bedeutung sind. Darüber hinaus widmet er sich aber auch Disziplinen, die heute nur wenige Fachleute betreiben, wie etwa der philosophischen Ästhetik, der philosophischen Rhetorik oder der politischen Anthropologie. Aristoteles’ außerordentliche Wertschätzung wäre aber kaum verständlich, wenn er bloß ein Philosoph im heutigen, engeren Verständnis wäre. Tatsächlich leistet er auch überragende Beiträge zu empirischen Wissenschaften, vor allem zur Biologie, namentlich Zoologie. Niemand geringerer als Darwin hält Aristoteles für »einen der größten, wenn nicht den größten Beobachter, der je gelebt hat«. Nicht zuletzt gehen die Anfänge der Politikwissenschaft in Europa auf die im 13. Jahrhundert beginnende Rezeption von Aristoteles’ Politik zurück. Mit seiner politischen Anthropologie, seiner Lehre der drei gerechten und drei ungerechten Verfassungen sowie dem Ge-
VIII
Vorwort
danken der gemischten Verfassung prägt das Werk über Jahrhunderte die politische Theorie und sogar die politische Praxis. Nach den philosophischen Angriffen, die schon im Spätmittelalter beginnen und sich im 17. und 18. Jahrhundert auf breiter Front gegen den zu einer Schulphilosophie (Scholastik) erstarrten Aristotelismus richten, könnte man vermuten, Aristoteles habe seitdem nur noch historische Bedeutung. So außergewöhnlich diese Bedeutung in der Tat ist – Aristoteles’ Gewicht reicht weit darüber hinaus. Dazu nur zwei Hinweise: Einerseits erhalten viele philosophische Begriffe ihre seither vorherrschende Bedeutung erst durch Aristoteles. Teils als Fremdwörter, teils über die lateinischen Übersetzungen prägen die Aristotelischen Ausdrücke, zumal sie sich zu einem ziemlich konsistenten Begriffsnetz verbinden lassen, etwa zwei Jahrtausende lang das philosophische Denken in fast allen europäischen Sprachen. Die Wirkung überschreitet zudem den europäischen (und christlichen) Raum und befähigt zu einem interkulturellen und interreligiösen Diskurs. Denn Aristoteles wird seit dem 9. Jahrhundert ins Arabische, auch ins Hebräische übersetzt und intensiv kommentiert. Andererseits erfährt Aristoteles’ Philosophie seit einiger Zeit in verschiedenen Disziplinen der modernen Philosophie von der Ontologie über die Handlungstheorie bis zur Ethik, sogar der Logik eine erneute Wertschätzung. Insbesondere in der Ontologie bzw. Gegenstandstheorie, der philosophischen Ethik, auch der Politik ist er in den Debatten von heute ein in systematischer Hinsicht gewichtiger Gesprächspartner. Trotz der doppelten, sowohl philosophiegeschichtlich als auch systematisch enormen Bedeutung gibt es derzeit kein Wörterbuch zu Aristoteles’ Terminologie. Dabei ist dies gerade für Aristoteles besonders naheliegend. Denn das Buch V seiner Metaphysik ist das erste überlieferte und bis heute lesenswerte Begriffslexikon, das nicht weniger als dreißig philosophische Grundbegriffe in ihrer mehrfachen Bedeutung vorstellt. Wer sich mit den oft schwierigen Begriffen der Aristotelischen Philosophie näher auseinandersetzen will, war bislang
Vorwort
IX
auf die philologische Leistung von Hermann Bonitz angewiesen, auf den unverzichtbaren Index Aristotelicus (1870), ein nach Begriffen geordnetes Stellenregister. Das vorliegende Wörterbuch will nun Aristoteles’ Begriffe selbst vorstellen und erläutern. Dieses Lexikon ist nicht nur für Aristotelesforscher geschrieben. Schon wegen der außergewöhnlichen Wirkungsmacht der einschlägigen Begriffe wendet es sich ebenso an den gebildeten Laien und an alle, die sich in Aristoteles’ Denken einarbeiten oder sich mit ihm vertieft beschäftigen wollen, ohne den griechischen Originaltext mehr als allenfalls punktuell zu lesen oder mit der philosophischen Terminologie schon hochvertraut zu sein. Von den Fächern aus betrachtet, richtet sich das Lexikon in erster Linie an Studenten und Dozenten der Philosophie, der Alten Geschichte und der Kulturgeschichte. Es kann aber auch den Klassischen Philologen noch Zusammenhänge erschließen. Und außer den Geistes- und Sozialhistorikern werden Sprach- und Literaturwissenschaftler, sogar Naturwissenschaftler angesprochen, sofern sie sich für die geschichtliche Dimension ihrer Fächer interessieren. Vielleicht weckt das Lexikon auch die Lust, die Schriften von Aristoteles selbst zu lesen, dabei manches Vorurteil gegen ihn abzulegen und sich von seinem erfahrungsoffenen, ebenso originellen wie scharfsinnigen Philosophieren zum eigenen Denken anstecken zu lassen. Auch wenn es selbst dem Aristoteles-Forscher willkommen sein dürfte – als ein reines Fachlexikon, das sich nur an Spezialisten wendet, versteht sich dieses Wörterbuch jedenfalls nicht. Das Lexikon enthält als Stichwörter keine Eigennamen, sondern nur Sachausdrücke. Es geht von den griechischen, aber in lateinischer Umschrift verzeichneten Begriffen aus, denen die geläufige deutsche, in der Regel auch die lateinische Entsprechung beigegeben wird. Zwei Register erschließen die Artikel sowohl von den deutschen als auch den lateinischen Übertragungen aus. Der Anhang enthält außerdem ein Literaturverzeichnis mit einer Zusammenstellung allgemeiner Einführungen und einem Überblick über wichtige
X
Vorwort
und besonders geläufige Ausgaben der Aristotelischen Schriften. Auch wenn ein einbändiges Lexikon eine gewisse Auswahl erfordert, kommen doch Begriffe aus möglichst allen Bereichen der Aristotelischen Philosophie zur Sprache. Es werden daher nicht nur die bekannten und vielzitierten Grundbegriffe aus Metaphysik, Ethik, Politik und Poetik erläutert, sondern ebenso Begriffe aus der Logik, der Topik und der Rhetorik, aus der Erkenntnistheorie, der Psychologie und der Naturphilosophie, einschließlich der Kosmologie, nicht zuletzt der philosophischen Biologie. In erster Linie bieten die Artikel zu den einzelnen Begriffen werkimmanente Verständnis, bei denen Aristoteles selbst ausführlich zu Wort kommt. Durch die Verweise, die die Artikel miteinander verbinden, kann man sich die Begriffe auch in ihrem systematischen Zusammenhang erschließen. Verzichtet wird auf eine nähere Diskussion der Aristoteles-Forschung, die sich dem interessierten Leser aber über die Literaturhinweise zu den meisten Artikeln erschließt. In der Vielzahl der Autoren spiegelt sich beides wider, die Spezialisierung ebenso wie die Vielfalt der wissenschaftlichen Stile, die die derzeitige Aristotelesforschung prägen. Ich danke allen Autoren für die sachkundigen Artikel; ich danke Tim Wagner und Klaus Corcilius, Katharina Fischer, Katja Flügel und Jacub Krajczynski für zusätzliche Mitarbeit, vor allem aber für die engagierte redaktionelle Arbeit Philipp Brüllmann, M.A. und Dr. Rolf Geiger, nicht zuletzt für finanzielle Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung. Tübingen, im März 2005
Otfried Höffe
Hinweise zur Benutzung Die griechischen Begriffe werden in lateinischer Umschrift vorgestellt. Die Reihenfolge der Artikel ist deshalb die des lateinischen Alphabets. Das griechische Eta wird als ê, das Omega als ô wiedergegeben, während das schlichte e dem Epsilon und das schlichte o dem Omikron entsprechen. Das Ypsilon wird in der Regel als y wiedergegeben, nur bei Doppellauten wie in autos als u. Die griechische Bezeichnung des h-Lautes, der Spiritus asper, erscheint auch innerhalb eines Wortes als h (etwa prohairesis). Das Iota subscriptum wird durch einen Punkt unter dem entsprechenden Buchstaben transkribiert. Alle Stellenhinweise auf Aristotelische Schriften beziehen sich auf die Seiten-, Spalten- und Zeilenangaben der Ausgabe von Immanuel Bekker, nach der Aristoteles üblicherweise zitiert wird. In der Regel folgt auf den abgekürzten Titel eine römische Zahl zur Angabe des Buches und eine arabische Ziffer zur Angabe des Kapitels. »EN I 1, 1095a5–9« ist z. B. zu lesen als: »Nikomachische Ethik, erstes Buch, erstes Kapitel, Seite 1095, Spalte a, Zeile 5–9 der Bekker-Ausgabe«. Die Abkürzungen der Aristotelischen Werktitel wie auch der Titel von Werken anderer Autoren werden in einem gesonderten Verzeichnis angeführt. Dasselbe gilt für die Kürzel, nach denen die Zeitschriften zitiert werden. Die Autoren haben zum Teil von eigenen Übersetzungen Gebrauch gemacht.
Abkürzungen Werke antiker Autoren Aristoteles
An. An. post. An. pr. Ath. pol. Cael. Cat. Div. somn.
De anima: Über die Seele Analytica posteriora: Zweite Analytiken Analytica priora: Erste Analytiken Athenaion politeia: Staat der Athener De caelo: Über den Himmel Categoriae: Kategorien De divinatione per somnum: Über die Weissagung im Traume EE Ethica Eudemica: Eudemische Ethik EN Ethica Nicomachea: Nikomachische Ethik Fragm. Fragmenta: Fragmente Gen. an. De generatione animalium: Über die Entstehung der Lebewesen Gen. corr. De generatione et corruptione: Über Entstehen und Vergehen Hist. an. Historia animalium: Tierkunde Inc. an. De incessu animalium: Über die Fortbewegung der Lebewesen Insomn. De insomniis: Über die Träume Int. De interpretatione/Peri hermeneias: Hermeneutik Iuv. De iuventute et senectute: Über Jugend und Alter Long. De longaevitate et de brevitate vitae: Über Lang- und Kurzlebigkeit Mem. De memoria et reminiscentia: Über Gedächtnis und Erinnerung Met. Metaphysica: Metaphysik Meteor. Meteorologica: Meteorologie MM Magna Moralia: Große Ethik Mot. an. De motu animalium: Über die Bewegung der Lebewesen Mund. De mundo: Über die Welt Part. an. De partibus animalium: Über die Teile der Lebewesen Phys. Physica: Physik
Abkürzungen
Physiogn. Poet. Pol. Probl. Protr. Respir. Rhet. Sens. Somn. Soph. el. Top.
Physiognomonica: Physiognomik Poetica: Poetik Politica: Politik Problemata physica: Naturwissenschaftliche Probleme Protrepticus De respiratione: Über Atmung Ars rhetorica: Rhetorik De sensu et sensibilibus: Über die Sinneswahrnehmung und ihre Gegenstände De somno et vigilia: Über Schlafen und Wachen Sophistici elenchi: Sophistische Widerlegungen Topica: Topik
Diogenes Laertios DL
Euklid Elem.
Platon
Apol. Charm. Crat. Euthd. Gorg. Leg. Ly. Men. Parm. Phdn. Phdr. Phil. Plt. Prot. Rep. Soph. Symp. Tht. Tim.
XIII
Diogenes Laertios, Vitae philosophorum Elemente
Apologie Charmides Kratylos Euthydemos Gorgias Nomoi Lysis Menon Parmenides Phaidon Phaidros Philebos Politikos Protagoras Politeia Sophistes Symposion Theaitetos Timaios
XIV
Plotin Enn.
Abkürzungen
Enneaden
Fragmentsammlungen CAG DK LS SVF
Commentaria in Aristotelem Graeca Diels/Kranz, Fragmente der Vorsokratiker Long/Sedley, The Hellenistic Philosophers Stoicorum veterum fragmenta, hg. von H. v. Arnim
Lexika und Zeitschriften A&A ABG AFLN
Antike und Abendland Archiv für Begriffsgeschichte Annali della Facoltà di Lettere e Filosofia della Università di Napoli AGPh Archiv für Geschichte der Philosophie AJPh American Journal of Philology APhil Ancient Philosophy AusJPh Australasian Journal of Philosophy BJHPh British Journal for the History of Philosophy BulHMed Bulletin of the History of Medicine CPh Classical Philology CQ Classical Quarterly Eranos Eranos-Jahrbuch Hermes Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie HPhL History and Philosophy of Language HPQ History of Philosophy Quarterly HPTh History of Political Thought HuB Humanistische Bildung HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie HWRh Historisches Wörterbuch zur Rhetorik IJPS International Journal of Philosophical Studies IZPh Internationale Zeitschrift für Philosophie JHI Journal of the History of Ideas JHMedAS Journal of the History of Medicine and Allied Sciences
Abkürzungen
JHPh JPh KS NSchol OSAP PacPhQ PAS PBA
XV
Journal of the History of Philosophy Journal of Philosophy Kant Studien The New Scholasticism Oxford Studies in Ancient Philosophy Pacific Philosophical Quarterly Proceedings of the Aristotelian Society Proceedings of the British Academy for the Promotion of Historical, Philosophical and Philological Studies PBAC Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy PhGlogA Philosophiegeschichte und logische Analyse PhilInq Philosophical Inquiry PhJ Philosophisches Jahrbuch PhR Philosophical Review Phronesis Phronesis. A Journal for Ancient Philosophy RE Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft RevSPhTh Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques RhM Rheinisches Museum RhM, N.F. Rheinisches Museum, Neue Folge RMeta Review of Metaphysics RPFE Revue Philosophique de la France et de l’Étranger RPhA Revue de Philosophie Ancienne SAGM Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin SJPh Southern Journal of Philosophy ThPh Theologie und Philosophie ThWNT Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament ZphF Zeitschrift für philosophische Forschung
a adoxos / unglaubwürdig, inakzeptabel (*@>@l; lat. improbabile) ist eine Behauptung, die im Widerspruch zu dem steht, was die Mehrheit für richtig hält. Dies kann bedeuten, (1) daß sie für sachlich falsch gehalten wird, weil sie dem Augenschein widerspricht, oder (2) daß sie im Gegensatz zu allgemein geteilten ethischen Überzeugungen steht (vgl. Top. VIII 9). Innerhalb einer dialektischen Unterredung (→ dialektikê) muß der Fragende versuchen, aus der Ausgangsthese (→ thesis) des Antwortenden möglichst abwegige Konsequenzen (ta adoxotata) abzuleiten (Top. VIII 4, 159a20 f.). Wenn etwas in höchstem Maße a. ist, dann bedeutet dies, daß es keine anerkannte Meinung (→ endoxon) ist, sondern der herrschenden Meinung widerspricht (→ paradoxos) oder unmöglich (adynatos) ist. In Top. VIII 5 wird ein zunächst dreiwertiges System der Glaubwürdigkeitsbewertung eingeführt, nach dem jede Behauptung entweder akzeptabel, inakzeptabel oder keines von beidem ist (159a39). Da die Akzeptabilität einer Behauptung davon abhängig ist, von wem sie für richtig gehalten oder durch wen sie beglaubigt ist, kann dieses System noch weiter differenziert werden: »schlechthin« a. ist eine Auffassung, die niemand vertreten würde, »in eingeschränkter Weise« a. ist das, dem bestimmte Adressaten, etwa die Menge oder die Fachleute oder ein berühmter Weiser, die Zustimmung verweigern würden. Allgemein gilt, daß die Prämissen einer dialektischen Deduktion in höherem Maße akzeptabel sein müssen als die Konklusion. Daraus ergibt sich die Regel, in einem dialektischen Übungsgespräch alle Prämissen zuzugeben, die allgemein für richtig gehalten werden oder, wenn nicht, so zumindest weniger a. sind als die angestrebte Konklusion (159b18 f.). Wenn eine Auffassung a. ist, bedeutet dies nicht, daß sie auch tatsächlich falsch sein muß. Ein Argument, in dem Prämissen verwendet werden, die »zwar der Fall, aber inakzeptabel sind«, ist trotz seiner logischen Gültigkeit nicht überzeu-
aêr
2
gend (vgl. → pistis), sondern »schwach« (phaulos: Top. VIII 12, 162b28). T. Wagner aêr / Luft (ZD; lat. aer) ist eines der vier irdischen Elemente (→ stoicheion = Grundbaustein der Materie: Erde, Wasser, L., Feuer), denen Ar. den Äther (→ aithêr) als fünftes, himmli-
sches hinzufügt und die er archai (»Anfänge«), stoicheia oder sômata (»Körper«) nennt (Cael. III 3, 302b8). Die vier irdischen Elemente umfassen einander als konzentrische Hohlkugeln mit der Erde im Zentrum, umgeben von Wasser, L. und Feuer (Meteor. II 2, 354b23 ff.). Der a. (synonym: → pneuma) hat eine natürliche Bewegungstendenz nach oben (Meteor. I 2, 339a11 ff.). Die elementaren Schichten sind nicht genau voneinander abgegrenzt, sondern überlappen einander (Meteor. I 3, 340b23 ff.). Dies liegt daran, daß die Elemente durch logische Analyse noch weiter auf jeweils zwei Elementarqualitäten zurückgeführt werden können, die sich an einem »ersten Material« (prôtê → hylê) zeigen (Gen. corr. II 1, 329a24 ff.). a. ist warm (thermon) und flüssig (hygron) und kann sich besonders leicht in das warm-trockene Feuer (→ pyr) und das kalt-flüssige Wasser (→ hydôr) verwandeln, weil es mit jedem dieser Elemente eine Qualität gemeinsam hat (Gen. corr. II 4, 331a7 ff.). So ist die erdnahe L. feuchter, weil sie verdunstetes Wasser enthält (Meteor. I 3, 340a32 ff.), und die feuernahe wärmer (Meteor. I 3, 340b31 f.; I 8, 345b32 ff.). Herausragende Qualität des a. ist seine Flüssigkeit (Gen. corr. II 3, 331a5), weil er in jeden Hohlraum eindringt. Wenn a. ein wesentlicher Bestandteil höherer Zusammensetzungen ist, bewirkt dies paradoxe Eigenschaften (beim Öl: Meteor. IV 7, 383b20 ff.; Gen. an. II 2, 735b13 ff.) oder weiße Farbe (Sperma: Gen. an. II 2, 735b32 ff.; Haare: Gen. an. V 6, 786a5 ff.). Bei den wärmeren Tierarten bewirkt die Luftatmung eine Kühlung der im Herzen (→ kardia) konzentrierten Wärme und hält so die Temperatur konstant (Respir. 10, 475b16 ff.; 21, 480a16 ff.). Der a. gilt dabei als kälter als die Körperwärme.
3
agathon
Er ist als Kühlmittel besser als Wasser, weil er leichter durch alle Hohlräume ein- und ausfließt (Respir. 15, 478a18 ff.). J. Althoff agathon / gut (("2`