Philosophische Praxis: Grundlagen – Situationen – Ethik 9783495999295, 9783495999288


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TEIL I: ALLGEMEINE GRUNDLAGEN
1. Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis
1.1 Ethik als Lebenskunst in der Achsenzeit
1.2 Christliche Überformung und Wiederentdeckung antiker Lebenskunst
1.3 Entstehung der europäischen Salonkultur
1.4 Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
1.5 Lebensreform und Schule der Weisheit
1.6 Lebenskunst und Psychologie
1.7 Europamüdigkeit und Erkenntniswege der Reisenden.
1.8 Coaching, Fitness und Wellness
1.9 Philosophie der Lebenskunst und Philosophische Praxis
2. Systematisches: Leitdefinitionen
2.1 Philosophie
2.2. Praxis der Philosophie: Wissenschaft, Weltweisheit, Lebensform
2.3 Philosophische Praxis: eine vierte Säule philosophischer Wirksamkeit
2.3.1 Ein offenes Forschungsfeld der Fachphilosophie
2.3.2 Solidarische Partizipation
2.3.3 Philosophische und andere Sprechstunden
3. Organisatorisches: Konstellationen Philosophischer Praxis
3.1 Rechts- und Organisationsformen
3.2 Administrative und ökonomische Gesichtspunkte
3.3 Arbeitsformate und Wirkungsformen
TEIL II: SITUATIONEN: INTERPASSIONEN UND INTERAKTIONEN
4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum
4.1 Homo Hapticus
4.2 Körper und Leib
4.3 Leibliche Lotung, Selbstgefühle und Lebensformung
4.4 Philosophische Praxis als gemeinsame Situation
5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis
5.1 Kontakt anbieten und ermöglichen
5.2 Im Raum der Praxis präsent sein
5.3 Sich in existenzieller Gemeinschaft aufhalten
5.4 Begegnungen strukturieren
5.5 Prozesse spüren, beobachten und reflektieren
5.6 Geschlechtlich existieren, erotisch affizierbar sein und sexuell begehren
5.7 Sich im virtuellen Raum begegnen
5.8 Grenzfälle subjektiver Fassung beachten
5.9 Kritisch, achtsam und mitfühlend mit sich selbst umgehen
5.10 Sich in Supervision orientieren und in Intervision stärken
TEIL III: ASPEKTE EINER FUNDIERUNG DES ETHOS
6. Moral der Ambiguität
6.1 Simone de Beauvoir als Moralphilosophin
6.2 Von der Ontologie des Entwurfs zur Ethik des Entwurfs
6.3 Von der Ontologie der Freiheit zur Ethik der Befreiung
6.4 Die ›ethische Nacht‹ des Marquis de Sade: Wahrheit und Abgrund der Unmöglichkeit einer allgemeinen Moral
7. Ethik der Fürsorge
7.1 Fürsorge und Care
7.2 Die Sorge als Sein des Daseins: Besorgen und Fürsorge bei Heidegger
7.3 Die ethische Anthropologie Wilhelm Kamlahs
7.4 Care-Ethik im moralphilosophischen Diskurs
8. Minimalkonzeption des guten Lebens
8.1 Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen
8.2 Bildung und politische Mündigkeit
9. Moralische Existenz und moralischer Diskurs
TEIL IV: BERUFSETHISCHE PERSPEKTIVEN
10. Historisches zur Berufsethik
11. Zur Berufsethik Philosophischer Praxis
12. Ethischer Kodex der APPA und Berufsethos des BV-PP
13. Ethische Leitorientierung für die Philosophische Praxis – ein Vorschlag
Präambel
(1) Definition Philosophische Praxis
(2) Allgemeine ethische Orientierung
(3) Allgemeine Grundlagen der Berufsausübung
(4) Besondere Prinzipien der Berufsausübung
(5) Schlussbestimmungen
Literaturverzeichnis
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Philosophische Praxis: Grundlagen – Situationen – Ethik
 9783495999295, 9783495999288

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Ute Gahlings

Philosophische Praxis Grundlagen – Situationen – Ethik

https://doi.org/10.5771/9783495999295 .

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Ute Gahlings

Philosophische Praxis Grundlagen – Situationen – Ethik

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© Titelbild: Shane Rounce

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99928-8 (Print) ISBN 978-3-495-99929-5 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999295 .

Vorwort

Philosophierende wurden und werden teilweise noch heute häufig als Menschen wahrgenommen, die je nach ihrer Graduierung in mehr oder weniger hohen akademischen Würden stehen, mit alten Kultursprachen vertraut sind, an Universitäten lehren und forschen, auf Tagungen spitzfindige Diskurse pflegen, in langen Traditionen Schulstreits ausfechten und mit ihren für Laien meist unverständli­ chen Büchern auf die Schriften anderer Philosophierender reagieren. Ihren Vertretern – historisch überwiegend männlichen Geschlechts – haftet ein Nimbus der Abgeklärtheit und Weltüberlegenheit, der Allwissenheit und rhetorischen Genialität an, aber auch das Stigma, weltabgewandt in Elfenbeintürmen zu hausen und sozialer Kompe­ tenzen zu entbehren. – Dieses Bild hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt, seit sich nämlich Philosophierende (wieder) in das öffent­ liche Leben einmischen, in Tageszeitungen, mit eigenen Zeitschriften, auf Festivals und in den digitalen Medien. Mittlerweile nehmen sie in TV-Sendungen zu aktuellen Fragen Stellung, kommentieren das politische Geschehen und sind in Ethik-Kommissionen tätig. Selbst im Wissenschaftsbetrieb arbeiten Philosophierende vielfach interdisziplinär, lehren und forschen in andere Fachbereiche hinein, gestalten das Begleitstudium mit und können sich offenbar nicht mehr nur auf die eigene Zunft beziehen – Änderungen, die auch mit der Legitimation der Philosophie in der zunehmend von ökonomischer Rationalität bestimmten akademischen Welt zu tun haben. Zum Wandel der Präsenz von Philosophie in der Öffentlichkeit hat auch beigetragen, dass sich weltweit in den meisten großen Städten Philosophische Praxen angesiedelt haben. Philosophierende mit einer Philosophischen Praxis arbeiten in unterschiedlichen Wir­ kungsformen, von Beratungs- und Orientierungsangeboten für Ein­ zelpersonen oder Paare über Begegnungsformate für Gruppen und öffentliche Programme mit Vorträgen, Philosophischen Cafés und Reisen bis hin zum Philosophieren mit Kindern. Diese philosophische Tätigkeit wird seit langem von nationalen und internationalen Verei­ nen und Berufsverbänden mit Konferenzen und Publikationen sowie

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Vorwort

Lehr-, Bildungs- und Ausbildungsgängen flankiert. Wenngleich sich über die Zeit gewisse Traditionslinien abgezeichnet haben, sind eine institutionelle Verschulung und strukturelle Monopolisierung sowie eine Verständigung auf verbindliche Regelwerke zur Berufsausübung bisher weitgehend ausgeblieben. Ein solcher Zustand birgt mit Blick auf das Berufsbild, die Arbeitsstandards und die ethischen Haltungen gewisse Risiken. Eine Offenheit für individuelles Philosophieren ent­ spricht jedoch durchaus der Idee Philosophischer Praxis. Sie ermög­ licht viele Spielräume für die kreative Gestaltung, und diese Freiheit wird gern genutzt und gegen Reglementierung verteidigt. Gleichwohl hat die Philosophische Praxis deutlich an Kontur gewonnen, durch die theoretische Arbeit philosophisch Praktizierender, die Bemühungen der Vereine und nicht zuletzt durch die beruflichen Zertifizierungen. Wir sind heute in der Lage, Grundorientierungen Philosophischer Praxis in der gebotenen Diversität zu geben. Das vorliegende Buch verstehe ich als einen Beitrag zu den ethischen Überlegungen, die sich im Berufsfeld der Philosophischen Praxis ergeben. Die Geschichte der Philosophischen Praxis und die Darstellung ihrer theoretischen Positionen sind schon Gegenstand anderer Publikationen und sollen hier nicht weiter vertieft werden. Mein Fokus ist auf das Ethos gerichtet, das in die Wirksamkeit philosophisch Praktizierender eingeht und in besonderer Weise die Begegnungen einfasst. Aus meiner Sicht ist Philosophische Praxis eng mit moralischer Existenz verbunden und löst einen alten Anspruch der Philosophie ein, nämlich bewusst zu leben im Bemühen um ein gutes Leben, das in allen Belangen, auf allen Ebenen und im Sinne aller Mitseienden diese Bezeichnung verdient. Meine Annäherungen an diese Thematik erfolgen in vier Schritten: Zunächst möchte ich den Rahmen mit allgemeinen Grundlagen Philosophischer Praxis his­ torisch, systematisch und organisatorisch abstecken (Teil I). Sodann geht es mir darum, die Situationen in der Philosophischen Praxis nicht nur durch die Interaktionen, sondern auch durch die Interpas­ sionen auszuleuchten (Teil II). Es werden dann mit drei ethischen Dimensionen Aspekte einer Fundierung des Ethos behandelt (Teil III). Zuletzt werden berufsethische Perspektiven erschlossen und eine ethische Leitorientierung für philosophisch Praktizierende vor­ geschlagen (Teil IV). Dieses Buch geht aus Erkenntnissen und Erfahrungen, Gesprächen und Begegnungen hervor, die sich über viele Jahre, ja mittlerweile

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Vorwort

Jahrzehnte angereichert haben. Relevant waren dafür zuerst meine auf die späten 1980er und dann 1990er Jahre zurückgehenden Forschun­ gen zu dem Lebens- und Kulturphilosophen Hermann Graf Keyser­ ling (1880–1946), der 1920 in Darmstadt eine Schule der Weisheit gründete, um die Philosophie als Weisheit wieder für das individuelle Leben und die kulturelle Erneuerung fruchtbar zu machen. Die Arbeit an Werk und Biographie dieses ungewöhnlichen Philosophen floss im Jahr 2005 in die Gründung des Instituts für Praxis der Philosophie e.V. (IPPh) in Darmstadt ein, das in einem Kreis rund um Gernot Böhme (1937–2022) entstand und einen Schwerpunkt in der Philosophie leiblicher Existenz hat. Schließlich erschloss sich 2015 mit der Grün­ dung meiner Philosophischen Praxis Solidarität. Lebensorientierung und Selbstkultivierung durch Philosophie in Frankfurt am Main ein weiterer institutioneller Rahmen für die Praxis der Philosophie. Die­ ser Schwerpunkt erweiterte sich erneut mit Beginn meiner Vorstands­ arbeit in der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis e.V. (IGPP) im Jahr 2017, meiner Tätigkeit im Bildungsgang des Berufsverbands für Philosophische Praxis e.V. (BV-PP) im Jahr 2019 und als Dozentin im Universitätslehrgang Philosophische Praxis an der Universität Wien im Jahr 2021. Viele fruchtbare Begegnungen und inspirierende Menschen haben auf diesem langen Weg mein Verständnis von Philosophischer Praxis mitgeprägt. Daher danke ich herzlich und in toto allen, die mich in meinem Ringen um Verstehen begleitet haben, für die Mitarbeit an diesem Buch. Für die kritische Durchsicht des Textes danke ich Frau Dr. Heidemarie Bennent-Vahle und für das sorgfältige Lektorat Herrn Andreas Miller. Formale Vorbemerkungen: Bei geschlechtsspezifisch relevanten Bezeichnungen von Perso­ nen verwende ich im zufälligen Wechsel die weibliche und die männ­ liche Form, im Plural überwiegend das Gendersternchen (*), wobei immer alle geschlechtlichen Existenzweisen mitgemeint sind. Hervorhebungen in Zitaten sind sämtlich dem jeweiligen Origi­ nal entnommen.

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Inhaltsverzeichnis

TEIL I:

ALLGEMEINE GRUNDLAGEN . . . . . . . . . .

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Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . .

15

1.1 Ethik als Lebenskunst in der Achsenzeit . . . . . . . .

15

1.2 Christliche Überformung und Wiederentdeckung antiker Lebenskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

1.3 Entstehung der europäischen Salonkultur

. . . . . . .

22

1.4 Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht . . . .

23

1.5 Lebensreform und Schule der Weisheit . . . . . . . . .

25

1.6 Lebenskunst und Psychologie

27

1.

. . . . . . . . . . . . .

1.7 Europamüdigkeit und Erkenntniswege der Reisenden.

28

1.8 Coaching, Fitness und Wellness . . . . . . . . . . . .

29

1.9 Philosophie der Lebenskunst und Philosophische Praxis

30

2.

51

Systematisches: Leitdefinitionen . . . . . . . . . .

2.1 Philosophie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

2.2. Praxis der Philosophie: Wissenschaft, Weltweisheit, Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

2.3 Philosophische Praxis: eine vierte Säule philosophischer Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Ein offenes Forschungsfeld der Fachphilosophie 2.3.2 Solidarische Partizipation . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Philosophische und andere Sprechstunden . . .

58 58 62 71

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Inhaltsverzeichnis

3.

Organisatorisches: Konstellationen Philosophischer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . .

81

3.1 Rechts- und Organisationsformen . . . . . . . . . . .

81

3.2 Administrative und ökonomische Gesichtspunkte . . .

85

3.3 Arbeitsformate und Wirkungsformen

. . . . . . . . .

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TEIL II: SITUATIONEN: INTERPASSIONEN UND INTERAKTIONEN . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

4.

97

Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

4.1 Homo Hapticus

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

4.2 Körper und Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

4.3 Leibliche Lotung, Selbstgefühle und Lebensformung . .

105

4.4 Philosophische Praxis als gemeinsame Situation . . . .

116

5.

123

Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

5.1 Kontakt anbieten und ermöglichen . . . . . . . . . . .

123

5.2 Im Raum der Praxis präsent sein . . . . . . . . . . . .

128

5.3 Sich in existenzieller Gemeinschaft aufhalten

. . . . .

131

. . . . . . . . . . . . . .

136

5.4 Begegnungen strukturieren

5.5 Prozesse spüren, beobachten und reflektieren

. . . . .

140

5.6 Geschlechtlich existieren, erotisch affizierbar sein und sexuell begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

144

5.7 Sich im virtuellen Raum begegnen . . . . . . . . . . .

149

5.8 Grenzfälle subjektiver Fassung beachten . . . . . . . .

157

5.9 Kritisch, achtsam und mitfühlend mit sich selbst umgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

5.10 Sich in Supervision orientieren und in Intervision stärken

170

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Inhaltsverzeichnis

TEIL III: ASPEKTE EINER FUNDIERUNG DES ETHOS . . .

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6.

Moral der Ambiguität . . . . . . . . . . . . . . . .

175

6.1 Simone de Beauvoir als Moralphilosophin . . . . . . .

175

6.2 Von der Ontologie des Entwurfs zur Ethik des Entwurfs

176

6.3 Von der Ontologie der Freiheit zur Ethik der Befreiung

179

6.4 Die ›ethische Nacht‹ des Marquis de Sade: Wahrheit und Abgrund der Unmöglichkeit einer allgemeinen Moral

182

7.

Ethik der Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

7.1 Fürsorge und Care . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

7.2 Die Sorge als Sein des Daseins: Besorgen und Fürsorge bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

196

7.3 Die ethische Anthropologie Wilhelm Kamlahs . . . . .

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7.4 Care-Ethik im moralphilosophischen Diskurs

. . . . .

203

Minimalkonzeption des guten Lebens . . . . . . .

213

8.

8.1 Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen

. . . . .

213

8.2 Bildung und politische Mündigkeit . . . . . . . . . . .

216

9.

221

Moralische Existenz und moralischer Diskurs . . .

TEIL IV: BERUFSETHISCHE PERSPEKTIVEN

. . . . . . .

235

10. Historisches zur Berufsethik . . . . . . . . . . . . .

237

11. Zur Berufsethik Philosophischer Praxis . . . . . . .

245

12. Ethischer Kodex der APPA und Berufsethos des BV-PP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

255

11 https://doi.org/10.5771/9783495999295 .

Inhaltsverzeichnis

13. Ethische Leitorientierung für die Philosophische Praxis – ein Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . .

261

Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

(1) Definition Philosophische Praxis . . . . . . . . . . . .

261

(2) Allgemeine ethische Orientierung . . . . . . . . . . .

262

(3) Allgemeine Grundlagen der Berufsausübung . . . . . .

263

(4) Besondere Prinzipien der Berufsausübung . . . . . . .

264

(5) Schlussbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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TEIL I: ALLGEMEINE GRUNDLAGEN

Möglicherweise ist am Ende doch die Astronomie die erste Wis­ senschaft gewesen, zumindest wohl die erste empirische Wissen­ schaft. Was die Menschen am Himmel beobachten konnten, hat sie derart ergriffen, überwältigt und ins Staunen versetzt, dass sie ins Nachdenken und ins Berechnen gekommen sind. Vermutlich haben sie erst später jene Selbstdistanzierung kultiviert, die sie befähigte, sich mit sich selbst als den Staunenden auseinanderzu­ setzen. Wie dem auch sei: Die Philosophie als umfängliche, nicht nur auf den Kosmos gerichtete Besinnung des Menschen steht am Anfang unserer Wissenschaftsgeschichte und ihrer Ausdifferenzie­ rung in viele unterschiedliche Disziplinen. In ihrer verschlungenen, von Phasen harscher Unterdrückung und befreiender Selbstwirksam­ keit gezeichneten Geschichte hat sie viele Wege genommen. Die Philosophische Praxis geht in ihrer Verflechtung mit der Ethik als Lebenskunst in ihren historischen Wurzeln bis in die Achsenzeit zurück. Dies wird im ersten Kapitel nachgezeichnet. Das zweite Kapitel schließt systematisch mit einigen Leitdefinitionen an. Der dritte Teil beschreibt schließlich Organisations- und Wirkungsformen Philosophischer Praxis.

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1. Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis

1.1 Ethik als Lebenskunst in der Achsenzeit Schon in dem alt-ägyptischen Ma’at-Konzept, das am gerechten Leben orientiert ist, und dann in der sogenannten Achsenzeit, in den Jahren 750 bis 250 vor unserer Zeitrechnung, wurde Philosophie nicht nur als Erkenntnistätigkeit verstanden, sondern auch als Sorge um die Seele und Pflege des Lebens. Die Fragen danach, wie das Leben zu führen, ja zu meistern ist, waren weltweit so zentral, dass sie mitunter mit der Philosophie selbst identifiziert wurden. Selbsterkenntnis und theoretisch-systematische Welterschließung hatten einen unmittel­ baren Bezug zur Lebenspraxis und waren eingefasst in moralische Erwägungen für das Leben des Einzelnen, für bestimmte Rollen in der Gesellschaft, die Berufsausübung sowie die Kultur und Gestaltung des Gemeinwesens. Nicht nur die philosophischen Abschnitte der indischen Veden, die Philosophie der Jainas oder Buddhas, auch die Texte des chinesischen Taoismus und Konfuzianismus beschäftigen sich mit der moralischen Ausrichtung des Lebens. Ganz ähnlich war auch in Europa die Philosophie darauf gerichtet, das Leben nicht nur erkennend zu durchdringen, sondern zum Guten hin zu entfalten, also traditionell die Seele weiter zu entwickeln. In dieser Verantwortung für die Seele wurden die Philosophen auch als Seelenärzte aufgefasst. So sah Pythagoras im sechsten vorchristlichen Jahrhundert in der Arithmetik eine Disziplin, die mittels Analogien erschließen kann, wie die Seele im Kontext musikalischer und kosmologischer Gesetzmäßigkeiten harmonisch gestimmt werden kann. In seiner elitär-esoterischen Lebensgemeinschaft in Kroton (Italien) motivierte der Glaube an die Seelenwanderung eine kontinuierliche Seelen­ pflege im Sinne einer reinigenden Praxis (kátharsis) und einer spezifi­ schen, z.B. auch die Ernährung betreffenden Lebensdisziplin (áskesis). Der soziale Kontext dieser durch bestimmte Haltungen definierten Gemeinschaft fand dann auch Nachfolge in anderen Lebenskunst-

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1. Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis

Schulen, z.B. in den Gärten des Epikur oder der Stoá poikíle, der Säulenhalle des Zenon. Die antiken Ärztephilosophen entwickelten medizinische Kon­ zepte und Menschenbilder, die nicht nur den Körper in seinem Säfte­ verhältnis, sondern auch den gefühlten Leib sowie die Situationen und Lebenseinstellungen des Menschen betrafen. Mit diesen Lehren verbreitete sich eine Vielzahl unterschiedlicher Lebenstechniken zur diätetischen Selbstkultivierung, wobei diese keineswegs nur Essund Trinkgewohnheiten betrafen. Vielmehr ging es z.B. um den Umgang mit Gelüsten, die Freundschaftspflege, Schweigeübungen oder Selbstprüfungen. Naturphilosophische Betrachtungen sollten, etwa bei Demokrit, auch diffuse Ängste überwinden helfen und die Gemütsruhe, eine nach Maß und Mitte orientierte Gestimmtheit der Seele (Euthymie) einleiten. Dazu waren Selbstbespiegelung und SichRechenschaft-Abgeben probate Methoden der Lebenskunst. In der meditativen Vorbereitung auf den Tod wurde Lebenskunst auch eine Kunst des Sterbens, ja Philosophie selbst zur Einübung in das Sterben. Vor dem Hintergrund politischer und gesellschaftlicher Umbrü­ che hebt der literarische Sokrates besonders prominent in dem Dialog Alkibiades I und Platons Apologie des Sokrates die Notwendigkeit der Selbstsorge (epiméleia heautoû) hervor, die zum zentralen Topos europäischer Lebenskunst avancierte. Der Weckruf der Philosophie »Erkenne Dich selbst« (gnôthi seautón), der über dem Orakel von Del­ phi stand und nicht nur Thales und Chilon, sondern auch der ersten Pythia (Orakelpriesterin) Phemonoe zugeschrieben wird, war mit der Forderung »Sorge Dich um die Seele« eng verknüpft und prägte die verschiedenen Schulen und philosophierenden Gemeinschaften, so auch die platonische Akademie mit ihrer Orientierung an der Idee des Guten, Wahren und Schönen oder die aristotelischen Philosophen in den Peripatoi, die sich auf die Tugend hin orientierten. Die Selbstsorge diente nicht nur der individuellen Erquickung, sondern bedeutete eine ernste Arbeit am Selbst und einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Polis. Sie ist immer auch eine Sorge um Andere und um die Gemeinschaft. Sie hat »individuelle und politische Bedeutung«, wie Wilhelm Schmid (1998, 30) herausarbeitet, und ist keineswegs mit der ›Selbsterfindung‹ postmoderner Subjekte zu vergleichen. Das Leben sollte in Zusammenhang mit Werten, Haltungen und Tugenden gelingen. Ein glückliches Leben führt, wer Tugend ›besitzt‹ und das Ethos »durch eigenständiges Handeln umzusetzen versteht«. Die Tugend ist daher nach Annemarie Pieper (2007, 181)

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1.1 Ethik als Lebenskunst in der Achsenzeit

»eine gemeinschaftsbildende Fähigkeit«. Sie besteht darin, »die von allen geteilten Wertvorstellungen in die individuelle Praxis einfließen zu lassen und so das gute Leben des Einzelnen mitsamt dem darin implizierten Glück in den Horizont des kollektiv Verbindlichen einzu­ betten«. Gerade darauf insistiert Aristoteles, der in den Debatten um die Lehrbarkeit der Tugend für ein durch Vorbild und Gemeinschaft angeleitetes Lernen votierte. Das Streben nach Glückseligkeit ist in individueller Disziplinierung am Leitbild der Tugenden weiter einzu­ üben. In nachsokratischer Zeit kam es zur Blüte der philosophischen Lebenskunst-Schulen mit verschiedenen Ausrichtungen. Obwohl auch ekstatische Techniken zum Tragen kamen, beruhte die Lebens­ pflege insgesamt eher auf asketischer, das leibliche Geschehen disziplinierender Kultivierung. Schwerpunkte lagen etwa in der Selbstgenügsamkeit und Bedürfnislosigkeit, der Affektkontrolle und Selbstmächtigkeit (autárkia), in dem Hinterfragen tradierter Regeln, in der Kalkulation von Lustgewinn und Schmerzabwehr, im Kulti­ vieren der Erkenntnisinstrumente mit dem methodischen Zweifel oder in Selbstaneignung durch Entsagung und Rückzug aus dem Alltag. Wie bei anderen Künsten wird das Leben als das Material der Lebenskunst verstanden und unter disziplinierende Kontrolle des Selbst gestellt. Das Streben des Menschen solle sich nach stoischer Auffassung auf das richten, was in seiner Macht steht; alles andere sei im Zustand des Freiseins von Unruhe (ataraxía) hinzunehmen. Im Unterschied zu den Stoikern waren die Epikureer und Skeptiker eher individualistisch, auf das eigene Selbst ausgerichtet. Mitunter fallen sie damit hinter den sokratischen Anspruch auf philosophische Wirk­ samkeit im öffentlich-politischen Raum zurück. Bei Plutarch steht die abgeklärte, maßvolle Lebensklugheit aber wieder in Zusammenhang mit der Sittlichkeit in der Gemeinschaft. Philosophie als eine Kunst des Lebens darf keinen Lebensbereich ausklammern und hat überall präsent zu sein, »damit sie das Maß und den richtigen Zeitpunkt hinzubringe« (Schmid 1998, 32). Festzuhalten bleibt mit Guido Rappe (2010, 1), dass die Ethik der Achsenzeit bis in die Spätantike hinein »nicht ohne ihre praktische Dimension zu verstehen« ist, und diese »Praxis antiker Ethik wurde als eine Kunst aufgefasst, nämlich als Lebenskunst«. Die Tugenden sind in der Definition von Rappe (ebd., 82) »dispositional verankerte Verhaltensausrichtungen der Realisierung moralischer Werte bzw. der in ihnen zum Ausdruck kommenden Qualität«. Diese Ausrichtungen

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1. Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis

des Verhaltens wachsen durch Anleitung und Übung gleichsam in die Persönlichkeit ein und bilden das Ethos, die im Leben dauerhaft wirksame moralische Haltung aus. Mit der Reflexion auf die erkennt­ nistheoretischen und praktisch bis ins Leibliche hinein konstituieren­ den Bedingungen von Lebenskunst ist somit disziplinär nicht nur die Moralphilosophie, sondern auch die Anthropologie befasst. So lässt sich mit Rappe von »Ethik als Lebenskunst« und einer »Praxis antiker ethischer Techniken« sprechen. Lebenskunst wäre dann in ihren historischen, asketisch oder ekstatisch entfalteten Grundlinien unter dem Topos einer »Ethischen Anthropologie« zu erfassen (vgl. Rappe 2005, 2006).

1.2 Christliche Überformung und Wiederentdeckung antiker Lebenskunst Einzelne Themen und Techniken der antiken Lebenskunst wurden vom Christentum übernommen oder abgewandelt aufgegriffen. Sie gingen in die Ordensregeln und Vorschriften der Glaubensgemein­ schaften und in die Orientierungsleitfäden für Laien mit ihren kon­ kreten Lebensvorschriften ein, initiiert durch Kirchenväter, Ordens­ gründer und den sich institutionalisierenden Klerus. Dabei wurde die u.a. aus dem Platonismus und den asketischen Schulen tradierte Disziplinierung der Affekte und leiblichen Regungen wiederbelebt und sogar gesteigert. Dies zeigt sich in der monastischen Selbstkulti­ vierung an den für uns heute unvorstellbaren, durch Vernunft und Glauben motivierten teils sogar ›tätlichen Angriffen‹ auf den eigenen Körper, in Maßnahmen stählernen Willens wie etwa wochenlangem Fasten, Kasteiungen oder Geißelungen. Die philosophisch am Ideal der Selbstbeherrschung entwickelte Kritik und Abwehr der flüchtigen Glücksgüter und allzu einnehmender Gefühlslagen wurde nun im Bewusstsein von Erbsünde und Sündigkeit gegen die fleischlichen Gelüste, insbesondere das sexuelle Begehren mobilisiert und aus­ gespielt. Die in der Antike noch mögliche epikureisch gepflegte, wenn auch qua Vernunft schon ordentlich durchkalkulierte diesseitige Lebensfreude wich einer Hoffnung auf ein besseres Leben in einem Jenseits frei von Körperlichkeit. Indes etablierte sich sowohl in den monastischen als auch in den für Laien vorgesehenen Institutionen des christlichen Glaubens auch die soziale Rolle des Seelsorgers. In den Klöstern war eine ›Sprech­

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1.2 Christliche Überformung und Wiederentdeckung antiker Lebenskunst

stunde‹ für Glaubensfragen und den persönlichen Läuterungsweg fest verankert. Es gab zudem Gruppensitzungen, in denen Mönche und Nonnen sich semi-öffentlich mit ihren Schwächen und Zweifeln offenbarten und einer moralischen Prüfung unterworfen wurden. In einer Laiengemeinschaft wurde der Geistliche zum Zwiegespräch bei persönlichen Anliegen, Glaubensfragen, Lebensentscheidungen und in der Beichte auch als Ansprechpartner für Verfehlungen heran­ gezogen. Er hatte ebenfalls die Aufgabe, die Lebensereignisse ›von der Wiege bis zur Bahre‹ rituell einzufassen und die Gläubigen in schweren Krisen, etwa in der Trauer, zu begleiten. Solche Konsulta­ tionen betrafen das Leben und die Seele. Es lassen sich darin wohl Bezugnahmen auf die antike Tradition des Philosophen als eines Seelenarztes und Vorläufer von psychotherapeutischen Settings oder Beratungen in der Philosophischen Praxis sehen. Boethius, selbst schon Christ und gleichzeitig vom Neuplato­ nismus getragen, gibt mit seinem Trost der Philosophie noch ein denkwürdiges Zeugnis von der Leistungsfähigkeit der antiken Philo­ sophie als Seelenärztin. Sie tritt als »Weib« von »höchst ehrwürdigem Antlitz« auf, mit »funkelnden und über das gewöhnliche Vermögen der Menschen durchdringenden Augen, von frischer Farbe und uner­ schöpflicher Jugendkraft, obwohl sie so bejahrt war, dass sie in keiner Weise unserem Zeitalter anzugehören schien« (Boethius 1981, 3ff.). Sie verwandelt dynamisch ihr Äußeres und entzieht sich einer eindeu­ tigen Erscheinung, bald ist sie groß, bald klein, dann ragt sie wieder unerreichbar in den Himmel hinein, mal ist sie festlich würdevoll gekleidet, mal ist ihr Gewand zerfetzt, doch stets hält sie in der rechten Hand Bücher und in ihrer linken ein Zepter. Dergestalt erscheint sie dem in seiner Haft von Folter und Tod bedrohten Boethius und jagt als erste Amtshandlung die Musen von seinem Lager. Sie hatten den Gefangenen durch Gesang und Kunst aufzurichten versucht, in den Augen der ernsten Philosophie ein falscher, allzu leichtfertiger Trost. Mit erstaunlichen medizinischen Einzelheiten wird dann die Philosophie als Ärztin und Meisterin der Tugenden eingeführt. Sie befragt den Patienten nach seinem Zustand, lässt sich seine seelischen Wunden zeigen, um ihm dann in einer systematisch angelegten Therapie – schmerzlindernd, stärkend und schließlich heilend – die Nahrung und Medizin der Selbsterkenntnis zu verabreichen, deren er bedarf, um der Verblendung zu entgehen und zum Licht geführt zu werden. Boethius verwebt in diesem Werk verschiedene Konzepte

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1. Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis

aus der antiken Philosophie und den nachsokratischen Lebenskunst­ lehren mit christlichem Gedankengut. Weitere Beiträge zur philosophisch unterlegten christlichen Lebenspflege sind von vielen Mystikerinnen überliefert. Sie konnten zwar teilweise, wie etwa Hildegard von Bingen, eine hart erkämpfte Position im monastischen System einnehmen, führten aber häufig ein Leben abseits der Klöster oder gründeten, wie die Beginen, Lebensund Arbeitsgemeinschaften mit eigenen moralischen Leitfäden. In ihren Anleitungen zur Selbsterkenntnis, Seelenpflege und Lebenspra­ xis bedienten sich die Mystikerinnen nicht zwingend der asketischen Traditionen. Sie schlugen in der Mystik der Matristik vielmehr häufig einen ekstatischen Weg ein, u.a. in der Spielart der philosophisch gestützten Freiheitsmystik von Margarethe Porete und in der roman­ tische Züge verarbeitenden Liebesmystik von Mechtild von Magde­ burg oder Theresa von Avila (vgl. Gahlings 2014). Damit riefen sie allerdings auch den Argwohn des Klerus und die teils tödlichen Verfolgungen auf den Plan. Meister Eckhart, der seinen Weg der unio mystica ebenfalls abseits der Institutionen lebte, schlägt mit seinen Schriften zur Pflege des Selbst in Gelassenheit und Abgeschiedenheit einen asketischen Weg ein, doch selbst von ihm wurden nach seinem Tod noch 28 Thesen u.a. über die Bedeutung der Selbsterkenntnis und Vernunfttätigkeit durch eine päpstliche Bulle verurteilt. Aus dem säkularen Bereich stammend, schrieb dann die erste europäische Berufsschriftstellerin Christine de Pizan in ihrem Buch der drei Tugenden oder Schatzkästlein der Stadt der Frauen (vollendet 1405, Erstdruck 1497) eine Anleitung zur Lebenskunst und Lebens­ klugheit für alle weiblichen Stände. »Der ganzen weiblichen Gemein­ schaft sei die Belehrung und die Rede der Weisheit zugeeignet« (Pizan 1996, 40). Von der Fürstin über die Handwerkerin bis hin zur Bäuerin, Bettlerin und sogar Prostituierten – für alle Lebensformen entwickelt Pizan, hier explizit von christlicher Sittlichkeit ausgehend, Konzepte und Haltungen der Lebensführung. Sie zeigt sich darin inspiriert durch die literarisch eingeführten Tugenden Vernunft, Rechtschaffen­ heit und Gerechtigkeit. Ziel ist ein den Versuchungen, Frohlockungen und Selbsttäuschungen widerstehendes Leben auf der Grundlage von Selbsterkenntnis und Selbstsorge. Das Buch beschreibt eindringlich die je nach individueller Veranlagung und sozialer Rolle variierenden Hindernisse für ein tugendhaftes Leben. Allgemein richtet es sich auf eine würdevolle Selbstpositionierung und eine angemessene Hal­ tung zu den Mitmenschen und in der Gemeinschaft. Pizan schrieb

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1.2 Christliche Überformung und Wiederentdeckung antiker Lebenskunst

dieses praktische Lehrbuch der Moral als ersten Fürstinnenspiegel, als Ständetraktat und Erziehungsbuch in Ergänzung zu ihrem Hauptwerk Das Buch von der Stadt der Frauen (entstanden 1404/05). Darin hatte Pizan (1995) bereits mit strategischer Hilfe der allegorisch insze­ nierten Tugenden einen imaginären Zufluchts- und Erinnerungsort für die unter Misogynie leidende weibliche Bevölkerung errichtet. Mit der Erkenntniskraft der Philosophie werden die Vorurteile gegen­ über Frauen systematisch ausgeräumt – ein für die feministische Geschlechtertheorie wegweisendes Werk, ja mehr als das: Pizan appelliert an den Mut zur Selbsterkenntnis und nimmt in ihrer Forderung, die eigene Vernunft zur kritischen Selbst- und Weltsicht zu kultivieren, bereits Aspekte von Kants Aufklärungsschrift vorweg. Während dieses Hauptwerk eine moralische Ausrichtung der Gesell­ schaft bezogen auf die Geschlechterverhältnisse fordert, betrifft das zweite Buch die moralische Ausrichtung des Individuums Frau und seiner Rollen in der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Als die Philosophie sich nach einer langen Zeit der Indienst­ nahme durch das Christentum in den neu gegründeten Universitäten in Europa wieder zu ermächtigen begann, war sie von einer gewissen Amnesie geschlagen, was ihre Wurzeln in der Selbstsorge und einer Ethik als Lebenskunst angeht – so stützte sie vor allem das Weltbild der neuzeitlichen Wissenschaften. Außerhalb der akademischen Welt gilt dann aber Michel de Montaigne als großer Wiederentdecker der Traditionen philosophischer Lebenskunst. Mit der Frage »Was weiß ich?« (Que sais-je?) knüpft er an die antike Skepsis an, er sieht sich in seiner Auffassung von Lebensklugheit praktisch aber auch einer stoischen Spielart der Lebenskunst verbunden. Jedenfalls lehrt die Philosophie uns, ob wir nun jung oder alt sind, »wie wir leben sollen« (Montaigne 2001, 58), und Montaigne ergänzt die Tradition um die Konzeption einer ›essayistischen Existenz‹, in der das Schreiben eine bedeutende Funktion einnimmt, in der es aber ebenso, wie Nehamas (2000, 187) konstatiert, den »Weg zu einer Meditation über das Schreiben« gibt. Der Essay ist nicht nur eine neue literarische Form, sondern – angesichts des Verlustes von Selbstverständlichkeiten – ein existenzieller Versuch des Experiments mit der eigenen Existenz. Im 17. und 18. Jahrhundert übernimmt die Moralistik das Feld der Lebenskunst und in der Aufklärung wird dann auf das gesamte Arse­ nal antiker Entwürfe zurückgegriffen. Das aufgeklärte Individuum soll „– nicht zuletzt durch den Gebrauch, den es von seinem Wissen macht – absolutistischer Willkür« entzogen und »sich selbst zu eigen

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1. Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis

sein; es soll sich lösen können von kirchlicher Bevormundung und lernen, sich selbst zu führen«, schreibt Schmid (1998, 33).

1.3 Entstehung der europäischen Salonkultur Während die Philosophie sich als Wissenschaft neu formierte und die Gesellschaft sich für eine säkulare Lebensgestaltung öffnete, schufen die großen Salonièren Europas von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert eine Tradition der besonderen persönlichen Begeg­ nung zwischen Menschen aus dem gesellschaftlichen Leben, aus Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Politik. Als sozialer Mikrokos­ mos generierte der Salon kosmopolitische Verflechtungen in ganz Europa und war von weitreichender kulturhistorischer Bedeutung. Dabei war die Tradition des Salons ebenso schillernd wie komplex, mit einer Vielfalt von Gestaltungsformen: Musiksalons mit musikali­ schen Darbietungen, Konversationssalons mit geistreichen Dialogen, Literarische Salons mit Lesungen und Aufführungen als berühmte Begegnungsstätten der Dichter und Denkerinnen, wissenschaftlich orientierte Salons und viele Mischformen, teils mit Fokus auf politi­ schen Diskussionen. Obwohl auch Männer Salons führten, ist die Salonkultur eine besondere Domäne der gelehrten und literarisch ambitionierten Frauen. Der Zugang zu den traditionellen Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen war ihnen verwehrt, und so schufen die gebildeten Frauen des Adels und der städtischen Oberschicht im 16., verstärkt dann im 17. und 18. Jahrhundert eigene kulturelle Zentren und initiierten Freiräume für ihre persönliche Mitsprache. Der Litera­ rische Salon bildete ein Refugium weiblicher Kultur, intellektueller Konversation und erlesener Lebensart (vgl. Heyden-Rynsch 1995, Eske 2010). Schon die griechische Dichterin Sappho richtete Lesungen in geselliger Runde aus. Vorläufer der Salonkultur finden sich in den Cours d’amour der Troubadourzeit, in der italienischen Renais­ sancegeselligkeit sowie in der Hofgalanterie und Konversation im Frankreich der Barockzeit. Mit der Verstädterung entstanden die Literarischen Salons in den Metropolen Europas. Die Marquise de Rambouillet eröffnete 1610 mit dem ersten Salon in Paris die große Tradition französischer Salons, die mit berühmten Salonièren wie Madame Geoffrin oder Madame de Staël Geschichte schrieb. Europa­ weit zeigten sich Ableger in Musenhöfen, Leseabenden, literarischen

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1.4 Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht

Teegesellschaften und Cafés, z.B. in den Salons der Anna Amalia oder Johanna Schopenhauer in Weimar und den englischen literarischen Zusammenkünften bei Mary W. Montague oder Gräfin Albany. In Berlin waren es Jüdinnen wie Henriette Herz, Rahel Levin-Varnhagen und Dorothea Schlegel, die ihre Salons dem Austausch im Geist der Aufklärung öffneten (vgl. Wilhelmy-Dollinger 2000). Mittelpunkt der russischen Salonkultur war St. Petersburg und ihre berühmteste Salonière die Fürstin Sinaida Wolkonskaja. Die Salonièren schufen in ihren Salons nicht nur eine schillernde Begegnungs- und Gesprächs­ kultur, sondern fungierten informell ebenso als Beraterinnen in diffi­ zilen Lebenslagen, häufig auch in ihren umfangreichen Briefwechseln. Auch sie gehören mit ihren Aktivitäten in die Vorgeschichte der Philosophischen Praxis. Zwischen Restauration und Moderne entwickelten sich Nachblü­ ten dieser Tradition und Ausläufer gab es noch im 20. Jahrhundert, doch die Zeit der einflussreichen Salons in herrschaftlichen Privathäu­ sern ist längst Geschichte. Gleichwohl erlebt insbesondere Berlin seit den 1980er Jahren eine erstaunlich vielfältige Renaissance des ›Berli­ ner Salons‹ (vgl. Saxe 1999). In den Philosophischen Praxen nahm die Salon-Tradition unter veränderten Bedingungen mit den Salons und Cafés erneut Gestalt an. Hier wurden kreative Diskurs- und Begeg­ nungskulturen entwickelt, die neben aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen auch Fragen der Lebenskunst aufgriffen.

1.4 Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Während die Salonièren durch die Zusammenstellung interessanter und illustrer Gäste für eine gehobene differenzierte, häufig auch kontrovers ausgerichtete Gesprächskultur sorgten und die Lebens­ kunst in den Kontext freiheitlicher Entwürfe stellten, war der in der Aufklärungsphilosophie angestiftete allgemeine Lebenskunstdis­ kurs schillernd, oberflächlich, teils auch direktiv-dogmatisierend und avancierte zu einer Art populären praktischen Philosophie. Kant fühlte sich in diesem Durcheinander so unwohl, dass er (1983, Bd. 6, 37) ungewohnt deutlich sogar von einem »ekelhaften Mischmasch von zusammengestoppelten Beobachtungen und halbvernünftelnden Prinzipien«, spricht, »daran sich schale Köpfe laben, weil es doch etwas gar Brauchbares fürs alltägliche Geschwätz ist«. Kant wies der Lebenskunst ihren systematischen Ort innerhalb der Praktischen Phi­

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1. Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis

losophie zu und folgte damit einer von ihm wahrgenommenen Not­ wendigkeit. Seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) handelt dann konkret und lebenspraktisch davon, was der Mensch »als frey­ handelndes Wesen, aus sich selbst macht, oder machen kann und soll« (Kant 1983, Bd. 10, 399). Unter diesem Topos werden dann allerhand Themen durchdekliniert: Der erste Teil, »Anthropologische Didak­ tik«, handelt »Vom Erkenntnisvermögen«, »Vom Gefühle der Lust und Unlust« und »Vom Begehrungsvermögen«. Der zweite Teil ist einer »Anthropologischen Charakteristik« gewidmet, und hier findet sich dann die vielzitierte »Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung der Bestimmung des Menschen und die Charakteristik sei­ ner Ausbildung«: Der Mensch sei »durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren«. Gegen den tierischen Hang sich in Gemächlichkeit und Wohlleben gehen zu lassen, soll der Mensch vielmehr »tätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig« machen. So müsse er also »zum Guten erzogen werden« (ebd., 678). Was aber nun die Stufe der Moralisierung angeht, so dämpft Kant die Hoffnung, als Gattung dieses Ziel erreichen zu können: Das Problem der allgemeinen moralischen Erziehung bleibe »selbst der Qualität des Prinzips, nicht bloss dem Grade nach, unaufgelöst; weil ein ihr angeborner böser Hang wohl durch die allgemeine Menschenvernunft getadelt, allenfalls auch gebändigt, dadurch aber doch nicht vertilgt wird« (ebd., 681). So schreibt sich der Prozess der Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung notwendig als Aufgabe und Herausforderung immer weiter fort. Es erhebt sich nicht nur bei Kant, sondern in der Folge bei vielen Philosoph*innen die Frage, wo denn genau der Ort ist, an dem sich der Mensch »durch Kunst und Wissenschaft« kultiviert, zivilisiert und moralisiert? Kann die elter­ liche Erziehung, können Schulen die hehre Aufgabe übernehmen? Und eine weitere Frage an Kant bezogen auf das Wie der moralischen Bildung könnte lauten: Brauchen wir dafür nicht mehr als ›nur‹ die Vernunft? Was ist mit den Verstehens- und Erkenntnisquellen, die in den Gefühlen oder gar im Leib, in Nietzsches »großer Vernunft« verankert sind (Nietzsche 1983, Bd. 1, 314)? Die breit aufgefächerte Historie zur Lebenskunst wird dann im 18. und 19. Jahrhundert bestimmt durch ein Nebeneinander von popu­

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1.5 Lebensreform und Schule der Weisheit

lär-oberflächlichen Lebenslehren und tiefgründig philosophischen Entwürfen, von philosophischer Aufwertung der Gefühle und der Innerlichkeit, von vielfältigen Entwürfen zur Philosophie der Bildung und Selbstdisziplinierung, von dogmatischen und reformatorischen Ansätzen in der Pädagogik, u.a. bezogen auf die Geschlechterdiffe­ renz und die Bildungsfähigkeit der weiblichen Bevölkerung, von Konzepten der Diätetik und der Ästhetik etc. Schillers ästhetische Erziehung und Schlegels Lebenskunstlehre gehören ebenso dazu wie Novalis‘ »Kunst zu leben« und die Vorstellungen romantischer Lebensform. Teils formiert sich zudem eine auf kulturdiagnostischen Überlegungen beruhende kritische Disposition, die bei den Vorberei­ tern der Lebensphilosophie Friedrich Schlegel, Arthur Schopenhauer und Jean-Marie Guyau eine scharfe Missbilligung der Lebensferne in der Philosophie und ihrer akademischen Zunft einschloss.

1.5 Lebensreform und Schule der Weisheit Die Lebensreformbewegung am Übergang zum 20. Jahrhundert generiert schließlich im Zuge ihrer mitunter radikalen Kulturkritik einen umfassenden Aufbruch zur alternativen Lebensgestaltung. Nach den großen technischen und gesellschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts formieren sich hier zahlreiche Protesthaltungen, neue soziale Entwürfe und innovative künstlerische Ausdrucksfor­ men (vgl. Buchholz et al. 2001). Ab 1906 erscheint in Leipzig die Zeit­ schrift »Die Lebenskunst. Zeitschrift für persönliche Kultur«, die ein geistiges Band zwischen den Anhängern der verschiedenen Reform­ bestrebungen knüpfen will (Frauenbewegung, Sexualreformer, Vege­ tarier, Monistenbund, Wandervogelbewegung, Theosophen etc.). Dass diese Aufbruchsbewegungen insgesamt nicht nur banal und harmlos waren, zeigte der Versuch, die Affirmation des Krieges an solche Entwürfe anschlussfähig zu machen. Philosophisch haben zunächst drei Richtungen bzw. Disziplinen die Fragen der Lebens­ kunst verarbeitet: die Lebensphilosophie mit ihrem Fokus auf das in der Philosophie vernachlässigte gelebte Leben, die Phänomenologie im Aufbruch zu neuen ergebnisoffenen Forschungen am Leitfaden des Phänomens und schließlich die Existenzphilosophie mit ihrem Fokus darauf, dass der Mensch sich im Horizont des Gegebenen entwirft, ja entwerfen muss.

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1. Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis

Aus dem lebens- und kulturphilosophischen Umfeld stammt der wohl bemerkenswerteste Versuch eines Rückgriffs auf philosophische Lebenskunst, der als Prototyp der heutigen Philosophischen Praxen zu sehen ist. Hermann Keyserling, der 1880 im livländischen Könno geboren wurde und 1946 in Innsbruck verstarb, gründete 1920 in Darmstadt eine Schule der Weisheit, die dem sokratischen Vorbild fol­ gend, unter historisch anderen Bedingungen Philosophie wieder für das Leben fruchtbar machen wollte (vgl. Gahlings 1992, 1996, 2021a). Eine Gesellschaft für freie Philosophie sollte ihre Unabhängigkeit vom akademischen Betrieb und zugleich ihren Dienst für das Gemeinwohl anzeigen. Da Keyserling keine Tradition für das Streben nach Weisheit vorfand, sollte diese Neugründung als philosophische Institution und ortsunabhängige Bewegung individuelle, gruppenspezifische und gemeinschaftsorientierte Angebote bereitstellen und eine bestimmte Lebenskultur festhalten. Im Unterschied zu herkömmlicher Erzie­ hung war die Schule der Weisheit auf Inspiration angelegt, u.a. durch die weisen Menschen, die Keyserling nach Darmstadt berief, um ihre Wege und Positionen in einer ›Orchestrierung‹ von Perspektiven dar­ zustellen. Auf der Basis einer durch viele Reisen entfalteten kulturkriti­ schen Sinnphilosophie ging es Keyserling vor allem darum, gegen­ über dem überschätzten intellektuellen Begreifen das schöpferische Verstehen zu rehabilitieren und den Menschen ganzheitlich in seinen Fähigkeiten zu fördern. Dabei gilt der baltische Graf als Pionier der philosophisch fundierten Erwachsenenbildung und der Philosophi­ schen Praxis. Seine Schule der Weisheit verband eine multiperspekti­ visch und interkulturell ausgerichtete theoretische Fundierung mit konkreter individueller und gemeinschaftlicher Praxis in philosophi­ schen Übungen und Exerzitien. Außerdem führte Keyserling das philosophische Gespräch zur persönlichen Lebensorientierung ein. Mit der Bezeichnung ›Schule‹ und mit dem Begriff ›Weisheit‹ gab er einen starken, durchaus kritisierten Hinweis darauf, dass Philosophie bzw. Philosophieren in einer Weise gegenwärtig werden und mithin auch gelehrt werden kann, dass das menschliche Leben zum Guten hin entfaltet werden kann. Diese Lehrfähigkeit der Weisheit ist nicht nur theoriebasiert, sondern gründet auf dem Dasein der Person. Ihr korrespondiert die grundsätzliche Affizierbarkeit des Menschen durch andere und eine lebenslang bestehende Lern- und Übungsfähigkeit. Die Entwicklungsmöglichkeit des Menschen band Keyserling in das Konzept eines Wegs zur Vollendung ein: Weisheit geht alle an. Jeder

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1.6 Lebenskunst und Psychologie

Mensch, unabhängig davon, ob er Philosophie professionell betreibt, kann in seiner aktuellen Situation im philosophischen Sinn Verant­ wortung für sich, seine Mitmenschen und die Gesellschaft überneh­ men. Keyserling war sich darüber im Klaren, dass unter Lebenskunst zu seiner Zeit ein divergentes Konglomerat verschiedener Strömun­ gen firmierte, die weder vereinheitlicht werden konnten noch über eine in seinem Sinne ausreichende theoretische Fundierung verfüg­ ten. Für ihn kam gerade in einer Zeit, in der religiöse Sinnstiftung rückläufig und neue Orientierungen notwendig geworden waren, der Philosophie eine bedeutsame allgemeinbildende Aufgabe zu: Sie sollte auf der Grundlage einer Neuverknüpfung von Geist und Seele eine kulturelle und menschliche Erneuerung anstiften. Mit dieser Rückbindung der Reflexion und Pflege des Lebens an die Philoso­ phie und ihren moralischen Auftrag in der Gesellschaft erhielt die Praxisausrichtung der Philosophie im 20. Jahrhundert einen ersten entscheidenden und konkreten Impuls (vgl. Gahlings 2021d, 2021e). Heute knüpft das im Jahr 2005 gegründete Darmstädter Institut für Praxis der Philosophie an diese von Keyserling begründete Tradition wieder an, die konkret dem Nationalsozialismus zum Opfer fiel.

1.6 Lebenskunst und Psychologie Das Feld der Lebenskunst wurde im 20. Jahrhundert auch und bis heute nachhaltig gesellschaftlich anerkannt und institutionalisiert durch Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie bestellt. Key­ serling korrespondierte mit namhaften Psychologen wie Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Alfred Adler, Oscar A. H. Schmitz, Georg Groddeck und lud sie nach Darmstadt zu den ›orchestrierten‹ Tagun­ gen oder zu Beiträgen in Sammelbänden ein. Er arbeitete auch mit dem Arzt Carl Happich zusammen, der zu den Pionieren moderner Meditationstechniken gehörte und diese u.a. in der Psychotherapie einsetzte. Freud verstand sich selbst als jemand, der Techniken für ein lebbares Leben bereitstellte: arbeiten können, lieben lernen, Frustrationen hinnehmen können. Adler (2021, 28) ordnete alle Lebensfragen den drei großen Problemen unter, »dem Problem des Gemeinschaftslebens, der Arbeit und der Liebe«. Seine Individual­ psychologie erforschte die Meinung des Menschen über sich und die Welt sowie den spezifischen Lebensstil und richtete sich schließlich

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1. Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis

verstärkt auf eine »Anleitung zur Selbsterziehung«. Sein Buch Der Sinn des Lebens (1933) bezeichnet Ferdinand Fellmann (2009, 121) als »Meilenstein in der Entwicklung moderner Lebenskunst«. Vielfach wurde der Aufschwung der Psychotherapie im 20. Jahr­ hundert als Antwort auf die schwindende Orientierungskraft der Religion und damit gleichsam als ›Religionsersatz‹ gewertet. Mit Bezug auf philosophische Fragen, u.a. in Verbindung von Psychoana­ lyse und Existenzphilosophie, haben im Verlauf des 20. Jahrhunderts dann Ludwig Binswanger (1992ff.) und Medard Boss (1979) mit der Daseinsanalyse in Anlehnung an Heidegger, Viktor Frankl (1989) mit seiner Logotherapie und schließlich Irvin Yalom (2005, 2010) mit seiner existenziellen Psychotherapie und philosophischen Roma­ nen wichtige Brücken zur Philosophischen Praxis geschlagen. Die psychotherapeutischen Ansätze mit ihren Einlassungen zur Lebens­ gestaltung waren schon damals und sind heute immer noch »so weit verzweigt«, wie Fellmann (2009, 129) schreibt, »dass eine Grenze zwischen Psychologie, Psychotherapie und Philosophie der Lebenskunst nur noch schwer zu ziehen ist«. Das Aufkommen der Philosophischen Praxen sei dafür »ein handfester Beleg«.

1.7 Europamüdigkeit und Erkenntniswege der Reisenden. Die Sinnsuche erfolgte nicht nur in den psychologischen Lehren und psychotherapeutischen Angeboten, sondern auch in einer von Euro­ pamüdigkeit und Forschungslust gespeisten Hinwendung zu anderen Kulturen. Schon im 19. Jahrhundert hatte Helena Petrovna Blava­ tzky auf ihren Reisen in Asien und Amerika Material für eine inter­ kulturelle Erschließung philosophischer und spiritueller Traditionen gesammelt. Sie hatte 1875 die Theosophische Gesellschaft initiiert und mitbegründet, aus der schließlich die Anthroposophie Rudolf Steiners hervorging. Die Reiseschriftstellerin Alexandra David-Neel hat vor allem zur Erforschung der tibetischen Kultur und des Buddhismus beigetragen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zogen dann teilweise in regelrechten Reisewellen die europäischen Intellektuellen gen Osten. Der als Reisephilosoph berühmt gewordene Keyserling besuchte auf seiner Weltreise 1911–1912 nicht nur Indien als besonderen Sehn­ suchtsort, sondern auch China, Japan sowie Nordamerika. Es folgten in den 1920er Jahren weitere ausgedehnte Reisen in die USA und nach Südamerika. Das Motto seines berühmten Reisetagebuches eines

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1.8 Coaching, Fitness und Wellness

Philosophen (1919) »Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum« verweist auf die Suche nach Selbstfindung in der Ferne und im Fremden sowie auf das alte Motiv, dass durch Reisen Selbsterkennt­ nis und Selbstverwirklichung zu erlangen ist (vgl. Gahlings 2021b, 2021c). So wurden auch in der Schule der Weisheit außereuropäische Wege der Lebenskunst aufgegriffen und entsprechende Repräsentan­ ten nach Darmstadt eingeladen, prominent z.B. der indische Dichter, Reformpädagoge, Universalgelehrte und Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore (vgl. Kämpchen 2021). Spätestens in den 1970er Jahren boomte die Reisebranche für die Fernost-Interessierten und mit ihr der Markt für spirituelle Lebens­ hilfen und außereuropäische Sinnorientierungen. Diese integrierten auch jene in ›westlichen‹ Angeboten häufig vermisste Arbeit mit dem Körper, ganzheitlich angelegte Leibesübungen, exotische Sexualprak­ tiken und ekstatische, teilweise durch psychoaktive Drogen initiierte Bewusstseinsveränderungen. Meditation, Achtsamkeit, Yoga, Tai Chi Chuan, Tantra, schamanisches Reisen, japanische Kampfkunst und viele andere Praktiken eroberten ein immer breiteres Publikum und trugen zu einer Wiederkehr des Körpers auch im interdisziplinären Diskurs der Wissenschaften bei (vgl. Kamper & Wulf 1982). In der Gesellschaft entwickelte sich ein mächtiger Industriezweig mit allen damit verbundenen Chancen und Risiken: Es gab neue Übersetzun­ gen der philosophischen Texte und es bildeten sich im ›Westen‹ Schulen mit Vertreter*innen aus ihren Ursprungsländern, es gab neben ernsten Auseinandersetzungen oberflächliche Adaptionen und Angleichungen an bekannte Systeme bis hin zu euphorischen Blen­ dungen und Scharlatanerie, ja sogar dogmatische Sektenbildung, die weit hinter das Niveau aufgeklärter Wissensbildung zurückfielen. Parallel kam es zur Wiederbelebung der Kulturphilosophie und einer ernsten Bemühung um interkulturelle Philosophie.

1.8 Coaching, Fitness und Wellness Interessanterweise entwickelte sich innerhalb dieser kulturell vielfäl­ tigen Antworten auf die Sinnsuche in den 1970er und 1980er Jahren ebenfalls die nun seit mehreren Jahrzehnten florierende Coaching­ szene. Sie nutzte das so reich erforschte Feld der Methoden und Technologien des Selbst aus Psychologie, Spiritualität, okkult-magi­ schen Praktiken etc., manchmal auch ein wenig Philosophie. Das

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1. Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis

Coaching sollte durchaus nicht nur dem Enhancement bestimmter strategisch nützlicher Einzelkompetenzen gelten, gleichwohl wurden ›Baukästen‹ für die Selbstbemächtigung ›gebastelt‹, die sich auch für die Selbstoptimierung und -ausbeutung als praktisch erwiesen. Damit koppelten sich viele Coaching-Angebote jedoch von einer für das per­ sönliche Leben wirksamen ganzheitlichen Orientierung ab und fokus­ sierten sich auf singuläre Befähigungen, die vor allem im Berufsleben von Bedeutung sind. So fanden sogar Achtsamkeitsübungen, die in einer langen spirituellen und ethischen Tradition in Indien entwickelt wurden, in Strategie-, Kommunikations- und Verhandlungstechniken für Führungskräfte oder Meditationstechniken für Manager Einlass. Das Bedürfnis nach Körperarbeit und leiblicher Erfahrung trans­ formierte sich in der leistungsgeplagten Arbeitsgesellschaft ebenfalls in verschiedene Teilbereiche, einerseits in eine institutionalisierte, mittlerweile stark technisierte Fitnesswelt und andererseits in eine ebenso industriell betriebene Wellnesskultur, die längst verstärkt auch das Bedürfnis nach körperlicher Berührung bedient. In beiden Bereichen gibt es viele Angebote, die aus anderen Kulturen stammen und für das europäisch-amerikanische Selbstverständnis eigens zuge­ richtet wurden, also ihrer philosophischen, weltanschaulichen, aber auch moralisch-ethischen Grundlagen teilweise vollends entkleidet wurden. Daneben kommt die Event- und Abenteuerkultur, auch im Sektor sexueller Grenzerlebnisse, dem Bedürfnis nach Selbsterfah­ rung nach und hat sich mittlerweile erhebliche Marktanteile gesichert.

1.9 Philosophie der Lebenskunst und Philosophische Praxis In diesem Konglomerat von Angeboten zur Sinnsuche, Selbstverwirk­ lichung und Lebensorientierung setzte die in den 1980er Jahren in Deutschland von Gerd B. Achenbach initiierte Philosophische Praxis einen eigenen Impuls. Sie ging ernst und nüchtern, intellektuell und leibfern mit dem Orientierungsbedürfnis der Menschen um. Eine neue Art von Beratungskultur durch Philosophie wurde geschaffen, in Abgrenzung zur Wissenschaftsphilosophie, zur Psychotherapie und auch zur Lebenskunst. Achenbach (2001, 9) plädiert für eine »Lebens­ könnerschaft«: »Der Lebenskünstler gestaltet sein Leben, der Lebens­ könner bewährt sich.« Neben den Beratungen in den Philosophischen Praxen wurden zunehmend auch Philosophische Cafés, Lesungen, Workshops angeboten, in Amerika entwickelte sich zudem schon

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1.9 Philosophie der Lebenskunst und Philosophische Praxis

früh die Philosophy for Children. Die Philosophische Praxis bediente ein allgemeines Bildungs- und Selbstbildungsbedürfnis und nahm am Markt eine Sonderstellung ein. Sie war dafür prädestiniert, auch ergänzend zu anderen Begegnungs-, Beratungs- und Therapieformen aufgesucht zu werden. Dies hat wohl mit der langen Tradition und dem ernsten Anliegen philosophischer Lebenskunst zu tun, die in den 1980er Jahren durch verschiedene Publikationen wiederentdeckt wurden. Hier ist an erster Stelle Pierre Hadot mit seinem Buch Philosophie als Lebensform (1991) zu nennen, das im Untertitel Antike und modernde Exerzitien der Weisheit die Praxis- und Übungsausrichtung der Philosophie deutlich zu erkennen gibt. Im deutschen Sprachraum hat Hans Krämer (1988) auf der Grundlage individualethischer Überlegungen mit sei­ nem Plädoyer für eine Philosophie der Lebenskunst den Diskurs um die Lebenskunst in der akademischen Philosophie wieder anzustiften versucht. Auch Michel Foucault hat mit Büchern wie Die Sorge um sich (1989) das antike Motiv der Selbstsorge erneut ins Bewusstsein gerückt. Sie erfuhr hier sogar noch einmal einen Neuansatz, indem Foucault auf der Grundlage kulturhistorischer Diagnosen die ethische Frage ›Was soll ich tun?‹ durch die Frage ›Wie kann ich in dieser Welt zu mir kommen?‹ ersetzte (vgl. ebd., 132). Im Rückgriff auf die antike Konzeption der Selbstsorge beschäftigte Foucault sich mit dem sexuellen Begehren und konzipierte einen Sorgebegriff, der um ein Selbst kreist, dessen ontologischer Status – anders als in der Antike – fragil ist. Foucault rückt mit der Metapher des Lebens als Kunstwerk die Selbstsorge wieder in den Kontext einer künstlerischen Arbeit an sich selbst, ohne sie allerdings als gemeinschaftsstiftendes Streben oder Tugendwerk in das Gelingen der Gemeinschaft einzubetten. Die Rezeption des Foucaultʼschen Lebenskunstansatzes erfolgte in Deutschland vor allem durch Wilhelm Schmid, der mit seinem Buch Philosophie der Lebenskunst (1998) eine Welle von Publikationen zur Lebenskunst bis hin zur Lebenshilfe und Alltagspsychologie aus­ löste. Schmids Ansatz verfolgt keine beratende oder therapeutische Rahmung, sondern versteht Lebenskunst im Sinne einer begrifflichen Klärung existenzieller Themen und des persönlichen Selbstverständ­ nisses sowie als Streben nach einem bejahenswerten Leben. Gleich­ wohl tritt Schmid, etwa in einem Klinikprojekt in der Schweiz als Philosoph für eine Gesprächsarbeit über persönliche, berufliche oder unternehmerische Anliegen ein und lässt sich in diesem Sinne auch als ›Philosophischer Praktiker‹ rubrizieren (vgl. Schmid 2016). So war

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1. Historisches: Von der Lebenskunst zur Philosophischen Praxis

und ist seine Prominenz im öffentlichen Raum für die Philosophische Praxis nicht unerheblich. Lebenskunst taucht in den Arbeiten der Philosophischen Pra­ xen vielfach auf, weil dieser Begriff in einer populären Lesart im kollektiven Gedächtnis bereits verankert ist und einen leichteren Zugang zu dem zu eröffnen verspricht, was Philosophische Praxis im Allgemeinen intendiert. Was hier ihre besondere Aufgabe sein könnte, bleibt aber oft unbestimmt, zumal mit der Lebenskunst nicht nur in Europa, sondern auch an den anderen Geburtsorten der Philo­ sophie eine historische Hypothek in Gestalt der Ethik als Lebenskunst verbunden ist, im asiatischen Raum vor allem auch durch die morali­ sche Dimension der Leib-Praxen. Manche spätmodernen Konzepte von Lebenskunst nähren die Vorstellung, es handele sich um eine individuelle Angelegenheit nach Maßgabe einer jederzeit frei verfüg­ baren und jedem Menschen zugänglichen oder sogar aufgegebenen Selbstprogrammierung. So haften dem Begriff der Lebenskunst in den verschiedenen alltagsrelevanten Verwendungsweisen und in den vielgepriesenen Modellen systemisch-strategischer, also quasi demi­ urgischer Lebensgestaltung auch problematische Konnotationen an. Dass dem Lebenskunst-Diskurs, auch wenn er philosophisch geführt wird, zuweilen der Ernst fehlt und dass er häufig sogar am Leben vorbeigeht, jedenfalls ein anthropologisch differenziertes Fundament vermissen lässt, haben Wolfgang Kersting und Claus Langbehn in dem Buch Kritik der Lebenskunst (2007) herausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund erscheint Achenbachs früher Vorstoß, mit der Lebenskönnerschaft eine Zäsur und Neuausrichtung anzu­ stiften, plausibel. Allerdings bleibt die Philosophische Praxis auch in diesem Diskurs weiterhin einem Legitimationsdruck ausgesetzt, wenn sie sich nämlich zu einem Menschenbild verleiten lässt, das auf Selbst- und Weltbemächtigung setzt und die leibliche Existenz aus dem Blick verliert, zumal in Zeiten der globalen Digitalisierung. Es ist hier wenig sinnvoll, Kunst und Könnerschaft gegeneinander auszuspielen; es reicht auch nicht aus, den Lebenstechniken einen zeitgemäßen Zuschnitt zu geben; vielmehr ist eine ernste Beschäfti­ gung mit den anthropologischen Grundlagen Philosophischer Praxis notwendig, um das Erbe der Selbstsorge in seiner vollen moralischen und politischen Bedeutung auszuloten. Jedenfalls erschließt sich hier einmal mehr die Notwendigkeit einer fundierten Betrachtung der Lebenskunst sowie die Dringlichkeit einer Ethik für den Handlungs­ raum Philosophischer Praxis.

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1.9 Philosophie der Lebenskunst und Philosophische Praxis

Keyserlings Schule der Weisheit ist sicher als eine Hüterin jener ernsten Lebenskunst im Sinne der Ethik als Lebenskunst zu bezeich­ nen, insofern sie der Lebenskunst eine philosophisch breite Einrah­ mung verschaffte und die Philosophie für die individuelle Sinnstiftung und Lebensorientierung sowie auch als kritische und gestaltende Instanz in der Gesellschaft neu aufstellte. Mit unvergleichlichem Charisma hat Keyserling diesen Impuls zur kulturellen Erneuerung weltweit verbreitet. Bei den Philosophischen Praxen handelt es sich nun aber um eine Bewegung, in der eine Vielzahl unterschiedlicher Personen an verschiedenen Orten mit ihren divergenten persönlichen Auffassungen von Philosophie agiert und noch dazu in einem relativ offenen Feld, das unter dem Label »Philosophische Praxis« nicht eigens begrifflich geschützt oder professionell eingegrenzt ist. So wäre es sicher vorschnell zu behaupten, dass die Philosophische Praxis im Allgemeinen und jedwede einzelne Praxis im Besonderen nun zu einer Hüterin der Lebenskunst geworden wäre. Vielleicht könnte darin aber ein zentraler Auftrag liegen, vor allem im Hinblick auf die ethischen Dimensionen der Lebenskunst. Der Sache nach wäre Philosophische Praxis jedenfalls dafür prädestiniert. Philosophische Praxis beabsichtigt nämlich sehr wohl, das Leben in seiner Offenheit und Formbarkeit sowie in seiner Unverfügbar­ keit und Abgründigkeit ernst zu nehmen. Vielfach setzt sie an der moralischen Ausrichtung des Menschen an und beschäftigt sich kri­ tisch mit den aktuellen Entwicklungen der Lebensformen. In der Gesprächsarbeit mit Einzelnen oder Gruppen spiegeln sich ja häu­ fig die spezifischen Problemlagen des allgemeinen Lebensstils, der gesellschaftlichen Disziplinierungen und der Orientierungsvorgaben. Philosophisch Praktizierende sind durch ihre Arbeit in besonderer Weise befähigt, kulturdiagnostische Analysen für eine Kritik und Reform bestehender Lebensweisen fruchtbar zu machen. Gerade weil in der Philosophischen Praxis die Aufgaben und Prozesse einer Ethik als Lebenskunst zusammengeführt werden können, lässt sich mit guten Gründen behaupten, dass sie mehr ist und anderes anbietet als das, was man in einem oberflächlichen Verständnis unter Lebenskunst oder Lebensklugheit versteht. Ein kritischer Blick muss dennoch auf die im Begriff der Lebenskunst mitgeführten Vorannahmen gerichtet werden. Dies betrifft insbesondere die Konzepte der Selbstbemächti­ gung im Kontext der leiblichen Eingelassenheit unserer Existenz, also die anthropologische Grundstellung.

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Freilich erhält die Lebenskunst ihre theoretische Legitimation durch die Annahme, dass der Mensch sich selbst und seine Umwelt gestalten kann, also nicht vollends der Natur unterworfen oder durch andere Mächte fremdbestimmt ist. Mit den vielbeschworenen Übun­ gen und Selbsttechnologien ergeben sich aber Fragestellungen, ja sogar Paradoxien im Verständnis von Lebenskunst, die auch eine neuralgische Zone der Philosophischen Praxis darstellen. Wenn sie das Erbe der Lebenskunst aufzugreifen beabsichtigt, was philosophie­ historisch ja geboten erscheint, ist hier vor allem bedenkenswert, dass sich die Herausforderungen an die Lebenskunst in der tech­ nisch-wissenschaftlich-kapitalistischen Zivilisation gegenüber ande­ ren Epochen wie beispielsweise der Antike erheblich verändert haben. So bedarf der Lebenskunstdiskurs einer unentwegten Reflexion auf die je gegebenen historisch-kulturellen Bedingungen. Insofern ist umsichtig und kritisch mit der Frage nach der Verallgemeinerbarkeit von Konzepten und Selbsttechnologien der Lebenskunst umzugehen. Man könnte allenfalls einige Aufgaben benennen. Darunter fällt sicher an erster Stelle, die Ausbildung und Anwendung der komple­ xen Vermögen zu erkennen und zu verstehen. Doch schon darüber, was genau diese Fähigkeiten sind und wie sie entfaltet werden können, werden unterschiedliche Vorstellungen kolportiert, die wiederum fest in den Lebensformen verankert sind. Damit rückt die Bedeutung des Verstehens als Grundauftrag der Philosophie in den Fokus. Welche Aufgaben sich daran anknüpfend für die Lebenskunst in der Gegen­ wart stellen, soll nun in drei Dimensionen umrissen werden.

Ausbildung und Anwendung des Vermögens zu erkennen und zu ver­ stehen Allgemein wird als basales Rüstzeug mit Philosophie eine Vernunft­ tätigkeit verbunden, die in ihrer methodischen Schulung vielfach beschrieben wurde. Denn es genügt nicht, wie René Descartes (2001, 9) schreibt, »einen gesunden Geist zu haben, vielmehr ist es die Hauptsache, ihn richtig anzuwenden«. So finden wir im Discours de la méthode (1637) vier Vorschriften, um »die Vernunft richtig zu führen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu erforschen«, wobei es Descartes (2001, 39–41) um die vielzitierte klare und deutliche Erkenntnis in der Philosophie und vor allem in den exakten Wissenschaften, den Naturwissenschaften geht:

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»Die erste Vorschrift besagte, niemals irgendeine Sache als wahr zu akzeptieren, die ich nicht evidentermaßen als solche erkenne; dies bedeutet, sorgfältige Übereilung und Voreingenommenheit zu vermei­ den und in meinen Urteilen nicht mehr zu umfassen, als das, was sich so klar und so deutlich meinem Geist vorstellt, dass ich keine Möglichkeit hätte, daran zu zweifeln. Die zweite besagte, jede der Schwierigkeiten, die ich untersuchen würde, in so viele Teile zu zerlegen, wie es mög­ lich und wie es erforderlich ist, um sie leichter zu lösen. Die dritte besagte, meine Gedanken in Ordnung zu führen, indem ich mit den am einfachsten und am leichtesten zu erkennenden Dingen beginne, um nach und nach, gleichsam stufenweise, bis zur Erkenntnis der am meisten zusammengesetzten aufzusteigen, und indem ich selbst dort Ordnung unterstelle, wo nicht natürlicherweise das eine dem anderen vorausgeht. Und die letzte besagte, überall so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten herzustellen, dass ich versichert wäre, nichts wegzulassen.«

Zieht man nun mit Keyserling (1910, 143–159) einen Philosophen des 20. Jahrhunderts hinzu, stößt man in seiner Erörterung zum »Ideal des philosophischen Denkens« auf ähnliche Kriterien, aber mit einem entscheidenden Unterschied im Hinblick auf den Zusammen­ hang von Erkenntnis und Person. Für alle Wissenschaft und somit auch für die Philosophie gelten nach Keyserling die Gebote der Tiefe und Klarheit. Der Philosoph gelangt dann zu klarer Erkenntnis, wenn er mit Präzision arbeitet, d.h. mit eindeutig definierten Begriffen. Dieses Leitmotiv findet sich schon bei Konfuzius. In einem Dialog über die Staatsregierung fragt Dsi Lu, was bei der Übernahme der Regierung zuerst in Angriff zu nehmen ist, und Konfuzius antwortet: »Sicherlich die Richtigstellung der Begriffe.« Er (1985, 131) führt dann weiter aus: »Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeiht Moral und Kunst nicht; gedeiht Moral und Kunst nicht, so treffen die Strafen nicht; treffen die Strafen nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Darum sorge der Edle, dass er seine Begriffe unter allen Umständen zu Worte bringen kann und seine Worte unter allen Umständen zu Taten machen kann. Der Edle duldet nicht, dass in seinen Worten irgend etwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt.«

Darauf bezieht sich Keyserling, wenn er auch vom Philosophen fordert, seine Begriffe zu überprüfen und dem gemeinten Sinn einen

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adäquaten Ausdruck zu verleihen. Zur Präzision der Begriffe gehört die Exaktheit des methodischen Vorgehens. Es komme, so Keyserling, nicht auf das Denken überhaupt an, etwa im Sinne der formalen Logik, sondern auf die Ausgangsposition, also die angemessene Fragestellung und den rechten Betrachtungsstandpunkt. Durch Ver­ änderungen in der Perspektive könne sich ein Problem völlig neu stellen. Schließlich nennt Keyserling (1910, 157) die Gegenständlich­ keit des Denkens, die erst eine Klarheit der Erkenntnis ermöglicht: »Philosophie hat ausgesprochen zu sein, sonst ist sie überflüssig; ihr ganzer, ihr einziger Wert beruht darauf, dass sie das unzweideutig feststellt, was alle vielleicht ahnen.« Damit wendet er sich gegen die Mystifizierung des Vagen, Dunklen, Zweideutigen und auch gegen eine Lebensphilosophie, die dem Intellekt gegenüber feindlich gesinnt ist, wie diejenige von Ludwig Klages (1960), die sogar den – freilich auf bloße Verstandestätigkeit reduzierten – Geist als Widersacher der Seele verfemt. Erkenntnis im philosophischen Sinne bedeutet für Keyserling, vormals Dunkles zu erhellen und – ganz im Sinne Wittgensteins – das nicht zu Erhellende klar auszuweisen. Diesen Aspekten für das Ideal des philosophischen Denkens entspricht nach Keyserling auf ethischem Gebiet das Gebot der unein­ geschränkten Wahrhaftigkeit. Der Philosoph muss das Äußerste von sich verlangen, indem er im Sinne von Platons lógon didónai Rechen­ schaft ablegt über jeden Schritt seines Vorgehens, indem er jede Voraussetzung überprüft und jede Unaufrichtigkeit im Verhältnis von Sinn und Ausdruck vermeidet. Seine Überzeugung müsse in seiner Person Ausdruck finden. Von Grundsätzen auszugehen, die dem Wesen des Denkers nicht entsprechen, bedeute, so Keyserling (1910, 159), »Sünde wider den heiligen Geist«, schließlich sei Selbstbesin­ nung ja die wesentliche Aufgabe des Philosophen. Damit zeichnet Keyserling als Kernmerkmal philosophischer Tätigkeit mit der Ein­ übung der ›Verstehensorgane‹ ein unermüdliches Streben nach Wahr­ haftigkeit aus. Die Entsprechung zwischen Überzeugung und Wesen sei notwendig zur rechten Herausstellung des Verhältnisses von Sinn und Ausdruck und zur Sinnverwirklichung im Leben. Keyserling insistiert hier auf einer ethischen Dimension des Philosophierens. Bei beiden Denkern, Descartes und Keyserling, die hier als Beispiele für viele andere fungieren, entsteht nun aber der Eindruck, als wäre der rechte Vernunftgebrauch hier und das in Wahrhaftig­ keit eingebundene philosophische Denken dort eine Angelegenheit quasi isolierter individueller Tätigkeit, als könne die Überprüfung

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der Erkenntnis ›systemimmanent‹ vom Einzelnen für sich erbracht werden und als wäre auch die Wahrhaftigkeit nur eine Frage individu­ ellen Strebens. Es gibt keinen Hinweis auf ein Gegenüber, das für die Ausbildung und die Anwendung dieser Vermögen von Bedeutung, keine Silbe darüber, dass ein anderer Mensch gar fortlaufend und zu einer weiteren Absicherung des Erkannten herangezogen werden oder sogar notwendig sein könnte. Von jenem schon zu Beginn der europäischen Wissenschaftsgeschichte so bedeutsamen und in der Figur des Sokrates nachhaltig überlieferten hohen Gut des Gesprächs ist hier nicht die Rede. Gleichwohl standen Descartes und Keyserling natürlich im Dialog mit Anderen, u.a. in unermüdlichen Briefwech­ seln. Dieser bedeutsame Aspekt philosophischen Arbeitens ist aber beiden Denkern in ihren Definitionen keine Erwähnung wert. Allerdings hatte Keyserling erhebliche Vorbehalte gegen das akademische Debattieren und erließ auf den Tagungen seiner Schule der Weisheit ein viel kritisiertes ›Diskussionsverbot‹ als Vorkehrung gegen ein allzu eifriges Zerreden der Vortragsinhalte. Andererseits förderte er eine Gesprächskultur in geselliger Atmosphäre, wie sie für die Salons typisch ist und bei der man in lebendige Begegnung kommt. Für die Schule der Weisheit war die schöpferische Erkenntnis relevant, was bedeutete, dass im Prozess des Sinnverstehens der Inspiration ein Vorrang gegenüber der Erziehung eingeräumt wurde. Außerdem hat Keyserling die philosophische Beratung als Zwiesprache über den persönlichen Lebens- und Erkenntnisweg eingeführt und vitalisierte in den Exerzitien ein intensives In-Gemeinschaft-Sein. Dialog und Begegnung waren ihm also für die Praxis der Weisheit grundlegend, auch wenn man ihm persönlich nachsagte, dass er in philosophischen Gesprächen wie ein ›sprudelnder Wasserfall‹ redete und das Zuhören kaum vermochte. Nun geht es bei Descartes um den Vernunftgebrauch in den Wissenschaften. Keyserling adressiert mit dem Ideal der Wahrhaftig­ keit die Berufsphilosophen und entwickelt in der Schule der Weisheit besondere Angebote für die ganzheitlich angelegte schöpferische Erkenntnis. Wie sieht es aber nun allgemein mit der Ausbildung und Anwendung des Vermögens zu erkennen und zu verstehen aus, also jener Eigenschaften, die den Menschen erst in die Lage versetzen, sich mit der eigenen Existenz reflektierend und gestaltend auseinan­ derzusetzen? Wie also werden die Grundlagen für die Lebenskunst und Lebenskönnerschaft gelegt, welche Übungen und Selbsttechno­ logien kommen zum Tragen, wenn im Elternhaus, in den Bildungs­

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einrichtungen und in den beruflichen Qualifizierungen moralische Subjekte heranreifen sollen? Folgt man Martha C. Nussbaum in ihrem Fähigkeiten-Ansatz, so gehört die »Praktische Vernunft« zu den wesentlichen Eigenschaften des Menschen, was sie (1999, 194) so beschreibt: »Alle Menschen planen und organisieren ihr Leben (oder versuchen es zumindest), indem sie fragen und Antworten auf die Frage finden, was gut ist und wie man leben soll. Darüber hinaus möchten sie in ihrem Leben ihre Gedanken verwirklichen. Sie möchten fähig sein, zu wählen, zu urteilen und dementsprechend zu handeln. Diese all­ gemeine Fähigkeit hat viele konkrete Formen und ist auf komplexe Art und Weise mit den emotionalen, imaginativen und intellektuellen Fähigkeiten verbunden.«

Aus dieser Eigenschaft formuliert Nussbaum mehrere Grundfähig­ keiten, darunter die Fähigkeit, »eine Vorstellung des Guten zu ent­ wickeln und kritische Überlegungen zur eigenen Lebensplanung anzustellen« (ebd., 201), oder in einer späteren Formulierung, die »Fähigkeit, selbst eine persönliche Auffassung des Guten zu bilden und über die eigene Lebensplanung auf kritische Weise nachzuden­ ken« (Nussbaum 2010, 213). Eine solche »Praktische Vernunft« ist also für die Lebenskunst, die man hier als Lebensfähigkeit bezeichnen könnte, unabdingbar und sie hat auch eine ethische Dimension. Nach Nussbaums Forderung sollte sie von jedem Menschen, nicht nur von berufsmäßigen Denkerinnen und Wissenschaftlern, entfaltet werden können, mithin umfänglich in der Bildung gefördert werden. Dabei erwähnt sie eine komplexe Verwobenheit der praktischen Vernunft mit »emotionalen, imaginativen und intellektuellen Fähigkeiten«, was die Einbettung der Verstehensvermögen über den Vernunftge­ brauch hinaus erheblich erweitert. Nussbaum zieht für den Erkennt­ nisgewinn nicht nur die Vernunft, den Verstand, das Denken, die Geistestätigkeit, oder wie immer man die rationalen Vermögen des Menschen bezeichnen mag, heran, sondern ebenso die Emotionalität. Damit verweist sie auf ein eklatantes Defizit im Diskurs um die Selbsterkenntnis, nämlich die Ausblendung, ja sogar Herabsetzung und Diffamierung der Gefühle als Quelle der Erkenntnis und Grund­ lage der Ethik. Es ist eine Crux mit der europäischen Philosophie in ihrer über 2.500 Jahre alten Geschichte, dass sie bevorzugt auf die Ausbil­ dung der Vernunfttätigkeit ausgerichtet war (und ist) und selten die Verstehensvermögen des Menschen in ihrer Totalität in den Blick

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genommen hat (und nimmt), also auch die emotionalen Erkenntnis­ quellen. Dieser Reduktionismus hat dazu geführt, dass in nahezu allen Lebensbereichen die emotionale Bildung, besonders die Ausbil­ dung der Mitgefühle unterbewertet oder sogar diskreditiert wurde. Die Auswirkungen dieser Vernachlässigung lassen sich bis hinein in die Bildungsinstitutionen gut vermessen und hängen auch mit dem zusammen, was traditionell immer wieder unter Lebenskunst in philosophischen und religiösen Lebensformen rangiert, nämlich der Kontrolle und Beherrschung der Affekte. Erst im 20. Jahrhundert konnten Körper und Leib zu akzeptierten philosophischen Topoi avancieren und die Gefühle in ihrer Bedeutung auch für die Ethik einer angemessenen Analyse zugeführt werden. Die Bildungsbemühungen sind heute jedoch überwiegend einer ökonomischen Rationalität verpflichtet und darauf gerichtet, die Ideale der Selbstbemächtigung mit kalter Rationalität teleologisch einzusetzen. So lernen Heranwachsende wenig darüber, wie sie lebensbezogen denken, ihre Intuition und Emotionalität schulen, wie sie Freundschaften, Liebes- und Familienbeziehungen pflegen, Zugang zu ihrer Kreativität finden, wie sie Krankheiten und Schick­ salsschläge annehmen, Lebenskrisen bewältigen können. Unauffällig und en passant, vor allem ohne eine solide Ausbildung der dafür erforderlichen Verstehensvermögen sollen alle das Leben meistern. In einem lockeren Gefüge scheinbar unbegrenzter Lebensmöglichkeiten sehen sich viele Menschen dem Anspruch extremer Flexibilität in allen Rollen ausgesetzt, fühlen sich zur Selbstoptimierung verpflichtet und verlieren leibvergessen den spürenden Zugang zu sich selbst und den Mitmenschen – um nur ein paar Parameter zu nennen. Die Totali­ tät menschlicher Bedürfnisse, die Bedeutung ethischer Haltungen und die Entfaltung all jener Fähigkeiten, die dem ökonomischen Erwerbs­ kampf vordergründig nicht dienlich sind, rücken aus dem Blickfeld. So geraten viele Menschen sogar in schlichten Angelegenheiten der praktischen Vernunft in eine existenzielle Rat- und Orientierungslo­ sigkeit. Hier wird nun die Rolle der Philosophie und der Philosophischen Praxis virulent, die kulturdiagnostisch solche Missstände benennen, ihre Beseitigung fordern und Alternativen aufzeigen können. Dazu gehört sicher, mit Entschiedenheit für die Förderung der Herzensbil­ dung einzutreten und eine Gefühlskultur zu pflegen, in der respekt­ volle Begegnungen gewürdigt und konkret gelebt werden. Wenn philosophische Lebenskunst sich in letzter Instanz als Beitrag zur

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Humanität und zum Gemeinwohl erweisen soll – und dafür steht sie dem Ideal und der Sache nach –, dann sollte sie gerade unter den Bedingungen der technisch-wissenschaftlich-kapitalistischen Zivili­ sation für die Ausbildung und Anwendung sämtlicher, also auch der leiblich-emotionalen ›Verstehensorgane‹ und die Kultivierung der Einbildungs- und Einfühlungskräfte eintreten. In einer Persön­ lichkeitsbildung, die mit der Kritik- und Diskursfähigkeit auch die Fürsorge- und Begegnungsfähigkeit einbezieht, kann die praktische Vernunft so zur Entfaltung kommen, dass politisch mündige Personen Verantwortung im gemeinschaftlichen Miteinander sowie auch in angemessener Selbstfürsorge übernehmen. Für die Ethik als Lebens­ kunst, die in Übungen und Technologien des Selbst praktisch wird, ist also die methodisch gestützte Ausbildung und Anwendung der kom­ plexen, und d.h. nicht nur vernunft-, sondern auch emotionsgestütz­ ten Erkenntnis- und Verstehensvermögen das zentrale Rüstzeug.

Individuelle Lebenspflege In seiner Philosophie der Lebenskunst beschreibt Schmid diese Heran­ bildung der Erkenntnis- und Verstehensvermögen, auch des traditio­ nellen Vernunftgebrauchs nicht eigens als Basis und Übungsfeld in der Lebenskunst. Jedoch versteht er Lebenskunst grundsätzlich als eine reflektierte Lebensform, in die Zweifel, Sorge und Selbstaufklärung prozessual eingehen. So behandelt er auch Übungen und Techniken für die Lebensgestaltung. Vorab stellt er aber unmissverständlich klar, dass die Philosophie sich zu individueller Lebenskunst nur allge­ mein äußern kann: Sie liefert keine Präskriptionen, also Vorschriften, nicht einmal Deskriptionen, also Beschreibungen, die inhaltlich fest­ gelegt wären. Schmid (1998, 325ff.) nennt gleichwohl eine Reihe von Selbsttechnologien, die er unter die Kategorie der »Asketik« stellt. Summarisch finden sich hier z.B. Arbeit an der Sorge: Das Netz der Gewohnheiten knüpfen; Aufhebung der Sorge: Die Lüste genießen; Anstoß zur Sorge: Vom Sinn der Schmerzen; Äußerste Sorge: Vom Leben mit dem Tod; Grundlegende Technik: Die Zeit gebrauchen; Experimentelle Technik: Auf den Versuch hin leben; Technik des Umgangs mit Affekten: Kunst des Zorns; Technik des Umgangs mit Widersprüchen: Kunst der Ironie; Technik der Umkehrung: Negativ denken; Aussetzen von Lebenskunst: Melancholie; Einsetzen von Lebenskunst: Gelassenheit.

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Schmid situiert diese Techniken im Kontext gegenwärtiger Lebensformen. So verweist er z.B. auf die Gewohnheit als Lebens­ kunsttechnik, die in allen Kulturen in Ritualen oder im Brauchtum fest verankert ist. Im Schwinden solcher übergreifenden Traditionen bedeute Lebenskunst nun, bestehende Lebensschleifen kritisch zu prüfen, abgelebte Muster zu identifizieren und Gewohnheiten neu zu gestalten oder sogar erst zu erfinden. Im Zeitalter der Beliebigkeit und Unverbindlichkeit und unter dem ständigen Druck zur Authentizität stiften Rituale als symbolische Handlungen auch zwischenmenschli­ chen Zusammenhalt. Sie tradierten, wie Byung-Chul Han (2019, 9) schreibt, »jene Werte und Ordnungen, die eine Gemeinschaft tragen«. Für die Lebenskunst von heute ist ebenso die Gestaltung der Zeit rele­ vant, ein weiteres Beispiel von Schmid, das auch Han (2009) eigens behandelt. Zeitmanagement bestimmt ja durchweg den Alltag, jedoch ist der Mensch häufig selbst in seiner Freizeit gestresst, weil er in selbst geschaffenen Zeit-Programmen stecken zu bleiben droht. Zei­ ten bewussten Nichts-Tuns stehen unter dem Verdacht der Faulheit und Unproduktivität. So bedeutet Lebenskunst nach Schmid (1998, 359f.), mit den Widersprüchen im Gebrauchen und Verbrauchen von Zeit »vorsätzlich und bewusst zu leben«, sowohl die verfügbare Zeit »gut zu nutzen, sie nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, schon um äußeren Notwendigkeiten nachzukommen und eigene Vorstellungen zu realisieren«, als auch »Zeit mit Absicht dahingehen zu lassen und mit sinnlosen Beschäftigungen zu vertreiben, die Kunst des Müßiggangs zu pflegen ... und in den Tag hineinzuleben«. In Schmids Liste findet man im Weiteren u.a. noch Überlegungen zu einer »ökologischen Lebenskunst« (ebd., 399–460) und kritische Reflexionen zur Technik. Auch Gernot Böhme und das Institut für Pra­ xis der Philosophie haben diesen Bereich der Selbstkultivierung immer wieder in den Fokus gerückt und den achtsamen Umgang mit den Dingen der Mitwelt, der Natur, der Ernährung, mit Entscheidungen zur Gesundheit etc. angemahnt, aber ebenso Askese-Übungen und Emissions-Hygiene beim Gebrauch von digitalen Technologien, etwa für die Umfriedung von Privatheit (vgl. Böhme & Gahlings 2018; Böhme 2022). Dazu ist allerdings eine allgemeine Befähigung zum Gewahrsein und Gegenwartsbewusstsein bedeutsam. Bei Schmid sucht man vergebens nach solchen ›Selbsttechnologien‹. Dabei kön­ nen in Konzentrations-, Meditations-, Achtsamkeits- und Gelassen­ heitsübungen Spielräume der Selbsterfahrung aufgesucht, eingeübt und gepflegt werden. Hier war schon Keyserling Pionier, als er in

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Reaktion auf einen Mangel in der ›westlichen‹ Kultur in der Schule der Weisheit Methoden der Selbstkultivierung mit Konzepten aus verschiedenen Kulturen anbot und mit dem Philosophen und Sinolo­ gen Erwin Rousselle philosophische Exerzitien erarbeitete. Für ihn gehörte zu einer solchen vertiefenden Praxis immer eine philosophi­ sche Grundierung und Sinnklärung. Es ist heute immer noch nicht selbstverständlich, einfache Tech­ niken dieser Art in den Bildungssystemen zu vermitteln. Auch Perso­ nen mit Philosophischer Praxis sind nur im Ausnahmefall in solchen Praktiken ausgebildet, selten darin wirklich geübt und in der Regel nicht einmal informiert über die Bedeutung leiblich-sinnlicher Selbst­ kultivierung auch für die philosophische Selbsterkenntnis. Dabei sind die Wirkungen von Achtsamkeitsübungen auf den Umgang mit beruflicher Überforderung, Krankheit oder Stress klinisch erforscht und in manchen Bereichen von Heilkunde und Medizin fest eta­ bliert, so z.B. das in den späten 1970er Jahren von dem Arzt und Verhaltensmediziner Jon Kabat-Zinn (u.a. 2018) auf der Grundlage buddhistischer Meditationslehren entwickelte Achtsamkeitstraining Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR). Einen interessanten und offenbar wissenschaftlich gut fundierten Ansatz zur Bedeutung von Meditationstechniken vertritt aus einer anderen Richtung auch Thomas Metzinger (2014, 183): Die Selbstkontrolle ist eher eine Illusion. Subjekte verfügen als Denkende gar nicht in dem Maße über geistige Autonomie, wie sie das glauben. Denken sei zu einem Großteil ein »subpersonaler Vorgang«: »das ständige Geplapper eines automatisch ablaufenden inneren Monologs, das Hintergrund­ geräusch aus Erinnerungen, Bewertungen und kleinen Geschichten, welches wie ein Schleier die Wahrnehmung des aktuellen Moments trübt.« »Geistige Autonomie ist die Ausnahme, der Kontrollverlust dagegen die Regel.« (ebd., 195) Meditationstechniken sollen dem entgegenwirken, es geht bei ihnen um die »nachhaltige Erhöhung der eigenen geistigen Autonomie« (ebd., 361). Die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Einübung von Geis­ tesgegenwärtigkeit und Aufmerksamkeit auf leibliche Selbstgegeben­ heit, z.B. im Atmen, ergibt sich aus der Analyse der etablierten Lebensformen. Schon in jungen Jahren sind die Menschen mit ihrem Lebens-Stress überfordert und drohen unter dem Imperativ ständiger Selbstkontrolle emotional zu verarmen. Hier ist nun für die spätmo­ derne Lebenskunst nicht nur die bei Schmid breit erörterte Askese, sondern ebenso die Ekstase von Belang. Es geht hier um die Fähigkeit,

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dem permanenten Druck zur ›Coolness‹ und Distinguiertheit stand­ zuhalten und sich für Gefühle, Empfindungen, Gemütsbewegungen, Anmutungen etc. zu öffnen. Schmid lässt den Körper und die Affekte nicht unbeachtet; er spricht unter dem Topos »Aufhebung der Sorge« vom Genießen der Lüste und unter dem Topos »Technik des Umgangs mit Affekten« von der »Kunst des Zorns«. Dem Leiblichen kommt in seiner Lebenskunstlehre aber kein tragendes Gewicht zu.

Eingelassenheit in leibliche Existenz Es ist aus meiner Sicht aber notwendig, die Bedeutung des Leibes für die Lebenskunst zu klären und daraus weitere Konsequenzen nicht nur für die Lebenspflege, sondern ebenso für die philosophi­ schen Grundlagen der Lebenskunst zu ziehen. Dies ist auch schon deshalb geboten, weil sich in der Philosophischen Praxis ein ver­ stelltes Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit häufig als Kernproblem des Selbstausdrucks und der Beziehungsfähigkeit präsentiert. Eine Ethik leiblicher Erfahrung ist also ein wichtiger Baustein für eine Ethik Philosophischer Praxis. In der Geschichte der europäischen Philosophie wurde allerdings das Konzept der Autonomie seit der Antike strukturell immer weiter vorangetrieben. Mit dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaft wurde es dann zur dominierenden Leitidee herauspräpariert und in der heutigen Zeit auch in manchen Kontexten von Lebenskunst und Coaching bis hin zum Topos einer demiurgischen Selbstprogrammierung radikalisiert. Diese Entwick­ lung, die zweifellos mit enormen Vorzügen für die Chancen einer umfassenden Selbst- und Weltbemächtigung einherging, geschah aber – wie Hermann Schmitz (2014, 22) herausstellt – schon in der vorsokratischen Philosophie, namentlich bei Demokrit, um den Preis des Vergessens und Ausblendens »der wichtigsten Inhalte der unwillkürlichen Lebenserfahrung«, als da sind: »der spürbare Leib – zwischen Körper und Seele wie in eine Gletscher­ spalte gefallen – und die leibliche Kommunikation (beim Blickwechsel und unzähligen anderen Anlässen im täglichen Leben), die Gefühle als Atmosphären, die bedeutsamen Situationen und unter ihnen die vielsagenden Eindrücke, die flächenlosen (vom Leitbild der griechi­ schen Geometrie übergangenen) Räume des Wetters, des Schalls, der Stille, der Gebärde, der leiblichen Regungen, der Gefühle usw., ferner die Halbdinge wie die Stimme, der Wind, die reißende Schwere, der

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Schmerz als zudringlicher Widersacher und nicht bloß Seelenzustand, die Gefühle als leiblich ergreifende Halbdinge.«

In der Folge dieser lang tradierten Leibvergessenheit hat sich heute eine Körperbesessenheit mit Vorstellungen von umfangrei­ chen instrumentellen Zugriffsmöglichkeiten herausgebildet. Eine Vergegenständlichung des Körpers, einzelner seiner Teile, ja sogar unsichtbarer Substanzen wird tagtäglich in die Köpfe der Menschen kolportiert und evoziert jene Körperbilder, Arbeitsmodelle, Verfüg­ barkeitsideen und Handelsmärkte, die für den Umgang mit dem body heutzutage charakteristisch sind und bereitwillig akzeptiert werden. Bei vielen Menschen ist die Leibbeziehung Ausdruck eines Diszipli­ nierungsprozesses, der auf eine Objektivierung des Körpers durch die Verfahren einer natur- und technikwissenschaftlich infiltrierten Intellektualkultur zielt. Über das, was der Körper ist, was ihm nützt oder schadet und wie er auszusehen hat, lässt man sich durch Kör­ perexperten belehren, also Ärzte, Ernährungswissenschaftlerinnen, Hygienekommissare, Kosmetikspezialistinnen, Modeberater, Well­ nessakteure, Sport- und Fitnesstrainerinnen etc. Für Kant (1983, Bd. 9, 53) war solche Abhängigkeit von Expert*innen durchaus ein Merkmal von Unmündigkeit: »Es ist so bequem unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.«

Viele Menschen suchen ihre körperlichen Verspannungen mit Well­ nessangeboten oder Übungen aus asiatischen Leibestechniken (Yoga, Tai Chi etc.) zu bearbeiten und sind dabei von Gesundheitserwägun­ gen motiviert, in leiblicher Existenz kennen sie sich dagegen kaum noch aus. Versteht man den Menschen als ein Wesen, das sich vor dem Hintergrund seiner Faktizität in eine offene Zukunft hinein entwirft, ja entwerfen muss, so agiert er zwischen den Grenzen, die ihm Natur und Kultur vorgeben. Er verfügt also über einen Spielraum im Selbst­ verhältnis, der ihm Erfahrungs- und Gestaltungsmöglichkeiten eröff­ net. Dieser bleibt jedoch heute für die Leibbeziehung häufig unge­ nutzt. Die in der Gefühlsdisposition des Menschen angelegte Vielfalt der Selbst-, Welt- und Gemeinschaftserfahrung wird zunehmend von den Imperativen der Selbstbeherrschung und der kalkulierenden,

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utilitaristischen Zuwendung zum anderen verdrängt. Das kann dazu führen, dass gerade die zarte, bedürftige, verletzliche, berührbare Seite des Menschen ›austrocknet‹ und wohlwollend-mitfühlende zwischenmenschliche Interaktionen zurücktreten. So bemerkt der Mensch seinen Wunsch nach Berührung und Zärtlichkeit häufig selbst nicht mehr, kann ihn auch nicht mehr anderen gegenüber zum Ausdruck bringen und verliert allmählich seine Fähigkeit, emotionale Bindungen einzugehen und sogar, sich auf leiblich berührende Begeg­ nungen einzulassen. So kommt es auch in den sexuellen Praktiken zu mancherlei Überformungen. Nun wurde und wird teilweise immer noch der philosophische Weckruf ›Erkenne Dich selbst‹ in einer rationalistischen Engführung verstanden. Jedoch ist der Mensch in einer besonderen Weise bei sich, im Sinne der unverwechselbaren Selbsterfahrung und -gewissheit, wenn er affektiv betroffen ist. In solcherart durchlebter »primitiver Gegenwart« sinken die Dimensionen normaler, zur Welt aufgespann­ ter Orientierung ein und verschmelzen zu dem von Schmitz (2005, 42) so bezeichneten »Hier-jetzt-sein-dieses-Ich« (vgl. auch Schmitz 1998, Bd. I). Gerade in diesen Situationen wird die Leibbeziehung unausweichlich, subjektiv und entzieht sich zunächst einer distan­ zierenden Objektivierung. Für die Lebenskunst ergibt sich hier ein merkwürdiges Paradox: Nur in der reflektierten Denkbewegung ist ein Handeln im Sinne des Arendtʼschen Initium möglich. Wenn es aber gilt, das Leben im Ganzen zu meistern, kann man sich der Wirklichkeit von Kontingenz, Unverfügbarkeit, Regression nicht verweigern – ein Tatbestand, der auch Arendt nicht entgangen ist. Dann allerdings stellt sich die Frage, ob und wie man mittels einer ›Technik‹ respektive Selbsttechnologie ein gelungenes Verhältnis zum Nicht-Planbaren finden kann. In religiösen Lebensformen hat man mitunter die Regressionsmöglichkeit dem Willen restlos zu unterwerfen versucht, bis hin zur Preisgabe des Körpers. Solche ›Abtötung des Fleisches‹ ist auch der Philosophie keineswegs fremd. Sie hat durch die traditionelle Ausblendung des Leiblichen selbst jener Leibvergessenheit Vorschub geleistet, in der es schwierig erscheint, überhaupt einmal emotional betroffen zu sein, ohne dazu der Stimuli einer fremdbestimmten Emotionalisierung durch Medien, Drogen oder Eventkultur zu bedürfen. Zugegeben: Das Leben sorgt allzu häufig doch noch selbst für jene die Selbstbesinnung rückwirkend betreffende Beirrung, in die der Mensch verfällt, wenn er qua Leiblichkeit in »primitive Gegenwart«

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gezwungen wird, z.B. durch Schmerz, Krankheit oder Begehren. Nun kann es im philosophischen Leben, das sich auch in solchen Situationen zu bewähren hat, aber nicht darum gehen, »personale Regression« zwecks vorlaufender Einübung strategisch herbeizufüh­ ren, sich also etwa bewusst Schmerzen auszuliefern, sich fortlaufend in sexuelle oder andere Ekstasen zu begeben oder lebensbedrohlichen Naturerfahrungen auszusetzen. Die »personale Regression«, mithin »Ergriffenheit von Gefühlen, Gepacktsein und Faszination, Ausgelas­ senheit, Jähzorn, Schwermut, Wollust, Angst, Schmerz« etc., »kann man nicht steuern«, konstatiert Schmitz (2005, 94). Zwar müsse der Mensch »auf etwas stoßen, dessen er nicht Herr ist, um ganz er selbst zu sein und der Verstiegenheit in einseitiger personaler Emanzipation zu entgehen«, »eine Lebenskunst nach Plan« wird von Schmitz jedoch abgewiesen (ebd.). Dass jedoch in der emotional verarmten technischen Zivilisation manchmal extreme Maßnahmen ergriffen werden, um sich als ganzer Mensch zu spüren, zeigt die Dringlichkeit einer philosophischen Bearbeitung und einer lebenspraktischen Rückgewinnung des Leibli­ chen. Wenn sich Menschen in Fahrgeschäften so durchwirbeln lassen, dass sie ihre Lotung verlieren und kollektiv schreien, ist das eine Annäherung an die »primitive Gegenwart«, die den Aufschrei der Angst-Lust in einer kontrollierten Situation legitimiert. Bungee-Jum­ ping, Extremsport, Abenteuerurlaub und sexuelle Gewaltpraktiken zielen ebenfalls auf solche gern als Event verkaufte Selbsterfahrung. Nun ist das Potenzial initiierter Grenzerfahrungen nicht grundsätz­ lich zu leugnen. In vielen Kulturen sind sie als rites de passage fest im Gemeinschaftsleben verankert und markieren die Übergänge der Lebenszyklen. So ist für die Lebenskunst durchaus von Belang, sich darauf zu besinnen, wie Ekstase und Askese im persönlichen Leben zur Geltung kommen können. Gerade für die Herausbildung morali­ scher Haltungen ist der Umgang mit den Affekten zentral und in den Bereichen von Gesundheit und Krankheit, Sexualität, Gebären und Elternschaft, schließlich auch beim Sterben erhält die Leibbeziehung ein besonderes Gewicht. Die Rückgewinnung des leiblichen Gespürs und Gewahrseins ist uns heute gewissermaßen aufgegeben. Gerade weil wir körperbesessen und leibvergessen über Jahrzehnte einen Habitus ausbilden, der uns allzu oft der Möglichkeit beraubt, in leiblicher Selbsterfahrung Stand zu gewinnen, brauchen wir eine explizite Einübung des leiblichen Spürens, um das gnôthi seautón auch auf den Leib und die leibliche Selbstorganisation zu richten.

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Nun könnte man meinen, es sei notwendig, sich einer Qual der Wahl aussetzen und im Supermarkt der Werkzeuge ›shoppen‹ zu gehen. Kulturübergreifend gibt es ja allerlei Techniken der Leibbe­ meisterung mit Bezug auf umfassende Leibschemata, wie beispiels­ weise die indische Prana- oder chinesische Qi-Lehre. Man könnte auch meinen, dass man Kurse buchen und eine Ausrüstung kaufen müsse. Nötig ist dies nicht. Es kann bei der Rückgewinnung und Intensivierung leiblichen Spürens ganz und gar unspektakulär, ja geradezu schlicht zugehen. Schon eine bewusste Verlangsamung all­ täglicher Bewegungsabläufe kann die Aufmerksamkeit für leibliches Empfinden erhöhen. Ebenso können einfache Spürbewegungen die leibliche Selbstorganisation präsent werden lassen, ohne dass man mit dem Körper etwas Besonderes tun muss – es handelt sich um eine Durchdringung des Leibes im Modus des Hineinspürens, die ebenso wie methodisch geschiente Leibbemeisterung Erfahrungsspielräume für die Leibbeziehung eröffnet. Übungen zum Gegenwartsbewusst­ sein, zum leiblichen Gespür, zum Atmosphärischen, explizit betrie­ bene leibliche Lotung und das Beachten der subtilen leiblichen Regungen können der Leibvergessenheit entgegenwirken. So wirkt die Achtung leiblicher Präsenz auch dem Druck zur Objektivierung und Instrumentalisierung des Körpers entgegen. Zu dieser Rehabili­ tation der Berührbarkeit und Empfindsamkeit, des leiblichen Spürens und atmosphärischen Gespürs passt vielleicht eher der Begriff der Lebenspflege: Das Leben in seiner Leiblichkeit zu hegen und sich aufmerksam auf es einzulassen, hat viel mehr mit Pflege als mit Kunst zu tun. In solcher Berücksichtigung der leiblichen Eingelassenheit unse­ rer Existenz werden Verankerungen im Sein und Mitsein in der Welt möglich, die bestenfalls dazu verhelfen, auch die regressiven Zumu­ tungen des Lebens zu integrieren. Denn bei aller Möglichkeit und Nützlichkeit kultivierter Übung des leiblichen Gespürs ist das Leben selbst, wie es uns unwillkürlich und unkontrollierbar widerfährt, die wohl wichtigste und vermutlich auch schwierigste Aufgabe für die philosophische Lebenskunst der Spätmoderne. Hier ist eine Person gefordert, die sich in leiblicher Integrität und Offenheit für Situatio­ nen durch leibliche Lotung dem Begegnenden und Schicksalhaften der Welt gegenüber einzustellen vermag, und zwar bis hinein in die moralische Dimension der Entscheidungsfindung. Mit Schmitz (2005, 95) lässt sich sagen:

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»Seine leiblich-persönliche Fassung in der Auseinandersetzung mit Begegnendem nicht gleich zu verlieren, aber auch nicht starr festzuhal­ ten, sondern im Eingehen auf das Entgegenkommende ein wenig zu lockern und anzupassen, ist das wichtigste Hilfsmittel zum Auffangen und Aneignen von Neuem. Das einzusehen, kann ein Beitrag zur Lebenskunst sein, der sich aber selbst vereiteln dürfte, wenn man daraus ein strategisches Rezept macht.«

Die hier diskutierte individuelle Lebenspflege und die beschriebenen Aufgaben mit Fokus auf die leibliche Eingelassenheit unserer Existenz mögen kleinteilig erscheinen. Gleichwohl handelt es sich um einen wichtigen Beitrag: die Umsetzung des Erkannten im persönlichen Leben. Im Zuge solcher Selbstfürsorge kann man vielleicht allmählich den Verwerfungen einer von Leistung, Überforderung und Leibver­ gessenheit geprägten Arbeits- und Kapitalgesellschaft Einhalt gebie­ ten, den Spielraum leiblicher Erfahrung auch in globalisierten und digitalisierten Lebensräumen neu erschließen sowie im gesellschaft­ lichen und politischen Sektor gestaltend einwirken. Damit ist erneut auf das Ethos verwiesen, als einer in Wahrhaftigkeit verankerten Haltung und Ausrichtung der Persönlichkeit, deren ganzheitliche Förderung Auftrag jeder Bildungsarbeit und besonders der philoso­ phischen Lebenskunst ist. In der heutigen Bildungslandschaft ist wohl die Philosophische Praxis der wichtigste institutionalisierte Ort, wo ihr umfänglich zur Geltung verholfen werden kann. Die Fachphilosophie hat in einer durch den Bologna-Prozess forcierten ›neuen Scholastik‹ jedenfalls ihre Verschulung so weit vorangetrieben, dass ihre Wurzeln in der Lebenskunst und einer ethischen Praxis der Philosophie verblasst sind. Eine philosophische Ausrichtung im individuellen Leben, in der Gemeinschaft und in verschiedenen Formen der Begegnung und Persönlichkeitsbildung wurde (und wird noch) eher als randständig, wenn nicht sogar unphi­ losophisch betrachtet. Selbst das in der Antike ventilierte ethische Fundament der Lebenskunst in den Glücks- und Tugendlehren findet mit Bezug auf eine praktische Anwendung nur kursorisch Beachtung, wenn man von dem Wiederaufleben des Stoizismus einmal absieht. Damit verschließt sich die Fachphilosophie allerdings nicht nur ihrer eigenen Geschichte, sondern auch einem kulturell bedeutsamen Wirkungsbereich. Mehr oder weniger singulär hat Guido Rappe eine mehrbändige Ethische Anthropologie und Arbeiten zur Ethik als Lebenskunst im interkulturellen Vergleich vorgelegt (vgl. insbes. Rappe 2005, 2006, 2010). Diese streifen kursorisch und kritisch

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die Lebenskunstlehre von Schmid, stellen jedoch keinen Bezug zur Philosophischen Praxis her. Dies haben aktuell in der Reihe Grundori­ entierungen Philosophischer Praxis Heidemarie Bennent-Vahle (2022) mit einem an Helmuth Plessner orientierten anthropologischen Ansatz und Jirko Krauß (2022) unter dem Topos transformatorischer Praxis durchgeführt. Beide betonen bereits, dass die Philosophische Praxis ihre Bedeutsamkeit aus einem existenziellen Verständnis von Philosophie bezieht. Daran knüpfen auch meine Definitionen von Philosophie, Praxis der Philosophie und Philosophischer Praxis an, die ich nun kurz vorstelle, ganz im Sinn von Hegel (1973, 65): »Wahre Gedanken und wissenschaftliche Einsicht ist nur in der Arbeit des Begriffs zu gewinnen.«

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2.1 Philosophie Mit Hermann Schmitz (1995, 5), dem Begründer der Neuen Phäno­ menologie, verstehe ich Philosophie als »Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung«. Wir alle ›finden‹ uns in unserer Umgebung. Das ist ein elementarer Lebensvollzug des Menschen als homo hapticus, der mit seinem Tastsinn über eine außerordentliche Fähigkeit zum gleichursprünglichen Empfinden von Welt und Selbst verfügt. Es fällt dem Menschen schon im Mutterleib zu, sich leiblich zurechtzufinden, und dieser Prozess dauert zeitlebens an. Erst beim und nach dem Sterben findet sich der Mensch nicht mehr in seiner Umgebung, sondern entschwindet ihr geradezu. Der Körper verliert seine Empfindungsfähigkeit und im Abebben von Atem und Herzschlag seine Eigenbeweglichkeit. Insofern wir leibgebunden in der Welt sind und als ›Körperding‹ immer mit anderen Dingen zu tun haben, findet, wer sich findet, »notwendig mehr als sich« (Schmitz 1998, 14), nämlich das Halt Gebende in der Umgebung und damit nicht nur eine Welt der Objekte, sondern eine reiche Mitwelt mit anderen Lebewesen und den Mitmenschen, ohne die kein Mensch überleben würde. Das Sichfinden gibt dem Menschen nun aber, wie Schmitz sagt, »eine Aufgabe, die er im Sichfinden nicht rein lösen kann«, er fin­ det sich nämlich »als unvollständigen Gegenstand, der sich nicht herausschälen lässt, ohne zu entgleiten« (ebd.). In der Verwobenheit von Ich und Welt, von Selbst-, Um- und Mitwelt kann der Mensch nicht umhin zu fragen: »Bin ich das wirklich?« (ebd.) Weitere Fragen schließen sich an und daraus resultieren Unruhe und Beirrung: Ergrif­ fen vom Rätsel des Sichfindens in seiner Umgebung, beginnt der Mensch sich zu besinnen: »Dies ist sein Schicksal, zu philosophieren.« (Schmitz 1998, 15) Im Sichbesinnen auf das Sichfinden wird Philoso­ phie als eine Tätigkeit gefasst, die jedem Menschen, meist sogar schon in jungem Alter zufällt. Sie befähigt ihn, in der Unruhe und Beirrung,

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2. Systematisches: Leitdefinitionen

die ihn befällt, Halt und Orientierung zu finden, durch eine über das Sichfinden hinausgehende Perspektive auf sich und die Welt. Diese Definition ist ebenso schlicht wie grundlegend und dabei ursprünglich bezogen auf ein von existenzieller Beunruhigung moti­ viertes Nach-Denken über sich und das eigene Leben in der Umge­ bung oder präziser in der Situation, in der es sich abspielt, wozu alles gehört, was man in ihr vorfindet. In dieses offene Philosophiever­ ständnis kann jedwedes Phänomen von den alltäglichen Verrichtun­ gen über die lebensweltlichen Strukturen sozialer Existenz bis hin zu den hochkomplexen Fragen der Wissenschaft einbezogen werden. Zur Wissenschaft wird die Selbsterforschung, wenn der Philosophierende »seine Besinnung in eine Unterhaltung einbringt« und die dann auftretenden Fragen »Wie meinst du das?« und »Woher weißt du das?« zu Definitionen und Begründungen führen (vgl. Schmitz 2014, 10). So kamen auf dem Boden von Unruhe und Beirrung in der neophänomenologischen Forschung lange verdeckte Lebensphäno­ mene wie subtile leibliche Regungen, affektive Betroffenheit, Gefühle und Atmosphären sowie viele weitere Phänomene subjektiver und intersubjektiver Erfahrung in den Blick und wurden teilweise mit einer expliziten Arbeit an ihrer Versprachlichung überhaupt erst eingefangen. Bei Schmitz taugt diese Bestimmung von Philosophie sogar dazu, ein gesamtes System der Philosophie (1964ff.) mit allen Disziplinen als Leitmotiv zu unterlegen. Für die Dimensionen Philosophischer Praxis möchte ich bezogen auf Absicht und Auswirkung die Schmitzʼsche Formulierung um den folgenden Zusatz erweitern: »… mit dem Ziel, das eigene und das gemeinschaftliche Leben als ein gutes Leben zu entfalten.« Nun will ich keineswegs leugnen, dass Philosophie generell und gerade auch im Sinn von Schmitz zu einem guten Leben beiträgt, ist sie doch eine umfassende Arbeit der Kritik, Aufklärung, Urteils- und Bewusstseinsbildung und vieles mehr, also eine Erkenntnisarbeit, die so grundsätzlich angelegt ist, dass aus ihr einst alle Wissenschaften entstanden sind. Sie wirkt immer machtvoll in die Wirklichkeit hinein, wenn auch häufig nicht so offensichtlich wie bei den Naturund Technikwissenschaften. So macht Schmitz in einer differenzierten Kritik der abendländischen Kulturgeschichte deutlich, wie das Denken respektive eine bestimmte Blickrichtung des Erkennens das Leben verfehlen und sogar dazu verleiten kann, dass dem Menschen in der Folge vieler Generationen wesentliche Züge des Menschseins geradezu entgehen. Selbstverständlich betrifft diese Kritik auch die

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Philosophie in ihrer Erschaffung und Erschließung von Welt- und Menschenbildern, namentlich in verschiedenen Formen reduktionis­ tischer Vergegenständlichung (vgl. u.a. Schmitz 1995, 16ff.). Gegen Marx‘ elfte Feuerbachthese in ihrer einfachen Entgegensetzung von Theorie und Praxis, die Philosophen hätten »die Welt immer nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern« (Marx & Engels, 1998, 19–21), lässt sich mit Schmitz einwenden, dass Philosophen sehr wohl, indem sie die Welt interpretierten, diese auch verändert haben und stets weiter verändern. So ist Philosophie im guten, aber ebenso im schlechten Sinn wirkmächtig. Wenn sie es etwa versäumt, den Menschen in seiner Komplexität zu erfassen, können sich Denk-, ja sogar Gesinnungskul­ turen etablieren, die mit vordergründigem Bescheidwissen oder gar Dogmen fadenscheinig beruhigen und dann Neugier und weiteres Fragen unterminieren. Dann wäre das Schicksal des Menschen, zu philosophieren, vielleicht nur eine Episode, aber kein Seinsmodus, der von Moment zu Moment, ja eigentlich lebenslang die Besinnung herausfordert. Das aber genau ist mit der Aufgabe verbunden, das individuelle und gemeinschaftliche Leben als ein gutes Leben zu entfalten. Hier gibt es keine grundsätzliche Beruhigung und so ist das Sichbesinnen damit noch etwas anders kalibriert und praktisch gewendet. Negativ geht es um die Frage, wie ich mit dem Rätsel meiner Existenz, das mich zum Philosophieren treibt, überhaupt so leben kann, dass mein Menschsein und das der Anderen, die mit mir Mensch sind und sich in meiner Umgebung finden, nicht verfehlt wird. Positiv läuft es auf die Frage hinaus, wie Philosophieren dazu beitragen kann, die Beirrung so einzufangen, dass das Menschsein in seiner Totalität nicht nur präzise durchdrungen und auch dadurch wirkmächtig verstanden wird, sondern mit seinen Möglichkeiten auch in einem guten Sinn konkret gelebt wird. Mit meinem Zusatz zur Schmitzʼschen Definition von Philoso­ phie verbinde ich das Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung mit einer Absicht, ja Aufforderung zur ethischen Ausrichtung des Lebens. Konkret ist das Sichbesinnen immer auch auf die Frage zu richten, wie wir leben können, um der Humanität zum Ausdruck zu verhelfen. Auch wenn diese nicht abschließend und zeitlos gültig beantwortet werden kann, so sollte es doch in gemeinsamer Anstrengung für die jeweilige Lage zur Justierung der Orientierung versucht werden, also im Unsbesinnen auf unser Unsfinden in unserer Umgebung, bezogen auf das Gelingen unserer

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2. Systematisches: Leitdefinitionen

Existenz. Schmitz hat sein Philosophieverständnis nicht in eine ethi­ sche Praxis hinein entwickelt, auch wenn er die Ethik nach allen Seiten hin theoretisch ausleuchtet und er in seinen Texten zudem stets sinnstiftend wirkt. Diese Ausrichtung der Besinnung auf das gute Leben, das freilich einer genaueren begrifflichen Einfassung bedarf, ist also nicht notwendig in der Definition von Schmitz enthalten. So kann Philosophieren als Profession betrieben werden, z.B. an einer Univer­ sität, und dabei muss es nicht notwendig so weit gehen, dass man sich über eine Theorie des guten Lebens hinaus, wie sie in der Disziplin der Ethik verhandelt wird, auch Gedanken über die ethische Orientierung des eigenen Lebens macht oder über die Gesellschaft, in der man lebt bzw. leben möchte. Das muss folglich auch nicht bedeuten, dass man sich sowohl selbstkritisch als auch in die Welt initiativ hineinwirkend bewusst im Streben nach dem Guten ausrichtet. So benennt also mein Zusatz zur Definition von Philosophie einen Anspruch, der mich auf mich selbst und eine Lebenshaltung respektive Seinsweise zurückweist, die in Gemeinschaft und Gesellschaft eine lebensweltli­ che Auswirkung erfährt. Der antike Weckruf »Erkenne Dich selbst!« hat damit eine eminent praktische Konsequenz: sich über das Gute zu orientieren und nach einem guten Leben in Gemeinschaft mit den Mitlebenden zu streben. Diese Auslegung von Philosophie verweist auf die in der Antike noch selbstverständliche Ethik als Lebenskunst und die Verantwortung der Denkenden für das Gelingen von Gemein­ schaft. Mir geht es also um Philosophie als ethische Praxis: sich seiner selbst und der Anderen in den individuell und kollektiv gewachsenen Umgebungen bewusst zu sein und im Eingedenken der beirrenden Rätselhaftigkeit der Existenz in meinem persönlichen Leben bezogen auf die mitlebenden Menschen und das Leben ›in meiner Umge­ bung‹ nach einem guten Leben zu streben. Für meine Definition von Philosophie ist in ihrem zweiten Teil jedenfalls festgelegt, dass das Philosophieren von der Absicht getragen ist, ethische Haltun­ gen, Lebensformen und Handlungsweisen zu identifizieren und zu verwirklichen. Wenn ich dabei explizit differenziere zwischen dem eigenen und dem gemeinschaftlichen Leben, obwohl beides sich wechselseitig bedingt, dann geschieht das, um eine individualistische Engführung im Sinne einer falsch verstandenen Lebenskunst zu vermeiden und an die politische Dimension des Philosophierens anzuknüpfen. Ich spreche dann aber nicht ausdrücklich von dieser politischen Dimension, um auch hier Engführungen zu vermeiden,

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2.2. Praxis der Philosophie: Wissenschaft, Weltweisheit, Lebensform

weil ich das ›gemeinschaftliche Leben‹ auch auf das Leben mit anderen nicht-menschlichen Tieren und der Natur beziehe, also auf alles, was sich ›in meiner Umgebung‹ findet. Worin nun das Gute besteht bzw. was denn gutes Leben ist, lässt sich hier nicht annähernd, vielleicht sogar niemals abschließend klären. Wie in der Lebenskunst, scheint es indes möglich, gewisse universalisierbare Prinzipien aufzustellen, aber in der Praxis, also in der persönlichen Biographie, im kulturellen Wandel und in je gegebenen Lebensbedingungen sind immer wieder erhebliche Feinjustierungen erforderlich. Einige Hinweise werden im dritten Teil anhand einer Moral der Ambiguität des Daseins, einer Ethik der Fürsorge und einer Minimalkonzeption des guten Lebens verarbeitet.

2.2. Praxis der Philosophie: Wissenschaft, Weltweisheit, Lebensform Wenn man nach der Praxis der Philosophie fragt, so kann man zunächst an die verschiedenen Praxen im größten und personalinten­ sivsten Bereich philosophischen Wirkens, dem Wissenschaftsbetrieb denken. Weltweit unterhalten Universitäten und Hochschulen Philo­ sophische Institute, die überwiegend von der öffentlichen Hand, teil­ weise von privaten Trägern finanziert werden. In ihnen wird gelehrt und gelernt, geforscht und diskutiert, geschrieben und publiziert – alles Formen einer Praxis, aber eben der Philosophie als Wissenschaft. Diese Praxen betreffen nicht nur die Philosophie als genuine Fachphi­ losophie, sondern ebenso die Philosophie als Dienstleisterin in unter­ schiedlichen Funktionen innerhalb des Wissenschaftsbetriebs, z.B. in der Ausbildung der Lehrkräfte, in technisch-naturwissenschaftli­ chen Fachbereichen, im Studium Generale oder im Begleitstudium. Philosophierende sind aber auch außerhalb des akademischen Fach­ betriebs etwa in Ethikkommissionen oder in der Politikberatung tätig usw. Davon sind aber weitere Formen einer Praxis der Philosophie zu unterscheiden. Gernot Böhme macht in seiner Einführung in die Philosophie (1998) Lebensform und Weltweisheit geltend. Weltweisheit, ein ursprünglich von Kant eingeführter Begriff, lässt sich als Wirkungs­ form der Philosophie allgemein mit Leo Zehender (2014, 62–67) als »Alltagsphilosophie« beschreiben: unterschiedliche gewissermaßen private Formen, sich über Herausforderungen, lebensweltliche Ent­

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2. Systematisches: Leitdefinitionen

scheidungen, persönliche Haltungen oder politische Lagen gedanklich zu orientieren und/oder mit anderen zu verständigen. Möglicher­ weise führt eine derartige Besinnung auch dazu, dass die Erkenntnisse nicht privat bleiben, sondern in einem bürgerschaftlichen Engage­ ment Gestaltung finden. In der Philosophie fällt aber auch von ihrem wissenschaftlichen Schaffen einiges für die Weltweisheit ab, sofern man Weltweisheit verstehen will als fachkundige Aufklärung und Orientierung in Belangen alltäglicher menschlicher und mitmensch­ licher Existenz, also in den kleinen und großen Fragen des Lebens. Diese Variante des Sich-Einbringens von Philosophierenden, etwa in die öffentlichen Diskurse, in Zeitungen oder Talkshows, auf Mes­ sen, Festivals und eigenen Fernsehformaten, hat noch keine lange Tradition, wird aber zunehmend populärer, ja man spricht sogar von Stars der Philosophie, die auf kluge, geistreiche und humorvolle Weise aktuelle Zeitfragen zu beleuchten wissen oder im Dialog mit Expert*innen brillieren. Die philosophische Weltauslegung für die allgemeine Öffentlichkeit kann den Charakter eines gesellschaftlichen Engagements annehmen, zumindest eines eindringlichen Eintretens für Werte. Eher zurückhaltend, aber mit regionaler oder überregionaler Wirksamkeit in die Gesellschaft hinein, verfolgen manche Vereine, Gesellschaften und Stiftungen ein philosophisch motiviertes und gestaltetes gesellschaftliches Engagement. Diese Praxis der Philoso­ phie als Weltweisheit lässt sich mithin noch weiter gehend fassen als ein auf Erkenntnis basiertes Eintreten für das allgemeine Wohl­ ergehen in der Gesellschaft oder speziell für bestimmte Gruppen von Menschen oder Mitlebewesen. Dazu kann gegebenenfalls auch Widerstand gegen Fehlentwicklungen in der Gesellschaft gehören. Damit ist auch die Praxis der Philosophie als Weltweisheit, sofern sie nicht nur Unterhaltung und allgemeine Orientierung sein will, von ethischen Grundhaltungen gespeist, die ihre Quellen aus philosophi­ scher Besinnung beziehen. Der zweite Teil meiner Definition von Philosophie bezieht sich auf die ethische Ausrichtung des Lebens, die als Praxis unter den Topos einer Philosophie als Lebensform fällt. Heute wird über die Philosophie als Lebensform wenig gesprochen, auch wenn sie seit den 1980er Jahren in einigen Büchern eine Renaissance erlebte. Urvater dieses Typs ist Sokrates, der nie eine Silbe veröffentlicht hat, aber durch die Art, wie er lebte und auftrat, eine enorme Wirksamkeit entwickelte. Wer sein Leben philosophisch führt, ist heute nicht

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2.2. Praxis der Philosophie: Wissenschaft, Weltweisheit, Lebensform

so leicht zu erkennen. Diese Personen verwickeln nicht wie Sokra­ tes auf Marktplätzen Vorübergehende in Diskussionen, sie gehen auch nicht, wie Menschen in religiöser Lebensform, alleine oder in Gruppen zur Verrichtung von Ritualen in bestimmte Gebäude oder auf Pilgerschaft. Sie bedienen keine eingefahrenen Klischees und treten nur gelegentlich als ›Philosophierende in Lebensform‹ in eine Öffentlichkeit. Sie richten ihr Leben nach philosophisch fundier­ ten Grundhaltungen aus, verfolgen häufig bestimmte Übungskultu­ ren und schöpfen dabei aus unterschiedlichen Inspirationsquellen. Manchmal finden sie sich zu kleineren Gemeinschaften zusammen. Ihr im Leben wirksames Philosophieren zeigt sich an ihrer Art zu sein, in ihren Haltungen, Gesprächsbeiträgen, intersubjektiven Kom­ petenzen und meist auch einem gesellschaftlichen Engagement, z.B. in einem politischen, sozialen oder künstlerischen Feld. Menschen in philosophischer Lebensform indes erkennen einander meist schnell. Womöglich kann man in einem lockeren Zusammenhang sogar von einer Tradition im Sinne einer philosophia perennis sprechen. Eine Institution vereint diese Menschen freilich in der Regel heute nicht. Auch die Praxis der Philosophie als Lebensform ist – wie alles menschliche Leben – von Geworfenheit in einzigartiges Schicksal bestimmt, das in biographischer Formung individuelle Züge erfährt. Philosophie als Lebensform konstituiert sich für mich als auf Erkennt­ nis gegründeter Lebensübungsweg in meinem Lebensraum und bezo­ gen auf meine Mitmenschen, allgemein in wohlwollender Haltung als Menschenliebe und konkret in der Pflege bedeutsamer Freund­ schaft und Gemeinschaft. Ich halte die auf gewählten Beziehungen basierende Gemeinschaft mit Gleichgesinnten in einer ›Wahlfamilie‹ für ein hohes Gut. Der Mensch vermag vieles für sich alleine, und das einsame abgeschiedene Selbst ist sicher ein wichtiges Bezugsfeld des Philosophierens. Aber gerade in der durch geteilte Privatheit definierten und im gemeinsamen Streben nach dem guten Leben verankerten Freundschaft und Gemeinschaft erfährt der Mensch eine über sich selbst weit hinausreichende Aufgehobenheit im Du und Wir, eine tiefgreifende Bereicherung durch das, was er selbst nicht ist, aber doch im und mit den Anderen werden kann. Insofern man hier zwar manches dem Zufall überlassen kann, vieles aber der Pflege bedarf, sehe ich in bewusst gelebter und reflektierter Verbundenheit mit Anderen eine wichtige Praxis der Philosophie als Lebensform.

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2. Systematisches: Leitdefinitionen

2.3 Philosophische Praxis: eine vierte Säule philosophischer Wirksamkeit 2.3.1 Ein offenes Forschungsfeld der Fachphilosophie Zieht man die von Böhme genannten Weisen der Philosophie heran, also Wissenschaft, Weltweisheit und Lebensform, so wird man die Philosophische Praxis als vierte Säule hinzufügen müssen, weil sie tatsächlich etwas Eigenständiges darstellt, das durch die von Böhme genannten Weisen des Philosophierens nicht abgedeckt ist. Es ist neu, dass Menschen mit ihrem Gesprächs- und Begegnungsbedürfnis, mit ihrem Reflexions- und Bildungswunsch, mit ihren Sinn- und Lebensfragen, manchmal auch Rat, Trost und häufig Orientierung suchend in Philosophische Praxen gehen, und gerade nicht zum religiösen Seelsorger, zur Psychotherapeutin, zum Coach, zur Psych­ iaterin oder zum spirituellen Heiler, oder sogar parallel und ergänzend zu Besuchen bei diesen Expert*innen. Philosophische Praxen sind Institutionen im kulturellen Leben und Philosophischer Praktiker bzw. Philosophische Praktikerin ist ein Beruf. Die vier Säulen philosophischer Wirksamkeit – Wissenschaft, Weltweisheit, Lebensform, Philosophische Praxis – sind in unserer Kultur unterschiedlich gewichtet. Die akademische Philosophie hat solitär ohne Bezug zu den drei anderen Wirkungsformen Bestand, im öffentlichen Raum sind aber auch die Philosophie als Weltweisheit und die Philosophische Praxis präsent. Sie stehen häufig nebeneinan­ der und unabhängig voneinander für sich, aber auch in wechselseitiger Bezogenheit, die allerdings gegenwärtig, vor allem in Deutschland, noch hier und da von Asymmetrien, Spannungen und Ansprüchen auf die Deutungshoheit der Philosophie gezeichnet ist. Die Philosophie als Lebensform scheint man als individuelle Angelegenheit in den privaten Bereich abdrängen zu können, doch mit ihr ist ebenfalls ein – vielleicht nicht immer sichtbares – Hineinwirken in die Gesellschaft verbunden. Für die Philosophische Praxis hat sie eine besondere Bedeutung. Bei der weiteren Beschäftigung mit den Wegen und einer Ethik Philosophischer Praxis ist es nämlich nicht einerlei oder beliebig, wie man sich bezogen auf Wissenschaft, Weltweisheit und Lebensform persönlich situiert, also was man kann und wer man ist. Zur disziplinären Verankerung ist nun hervorzuheben, dass Philosophische Praxis ein eigenständiges Feld der Philosophie ist, das von dem abzugrenzen ist, was heute an Universitäten als Prakti­

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2.3 Philosophische Praxis: eine vierte Säule philosophischer Wirksamkeit

sche Philosophie gelehrt wird. Im Unterschied zur theoretischen ist die praktische Philosophie mit dem Handeln bzw. der Theorie des Handelns befasst, klassisch stand bei Aristoteles dafür die Trias von Ethik, Politik und Ökonomie. Im Kanon philosophischer Disziplinen wird man heute in der Praktischen Philosophie eine ganze Reihe von Fächern, von der Ästhetik über die Kulturphilosophie bis hin zur Rechtsphilosophie und allen voran die Ethik, nicht aber die Philosophische Praxis als eine Anwendungsform der Philosophie selbst antreffen. Allgemein lässt sich für Philosophische Praxis aber geltend machen, dass in ihr viele Spielarten von Philosophie wirksam werden. Aus der Wissenschaft wird Weltweisheit und Alltagsphilo­ sophie geschöpft; der Dialog wird in die Gesellschaft getragen; die Erkenntnisse wirken in die Lebensformen hinein und konstituieren sich gestalterisch im politischen Raum usw. Die philosophischen Fra­ gen erhalten in den existenziellen Perspektiven und der spezifischen Begegnungskultur einer Philosophischen Praxis jedoch eine andere Bedeutung als in der universitären Umgebung. Nachdem sich Anfang der 1980er Jahre die ersten Philoso­ phischen Praxen weltweit etablierten, wurde fortwährend darüber geklagt, dass es keine oder kaum Theorie und Forschung zu die­ ser Tätigkeit gebe. Andererseits gab es von einigen philosophisch Praktizierenden gegenüber einer Theoriebildung zu ihrer eigenen Tätigkeit auch erhebliche Vorbehalte, teils sogar resultierend aus der Kritik an der Vorgehensweise universitärer Philosophie. Tatsächlich haben sich aber immer wieder einige Philosoph*innen mit der Phi­ losophischen Praxis theoretisch befasst und dabei ein beachtliches Material zusammengetragen, und zwar geschah das schon in der ersten Generation in Deutschland, also durch Gerd B. Achenbach, Thomas Gutknecht, Thomas Polednitschek, Anders Lindseth, Hei­ demarie Bennent-Vahle, Petra von Morstein usw., man denke z.B. an die Herausgabe der Zeitschrift Agora. Zeitschrift für Philosophi­ sche Praxis (1987ff.) durch Achenbach oder an die inzwischen neun Jahrbücher der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP) und ihre Schriftenreihe. Auch die Konzeption von Lehrund Bildungsgängen erfordert eine intensive Beschäftigung mit der Theorie Philosophischer Praxis. Über die Arbeiten und Positionen zur Philosophischen Praxis geben einige Bücher Auskunft, zuletzt Krauß (2022), so dass der aktuelle Forschungsstand hier nicht eigens dargestellt wird. Inzwi­ schen scheint die Skepsis der akademischen Philosophie gegenüber

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dieser Anwendung von Philosophie allmählich zu weichen, ebenso die Bedenken mancher Praktizierender gegenüber der theoretischen Einfassung ihrer Arbeit. Ein wechselseitiger Diskurs kann also kon­ struktiv fortgesetzt und noch weitergeführt werden, wie erste Gra­ duierungsschriften zeigen. Das Projekt BOECIO mit Workshops in Gefängnissen hat durch begleitende interdisziplinäre Forschung bereits quantitativ und qualitativ hochwertige Ergebnisse erbracht (vgl. Barrientos-Rastrojo 2021). Auch an Universitäten haben sich inzwischen Lehrgänge für Philosophische Praxis angesiedelt, z.B. in Wien und Rom. Das akademische Feld hat sich also für die Aus- und Weiterbildung geöffnet, ein weiterer wichtiger Schritt. Die bislang eindringlichste und den internationalen Forschungs­ stand reflektierende Beschäftigung mit einem Begriff Philosophischer Praxis in Gestalt der Philosophischen Lebensberatung stammt von Hendrik Wahler (2013, 152f.). Er beschreibt das vom Wissenschafts­ feld abzugrenzende Berufsfeld der philosophischen »Lebensbera­ tung« wie folgt: »Die Philosophische Lebensberatung ist eine Beratung in Lebensfragen auf philosophische Weise. Eine Beratung ist eine von einer ausgebilde­ ten Person (Berater) ausgehende und an eine ratsuchende Person (Kli­ ent) gerichtete kommunikative Hilfe zur Selbsthilfe auf der Grundlage von Theorie und Methode mit dem Ziel, das die Beratung initiierende Anliegen des Klienten zu einer gemeinsam zu definierenden und vom Klienten zu evaluierenden Lösung zu führen. Lebensfragen sind Fragen (Probleme, Krisen, Anliegen) des Klienten, die so allgemein sind, dass sie über ihren situativen Entstehungskontext hinausweisen in das Ganze des Lebens – d.h. sie sind in der Regel Fragen nach Lebensori­ entierungen, grundlegenden Lebensweisen, Lebensplanung, wegwei­ senden Entscheidungen, dem Sinn eines Ereignisses oder des Lebens als Ganzem. Philosophisch ist diese Lebensberatung einerseits durch die philosophische Ausbildung des Beraters, andererseits dadurch, dass sie sich kritisch und flexibel gegenüber ihrer eigenen Theorie und Methode verhält, was sich in der Möglichkeit eines methodologischen Diskurses während der Beratung niederschlägt.«

Konkret zeige sich das Philosophische auch in den »Methoden der Beratung« und hier nennt Wahler exemplarisch die phänomenolo­ gische, hermeneutische, existenznarratologische und konstruktivisti­ sche Methode. Schließlich führt er noch an (ebd.): »Das über die jeweiligen konkreten Ziele der Klienten hinausgehende allgemeine Ziel der Philosophischen Lebensberatung ist die durch

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Selbst- und Welterkenntnis ermöglichte gelingende Lebensführung, die das gute (normative Ethik), glückliche (pragmatische Ethik) und bewusste (existenzielle Ethik) Leben in sich vereint.« In dieser Form »theoretisch-lebenspraktischen Wissens (Weisheit)« zeige sich auch der »prozessorientierte Charakter der Philosophischen Lebensbera­ tung«.

Dieser Begriff liefert nach den zuvor von Wahler entwickelten Gütekriterien eine solide Basis für das Verständnis philosophischer Sprechstunden. Auch wenn er hinsichtlich des zugrundeliegenden Beratungsbegriffs, einer Engführung auf »kommunikative Hilfe« und möglichen Erweiterungen mit Blick auf die besondere Form der Interaktion noch diskutiert werden kann, handelt es sich doch um eine mit theoretischem Überbau gut versorgte und brauchbare Definition der philosophischen Beratung. Allerdings umfasst Philosophische Praxis ein breites Spektrum von Wirkungsformen, das von dieser Beschreibung nicht abgedeckt ist, und auch die ethischen Fragen, die in diesem neuen Berufsfeld entstehen, sind hier noch nicht hinrei­ chend thematisiert. Eine solche Ethik Philosophischer Praxis ist disziplinär in der Angewandten Ethik zu verorten und kann – wie auch bei anderen Angewandten Ethiken – nicht aus der wissenschaftlichen Philosophie allein entwickelt werden, weil ihr die praktischen Erfahrungen fehlen. Notwendig ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit erfahrenen philosophisch Praktizierenden. Das Forschungsfeld ist also vor allem in dieser Hinsicht noch weitgehend offen. Die Erfahrungen aus vier bis fünf Jahrzehnten konkreter Arbeit in unterschiedlichen Formaten müssen teilweise erst noch sprachlich eingefangen, auf jeden Fall aber systematisch elaboriert werden, wobei die Gruppenformate einer solchen Forschung viel eher zugänglich sind als die Sprechstunden, die Residuen der Intimität sind. In jedem Fall muss ein spezifisches Forschungsdesign zum Tragen kommen. Die mit dem bestehenden Wissenschaftsethos verbundenen Standards sind jedenfalls nicht exakt auf die Philosophische Praxis übertragbar. Allgemeine Regeln z.B. für eine angemessene, an unserer liberalen Grundordnung ori­ entierte Diskurs- und Moderationskultur gelten zwar auch für die Philosophische Praxis. Der Zweck der Debatten an der Universität ist aber, selbst den Erkenntnisgewinn betreffend, ein ganz anderer als bei Gesprächen in einem Philosophischen Café. Auch die Zwiesprache der universitären Akteure in akademischen Sprechstunden oder wis­ senschaftlichen Fachgesprächen ist von beruflicher Distanz geprägt.

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Demgegenüber ist der ethische Horizont in der Philosophischen Sprechstunde von anderer Prägung. Nun hat die Philosophie als Fachdisziplin gerade in den letzten 50 Jahren in interdisziplinärer Zusammenarbeit wichtige Grundlagen für die ethische Einfassung unterschiedlicher Arbeitsfelder gelegt und an der Entwicklung vieler ethischer Leitlinien entscheidend mitgewirkt. Man denke etwa an ihr frühes Engagement in der Techni­ kethik, in der Technikfolgenabschätzung und in anderen Berufs- oder Bereichsethiken (vgl. Nida-Rümelin 2005). Der Dialog zwischen der Fachphilosophie und der Philosophischen Praxis kann sich also im Sinne einer Bildungs- und Begegnungsfolgenabschätzung im All­ gemeinen und einer Gesprächs- und Beratungsfolgenabschätzung im Besonderen als fruchtbar erweisen, auch unter Einbeziehung weiterer Disziplinen aus den Kultur-, Bildungs- und Sozialwissenschaften. Gerade weil die in der Philosophischen Praxis betriebene Philosophie andere Facetten zwischenmenschlicher Wirksamkeit hat, bedarf es differenzierter Perspektiven. Nur so kann es gelingen, die historisch vom Lebenskunstdiskurs flankierte Philosophische Praxis als Ergän­ zung zur Philosophie als Wissenschaft angemessen zu würdigen und auch im Feld anderer Begegnungsformen konstruktiv zu platzieren. Es steht also einiges auf dem Spiel, wenn es konkret darum gehen soll, die Situationen Philosophischer Praxis ethisch einzuhegen und in einer Berufsethik zu verankern – zumal Philosophische Praxis auch die Gesellschaft mit dem Impuls adressiert, dass Lebenskunst mit moralischen Grundhaltungen zu tun hat, die im eigenen Handeln in der Mit- und Umwelt praktisch werden können, was in der heutigen Zeit eine ebenso wichtige wie herausfordernde Aufgabe ist.

2.3.2 Solidarische Partizipation Philosophie ist nur wert ihre Zeit, soweit sie beiträgt zu lindern das Leid. Dr. med. Christian Hellweg Seit geraumer Zeit diagnostizieren die Kulturwissenschaften einen erheblichen Bedarf nach Orientierung über die Grundfragen des Lebens. Die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Umbrüche der jüngeren Vergangenheit bringen eine existenzielle Ratlosigkeit mit sich, und die Menschen fragen sich zunehmend, wie das Leben

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eigentlich zu leben ist. Die Aufgehobenheit in der Religion, in fes­ ten Beziehungs- und Gesellschaftsstrukturen und in der Natur ist schon lange brüchig geworden. Religiöse, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheiten wurden errungen, die sexuellen und geschlechtsspezifischen Festlegungen aufgeweicht und eine Säkulari­ sierung aller Lebensverhältnisse eingeleitet. Spätmoderne Subjekte leben nicht mehr in einem Gefüge, das durch Selbstverständlichkeiten wie fester Wohnsitz in der Heimat, lebenslange Ausübung eines Berufes, Pflege von Riten, Feiertagen und Brauchtum, feste familiäre Strukturen und Traditionen, eine ständisch gegliederte Gesellschaft usw. kultiviert ist. Ihre Lebensformen sind von technologischen Neu­ erungen, einer sich globalisierenden Weltbevölkerung, dem gemein­ samen Problem des Klimawandels sowie den Auswirkungen von pandemischen Vorfällen durchzogen. Dabei stehen sie in einer nie dagewesenen Offenheit für die Gestaltung ihres individuellen Lebens. Als freie Subjekte sind sie aufgefordert, über ihr Leben selbst zu bestimmen. Doch sie fragen sich: »Was ist überhaupt noch Wirklich­ keit?« Schmid (1998, 103) spricht hier von einer Krise der Wirklich­ keit: »Das immense Anwachsen des Möglichkeitsfeldes treibt diese Frage hervor. Das fortgeschrittene Befreitsein von Bindungen und Abhän­ gigkeiten führt einen Zustand der Beliebigkeit herbei, der wortreich beklagt wird, aber nicht behoben werden kann, da er die zwangsläufige Konsequenz der Freiheit des modernen und postmodernen Menschen ist. Daher die Diskursexplosion im Bereich der Ethik, der die Beantwor­ tung der Frage zugemutet wird, wie mit den immer weiter ausufernden Möglichkeiten der Freiheit umzugehen sei. Mehr als jemals stellt sich das Problem der Wahl und die Frage nach einer ›Lebenskunst‹.«

Und es geht bei weitem nicht um Existenzdesign oder Lifestyle, also die Selbstinszenierung von Individuen, bei der das Bedürfnis nach Gestaltung und Führung seiner selbst nur im Dekor zum Ausdruck kommt. Diese Oberflächenprobleme der Spaßgesellschaft werden längst durch mächtige Industrien für Lebensmoden bedient. Die Probleme der Orientierungslosigkeit liegen tiefer, sind ernster, augenfällig in jenen Feldern, die in unserer Kultur gerne ausgeklam­ mert werden, etwa denen des Krankseins und Sterbens, manchmal auch des Zeugens und Gebärens. Aber wir müssen nicht einmal diese gravierenden Lebenssituationen bemühen, schon die normale Lebensführung bringt heute Aufgaben mit sich, für deren Lösung es

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ein Meer von Möglichkeiten gibt. Techniken der rechten Wahl werden allerdings nicht mitgeliefert. Noch einmal Schmid (ebd., 119): »Das größte Problem in modernen Gesellschaften ist nicht, dass die Lebensführung zu sehr gegängelt würde, sondern dass sie behandelt wird, als verstünde sie sich von selbst, sodass sie zu erlernen kein Gegenstand von Bildung und Erziehung ist. Unvermittelt sehen die Individuen sich mit der Frage der Lebensführung konfrontiert, denn in der zunehmend säkularisierten Gesellschaft erfahren sie in vollem Umfang die Leere, die die Zurückweisung religiöser Formen für die Lebensführung hinterlässt. Viele überkommene Formen, die den All­ tag und das gesamte individuelle und gesellschaftliche Leben tatsäch­ lich von der Wiege bis zur Bahre prägten, werden unverbindlich; für sehr viele Menschen ist das Leben nicht mehr eine wunderbare ›Gabe Gottes‹, sondern wird ›zur selbst zu gestaltenden Aufgabe, zum individuellen Projekt‹.«

Die Menschen sind mit beruflich bedingten Ortswechseln, befristeten Tätigkeiten, Mehrfachausbildungen und Phasen der Erwerbslosigkeit konfrontiert. Sie sind häufig sozialer Isolation ausgesetzt, haben Probleme bei der Partnersuche und Familiengestaltung. Normierte Schönheitsideale und die medizinischen Technologien stellen sie vor teils brisante Fragen nach dem Umgang mit ihrem Körper. Auch eine ökologische Lebensweise wird notwendig. Das Leben zu führen, im Reich der Möglichkeiten und im Eingedenken seiner Widersprüche, wird zu einer Aufgabe, die das spätmoderne Subjekt scheinbar en pas­ sant zu lösen hat. Dabei werden die heutigen Lebensschwierigkeiten gern als individuelle, nicht als strukturelle Problemlagen aufgefasst. Hier sind jedoch auch tieferliegende Probleme relevant, dass sich nämlich die Menschen z.B. häufig alleingelassen vorfinden und wenig Rückhalt in solidarischen Interaktionen finden. Einsamkeit ist die Geißel der Freiheit zur Hyperindividualisierung, die von der ökono­ mischen Rationalität, den mechanistischen Selbstbildern, der um sich greifenden Körperbesessenheit bei gleichzeitiger Leibvergessenheit sowie der Welt- und Naturentfremdung bis an ihre Grenzen geführt wird. Die Folgen für das Individuum sind hinlänglich bekannt (vgl. Yalom 2005, 2010; Spitzer 2018). Der stetige Anstieg des Bedarfs an Psychotherapien und Psychopharmaka ist nur eine Folge. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft, ja sogar auf die Stabilität der Demokratie werden mittlerweile eindringlich geschildert und der Rückgang prosozialer Fähigkeiten wird mit Prozessen politischer Radikalisierung in Verbindung gebracht (vgl. Nussbaum 2012).

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In den Bildungseinrichtungen, die technik- und naturwissen­ schaftliche Spezialisierungen gegenüber kulturwissenschaftlichen Fächern, Musik, Kunst und Sport priorisieren, werden Subjekte für den Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt fit gemacht und auf Selbstoptimierung getrimmt, nicht oder nur selten für ein glückliches Leben oder eine im Guten verankerte Haltung. Auch im öffentlichen Raum werden gerade die Einrichtungen immer weniger staatlich bezuschusst, die den Menschen darüber Orientierung geben kön­ nen, wie sie ihre emotionalen Fähigkeiten entwickeln, ihre Einbil­ dungskraft schulen, Liebesbeziehungen und Freundschaften pflegen, Zugang zu ihrer Kreativität finden oder Lebenskrisen bewältigen können – gemeint sind jene kulturellen Einrichtungen wie Theater, Opern- und Konzerthäuser, Tanz- und Musikschulen, Literaturbe­ triebe, Museen etc., die in verschiedenen Perspektiven das Verstehen fördern. Die Problemlage ist bekannt und man versucht allenthalben zu reagieren. Gerade die Philosophie legt hier den Finger in die Wunden und bringt ihre Rolle als kritische Instanz ins Spiel. Sie kann als Wissenschaft, zusammen mit anderen Kulturwissenschaften, diagnostisch Stellung nehmen. Sie kann dies auch als Weltweisheit tun, indem sie sich in die gesellschaftlichen Diskurse einmischt. Diese Interventionen sind bedeutend, weil sich kritisches Welt- und Selbstverständnis in den Lebensformen auswirkt. Die Philosophie in der Spielart Philosophischer Praxis hat allerdings ihre eigene Weise, Themen der Lebensorientierung, Persönlichkeitsbildung sowie des politischen und gesellschaftlichen Engagements aufzugreifen und auch auf die akute menschliche und mitmenschliche Bedürftigkeit zu reagieren. Dabei ist sie offen für eine Vielzahl möglicher Anliegen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Philosophische Praxis ist daher ein Ort und Angebot, in dem sich die Verständigung über ein Thema im Rahmen der Grunderfahrungen des Menschseins und ihrer aktuellen sozio-kulturellen Situiertheit vollzieht. Die folgende Arbeitsdefinition der Philosophischen Praxis bezieht sich auf das gesamte Spektrum der Tätigkeiten und rahmt die Prozesse der Begegnung ethisch ein: Philosophische Praxis ist ein institutionell verankertes philosophi­ sches Angebot zur solidarischen Partizipation mit verschiedenen Begegnungsformen im Hinblick auf Bildung und Persönlichkeits­ entfaltung, politisches und gesellschaftliches Engagement sowie Lebensorientierung und Trost.

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Inhaltlich werden im Feld von Bildung und Persönlichkeitsentfaltung themenzentrierte Gespräche und Begegnungen, moderierte Verstän­ digungen über philosophische Texte oder wissenschaftliche Erkennt­ nisse, aber auch Erörterungen oder Übungen zu Selbstsorge und Lebenskunst angeboten. Das politische und gesellschaftliche Engage­ ment resultiert aus der philosophischen Ermächtigung zur Kritik. So haben Philosophische Praxen im öffentlichen Raum eine kulturelle Tradition für den offenen Diskurs und die Verständigung über das politisch-gesellschaftliche Zeitgeschehen etabliert. Im Bereich von Lebensorientierung und Trost betreffen die Anliegen die gesamte menschliche Existenz. Gefragt sind hier Justierungen der eigenen Haltungen, Reflexionen betroffener Selbstgegebenheit, z.B. in Sinnund Lebenskrisen, verstehende Durchdringung der Biographie und Familiengeschichte oder Besprechung moralischer Fragen im berufli­ chen oder privaten Kontext. In allen diesen Formen wird Philosophie durch solidarische Par­ tizipation praktisch. Mit der näheren Bezeichnung als »solidarische Partizipation« ist eine mitmenschliche Bezogenheit gemeint, und zwar zunächst allgemein eine mitfühlende und reflektierende Teil­ nahme der Philosophierenden an der persönlichen Situation und den Beiträgen der Besucher*innen. In der Haltung des Wohlwollens und im Bewusstsein der existenziellen Verbundenheit kann die gemein­ same Arbeit des Verstehens und Erkennens eine Antwort auf die Problemlagen unserer Zeit, auf akute Bedürftigkeit und die Vielfalt damit verbundener Anliegen sein. Der hier gemeinte Begriff der solidarischen Partizipation ist philosophisch getragen vom Wissen um die Abgründigkeit der Existenz, von der Bedeutung fürsorglicher Zuwendung im Hinblick auf die menschliche Bedürftigkeit und von einer Vorstellung des guten Lebens. Sie ist primum movens einer ethischen Anthropologie. Allgemein geht die Geschichte des Begriffs der Solidarität zurück bis in die römische Rechtssprache, wo er sich von dem lateinischen Wort solidum ableitet. Die Formel in solidum obligari definiert eine Art von Schuldverhältnissen, bei denen in einer Gruppe von Schuldnern jeder einzelne Schuldner in der Schuld des Gläubigers steht. Jedes Gruppenmitglied ist also verpflichtet, die ganze Leistung (solidum) zu erbringen; der Gläubiger ist indes nur einmal berechtigt, die Schuld einzufordern. Was man weitläufig und der Sache nach unter Solidarität versteht, hängt mit Phänomenen, Verhaltensweisen und Strukturen zusammen, die so alt sind wie die Menschheitsgeschichte

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selbst und unter dem Stichwort einer Sozialmoral zusammengefasst werden können. In der antiken Philosophie hat insbesondere Aristo­ teles die Freundschaft zu einer Tugend erhoben, die keineswegs nur im Privaten beheimatet ist, sondern als öffentliche Angelegenheit den Zusammenhalt und Bestand der Polis sichert. Im Alten Testament wird eine Fülle von Situationen beschrieben, die von wechselseitigen Bindungen innerhalb kleinerer oder auch grö­ ßerer Gemeinschaften Zeugnis ablegen. Auch wenn es dabei primär um Solidarität im Kontext von Kohäsion und Zugehörigkeit geht, gilt das solidarische Sich-zueinander-Bekennen auch der Gesamtge­ meinschaft. Im Neuen Testament spielen Tradition, Abstammung und politische Gemeinschaft eine eher untergeordnete Rolle für die Solidarität. Unter dem Begriff der ›Bruderschaft‹ wird vielmehr zusammengefasst, dass der Solidarität eine ›geistige Entscheidung‹ vorangeht, sich auf den Willen Gottes zu beziehen. Der Bruderbegriff ist dabei aber keineswegs nur auf die Glaubensbrüder beschränkt. Vielmehr erfährt die Idee der Solidarität in der Feindesliebe eine radikale Entgrenzung, freilich über die Anbindung an Gott und nicht etwa – neuzeitlich gedacht – über eine Anerkennung der Würde jedes Menschen oder einer Werteordnung. Wenn auch im histori­ schen Verlauf der Begriff der Solidarität zunächst kaum eine Rolle spielt, so entspringen doch in den christlichen Traditionen gerade die humanitären Einrichtungen für Arme, Waisen, Kranke und Reisende einem Gespür für die Notwendigkeit von Solidarität aufgrund des Verständnisses für die Bedürftigkeit des Menschen. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich der Begriff der Solidarität zudem in den Kontexten sozialer Bewegungen mit unterschiedlichen politischen Zielsetzungen und wurde in den Wissenschaften vor allem von der Soziologie aufgegriffen. An der Schwelle des 20. Jahrhunderts erfolgten die Gründungen staatlicher Einrichtungen auf der Grundlage des Solidarprinzips, die eine weite Entfaltung bis hin zum Sozialstaat erfuhren. Der Begriff stand dann besonders bezogen auf die Arbeitersolidarität im Zentrum der sozialistischen und kommunistischen Bewegungen. Auch die Frauenbewegungen formierten sich in einem feministischen Wir. Zuletzt erlebte der Begriff der Solidarität als Leitmotiv der oppositionellen Gewerkschaft Solidarność in Polen eine politische Wiederbelebung. Angesichts globaler Entwicklungen mit umfassenden Auswirkungen auf die Ökologie, die Ökonomie und die Politik reklamieren im 21. Jahrhun­ dert vor allem zivilgesellschaftliche Gruppierungen den Begriff der

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Solidarität, auch als Gegenmotiv zu dem sich seit der Moderne stark herausbildenden Individualismus. Heinz Bude prophezeit der Idee der Solidarität, die in Verruf kam, als jeder für sein Schicksal selbst verantwortlich gemacht wurde, »eine große Zukunft«. Dabei insistiert er (2019, 140f.) mit Habermas darauf, dass »eine Ethik individueller Gleichbehandlung notwendigerweise auf eine Ethik wechselseitiger Verbundenheit« angewiesen ist: »Wir müssen wissen, was wir einander schulden, sonst werden wir zu Trittbrettfahrern eines Systems austarierter Anrechte, funktionaler Anreize und unausbleiblicher Sanktionen, an die wir selbst nicht mehr glauben. Gerechtigkeit ist ohne Solidarität und Solidarität nicht ohne Gerechtigkeit zu haben.«

Gegenüber dem staatlichen Handeln, das Personen als Träger »eines Pakets subjektiver Rechte« ansieht, ist die Zivilgesellschaft anders orientiert. Sie »ruft das unvertretbare, zerbrechliche und treue Indivi­ duum auf, das Schutz sucht, die Welt reparieren will und auf Resonanz angewiesen ist«; sie besteht aus den »vielstimmigen Versuchen in Vereinen, Netzwerken, Verbänden, Nachbarschaften, Gärten und Freundschaften Formen der Verbundenheit, der Verlässlichkeit und der Vergegenwärtigung zu entdecken«. Während die Person ihre Unabhängigkeit behauptet und »im Recht auf ihre Willkür den Kern ihrer Freiheit« entdeckt, erinnert sich das Individuum »seiner Abhän­ gigkeit, gesteht sich seine Schutzbedürftigkeit« ein und »sucht seine Beständigkeit«. Bude (ebd., 163) schließt sein Buch mit relativieren­ den Worten: »Solidarität kann man weder durch Argumente moralisch erzwingen noch als Therapie für ein verwundetes Ich empfehlen. Solidarität ist oft sinnlos fürs Ganze und teuer für mich selbst. Trotzdem bin ich solidarisch, weil ich damit in die Absurdität meines Daseins einwillige und zugleich dagegen rebelliere. Die Solidarischen machen sich nichts vor, sie finden sich zusammen, um den Beweis zu erbringen, dass wir zusammen weitermachen können und ich nicht aufgeben muss. Der wesentliche Satz zur Sache lautet: Man weiß den Gewinn der Solidarität nur zu ermessen, wenn man die Einsamkeit kennt.«

Philosophische Praxis ist nun in der Gemengelage eines zivilge­ sellschaftlichen Engagements und in einem durch unterschiedliche Institutionen und Instrumente installierten System staatlicher Unter­ stützung (vormals z.B. auch Fürsorgeeinrichtungen genannt) ein institutionalisiertes Angebot zur solidarischen Partizipation. Sie

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schafft einen durch klare Rahmenbedingungen geschützten Nahraum interpersonaler Begegnung. Das betrifft zwar auch die Gruppen­ formate mit ihren meist vorgegebenen allgemeinen Themen, aber in besonderer Weise die individuelle Sprechstunde, weil die Besu­ cher*innen jedwedes Thema, Problem, Erlebnis, jeden Aspekt ihrer Gestimmtheit und subjektiver Betroffenheit individuell hineintragen können. In der Offenheit für je akute Bedürftigkeit liegt die Möglich­ keit, auch das ›verwundete Ich‹ einzuhegen und sich mit ihm zu solidarisieren. Hier greift die Definition, die Gernot Böhme (1997, 142) der Solidarität gegeben hat: »Sich-Betreffen-Lassen von dem, was den anderen betrifft«. So findet der Besucher in den Philosophischen Praktikerin eine wachsame Solidarpartnerin für Nöte, Krisen, Krank­ heit und Leiden ebenso wie für moralische Fragen, Bildungsprozesse etc. Für die aus mitfühlender und reflektierender Teilnahme erwach­ sende Feinjustierung der persönlichen Orientierung gibt es keinerlei besondere methodischen Vorgehensweisen oder Voraussetzungen, die in der Person des Besuchers liegen und diesen Besuch legitimieren oder rechtfertigen müssten, schon gar nicht spezielle Kenntnisse in Philosophie. Der Philosophische Praktiker ist wesentlich solidarisch ausge­ richteter Mitmensch mit einer Expertise im menschlichen Existieren, vor allem aber im Dasein für den anderen Menschen. Praktiziert wird solidarische Existenz, die sich individuell vielfältig entfalten kann und nicht allgemein festgelegt werden kann. Philosophie in einer solchen existenziellen Praxis öffnet einen Raum der Nähe und der Freiheit für den Austausch über alles, was den Menschen auch nur irgendwie betrifft und nach Besprechung verlangt. Diese Offenheit wird von der Philosophischen Praktikerin durch ihre persönliche Gegenwärtigkeit verwirklicht, die getragen ist von ihren ethischen Haltungen und ihrer Resonanz- und Dialogfähigkeit. Das in die Praxis Hineingetragene, das Anliegen des Besuchers, wird im Gespräch und gemeinsamen Dasein gegenwärtig, es wird immer reflektiert, kann sich dabei auch verändern, spezifizieren oder konkretisieren. Was für den Besucher anliegt, wird auch der Philosophischen Praktikerin ein Anliegen. Mithin ist von zentraler Bedeutung für beide, die Besucherin und den Philosophischen Praktiker, dieses Anliegen in seiner Tiefe zu erspüren und sprachlich zu erfassen, mithin in seinen vielfältigen Dimensionen zu verstehen. Die solidarische Partizipation ist eine mitfühlende und reflek­ tierende Teilnahme an der Lebenssituation der Besucher*innen.

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Diese Teilnahme ist reflektiert, weil sie unter Prozessbeobachtung steht, zugleich aber davon getragen, dass die Philosophin sich im Mitschwingen mit der Lage des Anderen berühren lässt. Die Person des Anderen geht die Philosophin etwas an, sie lässt sich betreffen und einbeziehen, engagiert sich auf und an der Seite des Besuchers: Sie erklärt sich einfühlend und reflektierend solidarisch in einer Haltung, die sowohl von Wohlwollen und Mitgefühl als auch von weiser Umsicht und kritischer Urteilsfähigkeit, also von Herz und Vernunft gleichermaßen geführt ist. In dieser Weise erwächst in der Philosophischen Praxis aus der Begegnung eine Beziehung, die zu einem einzigartigen Geschehen existenzieller Gemeinschaft werden kann. Die Erfahrung dieser Gemeinschaft aus Solidarität kann epi­ sodisch bleiben, nur eine kurze Zeitspanne umfassen oder sich zu einem langjährigen, intensiven Austausch hin entwickeln. Insofern kann Philosophische Praxis in der Pflege solidarischer Beziehungen eine strukturell und zeitlich eingerahmte existenzielle Gemeinschaft bedeuten, deren Verbindlichkeit nicht nur dazu beiträgt, Orientierung zu finden, Persönlichkeitsbildung zu fördern, philosophische Durch­ dringung des Lebens zu ermöglichen, gesellschaftlich-politisches Engagement anzustiften und vieles andere mehr, sondern auch dazu, Not, Leiden und Bedürftigkeit zu lindern. Allgemein ist für den Begriff Solidarität in den historischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Feldern eine mannigfache Bestimmung, Verwendung und Ausdeutung festzustellen. Er erscheint vor allem in wissenschaftstheoretischer Hinsicht unterbe­ stimmt und nicht wirklich greifbar zu sein. Gemeinsam ist indes allen sozialen und sozialmoralischen Strömungen, die sich diesen Begriff zum Motiv nehmen, dass sie Solidarität als einen Grundwert verste­ hen. Als konstituierende Grundelemente lassen sich zwei Momente herausschälen, ein deskriptiv-soziologischer und ein ethisch-norma­ tiver: »erstens das Bewusstsein von der Zusammengehörigkeit von Menschen in einer dann jeweils näher zu bestimmenden Gemein­ schaft; zweitens der aus diesem Bewusstsein resultierende Wille, das, was man dieser Gemeinschaft als Leistung schuldig ist, in ihr und für sie zu erbringen« (Nothelle-Wildfeuer & Küppers 2011, S. 2027). Eine politische Dimension erfährt der Begriff der Solidarität, wenn man ihn als Sozialprinzip und als Teil einer Trias versteht: Solidarität, Gemeinwohl, Subsidiarität. Solidarität mag vordergründig lediglich an das Mitgefühl in einer konkreten Lebenssituation appellieren, mit Blick auf das Gemeinwohl greift sie aber weit über die Lagen einzelner

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Individuen hinaus auf die übergeordnete Gemeinschaft, ja die Menschheit als Ganze; und mit Blick auf das Prinzip der Subsidiarität wird deutlich, dass Individuen und kleinere Gemeinschaften durchaus Verantwortung für ihre Lage tragen und nur dann übergeordnete Hilfe erwarten können, wenn sie diese nicht selbst übernehmen können – so kommt hier ein gesellschaftspolitisches Prinzip zum Tragen, nach dem übergeordnete gesellschaftliche Einheiten wie z.B. der Staat, ein Staatenbündnis, nur solche Aufgaben übernehmen (sollen), zu deren Wahrnehmung untergeordnete Einheiten, z.B. die Familie, ein Glied­ staat, nicht in der Lage sind. Angesichts der Problemlagen unserer Zeit, die sich als Orien­ tierungsbedarf und Begegnungsnot näher beschreiben lassen, weiß die Philosophische Praxis durch solidarische Partizipation ein phi­ losophisches Angebot zu geben. Damit ist sie eine bedeutsame gesellschaftliche Einrichtung, in der Solidarität, Gemeinwohl und Subsidiarität miteinander verwoben sind. Sie ist in mitfühlender und reflektierender Teilnahme für das Individuum und einzelne Gruppen tätig; darin und indem sie die Anliegen philosophisch auf die Grund­ stellung menschlichen Existierens bezieht, leistet sie einen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft; und indem sie den Einzelnen nicht aus seiner Verantwortlichkeit entlässt, sondern dort stärkt, wo er sich als bedürftig erweist, ist sie auch subsidiarisch aufgestellt. In dieser Bedeutung, als Instanz in der Öffentlichkeit und für die Gesellschaft, sollte Philosophische Praxis langfristig nicht nur in privatwirtschaft­ lichen Unternehmen institutionalisiert sein, sondern auch, insofern sie nämlich bedeutsame Bildungs-, Orientierungs- und Beziehungs­ aufgaben übernimmt, über staatliche Finanzierung gestützt und in öffentliche Einrichtungen integriert werden. Dies wäre eine Aufgabe der Politik, die in anderen Bereichen bereits erfüllt wurde.

2.3.3 Philosophische und andere Sprechstunden Seit die Philosophische Praxis sich in den 1980er Jahren zu etablieren begann, richten sich metatheoretische Reflexionen häufig auf die Abgrenzung ihres genuinen Tätigkeitsfeldes von anderen Berufsfel­ dern. Das betrifft weniger die öffentlichen Gruppenformate als viel­ mehr die philosophische Sprechstunde. Obwohl die Vokabel ›philoso­ phisch‹ diese Arbeit eindeutig kennzeichnet, erübrigen sich offenbar die Fragen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu anderen

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professionellen Bildungs- und Begegnungsformen keineswegs. Dies mag auch daran liegen, dass Philosophische Praxis kein juristisch geschützter Begriff ist und bisher keine amtlich geprüfte Graduierung für das Betreiben einer Philosophischen Praxis erforderlich ist. Die anfänglich häufig bemühte, teils stark polemisch unterfütterte Geg­ nerschaft zur akademischen Philosophie, zur Psychotherapie und zur Lebenskunst ist allerdings wenig hilfreich, wenn es darum gehen soll, die Bildungsimpulse der Philosophie wertzuschätzen und ein Begegnungsformat für Lebensorientierung, Selbstkultivierung und philosophisch erschließbare menschliche Notlagen am Markt zu plat­ zieren. Philosophische Praktiker*innen schöpfen in der Regel viel Mate­ rial aus ihrem Philosophiestudium und dem klassischen Lektüreka­ non, sie haben zuweilen auch eine Ausbildung in Psychotherapie, und faktisch werden Philosophische Praxen nicht selten parallel und ergänzend zu psychiatrischen und psychotherapeutischen Behand­ lungen aufgesucht. Man kann sich hier Eva Schiffer (2009, 70) anschließen, die gegenüber anderen Disziplinen und Beratungsfor­ men eine Haltung befürwortet, die »von allen Fraktionierungen, sys­ tematisch aufgebauschten Gegnerschaften und polemischen Schlag­ abtauschen« absieht. Man könnte sogar noch weiter gehen und aktiv nach Überlappungen suchen. Wie konstruktiv eine interdiszipli­ näre Zusammenarbeit mit Expert*innen aus Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Rechtswissenschaft etc. sein kann, zeigt nicht zuletzt das erwähnte BOECIO-Projekt. Damit soll nicht bestritten werden, dass es sinnvoll sein kann, zur Schärfung des Selbstverständnisses die Unterschiede zwischen Philosophischer Praxis und anderen, auf den ersten Blick ähnlich gearteten Angeboten herauszuarbeiten. Es mag hier Schnittmengen geben, zugleich bleibt der philosophische Ansatz genuin, insofern er sich zur Aufgabe stellt, »im Dialog mit dem Praxisbesucher die Konzepte und Theorien über den Menschen und die Welt bewusst zu machen und zu reflektieren, auf denen die verschiedenen Formen der ›Arbeit am Selbst‹ beruhen«. Es werden, so Schiffer weiter (ebd., 72), »die ›Hintergrundbilder‹ und Rahmen sichtbar gemacht, in deren Kontext die verschiedenen Formen der ›Selbstsorge‹ und der ›Arbeit am Selbst‹ erst sinnvoll werden.« Zudem werden die Einstellungen, Selbstkonzeptionen und Denkweisen der Besucher*innen beleuchtet, sowie Fragen wie: »Was heißt es, sich in der Welt zu orientieren, sich seines eigenen Lebens anzunehmen, ein Individuum zu sein? Was

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ist ein erstrebenswertes Leben? Wie weit verfügt der Mensch über die Welt und sich selbst?« Die Bearbeitung solcher Fragen gehöre in den »Kompetenzbereich des philosophischen Beraters« und bleibe in anderen Formaten eher ausgespart. Damit sind wichtige Akzente der Tätigkeit benannt, die sich durch die »29 Vorannahmen« von Thomas Stölzel und weitere Texte zur Vielfalt philosophischen Wirkens ergän­ zen lassen (vgl. Gutknecht, Polednitschek & Stölzel 2009). Weiter sind für das Prozessgeschehen der solidarischen Partizipation und das Ethos Philosophischer Praxis Aspekte der interpersonalen Bezogen­ heit bedeutsam, auf die im zweiten Teil noch eigens eingegangen wird. Nun sind die Philosophischen Praxen im Geflecht der verschie­ denen Bildungs- und Begegnungsangebote selbst schon ausgespro­ chen divers aufgestellt, so dass eingehende Analysen zu ihren ver­ schiedenen Differenzierungen zu umfangreich wären. Zur Schärfung des philosophischen Profils wird daher im Folgenden lediglich anhand gängiger Klischees eine Situierung im Hinblick auf die Variante der Sprechstunde vorgenommen. So kann ihrem Selbstverständnis nach Philosophische Praxis eng an religiöse Seelsorge angeschlossen sein. Diese betrifft eine Beglei­ tung von gläubigen Menschen auf ihrem Glaubensweg durch eine institutionell in einem Glaubenssystem ausgebildete Person oder eine Begleitung in besonderen Lebenssituationen. Die religiöse Seelsorge ist eine feste Einrichtung etwa in Krankenhäusern und kann auch von Nicht-Gläubigen angefragt werden, wenn schwere Krankheiten Sinn­ fragen eröffnen oder eine Sterbebegleitung gewünscht wird. Grund­ sätzlich richtet sich religiöse Seelsorge darauf, einem Menschen in Krisen- und Grenzsituationen des Lebens und in Schwierigkeiten auf seinem Lebensweg Beistand zu leisten. Philosophische Praxis als solidarische Partizipation steht dieser Haltung nahe und begeg­ net den Hilfesuchenden mit Wohlwollen und Respekt vor ihrem Leiden. Das Hintergrundsystem, von dem aus sie agieren, ist jedoch ein anderes. Im Unterschied zur Religion kann die Philosophie auf bestimmte, in Sinn- und Lebenskrisen teils brennende Fragen keine Antwort geben. In manchen letzten Fragen muss die Philosophische Praktikerin die Grenzen des Wissbaren aufzeigen, sich enthalten und unter Umständen mit dem Besucher den nagenden Zweifel und das Nicht-Wissen aushalten. Nicht jedoch kann redliche Philosophie, die sich Rechenschaft ablegt von ihren Erkenntnisgründen, ein Reich des Glaubens begründen oder einer Gefolgschaft nach Schrift und Dogma das Wort reden. Der Trost der religiösen Seelsorge wird aus einem

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2. Systematisches: Leitdefinitionen

historisch gewachsenen und vereinheitlichten Glaubenssystem, also einem metaphysischen Überbau generiert, der Trost der Philosophie ist dagegen nicht in dieser Weise festgelegt und schöpft aus einer mehr als 2500 Jahre andauernden weltweit überlieferten Tradition unterschiedlicher Denkstile, Erkenntnisweisen und Orientierungen. In Philosophischer Praxis kann auch getröstet werden, aber ohne Fokus auf ein bestimmtes Glaubenssystem. Während die religiöse Seelsorge, z.B. in den christlichen Groß­ kirchen, in einer langen Tradition steht, über ein hochdifferenzier­ tes, teils interdisziplinär ausgerichtetes Ausbildungsprogramm ver­ fügt, in Supervisionsformate eingebettet und institutionell in der Gesellschaft gut verankert ist, ist spirituelle Lebenshilfe in dem freien, inzwischen nahezu unüberschaubaren Esoterik-Markt orga­ nisiert, unterliegt dem ökonomischen Konkurrenzdruck und wird durch Expert*innen mit teils zweifelhafter Expertise oder eher kurzbis mittelfristig tradierten Körperschaften, Instituten etc. vertreten. Wenngleich Spiritualität bzw. ein spirituell ausgerichtetes Leben eine Lebensform unter anderen möglichen Lebensformen sein kann und nicht grundsätzlich verwerflich sein muss, ist die Grenze zur Philosophischen Praxis – ähnlich wie bei der religiösen Seelsorge – durch den transzendentalen Überbau und die damit verbundenen Glaubenssysteme gegeben. Philosophie ist nur als mündige Lebensund Erkenntnispraxis zu haben, sie kann sich nicht in Spekulationen ergehen und verschließt sich auch einer sowohl personalen wie nichtpersonalen Gefolgschaft. Gleichwohl kann Philosophische Praxis als solidarische Partizipation gegebenenfalls auch Elemente einer aktiven Lebenshilfe integrieren. Beim Coaching geht es in der Regel weniger um mitfühlende und reflektierende Durcharbeitung grundlegender Lebensprobleme, sondern eher um ein gezieltes, teils sogar strategisch konzipiertes Persönlichkeitstraining für ausgewählte Situationen des persönlichen oder beruflichen Lebens, z.B. in der Personal- und Führungskräfteent­ wicklung. Der Coach leitet dazu an, dass der Klient sich selbst seine Ressourcen erschließt, seine Leistungen optimiert und/oder sich gegebenenfalls noch besser ausbeutet. Dabei kommen unterschied­ liche Techniken zum Einsatz, ohne dass notwendig ein Fokus in philosophischer Erkenntnis liegt. Dies führt zwangsläufig zu einer scharfen Abgrenzung des so zugespitzt dargestellten Coachings von der Philosophischen Praxis, in der es um ein umfassendes Verständnis menschlicher Existenz geht und nicht um partikulare Fokussierung

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2.3 Philosophische Praxis: eine vierte Säule philosophischer Wirksamkeit

auf Fähigkeiten zu bestimmten Zwecken. Philosophische Praxis ist kein Coaching im Sinne der Entwicklung singulärer Persönlichkeits­ anteile für ungeprüfte Interessen, sondern richtet sich auf den Men­ schen in seiner gesamten Lebenssituation. Es soll aber nicht bestritten werden, dass Coaching auch in Richtung eines philosophischen Ver­ ständnisses verfolgt werden kann. In Deutschland ist der Begriff des Unternehmensberaters ebenso wenig geschützt wie der des Philosophischen Praktikers, so dass sich in diesem Feld sehr unterschiedliche Tätigkeiten herausbilden konnten. Häufig dient eine Unternehmensberatung ökonomischen Zwecken zum Vorteil der Shareholder eines Unternehmens und steht teilweise im krassen Gegensatz zur Unternehmensethik. Grundsätz­ lich kann ein Philosophischer Praktiker auch in Unternehmen für bestimmte Anliegen tätig werden, als solidarisch Partizipierender wird das aber nur im Einklang mit philosophischer Erkenntnis auf der Grundlage einer Ethik des Gemeinwohls möglich sein. Philo­ sophische Praxis als Beratung in Unternehmen wird sich im Unter­ schied zu einer nach ökonomischen Interessen verfahrenden Beratung zum Zweck einer Profitmaximierung notwendig auf eine Ethik des Wohlwollens stützen und steht daher im Widerspruch zu vielen gängigen Unternehmensberatungen. Die Psychiatrie, als »Lehre vom Umgang mit Störungen der Seele oder wenigstens, wenn man nicht mehr an die Seele als ganze glaubt, von psychischen Phänomenen«, ist, wie Schmitz (2015, 73) schreibt, ein »Erbe der Weltspaltung«, welche die unbeherrschbar einbrechenden Impulse in quasi abschließbare private Innenwelten verschiebt und diese von der sogenannten Außenwelt abgrenzt. Die aus der Nervenheilkunde entwickelte Psychiatrie befasst sich mit der Vorbeugung, Diagnostik und Behandlung von ›psychischen Stö­ rungen‹ und nimmt in vielen Einzeldisziplinen den Menschen in Bezug auf seine Abweichung von einer definierten Norm in den Blick. Behandelt wird dann das abweichende Sein oder Verhalten mit dem Ziel einer (Wieder)-Eingliederung in die Normalität. Wenngleich die Psychiatrie sich heute sicher in der besten Phase ihrer historischen Entwicklung befindet, weicht sie doch grundlegend von dem ab, was Philosophische Praxis verfolgt. Schon aus Gründen der beruflichen Qualifikation wird in einer Philosophischen Praxis niemals ein Medi­ kament verschrieben, eine Seelenstörung diagnostiziert oder eine seelische Funktionsstörung therapiert. Es kann allerdings geboten sein, dass eine Philosophische Praktikerin in ihrer Sorge um den

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2. Systematisches: Leitdefinitionen

Anderen in besonderen Fällen den Rat erteilt, psychiatrische Hilfe aufzusuchen, oder sogar eine psychiatrische Maßnahme selbst einlei­ tet, z.B. bei Selbstgefährdung. Grundsätzlich ist Philosophische Praxis gut geeignet, eine psychiatrische Behandlung zu begleiten. Sie ist wie die Psychiatrie an der Linderung von Leiden orientiert, jedoch vor einem anderen anthropologischen Hintergrund. Ähnlich verhält sich Philosophische Praxis zur Psychotherapie, die vielfach eine Erweiterung der Psychiatrie ist. Auch wenn einzelne Therapieformen, wie beispielsweise die Gestalttherapie, diagnostisch enthaltsam verfahren, wird bei den meisten Psychotherapien – schon aus abrechnungstechnischen Gründen – nach Rastern diagnostiziert und die definierte Andersheit therapiert. In der Psychotherapie gehen die Akteure davon aus, dass etwas am Sein oder Verhalten des Patienten anders, besser werden soll oder könnte, und das ist der Aus­ gangspunkt und Gradmesser für den Erfolg der Therapie. Es handelt sich dabei meist um eine gezielte Arbeit an emotionalen Problemre­ aktionen. Auch in die Philosophische Praxis kommen Menschen mit einem gewissen, teils sogar schwerwiegenden Leidensdruck. In der solidarischen Partizipation ist aber entscheidend, dass der Philosophi­ sche Praktiker und sein Gegenüber in eine gemeinsame Situation auf Augenhöhe und in mitmenschlicher Verbundenheit eintreten, in der sie sich gemeinsam um das Anliegen des Besuchers kümmern. Nun hat sich in den letzten Jahrzehnten bezogen auf die Her­ ausbildung einzelner Therapieschulen und -stile einiges verändert. Wenngleich in der Ausbildung noch streng klassifiziert und differen­ ziert wird, kommen in der Praxis unterschiedliche Verfahren zur Anwendung. So schreibt Daniel Brandt (2008, 123f.), dass Psycho­ therapie heute eine »theoretisch und methodisch plurale Gemein­ schaft von Ansätzen der Behandlung seelischen Leidens« darstellt, deren gemeinsame Basis und Idee »sich nicht in einer einfachen, widerspruchsfreien Definition formulieren lässt, wenn keines der als psychotherapeutisch essentiell angesehenen Momente außer Acht gelassen werden soll«. Grundsätzlich wird schon seit längerem anerkannt, dass nicht die Schulzugehörigkeit entscheidend für eine gelungene Psychotherapie ist, sondern vielmehr die Beziehung, die zwischen dem Psychotherapeuten und dem Patienten aufgebaut wird. Für die Philosophische Praxis steht in solidarischer Partizipation ebenfalls von Beginn an die Beziehung zwischen der Praktikerin und ihrem Gegenüber im Zentrum der gemeinsamen Arbeit.

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2.3 Philosophische Praxis: eine vierte Säule philosophischer Wirksamkeit

Was die Abgrenzung der philosophischen von der psychologi­ schen Lebensberatung bzw. zur Psychotherapie angeht, so hat Wahler (2013, S. 157–245) sich differenziert nach einzelnen Psychotherapie­ formen dazu geäußert. Er konstatiert, dass die von ihm vorgenom­ mene Begriffsbestimmung und »Abgrenzung zwar die Unterschiede zwischen Philosophischer Lebensberatung und Psychologischer Lebensberatung bzw. Psychotherapie betont, die Gemeinsamkeiten aber weitläufig und substanziell sind« (ebd., 239). Gleichwohl stellt er (ebd., 241) heraus, dass psychologische Lebensberatung bzw. Psy­ chotherapie »tendenziell theoriepositivistisch« ist, d.h., »sie bildet in der wissenschaftlichen Psychologie eine positive Theorie der Psyche sowie der psychisch funktionalen und dysfunktionalen Prozesse aus, die gleichsam ein Menschenbild entwerfen, ohne dieses weiter kri­ tisch hinterfragen zu können«. Weiter führt er (ebd.) aus: »In der aktuellen Entwicklung ist die Psychologische Lebensbera­ tung in der Regel durch die in der empirisch-naturwissenschaftli­ chen Psychologie als wirksam erwiesenen psychologischen Methoden festgelegt. Ein Metadiskurs über Theorie und Methode bleibt in der Beratungssitzung unwahrscheinlicher als in der Philosophischen Lebensberatung – auch weil hier die entsprechende Kompetenz des Beraters weniger ausgebildet ist. Im Gegensatz zur Psychologischen Lebensberatung kann die Philosophische Lebensberatung die Objek­ tivität des Subjekts ebenso thematisieren wie die normative, aber keineswegs rein subjektivistische Frage nach dem guten Leben, dem Woraufhin der Orientierung; den Werten, für sie es sich zu leben und zu leiden lohnt.«

Bezogen auf die Psychotherapie hebt Wahler (ebd., 241f.) ihren Aus­ gang in einem »Kriterienkatalog zur präskriptiv-setzenden Diagnos­ tik psychischer Störungen« hervor und einer daran anschließenden kurativen Leidbehandlung. Dieser Fokus werde durch »die (kontin­ gente) Einbettung in das Gesundheitssystem massiv gestärkt« und dadurch unterscheide sie sich in ihrem faktisch-institutionellen Cha­ rakter stark von der Philosophischen Praxis. Der Übergang zur gene­ rativen Persönlichkeitsentwicklung sei jedoch häufig fließend. Den­ noch: »Wenn die Psychotherapie in der Regel das Vorliegen einer psychi­ schen Störung zum Ausgangspunkt der Therapie macht, orientiert sie sich an der Dichotomie gesund/krank bzw. normal/gestört. Gegen­ über dieser für das faktische Wesen der Psychotherapie konstituieren­ den begrifflichen Unterscheidung ist die Philosophische Lebensbera­

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tung keineswegs die komplementäre Beratung für Gesunde, sondern Lebensberatung jenseits dieser setzenden Unterscheidung.«

Ist Philosophische Lebensberatung nun eine Therapie (von gr. the­ rapeía – Dienen, Dienst, aus gr. therápon Diener, Gefährte = The­ rapeut)? Als »begleitender Dienst« in diesem allgemeinen Sinne ließe sich wohl von einer Therapie sprechen und gewisse therapeu­ tische Effekte lassen sich auch nicht bestreiten. Im strikten Sinn als medizinische Therapie oder professionelle Psychotherapie lässt sich Philosophische Praxis aber nicht als Therapie rubrizieren: Die Unterscheidung krank/gesund und eine differenzierte Diagnostik sind nicht ihr Ausgangspunkt; sie ist nicht kurativ auf Veränderung bzw. Beseitigung von Symptomen aus und ihr Tun ist nicht naturwis­ senschaftlich grundiert; außerdem ist die Frage ihrer Evaluierbarkeit bislang nicht hinreichend geklärt. Eine »Alternative zur Psychothe­ rapie« (vgl. Schuster 1999) kann Philosophische Praxis respektive Lebensberatung nach Wahler (2013, 244f.) schon allein »wegen ihrer Unfähigkeit zur Behandlung psychischer Schwerststörungen wie paranoider Schizophrenie oder Multipler Persönlichkeitsstörung (bzw. dissoziative Identitätsstörung)« nicht sein. Sie kann aber auch nicht als bloße Ergänzung zur Psychotherapie ›kleingeredet‹ werden, »weil dann erneut die Unterscheidung krank/gesund zum definito­ rischen und praktischen Ausgangspunkt gemacht würde und sie wesenhaft von der Psychotherapie abhängig bliebe«. Es bleibt eine Spannung, die Wahler (ebd., 245) so beschreibt: »Ein unabhängiges Komplement zur Psychotherapie ist sie weiterhin nur tendenziell – und dies sogar nur in Bezug auf die institutionali­ sierte Form der Psychotherapie als kurative Psychotherapie. Philoso­ phische Lebensberatung ist zwar etwas inkommensurabel anderes als Psychotherapie – dies aber weder als Komplement (vollständige Auf­ gabenteilung mit je anderen Mitteln) noch als Alternative (vollständige Aufgabenübereinstimmung mit je anderen Mitteln) zu ihr.«

In dieser Betrachtung liegt jenseits möglicher, nicht in Betracht gezo­ gener Kritikpunkte doch eine wichtige Wertschätzung der Philoso­ phischen Lebensberatung als bedeutsame Arbeit in Beziehung mit therapeutischen Effekten. Hier wird die Anschlussfähigkeit zur soli­ darischen Partizipation augenfällig, die man mit Christian Hellweg als therapeutisches Sein bezeichnen könnte. Philosophische Praxis ist also wie die Psychotherapie wesentlich an Beziehung interessiert, aber vor dem Hintergrund eines philosophischen Menschenbildes

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2.3 Philosophische Praxis: eine vierte Säule philosophischer Wirksamkeit

und ohne therapeutischen Anspruch bezogen auf diagnostizierte Pathologien und deren Linderung bzw. Heilung.

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3. Organisatorisches: Konstellationen Philosophischer Praxis

3.1 Rechts- und Organisationsformen Wenn es nun um die Wege Philosophischer Praxis in institutioneller Verankerung, um die Philosophische Praxis als Arbeitsfeld und die Philosophische Praktikerin als Beruf geht, sollte nicht unbeachtet bleiben, dass manche Menschen philosophisch praktisch tätig sind, selbst wenn sie sich nicht so verstehen würden und auch keinen ausgewiesenen Ort für diese Tätigkeit haben. Zu denken ist hier an all jene, die Philosophie als Lebensform betreiben, sich dabei teilweise zu lockeren Gemeinschaften zusammenschließen und in menschlicher bzw. gesellschaftlicher Zugewandtheit wirksam sind, ohne diese als Arbeit zu klassifizieren oder damit öffentlich in Erscheinung zu treten; gemeint sind auch Menschen, die sich in ihrem Rollenverständnis, z.B. als Lehrer, Sozialarbeiterinnen, Pflegende oder Erziehende an philosophischen Ansätzen einer solidarischen Partizipation orientie­ ren, ohne dass dies im Arbeitsvertrag, sonstigen Vereinbarungen oder Gesetzestexten niedergelegt ist, und schließlich geht ohnehin so manches soziale, politische und gesellschaftliche Engagement auf eindringliche philosophische Besinnung zurück. Wenn aber Philoso­ phische Praxis in einem eigens dafür ausgewiesenen Arbeitsbereich öffentlich wirksam wird, dann sind institutionelle Rahmenbedingun­ gen, persönliche Qualifizierung, Verantwortungsbewusstsein und ethische Unterfütterung bedeutsam. Im Unterschied zu den Situatio­ nen werden die Organisations- und Wirkungsformen Philosophischer Praxis als Konstellationen, also Vernetzungen einzelner Faktoren nach außen und in formalen Zusammenhängen gut sichtbar. Wenn diese nun näher umschrieben werden, fließen schon allgemeine berufsethi­ sche Überlegungen ein. Im Tätigkeitsfeld Philosophischer Praxis lassen sich drei Orga­ nisationsformen unterscheiden, die auch in Kooperation und Durch­ mischung möglich sind: gemeinnützige Vereine, Stiftungen oder

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3. Organisatorisches: Konstellationen Philosophischer Praxis

Gesellschaften mit einer besonderen Rechtsform; Institutionen und Unternehmen in öffentlicher oder privatwirtschaftlicher Rechtsform sowie Selbstständigkeit, z.B. als privatwirtschaftlich organisiertes Kleinunternehmen. In diesen Organisationsformen sind verschie­ dene Akteure involviert, also Personen, Institutionen und Unterneh­ men als moralfähige ›Subjekte‹, die in ihren Tätigkeitsbereichen Verantwortung übernehmen und damit auch Adressaten für ethische Haltungen sind. Wenn Philosophierende ihre Arbeit in Vereine mit gemeinnütziger Rechtsform einbetten, lassen sie Philosophie im Sinne eines Nutzens für die Allgemeinheit als Praxis mit einer ausformulierten Zweckset­ zung wirksam werden und können dafür finanzielle Unterstützung einwerben. Für solche Körperschaften gelten gesetzliche Vorschriften, insbesondere ist für die Arbeitenden ein geschäftliches Eigeninteresse ausgeschlossen. Finanziert werden Vereine durch Mitgliedsbeiträge, Spenden sowie Drittmittel. Mit dem Vereinsrecht bekundet der Staat eine ethische Haltung, indem er für am Gemeinwohl orientierte Initiativen jenseits des freien Marktes eine besondere Form der Körperschaft einrichtet und durch Anreizinstrumente unterstützt (Fördermittel, Steuererleichterung etc.). Die Vereine sind gegenüber dem Staat rechenschaftspflichtig, aber auch seinem Schutz unterstellt, gegebenenfalls bei Haftungsbelangen. Akteur*innen sind hier ausge­ hend vom Staat, der diese Rechtsform installiert: die Behörden (z.B. Finanzämter, Registergerichte), die den staatlichen Willen umsetzen und die Körperschaften betreuen, ihre Angelegenheiten verwalten und ihre gemeinnützigen Zwecke prüfen; die Gründungs- und Stif­ tungspersonen, die sich eine Satzung geben und die Vereinsgründung amtlich beantragen; die Mitglieder, die im Sinne der Satzung die Vereinsarbeit verrichten; die Sponsor*innen: Privatpersonen, Unter­ nehmen und die sogenannte ›öffentliche Hand‹; die Adressat*innen der gemeinnützigen Tätigkeit, also der Sache nach die Gesellschaft bzw. je nach Satzungszweck unterschiedliche Personengruppen. Ethische Haltungen kommen anfänglich bei den Gründungsper­ sönlichkeiten der Vereine zum Tragen, die den Vereinszweck defi­ nieren. Sie bekunden das Interesse an einer Wirksamkeit in der Gesellschaft und rufen zugleich die Öffentlichkeit dazu auf, sich daran zu beteiligen. Nach der Gründung liegt die Verantwortung zur Umsetzung des selbstgesetzten und amtlich genehmigten Zwecks bei den Mitgliedern und Mitarbeitenden der Vereine und den von ihnen gewählten Vorständen. Im Ehrenamt wird die Arbeit nicht entlohnt,

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3.1 Rechts- und Organisationsformen

allenfalls mit einer Aufwandsentschädigung für entstandene Kosten bedacht. Die in einem Verein aktiven Personen arbeiten für die Allgemeinheit, koppeln die Tätigkeit von eigennützigen zugunsten von gemeinnützigen Interessen ab und stehen voll und ganz im Dienst der guten Sache – ein hohes ethisches Gut, ja geradezu konträr gestellt zu der ökonomisch auf den individuellen Vorteil bedachten kapitalistischen Rationalität. Die Vereinsgründung selbst ist gewissermaßen ein politischer Akt, jedenfalls ein Handeln nach Hannah Arendts dreifacher Bestim­ mung der Vita Activa als Arbeiten, Herstellen und Handeln. In einem ursprünglichen Sinn, meint Arendt (2007, 215), sind »Handeln und etwas Neues anfangen dasselbe; jede Aktion setzt etwas in Bewegung, sie agiert im Sinne des lateinischen agere, und sie beginnt und führt etwas an im Sinne des griechischen árchein«. Weil jeder Mensch aufgrund »des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuan­ kömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen« – ein Gedanke, den Arendt bis in die politischen Aushandlungen weiterdenkt, der aber ebenso für die Gründung eines Vereins, einer Philosophischen Praxis oder die Erfindung eines Philosophiefestivals zutrifft. Im Rahmen der Vereinstätigkeit wirken die Mitglieder, ja selbst die Sponsor*innen mit ihrer Haltung in den politischen Raum hinein und leisten einen Beitrag für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Dieser sozialen, kulturellen und humanitären Arbeit sollte viel mehr Anerkennung zukommen, zumal die umfangreiche Fleißarbeit hinter den Kulissen meist verborgen bleibt. Für gemeinnützige Organisationen sind neben den gesetzlich bindenden Vorschriften auch Leitbilder und Ethikkodizes sinnvoll. Sie benennen z.B. Alleinstellungsmerkmale, Selbstverpflichtungen und Kriterien für die Auswahl der Sponsorenschaft und geben den vereinsjuristisch definierten Zwecken eine weitere inhaltliche Prägung und Ausformulierung. In solchen Vereinbarungen bildet sich die Identität eines Vereins ab und in ihrer Präsentation in der Öffentlichkeit kommt im Sinne einer Selbstzuschreibung die externe Verantwortung der Körperschaft gegenüber den Adressat*innen der gemeinnützigen Tätigkeit zum Ausdruck. Daneben steht die interne Verantwortung bezogen auf die im Verein tätigen Personen, hier besonders gedacht als eine Ethik der Werktätigkeit, denn, wo immer Menschen miteinander arbeiten, kann es zu Konflikten kommen, z.B. in der Kommunikation, der Arbeits- und Mittelverteilung, den

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3. Organisatorisches: Konstellationen Philosophischer Praxis

Hierarchien und Repräsentationen oder auch der Genderfrage. Gerade in der gemeinsamen ehrenamtlichen Arbeit, die nicht durch Arbeits­ verträge geregelt ist, erscheint es geboten, einen achtsamen Umgang miteinander zu pflegen, sich auf die Gestaltung der Abläufe zu ver­ ständigen, z.B. in einer Geschäftsordnung, und diese immer wieder kritisch zu reflektieren. Philosophische Praxisangebote gibt es in gemeinnützigen, aber auch in öffentlichen oder privaten Institutionen sowie in Wirtschafts­ unternehmen: Schmid war beispielsweise als monetär entlohnter »philosophischer Seelsorger« in einer Schweizer Klinik tätig (vgl. Schmid 2016). Das Team vom Institut für Praxis der Philosophie hatte in Darmstadt ein ehrenamtlich organisiertes Projekt zur »präopera­ tiven Patientenfürsorge« in einem Darmstädter Krankenhaus (vgl. Böhme 2014). Es gibt Kooperation von philosophisch Praktizieren­ den mit niedergelassenen Ärzt*innen, Bildungs- und Kultureinrich­ tungen oder in der Unternehmensberatung. Dabei treten die Phi­ losophierenden in unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse, sie sind z.B. Honorarkräfte, u.U. mit einem Werkvertrag, Angestellte in befristeten oder unbefristeten Verträgen oder arbeiten ehrenamtlich. Adressat*innen ihrer Arbeit als ›Dienstleistende‹ in Institutionen und Unternehmen sind nicht nur Privatpersonen, sondern auch Men­ schen in ihren professionellen Rollen und systemischen Gefügen. In den verschiedenen Formen der selbstständigen, unselbstständigen und ehrenamtlichen Arbeit kommen unterschiedliche Arbeits- und Berufsethiken zur Geltung, die mit wirtschafts- und unternehmens­ ethischen Fragen verbunden sind. Möglicherweise eignet sich nicht jede beliebige Institution bzw. jedwedes Unternehmen für eine Arbeit der Philosophischen Praxis. Auf der individuellen Ebene ist jede philosophisch praktizierende Person sich selbst und u.U. auch anderen Rechenschaft darüber schuldig, was sie in welcher Institution oder in welchem Unternehmen wie, mit welchem Interesse und mit welcher Entlohnung tut. Philosophische Praxis wird heute überwiegend in Selbstständig­ keit bzw. Kleinunternehmen betrieben. Sie ist neben der wissenschaft­ lichen und pädagogischen Arbeit ein Feld der Erwerbstätigkeit von Philosophierenden geworden, das mit Niederlassungen auch Praxis­ räume, teilweise auch Personal verwaltet. Oberstes Gebot ist hier wie überall bei einer Unternehmensgründung und -führung die Zielset­ zung in Form eines Sollens: Es muss deutlich werden, was von dem Unternehmen erwartet wird, welche Handlungen erlaubt/erwünscht

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3.2 Administrative und ökonomische Gesichtspunkte

bzw. welche verboten/unerwünscht sind. Als Mittel dienen sowohl Gesetze und Verordnungen als auch Kodizes und Konventionen. Da es für die Philosophische Praxis keine geschützte Definition zu den darin verrichteten, zulässigen Arbeiten und bis dato weder einen Minimal­ konsens für Berufsstandards noch verbindliche ethische Leitlinien gibt, greift hier zunächst die allgemeine Unternehmensethik. Diese ist z.B. durch die 10 Prinzipien des Global Compact aus dem Jahr 2000 mit den vier zentralen Topoi Menschenrechte, Arbeitsstandards, Umwelt und Antikorruption schon gut ausformuliert. Die ausführli­ chere CSR-Norm ISO 26.000 richtet sich mit sieben Prinzipien darauf, (1) dass ein Unternehmen Verantwortung übernehmen sollte für die Folgen seines Entscheidens und Handelns auf die Gesellschaft und die Umwelt, (2) das Entscheiden und Handeln transparent machen sollte, (3) jederzeit ethisch handeln sollte, (4) die Interessen ihrer Stakeholder respektieren und berücksichtigen sollte, (5) das Gesetz respektieren sollte, (6) internationale Verhaltensnormen einhalten sollte sowie (7) die Wichtigkeit und Universalität der Menschenrechte anerkennen sollte. Solche oder ähnliche Basics verlieren ihre Gül­ tigkeit auch für kleinere Unternehmen nicht. Denkbar wäre jedoch eine spezielle Unternehmensethik für die Philosophische Praxis, also eine Branchenethik.

3.2 Administrative und ökonomische Gesichtspunkte In allen drei Organisationsformen kommen administrative und öko­ nomische Gesichtspunkte zum Tragen. Philosophisch Praktizierende benötigen zur Ausübung ihrer Tätigkeit entweder selbst Kompeten­ zen in der Verwaltung, juristische Kenntnisse, etwa die Persönlich­ keitsrechte (Datenschutz) betreffend, und Fähigkeiten der Buch- und Geschäftsführung gemäß der für die jeweilige Organisationsform gel­ tenden Rechtslage oder müssen diese Aufgaben an andere Personen oder Institutionen delegieren. Für dieses erlernbare Handwerk sind philosophische Fragen nicht von Belang. Die zu bewältigenden Auf­ gaben erfordern jedoch je nach Art der Tätigkeit mehr oder weniger Aufmerksamkeit. Bei der gemeinnützigen Rechtsform ist die Einhe­ gung der ökonomischen Interessen gesetzlich in besonderer Weise reguliert und bei Anstellungen in öffentlichen Institutionen oder in gewinnorientierten Unternehmen sind die Arbeitsverhältnisse durch das Arbeitsrecht festgelegt. Missbräuchliche Anwendung solcher Vor­

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3. Organisatorisches: Konstellationen Philosophischer Praxis

schriften oder sogenannte Schlupflöcher und Grauzonen für Ausbeu­ tung im Bereich von Arbeitsverträgen sind selbstverständlich auch bei diesen Tätigkeiten nicht ausgeschlossen, sie sind aber kein Argument gegen solche gesetzlichen Vorgaben, eher für ihre Verbesserung. Eine besondere Brisanz hat der ökonomische Gesichtspunkt jedoch insbesondere dann, wenn es um die wirtschaftliche Existenz von Selbstständigen und Kleinunternehmen geht. Für die Ökonomik, klassisch betrachtet die Kunst der Haushaltsführung, abgeleitet von gr. oîkos für Haus und nómos für Gesetz, ergeben sich immer auch ethische Aspekte. In der Antike war die Verzahnung von Ethik, Politik und Ökonomik in der praktischen Philosophie selbstverständlich. Mit dem homo oeconomicus von heute hat sich dieses Verständnis geän­ dert: Er wählt bei gegebenen Präferenzen und Restriktionen stets die Alternative, die ihm den höchsten materiellen Nutzen verspricht, und passt sich bei Veränderungen der Voraussetzungen stets rational an. Ob diese Einstellung auf Profitmaximierung zu einer Philosophischen Praxis als privatwirtschaftliches Kleinunternehmen passt, wird man wohl nicht zum Gegenstand von Präskriptionen machen, sondern der individuellen Entscheidung überlassen. Nun fallen Philosophierende in der Regel nicht dadurch auf, dass sie immensen Reichtum anhäufen. Die heute in den Medien vieler­ orts präsenten Stars gehören sicher zu den am besten verdienenden Philosophierenden. Auch die Philosophieprofessuren im Beamten­ verhältnis brachten früher einmal ökonomische Rahmenbedingun­ gen mit lebenslanger Besoldung mit sich, die ›feudalherrschaftliche‹ Residenzformen erlaubten, um es einmal zugespitzt auszudrücken. Heute gibt es nur noch wenige entfristete Professuren, längst hat die ökonomische Rationalität den Konkurrenzkampf um Boni, Drittmit­ tel und Publikationsranking auch hier angeheizt. Im akademischen Mittelbau ist die ökonomische Situation mit befristeten Verträgen geradezu prekär und für die Vereinbarkeit mit einem Familienleben unhaltbar. Die verpflichtende unentgeltliche Titularlehre kommt gar als schlechter Witz daher. Selbst an den Universitäten ist also mit der Philosophie nur für ausgewählte Gruppen und teilweise nur für einen begrenzten Zeitraum ein einträgliches Einkommen verbunden. Im Hinblick auf die wirtschaftliche Lage von selbstständigen Philoso­ phierenden ist von der ersten Generation häufig zu hören, dass diese Arbeit nicht trage und ein weiteres Standbein oder ein Brotberuf nötig sei, um durchzukommen. Dass es ausgesprochen schwierig ist, eine Philosophische Praxis am Markt einträglich oder sogar ökonomisch

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3.2 Administrative und ökonomische Gesichtspunkte

erfolgreich zu platzieren, wird keineswegs in Abrede gestellt. Jedoch scheinen philosophisch Praktizierende teilweise auch ein merkwürdig verstelltes Verhältnis zum wirtschaftlichen Hintergrund ihrer Tätig­ keit zu haben. Im Rahmen der Kritik an der ökonomischen Rationalität unter Bedingungen des Turbokapitalismus gerät manchmal aus dem Blick­ feld, dass das Streben nach individuellem und gesamtwirtschaftlichem Wohlstand nicht grundsätzlich verwerflich ist. Nach Aristoteles ist die Versorgung mit Gütern bzw. die Sicherung des Wohlstands sogar das notwendige und »löbliche« Ziel der Ökonomik als Haushalts­ kunst, die »bei der Natur bleibt«, also Maß hält (Aristoteles 1995, Politik I, 9, 1258a, b, 22). Diese Grundversorgung als Mittel zum Zweck, keineswegs als Selbstzweck, dient dem allgemeinen Glück bzw. gehört zu den Voraussetzungen dafür, dass man sich um ein gutes Leben kümmern kann. Davon unterscheidet Aristoteles scharf die sogenannte Chrematistik, die Erwerbskunst nach Art der gewinn­ süchtigen Bereicherung, und brandmarkt damit den von Profitgier angetriebenen auf reine Maximierung ausgerichteten Handel. Diese Form der Erwerbskunst sei »schuld daran, dass man meint, es gebe für Reichtum und Besitz keinerlei Grenze« (ebd., 1256b/1257a, 17). Der Vollständigkeit halber sei hier noch angeführt, dass Aristoteles noch ein drittes Gewerbe, das des Wucherers, anführt, das »mit vollstem Rechte eigentlich verhasst« sei, »weil es aus dem Geld selbst Gewinn zieht und nicht aus dem, wofür das Geld doch allein erfunden ist« (ebd., 1258b, 23). Diese Einschätzung wird den Banker von heute berufsmäßig kalt lassen. Im Sinne einer maßvollen Orientierung am Wohlstand ist es aber nicht nur vertretbar, sondern sogar geboten, eine Philosophische Praxis als ein Unternehmen zu führen, das an den Werten von Wirtschaftlichkeit und Rentabilität orientiert ist und zur Lebens- und Wohlstandssicherung ausreichend Einkünfte abwirft. Dieser Gewinn fördert seinerseits den gesamtwirtschaftlichen Wohlstand, der zu verstehen ist als »das materielle Wohlergehen der Bevölkerung« und die »möglichst weitgehende Befriedigung menschlicher Bedürfnisse durch Güter und Dienstleistungen (Bedarfsdeckung)«, wie es in einer VDI-Richtlinie zu den Werten im technischen Handeln heißt (vgl. VDI 2000). Es spricht also nichts dagegen, eine Philosophische Praxis als ein Unternehmen wie andere inhabergeführte Geschäfte zu führen – immerhin gibt es analoge formelle Strukturen. So verfügt eine Philosophische Praxis über einen Raum oder mehrere Räume,

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3. Organisatorisches: Konstellationen Philosophischer Praxis

vielleicht ein Büro, möglicherweise Personal, es gibt Ausgaben für die Verwaltung nebst Technik, nicht zuletzt für Supervision, wenn ein Arbeitsschwerpunkt in der individuellen Sprechstunde besteht, aber ebenso für Fort- und Weiterbildungen und weiteres mehr. Es bedarf also einer Kalkulation der Einkünfte, die sich dann im Stunden­ honorar, z.B. für individuelle Sprechstunden, oder im monatlichen Mindestverdienst niederschlägt, wobei alle Rahmenkosten mit veran­ schlagt und in der Summe durch alle Angebote eingebracht werden. Den antiken Sophisten, die Philosophie lehrend durch die Städte zogen und ihre ›Techniken‹, z.B. die Redekunst ›feilboten‹, hatten kein Problem damit, für ihre Tätigkeit Geld anzunehmen. Obwohl sie einem philosophisch fundierten Bildungsideal verpflichtet waren, was von Kritikern gerne unterschlagen wird, wurden sie für ihre Entlohnung von jenen Personen herb angegriffen, die sich für die ›echten‹ Philosophen hielten. Dieser alte an ökonomischen Fragen aufgehängte Streit zwischen Sophisten und Philosophen kann hier nicht geschlichtet werden. Vielleicht klingt etwas von dieser Debatte nach, wenn sich trotz der Einsicht in die Notwendigkeit eines bedarfs­ deckenden Eigeninteresses – und trotz ihrer sogar ethischen Grun­ dierung im Sinne der Absicherung – bei der Erwerbskunst einer Philosophischen Praxis Zweifel oder Bedenken melden. Diese bezie­ hen sich u.a. darauf, dass es sich bei der Tätigkeit um eine Arbeit mit Menschen handelt, in möglichen Variationen konkret um eine Art Seelsorge, die auf ernste Anliegen der Lebensführung, ja sogar Not und Leiden bezogen ist. Darf man sich für ein philosophisches Gespräch, für solidarische Partizipation entlohnen lassen? Das ist und bleibt aus meiner Sicht ein unaufhebbares Dilemma, solange wir in einer kapitalistischen Wirtschaftsform leben, in der philosophische Sinnfragen, Lebensorientierung und die Praxis solidarischen Verhal­ tens als Angelegenheit des privaten Lebens ausgewiesen werden, wenn man einmal von den dünnen sozialen Sicherungssystemen des Staates absieht. Gleichwohl lässt sich für die derzeit erforderliche Entlohnung auf privatwirtschaftlicher Basis in Anschlag bringen, dass die für die Philosophische Praxis eingeräumte Zeit nicht für einen anderen Geldverdienst genutzt werden kann. Das für die philosophi­ sche Dienstleistung gezahlte Honorar wäre dann Erstattung eines an anderer Stelle ausfallenden Verdiensts. Man könnte die Zahlung des Honorars als Bringschuld interpretieren oder als Gabe auffassen (vgl. Eder-Seela 2017).

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3.2 Administrative und ökonomische Gesichtspunkte

In der Debatte darüber, welche Hilfsangebote, die über die medi­ zinische Grundversorgung hinausgehen, privat und welche über die Solidargemeinschaft finanziert werden sollten, darf nicht unvermerkt bleiben, dass Psychotherapie als Leistung der Krankenversicherungen eine noch gar nicht so alte, aber lange überfällige Errungenschaft ist. Nicht zuletzt werden damit auch Erkrankungen behandelt, die durch die Gesellschaft erst hervorgebracht werden. Gerade weil die Philoso­ phische Praxis Persönlichkeitsbildung, Zuwendung und Begegnungs­ arbeit, Sinnorientierung, Lebensberatung und sogar ›seelenärztliche‹ Ansätze verfolgt, die mit ihren besonderen Schwerpunkten die Men­ schen in Orientierungsbelangen und bedrängenden Lebenslagen auf ganz andere Weise als beispielsweise die Psychotherapie unterstützt, sollte ernsthaft in Erwägung gezogen werden, sie in die Solidar­ systeme aufzunehmen. Nicht zuletzt ist es in der Perspektive des Gemeinwohls und der sozialen Gerechtigkeit geradezu unerträglich, dass Philosophische Praxen nur für Menschen offenstehen sollten, die sich die Angebote mit privat erzielten oder geerbten Überschüssen leisten können. Es handelt sich dabei um ein ernstes Problem, das die Ethik empfindlich berührt: Die Angebote der Philosophischen Praxis sollten kein persönlicher Luxus sein! Solange jedoch keine gesellschaftliche Lösung in Sicht ist, brauchen wir Brückenlösungen. Kleine Schritte wären Ermäßigungen für bestimmte Personengrup­ pen oder bei den Sprechstunden Kontingentplätze für Geringverdie­ nende, die etwa an den Mindestlohn gekoppelt sind, oder Angebote, die unentgeltlich, fremdfinanziert oder durch Tauschsysteme verhan­ delbar sind. Möglich wäre eine Auslagerung der Bezahlung auf gemeinnützige Institutionen, die über Patenschaften oder ähnliche Instrumente Mittel zur Verfügung stellen. Analog zu den Bildungs­ gutscheinen könnte auch jedes Mitglied der Gesellschaft Gutscheine für die Angebote der Philosophischen Praxis von der Sprechstunde über Philosophieren mit Kindern bis hin zur Persönlichkeitsbildung erhalten. Diese könnten von der Solidargemeinschaft finanziert oder bezuschusst werden und zu einem Basiseinkommen für philosophisch Praktizierende beitragen. Es ist also notwendig, langfristig und nachhaltig darüber nach­ zudenken, wie Philosophische Praxis im öffentlichen Leben und mit Finanzierungsträgern in den Bereichen von Bildung, Kunst, Medizin, Pflege, Psychologie, Sozialarbeit etc. verankert werden kann. Eine realistische Variante ist gegenwärtig sicher die Kooperation mit Insti­ tutionen und Unternehmen. Schon heute haben sich Interessenge­

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3. Organisatorisches: Konstellationen Philosophischer Praxis

meinschaften zwischen philosophisch Praktizierenden und Arztpra­ xen, medizinischen, pflegerischen und pädagogischen Einrichtungen oder auch Kulturbetrieben wie Museen oder Theatern etabliert. Viele weitere Möglichkeiten der Integration im öffentlichen Leben wären denkbar. Solange hier aber vonseiten der Politik zusammen mit Bil­ dungsträgern, Krankenkassen und Versicherungen nicht die Weichen für eine institutionelle Verankerung gestellt werden, bleiben solche Verzahnungen den Initiativen von einzelnen Personen, Unternehmen oder Institutionen vorbehalten. Indes könnte man auch fragen, ob eine unentgeltliche philoso­ phische Dienstleistung überhaupt wünschenswert ist. Der privaten Bezahlung von Therapie, Coaching und Beratung werden durchaus gewisse Effekte zugeschrieben. Sie könnte, so die Argumentation, einen Einfluss auf den wahrgenommenen Wert der Sitzungen, auf die Motivation und Mitwirkung der Besucher*innen, sogar auf den sogenannten ›Erfolg‹ der Maßnahme haben. Abgesehen von einer solchen vielleicht problematisch erscheinenden Zweckorientierung könnte dies auch für die Philosophische Praxis diskutiert werden, gerade wenn man über eine institutionelle Verankerung mit monetä­ rer Unterstützung durch die staatlichen Solidarsysteme nachdenkt, die ja auch in anderer Hinsicht Veränderungen notwendig machen würde. Dies lässt sich indes noch nicht evaluativ aufgreifen, da es bislang nur wenige professionelle Evaluationen zu den Tätigkeiten in der Philosophischen Praxis gibt. Auch müssten für gesicherte Erkenntnisse erst einmal potenziell alle Mitglieder der Gesellschaft die gleichen Möglichkeiten haben, Honorare oder Eintrittsgelder für die Philosophische Praxis zu bezahlen. Die ökonomische Lage selbstständiger Praktiker*innen und ihrer Kund*innen berührt also neuralgische Punkte, die bei der Etablierung dieses Berufsstandes auch von ethischer Relevanz sind.

3.3 Arbeitsformate und Wirkungsformen Die Arbeitsformate und Wirkungsformen der Philosophischen Praxis sind sehr vielfältig und kommen immer nur in einer Auswahl konkret in einer Praxis vor. Gleichwohl soll hier das Spektrum so breit als möglich umrissen werden, wobei möglicherweise nicht alle Formate genannt sind und sich weitere neue Formen mit der Zeit herausbil­ den können.

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3.3 Arbeitsformate und Wirkungsformen

Mit intellektuellem Fokus und philosophischem Bildungsan­ spruch sind öffentliche Publikumsveranstaltungen wie Philosophische Cafés und Salons, Vorträge und Tagungen, Gesprächs- und Diskus­ sionsrunden, Lese- und Lektürekreise, Workshops etc. sehr beliebt. Formal gilt hier: Wann immer man in einem öffentlich zugänglichen Raum Menschen zusammenbringt, sind geeignete Rahmenbedingun­ gen dafür zu schaffen und gesetzliche Vorschriften einzuhalten, z.B. im Bereich der Haftungs- bzw. Versicherungspflicht. In der Pandemie hat sich gezeigt, dass der Staat solche Veranstaltungen ›ex cathedra‹ untersagen oder ihre Gestaltung bis hin zu Gesichtsbekleidungen und Gesundheitsnachweisen regulieren kann. In ethischer Hinsicht ist die soziale Gerechtigkeit bezogen auf die Höhe und Ermäßigung der Eintrittsgelder sowie die Entlohnung der Mitarbeitenden relevant. Nicht nur darin, sondern auch durch respektvolle Umgangsformen drückt sich die Anerkennung der Mitmenschen im gemeinsamen Arbeitsfeld aus. Die philosophisch Leitenden tragen inhaltlich die Verantwortung für die Qualität der Veranstaltung, also die Wahl der Themen, Referent*innen und Moderator*innen, wobei prinzipiell solche Veranstaltungen aus berufsethischer Sicht eher niederschwel­ lig anzusiedeln sind. Der Schaden, der von ihnen ausgehen kann, ist relativ begrenzt, wenngleich mögliche Langeweile nicht unerheblich und u.U. geschäftsschädigend sein kann. Einer guten Diskussionslei­ tung obliegt die Aufgabe, zeitraubende Ko-Referate, diskriminierende Äußerungen, Ins-Wort-Fallen und sonstiges unangemessenes Ver­ halten auszubremsen. Bei einer im Unterschied zu akademischen Veranstaltungen eher heterogenen Öffentlichkeit ist es eine Kunst, verschiedene Sichtweisen und intellektuelle Niveaus in philosophi­ scher Verständigung ansprechend zu moderieren. Gegenüber rein intellektuellen und geselligen Begegnungsformen verschärft sich die Verantwortung aber immer dann, wenn Reflexionen oder gar Übungen zu existenziellen Erfahrungen an die Emotionalität und Verletzlichkeit des Menschen rühren. Da hierbei u.U. die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung aufweichen kann, Selbstentäußerungen oder auch zeitlich versetzte Wirkungen möglich sind, ist beim Einsatz solcher Elemente umsichtig und prozessbeobachtend zu verfahren. Das Denken in und mit Bewegung im Einzelgespräch oder mit kleineren Gruppen auf einem philosophischen Spaziergang ist ein wichtiges, ethisch auch eher niederschwellig anzusiedelndes Angebot. Die Wahl eines geeigneten Ortes, die unterschiedliche körperliche Verfassung der Teilnehmenden, der Zusammenhalt der Gruppe und

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3. Organisatorisches: Konstellationen Philosophischer Praxis

nicht zuletzt das Wetter stellen zuweilen Herausforderungen dar und erfordern Improvisationstalent. Für das Einzelgespräch kann ein gemeinsamer Spaziergang eine besondere Qualität haben und vieles in Fluss bringen, für manche Themen oder Gestimmtheiten ist er aber völlig ungeeignet. Dies richtig einzuschätzen, ist auch ethisch relevant, da die Zuwendung und Verbundenheit im geschütz­ ten Gesprächsraum einer Praxis sich vom tendenziell öffentlichen Aufenthalt in der Natur deutlich unterscheiden. Bei philosophischen Reisen über mehrere Tage ist die Philosophin in eine besondere Sorgekultur bezüglich gruppendynamischer Prozesse gestellt. Hier greifen Ethiken der Gemeinschaft. In der Antike haben sich die Pythagoreer, in der Spätantike Glaubensgemeinschaften, im Mittelalter die Beginen und zuletzt in der Lebensreformbewegung vor allem Kunstschaffende zu Wohn-, Lebens-, und Solidargemeinschaften zusammengeschlossen. Auch wenn solche Lebensmöglichkeiten heute nicht relevant zu sein schei­ nen, sind sie doch in der Philosophischen Praxis grundsätzlich angedacht und wurden etwa von Keyserling mit seinen Exerzitien in begrenztem Umfang ermöglicht. Sie könnten als Spielart einer Philosophie als Lebensform gegen spätmoderne Vereinsamung oder aus anderen Motiven eine Formung erhalten. Solche auf längere Zeit angelegte Lebensgemeinschaften stehen in fortlaufenden, auch ethisch konnotierten Aushandlungsprozessen über das Gelingen des Zusammenlebens. Etwas anders geartet, aber doch auf Gemeinschaft ausgerichtet, ist Ran Lahavs (2016) Idee der philosophischen Kame­ radschaften. Über eine regelmäßige kontemplative Beschäftigung mit Texten sollen tiefe Verstehensprozesse auch in Anbindung an die Gruppe in Gang kommen. Eine solche Praxis unterscheidet sich wie­ derum von längerfristigen Tätigkeiten in themenbezogenen Arbeits­ gruppen und der Projektarbeit, beispielsweise in Vereinen oder Regio­ nalgruppen, die eher diskurs- und/oder öffentlichkeitsorientiert sind. Neben der internen Arbeits- und Kommunikationskultur stehen hier auch mögliche externe Adressaten im Fokus ethischer Ausrichtung. Philosophische Praxis in medizinischen, erzieherischen oder künstlerischen Einrichtungen, z.B. Krankenhäusern, Pflegeeinrichtun­ gen, Hospizen oder Arztpraxen, in Museen, Kindergärten, Schulen und Gefängnissen oder in Unternehmen ist je nach Adressatenkreis und Kooperationsstruktur unterschiedlich einzufassen. Ethisch rele­ vant sind die Angebote hier wie zuvor gestaffelt je nach der Intensität darin verwickelter zwischenmenschlicher Prozesse sowie auch bezo­

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3.3 Arbeitsformate und Wirkungsformen

gen auf das eigene Berufsethos mit Blick etwa auf das nicht oder kaum selbst gestaltbare Arbeitsumfeld und die darin eingetragenen Haltungen. In solchen Einrichtungen wie auch in der eigenen Philoso­ phischen Praxis können Veranstaltungen für besondere Personenkreise angeboten werden. Breit entwickelt ist das Philosophieren mit Kin­ dern und Jugendlichen. Diese Arbeit bedarf einer sorgfältig ausgear­ beiteten, am Alter der Heranwachsenden orientierten Berufsethik, die Rücksicht auf das kindliche respektive jugendliche Wohl und den Verantwortungskontext der Erziehungsberechtigten nimmt. Neben dem Philosophieren mit Heranwachsenden sind weitere Angebote mit Personengruppen möglich, die Gemeinsamkeiten aufweisen, wie z.B. mit Menschen, die an bestimmten Krankheiten leiden, mit schwer und lebensbedrohlich Erkrankten, mit Menschen, die von Beeinträch­ tigungen oder Behinderungen betroffen sind, mit Schwangeren und werdenden Eltern, Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch, Eltern in Erziehungsaufgaben, pflegenden Angehörigen, Menschen in Tren­ nungsprozessen etc. Die Ausrichtung dieser Gruppenarbeit bedarf einer teils hohen Verantwortungskultur und u.U. auch weitergehen­ der Qualifizierungen. In Zeiten zunehmender Säkularisierung aller Lebensbereiche und des Wegfalls von vormals durch die Religionen vorgenommenen Ritualisierungen des Lebens, der Lebensabschnitte und biographi­ schen Umbruchphasen, aber auch der Zyklen der Natur, werden philosophisch Praktizierende immer wieder um Begleitung besonderer Ereignisse und Lebenslagen gebeten. Dabei geht es häufig um sinn­ stiftendes Aufgreifen der entsprechenden Situationen, mit Anspra­ chen vor kleineren oder größeren Gruppen, wie z.B. Begrüßung von Neugeborenen, Rituale zur Paarbindung, Verabschiedung von Familienmitgliedern oder Moderation von Beerdigungen. Hier sind Takt und Haltung bedeutsam, aber ebenso einfühlsame Kenntnis der Wechselfälle des Lebens. An diesen Beispielen zeigt sich die Univer­ salität der Philosophischen Praxis, wenn es darum geht, Menschen in allen Lebenslagen kundig und orientierend zu unterstützen. Die ethische Verantwortung greift stets in besonderer Weise dort, wo es um intersubjektives Geschehen geht. Sie verschärft sich immer dann, wenn sich dieses von einer eher distanzierten intellektuellen und sachlich orientierten hin zu einer persönlich exis­ tenziellen Bezogenheit entfaltet. Letzteres betrifft die individuelle Begegnungskultur in der Sprechstunde, die häufig als Beratung ange­ boten wird und von solidarischer Partizipation intensiver getragen

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3. Organisatorisches: Konstellationen Philosophischer Praxis

ist als andere Angebote. Die Besucher*innen wenden sich, um Orien­ tierung ringend, mit Sinn- und Lebensfragen und mit einem häufig ihre Bedürftigkeit und Verletzlichkeit betreffenden Anliegen an die Philosophierenden, können sich sogar in Not und Leid befinden. Daher kommt diesem Arbeitsformat berufsethisch eine besondere Aufmerksamkeit zu. Es ist auch für die Selbstfürsorge der philoso­ phisch Praktizierenden sowie eine begleitende Inter- und Supervision besonders wichtig. Das Leben kann einen Menschen in Lagen versetzen, die er nicht alleine meistern kann oder möchte. Dazu gehören Widerfahrnisse aller Art, die z.B. einen temporären Aufenthalt in der Öffentlich­ keit zum Aufsuchen einer Philosophischen Praxis verhindern. Hier greifen dann Spezialangebote, die einer besonderen Abwägung und strukturellen Einfassung bedürfen. Hausbesuche und Sprechstunden auswärts, z.B. in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen, sind eine Möglichkeit philosophischer Fürsorge außerhalb der gewöhnli­ chen Arbeitsumgebung. Hier gilt aber unter Berücksichtigung der leiblichen Verfassung des Klienten Ähnliches wie für die reguläre Sprechstunde in der Praxis oder auf einem Spaziergang. Handelt es sich um den plötzlichen Einbruch einer Lebenskrise, könnten auch eine (gegebenenfalls virtuelle) Akutsprechstunde oder eine Art Notfalltelefon ein mögliches Angebot sein. Solche Wirkungsformen stehen unter besonderen Vorzeichen. Nicht in jedem Fall ist Philo­ sophieren eine sinnvolle Option. Es ist hier wichtig, dass die Prakti­ zierenden krisenbewährt und menschenkundig sind, ihre Grenzen kennen und gut mit Ärzten, Psychiaterinnen, Psychotherapeuten, Sozialarbeiterinnen etc. vernetzt sind, um im Bedarfsfall weiterge­ hende Maßnahmen ins Spiel zu bringen oder konkret einzuleiten.

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TEIL II: SITUATIONEN: INTERPASSIONEN UND INTERAKTIONEN

Im Unterschied zu den nach formalen Kriterien und einzelnen Fak­ toren erschließbaren Konstellationen sind die Situationen Philosophi­ scher Praxis, um ein Begriffspaar von Schmitz heranzuziehen, mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aufgeladen und nur aus komplexen Zusammenhängen heraus zu verstehen. Dies wird durch die leibliche Eingelassenheit unserer Existenz deutlich. Der Mensch ist gleichur­ sprünglich durch leibliche Dispositionen konstituiert und in lebens­ weltlichen Zusammenhängen situiert. Diese Eingewobenheit in die Welt wird meist aktiv als Handeln, im Sinne eines Er- und Eingreifens verstanden. Auch die zwischenmenschlichen Vorgänge werden häufig nur als Interaktionen verstanden. Tatsächlich verlaufen die meisten damit verbundenen Prozesse allerdings passiv bzw. pathisch, so dass man mit Nachdruck auch von Interpassionen sprechen sollte. Hier wird der Leib als Resonanzraum virulent und mit ihm die Vielschichtigkeit des konkreten Geschehens in der Philosophischen Praxis.

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

4.1 Homo Hapticus Der Mensch entfaltet schon im Mutterleib eigenständige hochkom­ plexe Sensorien, Motorien und Responsorien, also leiblich fundierte Sinnes-, Bewegungs- und Reaktionsgefüge, die zeitlebens und unab­ dingbar in die Umgebung involviert seine gesamte Lebenslage imprä­ gnieren. Dem Tastsinn, dessen Bedeutung in den letzten Jahrzehnten eingehend erforscht wurde, kommt dabei als eine Art biologisches Supersystem eine ausgezeichnete Rolle zu. Von ihm ausgehend sind wir unablässig in fluide Responsivität mit der Welt gleichsam einge­ taucht, was sich nicht nur an unserer Fähigkeit zur leiblichen Lotung bemerkbar macht, sondern auch in der Weise, wie wir mit anderen Menschen in Kontakt treten – um nur zwei bedeutende Beispiele zu nennen. Der Tastsinn grundiert jegliches In-Kontakt-Sein mit der Welt. Eindrucksvolle Fakten zur Wirkung des Tastsinns u.a. auf unser Denken, Fühlen und Handeln liefert das Haptik-Labor an der Univer­ sität Leipzig, das im Jahr 1996 von dem Psychologen und Hirnforscher Martin Grunwald gegründet wurde. Dort werden neue Messverfahren und körperorientierte Therapieansätze entwickelt, aber auch Fragen des Haptic Design für die Industrie beantwortet. In naturwissenschaftlicher Perspektive präsentiert sich der Tast­ sinn als ein komplexes Spürsystem, das sich vor allen anderen Sinnen schon wenige Wochen nach der Befruchtung herausbildet. Grunwald (2017, 25) schreibt, »dass jede Zelle in der Lage ist, physikalische Veränderungen der eigenen Oberfläche zu registrieren und sich in gewissen Grenzen durch Eigenbewegungen an diese Veränderungen anzupassen«, und diese Fähigkeit »kann man sich als einfachste Form der Berührungs- und Kontaktsensibilität vorstellen«, die sich über biochemische Signalketten rasend schnell im Organismus verbreitet. Hier wirkt ein Naturgesetz, das Grunwald (ebd.) Kontaktgesetz nennt. Schon beim Embryo antwortet das gesamte Zell-Ensemble auf einen

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

Druckreiz an den Lippen. »Bis zur 14. Schwangerschaftswoche wird sich die passive Berührungssensibilität auf alle Körperregionen aus­ dehnen und für taktile Reize empfänglich werden.« (Ebd.) Und wenige Tage später hat der Fötus sein Bewegungsrepertoire meist vollständig entwickelt, d.h. er nimmt Lage- und Positionsveränderungen der Gliedmaßen und des Kopfes vor, Streckbewegungen des Körpers und Eigenberührungen des Gesichts, er kann die Hände öffnen, einzelne Finger bewegen. So gelingt es dem Fötus, ohne sehen zu können, seinen Daumen zum Mund zu führen und den Saugreflex zu stimulieren. Am Ende haben sich drei Teilleistungen des Tastsinnsys­ tems herausgebildet: Die Exterozeption, »die es dem Organismus ermöglicht, von außen auf den Körper einwirkende physikalisch-chemische Ereignisse – z.B. die Wärme der Sonnenstrahlen oder die Hautverformung durch einen Berührungsreiz – zu registrieren und neuronal zu verarbeiten«. Die Interozeption, »die es dem Organismus erlaubt, den spezifischen Versorgungs- und Aktivierungszustand des gesamten Körpers und seiner Organe zu registrieren und neuronal zu verarbeiten – beispiels­ weise Schmerzen oder die Tätigkeit von Organen und Muskeln«. Die Propriozeption, »dank derer der Organismus den Status und die Veränderung der räumlichen Lage des Körpers und der Gliedmaßen (einschließlich des Kopfes) in Bezug zu sich selbst und in Relation zur Schwerkraft registrieren und neuronal verarbeiten kann. Beispiel: Positionswahrnehmung der Körperglieder in völliger Dunkelheit.« (Ebd., 253f.) Nun ist ein Großteil der Arm- und Handbewegungen des Fötus auf den eigenen Körper gerichtet, besonders auf das Gesicht. Neuro­ biologisch wird dahinter eine lebensnotwendige Selbststimulation vermutet. Gesichtsberührungen nehmen z.B. in Korrelation zum subjektiv empfundenen Stresslevel der Mutter zu, ebenfalls häufiger sind sie bei Föten, deren Mütter rauchen. Schlüssig erscheinen solche Befunde, wenn man davon ausgeht, dass diese Selbstberührungen zu einer »Veränderung des neurochemischen Zustands« führen, dass sie also »eine physiologische und emotionale Beruhigung bewirken, was sich unter anderem in einer Verlangsamung der Herzfrequenz äußert«. Der Fötus ist somit »den mütterlichen Stressoren nicht völlig hilflos ausgesetzt, sondern kann durch die aktive Stimulation seiner Gesichtshaut seinen neurophysiologischen Zustand teilweise selbst regulieren«. – Welche Erkenntnisse sich daraus für das Verständnis von Individuation ergeben, lässt sich noch nicht ermessen. Interessant

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4.1 Homo Hapticus

ist jedenfalls, dass auch Erwachsene, kulturell variierend mal mehr mal weniger, aber doch allgemein »im Laufe eines Tages ca. 400 bis 800 derartige Selbstberührungen« ausführen und ein komplexes Verhaltensmoment zeigen, das sie »bereits als Föten generiert haben« (ebd., 35f.). Die größte Tastsinneslernerfahrung des Fötus besteht darin, »den eigenen Körper und sich selbst wahrzunehmen und zu erkun­ den«. Er entwickelt ein neuronales Konzept seiner Körperlichkeit, das Körperschema. Seine zentrale Leistung ist »die sichere Beurteilung dessen, was an unserem Körper hinten und vorn, oben und unten ist« und eine »räumliche und auch zeitliche Relation zwischen dem eige­ nen dreidimensionalen Körper und der dreidimensionalen Außenwelt herzustellen« (ebd., 42f.). Dieses Körperschema ist wesentlich »für die biologische Reifung eines körperlichen Selbst und eines Ichbewusst­ seins«, schreibt Grunwald (ebd., 44). Leibphänomenologisch spreche ich weitergehend vom leiblichen Lot bzw. leiblicher Lotung, in der unser Selbstgefühl zum Ausdruck kommt. Neben dem Körperschema entwickelt der Fötus ein weiteres internes Konzept, das sich »lebenslang im Gedächtnis verankern wird« (ebd., 45): Das Konzept von Nähe, hier primär durch das Einge­ bundensein in den Schutz- und Wachstumsraum der uteralen Umge­ bung. »Die Verknüpfung der umfassenden Körperberührung durch den Mutterbauch mit positiven Emotionen wird sinnvollerweise zu einem universellen Konzept von Nähe.« Einfach formuliert: »Etwas, das meinen Körper berührt, zugleich warm und weich ist, ist gut für meinen Körper.« (Ebd., 47) Das Nähekonzept ist Bedingung dafür, dass der Säugling nach der Geburt sofort positiv auf den Kontakt zur Mutter reagieren kann. Hilflos und extrem weltoffen, ist er auf die Fürsorge anderer angewiesen, auf wohlwollende Berührung durch ihre Körper, Blicke und Ansprachen. Das Konzept der Ferne entwickelt sich erst mit der haptischen und oralen Exploration der äußeren Welt, zunächst im innigen Körperkon­ takt mit den Bezugspersonen, dann in kontinuierlicher Bezogenheit auf sie, etwa durch den gesuchten Blickwechsel, schließlich in größerer Distanz zu ihnen. Heranwachsende entziehen sich Zug um Zug dem Nahraum ihrer Eltern. Nichts schützen wir Erwachsenen dann so sehr vor unmittelbarem Kontakt durch Gewalt, Unachtsamkeit etc. wie unseren Körper. Andererseits fürchten wir aber auch das »Gegenteil von Nähe: die Einsamkeit – im körperlichen wie im emo­ tionalen Sinn« und suchen wohltuende Berührungsinteraktionen. Die

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

positiven Veränderungen des körperlichen Gesamtzustands und des leiblichen Befindens durch Berührungen sind naturwissenschaftlich umfänglich belegt (vgl. auch R. Böhme 2019). Die Wirkungen auf den Blutdruck, den Hormonspiegel, das Immunsystem, die Öffnung der körpereigenen Apotheke und die Aktivierung des Drogenlagers mit seinen Glücks-, Wohlfühl-, Behaglichkeitsstoffen sind beein­ druckend. Unabhängig von allen diesen objektiv ermittelbaren For­ schungsergebnissen erleben wir subjektiv in der Regel wohlwollende körperliche Berührungen als extrem angenehm und können meist gar nicht genug davon bekommen. In jedem Lebensalter hinterlässt das Fehlen menschlicher Nähe »tiefe seelische Furchen«, schreibt der Haptikexperte Grunwald (2017, 47), »die im Säuglingsalter sogar zum Tod führen können«. Die Berührungsempfindlichkeit des Tastsinnsystems hält indes bis ins hohe Alter an und selbst ein gradueller Verlust lässt sich aus­ gleichen. Auch darin unterscheidet sich das überlebensnotwendige, den gesamten Körper durchziehende Tastsinnsystem von den anderen Sinnen. Der Tastsinn ist so besonders, weil man dessen Rezeptoren nicht nur, wie bei den anderen Sinnen in regional umgrenzten Berei­ chen, sondern fast überall vorfindet, außer im Gehirn, in Knorpel- und Hornhautgewebe und den meisten Organen. »Aufgrund ihrer großen Fläche, die mit ca. zwei Quadratmetern der Größe eines mittelgroßen Esstischs entspricht, ist die menschliche Haut nicht nur das größte Organ des Menschen, sondern enthält auch eine sehr hohe Anzahl tastsensibler Rezeptoren. Besonders zahlreich sind sie an den Haarfollikeln, an den Fingerspitzen, der Zunge, den Genitalien und den Lippen. Ob jedoch die Haut die Körperregion mit den meisten tastsensiblen Rezeptoren ist, kann bezweifelt werden, denn die sonstigen Bindegewebsstrukturen im Körper – einschließlich der Knochenhäute – sind ebenfalls mit tastsensiblen Rezeptoren aus­ gestattet, außerdem die Schleimhäute, die Wände von Venen und Arte­ rien, die Muskeln, die Sehnen und Gelenke.« (Grunwald 2019, 96f.)

Pausenlos, auch im Ruhezustand, senden diese tastsensiblen Rezep­ toren über die angeschlossenen Nervenfasern eine gigantische Flut von Milliarden elektrischer Impulssalven ans Gehirn. So können wir Berührungsreize an der Haut stets sofort und nicht erst verzögert wahrnehmen. Grunwald vermutet, dass »dieses permanente Hinter­ grundrauschen die biologische Basis für unser stetiges Körpererle­ ben und auch für unsere Bewusstseinstätigkeit darstellt«. Und er räumt ein, »es ist dieser unglaublichen Menge an Rezeptorimpulsen

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4.2 Körper und Leib

geschuldet, dass es uns immer noch so schwerfällt, die Entstehung bewusster Wahrnehmungen vollständig zu verstehen« (ebd., 98). Prinzipiell dürfte aber insoweit zu bedenken sein, was Thomas Met­ zinger (2014, 23) als »Ego-Tunnel« bezeichnet: »Die moderne Neurowissenschaft hat gezeigt, dass der Inhalt unseres bewussten Erlebens nicht nur ein inneres Konstrukt, sondern auch eine höchst selektive Form der Darstellung von Information ist. Darum ist Bewusstsein wie ein Tunnel: Was wir sehen und hören oder ertasten und erfühlen, was wir riechen und schmecken, ist nur ein kleiner Bruchteil dessen, was tatsächlich in der Außenwelt existiert. Unser bewusstes Wirklichkeitsmodell ist eine niedrigdimensionale Projek­ tion der unvorstellbar reicheren und gehaltvolleren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt und uns trägt. Die Leistungsfähigkeit unserer Sinnesorgane ist begrenzt: Sie entstanden im Lauf der Evolu­ tion und verbesserten die Überlebenschancen der Individuen, aber sie wurden nicht mit dem Ziel entwickelt, die enorme Fülle und den Reichtum der Wirklichkeit in all ihren unauslotbaren Tiefen wahrheits­ getreu abzubilden. Aus diesem Grund ist der kontinuierlich ablaufende Vorgang des bewussten Erlebens weniger ein Abbild der Wirklichkeit als vielmehr ein Tunnel durch die Wirklichkeit.«

4.2 Körper und Leib Bevor die Haptik-Forschung ihre präzisen Ergebnisse vorgelegt hat, wurde in der Philosophie ein lange ausgeblendeter Phänomenbezirk virulent: der Leib mit seinen Regungen, Erfahrungen und Widerfahr­ nissen, also Angst und Schmerz, Hunger und Durst, Schreck und Ekel, Frische und Müdigkeit, Begehren und Trauer, Scham und Zorn, Mitgefühl etc. Der spürbare Leib im Unterschied zum dinghaften Körper wurde anfänglich von Edith Stein, Edmund Husserl und Max Scheler entdeckt, dann von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Maurice Merleau-Ponty, schließlich von Bernhard Waldenfels, Her­ mann Schmitz und Gernot Böhme intensiv beforscht (vgl. Gahlings 2008). Die geschlechtliche Differenzierung – ein weiterer blinder Fleck der Philosophie, der sich sogar in diesem Feld fortzusetzen drohte – haben zuerst Stein und Beauvoir, dann die feministischen Theoretikerinnen und die Gender Studies erschlossen (vgl. Gahlings, 2016, 19–142). Wie schon Schopenhauer herausarbeitete, ist der Körper sowohl Objekt unter anderen Objekten, Ding in der Dingwelt, zugleich

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

aber stets spürbarer Leib. Tatsächlich handelt es sich um das einzige ›Objekt‹ in der Welt, zu dem wir auch eine andere Zugangsweise, nämlich die subjektive haben. Dieser Umstand bedingt zahlreiche Berührungsmodifikationen. Edith Stein forderte ihre Studierenden auf, mit der Hand den Tisch zu berühren und die erfahrbaren ›Sin­ nesdaten‹ zu beschreiben. Husserl regte an, bei ineinandergelegten Händen das Berühren und das Berührt- Werden der einen bzw. ande­ ren Hand zu erspüren. Welche Änderung ergibt sich erst, wenn meine Hand die Hand eines anderen berührt? Unsere Wahrnehmung kann taktil sein, wenn der Körper durch ein Ding der Außenwelt verformt oder berührt wird, oder haptisch, wenn wir selbst etwas berühren oder verformen; oder beides zugleich. Dabei ist der Körper unentwegt mit irgendeinem Ding der äußeren Welt verbunden: der Körper, selbst Materie, berührt andere Materie, so will es die Gravitation. Meine Füße berühren den Boden, mein Becken berührt den Stuhl usw. – das ist uns nicht immer bewusst, weil das Tastsinnsystem und die anderen Sinne überwiegend unbemerkt funktionieren. Aber ich kann dorthin spüren, wo meine Füße den Boden berühren. Zu jedem Zeitpunkt habe ich auch ohne Zuhilfenahme der äußeren Sinne Kenntnis meiner eigentümlichen Räumlichkeit, meiner individuell in den Raum ergossenen Leiblichkeit. Berührungen fühlen sich unterschiedlich an und jede Sprache verfügt über zahlreiche Wörter, um Berührungsempfindungen wie­ derzugeben: Sie können weich, sanft, zart bis zärtlich, roh, rau, grob, schmerzhaft, angenehm, unangenehm etc. sein. Dort, wo wir berührt werden, bildet sich aus einer zuvor völlig eingeebneten Gemenge­ lage eine Spürinsel heraus. Wir erfahren diese Region manchmal annähernd präzise abgegrenzt, etwa bei einem Insektenstich, meist präsentiert sie sich aber mit diffusen Rändern. Unser Spürvermögen endet auch nicht an der Grenze der Haut, sondern geht weit über diese hinaus. In vielen Verrichtungen sind wir passiv und aktiv durch Phänomene von Einleibung mit der Dingwelt verbunden (vgl. Schmitz 2005, 137ff.). Beim Anziehen spüren wir die Kleidung kurzfristig durch ihre Berührung auf der Haut, bald aber wird sie zu einer Art zweiter Haut. Weniger trivial sind objekthafte Erweiterungen des Spürraums. Der Philosoph und passionierte Motorradfahrer Matthew B. Crawford (2016, 86ff.) beschreibt, wie er durch die Reifen seines Gefährts die Beschaffenheit des Straßenbelags spürt und sein Fahr­ verhalten darauf abstimmt. Ähnliches wird von Sportlern oder Chir­ urginnen in ihren jeweiligen Zeugzusammenhängen berichtet. Doch

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4.2 Körper und Leib

schon beim Kartoffelschälen erfolgt eine konzertierte dynamische Einleibung von Messer, Händen und Kartoffel, die im ganzen Leib mitschwingt. Metzinger (2014, 120) spricht von einer Integration des Werkzeugs in das bestehende Körpermodell, die sich im »neuronalen Substrat des Körperbilds im Gehirn widerspiegelt«. So könne »wie­ derholte Übung die äußerste Spitze eines Werkzeugs in einen Teil der Hand verwandeln«, und das Werkzeug dann oft »mit genau der­ selben Empfindsamkeit und Geschicklichkeit« benutzt werden (ebd., 119). Evolutionär betrachtet sei diese Fähigkeit Vorbedingung für die Ausdehnung des Handlungsraums. Intensiv und hochkomplex sind Einleibungen im Bewegungskontakt, insbesondere zwischen zwei Menschen, etwa beim Paartanz, oder mit Tieren, etwa beim Reiten. In hervorgehobenen Leibesregionen, die Schmitz als Leibes­ inseln bezeichnet, finden Einverleibungen von Materie statt (vgl. Schmitz 2005, 119ff.). Die orale Zone ist eine ausgezeichnete Region für das Spüren des leiblichen Dialogs von Enge/Weite und Span­ nung/Schwellung in der Aufnahme von Nahrung. Doch auch beim Sprechen ist diese Zone in enger Verbindung mit anderen Inseln, die sich dabei herausbilden, z.B. gestikulierenden Händen. Für die anale Zone sind Ausleibungen typisch. In der genitalen Zone der Frau kann sich eine ungeheure Bandbreite von Einleibung, Einverleibung und Ausleibung manifestieren. Füße und vor allem Hände sind ebenfalls bedeutsame Leibesinseln. Welche Komplexität ihren Bewegungen und Ausrichtungen bezogen auf den eigenen Körper und in Kontakt mit der Dingwelt zugrunde liegen, wird augenfällig, wenn wir auch nur geringfügige Einschränkungen in diesem Bereich erleben. Die gesamte leibliche Ausrichtung ändert sich zwangsläufig. Diese Kom­ plexität kann von mimetischen Technologien noch nicht annähernd abgebildet werden: Wenn in der Robotik humanoide Maschinen mit menschenähnlichen Bewegungsabläufen programmiert werden, kann von Eleganz, Geschmeidigkeit, Stand- und Greiffestigkeit selbst bei hoher Rechenleistung noch kaum die Rede sein. Von den häufigen Selbstberührungen aller Menschen, bevorzugt im Gesicht, war schon die Rede. Ebenso berühren sich einzelne Lei­ besglieder ganz von selbst: Die Beine sind übereinandergeschlagen, die Arme verschränkt, Finger, Augenlider und Lippen, die weiblichen Schamlippen berühren sich. Wir werden durch körpereigene Flüssig­ keiten berührt: Schweiß und Tränen strömen auf der Haut; ungefragt bahnen sich Menstruationsblut und Fruchtwasser ihren Weg; in Responsivität zum Säugling oder in emotionaler Rührung spritzt und

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

tropft einer Stillenden zuweilen die Milch aus der Brust. Und wir berühren unseren Körper absichtsvoll, in der Körperpflege oder wenn wir uns kratzen. Indes kann man sich zwar nicht selbst kitzeln, aber zum Orgasmus führen. Vielfältig berühren wir andere Menschen und wir werden von ihnen berührt, ob willkürlich oder unbeabsichtigt, wohltuend und intim, neutral, übergriffig oder gewalttätig. Hier kann sich auswirken, was Schmitz (1995, 126) in seinem Alphabet der Leiblichkeit unabhängig von den allgemeinen leiblichen Kategorien Enge und Weite sowie Spannung und Schwellung als protopathische und epikritische Tendenzen im Leiberleben nennt: »Protopathisch ist die Tendenz zum Dumpfen, Diffusen, Ausstrahlenden, worin die Umrisse verschwimmen, epikritisch die schärfende, spitze, Punkte und Umrisse setzende Tendenz.« In den Berührungen der leiblichen Liebe kommt wohl beides immer wieder zum Tragen. Für manche Leibeszonen gelten, etwa aufgrund ihrer besonde­ ren Reaktionsfähigkeit, Berührungstabus, die nur unter besonderen Bedingungen aufgehoben werden. Auch für ganze Menschengruppen wurden bzw. werden Kontaktverbote ausgesprochen, wie unlängst durch die Pandemie. Im christlichen Mittelalter gehörten dazu z.B. Menstruierende und Wöchnerinnen oder in Indien die Kaste der ›Unberührbaren‹. Allgemein gibt es entlang der in den Lebensfor­ men ausgehandelten Vereinbarungen zahlreiche Berührungsetiket­ ten. Werden diese nicht beachtet, folgen Sanktionen bis hin zu strafrechtlicher Verfolgung. Der Begrüßungshandschlag entstand ursprünglich als eine Geste, bei der man sich wechselseitig versi­ cherte, keine Waffe in der Hand zu haben. Dass bestimmte Berüh­ rungsformen auch Herrschaftsausübung bedeuten, z.B. in den Hier­ archien von Klasse, Rasse, Geschlecht und sexueller Orientierung, wurde in der Me-Too-Bewegung erneut offenkundig. Auch ohne unmittelbaren körperlichen Kontakt werden wir durch die Blicke, die Ansprachen, die Gefühle sowie das Leiden ande­ rer berührt und erfahren, dass auch sie durch uns berührbar sind. In leiblicher Resonanz mit der Um- und Mitwelt reagieren wir auf Halb­ dinge wie das Wetter, auf Klänge und Musik, Duft und Gestank sowie auf Atmosphären aller Art in Natur und Kunst sowie auf Stimmungen, die wir in Menschengruppen und Behausungen vorfinden. Wir lassen uns auf sie ein, wehren sie ab oder sind ihnen hilflos ausgeliefert. Wir interagieren durch Berührungen auch mit Lebewesen anderer Gattungen, unfreiwillig, teilweise angstbehaftet durch Koexistenz im Lebensraum, und absichtsvoll, wobei wir speziezistisch Macht über

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4.3 Leibliche Lotung, Selbstgefühle und Lebensformung

die Freiheit und das Leben von Nutztieren ausüben oder Haustiere zur Befriedigung sozialer Bedürfnisse im körperlichen Nahbereich halten. In allen Modifikationen des Selbstgefühls sowie von Berühren und Berührtwerden ist der Leib eine persönliche Situation, eingebettet in kollektiv gewachsene Lebensformen und eine biographische Genese, die durch individuelle Lotung Subjektivität konstituiert.

4.3 Leibliche Lotung, Selbstgefühle und Lebensformung Wenn der Mensch nach der Geburt seinen Körper außerhalb der uterinen Umgebung ›bewohnen‹, ja ›erobern‹ lernt, so geschieht dies dadurch, dass er, anfänglich in mühsamen Ausrichtungsprozessen, seine Mobilität entwickelt, sein leibliches Lot findet und leibliches Selbst wird. Dieser Prozess nimmt einige Zeit in Anspruch. Anfäng­ lich liegt der Neuankömmling einfach nur ›herum‹, und zwar dort, wo ihn die für ihn lebensnotwendigen Bezugspersonen ablegen. Er ist der Ortsveränderung überhaupt nicht eigenständig fähig und erfährt diese ausschließlich durch andere Menschen, die ihn aufheben, herumtragen etc. Die Muskulatur des Bewegungsapparates bildet sich erst noch vollständig aus. Zunächst bewegt der Säugling nur die Arme und Beine, die Hände (Schließreflex) und Füße sowie in gewissem Umfang seine Gesichtsmimik. Eigenständige Ortsverände­ rung erarbeitet der Säugling dann durch das Herumrobben, -rudern und -wackeln mit den Armen in Bauchlage, das Sich-Drehen um die eigene Körperachse, das Krabbeln, das Hochziehen und Aufrichten, schließlich auf noch wackeligen Beinchen und mit häufigem Hinfallen das Schreiten und Gehen. Für alle diese Vorgänge sind die Interaktionen des Tastsinn­ systems mit den anderen Sinnen für eine Austarierung des Gleich­ gewichts bzw. für die individuelle Stellung des Menschen in der Welt bedeutsam. Leibphänomenologisch verstehe ich unter leiblicher Lotung einen übergeordneten Phänomenbezirk leiblich-räumlicher Situierung, der auch das affektiv-emotionale Resonanzvermögen integriert, das den Leib subjektiv durchzieht. Hier ist, um beim Bei­ spiel des kleinen Kindes zu bleiben, das seine Mobilität erobert, nicht nur an die Schmerz- und Frustrationstoleranz beim Gehenlernen, sondern auch an die mit Freude und Ekstase bedachten Erfolge bei erfolgreicher Bewältigung der gleichsam von der Natur gestellten Aufgaben zu denken. Es geht also noch um anderes als den Leib

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

als ›Nullpunkt der Orientierung‹ bei Stein und Husserl oder als ›Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte‹ bei Merleau-Ponty, auch um anderes als die ›Theorie der Leibesinseln‹ bei Schmitz oder die ›Situa­ tions- und Positionsräumlichkeit‹ bei Waldenfels (vgl. Gahlings 2016, 116ff). Die leibliche Lotung betrifft die Weise, wie der Mensch sich in seiner Stimmung, als leiblich erstreckter Raum und im Raum, präziser auf dem Boden, mit den Dingen und Halbdingen sowie mit den anderen Lebewesen in seiner Umgebung spürt. Mit Blick auf die an Widerständen erfolgende Ausrichtung beruht die leibliche Lotung auf Einleibung, getragen durch die Einpassungen in die Lebensformen und individual-biographische Erfahrungen, die sich im Leibgedächt­ nis anlagern. So verweist das leibliche Lot auf die von Schmitz (1995, 115ff.) bezeichnete »leibliche Ökonomie«, das In-der-Mitte-Stehen zwischen Enge und Weite, zwischen personaler Regression und per­ sonaler Emanzipation, und drückt als basale leibliche Disposition die durch aktuelle Befindlichkeit eingefärbte Haltung des Menschen zu sich und zur Welt aus. Die vor Freude hüpfenden Kinder, die leichtfüßig ›schwebenden‹ Verliebten, der hochfahrende Zornige, die niedergedrückte Traurige, sie alle loten nicht nur eine Körpermasse aus, sondern fühlen ihren Leib in situativer Lotung. Zugleich sind sie prinzipiell offen, ja anfällig für spontane Änderungen ihrer Lage. So kann die stolz geschwellte Brust und der triumphale Gang eines Studenten, der gerade seine Masterprüfung bestanden hat, schlagartig weichen, wenn er in einen Raum hereinplatzt, in dem ein aggressiver Ehestreit tobt oder eine Trauergemeinschaft versammelt ist. So kann ein schwer an seinem Leib schleppender Betagter sich mit einem Mal aufrichten und leicht fühlen, wenn er die heitere Stimme seiner Enkelin hört. Und so mag eine Frau, die zu später Stunde in eine Kneipe kommt, um Hilfe bei einer Autopanne zu erfragen, sich sehr unbehaglich fühlen, wenn sie von den Blicken betrunkener Männer auf ihre Weiblichkeit hin taxiert wird. Möglicherweise ist ein Mensch aber durch inter­ generationale Vorbelastungen, persönliche Traumatisierungen oder kulturelle Zwangslagen nur bedingt ansprechbar oder selektiv aufge­ schlossen für atmosphärische Eindrücke. Derartige Imprägnierungen der Resonanzfähigkeit können eine solche Tragweite haben, dass man Situationen nicht adäquat einschätzt und sogar in Gefahr gerät oder Wiederholungsmustern verfällt. Mit der leiblichen Lotung hängt zusammen, was im Jahr 1910 die Phänomenologin Else Voigtländer, die erste in Deutschland pro­

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4.3 Leibliche Lotung, Selbstgefühle und Lebensformung

movierte Philosophin, in ihrer Dissertation über das Selbstgefühl erforscht hat (vgl. zu Voigtländer insgesamt Vendrell Ferran 2023). Schon in ihren methodologischen Überlegungen wird deutlich, dass sie den Menschen über sein »Selbstgefühl« fassen möchte, also über das, das er an sich und als sich spürt, und gerade nicht über eine Betrachtung oder gar Bewertung von außen. Sie markiert zunächst ihr Gegenstandsgebiet über eine Liste von »Eigenschaftstypen«, »die unter dem Namen ›das Selbstgefühl‹ zusammengefasst, eine geschlossene Gruppe bilden«. Diese Liste orientiert sich an Zuord­ nungen auf der Basis von Gepflogenheiten des allgemeinen Sprachge­ brauchs: »1. Selbstvertrauen, Mut, Sicherheit; Zufriedenheit, Zuversichtlich­ keit; Selbstbejahung; Selbstverneinung, Mangel an Selbstvertrauen, Selbstzweifel, Mutlosigkeit, Kleinmut; Feigheit. 2. Selbstbewusst­ sein, Stolz, Sicherheit; Hochmut, Eingebildetheit, Dünkel, Selbstüber­ schätzung, Anmaßung, Größenwahn; Bescheidenheit, Demut, Unsi­ cherheit, Selbstunterschätzung; Unterwürfigkeit, kriechendes Wesen; Schüchternheit. 3. Reue, Zerknirschung, Schuldbewusstsein, Scham, schlechtes Gewissen; Achtung, Billigung, gutes Gewissen. 4. Ehrgeiz, Anerkennungsbedürfnis, Ruhmsucht; Stolz auf Rang, Titel usw. 5. Eitelkeit, Selbstbewunderung, Selbstgefälligkeit; Pose, Manieriertheit, Ruhmredigkeit, Koketterie; Bescheidenheit, Schlichtheit, Einfachheit, Prunklosigkeit; Scheu, Scham, Befangenheit.« (Voigtländer 1910, 5)

Selbstgefühle, wie sie hier in schillernder Vielfalt gelistet sind, zeich­ net Voigtländer nun dadurch aus, dass sie sich zwar in Gefühlen, Stimmungen, Wünschen etc. stets mitausdrücken, aber sich aus den übrigen Gefühlen herausheben, so dass »in ihnen das erlebende ›Selbst‹ in einer besonderen Konzentrierung da ist« (ebd., 10). Dies geschieht zuweilen durch einen Anlass, der das Selbstgefühl als »Persönlichkeitsbewusstsein« (ebd., 11) tangiert und sich auf dieses gewissermaßen erhebend oder niederdrückend auswirkt. Voigtländer trifft hier einen empfindlichen Punkt: Die solcherart tangierte Per­ sönlichkeit kann deshalb ›getroffen‹ oder ›erhoben‹ werden, weil der Anlass das Bewusstsein eines Wertes von sich selbst berührt. Es handelt sich also bei den Selbstgefühlen um Selbstwertgefühle, so Voigtländers These (ebd.): »Wir bestimmen also das Selbstgefühl als eine gewisse Wertauffassung von der eigenen Person.« Sie arbeitet heraus, dass der Mensch sich in diesem Selbstgefühl nicht selbst zum Gegenstand machen kann: Es ist nicht Selbsterkenntnis, sondern Füh­ len des eigenen Wertes. Es handelt sich um eine ganz »eigentümliche

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

Tatsache«, »ein gefühlsmäßiges Wertbewusstsein seiner selbst, das jeder mit sich herumträgt und das Schwankungen unterliegt.« Noch einmal wörtlich (ebd., 19): »Durch seinen Konzentrationsmittelpunkt, das ›Selbst‹, wird es zu einem einzigartigen Bestandteil des seelischen Lebens; durch das in ihm vorhandene ›affektive‹ Moment der Gehobenheit – Depression nimmt es teil an der Gefühlsdimension Lust – Unlust; und durch die Eigentümlichkeit des in ihm enthaltenen Wertbewusstseins erweist es sich als ein besonderes seelisches Gebilde, ein besonderes Verhalten.«

Hier könnte die leibliche Ökonomie von Schmitz anschlussfähig wer­ den, wenn man das Selbstgefühl als das Sich-Fühlen in der Mitte zwischen Enge und Weite versteht und dabei die Enge mit Voigtlän­ ders Niedergedrücktheit und die Weite mit ihrer Gehobenheit in Verbindung bringt. Voigtländer nimmt zur weiteren Beschreibung des Selbstgefühls die Vitalität in den Blick und führt eine Differenzierung vom vitalen über das bewusste bis hin zum ethischen Selbstgefühl weiter. Das vitale Selbstgefühl definiert sie als instinktiv und angebo­ ren. »Phänomenologisch heißt dieses ›angeboren‹, dass es eben ein Wertbewusstsein gibt, das schlechthin da ist, das einfach so, wie es ist, erlebt wird, ohne dass es ausdrücklich in Beziehungen und Deutun­ gen gefasst werden kann. Selbstbejahung, Sicherheit, Stolz«, ebenso wie deren Kehrseiten, »bezeichnen eben eine Lebensfärbung, eine Ursprünglichkeit, ein durch alle Äußerungen hindurchschimmerndes Verhalten« (ebd., 38). Es bezieht sich nicht auf irgendetwas, sondern ist »einfach da« (ebd., 24) und als ursprüngliches Lebensgefühl (ebd., 25) in die eine oder die andere Richtung ausgeprägt. So ist dieses »Eigenwertgefühl« des Menschen, also die Art, wie er sich im Leben gestellt fühlt, eine »ursprüngliche primitive Selbsteinschät­ zung« (ebd.). Schmitz (1995, 127f.) sieht im Hintergrund momentaner leibli­ cher Regungen ebenfalls längerfristige, teils lebenslange »leibliche Dispositionen« und führt – bemerkenswert ähnlich – den vitalen Antrieb als eine solche leibliche Disposition an. Es handele sich um die »teils expansive (mehr oder weniger schwungvolle), teils kontraktive (zusammenhaltende) Lebendigkeit, also die Dynamik der leiblichen Ökonomie, in der Schwellung und Spannung antagonistisch konkur­ rieren«. Den vitalen Antrieb denkt Schmitz als »dem Leib immanent, unabhängig von Außenreizen«, auch hier Voigtländer ähnlich, die das vitale Selbstgefühl als angeboren und instinktiv bezeichnet. Jedoch ist bei beiden diese Abgeschlossenheit des vitalen Antriebs respektive

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4.3 Leibliche Lotung, Selbstgefühle und Lebensformung

des vitalen Selbstgefühls nicht absolut. Da, wo Schmitz dem vitalen Antrieb durch Anregbarkeit Reizempfänglichkeit und als Reaktion auf Zuwendbarkeit Anpassungsfähigkeit zuschreibt, führt Voigtländer die zwischenmenschlichen Beziehungen als soziale Einflussfaktoren an. Dies ist auch deshalb eine etwas andere Akzentuierung, weil Voigtländer das Fühlen des eigenen Werts im Selbstgefühl verankert. Nun erleben, wie Voigtländer betont, Menschen sich in Bezie­ hungen zu anderen Menschen, »machen Erfahrungen und Entde­ ckungen über sich, ihre Anlagen, Fähigkeiten, Talente, – kurz werden in steigendem Maße sich ihrer selbst ›bewusst‹« und dadurch werde ihr Selbstgefühl »außerordentlich« beeinflusst (ebd., S. 38). Es wird bewusstes Selbstgefühl oder charakterologisch gefasst erworbenes Selbstgefühl mit den verschiedensten Facetten von Selbsterhöhung und Selbstherabsetzung. Dabei ist auch hier entscheidend, dass es sich nicht um etwas Intellektuelles handelt; der Einfluss manifestiert sich vielmehr auf der Ebene des Sich-Fühlens als eines Gesamtverhaltens, in das sich auch das Fühlen des vom anderen Menschen GefühltWerdens einträgt. Das gegenseitige Verhältnis zwischen dem vitalen, biologisch angeborenen Selbstgefühl, das gefühlsmäßig affektiv ›unbewusst‹ bleibt, und dem bewussten Selbstgefühl, als biographisch erworben und von Wachheit und Wertgefühl begleitet, bestimmt dann »das Gesamtbild des Selbstgefühls eines Menschen«. In dieses ragt als weiteres Moment »die größere oder geringere Ausprägung des Bewusstseins der eigenen Person« hinein, die sich in verschiede­ nen Spielarten von Selbstbehauptung und Selbsthingabe ausdifferen­ ziert (ebd., 54). Eine besondere Kategorie des Selbstgefühls bezeichnet Voigtlän­ der als »ethisches Selbstgefühl« (ebd., 68ff.); hier unterscheidet sie diejenigen ethischen Selbstgefühle, »die im Hinblick auf die eigene Persönlichkeit und ihre Taten und Verhalten entstehend, ein morali­ sches Urteil in sich enthalten« (z.B. Billigung oder Reue), von jenem »besonderen Erlebnis« des Selbst oder »eines Teiles des Selbst als das ›eigentliche‹, ›wahre‹, was seinen Ausdruck findet in der ethischen Forderung: ›sei du selbst‹, oder ›sei dir selbst treu‹« (ebd., 68). Sie grenzt also die »nach gewissen ethischen Wertmaßstäben sich beur­ teilenden Selbstgefühle« von sogenannten ethischen »Tatsachen« ab, die umschrieben werden können als »das eigentümliche Erlebnis, dass man einen bestimmten Teil seines Wesens als das ›eigentliche‹, das ›wahre‹ Selbst empfindet«, als »›die Persönlichkeit‹«. Diese bedeut­ same Kategorie der Selbstgefühle bleibt bei Voigtländer allerdings

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

seltsam unterbestimmt, was vermutlich dem Charakter ihrer Gradu­ ierungsschrift geschuldet ist. Indirekt gibt die Philosophin aber zu verstehen, dass es »ein ganz besonderes, prägnantes Erleben« ist, das, »abgesehen von der inhaltlichen Bestimmung, was denn nun das wahre Selbst ausmache, selbständig anerkannt werden muss« (ebd., 72). Indes scheint in ihrer Auseinandersetzung mit Theodor Lipps und anderen ihre eigene Position doch durch, wenn sie das, was man als sein Wesen empfindet, im Kern auch als Referenz für die Selbstachtung bestimmt (vgl. ebd., 74). Es ist interessant, dass Voigtländer auch in dieser Letztbestimmung von einem Selbstgefühl ausgeht, das leiblich ergreift und angegriffen werden kann. Mit der leibphänomenologischen Analyse der leiblichen Lotung und der Selbstgefühle wird, jenseits intellektualistischer, vernunftori­ entierter und auf Reflexion beruhender Selbstkonzepte, die leibliche Eingelassenheit menschlicher Existenz deutlich. Das Sich-selbst-Füh­ len ist stets präsent, es kann nicht abgeschüttelt werden, und das betrifft in der Philosophischen Praxis die Philosophierenden ebenso wie die Besucherinnen und Besucher. So eröffnet sich die Aufgabe, sich selbst und die Anderen auch von der Genese und Komplexität der leiblichen Lotung und der Selbstgefühle her zu begreifen. Letztlich mischen sich in jedem einigermaßen offenen Begegnungsgeschehen die Selbstgefühle der sich begegnenden Menschen, jedenfalls sind sie ein wesentlicher Anker für Resonanz und Responsivität, aus denen die Kunde und Kenntnis der eigenen und fremden leiblichen Dispositionen und momentanen Regungen erwächst. Für die Philoso­ phische Praxis ist jedoch ein besonderes Bewusstsein, ein Achten und Beachten dieser Prozesse in Anschlag zu bringen, vor allem, wenn es im Kontext des Ethos auch um Resonanz zu dem geht, was Voigtländer – leider wenig expliziert – »ethisches Selbstgefühl« nennt. Zu Recht weist Voigtländer darauf hin, dass Menschen im sozialen Leben allgemein und ebenso durch konkrete Begegnungen in ihren Selbst­ gefühlen erhoben oder herabgewürdigt werden können, wobei damit die Grenzen eines Spielraums mit den unterschiedlichsten Nuancen des Einflusses gemeint sind. So wäre eine Analyse der Selbstgefühle unzureichend, wenn man sie nicht noch umfangreicher als bisher von der Perspektive eines Spiegels durch die anderen Menschen in den Blick nehmen würde. Bezeichnenderweise wählt Voigtländer dafür den Begriff des Spiegel-Selbstgefühls. Allgemein definiert Voigtländer (1910, 76) das Spiegel-Selbstge­ fühl als ein »Selbstgefühl, das erlebt wird in Rücksicht auf das, was

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4.3 Leibliche Lotung, Selbstgefühle und Lebensformung

man in der Vorstellung der Meinung anderer ist, was sich bezieht auf ein ›Bild‹ von sich«. Am Ende erweist sich diese erste Definition als zu einfach. Komplex entfaltet die Philosophin die Problemlage und sammelt dabei allerhand Erkenntnisse auch über die leibliche Verfasstheit des Menschen. Ohne dies hier detailliert beschreiben zu können, geht Voigtländer methodisch zunächst von der anderen Seite vor, und zwar über das Bild, in dem die anderen Individuen uns gegeben sind. Sie spricht hier bewusst vom Bild, das sich aus der körperlichen Erscheinung eines Menschen ergibt, aus der wir bereits »ein Wissen« von der »psychischen Persönlichkeit« einer Person ziehen (ebd., 77). Voigtländer verwendet hier auch den Begriff der »sozialen Figur« (ebd., 78); wir erleben die anderen Menschen als in diese eingehüllt, wobei Voigtländer herausstellt, dass es sich um »Eindruckswerte« handelt, »als eine besondere Klasse von Tatsachen mit eigenartiger Seinsweise« (ebd., 80). Schmitz wird übrigens Jahr­ zehnte später vom Leiteindruck einer Person sprechen. Voigtländer will dieses Wissen von der psychischen Persönlichkeit unbedingt von den Tatsachen der Einfühlung unterschieden wissen und insistiert darauf, dass unsere Auffassung von anderen Menschen dadurch charakteri­ siert ist, dass wir sie »in ihrer Stellung zu uns« wahrnehmen: »Ihr eigenes, für sich bestehendes Wesen ist gewissermaßen umhüllt für uns.« (Ebd., 81) Gleichwohl räumt Voigtländer die Möglichkeit ein, dass die Menschen sich wechselseitig durch diese Eindruckswerte, die sie voneinander haben, beeinflussen. Das Bild, das die Anderen von einem selbst haben, »kann in das Bewusstsein« hineingezogen werden und darin einen Platz beanspru­ chen, schreibt Voigtländer (ebd., 85). So lasse sich erklären, dass die Bilder der Anderen in unserem Selbstgefühl zum erhebenden oder aber niederdrückenden Empfinden führen können. Diese Erkennt­ nis ist für alle Bereiche des Einwirkens der Menschen aufeinander von Belang, z.B. für die Klassen- und Geschlechterbilder, ebenso grundsätzlich für erhebende und niederdrückende Auswirkungen von zwischenmenschlichen Verhältnissen, besonders in der Erziehung von Heranwachsenden, die auf die Selbstgefühle erheblichen Einfluss hat. Das ist insofern auch für die Philosophische Praxis von Belang, als das ›Bild‹, mit dem die Praktikerin ihr Gegenüber einhüllt, also etwa durch eine Haltung des Wohlwollens und Wertschätzens, zu Erkennt­ nisprozessen im Hinblick auf das Selbstgefühl des Besuchers sowie auch zu besonderen Gefühlsqualitäten im Dialog führen kann. Hier ist tatsächlich die Metapher des Spiegels treffend. Sich in den Augen

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

oder mit der Haltung eines anderen Menschen sehen und fühlen zu lernen, kann eine heilsame Wirkung haben, vorausgesetzt, dieser Andere führt nichts Verwerfliches im Sinn. Dies kann sogar jenseits der Begegnung zum Tragen kommen, wenn man sich etwa vorstellt, wie dieser oder jene Andere gewissermaßen auf mich geschaut hätte. In diesem Sinn kann z.B. die Fürsorge, die man durch einen anderen Menschen erfährt, Einfluss auf die Selbstfürsorge haben, aber umge­ kehrt kann erfahrene Verachtung Selbstverachtung nach sich ziehen. Dass es möglich ist, den Anderen durch das Bild, das man von ihm hat, mit dem man ihn umhüllt und das man in den Raum stellt, in seinem Selbstgefühl niederzudrücken oder zu erheben, zeigt einmal mehr die Dringlichkeit, die Arbeit philosophischer Praktizierender ethisch einzufassen. Voigtländer (1910, 97) unterscheidet im Weiteren zwei Typen des Spiegelselbstgefühls, die aus dieser »uneigentlichen Sphäre«, diesem Sich-im-Bild-der-Anderen-Wahrnehmen erwachsen. Erstens die Bestätigung des Selbstgefühls durch die Meinung der Anderen: Das Bild der Anderen wird »erlebt und bewusst« und durch diese »Vervollständigung und Abrundung wird das Selbstgefühl bestätigt resp. negiert und erleidet hierdurch eine Verstärkung oder Herabset­ zung«. Zweitens die Steigerung des Selbstgefühls durch Erleben der Eindruckswerte: Das Erleben des Selbstgefühls rückt »gleichsam in das ›Bild‹ mit all seinen Eindruckswerten« hinüber. Das ist wohl so zu verstehen, dass man sich selbst durch das Bild der Anderen formt respektive formen lässt. Hierbei handelt es sich um Vorgänge, die sich nicht nur an der Oberfläche von Eitelkeiten abspielen, sondern tief in die Manipulierbarkeit von Menschen hineingreifen. Diese eminent ethische Dimension wird von Voigtländer nicht einbezogen, gehörte aber auch nicht zur Forschungsfrage ihrer Dissertation. Sie (1910, 119) verweist darauf, dass eine Weiterführung der »von ihr berührten Probleme nur im Zusammenhang einer allgemeinen phänomenolo­ gischen Psychologie und Erkenntnistheorie und Charakterologie« möglich ist. Die Prozesse von Kontakt, Verbundenheit, aber ebenso Manipulierbarkeit in den Spiegel-Selbstgefühlen hängen nach Voigt­ länder von dem Selbstgefühl ab, das sich als vitales und bewusstes Selbstgefühl im Menschen auswirkt. Insofern es dabei auch um Erworbenes geht, eröffnet die phänomenologische Untersuchung des Spiegel-Selbstgefühls eine gesellschaftliche, ja politische Dimension, was für Philosophische Praktiker*innen erneut nicht nur bedeutet, ihr eigenes Handeln fortlaufend kritisch zu analysieren, sondern auch,

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4.3 Leibliche Lotung, Selbstgefühle und Lebensformung

ihre Erkenntnisse aus dem Binnenraum ihrer Praxis hinaus in die Öffentlichkeit zu bringen, um Verwerfungen zu diagnostizieren und Veränderungen anzustiften. Leibliche Lotung, Selbstgefühle und Spiegelselbstgefühle lassen sich als Phänomene eines Begegnungsgeschehens nachzeichnen, sie manifestieren sich indes immer aus den Grund- und Hinter­ grundtönungen der verschiedenen Lebensformen heraus. Das kann ganz banal in Haltungen und Bewegungen zum Ausdruck kommen, indem z.B. unsere ›zivilisierte‹ Sitzkultur zur Ausbildung starrer Leibesinseln führt, also steifer Nacken, hochgezogene Schultern, eingeschnürte Brust oder eingedrückter Oberbauch. Mit solchen typischen Körperverformungen bis hin zu richtigen Haltungsschä­ den gerät man dann schon bei trivialen Gleichgewichtsaufgaben leicht ins Schwanken. Das wirkt sich zweifellos auf die Selbstgefühle aus. Tiefergehende Prägungen der Selbstgefühle, die emotional stark aufgeladen sein können, wirken dann z.B. auf geschlechtertypische Feindifferenzierungen ein. Auch in Zeiten von Degendering kann man Frauen und Männer in der Regel recht gut an ihrer körperlichen Statur, an ihrem Gang, an der Art bestimmter Bewegungsabläufe oder ihrer Sitzhaltung identifizieren. Schwangere sind meist wegen ihrer besonderen leiblichen Lotung an ihrem spezifischen Gang zu erkennen, selbst wenn sich der Bauch noch nicht deutlich vorwölbt. Doch auch durch Bodybuilding gestählte Männer haben eine typische Gangart. Zudem hat die kulturelle Sexualisierung bestimmter Kör­ perteile Einfluss auf die leibliche Lotung, die Haltungsdispositionen und damit verbundene Selbstgefühle. So eignen sich Mädchen in der Thelarche, dem Brustwachstum, häufig ungesunde Haltungen des Oberkörpers, namentlich des Brustkorbs an. Sie müssen erst lernen, mit den Veränderungen ihres Körpers und den damit verbundenen sozialen Auswirkungen zu leben bzw. den Leib mit den hinzugewach­ senen und empfindungsfähigen Inseln neu zu ›bewohnen‹, sich also auch in ihrem Selbstgefühl neu zu finden (vgl. Gahlings 2016, 247ff.). Die Phänomenologin Voigtländer hat nach ihrer Dissertation empirische Studien zur sogenannten Verwahrlosung von weiblichen Jugendlichen durchgeführt, die sich mit den Auswirkungen des Gen­ dering auf die Selbstgefühle der jungen Frauen befassten, hier insbe­ sondere Gefühle der Wert- und Wehrlosigkeit. Voigtländer wird als eine lange unbekannt gebliebene Pionierin der Geschlechtertheorie gerade erst entdeckt (vgl. Gahlings 2023). Sie erkannte auch, dass Selbstgefühle, die durch historisch überkommene Traditionen und

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

Disziplinierungen in den Leib eingeschrieben werden, meist nur langfristig und durch kontinuierliche Aufmerksamkeit in allen gesell­ schaftlichen Bereichen transformiert werden können. Anhand der lan­ gen Geschichte des weiblichen Emanzipationsstrebens und der politi­ schen Frauenbewegungen hat die Frauenforschung die Zurichtungen der geschlechtlichen Existenzweise von Frauen offengelegt, wozu mancherorts selbst heute noch, neben den zahlreichen gesellschaftli­ chen Exklusionen, die Erlaubnis zur Züchtigung, die sexuelle Ausbeu­ tung und andere Verletzungen der Würde des weiblichen Körpers gehören. In allen Kulturen waren und sind gerade die geschlechtlichen Differenzierungen intensiv bearbeitete Felder für die Konturierung der Lebensformen im Allgemeinen und für den gesellschaftlichen Sta­ tus sowie die Umgangsformen und Berührungsnormen zwischen den Geschlechtern im Besonderen. Solche sozial disziplinierenden Phäno­ mene lassen sich ebenso gut auf andere nach bestimmten Merkmalen klassifizierte Gruppen übertragen, wobei die Lebensformung durch Lebensformen immer auch am Leib stattfindet. Über geschichtlich gewachsene Anmutungen und Atmosphären kommen sie in der leiblichen Lotung, in den Selbstgefühlen und Spiegelselbstgefühlen bis hin zu den kleinsten Nuancen in der interpersonalen Bezogenheit zum Tragen. Durch leibliche Responsivität entfaltet sich in ungemein enger Verwobenheit z.B. von Körperhaltung, Atmungsverhalten und Gefühlsdisposition die für bestimmte Lebensformen, Zeitalter und Situationen typische leibliche Integrität. Auch Schmitz geht von übergreifenden Zusammenhängen aus, die auf den Leib einwirken. Er erwähnt leibliche Zustände, die durch Anmutungen verursacht sind, wie die »weitverbreitete Ver­ stimmung« in der »nasskalten Übergangszeit des Jahres mit den Merkmalen: Mattheit, Missmut, reizbare Schwäche, Wankelmut«. Er (1995, 128) spricht aber ebenso von »relativ homogene[n] leibli­ che[n] Dispositionen«, die »kollektiv, in Menschengruppen« auftre­ ten, sowie von »spontane[n] kollektive[n] Umstimmungen«, »die durch Veränderung des leiblichen ›Klimas‹« in einem Zeitalter oder einer Generation die »Gestaltungskraft und spezifische Resonanz­ fähigkeit beeinflussen«. Die leibliche Integrität ist immer schon geschichtlich (Körper als Speicher) und schreibt stetig Geschichte fort (Habitus als lebendes System). Dies hat Pierre Bourdieu (1993) mit dem Habitus gedeutet als labile Einheit zwischen einverleibtem Sozialem und sozialisierter Leiblichkeit. Der Mensch hat an den sozialen Determinanten nicht selbst mitgewirkt, bevor sie sich ihm

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4.3 Leibliche Lotung, Selbstgefühle und Lebensformung

inkorporierten, und er kann ebenso wenig den Resonanzboden, sei­ nen Leib abstreifen, der sein Erleben vorzeichnet. So wirken unent­ wegt individuelle Vermittlungs- und Anpassungsprozesse in einer zugleich strukturierenden wie strukturierten Struktur. In ähnlicher Weise beschreibt Rahel Jaeggi, dass die den Menschen prägenden Lebensformen keine Naturgewächse sind, sondern »fluide, historisch variable und gestaltbare Gebilde« (Jaeggi 2014, 188). Gleichwohl fassen sie »das Handeln des Einzelnen ein«. Lebensformen lassen »›uns handeln‹«, sie prägen und begrenzen also die verfügbaren Optionen (ebd., 70). Als überindividuelle Praxiszusammenhänge strukturieren sie das Handeln der Einzelnen, aber sie werden auch von ihnen mitgestaltet und geschaffen. In diesem Wechselverhältnis las­ sen sich Lebensformen nach Jaeggi als »lernende Lernumgebungen« auffassen (ebd., 330ff.): Es kann in ihnen gelernt werden und dadurch lernen sie selbst, insofern sich Erfahrungen, Interpretationsmuster, Rationalitätsformen etc. in ihnen anlagern. Damit sind Prozesse beschrieben, die in allen Lebensformen ausschlagen, so dass, wie Jaeggi geltend macht, durch kollektive Willensbildung bereits Entscheidungen darüber getroffen wurden und immerzu werden, wie man zu leben hat, also welche Selbst­ gefühle, Reflexionsweisen und Lebenskompetenzen, welche soma­ tischen Kulturen und Berührungsetikette, welche Leibbeziehungen etc. sich zugunsten anderer herausbilden sollen, und das betrifft zugleich Verfügungen darüber, welche Entfaltung den menschlichen Fähigkeiten eingeräumt wird. Und da sich solche ›Entscheidungen‹ nachbuchstabieren und auf ihre normativen Implikationen hin exami­ nieren lassen, zielt eine Kritik von Lebensformen auf »die innere Gestalt jener Institutionen und überindividuellen Zusammenhänge, die unser Leben formen und innerhalb derer sich unsere Handlungsund Gestaltungsmöglichkeiten erst ergeben«. Die »öffentliche und auch philosophische Reflexion über Lebensformen« ist also, nach Jaeggi (2014, 11f.), »weniger eine problematische Intervention in nicht zu hinterfragende Residuen individueller oder kollektiver Iden­ tität als vielmehr die Bedingung der Möglichkeit einer Transformation und Aneignung der eigenen Lebensbedingungen«. Grundsätzlich kann man eine Lebensform daraufhin befragen, ob in ihr im guten Sinn zu leben ist, ob das Leben in ihr gelingt, und gegebenenfalls Veränderungen anstiften – eine wichtige Aufgabe auch für die Philo­ sophische Praxis.

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

Eine leibphänomenologisch fundierte Aneignung und Transfor­ mation von Lebensformen findet in der fluiden leiblichen Responsivi­ tät ihren Dreh- und Angelpunkt. Aus dem Wissen um das elementare Tastsinnsystem und um die subjektiven Tatsachen in der Genese und Stabilität des leiblichen Selbst lassen sich in den von Leibver­ gessenheit gezeichneten Lebensformen zahlreiche Konsequenzen zie­ hen: von den bedeutsamen Bindungsprozessen und dem Gespür der Hebammen am Lebensbeginn (vgl. Dörpinghaus 2013) über die Resonanzpädagogik (vgl. Rosa 2016; Rosa/Endres 2016) bis hin zu den Anwendungen des Forschungswissens in körpertherapeutischen Interventionen, z.B. Massagen bei depressiven Erkrankungen, Neo­ prenapplikationen bei Anorexia nervosa, Schutzwesten mit Körper­ druckwirkung bei ADHS, Körperstimulation bei Schreibabys (vgl. Grunwald 2017, 241ff.). Allgemein geht es um die Aufwertung der Leiblichkeit und leiblichen Responsivität, in fürsorglicher Zuwen­ dung in medizinischen, therapeutischen und pflegerischen Kontexten ebenso wie in einer konsequenten strafrechtlichen Verfolgung von Folter, Gewalt, Körperstrafen und sexuellem Missbrauch. Die ethi­ schen Implikationen und Konsequenzen sind gravierend, wenn man die Bedeutung des Leibes für die Selbstgefühle, die zwischenmensch­ liche Bezogenheit und das gelingende Leben anerkennt, wenn man also erkennt, wie heilsam authentische Bezogenheit und angemes­ sene Berührungen wirken und wie verheerend übergriffige Nähe oder das Gegenteil, die Kontaktlosigkeit, die leibliche Integrität tangieren. Unsere Bedürftigkeit und Verletzlichkeit, unsere Berührbarkeit und Ausgesetztheit, unser Angewiesensein auf andere anzunehmen und dieser zutiefst menschlichen Verfasstheit in der Gestaltung unserer Lebensformen zum Guten hin Rechnung zu tragen, ist eine wichtige Aufgabe in allen Wirkungsformen der Philosophie.

4.4 Philosophische Praxis als gemeinsame Situation Vor dem Hintergrund der leibphänomenologischen Kenntnisse zur leiblichen Lotung, zu den Selbstgefühlen und der Lebensformung durch Lebensformen lässt sich Philosophische Praxis als gemeinsame Situation beschreiben. Eine Situation ist nach Schmitz (2014, 47) durch drei Merkmale gekennzeichnet: »sie ist ganzheitlich, d.h. nach außen abgehoben und in sich zusammengehalten«, und zwar durch »eine Bedeutsamkeit, die aus Bedeutungen besteht«. Schmitz nennt

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4.4 Philosophische Praxis als gemeinsame Situation

dazu Sachverhalte: dass etwas ist, Programme: dass etwas sein soll, als Norm, oder sein möge, als Wunsch sowie Probleme: ob etwas ist. Diese Bedeutsamkeit ist »binnendiffus«, so dass in ihr nicht alles, möglicherweise sogar gar nichts einzeln ist, »d.h. eine Anzahl um 1 vermehrt«. Erst durch besondere Anstrengung lässt sich dieser diffuse Charakter ›zerlegen‹, vereinzeln und rekonstruierend begreifen. Mit der Situation ist ein ontologischer Grundbegriff mit den Komponenten »Sachverhalte, chaotische Mannigfaltigkeit, Ganz­ heit« (Schmitz 1995, 69) eingeführt, der es erlaubt, den Einseitigkei­ ten strikter Trennungen in Innenwelt und Außenwelt, der Weltspal­ tung zu entgehen und den Menschen in seiner fluiden Responsivität zu verstehen. Situationen stoßen dem Menschen zu, sie stellen sich ihm dar oder werden bewusst aufgesucht, er ist aber auch innig verwachsen mit Situationen, die den Hintergrund und Schwingungs­ modus seines Lebens ausmachen. Dazu gehört z.B. die Umgebung als »ein Teppich von Situationen mit eingestickten Mustern, die selbst wieder Situationen sind oder enthalten, und wir sind von Anfang an in diesen Teppich verwoben, aus dem wir erst nachträglich und partiell, durch Entfaltung der Gegenwart, uns abheben können.« Situationen »entziehen sich der säuberlichen Verteilung auf Subjekt und Objekt«, sie »durchdringen das eigene Leben des Menschen ebenso wie die Umgebung, in der er sich findet« (ebd., 75). Auch die Persönlichkeit des Menschen ist eine »große Situation«, seine persönliche Situation, »die sich aus der primitiven Gegenwart (selbst einer Situation) im Zuge der Entfaltung der Gegenwart bildet und dem betreffenden Menschen auf den Leib geschnitten ist, indem beständig Einzelnes aus chaotisch Mannigfaltigem abgehoben wird und in solches wieder zurücktaucht, z.B. durch schlichtes Vergessen« (ebd.). So trägt der heranwachsende und erwachsene Mensch in seinem persönlichen Charakter, »der mit der persönlichen leiblichen Disposition«, also auch den von Voigtländer beschriebenen Selbstge­ fühlen, »zusammen die persönliche Situation bildet, gewissermaßen seine Lebensgeschichte mit sich herum«. Mitanwesend sind durchaus auch Prospektionen in Gestalt von »Wunsch-, Leit- und Schreckbil­ dern« (ebd.), die häufig erst dann nach Explikation verlangen, wenn schicksalhafte Engpässe im Leben zu bewältigen und Lebensentschei­ dungen zu treffen sind. Zur weiteren Charakterisierung der eigenen Sphäre einer Person führt Schmitz (2014, 110f.) noch den Begriff der »persönlichen Eigenwelt in der persönlichen Welt« ein. Zu ihr gehören »alle Bedeutungen, die für sie [die Person] subjektiv sind,

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

und alle Sachen, für die der (tatsächliche oder untatsächliche) Sach­ verhalt, dass sie existieren, von dieser Art ist«, und zur persönlichen Fremdwelt gehören »alle Bedeutungen, die durch Neutralisierung (= Objektivierung) die Subjektivität für sie verloren haben«, und wie oben gleichfalls alle Sachen. Aus dem Verhältnis zwischen persönli­ cher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt bestimmt Schmitz die drei Typen des Extra-, Intro- und Ultrovertierten. Die persönliche Situation ist keine isolierte Angelegenheit des Individuums, sie ist eingebettet in gemeinsame Situationen, »aus denen sie hervorwächst, die ihr Halt und Tiefe geben, in die sie aber auch hineinwächst«. Diese wechselseitige Bedingtheit liegt auch im Habitus-Konzept von Bourdieu (strukturierende Struktur) und im Lebensform-Konzept von Jaeggi (lernende Lernumgebungen). Bei den gemeinsamen Situationen handelt es sich nach Schmitz (1995, 76) um etwas anderes als die eher an schematischer Durchschnittlichkeit orientierten allgemeinen sozialen Verhaltensmuster, die mit »bestim­ mender, aber gleichsam flüssiger Prägungskraft die persönlichen Situationen« durchdringen. Die gemeinsamen Situationen sind von stärker prägendem Einfluss: Nicht der Rahmen, sondern der Inhalt der Situationen ist entscheidend, also dass man gewissermaßen in ihnen lebt. Gemeint ist hier die Einbettung des neugeborenen Menschen in die familiäre Gemeinschaft und Tradition, die heimische Umge­ bung, die ethischen Haltungen ebenso wie die Kultur und Sprache usw., ein komplexes Gefüge von Eindrücken und Einflüssen. Die persönliche Situation wächst aus gemeinsamen Situationen hervor, kann aber ebenso »auch in neue, gleichermaßen sie einbettende Situationen hineinwachsen«, etwa in einer Wohngemeinschaft, mit einem Lebenspartner, einer neu gegründeten Familie etc., ganz im Sinne von Gadamers ›Horizontverschmelzung‹ (ebd., 77). Die Philosophische Praxis kann als gemeinsame Situation auf­ gefasst werden, weil sie mit bestimmten Atmosphären, Haltungen, Ritualen etc. sowie durch die Person und persönliche Anwesenheit des Philosophierenden in komplexen Bedeutungen wirksam wird. Die Besucher*innen tauchen in einen Verstehens- und Erkenntnisraum ein, der sie mit ihrer persönlichen Situation annimmt, auffängt und gleichsam umfängt, so dass in der Begegnung eine binnendiffus mit Bedeutungen aufgeladene gemeinsame Situation entsteht, die im besten Fall für alle Anwesenden etwas ermöglicht: philosophische Durchdringung der Existenz. Diese gemeinsame Situation kann in der persönlichen Situation der Besucher*innen »Halt und Tiefe geben«

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4.4 Philosophische Praxis als gemeinsame Situation

und die persönliche Situation kann auch in sie hineinwachsen, so dass der Besuch in der Praxis orientierend, persönlichkeitsbildend und bewusstseinsschulend wirkt sowie in Krisen und Umbruchphasen gegebenenfalls auch Trost spendet. Insofern das Eintauchen in die gemeinsame Situation der Philosophischen Praxis »Halt und Tiefe« geben kann, erstreckt sich die solidarische Partizipation über den zeitlich begrenzten Aufenthalt in der Praxis hinaus in das Leben des Einzelnen hinein. Zugleich gewährt die Philosophische Praxis als institutionalisiertes Angebot einen stabilen ›Zufluchtsort‹ für eine erneute Feinjustierung der eigenen Orientierung. Philosophische Praxis entfaltet eine besondere Wirkung in kontinuierlicher Beglei­ tung oder längerfristigen Unternehmungen, z.B. bei Reisen, oder in anderen Formen vorübergehender Gemeinschaft. Jedoch können auch singuläre Inspirationen aus der gemeinsamen Situation in der persönlichen Situation ›abfärben‹ oder sogar sich ›auskristallisieren‹, z.B. in eingeübten Erkenntnisweisen und mitmenschlicher Bezogen­ heit. Durch Einbettung in die gemeinsame Situation gewinnt die persönliche Situation einen »mehr oder weniger tiefen Hintergrund«, was ein wichtiger Beitrag der Philosophischen Praxis zur Kritik- und Begegnungsfähigkeit auch im Sinne der Selbstverantwortung und Selbstermächtigung ihrer Besucher*innen ist. Allgemein sind gemeinsame Situationen selbst, auch im Kon­ text eines Berufes, schon vielfältig herangewachsen, und so können beispielsweise weltanschauliche oder politische Standpunkte gemein­ same Situationen sein. Als »Aggregate trockener Grundsätze« glei­ chen sie »zähflüssigen Massen von Überzeugungen (Sachverhalten), Einstellungen (Programmen) und ›wunden Punkten‹ (Problemen)«, die einer Person meist »nicht restlos durchsichtig sind und jeweils erst an der Herausforderung des Augenblicks fertige Form annehmen« (Schmitz 1995, 77). Schmitz führt hier junge Menschen mit Protest­ standpunkten an. Sie lehnen teils selbstsicher etwas ab, ohne indes schon explizieren zu können, was sie dem konstruktiv entgegensetzen wollen (ebd.). Solche gemeinsamen Situationen sind grundsätzlich auch die meisten religiösen, politischen und weltanschaulichen Stand­ punkte. Wenn wir in unseren Tagen, bedingt z.B. durch politische Entscheidungen im Rahmen von Covid-19, in manchen Kreisen eine Neigung zur Radikalisierung bemerken, so lässt sich dies mit Schmitz über den Charakter des chaotisch Mannigfaltigen der aus Standpunkten hervorgehenden und gebildeten gemeinsamen Situa­ tionen beschreiben.

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

»Wegen ihrer chaotischen Mannigfaltigkeit, die dem ständigen Zusammenprall unvereinbarer Explikate vorbeugt, sind sie erstaunlich tolerant gegen Widersprüche, zugleich aber wegen ihrer hochintegrier­ ten Einheitsform Inseln im Meer des treibenden Lebens, auf denen die persönliche Situation sich festigen und Gestalt gewinnen kann.« (Ebd., 77)

Dies mag eine Möglichkeit sein, etwas »einheitlich lebbar zu machen«, was eigentlich nicht zusammenpasst, indes wissen ›Ein­ druckstechniker‹, also Menschen, die sich darauf verstehen, Men­ schengruppen über Standpunkte bewusst zu manipulieren, das chao­ tisch Mannigfaltige in gemeinsamen Situationen strategisch geschickt zu verwerten, u.a. unter Verwendung atmosphärischer Ästhetik und sprachlicher Pointierung. Im Gegensatz dazu werden in der Philosophischen Praxis die Erkenntnis- und Verstehensvermögen gefördert, herausgefordert, ja sogar eigens geschärft, damit sich die Besucher*innen u.a. durch Positionen- und Perspektivenwechsel im dialogischen Prozess Rechenschaft über die eigenen Standpunkte und die persönliche Situation geben sowie die Wirkkraft gemeinsa­ mer Situationen verstehen. Hier geht es gerade darum, verwerfliche Mechanismen gemeinsamer Situationen im Sinne der Mündigkeit und Autorisierung zum Selberdenken zu durchschauen. Im Rahmen der Beschreibung von Situationen charakterisiert Schmitz weitergehend noch die Attribute aktuell und zuständlich sowie impressiv und segmentiert. Aktuelle Situationen ändern sich von Augenblick zu Augenblick, zuständliche bleiben sich längerfristig gleich, impressiv ist eine Situation, »deren Bedeutung mit einem Schlag zum Vorschein kommt«, segmentiert eine Situation, »deren Bedeutsamkeit immer nur in Ausschnitten zum Vorschein kommt« (Schmitz 2018, 138). Auch wenn aktuelle Situationen meist impressiv und zuständliche meist segmentiert sind, gibt es vielfache Verbindun­ gen dieser vier Arten. Schmitz verdeutlicht dies am Beispiel des Gesprächs (ebd.): »Ein Gespräch ist eine aktuelle Situation, beladen mit zuständlichen Situationen, die sein ›Klima‹ und oft seine Inhalte bestimmen, wie der Sprache, in der es geführt wird, den Persönlichkeiten (persön­ lichen Situationen) der Teilnehmer, den Konventionen, den relativ permanenten ›Rahmenbedingungen‹ der (politischen, religiösen, öko­ nomischen, familiären oder sonstigen) Umstände und – last but not least – der zuständlichen partnerschaftlichen Situation, die darüber

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4.4 Philosophische Praxis als gemeinsame Situation

entscheidet, wie die Teilnehmer miteinander auskommen, und sich bei jeder neuen Begegnung fortsetzt und wandeln kann.«

Situationen sind »das Element, in dem Menschen und Tiere leben, wie der Fisch im Wasser«, schreibt Schmitz (2018, 139). Es gibt auffällige und prägnante Situationen, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben, die meisten Situationen treten indes nicht eigens hervor. Menschen sind nicht absolut gefangen in ihren Situationen, sondern können durch die Fähigkeit der Selbstdistanzierung und dann besonders in sprachlicher Einfassung Einzelnes herausheben und explizieren. Es kann eine wichtige Aufgabe der Verständigung in der Philosophischen Praxis sein, Situationen durch gemeinsame Arbeit in Konstellationen begreifbar zu machen. Dazu bedarf es aber einer einhegenden Situa­ tion, die nur zum Teil eine bewusste oder praktische Kreation der philosophisch Praktizierenden ist. Vielmehr richtet sich diese Einund Umhegung im Sinne des Schmitzʼschen Situationsbegriffs durch Binnendiffusität in der Begegnung gleichsam ein, und in ihr ist dann alles mehr oder weniger präsent, was die Teilnehmenden aktuell und zuständlich, impressiv und segmentiert hineintragen. Bedeutsam wird die gemeinsame Situation dann aber durch Dynamiken, die in ihr sowohl interaktiv als auch interpassiv zum Tragen kommen, und das betrifft die Angebote der Philosophischen Praxis auf ganz unterschiedliche Weise, vom Polylog eines Salons mit heterogenem Publikum über die in unverfügbare klimatische Randbedingungen gestellten Spaziergänge oder Reisen bis hin zur Vertraulichkeit einer individuellen Sprechstunde mit dialogischer antagonistischer Einlei­ bung. Philosophische Praxis ist also eine gemeinsame Situation und wird als gemeinsame Situation erfahren. Die Beteiligten wachsen mit ihren persönlichen Situationen in sie hinein und gehen wieder aus ihr hervor. Gleichzeitig steht die Philosophische Praxis in Konstellatio­ nen. Die Philosophierenden platzieren ihre Angebote, die Menschen entscheiden sich zu einem Besuch usw.; die gemeinsame Situation bahnt sich an, hat eine Vorgeschichte, eine zeitliche und anderweitig formale Rahmung sowie auch eine Nachgeschichte. Hier greifen Interaktionen und Interpassionen in einem unablässigen Wechsel­ spiel ineinander. Dies nachzubuchstabieren, soll nun versucht wer­ den, wobei die Verbform in den folgenden Kapitelüberschriften den prozessualen Charakter anzeigt. Subjekte der phänomenologischen Betrachtungen sind die philosophisch Praktizierenden in ihrer Berufs­ ausübung und die Menschen, die ihre Dienste in Anspruch nehmen.

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4. Fluide Responsivität: Der Leib als Resonanzraum

In ethischer Perspektive stehen die Praktiker*innen mehr im Fokus, weil deutlich werden soll, wie sie agieren, sich auch pathisch in die gemeinsame Situation hineinbegeben, wie sie wieder aktiv aus ihr heraustreten etc., und wie bedeutsam darin ihr Ethos ausschlägt. Denn diese vielfältigen Prozesse im Verstehens- und Erkenntnisraum der Philosophischen Praxis betreffen die Praktiker*innen vor, während und nach den konkreten Begegnungen, ja sogar darüber hinaus in ihrem täglichen philosophischen Dasein.

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

5.1 Kontakt anbieten und ermöglichen Zum Set und Setting Philosophischer Praxis gehört, dass sie mit ihren Angeboten im öffentlichen Raum sichtbar gemacht wird. Schon die Überlegungen rund um die Wahl eines Praxisnamens und Logos, zur begrifflichen Fassung der Ziele und Aktivitäten sowie des Geschäftli­ chen, zur Gestaltung der Website, zum Druck von Flyern, Visitenkar­ ten etc. geschehen vor dem Hintergrund der persönlichen Situation des Praktikers. Hier formt oder konkretisiert sich letztlich auch ein ethischer Horizont, denn in solchen Entscheidungsprozessen setzt sich die Philosophin häufig mit den Intentionen und Haltungen auseinander, die sie in die Praxis hineintragen möchte. Dies geschieht selbstverständlich im Gefüge der gemeinsamen Situationen, aus denen die Praktikerin auf ihrem persönlichen philosophischen Weg und qua ihrer Situiertheit im Berufsstand z.B. mit maßgeblichen Leh­ rern und Lehrerinnen, Institutionen, Weggefährten, Projekten etc. hervorgewachsen ist. Zugleich wird das Unternehmen mit jeder Über­ legung, Diskussion, Entscheidung und Verwirklichung mit Bedeutun­ gen belebt, so dass sich allmählich im Zuge intellektueller, intuitiver und intersubjektiver Vorgänge die Philosophische Praxis als eine Situation formt. Auch wenn sich die Persönlichkeit des Praktikers wesentlich in sie einträgt, vor allem zu Beginn einer Praxisgründung, bleibt ihre Gestaltung ein dynamischer Prozess, der durch die kon­ kreten Erfahrungen und vor allem auch von denjenigen Personen mitgeprägt wird, die in die Praxis kommen. Nach außen tritt sie freilich immer mit vereinzelbaren Merkmalen in Erscheinung. Da es für die Führung und Ausstattung einer Philosophischen Praxis kaum Vorgaben oder Standards gibt, kommt bei vielen Gestal­ tungsvorgängen das individuelle ästhetische Empfinden des Prakti­ kers zum Ausdruck, etwa bei der Wahl des Ortes für die Praxis, bezo­ gen auf ihre Erreichbarkeit in städtischen oder ländlichen Bezirken

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

und ihre Zugänglichkeit innerhalb eines Grundstücks oder Gebäu­ des, ebenso bei der Einrichtung, der Farbwahl, der Anordnung des Mobiliars, der Lichtverhältnisse etc. Diese Prozesse richten sich im Sinne eines zuständlichen und zuträglichen Klimas auf eine im Raum oder in den Räumen festgehaltene Atmosphäre. Zum Verständnis der Atmosphäre in einer Philosophischen Praxis ist – wie an jedem anderen Ort – die Leiblichkeit des Menschen bedeutsam. Der Mensch muss »als Leib gedacht werden«, schreibt Gernot Böhme (2013, 31), und das heißt, dass er »in seiner Selbstgegebenheit, seinem Sich-Spüren ursprünglich räumlich ist: Sich leiblich spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich in einer Umgebung befinde, wie mir zumute ist«. Atmosphären sind also selbst als Räume zu denken, »insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen, ›tingiert‹ sind. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirk­ lichkeit im Raume.« Böhme beschreibt Atmosphären im Unterschied zu Schmitz nicht als ›freischwebend‹, sondern als etwas, »das von den Dingen, von Menschen oder deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird« (ebd., 33): »Die Atmosphären sind so konzipiert weder als etwas Objektives, nämlich Eigenschaften, die die Dinge haben, und doch sind sie etwas Dinghaftes, zum Ding Gehöriges, insofern nämlich die Dinge durch ihre Eigenschaften – als Ekstasen gedacht – die Sphären ihrer Anwe­ senheit artikulieren. Noch sind die Atmosphären etwas Subjektives, etwa Bestimmungen eines Seelenzustands. Und doch sind sie subjekt­ haft, gehören zu Subjekten, insofern sie in leiblicher Anwesenheit durch Menschen gespürt werden und dieses Spüren zugleich ein leib­ liches Sich-Befinden der Subjekte im Raum ist.«

In dieser in der Ästhetik virulent gewordenen veränderten Din­ gontologie ist die Atmosphäre »die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen«. Mit ihr gerät das »Machen« von Atmosphären in den Blick und philosophisch zugleich das kritische Potenzial einer Ästhetik der Atmosphären. Die Kenntnis darum, wie man Atmosphären macht, ist machtvoll, gerade weil die Atmosphäre nicht durch Gewalt oder Sprache, sondern subtil, fluide, unbewusst über die Befindlichkeit Einfluss nimmt: »sie wirkt aufs Gemüt, sie manipuliert die Stimmung, sie evoziert die Emotionen« und diese Macht »tritt nicht als solche auf« (ebd., 39). Da das Kreieren von Atmosphären als bedeutsames Machtinstrument schon immer eingesetzt wurde, in den Religionen, in der Politik, in der Wirtschaft,

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5.1 Kontakt anbieten und ermöglichen

erwächst aus der Ästhetik der Atmosphären auch eine »Kritik der ästhetischen Ökonomie« (ebd., 45; vgl. auch Böhme 2016). Auf der Basis solcher leibphänomenologischer Erkenntnisse ist es auch in der Philosophischen Praxis wichtig, das Atmosphärische ernst zu nehmen. Dabei geht es bezogen auf den Praxisraum um zwei­ erlei Aufgaben: Eine gewisse Behaglichkeit für die Besucher*innen einzurichten und die eigenen Bedürfnisse nach Wohlbefinden bei der beruflichen Tätigkeit zu befrieden. Auch wenn der Praxisraum für den Praktiker ein beruflicher Raum ist, so ›wohnt‹ er doch in dem Sinn darin, dass er seine Kultur der Gefühle und sein Verständnis von Pro­ fessionalität dort einrichtet: Er kreiert eine geeignete Umgebung für die Besucher, meist in einem für ihn selbst richtigen Verhältnis zwi­ schen Nähe und Distanz, was sich beispielsweise schon im Abstand zwischen den Sitzgelegenheiten und ihrer Bequemlichkeit manifes­ tiert, und er schafft für sich selbst eine zuträgliche Umfriedung und Verankerung im Raum, die ihm eine optimale Ausübung seiner Arbeit erlaubt. Die Einrichtung einer solchen professionellen Umgebung wird für Einzelsitzungen eine andere sein als für Gruppensitzungen oder Versammlungen eines größeren Publikums. Im Unterschied zu philosophischen Spaziergängen, Hausbesuchen oder sonstigen Besu­ chen auswärts bietet der eigene Praxisraum mit den Möglichkeiten zur atmosphärischen Gestaltung einen nicht zu unterschätzenden ›Heimvorteil‹, zumal die Raumästhetik gegebenenfalls für einzelne Besucher der individuellen Sprechstunde oder für die Themen von Philosophischen Salons auch umgestaltet werden kann. Jedenfalls spielt die schon im Raum ›anwesende‹ Atmosphäre im Sinne einer zuständlichen Situation eine bedeutende Rolle für das Gelingen der Tätigkeit. Diese Praxis des ›Herstellens‹ von Atmo­ sphären darf jedoch nicht überbewertet werden, denn sobald die Phi­ losophische Praktikerin im Raum präsent ist, in ihrer zuständlichen und aktuellen persönlichen Situation, breitet sich auch ihre leibliche Fassung wie ein Klima im Raum aus. Betritt der Besucher dann den Praxisraum mit der so oder so gestimmten, eingestellten und ausstrahlenden Praktikerin, so kommt mit seiner Person ein weiteres binnendiffuses Bedeutungsfeld hinzu. Beide Personen treten unmit­ telbar in eine gemeinsame Situation der intersubjektiven Bezogenheit mit antagonistischer Einleibung – sie ›schaffen‹ nun gemeinsam eine Atmosphäre. Spätestens dann ist der Raum auf neue Weise für alle Beteiligten nicht nur von willentlich-rationalen Interaktionen, sondern auch von pathisch-spürbaren Interpassionen durchzogen, in

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

einem dynamisch-komplexen Gewoge fluider Responsivität. Doch auch diese gemeinsame Situation hat schon eine Geschichte in der ers­ ten Kontaktaufnahme oder vorangegangenen Treffen, ist also bereits aufgeladen mit bereits wirksam gewordenem Geschehen. So ist insbesondere der Verlauf des Erstkontakts für das Gelingen des philosophischen Prozesses nicht zu unterschätzen; außerdem gewinnt die Praktikerin gerade in dieser Interaktion wichtige Erkennt­ nisse über den Besucher. Hier kann die Wortwahl in einer Mail oder die Reaktion auf die Stimme des Klienten am Telefon schon im Sinne von vielsagenden Eindrücken einen tragenden oder auch hemmenden Einfluss auf die interpersonale Verankerung haben. Die Praktikerin kann sich in der Anbahnung der Beziehung, etwa im Rahmen der Terminfindung oder bestimmter anderer Wünsche, sowohl mächtig als auch ohnmächtig fühlen, um es einmal zugespitzt zu formulieren, was für den möglichen Verlauf der Arbeit und entsprechende Selek­ tionsprozesse wichtige Hinweise geben kann. Jedenfalls ist schon in den ersten Kommunikationsschritten, in der Hinwendung des Praktikers zum Besucher mit seinem Taktgefühl, seiner Haltung und seinem gesamten Ethos Atmosphärisches im persönlichen Ausdruck des Praktikers von Belang, das sich auf den Besucher unmittelbar auswirkt. Das Gespür der Praktikerin für die richtige Umgangsform mit dem Klienten stellt bedeutsame Weichen für den Aufbau der Beziehung. Was für die Gestaltung des Kontakts im Vorfeld einer ersten Begegnung in der Sprechstunde gilt, ist – wenn auch nieder­ schwelliger – auf weitere Formate der Philosophischen Praxis zu übertragen, so etwa auf die Form der Ankündigung zu einem Salon, den ›Ton‹ und die Ansprache bei Anmelde- oder Abrechnungsforma­ litäten etc. Wenn man einem Menschen dann zum ersten Mal begegnet, und zwar nicht zufällig, sondern verabredet zu einem Treffen in der Philosophischen Praxis, so treten bei dieser Erstbegegnung wertvolle Eindrücke in den zwischenleiblichen Resonanzraum. Schmitz (1995, 66f.) spricht in solchen Zusammenhängen vom Leiteindruck einer Person. Es sei »der erste Eindruck bei der Begegnung mit einem Mitmenschen, bei der man deutlich zu spüren meint, mit was für einer Persönlichkeit man es zu tun hat, obwohl man es noch nicht ausformulieren kann, trotz einer Prägnanz, die gleich zu pauschalen Urteilen verführen kann«. Spätere Erfahrung ergänze oder korrigiere den ersten Eindruck, »ohne ihn ganz auszuschöpfen«. Der Ausdruck teilt etwas mit, das gleichsam nicht übertragen werden kann. Aus

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5.1 Kontakt anbieten und ermöglichen

dieser Unübertragbarkeit »folgt die Unregulierbarkeit des Ausdrucks­ verständnisses, d.h. die Unmöglichkeit, mit Hilfe eines geregelten Verfahrens, eines Übersetzungscodes, dem Ausdruck zuzuordnen, was er ausdrückt«. Insofern ist »Ausdruck immer eine Situation« als ein Mannigfaltiges, das durch Bedeutungen zusammengehalten wird (ebd.). Jeder Ausdruck ist ein »vielsagender Eindruck, der in antagonistischer Einleibung aufgenommen wird. Seine unaufgelöste binnendiffuse Bedeutsamkeit verwehrt die Anwendung einer Über­ setzungsvorschrift« (ebd., 67). Gleichwohl erspüren Menschen ein­ ander durch diese Leiteindrücke; sie wissen nichts einzeln, aber erkennen einander. Die antagonistische Einleibung, die auf wechsel­ seitigem Sich-Gegenüber-Sein beruht, ist nach Schmitz »die Quelle aller Intersubjektivität, so wie affektives Betroffensein die Quelle der Subjektivität ist«. Darüber hinaus »vermittelt antagonistische Einleibung absolute Identität an alles, worauf sie trifft. Im Kanal des vitalen Antriebs aus Engung und Weitung wird absolute Identität über leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation übertragen« (ebd., 69). Das über den Leiteindruck einer Person in der Erstbegegnung Gesagte, trifft auch auf Gruppen zu, die sich erstmals zusammenfin­ den. Hier zeigt sich noch deutlicher der Charakter der Binnendiffusität einer Situation. Wenn der Praktiker den Veranstaltungsraum betritt, z.B. bei einem Salon, nimmt er schlagartig eine Stimmung wahr, ohne dass er die einzelnen Menschen als einzelne in den Blick nimmt. Erst aus dem Gesamteindruck lösen sich dann vielleicht die bekannten Gesichter von Stammgästen heraus und während der Veranstaltung verbindet er sich vermutlich immer wieder in antagonistischer Ein­ leibung qua Blickwechsel mit einzelnen Personen. Er befindet sich in einer besonderen Rolle in der gemeinsamen Situation und tut gut daran, die Atmosphäre nicht nur zu erspüren, sondern auch auf ihre Dynamiken zu reagieren, wenn es etwa darum geht, Unbehag­ lichkeiten im Beziehungsgeschehen auszugleichen oder emotionale Intensität in der Diskussion zu glätten. Man muss aber nicht unbe­ dingt mögliche Störungen erwähnen, die Atmosphäre in einem Salon kann so gut sein, dass sich eine vortragende Person vom Publikum tragen lassen kann und die Diskussion in einem sogenannten Flow der Erkenntnis wie selbstverständlich fließt. Auch in der moderierenden Rolle ist der Philosophische Prak­ tiker jenseits seines philosophischen Wissens ein Experte für die Kunst der guten Atmosphäre. Diese Expertise lässt sich nur in

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

gewissen Grenzen im Sinne eines strategischen Wissens oder metho­ dischen Antrainierens lehren bzw. lernen, wenngleich Erfahrungen hier essentiell sind. Wichtig ist jedoch, dass der Praktiker von sei­ nem Ethos getragen, ja in ihm atmosphärisch anwesend ist. Dieses strahlt in die Atmosphäre im Raum ein und mit seiner eingelebten Haltung vermag der Praktiker sich mitschwingend auf das Publikum zu beziehen und wird u.U. von Intuitionen und kreativen Einfällen im Salonprozess weitergetragen – wenn es gut läuft. Eine Atmosphäre kann aber auch umschlagen oder von vorneherein schwierig sein oder von einzelnen Personen bewusst oder ungewollt gestört werden, eine Diskussion kann destruktiv ausarten, vor allem, wenn das Publikum heterogen ist. Solche Situationen zu meistern, ist dann eine Heraus­ forderung.

5.2 Im Raum der Praxis präsent sein Die Arbeit in der Philosophischen Praxis unterscheidet sich von akademischer philosophischer Tätigkeit, insofern in ihr nicht nur Wissen und Erkenntnisstreben tragen, sondern eine persönliche existenzielle Begegnung ermöglicht wird, vor allem, wenn es um die individuelle Sprechstunde geht. Dies verweist auf den Leib als Resonanzraum und die »große Vernunft«, wie Nietzsche sagt. Das Ethos nährt grundsätzlich die zuständliche Situation der Praktikerin. Es geht unwillkürlich in ihre Präsenz ein, ohne dass sie dafür etwas gezielt oder in spezieller Anstrengung zu tun hätte. Jedoch ist auch diese zuständliche Situation nicht stetig sich selbst gleich, sie reichert sich mit Erfahrungen an, entwickelt sich weiter und verbindet sich mit aktuellen Situationen der Praktikerin, also durchaus mit allerlei ›Hintergrundrauschen‹ aus ihrem persönlichen Leben. Grundsätzlich tut sie gut daran, sich im Vorfeld einer Sitzung auf ihre Tätigkeit zu besinnen und ihre Haltung dem Besucher gegenüber zu vitalisieren, vor allem wenn sich Wichtiges oder Belastendes in den Vordergrund drängt. Für solches bewusstes Sich-Einstellen auf die Begegnung mag jeder eigene Routinen haben. Jedoch vollzieht sich auch ohne dieses Bemühen eine ›Vorbereitung‹ gleichsam wie von selbst; im Vorlauf der erwarteten Sitzung geschieht immer eine Art leibliche Einstim­ mung. Der Besucher ist dann quasi schon ›da‹, bevor er körperlich den Raum betritt. Auch dies gehört zu einer gemeinsamen Situation.

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5.2 Im Raum der Praxis präsent sein

Kennt man den Besucher noch nicht, befindet sich die Praktikerin selbst vielleicht in einer neugierig-interessierten Erwartungshaltung, ebenso der Besucher. Dieser kennt sich mit den Räumlichkeiten der Praxis noch nicht aus und hat sich erst einmal zu orientieren, im Raum, mit der Gegenwart der Praktikerin und der neuen Situa­ tion ihrer Begegnung. Nimmt die Praktikerin Unbeholfenheiten und Unsicherheiten beim ersten Ankommen wahr, kann sie möglicher­ weise sogleich ›auffangend‹ reagieren. Durch formale Prozeduren wie das Vorstellen der Praxisräume, das obligatorische Ausfüllen der Geschäftsformulare oder die Reichung von Getränken kann sie Gelegenheiten zu Beobachtung, Distanznahme und einem allmähli­ chen Ankommen einräumen – die Handhabung dieser Formalitäten ist eine Frage des persönlichen Stils in der Philosophischen Praxis. Auch für eine Besucherin, die man schon kennt, ist diese Phase der Ankunft von Bedeutung. Freilich fallen die geschäftlichen For­ malitäten weg, aber bestimmte Rituale formen und fördern durch ihren Wiedererkennungsmodus das Ankommen und die Aufnahme der Besucherin im Raum der Praxis. Sich die Situation respektive die gemeinsame Anwesenheit in diesem Raum bewusst zu machen, kann eine wichtige Grundierung der philosophischen Arbeit sein. Kennen sich die Beteiligten von früheren Sitzungen oder anderen Veranstaltungen, sind sie bereits in einer gemeinsamen Geschichte verbunden, die in jede neue Sitzung oder Veranstaltung gleichsam aus dem ›Off‹ hereinragt und eine Aktualisierung erfährt. Im Raum der Praxis zu präsent sein, bedeutet für die Praktikerin, den Besucher bewusst aufzunehmen und wahrzunehmen, ihn auf sich wirken zu lassen und ihn im eigenen leiblichen Resonanzraum (Praxis- und Personraum) willkommen zu heißen. Hier ist aber nichts zu verallgemeinern, weil für jeden Besucher ein eigenes individuel­ les und situatives Setting gilt, gemäß seiner je zuständlichen und aktuellen Situation. So kann es sein, dass ein Besucher schon kurz, nachdem er Platz genommen hat, Notizen oder Bücher herauskramt und diese unmittelbar in das Gespräch einbringt; andere Besucher brauchen eine Anlaufzeit, um sich im Raum mit der Praktikerin einzufinden, und kommen dann z.B. durch eine Frage ins Gespräch; wieder andere sind so übervoll mit Gefühlen, dass sie sich erst einmal sammeln möchten und dafür Zeit brauchen; es kann auch sein, dass man erst einmal schweigend und abwartend in einen Blickwechsel tritt und die Praktikerin durch eine Geste oder Bemerkung einen Auftakt setzt – die Varianten sind mannigfaltig und stets stellt die

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

Praktikerin dem Besucher, soweit sie es vermag, ihre Präsenz und Resonanzfähigkeit zur Verfügung, sie bietet sich also dem Gegenüber als Solidarpartnerin für sein Dasein und Anliegen an. Diese Prozesse sind bei der Einzelsprechstunde wesentlich intensiver als bei einer Gruppenveranstaltung, die in der Regel durch ein Thema und eine komponierte Agenda vorstrukturiert ist. Im Verlauf einer Sitzung oder Veranstaltung treten die Teilneh­ menden der Begegnung, des Dialogs oder Polylogs in das ein, was ich als existenzielle Gemeinschaft bezeichne, gestiftet durch mitfühlende und reflektierende solidarische Partizipation. Der Philosophin fällt hier die Aufgabe zu, ihre Präsenz im Raum wachzuhalten, ihr Gespür für die Gegenwart und das Anliegen des oder der Anderen konzen­ triert aufrechtzuerhalten, aber zugleich auch, die Begegnung aktiv zu gestalten, themengeleitet zu strukturieren und Prozessbeobachterin zu sein. In bewusst distanzierter Position hat sie als ein Moment der Vereinzelung z.B. die Uhr im Blick zu halten, was bedeutet, dass sie im Gegenzug zur Ankunft auch den Abschied einzuleiten und die Begegnung abzuschließen hat. Das ist bei einem Gruppen­ format manchmal einfacher als in einer Sprechstunde, in der es um existenzielle Themen, manchmal sogar konkrete Not und Leiden gehen kann. Auch wenn man in Ausnahmefällen ein Überziehen der vorgegebenen Zeit einräumen kann, so ist doch stets auf das rechte Maß zu achten und darauf, dass sich solche Verlängerungen nicht unbemerkt einschleichen. Es gibt Besucher*innen jedweden Formats, die es gerade darauf anlegen, mehr Zeit für ihre Belange ›herauszuholen‹, und dann ist es stets eine Herausforderung, einen taktvollen Abschluss zu finden. Wie man hier vorgeht, wirkt sich immer auf den Verlauf weiterer Begegnungen aus. Möglicherweise ist eine Person auch nach ihrer Verabschiedung noch im Praxisraum irgendwie gegenwärtig, sei es aufgrund der Intensität des Geschehens, der Berührtheit des Praktikers oder der noch von ihr aufgeladenen Atmosphäre. Solche Phänomene kennt man von der ›dicken Luft‹, die in einem Zimmer noch ›hängt‹, wenn die beteiligten Parteien eines dort verhandelten Streits schon lange gegangen und die Fenster weit geöffnet sind. Vielleicht war eine Sitzung oder Veranstaltung aber auch von Freude durchzogen und die Heiterkeit schwingt im Leib der Praktikerin noch nach, während der nächste Besucher mit einer womöglich schweren Lebensproble­ matik oder eine andere Arbeitsaufgabe schon wartet. Auf solche Gegebenheiten und atmosphärischen Schwankungen beim Wechsel

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5.3 Sich in existenzieller Gemeinschaft aufhalten

der Besucher und Formate muss man individuell reagieren können, damit die Arbeit für alle Beteiligten im guten Sinn gelingt. Manche philosophisch Praktizierenden legen zwischen den Sitzungen ohnehin Erholungsphasen ein, andere lüften nur kurz und lassen Klient auf Klient folgen, wieder andere pflegen in kurzen oder längeren Zeitfens­ tern die Kunst der Pause oder Übungen zur Revitalisierung ihrer Aufmerksamkeit. Grundsätzlich steht der Praktiker in Selbstsorge bezogen auf die berufliche Tätigkeit, hat also dafür Sorge zu tragen, dass er selbst, die Adressaten seiner Handlungen und die Arbeit nicht beeinträchtigt werden. Insofern ist die Praktikerin in der Zeiteinheit einer Sprechstunde in der Philosophischen Praxis mit ihrer eigenen Vorbereitung, dann von der Ankunft über den Aufenthalt bis zum Abschied des einzelnen Besuchers sowie auch in den Zeiten zwischen ihren Sprechstunden im Raum fortwährend präsent. Dies lässt sich auf die Gruppenformate wie Philosophische Salons übertragen, wobei die Sprechstunde sicher eine intensivere persönliche Einlassung erfordert. Doch auch im Salon sind bewusst gestaltete und rituell eingefasste Phasen der Ankunft und ebenso des Abschieds von Bedeutung. Zur Eröffnung können sie genutzt werden, um bestimmte Haltungen zu präsentieren und Regeln für den Diskurs darzulegen; zum Abschluss können sie für eine Zusammen­ fassung oder Bilanzierung der Diskussion, eine Wertschätzung des Publikums und einen Ausblick auf weitere Veranstaltungen sinnvoll sein. Während der Gruppenveranstaltung muss die Präsenz der Prak­ tikerin indes noch anders fokussiert werden und die Moderation des Gesprächs bzw. der Diskussion erfordert besondere Aufmerksamkeit auch in der Prozessbeobachtung, etwa im Hinblick auf die Konzentra­ tion auf das Thema, die Länge und Reihenfolge der Redebeiträge, die Beachtung der Umgangsformen bei Kontroversen usw. Für alle Formate und Wirkungsformen der Philosophischen Praxis ist und bleibt es die Aufgabe der Praktikerin, eine Prozessbeobachtung auch im Hinblick auf das Atmosphärische wachzuhalten, und dafür ist ihr Gespür bedeutsam.

5.3 Sich in existenzieller Gemeinschaft aufhalten Die durch ihr Ethos genährte Präsenz der Philosophin eröffnet den Verstehens- und Erkenntnisraum der Philosophischen Praxis und damit die Möglichkeit existenzieller Gemeinschaft. Das Ethos ist kol­

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

lektiv-historisch und individual-biographisch durch hochkomplexe Lernprozesse, Haltungen, Einstellungen, Erfahrungen, Bildungspro­ zesse etc. in die Person eingewachsen, es durchwirkt ihre Handlungen, wird dabei stetig aktualisiert und fortgeschrieben. Daher handelt es sich beim Ethos selbst um eine zuständliche Situation. Sie umhüllt die Philosophin wie ein Gewebe und ist tief in ihren Habitus eingelassen. Pointiert kann das Ethos beschrieben werden als die aktuell gelebten und vergegenwärtigten Einsichten in die moralischen Grundlagen der Existenz. In der Philosophischen Praxis können die Besucher*innen gleichsam in dieses Geflecht eintauchen und schon auf der Ebene des Atmosphärischen durch Gespür und Gefühl ihre eigene Orientierung jenseits des wie auch immer vereinzelt Geschehenen justieren. Das ist freilich kein willentlicher, sondern ein pathischer Prozess. Sich im Blick oder mit den ›Augen‹ des Philosophischen Praktikers zu sehen und sich in seinem moralischen Gewebe von Wohlwollen und Zugewandtheit aufzuhalten, wirkt auf das Selbstverständnis der Besucherin ein, noch bevor eine Konversation Fahrt aufgenommen hat. Diese atmosphärische Einbettung wird nicht verlassen, sondern um eine bedeutsame Dimension ergänzt, wenn die Teilnehmenden sich im leiblichen Vorgang des Sprechens noch auf eine andere Weise füreinander öffnen, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes, indem sie ihre Münder öffnen, getönte Luft durch sie ausstoßen und mit den Sprechwerkzeugen der oralen Zone ihre Worte formen. Die Stimme eines Menschen ist immer ein Medium des Atmosphärischen und lässt die Gestimmtheit der Person schwingen. Dass das Gesprochene gleichzeitig selbst und vom anderen gehört wird, ist noch dazu eine eigentümliche Selbst- und Fremdbezogenheit, die in schillernder Wechselbezüglichkeit die von Voigtländer beschriebenen Selbstge­ fühle und Spiegelselbstgefühle evoziert. Grundsätzlich wird die Gemeinschaft der Teilnehmenden durch die im Ethos des Praktikers verankerte Erkenntnis der mitmenschli­ chen Verbundenheit qua Gattungszugehörigkeit gestiftet, allgemein durch die Menschenwürde und weitere Werte der Humanität sowie speziell durch die in der Berufstätigkeit liegende besondere Aufmerk­ samkeit, die dem Gegenüber ›geschenkt‹ wird. Mit Bezug auf die Unterscheidung zwischen existentia und essentia in der scholastischen Seinslehre wird die Gemeinschaft in der Philosophischen Praxis existenziell, weil es um das Dasein, ja das Wirklichsein der Beteilig­ ten geht bzw. weil dem Dasein gegenüber dem Sosein ein Vorrang zukommt. Insofern greift an dieser Basis auch keine wie auch immer

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5.3 Sich in existenzieller Gemeinschaft aufhalten

geartete Rollenasymmetrie: Alle Beteiligten sind in ihrem Mensch­ sein einander verbunden, aber nicht nur abstrakt, sondern indem sie wirklich da und miteinander im Raum sind. Dies mag situativ ›nur‹ dem Philosophischen Praktiker bewusst sein und als Haltung speziell von ihm achtsam gepflegt werden. Philosophische Praxis kann indes grundsätzlich ein Ort dafür sein, diese Verbundenheit und Geborgenheit im gemeinsamen Dasein bewusst zu machen und sich ihrer in einem geschützten Rahmen wiederholt zu versichern. Schon darin liegt solidarische Partizipation. Dabei wird die Gemein­ schaft nicht nur qua Verstehen, Einsicht und Erkenntnis sowie die Inhalte des Gesprächs wirklich, sondern ebenso leiblich greifbar und phänomenologisch nachbuchstabierbar durch die Atmosphäre, die synästhetischen Charaktere und durch die sich darin binnendiffus vollziehende wechselseitige Einleibung der Beteiligten. Im Alltag ereignet sich Einleibung unablässig als »Verschmel­ zung auf einander eingespielter oder sich einspielender Leiber, z.B. beim Sichanblicken«. Schmitz (1995, 137) bemüht hier gern das profane Beispiel belebter Gehwege: Allein durch Eindrücke über Bewegungsspielräume, die in flüchtigen Blickkontakten gewonnen werden, gelingt es den Passanten, sich in einer bewegten Menschen­ menge ohne Kollision fortzubewegen. Weitere Beispiele sind der Händedruck, bei dem sich die Hände finden, ohne dass man genau hinzusehen hätte, sowie gemeinsames Musizieren, Mannschaftssport etc., oder auch das Ausweichen vor Hindernissen. In allen Fällen sind die beteiligten Menschen, Lebewesen oder Dinge in einer »über­ greifenden quasi-leiblichen Einheit kooperativ verschmolzen«; so ist schon die normale Wahrnehmung Einleibung (ebd. 138). Die Beteiligten in einer Sprechstunde oder Veranstaltung der Philosophi­ schen Praxis nehmen sich wechselseitig wahr und ›erkennen‹ sich aufgrund ihrer je gegebenen Rollen nach unterschiedlichen Erkennt­ nisinteressen. Wie aber kann nun der Philosophische Praktiker, wenn er nicht nur das Dasein, sondern auch das Sosein der Besucherin in den Blick nimmt, erschließen, was der Andere denkt und fühlt, mag und abweist, wie ihm zumute ist etc.? Für Schmitz, der vom Selbst als einem Bewussthaber im Sinne des Sich-Bewusst-Habens spricht, ist damit das Problem der Partnerfindung benannt. Woraus also entspringt die »Du-Evidenz«? Jenseits physiologischer oder projektionistischer Theorien hat Sartre (1989, 338ff.) bei seiner Blickanalyse die eigene Betroffenheit vom Angeblickt-Werden ins Spiel gebracht, dabei aber den Blick als

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

eine Art »Einbahnstraße« expliziert. Diese Einseitigkeit hebt Schmitz auf, indem er die wechselseitige Einleibung geltend macht, etwa beim In-einander-Tauchen der Blicke und weiteren Kommunikati­ onsformen. Dabei ist von Belang, dass Einleibung die Betroffenen nicht nachträglich, sondern zuständlich aneinanderbindet, durch »ein Hängen am Relat bei einseitiger, eine (eventuell fast unmerkliche) Auseinandersetzung mit oszillierender Dominanzrolle bei wechsel­ seitiger Einleibung« (Schmitz 1995, 148). Glückt die wechselseitige Einleibung, vermag man »den Anderen am eigenen Leibe zu spüren«, und zwar »am eigenen Leib«, nicht als etwas »vom eigenen Leibe«, »als etwas Fremdes, das über diesen kommt oder gekommen ist und ihn einnimmt«. Man »fühlt sich in wechselseitiger Einleibung vom Anderen irgendwie – eventuell eigentümlich – berührt«, »spürbar getroffen von seinem Blick« und von seiner Stimme. Schmitz ergänzt: »dem eigenen leiblichen Befinden entnimmt der Feinfühlige manch­ mal direkter und subtiler etwas über den Gesprächspartner als der Beobachtung dessen, was sich vor ihm abspielt.« (Ebd., 149) Schon beim Hereinkommen eines anderen Menschen in den Raum, in dem man sich aufhält, wird man »im Ganzen des übergrei­ fenden Leibes, der ad hoc die Partner wechselseitiger Einleibung verbindet, am eigenen Leib des Anderen gewahr« (ebd., 150). Später mag man dieses Spüren des Anderen genauer an seiner Haltung, Stimme, an seinem Blick etc. festmachen, aber zunächst ergreift die Anwesenheit des Anderen ganzheitlich. Bei solchem leiblichen Erfas­ sen des Anderen sind weniger feste und konkrete Formen relevant als vielmehr Bewegungssuggestionen. Es handele sich darum, wie Schmitz schreibt, »ob der Partner gereckt oder geduckt, straff oder lässig, großartig und weit ausladend oder eng, gepreßt und kleinlich pp. in Haltung, Mimik, Gebärden, mit zusammengekniffenen Brauen oder Lippen, stechendem oder unstet schweifendem Blick pp. aufge­ treten ist«. Sorgfältig und lebhaft werde beim alltäglich-unbefange­ nem Wahrnehmen aufgefasst, »was einem ›entgegenkommt‹, und dazu gehören außer Blick, Stimme und einer Atmosphäre, die sich in Blick, Stimme und vielerlei anderen Signalen ausbreitet, Gestaltver­ läufe, die an Bewegungen ebenso wie an festen Formen – z.B. als kühner Schwung einer Nase – vorkommen, und synästhetische Cha­ raktere z.B. der Stimme«. Im Gelingen der wechselseitigen Einleibung »entzündet sich also nicht nur die Du-Evidenz, mit einem Anderen meinesgleichen ... zu tun zu haben und verstrickt zu sein, sondern

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5.3 Sich in existenzieller Gemeinschaft aufhalten

man findet auch genügend Anhaltspunkte für sensible Steuerung der Evidenz im Detail« (ebd., 151). Bei den Phänomenen wechselseitiger Einleibung im Sinne einer – im Unterschied zur kritischen – ursprünglichen Partnerfindung, gewinnt man Erkenntnis durch Leibverwandtschaft. In »kritischer Siebung« bedarf es jedoch »objektivierender Beobachtungen«, in der Philosophischen Praxis gerade auch von Prozessverläufen und dem Wechselspiel von Interpassionen und Interaktionen. Eine andere Grenze hat die leiblich gestützte Partnerwahrnehmung dadurch, dass sie zwar das erfasst, was tatsächlich leiblich ist, in dem Sinne, dass es durch leibliche Regung oder in leiblicher Regung Spuren hinterlässt, nicht aber das, was der Andere »denkt und will, und nicht einmal, worauf er achtet, wenn er lauscht oder ›große Augen macht‹; danach muss man ihn fragen« (ebd.). Hier greift also, neben der qua existen­ zieller Verbundenheit gegebenen mitfühlenden Teilnahme am Dasein des Anderen, die qua essentiellem Interesse am Sosein des Anderen aufgegebene reflektierende Teilnahme. In deren Zentrum steht das Gespräch, zu dem nach Schmitz (2002, 180f.) drei Schichten von Situationen gehören: »erstens die aktuelle Gesprächssituation mit den gerade anliegenden Sachverhalten, Programmen und Problemen, zweitens die auf die Part­ ner zugeschnittene zuständliche Situation, die sich bei jedem Gespräch bildet oder umbildet und bei erneutem Zusammentreffen so lebendig wirkt, dass sie darauf einwirkt, wie die Partner miteinander auskom­ men, und schließlich drittens die Schicht der zuständlichen, aber nicht auf die jeweiligen Partner zugeschnittenen, jedoch deren Gespräch fundamental prägenden Situationen: die verwendete Gemeinsprache, die jeweils relevanten Konventionen usw.«

Mit der Sprache und den Konventionen sind bedeutsame Aspekte benannt, die im Gesprächsgeschehen der Philosophischen Praxis eine fortlaufende Prozessbeobachtung erfordern. Das Verstehen des Soseins des Anderen ist darauf angewiesen, diese fundamental prä­ genden Situationen stets mit im Blick zu haben und etwa fehlende Kenntnisse oder Verständnislücken im Reflexionsgeschehen aktuell zu ermitteln, notfalls durch wiederholtes Nachfragen. Die sprach­ liche Verständigung, die richtige Einschätzung und Stellung der Bezeichnungen, ist eine wichtige ›Kärrnerarbeit‹ im philosophischen Gespräch. Was ist mit dem gemeint, was der Andere sagt? Wie verwendet er die Worte? Diese Fragen werden stetig neu gestellt und in die gemeinsame Reflexion eingebunden. Hier kann es z.B.

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

einen Unterschied machen, ob ein Besucher als Muttersprache die deutsche oder eine andere Sprache erlernt hat. Zu jeder Sprache gehören kulturelle Hintergründe, emotionale Be- und Aufladungen, Rationalitätsformen etc. Eine auf Konventionen und Sprachspielen beruhende Situation ist beispielsweise auch die geschlechtliche Exis­ tenzweise, die aufgrund historischer Prägungen kulturell stark vari­ iert. So kann in der Philosophischen Praxis die geschlechtsspezifi­ sche Symmetrie oder Asymmetrie in der Rollenverteilung relevant sein, ebenso die Haltung der Teilnehmenden zur Geschlechtlichkeit sowie spezifischer, ob geschlechtsspezifisch Bedeutsames vom Phi­ losophierenden an eigenes Erleben anschlussfähig ist, also nicht nur intellektuell durchdrungen werden kann. Doch nicht nur die Geschlechtlichkeit wirkt als prägende Situation auf die aktuelle und zuständliche Gesprächssituation in der Praxis ein. Zu nennen sind ebenso etwa intrakulturelle und vor allem kulturelle Schienungen, rassifizierte oder andere diskriminierende Erfahrungen sowie vom Lebensalter bestimmte Gegebenheiten. Leibliche und sprachliche Kommunikation sind letztlich eng miteinander verwoben und stiften gemeinsam das Bedeutungsfeld der Begegnung. Als Solidarpartnerin bietet die Philosophische Prak­ tikerin ihrem Gegenüber eine existenzielle Gemeinschaft an, durch mitfühlende Teilnahme im Wohlwollen und Mitgefühl sowie durch reflektierende Teilnahme in weiser Umsicht und Urteilsfähigkeit. Sie ist ihrer selbst gewahr, hat ›sich bewusst‹ (Schmitz) und verhält sich zum Prozessgeschehen als Spürend-Erlebende und BeobachtendReflektierende.

5.4 Begegnungen strukturieren Das Begegnungsgeschehen in der Philosophischen Praxis ist weit­ gehend offen. Zwar gibt es für Salons, Workshops, Reisen und Spaziergänge Üblichkeiten, Konventionen und Erwartungen, aber insbesondere die Sprechstunde wird vom Philosophen nach zuständ­ lichen oder situativen Entscheidungen individuell gestaltet. Im Unter­ schied etwa zur Psychotherapie folgt die Begegnung keinem Schema von Anamnese, Diagnose, Therapiekalkulation etc. oder bestimmten Routinen eines Krisenmanagements in der Seelsorge. Für jede erste Begegnung liegt freilich eine strukturelle Aufgabe darin, die Ankunft in der Praxis zu gestalten, die wichtigsten Informationen zur Tätigkeit

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5.4 Begegnungen strukturieren

anzusprechen, also etwa die Länge der Sitzungen, Regelungen bei Terminabsagen, ethische Grundsätze etc. und die Formalitäten bezüg­ lich Honorarvereinbarung, Datenschutz sowie Erhebung und Verar­ beitung von Gesundheitsdaten zu erledigen. Alles Weitere obliegt dann der kreativen Gestaltung durch den Philosophen, wobei er möglicherweise auch seine grundsätzlichen Vorüberlegungen nach individuellen Gegebenheiten dynamisch anpasst. Insofern ist jede Begegnung in der Philosophischen Praxis einmalig, nicht vorherzuse­ hen und auf den Menschen in seiner Einzigartigkeit bezogen. Gestaltend und strukturierend wirkt selbstverständlich auch der Besucher in der Sprechstunde, durch seine Redebeiträge und seine Teilnahme am Resonanzgeschehen, aber auch dadurch, dass er in der Regel als zahlender Gast darüber bestimmt, ob er nur ein einziges Mal, eventuell nur zu einem Vorgespräch oder einer häufig kostenfrei angebotenen Probesitzung kommt oder sich auf einen längeren, ja vielleicht sogar monate- oder jahrelangen Prozess einlässt. Es steht in seiner Macht, die Gespräche bzw. deren Kontinuität jederzeit abzubrechen, er ist jedenfalls zu nichts wirklich verpflichtet. Das kann für den auch unter ökonomischen Zwängen stehenden Philosophen eine Schwierigkeit bedeuten, die dazu verleiten könnte, allzu enga­ giert zu sein, ›geschäftsfördernde‹ Maßnahmen einzurichten und im schlimmsten Fall Abhängigkeiten zu provozieren. Andererseits kann sich die gemeinsame Situation aber auch in einer Weise präsentieren, dass der Philosoph nach einem Vorgespräch keine weiteren Sitzungen anbietet, wenn sich etwa herausstellt, dass eine philosophische Arbeit nicht sinnvoll erscheint. Ebenso ist es möglich, dass der Philosoph nach einer gewissen Folge von Gesprächen die Zusammenarbeit beendet, weil das Anliegen abgeschlossen erscheint. Die Gründe dafür können vielfältig sein. Im günstigen Fall kommen beide Beteiligten einvernehmlich zu einem Abschluss ihrer Begegnungen. In dieser Dynamik kommt ein Geflecht von Asymmetrien zum Tragen, das auch im Hinblick auf das Beziehungsgeschehen genau beobachtet werden muss. Um dieses einzuhegen und in eine gewisse Verbindlichkeit zu rücken, kann ein Austausch über die Grundstruk­ tur der Begleitung oder zur Strukturierung der Sitzungen sinnvoll sein. Denkbar wäre hier etwa ein Zeitfenster von drei Sitzungen für das Verstehen und die Ausformulierung des Anliegens sowie eine anschließende gemeinsame Klärung zur zeitlichen Kontinuität und thematischen Rahmung der Begegnungen. Sinnvoll erscheint manch­ mal als rhythmisch einsetzbares Strukturelement innerhalb einer

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

Sitzung oder eines Intervalls von Sitzungen auch eine gemeinsame Rückschau auf das bereits Bearbeitete und das Beziehungsgeschehen. Hier können Rückfragen seitens der Praktikerin oder regelmäßig ausgegebene Fragebögen für beide Beteiligten im Sinne einer Metare­ flexion von Interesse sein. Möglicherweise ist ein Besucher aber durch solche Vorschläge verunsichert, möchte sich lieber in die Gespräche treiben lassen und auf gar keinen Fall irgendeine Form von Evalua­ tion betreiben. Qua existenzieller Gemeinschaft liegt die wichtigste Struktur der Philosophischen Sprechstunde und weiterer auf intensive Begegnun­ gen angelegter Formate in der mitfühlenden und reflektierenden Teil­ nahme. Diese hat immer eine Grenze in der zeitlichen Rahmung, also Anfang, Verlauf und Ende einer Einheit. Auch die Idee, das Geschehen sei programmatisch-methodologisch angehbar, ist irreführend. Für die solidarische Partizipation ist die Praktikerin nämlich in ihrem Dasein, ihren Tugenden und vor allem in ihrer Kreativität herausge­ fordert. Die Strukturierung der Begegnungen obliegt also einer eher intuitiven Gestaltung und fällt dem Prozessgeschehen folgend je indi­ viduell aus. Die Stärke und Größe Philosophischer Praxis liegt darin, dass sie eine Kunst ist. Zu jeder Kunst gehört ein ›Handwerk‹, das beherrscht werden muss. Außer den administrativen, ökonomischen und ästhetischen Vermögen, die bereits früher angesprochen wurden, zählen dazu konkreter u.a. auch strukturiertes Denken; sprachliches Ausdrucksvermögen; das Spielen auf der Klaviatur philosophischer Erkenntnisse und Disziplinen sowie professionelle philosophische Beziehungsfähigkeit, die in der mitfühlenden und reflektierenden Teilnahme liegt. So, wie eine bedeutende Künstlerin sich nicht nur durch ihr Handwerk auszeichnet, sondern ebenso und vor allem durch Gespür, Intuition, Inspiration, Spontaneität und Kreativität, sind auch Phi­ losophische Praktiker*innen schöpferisch tätig, indem sie sich auf eine Begegnung einlassen und sich in ihrer Dynamik in jedem Augen­ blick finden und ›erfinden‹. Es lässt sich trefflich darüber streiten, ob diese schöpferische Wirksamkeit mit strategischen Techniken lehr- oder lernbar ist. Gegenwartsbewusstsein, leibliches Gespür für Situationen, Sich-Einlassen auf das Seinsniveau eines Anderen, die Fähigkeit einfühlsamer Ansprache, das Ausloten und Pflegen von Nähe und Distanz – dies alles lässt sich aber doch übend erforschen und sukzessiv durch Erfahrungen ausbilden. Auch gewisse damit verbundene Haltungen sind kultivierbar. Unabdingbar scheint mir

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5.4 Begegnungen strukturieren

dafür, dass Philosophische Praktiker*innen die Philosophie auch als Lebensform betreiben, also bewusst leben, nach Weisheit streben, um Welt- und Selbsterkenntnis ringen, eine Idee vom guten Leben entwickeln, kritikfähig bleiben (auch bezogen auf sich selbst), sich in Einsamkeit und Gemeinschaft ausrichten können, sich zu sozialer Verantwortung und politischer Teilhabe verpflichten – um nur einige Parameter zu nennen. Dabei gilt: Was Philosophische Praktiker*innen in ihr eigenes Leben durch philosophische Bemühung und Bewältigung persönli­ cher Lebensereignisse aktiv und passiv eintragen, wirkt in alle ihre Tätigkeiten hinein und gibt ihnen auch eine Struktur. Diese lässt sich oftmals gar nicht im Detail planen und zeigt sich erst in der Rückschau als notwendig und plausibel. So ist in dem und über das hinaus, was aktuell in der Praxis behandelt und besprochen wird, die Präsenz der Philosophischen Praktikerin selbst schon wirksam. Ihre emotionale und kognitive Zuwendungsfähigkeit eröffnet dann heilsame Reso­ nanzräume, in denen der Besucher sich findet, in Besinnung gerät und seine Orientierung justiert. In dieser gemeinsamen Situation können sich gleichsam wie von selbst durch wechselseitige Einleibung Struk­ turen der Bezogenheit oder Rituale der Verständigung herausbilden. Das Hineintauchen in den Inspirationsraum einer Philosophischen Praxis kann im Prozess der Feinjustierung der eigenen Orientierung überraschende Wirkungen haben, z.B. werden manchmal spontan Erkenntnisse aktiviert oder Ideen für das Anliegen oder die Lebens­ kunst im Allgemeinen entwickelt. Im offenen Raum der Praxis können kreative Potenziale im Verstehen ›geweckt‹ werden und sprachliche Einfassungen von existenzieller Erfahrung gelingen, die wiederum den Besucher zum Verständnis seiner persönlichen Situation und zur Selbstdistanzierung verhelfen. Solche Prozesse der Inspiration lassen sich in der individuellen Sprechstunde ebenso gut beobachten wie in der Arbeit mit Gruppen. In dieser Weise philosophierend ins Gespräch zu kommen, ist mehr als ein intellektueller Austausch, vielmehr sind alle Beteiligten in ihrem Dasein auf sich und aufeinander angewiesen. Sie kreieren eine zuständliche Situation, die durch Gesprächsinhalte immer wieder Aktualisierungen erfährt und von den Besucher*innen auch nach Ablauf der gemeinsamen Zeit gleichsam ›mitgenommen‹ wird. Der Inspirationsraum der Philosophischen Praxis bleibt dann außerhalb der Sitzungen gegenwärtig, so dass wiederholte Begegnungen auch in der ›Zwischenzeit‹ in ihrem weiteren Verlauf strukturiert und

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

inspiriert werden. Die Kunst der Philosophischen Praxis, wie sie im Resonanzraum der gemeinsamen Situation in Interaktionen und Interpassionen zum Ausdruck kommt, entwickelt sich, wie bei ande­ ren Künsten auch, mit der Erfahrung und im Vollzug. Dafür ist indes die Philosophie als Lebensform und die ethische Ausrichtung der Berufstätigkeit immer ein bedeutsames Lernfeld. Doch nicht nur dies, auch der kollegiale Austausch, Inter- und Supervisionen, ein interdisziplinäres Netzwerk sozial tätiger Menschen und eine Einbindung in stabile Freundschaften sind bedeutsam für die Pflege der Philosophischen Praxis.

5.5 Prozesse spüren, beobachten und reflektieren In der Philosophischen Praxis einen Resonanz- und Inspirationsraum zu kreieren, ist eine bedeutsame und immer neu gestellte Aufgabe für den Praktiker, die sich einer mechanischen Machbarkeit und methodischen Verfügbarkeit weitgehend entzieht, gerade weil der Praktiker nicht nur seine Intellektualität, sondern seine Existenz ins Spiel bringt. Zum Können des Praktikers gehört aber die Bewältigung weiterer Aufgaben, die in gewissen Grenzen lehr- und damit auch lernbar sind, aufgrund ihrer Situiertheit in Interaktionen und Inter­ passionen jedoch eine Komplexität aufweisen, die eine besondere Aufmerksamkeit erfordert. Gemeint ist eine besondere Achtsamkeit auf einer übergeordneten Ebene, die das Beziehungsgeschehen selbst betrifft, also die interpersonale Bezogenheit. Das Gespür für Atmo­ sphären und das Dasein eines Anderen ist immer leibgebunden und in leiblichen Regungen und Gefühlen verankert. Insofern ist die Beschäftigung mit der gesamten Leibessphäre, mit dem eigenen Leib als Wahrnehmungsinstrument, dem fremden Leib als SpiegelSubjekt, mit der zwischenleiblichen Responsivität, mit Phänomenen der wechselseitigen Einleibung, also mit den subjektiven Tatsachen der Leiblichkeit von unschätzbarer Bedeutung für die Tätigkeiten in der Philosophischen Praxis. Dieser Ausrichtung der Arbeit muss indes stets eine intensive reflektierende Begleitung zur Seite gestellt werden, vor allem bezogen auf den Prozess der Begegnung und die sinnstiftende Orientierung am Anliegen des Besuchers. So richten sich viele Versuche der Lebensbewältigung auf Erfah­ rungen betroffener Selbstgegebenheit. Diese können eine solche Intensität erreichen, z.B. im starken Schmerz, dass die Möglichkeiten

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5.5 Prozesse spüren, beobachten und reflektieren

der Selbstdistanzierung vorübergehend sehr eingeschränkt sind. Ist der Betroffene dann wieder ›Herr seiner Sinne‹, kann er das Erlebte beobachten, reflektieren und integrieren. Dadurch schöpft der Mensch aus den binnendiffus bedeutsamen Situationen etwas Einzelnes ab und er findet sich zurecht, indem er Situationen als Konstellatio­ nen, also Vernetzung einzelner Faktoren rekonstruiert. Dies ist ein bedeutsamer philosophisch-praktischer Prozess, in dem es immer um eine Arbeit an der Sprache, einer adäquaten sprachlichen Einfassung des Erlebten geht, meist natürlich nicht in aktueller Betroffenheit, aber in ihrem Nachklang, in der nachwirkenden Erinnerung an oder Bezogenheit auf sie. Insofern bietet die solidarische Partizipation in der Philosophischen Praxis eben beides: Sie ist eine zuständliche gemeinsame Situation, in die aktuelle Situationen hineinragen, und Orientierung wird nicht nur durch den allgemeinen Resonanzraum ermöglicht, sondern bewusst durch konstellierende Verständigung gesucht. Der Philosoph ist mitfühlend und reflektierend dabei behilf­ lich, dass die Besucherin durch Vereinzelung und Vernetzung einzel­ ner Aspekte Orientierung in ihren Situationen findet. Übertragbar ist dies in etwas anderer Gestalt auf die Gruppenformate mit Blick auf die Orientierung in der Themenstellung etwa eines Salons. In diesem Geschehen kommt dem Philosophen nun noch eine besondere Aufgabe zu, nämlich Prozesse auf der Beziehungsebene zu erspüren, zu beobachten und zu reflektieren, um daraus weitere Erkenntnisse für das Verstehen und die Gestaltung des philosophi­ schen Vorgehens zu ermitteln. Das Gespür für den Prozess betrifft dann etwa die fluiden dynamisch ineinander übergehenden oder plötzlich hereinbrechenden Stimmungen und deren Modifikationen innerhalb eines Gespräches, auch die Veränderungen der Stimmlage, der Stimme und des Sprechvermögens, Haltung und Gestik der Besucherin. Mag es sich auch um objektiv Beobachtbares, bei der Stimme um Hörbares, ja sogar akustisch Messbares handeln, erspürt wird doch ein Eindruck von Regungsmomenten oder emotionaler Gestimmtheit. Dieses Gespür, das sich im Mitschwingen verdichtet, kann dem Philosophen das Erleben der Besucherin näherbringen und Anhaltspunkte für die Gesprächsführung liefern. Bedeutsam ist in der Prozessbeobachtung also auch der eigene Leib und dessen Reaktionen auf das am Anderen Wahrgenommene. Insofern befindet sich der Philosoph in einem Geflecht von Spüren, Beobachten und Reflektieren, das sowohl in das Geschehen eines philosophischen Gespräches eingebracht wird als auch auf einer Metaebene Einsicht

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

in die aktuelle Beziehung zwischen dem Philosophen und seiner Besucherin gewährt. Die Aufmerksamkeit auf diese übergeordnete Beziehungsebene während der Sitzung ermöglicht es dem Philosophen, den Spielraum der solidarischen Partizipation zu erkunden, also selbst Orientierung bei der Tätigkeit zu finden. So kann er bei der Wahrnehmung einer Unausgewogenheit zwischen mitfühlender und reflektierender Teil­ nahme gegebenenfalls gegensteuern und feinjustieren. Die solidari­ sche Partizipation verlangt dem Philosophen einiges ab, gerade weil er sich nicht auf eine professionelle Distanz zurückzieht, wie sie für die Psychotherapie vor allem in der Anfangszeit der Psychoanalyse vehe­ ment eingefordert wurde, sondern eine existenzielle Gemeinschaft anbietet und sich persönlich einbringt. Daher ist auch das rechte Maß zwischen Nähe und Distanz von großer Wichtigkeit für alle Beteiligten und bestimmt letztlich die Professionalität der Beziehung. Das wiederholte Wechselspiel und Ineinandergreifen von Nah-Sein und In-Distanz-Gehen stiftet aus der Verbundenheit im Mitfühlen und aus der Verlässlichkeit im Reflektieren eine Verbindlichkeit in der interpersonalen Bezogenheit, die als Routine eingespielt, mitunter sogar ritualisiert der Besucherin wichtige Anhaltspunkte für die Selbstsorge und den Umgang mit ihrem Anliegen zu geben vermag. Es kann hier nicht oft genug betont werden, dass die reflektie­ rende Teilnahme in der Philosophischen Praxis eine intensive Arbeit des Verstehens ist, die an der Sprache und im Sprechen ihr wichtigstes Bezugsfeld hat. Vor allem bei Anliegen von existenzieller Betroffen­ heit ist es bedeutsam, von der Basis des Mitfühlens aus, das der Phi­ losoph in seiner persönlichen Zuwendung im Raum vergegenwärtigt, die Sprachfähigkeit der Besucherin zu ermutigen. Die Unterstützung des Philosophen bei dieser Ermächtigung der Besucherin, ihre eigene Sprache für ihre Selbst- und Welterschließung zu finden und einem wohlwollenden Menschen gegenüber zum Ausdruck zu bringen, ist ein Prozess der Selbsterkenntnis, für den die Philosophische Praxis geradezu prädestiniert ist. Damit werden die Voraussetzungen für einen authentischen Dialog herangebildet, der im Unterschied zu vorgefertigten Gedankenprodukten das Selber-Denken anstiftet – ein zutiefst sokratisches Anliegen. Der Philosoph achtet im Mitfühlen die selbstgegebene Befindlichkeit der Besucherin und im Reflektieren ihre Fähigkeit, zu verstehen und eine ihr entsprechende Sprache zu finden. Die Wege dahin sind manchmal verschlungen und die Philo­ sophische Praxis fungiert hier als Laboratorium und Forschungsraum,

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5.5 Prozesse spüren, beobachten und reflektieren

als eingehegter Schutzraum für Versuche zu verstehen. Gerade weil in spätmodernen Gesellschaften die Rationalitätsformen einseitig ausgerichtet sind und wesentliche Bereiche affektiv-leiblichen Exis­ tierens, die für das Selbstverständnis hochbedeutsam sind, sprachlich erst noch eingefangen und durchdrungen werden müssen, bedarf es manchmal eines mühsamen Prozesses, die richtigen Worte und Begriffe zu finden, man gerät sogar mitunter ins Stammeln oder Stottern, bleibt schon einmal mittendrin stecken und probiert sich vortastend aus. Auch Pausen des Schweigens können schöpferisch wirken – hier trägt der kreative Charakter der Tätigkeit in Philosophi­ scher Praxis. Das Können des Philosophen basiert auf der Grundlage seines Mitgefühls und seiner Reflexionskompetenz gerade in seiner Offenheit für schöpferische Prozesse des Verstehens. Es handelt sich also um einen zweifach entfalteten Aufgaben­ bereich des Erspürens und Verstehens sowie des Beobachtens und Reflektierens von Prozessen in der Philosophischen Praxis, bezogen auf die Gestaltung und Mitgestaltung der Begegnung als solcher und im Hinblick auf die Metaebene der Beziehung zwischen den Beteiligten. Die eindringliche Reflexion dieser Beziehungsebene kann bei fortlaufenden Begegnungen im Vorfeld einer Sitzung eine wich­ tige Vorbereitung sein, ebenso kann sie im Nachgang jeder Sitzung das Verständnis für die Interaktionen und Interpassionen schärfen. Doch auch ein offenes Vor- und Nachspüren kann für die eigenen Intuitionen noch einmal wichtig sein. Zuweilen entstehen aus freien Assoziationen in der Beschäftigung mit einer Besucherin bzw. ihrem Anliegen spontane Einfälle für die weitere Gestaltung der Begegnung. Zur eigenen Orientierung kann es daher nützlich sein, sich während einer Sitzung, im Vorfeld oder im Nachgang Notizen zu machen. Das können Stichworte zum Wahrgenommenem und Erspürten, zu wiederholten Begriffen und Redewendungen der Besucherin, Einfälle für anschließende Themen und Interventionen sein, das können auch akribische Nachzeichnungen der angeschnittenen Themen, all­ gemeine und besondere Informationen aus dem Leben der Besucherin oder Zusammenfassungen der Stunde und vieles mehr sein. Jedenfalls können solche Aufzeichnungen nicht nur dokumentarischen Charak­ ter haben, sondern neben ihrer Funktion als Gedächtnisstütze ebenso eine Grundorientierung für die eigene Tätigkeit sein und eine kritische Sicht auf die Aufgaben der Prozessbegleitung fördern. Hier ist noch zu ergänzen, dass laut § 9 der DSGVO Informa­ tionen des persönlichen Lebens und vor allem Gesundheitsdaten

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

einem besonderen Schutz unterliegen. Sobald ein Philosophischer Praktiker während oder nach einer Sitzung handschriftlich oder digital Notizen über Aussagen der Besucherin zu ihrem Gesundheitszustand oder Details aus ihrem Intimleben anfertigt, erhebt und verarbeitet er diese besonders geschützten Daten. Dazu bedarf es einer schriftlichen Erlaubnis der Besucherin.

5.6 Geschlechtlich existieren, erotisch affizierbar sein und sexuell begehren Als Ort des Verstehens ist die Philosophische Praxis mit der Verfloch­ tenheit des Menschen in Existenzweisen befasst, die durch Körper, Leib, Biographie und Diskurs in besonderer Weise geprägt sind. Hier ist an erster Stelle das Lebensalter zu nennen, und damit hängt das geschlechtliche Existieren als eine Situation zusammen, die mit vielfachen, teils auch gravierenden Erfahrungen verbunden ist, und zwar durch die Gegebenheit, Beschaffenheit und Veränderung des Körpers sowie damit verbundener kultureller Interpretationen und leiblicher Erfahrungen, durch die Entwicklung der sexuellen Regungen und der Orgasmusfähigkeit, durch Erfahrungen in Liebe und Beziehungen, Entscheidungen im Rahmen von Elternschaft oder gesellschaftliche Imprägnierungen im Alter. Ich habe an anderer Stelle eine Phänomenologie der Geschlechter erarbeitet und besonders die weiblichen Leiberfahrungen erforscht (vgl. u.a. Gahlings 2016). Ähn­ lich geartete leibphänomenologische Forschungen zu männlichen, diversen, transsexuellen Leiberfahrungen, den sexuellen Orientie­ rungen und der Vielfalt sexueller Praxen sind immer noch weitge­ hend ein Desiderat, sie könnten aber zum Verständnis der Vielfalt geschlechtlicher Existenzweisen beitragen. Dies ist auch für die Philo­ sophische Praxis von Belang, da die Besucher*innen viele Anliegen aus diesem Bereich vorbringen, allen voran natürlich aus der großen Lust- und Problemzone der geschlechtlichen Beziehungen und der Partnerschaft. Natürlich sind die Philosophierenden selbst durch ihre eigene Geschlechtlichkeit geprägt und manche Fragestellungen oder Erfahrungen sind ihnen dann unter Umständen nicht wirklich vertraut oder zugänglich. Hier wie auch sonst sind also Begrenzungen der Fähigkeit des eigenen Verständnisses einzuräumen. Insofern ist für die Besucher*innen durchaus von Interesse, zu wem sie mit wel­ chem Anliegen gehen. Den Philosophierenden ist wiederum aufge­

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5.6 Geschlechtlich existieren, erotisch affizierbar sein und sexuell begehren

tragen, sich im Bereich geschlechtlicher Existenzweisen umfangreich fortzubilden, zumal heute durch medizinische Technologien, vom ästhetischen Enhancement über die Geschlechtsumwandlung bis hin zur Invitro-Fertilisation, erhebliche Eingriffe vorgenommen werden können, die mit ihren ethischen Fragen auch in die Philosophische Praxis hereingetragen werden. In der existenziellen Gemeinschaft, die in der Begegnungskultur einer Philosophischen Praxis entstehen kann, ist es nun möglich, dass sich zwischen der Philosophin und ihrem Besucher ein erotisches und sogar das sexuelle Begehren betreffendes Affektgeschehen ereig­ net. Solche Phänomene werden in der Psychoanalyse gern mit der sogenannten ›Übertragung‹ in Verbindung gebracht und im Sinne einer Stellvertreterbeziehung im psychotherapeutischen Vorgehen auch genutzt. Gleichzeitig rahmt das Abstinenzgebot in diesem Beruf die Affektivität wiederum ein, so dass etwa eine gelebte sexuelle Beziehung zwischen einem Psychoanalytiker und seiner Patientin während der Therapie eine schwere Verfehlung bedeutet und berufs­ ethisch entsprechend geahndet werden kann. Auch für die Zeit nach der Therapie werden in manchen Berufsverbänden zuweilen Fristen festgesetzt, innerhalb derer die Aufnahme sexueller Handlungen als verwerflich gilt. Trotz dieser Ge- und Verbote waren sexuelle Bezie­ hungen zwischen einem Psychotherapeuten und seiner Patientin im Verlauf einer Therapie – und zwar genau in dieser geschlechtsspezifi­ schen Konstellation – über Jahrzehnte keine Seltenheit. Deswegen hat es z.B. in Amerika einige Prozesse und sogar Berufsverbote gegeben. Die Schwere dieser Verfehlung hat verschiedene Dimensionen und betrifft insbesondere das Gelingen des Therapieprozesses sowie das Rollen- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Personen. Tatsächlich kann ein Verstoß gegen die Abstinenz den Therapieverlauf nicht nur konterkarieren, sondern sogar zerstören und traumatisie­ rend wirken. Wenngleich manche Prozesse mitunter einander äußerlich ähneln, haben wir es in der Philosophischen Praxis nicht mit einem psychotherapeutischen Geschehen zu tun, sondern mit einer Begeg­ nungsform, die beruflich sowie juristisch anders eingerahmt ist. Dies ist selbstverständlich kein Freibrief für beliebige Handlungs­ spielräume im Feld von Erotik und Sexualität. Vielmehr muss in der Philosophischen Praxis dazu in einem allgemeinen berufsethischen Kontext Stellung genommen werden, vor allem in Bezug auf die individuelle Sprechstunde. Gegebenenfalls kann es wichtig sein, über

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

diesbezüglich gewählte Regeln im Erstgespräch zu informieren, um die Sicherheit und den Schutzraum der Philosophischen Praxis klar zu definieren. In der Philosophischen Praxis kommt ein chaotisch-mannigfal­ tiges Geschehen von Interaktionen und Interpassionen zum Tragen, das auch Raum für erotische Regungen und sexuelle Affekte im Sinne von Widerfahrnissen bietet. In der Atmosphäre der solidarischen Partizipation kann sich sogar eine besondere Empfänglichkeit für erotische Impulse und sexuelles Begehren einstellen, und zwar auf beiden Seiten. Für den Besucher oder die Besucherin mag das Bezie­ hungsangebot, also die Zuwendung und die Aufmerksamkeit auf ihre bzw. seine persönlichen Belange, en passant sogar eine auch ero­ tisch-sexuell konnotierte Bezogenheit begünstigen, und zwar in einer Weise, wie sie sich außerhalb der Praxis niemals entwickelt hätte, weil die spezifische Asymmetrie der Rollen nicht gegeben wäre. Auch die Philosophin kann sich in der Haltung eines erlebnisoffenen Mitge­ fühls verlieben, selbst wenn es von reflektierter Teilnahme eingefasst ist. Der existenzielle Austausch und die Bereitschaft des Besuchers, Vertrauliches, Gefühle, intime Regungen und innerste Strebungen preiszugeben, könnte darauf Einfluss nehmen. Möglicherweise liegt sogar ein Vorteil darin, wenn die Philosophin sich in ihren Klienten verliebt. Ihre Empfänglichkeit und das Verständnis für sein Anliegen werden sich vermutlich steigern. Aber gerade hier ist Vorsicht geboten und mögliche Überforderung abzuwehren. Die Asymmetrie der Rollen bindet die Philosophin in jedem Fall an die Verantwortung, den einhegenden Schutzraum ihrer Praxis zu erhalten. Wann immer sich solche Regungen und Affekte einstellen, steht sie in der Verantwortung, sich über ihre Gefühle und die weitere Tätigkeit mit dem Klienten Rechenschaft abzulegen. In selbst­ kritischer Reflexion, in Intervision und Supervision lässt sich wohl ermitteln, wie man in einer aktuellen Situation sinnvoll mit diesen Gefühlen umgehen kann und ob es unter Umständen angezeigt ist, sie in der Sprechstunde selbst zum Thema zu machen. Gleiches gilt, wenn die Philosophin eine Verliebtheit bei ihrem Klienten bemerkt und die Arbeit dadurch einen anderen, vielleicht ungünstigen Verlauf nimmt. Hier kann es jedoch keine allgemeinen Handlungshinweise geben. Jede Begegnung ist individuell und eröffnet einzigartige zwi­ schenmenschliche Prozesse. Sich verlieben, sich erotisch angezogen fühlen, einen anderen Menschen sexuell begehren etc. gehört zum menschlichen Leben. Was darauf auf der Handlungsebene im privaten

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5.6 Geschlechtlich existieren, erotisch affizierbar sein und sexuell begehren

Bereich folgen kann oder nicht folgen sollte, ist allgemein durch unsere liberale gesellschaftliche Grundordnung mit den Persönlich­ keitsrechten festgelegt. Im Berufsfeld der Philosophischen Praxis wird man sich aber, was den Vollzug sexueller Handlungen zwischen einer Philosophin und ihrem Klienten angeht, darüber hinaus wohl an dem aus der Psychoanalyse stammenden Abstinenzgebot orientieren und sich einem »Eros der Ferne« (Klages 1951, 90ff.) überantworten. Das bedeutet aber nicht, dass Erotik und Sexualität nicht in einem produktiven Sinn zum Gegenstand der Gespräche und auch der Atmosphäre in der Praxis werden können, sogar, wenn sich ein aktu­ elles erotisches Affektgeschehen bei den Beteiligten ereignet. Dieses Thema also nur ex negativo von der Abstinenz her zu betrachten und damit abzutun, trägt dem phänomenologischen Leibverständnis in der Philosophischen Praxis noch nicht hinreichend Rechnung. Der Psychoanalytiker Hansjörg Pfannschmidt (1998, o.S.) hat hier auch für seinen Beruf eine andere Sichtweise angemahnt und im Gegenzug zur Thematisierung des sexuellen Missbrauchs danach gefragt, wie denn »der rechte Gebrauch der Sexualität in der Analyse aussehen könnte«. Er sieht die Aufgabe der Analytiker*innen von heute darin, »eine entwicklungsfördernde, trieb- und lustfreundliche Haltung in der Analysestunde zu ermöglichen, wo es gleichzeitig nicht darum gehen kann, die Liebe in physisch körperlicher Weise zu realisieren«. Seine Beschäftigung mit dem Thema geht u.a. auf experimentelle Workshops mit Kolleg*innen über erotische und sexuelle Inhalte und Impulse in der Analyse zurück. In diesen wurde für die Dauer der Workshops Abstinenz unter den Kolleg*innen vereinbart; zugleich sollte frei über erotisch-sexuelle Inhalte der Analysestunden und der Teilnehmenden untereinander gesprochen werden. Pfannschmidt berichtet, dass schon nach kurzer Zeit eine »angeregte, beschwingte lustvoll erotische Atmosphäre« entstand und viele sich ermutigt sahen, ganz frei ihre Erfahrungen mitzuteilen und dabei auch Beängs­ tigendes, Beschämendes nicht auszuklammern. Es handelte sich also um eine »lustvolle Erfahrung von Abstinenz«. Die Übereinkunft machte es möglich, erotische und sexuelle Fantasien »spielerisch zu äußern«, »sie zu erleben, sie zu genießen und sie dadurch in der Interaktion mit anderen Teilnehmern und dem Leiter zu verändern, zu ›bearbeiten‹ und neu in das eigene Körpererleben (das Selbst) zu integrieren«. Pfannschmidt schreibt (ebd.): »Dieses spielerische Erleben im Raum der Erotik, in dem der Analyti­ ker (Gruppenleiter) den geschützten Spielraum garantiert, in welchem

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

er sich gleichzeitig als spielerisches Gegenüber erotisch berühren lässt und diese Berührtheit nicht leugnet, ist die Voraussetzung für die Entwicklung und Korrektur erotischen Erlebens und für die Integra­ tion beängstigender, unbekannter‚ abgespaltener, verdrängter sexuel­ ler Impulse und Gefühle.«

Ohne hier auf die psychoanalytischen Besonderheiten des Vokabulars und Menschenbildes sowie die im Weiteren wichtigen Erkenntnisse Pfannschmidts für die Arbeit mit und in der Übertragung einzuge­ hen, bleibt für die Philosophische Praxis festzuhalten, dass ein Absti­ nenzgebot auch im Sinne einer Ermöglichung verstanden werden kann. Unter dem Schutz einer von der Philosophin verlässlich verwal­ teten Rahmenvereinbarung kann Erotisches und Sexuelles, sofern es zum Anliegen der Besucherin und dem Beziehungsgeschehen in der gemeinsamen Situation gehört, thematisiert werden, ohne unterdrückt oder ausgelebt werden zu müssen. Das ist auch insofern von Bedeutung, als gerade dieses Feld der leiblichen Regungen, Ergriffenheit und Ekstasen noch einen Sonderbereich der in unserer Gesellschaft etablierten Leibvergessenheit bei gleichzeitiger Körper­ besessenheit darstellt. Zwar scheinen die Heranwachsenden schon früh mit Pornographie vertraut zu sein und sammeln als Erwachsene durch Dating-Apps und dergleichen eine Vielzahl von sexuellen Erfahrungen mit wechselnden Sexualpartner*innen, gegenüber der eigenen erotischen Affizierbarkeit und den persönlichen Gefühlen des Erotisch-Sexuellen herrschen aber immer noch zahlreiche Sprachta­ bus und ausgeprägte Scham-Etiketten. Zwischen Eltern und Kindern gibt es nur eine kurze Phase, in der offen, spielerisch, selbstverständlich abstinent und zugleich gesell­ schaftlich toleriert über Erotik und Sexualität gesprochen werden kann. In der schulischen Aufklärung geht es meist um ein allgemei­ nes, häufig sogar immer noch unvollständiges Anatomie- und Fort­ pflanzungswissen sowie um die Muster und Abläufe des Erregungs­ geschehens, namentlich beim Geschlechtsverkehr, und schon dafür müssen die Zeitfenster gut ausgewählt werden, um den Unterricht von übertriebenem Scham- und Peinlichkeitsempfinden freizuhalten. Wo also finden Gespräche über die Geschlechtsliebe statt, über unsere Erfahrungen der Lust, Zärtlichkeit, Verletzlichkeit, Schutzlosigkeit und Preisgegebenheit an einen anderen? Wir können zwar letztlich alles über Erotik und Sexualität ›im stillen Kämmerlein‹ googeln, die mediale Klaviatur der Pornos kennen und auch Tantrakurse konsumieren, über die eigenen Gefühle, die Bedeutung zärtlicher

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5.7 Sich im virtuellen Raum begegnen

Berührung und sexueller Bedürftigkeit sprechen wir aber selten mit anderen, meist nicht einmal mit Intimpartner*innen. Und es gilt immer noch als anzüglich oder zu sexuellen Handlungen auffordernd, wenn man in Begegnungen über Liebesgefühle und sexuelle Fantasien spricht, die nicht auf Beziehungsanbahnung gerichtet sind. In der »lustvollen Abstinenz« der von Pfannschmidt beschriebenen psycho­ analytischen Arbeit mit und in der Übertragung sind solche Gespräche sicher möglich. Dies ist aber ein sehr spezieller Kontext. Die Philoso­ phische Praxis, in der ohnehin aufgrund kulturdiagnostischer Kennt­ nisse ein Fokus auf dem Bewusstsein und der Wiedergewinnung leiblicher Existenz liegt, ist schon eher ein allgemein zugänglicher Ort, in dem die Spielräume auch des Erotischen und Sexuellen in mit­ fühlender und reflektierter Teilnahme erkundet werden können. Der durch Enthaltsamkeit eingerahmte Schutzraum der Besinnung dient den Besucher*innen hier in besonderer Weise zur Ermöglichung und Ermächtigung des Sprechens über die machtvolle betroffene Selbstge­ gebenheit des Liebens, des Verliebtseins und der erotischen Affizier­ barkeit. In erotisch-sexuell konnotierten Situationen Orientierung zu finden und Spielräume auszuloten, ist schon deshalb wichtig, weil diese jeden Menschen oftmals tiefgreifend erfassen und das Leibliche mit einer gewissen Wucht vergegenwärtigen. Insofern Philosophische Praxis ganz selbstverständlich den Austausch über Lust, Liebe, Erotik und Sexualität ermöglicht, wenn sich hierfür der Bedarf zeigt, tritt sie auch einem der wirkmächtigsten und traditionsreichsten Denk- und Sprechtabus der Philosophiegeschichte entgegen.

5.7 Sich im virtuellen Raum begegnen Nach den Ausführungen zur Bedeutung der Leiblichkeit in der Phi­ losophischen Praxis stellt sich unweigerlich die Frage nach ihrer Situierung im virtuellen Raum. In der Covid-19-Pandemie wurde deutlich, welches Leiden mit den durch die Einschränkungen beding­ ten Resonanz-Notlagen verbunden war, und zwar bezogen auf Gesel­ ligkeit, Berührung, authentische Begegnung und Spontaneität im leiblichen Kontakt. Die Maßnahmen haben den Sportsektor, weitere ›Körperindustrien‹, alle kulturell bedeutsamen Stätten und Orte der Geselligkeit temporär vom Markt entfernt. Allgemein war das soziale Miteinander empfindlich gestört. Die Berührung, ja schon der Kon­ takt auf Riechnähe wurde als bedrohlich wahrgenommen und in dis­

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

ziplinierenden Verfahren geordnet. Die Berührungsetiketten wurden neu ausgehandelt und unser Bedürfnis nach leiblicher Nähe zuneh­ mend rationalisiert. Die soziale Spontaneität in den Umgangsformen veränderte sich: Der Begrüßungshandschlag war obsolet geworden; Umarmungen unter Freunden verloren ihre Selbstverständlichkeit und erfolgten nur nach Einholung einer Erlaubnis; man hielt im Mit­ einander Abstand und rückte bewusst voneinander ab; unter hohen Inzidenzzahlen wechselte man selbst im Freien die Straßenseite, wenn man Menschen begegnete; Kinder liefen nicht mehr spontan ihren Großeltern in die Arme, sondern zügelten solche leiblichen Impulse der Wiedersehensfreude, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Das gesamte soziale Klima hatte sich verwandelt. Selbst nach den Lock­ downs sind wir noch von Angst imprägniert und nicht wieder in alte Muster zurückgekehrt. Allenthalben wird die Digitaltechnik gelobt – was wären wir in solchen Krisenzeiten wohl ohne sie? Auch in der Philosophischen Praxis hat sie sich zunehmend etabliert. In virtuellen Sprechstunden, Online-Cafés etc. wurde sogar die Reichweite der Tätigkeit bis ins Internationale hinein ausgedehnt. Und doch lassen uns die digitalen Kontakte deutlich die Sehnsucht nach einer anderen Resonanz spüren. Tatsächlich ist ja die leibliche Dimension des Erlebens stark einge­ schränkt, wenn man sich nicht gemeinsam in einer für alle Beteiligten spürbaren, räumlich ergossenen Atmosphäre in wechselseitiger Ein­ leibung, sondern nur im virtuellen Raum an Bildschirmen begegnet. Die Personen befinden sich in zwei oder – bei Gruppenformaten – mehreren voneinander getrennten, atmosphärisch also ganz unter­ schiedlich aufgeladenen Räumen, die technisch mit Schwerpunkten im Visuellen und Akustischen aneinandergebunden sind. Hier kom­ men völlig andere Resonanzprozesse zum Tragen, die eine Umorien­ tierung der Wahrnehmung erforderlich machen. Lange vor den Debatten um die Technikfolgenabschätzung hat in den 1940er Jahren Hermann Keyserling in seinem Buch vom Ursprung die »Welt der Künstlichkeit« als Grundproblem menschlichen Existie­ rens beschrieben. Im Mythos von Adam und Eva sieht er dies veran­ schaulicht: Nachdem die ersten Menschen vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, werden sie sich ihrer Nacktheit bewusst und fertigen Kleider, also Künstliches für sich an. Keyserling konstatiert, dass dem Menschen als normale Lebensform nicht eine natürliche, wie beim Tier, sondern eine künstliche selbstverständlich ist. Alles menschliche Leben sei von Künstlichkeiten durchdrungen, und die zunehmende

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5.7 Sich im virtuellen Raum begegnen

Vermenschlichung des Lebensraums sei ein Vorgang beispielloser Verkünstlichung. Das Künstliche ist dem Lebendigen vordergründig betrachtet überlegen, es folgt mechanischen Gesetzen und wird allge­ mein gegenüber dem Lebendigen überbewertet. Auch »das Denken selbst gehört zum mechanischen Teil des lebendigen Geschehens«, erklärt Keyserling (1973, 32). Mit einer eigenen zwingenden Logik steht das Denken als Organ der Erd-Sphäre im Dienst von Ur-Angst und Ur-Hunger; es ist ›Lebensmittel‹, »dem organischen Leben unter­ stellt ... utilitarisch, praktisch und terre à terre durch und durch«, stets am Wozu, nicht am Warum orientiert und ursprünglich ohne geistige Motive (ebd., 36). Selbst in der Philosophie werden Kon­ struktionen errichtet, die gänzlich im Reich der Künstlichkeit wurzeln und lediglich das Denken befriedigen – so Keyserlings (ebd., 42) lebensphilosophische Kritik an der Philosophenzunft: »So ist denn die systematische Philosophie und nicht die Technik die Krönung der Welt der Künstlichkeit, in welche das Menschen-Tier die Welt einzuspinnen versucht, um sie zu bewältigen. In diesem Zusammenhang dürfen wir die Welt der Verstandesbegriffe geradezu mit dem Netz der Spinne vergleichen.«

Keyserling kommt zu dem überraschenden, aber konsequenten Schluss, dass die moderne Technisierung eigentlich keine Entfrem­ dung von der Natur ist, sondern eine fortschreitende Entfaltung des Denk-Organs, das ganz und gar zur menschlichen Natur gehört. Das Übel der Zeit liege aber in einer Überbewertung des Denkens und weiterhin darin, das Verstehen als genuin schöpferische Fähigkeit abzudrängen. Die Allmächtigkeit des Verstandes führe zu einer kalten Welt der Künstlichkeit, in der die Seele gleichgültig, das Lebendige unterdrückt, das Leben sinnlos werde. So lebe der Mensch in einer Spannung von Gegenwirklichkeiten, die ihm unauflöslich bleiben: »die sonderliche Daseinsebene des Menschen liegt weder in der Natur noch im Geist, weder im Göttlichen noch im Tierischen – und Gleich­ sinniges gilt von allen übrigen feststellbaren Gegensätzlichkeiten – sondern in einem Zwischenreich, welches zunächst als solches, als ebenso bestimmte und weder weiter zurückführbare noch aufzulö­ sende Einheit existiert, wie das Reich des Tierischen, und darum als Urtatsache hinzunehmen ist.« (Ebd., 54)

Das Zwischenreich entsteht »aus der Berührung des ganzen Men­ schen mit seiner ganzen Umwelt« (ebd., 60); zu ihm gehören die vom Verstand herausgestellten Künstlichkeiten ebenso wie sämtliche

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

kulturellen Gestaltungen, die sich in den Lebensformen herausbilden. Die menschliche Welt sei eine »von Konventionen bestimmte« (ebd., 65). Ihre konkreten Formen sind immer unvollkommen, niemals endgültig oder notwendig, sondern aufgrund der Freiheit des Men­ schen wandelbar. Daher empfindet der Mensch seine Existenz im Zwischenreich stets als vorläufige, zu überwindende und ist von einer Sehnsucht nach dem Ursprung ergriffen. Anknüpfend an diese Metapher kann man bezogen auf die in der Corona-Pandemie rasant etablierten virtualisierten Lebenswelten von einer Sehnsucht nach existenzieller Resonanz sprechen. Wenn man mit Keyserling das Zwi­ schenreich als eine Welt der Künstlichkeit begreift, die notwendig ins menschliche Existieren eingelassen ist, es aber doch nicht wesentlich und in der Tiefe erfüllt, so ergibt sich hier eine bedeutsame ethische Perspektive. Je weiter die Virtualisierung voranschreitet und die Welt der Künstlichkeit in die Lebensformen eingeschrieben wird, desto mehr reduziert sich die Erlebnisfähigkeit des Menschen und desto stärker wird sein Bedürfnis nach Authentizität. Diese Verarmung menschlicher Lebensmöglichkeiten bleibt nicht ohne Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Von Sehnsucht wird der Mensch ergriffen, wenn er etwas schmerzlich vermisst. In seinen Interaktionen sehnt er sich durch Fassade, Konvention und Bildschirm hindurch nach dem Antlitz des Anderen, um mit Emmanuel Lévinas zu sprechen, und danach, selbst Antlitz für den Anderen zu sein. Diese zwischenmenschliche Bezo­ genheit liegt vor allen sprachlichen Dimensionen und der Mensch ist darin lebenslang ganzheitlich involviert. Diese Beziehung der Nähe, dieser Kontakt ist nach Lévinas (1983, 280) »die ursprüngliche Sprache, Sprache ohne Worte und Sätze, reine Kommunikation!« Wir sehnen uns danach, von der Lebendigkeit des Anderen berührt und angesprochen zu werden und beim Anderen die Spuren des lebendigen Eindrucks von uns selbst zu entdecken. Wir sehnen uns danach, uns in gemeinsam kreierten Atmosphären leiblich anwesend zu spüren, uns in unmittelbaren Blickkontakt zu bringen und unsere Berührbarkeit mit allen Verstehensfähigkeiten wechselseitig auszule­ sen, wenn möglich auch mit den vielfältigen Sinneseindrücken bei den habitualisierten körperlichen Berührungen, etwa beim Handschlag das Spüren der Haut, der Wärme oder Kälte der Hand des Anderen oder in der freundschaftlichen Umarmung das Einatmen seines bzw. ihres Körperdufts, das Erlebnis sanfter leiblicher Abstimmung, das Aneinanderschmiegen der Wangen usw.

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5.7 Sich im virtuellen Raum begegnen

Durch die Maßnahmen in der Coronakrise, die uns abverlan­ gen, viel mehr als sonst üblich in der Welt der Künstlichkeit zu verbringen, sind wir auf schmerzliche Weise in Kontakt mit dieser Sehnsucht nach der Gegenwärtigkeit des bzw. der Anderen gekom­ men. Die Qualität menschlichen Lebens ist ja wesentlich durch unsere Beziehung zur Welt und zu den anderen Lebewesen, besonders den Mitmenschen bestimmt. So definiert Hartmut Rosa (2016, 298) den Begriff Resonanz allgemein u.a. als eine durch »Affizierung und Emotion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren«. Die in wechsel­ seitigen körperlichen Berührungen liegende Transformation zeichnet sich darüber hinaus durch eine komplexe einfühlend mitgehende zwischenleibliche Responsivität aus. Der spätmoderne Mensch leidet ohnehin schon unter Resonanzdefiziten jedweder Art und befindet sich allenthalben auf der Suche nach stabilen Resonanzverhältnis­ sen. Unter Coronabedingungen wurde dieser Suche eine beispiellose Absage erteilt. Unter Umständen eröffnet sich dadurch eine neue Wertschätzung ›leibhaftiger‹ Begegnung. Die Krise hat zumindest auch für Gefahren sensibilisiert: Wer die Welt der Künstlichkeit für die wahre eigentliche Welt, also die Matrix für das Leben hält, dem entgeht allmählich und mitunter nachhaltig eine Vorstellung davon und Erinnerung daran, wonach er sich sehnen könnte. Werden dann bedeutsame Aspekte des Menschseins längerfristig nicht mehr gelebt, so wird dieser Mensch schließlich eine Welt affirmieren und für selbstverständlich halten, die nur noch von Künstlichkeit als das ihm Bekannte, Perfekte, Mechanische durchzogen ist und kaum noch Spielräume für die Resonanzfähigkeit lässt. Die Verlagerung der Kontaktsphären in den virtuellen Raum bringt nun auch für die Philosophische Praxis etliche Schwierigkei­ ten mit sich. Während man normalerweise en passant, also durch die Gegenwart der Anderen, pathisch erfasst und in Intuitionen verarbeitet, was die Anderen betrifft und wie im guten Sinn kom­ muniziert werden kann, werden im digitalen Kontakt ja gerade die leibgebundenen Stimmungen und chaotisch-mannigfaltigen Eindrü­ cke abgeblendet. Das Gegenüber wird im Kamerabildausschnitt nicht einmal über den ganzen Körper und auch nicht in den üblichen Bewegungsanmutungen erfasst. Der Leiteindruck von der Gestalt des Anderen ist auf den Kopf und Teile des Oberkörpers und einen kleinen Bewegungsradius beschränkt. Das Gespür findet kaum einen

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

Anker in der flachen Präsentation des Anderen am Bildschirm und weicht dann zwangsläufig gegenüber visuell-akustisch und kognitivrational gestützten Einschätzungen zurück. Es entwickeln sich im Zuge der Erfahrung in digitalen Kontakträumen selbstverständlich auch neue, freilich veränderte Möglichkeiten der Einleibung, die mit einer Filterung und Kanalisierung der Sinneseindrücke, vor allem einer Konzentrierung des Seh- und Hörsinns einhergeht. Diese wird indes teils als quälend reduziert erfahren und reicht in keiner Weise an die Mannigfaltigkeit des Spürens in analogen Begegnungen heran. Augenfällig wird dies an dem seltsam zeit- und raumverscho­ benen asynchronen und damit nur vermeintlichen Blickkontakt im virtuellen Raum. Ein Blickwechsel ist hier nämlich überhaupt nicht möglich. Der Mensch vor dem Bildschirm kann sich gleichwohl einbil­ den, vom anderen angeblickt zu werden, und man kann auch lernen, so in die Kamera zu schauen, dass dem anderen dieser Eindruck vermit­ telt wird, jedoch kommt es nicht zum wechselseitigen unmittelbaren Blickwechsel vis à vis. Die Erfahrung des Eintauchens in das Antlitz des Anderen ineins mit der Erfahrung der eigenen Aufgehobenheit im Antlitz des Anderen entfällt. Diese aus der Ungleichzeitigkeit und der nicht geteilten Räumlichkeit resultierende Resonanzeinschränkung verursacht eine seltsame Empfindung von Abwesenheit des Anderen und des Nicht-wahrgenommen-Werdens durch ihn. Die Bildschirmarbeit geht vor allem dann mit Beschwernissen einher, wenn der Beruf wie in der Philosophischen Praxis von zwi­ schenmenschlichen Kontakten abhängt. Da sind mitunter die techni­ schen Lästigkeiten oder gar Störungen, die eine Verlässlichkeit der Interaktionen beeinträchtigen können und damit ein Stressfaktor sind. Da sind die Bewegungseinschränkungen aufgrund der Fixierung auf den Bildschirm durch ausschließliches Sitzen oder Stehen ohne Modifikationsmöglichkeiten im laufenden Gespräch. Da sind die merkwürdig präsentierten Beteiligten in an-, über- und untereinan­ der gereihten Kästen; man sieht sich auch selbst in einem solchen Kasten, wenn man dies nicht eigens ausblendet etc. Wenn nun die Kommunikation, ja sogar eine auf körperliche oder seelische Bedürf­ tigkeit reagierende professionelle Begegnungskultur nur über den Bildschirm abläuft, entgehen uns wesentliche atmosphärische und leibliche Interaktionen, mithin bedeutsame Kenntnisse über unser Gegenüber und des Gegenübers über uns. Hier müssen neue Formen der Verständigung und des ›Auslesens‹ der Anderen entwickelt und erprobt werden – ein neues Lernfeld mit besonderen Anstrengungen.

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5.7 Sich im virtuellen Raum begegnen

Hier ist interessant, dass sich in den virtuellen Umgangsformen ein Ritual herausgebildet hat, das immer wieder spontan in Erscheinung tritt: das Winken mit einer Hand oder sogar mit beiden Händen zur Begrüßung und zur Verabschiedung. Es ist, als würde man aus der Ferne dem anderen zuwinken, der ja paradoxerweise eigentlich am Bildschirm ganz nah, manchmal sogar allzu nah ist. Aber es scheint wichtig, dass man dem anderen seine Hand in die Kamera rückt, ein Körperteil, das ansonsten im Kameraausschnitt nicht sichtbar ist – möglicherweise eine Adaption oder Substitution des Handschlags, in jedem Fall eine besondere Geste interaktiver Lebendigkeit. Wenn sich das berufliche Leben ausschließlich oder überwiegend in den privaten Räumen abspielt, ist auch das professionelle Rollen­ verständnis auf dem Prüfstand. Die Vermengung und Entgrenzung von Privatem und Beruflichem ist herausfordernd, weil der private Bereich ja gerade dadurch privat ist, dass er uns zur Um- und Einhe­ gung unserer Gefühlswelten von der Außenwelt abschirmt. Schmitz (1995, 318) schreibt, Wohnen ist »Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum, wobei sich der Mensch mit den abgründigen Atmosphären, die diesen durchziehen, so arrangiert, dass er zu ihnen ein Verhältnis findet, in dem er mit einem gewissen Maß an Harmonie und Ausge­ glichenheit leben kann«. Dem Geschäftsreisenden, der sich ständig an anderen Orten aufhalten muss, fehlten solche Möglichkeiten des Wohnens, auch wenn er ein Dach über dem Kopf habe und für seine alltäglichen Verrichtungen gesorgt sei. Die spezifische Räumlichkeit der Gefühle werde, so Schmitz (ebd., 319), daran eindringlich, »dass Menschen immer wieder solcher Stätten des Wohnens – statt bloßer Unterbringung unter Dach und Fach – bedürfen«, um »die Gefühle gewissermaßen einzufangen, zu verwalten und an ihnen zu gestal­ ten«. Wird nun das Berufsleben in die Räume des Wohnens verlegt, reduziert sich die Möglichkeit, sich in der Sphäre individuell und familiär umhegter Gefühle aufzuhalten und zu erholen. Das war schon vor der Pandemie ein grassierendes Problem bezogen auf den Anspruch an die ständige Erreichbarkeit von Berufstätigen, in der Freizeit und sogar im Urlaub. In der individuellen Lebenspflege und in der Unternehmenskultur ist ein asketischer Umgang mit dem Mobiltelefon unabdingbar geworden. Unter den Corona-Einschrän­ kungen kam es aber zu schwerwiegenden Problemen: Die privaten Schutzstätten zur Erholung und Umfriedung wurden von beruflichen Inhalten, Prozessen und Atmosphären über einen längeren Zeitraum

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

hinweg durchzogen und ›bevölkert‹. Kolleginnen und Besucher, die man im Leben nicht persönlich nach Hause eingeladen, geschweige denn ins persönliche Arbeitszimmer gelassen hätte, ›kamen‹ mit einem Mal über den Bildschirm in zutiefst private Lebensbereiche. Selbst wenn man den Hintergrund, vor dem man für andere am Bildschirm erscheint, technisch verfremdet oder durch virtuelle Bilder ersetzt, hält man sich ja leiblich doch im Privaten auf, und dies kann Einfluss auf die berufliche Tätigkeit haben. Während sich der normale Arbeitsalltag außerhalb der Privatsphäre ereignet, mit Wegstrecken zum Arbeitsplatz und einem Eintauchen in die dortigen Atmosphären mit ihren Geräuschen, Gerüchen, Farben, Möbeln etc., den Kollegin­ nen und sonstigem Personal, verkürzt sich die Einfindung in die Rolle dramatisch, wenn wir vom Frühstückstisch in der Küche aufstehen und eine virtuelle Sprechstunde bestreiten. Nach den Erfahrungen durch die Pandemie ist wohl zu sagen, dass im Rahmen notwendiger Maßnahmen viel stärker als bisher das Leiden der Menschen an eingeschränkter oder sogar versagter existenzieller Resonanz Berücksichtigung finden sollte, und zwar differenziert bezogen auf besonders betroffene Gruppen der Bevölke­ rung wie z.B. Heranwachsende, Schwerkranke, Ältere und Menschen in besonderen Lebenslagen, wie etwa Gebärende, Sterbende oder Trauernde. Die Sehnsucht nach Resonanz ist ernst zu nehmen, wenn wir verhindern wollen, dass Menschen in der Welt der Künstlichkeit verloren gehen und sich kaum noch leiblich auf die Mitwelt bezo­ gen fühlen. Gerade jetzt brauchen wir eine Neubesinnung auf die intersubjektive Bezogenheit und eine Ethik existenzieller Resonanz, die dem menschlichen Grundbedürfnis nach Berührung, Geselligkeit und unmittelbarer wechselseitiger Aufgehobenheit im Antlitz des Anderen wieder zur Geltung verhilft. Diese ist vor allem bei jenen Wirkungsformen Philosophischer Praxis von Bedeutung, die auf Trost und Orientierung gerichtet sind. Die Philosophische Praxis kann eine Schutzzone für die Kultivierung interpersonaler Bezogen­ heit sein. So werden philosophisch Praktizierende ihre virtuellen Angebote mit Bedacht auswählen, sich der Einschränkungen im Reso­ nanzgeschehen bewusst sein und ihre Kenntnisse in der digitalen Kommunikation weiterbilden. Nicht zuletzt ermöglicht der virtuelle Raum auch Begegnungen mit Menschen, die aus vielerlei Gründen nicht persönlich in die Praxis kommen können. Es bedarf aber immer kluger Entscheidungen über das individuell geeignete Setting.

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5.8 Grenzfälle subjektiver Fassung beachten

5.8 Grenzfälle subjektiver Fassung beachten In ihrer solidarischen Partizipation ist die Philosophin persönlich in besonderer Weise involviert. Die erotische Affizierbarkeit ist durch professionelle Abstinenz ›lustvoll‹ einfassbar und gut zu handhaben. Anders sieht es aber bei Kontakt mit Personen aus, die aufgrund ihrer subjektiven Fassung das Beziehungsgeschehen irritieren oder sogar gravierend stören können. Bei Gruppenformaten wie dem Salon oder einem Workshop mag das weniger relevant sein, umso mehr aber in der konzentrierten Zweisamkeit einer Sprechstunde. Damit die Beziehung nicht entgleitet, ist im Sinne von Fürsorge und Selbst­ sorge vorsichtig zu erkunden, wie es um die Möglichkeit gelingender philosophischer Arbeit steht. Das ist nicht nur am Anfang einer Begleitung notwendig, weil es sein kann, dass die Philosophin nicht zum Besucher passt und vice versa. Auch in einer kontinuierlichen Arbeit, selbst nach mehrmonatigem oder langjährigem Umgang ist eine kritische Sicht auf die Entwicklung der Beziehung unabdingbar, z.B. wenn etwas plötzlich ›kippt‹ oder sich allmählich Schwierigkeiten aufbauen. Hier ist das Gespür für den Leiteindruck einer Person und die Dynamik der Bezogenheit auszubilden und dies erfordert, sich nicht nur mit der Vielfalt, sondern auch mit der Abgründigkeit menschlicher Existenzweisen auseinanderzusetzen. Zur Professionalisierung Philosophischer Praxis ist aus meiner Sicht eine über die philosophische Anthropologie hinausgehende Menschenkenntnis in Bezug auf jene Facetten von Subjektivität wich­ tig, die man gemeinhin als ›psychische Störungen‹ zu den Erkran­ kungen der Seele zählt und nach bestimmten Diagnosekatalogen charakterisiert. Dabei geht es nicht allein um Deformationen ganzer Bevölkerungsgruppen durch Kulturalisierung, sondern um ernstes individuelles Leiden, dem teilweise mit einschlägigen Medikationen begegnet wird bzw. werden muss. Es wäre für einen Praktiker nicht völlig unangebracht, sich z.B. einmal als Praktikant in einer psychi­ atrischen Klinik einzufinden und in Tuchfühlung mit jenen Menschen zu gehen, die in geschlossenen Abteilungen massiv von solchem Leiden betroffen sind und unter dem Einfluss von Psychopharmaka stehen. Es ginge dabei weniger darum, sich ein Bild von der Band­ breite aktuell gängiger psychiatrischer Erkrankungen zu machen, als vielmehr darum, die Atmosphäre in solchen Einrichtungen zu erspüren, das Elend der Betroffenen wahrzunehmen sowie die eigene Fähigkeit zum Mitfühlen und Mitschwingen mit ihnen zu erkunden.

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

Dabei lernt der Philosoph sicher etwas über die Grenzen seiner Empfänglichkeit für das Dasein Anderer und seine Bereitschaft, sich auf sie einzulassen, womöglich aber auch etwas über die Unzugäng­ lichkeit, Verschlossenheit und das Zur-Welt-hin-abgeschottet-Sein von Menschen in bestimmter abgründiger Existenzform. Auch einge­ schränkte Vermögen zum sprachlichen Ausdruck, zur Identifizierung mit sich oder zur Selbstdistanzierung können hier schnell die Einsicht erbringen, dass eine philosophische Arbeit kaum hilfreich oder gar nicht möglich sein wird. Vermutlich werden diese Personen ohnehin nicht aus eigenem Antrieb eine Philosophische Praxis aufsuchen. Ernste Leidenszustände werden aber nicht immer psychiatrisch bzw. psychotherapeutisch behandelt und treten mitunter gar nicht offen in Erscheinung. Zu manchen Facetten subjektiver Fassung gehört, dass die Betroffenen keinerlei Leiden oder Problem an sich selbst wahrnehmen. So sind in der kalten Welt des Kapitals bestimmte ›Pathologien der Persönlichkeit‹ nicht nur erwünscht und weit ver­ breitet, sondern sogar notwendig, um in diesen Berufen arbeitsfähig zu sein. Schon allgemein ist die Bereitschaft zur Selbstüberschätzung und Verstiegenheit nicht gering und es ist vor allem das Wahrnehmen der eigenen Verletzlichkeit und Bedürftigkeit, welches zahlreiche Mechanismen der Gegenwehr mobilisiert und das leiblich-emotio­ nale Geschehen sowie eine intersubjektive Ansprechbarkeit und Berührbarkeit abdrängt. Es bedarf einer gewissen Schärfung des Gespürs und des Urteilsvermögens, also einer vertieften Menschen­ kenntnis, wenn man ermitteln möchte, ob eine Person im Vollzug Philosophischer Praxis bzw. bei der Person des Praktikers gut aufge­ hoben ist. Auch wenn man Störungen im Beziehungsgeschehen nicht grundsätzlich ausschließen und diese durchaus produktiv bewältigen kann, obliegt es der Praktikerin nach reiflicher Überlegung zu ent­ scheiden, ob sie einen Menschen in die Sprechstunden aufnimmt oder nach einem Störungsvorfall weiter mit ihm arbeitet. Stets ist hier indes zu berücksichtigen, dass die Philosophin selbst blinde Flecken hat oder haben kann, die sich auf ihre Arbeit in nicht konstruktiver Weise auswirken können. Bedeutsam ist hier wie dort, Irritationen wahrzunehmen und richtig einzuschätzen. Sich ihrer bewusst zu werden, kann ein wichtiger Prozess in der Philosophischen Praxis sein. Das betrifft mit besonderem Ernst die Sprechstunde, die zwar grundsätzlich offen sein sollte für jedes Anliegen, aber eben nicht für alle Menschen die richtige Handreichung ist. Wird dies nicht rechtzeitig erkannt, kann die Begegnung im schlimmsten Fall sogar

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5.8 Grenzfälle subjektiver Fassung beachten

für alle Beteiligten destruktiv werden. Gleichwohl ist an der prinzi­ piellen Offenheit der Philosophischen Praxis festzuhalten und der Besucher nicht einem ›psychiatrischen Check-Up‹ zu unterziehen, so nützlich eine gewisse psychologische Vorbildung vielleicht sein kann. Es geht hier eher um die Wertschätzung des Gespürs für Irritationen im Leiteindruck einer Person sowie eines Begegnungsgeschehens, und dafür ist es sicher nicht zielführend, ein Register von Schubladen zu ziehen und Voreingenommenheit zu pflegen. Man kann sich dieser Thematik auch leibphänomenologisch und subjekttheoretisch anzunähern versuchen. So kennzeichnet Schmitz die Psychiatrie und Psychotherapie historisch ohnehin als Erbe der Weltspaltung. Er weist den mit ihr verbundenen Seelenbegriff und damit auch das ABC der Diagnostik von Psychopathologien konsequent ab. Eine Person ist nach seiner Begriffsbestimmung »ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung« also einer »Identifizierung von etwas mit mir« (Schmitz 2014, 29). Mit der Kennzeichnung der Selbstzuschreibung ist im Unterschied zu allge­ meinen Kennzeichnungen indes eine Besonderheit verbunden, da das Relat schon vor der Identifizierung bekannt sein muss. Über eine Ute Gahlings können vielerlei Aussagen gemacht werden, die diese Person eindeutig identifizieren, daraus geht jedoch noch nicht hervor, dass ich diese Person bin. Dem Umstand, dass ich diese Person bin, muss ein »identifizierungsfreies Selbstbewusstsein ohne Selbstzuschreibung« zu Grunde liegen (ebd., 30), und dies ist nach Schmitz das affektive Betroffensein. Es handelt sich dabei um sub­ jektive Tatsachen, die nur ich aussagen kann, wogegen objektive oder neutrale Tatsachen auch von anderen ausgesprochen werden können. In affektiver Betroffenheit muss ich mich nicht erst noch suchen, sondern bin mir (von) selbst gegeben: Ich weiß also z.B. im Migräneschmerz ohne weiteres, dass es sich um mich handelt, die leidet, ohne dass ich mich noch mit mir identifizieren müsste. Schmitz hat wiederholt darauf hingewiesen, dass der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Tatsachen in der Tatsächlichkeit liegt und keineswegs inhaltlich zum Tragen kommt. Wenn eine »subjektive Tatsache des eigenen affektiven Betroffenseins in unversehrter Fülle einem anderen übermittelt werden soll«, fungiert das Wort ›ich‹ auch nicht mehr als Pronomen, sondern als »Anzeige der Subjektivität des Mitgeteilten« für den Sprecher. Schmitz (ebd., 33) verdeutlicht dies mit der fingierten Person Peter Schulze anhand einiger Beispiele:

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»Zuerst an der Liebeserklärung: ›Peter Schulze liebt dich, überflüssig zu sagen, dass ich er bin.‹ Das angesprochene Mädchen ist verstimmt; es möchte sagen und sagt vielleicht: ›Das ist doch gar nicht überflüssig, gerade darauf kommt es mir an.‹ Nun eine Szene im Beichtstuhl: Sünder: ›Peter Schulze hat gesündigt.‹ Beichtvater: ›Sprich: Ich habe gesündigt.‹ Sünder: ›Das ist doch ganz überflüssig.‹ Beichtvater ver­ weigert die Absolution. Schließlich ein Schrei aus dem Wasser: ›Hilfe, Peter Schulze ertrinkt, überflüssig hinzuzufügen, dass ich das bin.‹ Das ist kein echter Hilferuf; der hilfsbereite Mitmensch, der auf den Ruf ›Hilfe, ich ertrinke‹ sofort reagiert hätte, wird erst einmal neugierig nachsehen, was eigentlich los ist.«

Ausgehend von dieser Bestimmung der Subjektivität hat Schmitz (2015, 77) in verschiedenen Arbeiten dargelegt, was eine »Psychiatrie der Subjektivität ohne Seele ausmacht, welche Gegenstände und Auf­ gaben sie behält, nachdem sie von der einfachen Gegenstandsbestim­ mung des gestörten Psychischen abgekommen ist«. Psychiatrische Diagnosen wie endogene Psychosen, Neurosen etc. erscheinen im Licht der Neuen Phänomenologie als »Störungen der Subjektivität«. Wenn man mehr über sie aussagen und nicht nur ihre Symptome beschreiben will, »muss man von für den Patienten subjektiven Tat­ sachen, Programmen und Problemen sprechen.« Was die Krankheit ausmache, seien subjektive Tatsachen, »nicht objektive Tatsachen mit subjektiver Stellungnahme des Patienten dazu« (ebd.). Damit weist Schmitz den Weg einer »Subjektivitätsmedizin ohne Seele« (ebd., 78). Allgemein ist festzuhalten, dass die persönliche Situation »von der persönlichen leiblichen Disposition« grundiert wird, die »ihre Antriebsquelle« ist (Schmitz 2015, 88). Ich habe die leibliche Lotung begrifflich eingeführt, die sowohl zuständlich als auch aktualisiert das Selbstgefühl eines Menschen ausmacht und nur bei hervorragender Schauspielkunst so verborgen werden kann, dass sie einer anderen Person entgeht. Schmitz differenziert beim »vitalen Antrieb«, seiner Stärke und seiner Bindungsform, nun unterschiedliche Typen, wobei er unter der Bindungsform die Weise versteht, in der die Kompo­ nenten des vitalen Antriebs, also engende Spannung und weitende Schwellung zusammenhängen. Diese Bindungsform kann kompakt sein, »so dass beide Impulse zäh aneinanderhaften, wie beim Einat­ men, und nur nach Stauung ein ruckartiger Wechsel des Übergewichts zu Stande kommt«. Sind Menschen in dieser leiblichen Disposition eingewöhnt, nennt Schmitz sie »stufenmütig (bathmothym)«; bei überwiegender Spannung seien sie »Phlegmatiker, die schwer in

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5.8 Grenzfälle subjektiver Fassung beachten

Bewegung zu setzen sind, bei überwiegender Schwellung Dynamiker, die schwer anzuhalten sind«. Schwingt der vitale Antrieb »rhyth­ misch« »zwischen Übergewicht der Spannung und Übergewicht der Schwellung«, sei der Mensch in seiner leiblichen Disposition »kreis­ mütig (zyklothym)« (ebd., 88). »Spaltmütig (schizothym)« sind die Menschen, wenn »die Bindung im vitalen Antrieb so locker« ist, dass »Anteile der Engung aus der Spannung und Anteile der Weitung aus der Schwellung leicht abgespalten werden können«. Schmitz (ebd., 89) beschreibt diese Menschen, um es einmal etwas anschaulich zu machen, wie folgt: »Sie sind einerseits von Schreck, Panik, Bestürzung (privative Engung) bedroht, andererseits aber zur weitenden Abhebung (privative Wei­ tung) befähigt, so dass sie sich strategisch, ironisch oder schwärmerisch usw. über die Situation stellen und auf diese Weise ihre Beirrbarkeit ausgleichen können.«

Von der Art der leiblichen Disposition wird also die Vitalität bestimmt. Schmitz spricht von einer Grundschicht der Vitalität. Die­ ser liege die Reizempfänglichkeit des vitalen Antriebs auf, und davon unterscheidet er nochmals als »höchste Schicht die Zuwendbarkeit des vitalen Antriebs zu empfangenen Reizen« (ebd., 89). Jegliche Aktivität, »darunter der Ruck, den man sich zum Realisieren einer Absicht geben muss, damit wirkliches Wollen zu Stande kommt, ist Zuwendung des vitalen Antriebs« (ebd.). Alle drei Schichten des vita­ len Antriebs seien unabhängig voneinander störbar. So setzt Schmitz mit der weit gefassten und leiblich fundierten persönlichen Situation einen Gegenbegriff zur Seele als einer durch Weltspaltung evozierten abgeschlossenen Innenwelt und erschließt ein neues Verständnis für die Facetten der Subjektivität, einschließlich sogenannter psychischer Störungen. Zwar werde die Person ihre persönliche Situation und ihre persönliche Eigenwelt nicht los, aber sie tauche »in Routine oder personaler Regression beständig ins präpersonale Leben ab, wo sie durch leibliche Kommunikation ohne Weiteres an Begegnendes angeschlossen ist und ihm offen steht« (ebd., 90). Die persönliche Situation ist also keine abgeschlossene Innenwelt, auch deshalb nicht, weil sie keineswegs »nur als Hülle die Person einschließt, sondern dieser auch als Partner entgegentritt« (ebd., 90). Dies sei namentlich beim Wollen der Fall, also bei der »Bildung einer Absicht«, und dann bei »der Zuwendung des vitalen Antriebs zu der gebildeten Absicht«. Man müsse wissen, was man will, und dazu befrage man seine

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persönliche Situation, um herauszufinden, was einem entspricht; ist die Entscheidung gefallen, wird dieses Raisonnement abgebrochen, und mit dem Schwung der Zuwendung des vitalen Antriebs wird das Wollen umgesetzt. Die persönliche Situation sei also »kein Asyl für die Seele und ebenso wenig eignet sich dafür das Bewusstsein« (ebd., 91): »Anstelle eines Bewusstseins mit allerlei Inhalten genügt das Bewusst­ haben eines Bewussthabers, der im präpersonalen Leben erst absolut identisch ist, bei der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt aber zum einzelnen Subjekt wird und sein präpersonales Sichbewusst­ haben (identifizierungsfreies leiblich-affektives Betroffensein) durch Selbstzuschreibung ergänzt. Die sogenannten Inhalte des Bewusst­ seins, die Gedanken, Gefühle usw., tauchen vor ihm auf und werden gegebenenfalls durch Zuwendung des vitalen Antriebs und/oder der persönlichen Stellungnahme von ihm aufgegriffen.«

Soweit also der Weg durch den Aufbau der Person zu dem, was Schmitz dann »Störungen der Subjektivität« nennt und in drei Rubri­ ken aufteilt: Störungen im Bereich des Leibes (1), im Verhältnis der Person zu ihrer präpersonalen Leiblichkeit, also im Bereich von personaler Emanzipation und personaler Regression (2) sowie perso­ nale Störungen (3). Ohne das hier eingehend darzustellen, sollen einige Überlegungen und Beispiele zeigen, wie erhellend es sein kann, einen gleichsam phänomenologisch bereinigten Blick auf bestimmte Einfassungen persönlicher Situationen und verschiedene Facetten von Subjektivität zu werfen. Zu den leiblichen Störungen der Subjektivität, die mit Enge und Weite zusammenhängen, zählt Schmitz die Depression, sofern sie mehr ist als traurige Verstimmung; dann ist sie »Lähmung des Rhythmus im vitalen Antrieb, d.h. des rhythmischen Schwingens des Übergewichts von Spannung und Schwellung«. Bezeichnend sei hier das den Deprimierten quälende Gefühl der Gefühllosigkeit: »Die Gefühle als ergreifende Atmosphären können seinen vitalen Antrieb nicht mehr aufwühlen, …, da dem Antrieb die Schwingungsfähigkeit abhanden gekommen ist; der Mensch liegt wie ein Stein unbeweglich in der Brandung der Gefühle« (ebd., 92). Eine Störung der rhyth­ mischen Schwingungsfähigkeit sieht Schmitz auch beim Bathmothy­ miker, der gleichmäßig belastbar sei, aber bei Überlastung nicht elastisch ausweichen kann und »nur ruckartig zusammenbrechen oder explodieren« könne. Ist die Oberschicht der Vitalität gestört, dann sei die »Kapazität der Reizempfänglichkeit« überfordert, wie z.B.

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5.8 Grenzfälle subjektiver Fassung beachten

bei Nervosität und reizbarer Schwäche (ebd., 92). Eine Störung der Zuwendbarkeit des Antriebs sieht Schmitz z.B. bei der Hyperaktivi­ tät Heranwachsender. Essstörungen hängen eher mit der leiblichen Dynamik der protopathischen (dumpfen, diffusen, ausstrahlenden) und epikritischen (schärfenden, spitzen, Punkte und Umrisse setzen­ den) Tendenz zusammen, wobei Schmitz die Fettsucht als »Vergeltung der protopathischen Tendenz für die einseitige Heraus- und Über­ züchtung der epikritischen Tendenz im modernen Leben« deutet, wofür er u.a. die »Verengung der leiblichen Richtungen, besonders des Blicks« bei der Computerarbeit anführt, die frei wählbare Richtungs­ impulse stark einschränkt (ebd., 93). Auch die Bulimie erklärt Schmitz mit einer Irritation der protopathischen und epikritischen Tendenzen leiblicher Dynamik. Indes zählt er, um ein letztes Beispiel zu nen­ nen, auch den qualvollen Schmerz »als paradoxe Selbstvereitelung der Schmerzabwehr« zu den leiblichen Störungen der Subjektivität (ebd., 94). Zu den Störungen im Zwischenbereich von personalem Leben und präpersonalem Leben (personale Emanzipation und personale Regression) gehören die oft »katastrophalen Störungen« (ebd. 95), die früher als Schizophrenie und Hysterie bezeichnet wurden, wobei Schmitz besonders die Schizophrenie eingehend studiert hat. Eine ihrer Quellen hält er auch aus anthropologischen Perspektiven für bedeutsam, insofern hier ein »Verlust der Elastizität im Spielraum von personaler Emanzipation und personaler Regression« zum Tragen kommt. Während sich ›normale‹ Menschen nach einer Erschütterung wieder fassen und in personaler Emanzipation Abstand gewinnen könnten, stecke der Schizophrene fest, »erstarrt gleichsam in der Haltung, in der ihn die Betroffenheit erwischt hat, ohne Fähigkeit zur Verarbeitung«. Daher könne ihm »jeder Anflug eines ihn ein­ nehmenden Gedankens oder Zumuteseins unvermittelt zur wahnhaf­ ten Gewissheit werden« (ebd., 96). Wir haben es dann auch mit »affektiver Steifigkeit« zu tun, mit verhärtenden oder aufweichenden Reaktionen. Schizophrene Symptome könnten nach Schmitz aber ihre Quellen ebenso in Explikationsstörungen oder dem Versagen der Objektivierung haben. Die Hysterie gleiche der Schizophrenie als »Störung des Zusammenwirkens von personaler Emanzipation und personaler Regression«, sei aber vom erkrankten Menschen besser zu handhaben. Das Problem bestehe nicht darin, dass er sich nicht mehr oder weniger distanzieren oder gehen lassen könne, also flexibel sei, sondern darin, dass das »Niveau der größeren

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

und geringen Selbstständigkeit oder Unselbstständigkeit« wie von selbst einraste. Ein »unmittelbarer Wechsel solcher Niveaus« könne bis zur Persönlichkeitsspaltung (multiple Persönlichkeiten) gehen. Solche dramatischen Störungen der Subjektivität gehen mit Leidens­ zuständen einher, die in einer Philosophischen Praxis wohl kaum Linderung erfahren. Schmitz verweist mit dem Hyperthymiker (nach Mollweide) und dem Typus melancholicus (nach Tellenbach) auch auf mildere Formen der »Reaktion auf eine besondere Empfänglichkeit und Schutzbedürftigkeit des Niveaus der personalen Emanzipation«. Hier mag eine philosophische Sprechstunde u.U. sinnvoll sein, jedoch ist es für den Praktiker immer wichtig, die Möglichkeiten eines gelingenden Beziehungsgeschehens sorgfältig zu erkunden. Mit den personalen Störungen behandelt Schmitz Störungen des vom Leib getragenen personalen Lebens und unterscheidet hier Störungen der persönlichen Situation von Abgrenzungsstörungen in der persönlichen Welt (ebd. 98). Auch hier führt er diagnostische Bezeichnungen der Psychiatrie an, um den Typus zu markieren, z.B. für Störungen der persönlichen Situation die Neurosen im engsten Sinn. Dass gewisse Reibungen in der persönlichen Situation nicht zur Reifung der Person führen, sondern ihre Entfaltung unbeherrschbar hemmen, führt Schmitz u.a. auf »die Lebenstechnik« zurück, sprich auf »die habituelle Weise des Umgangs mit Problemen der Lebens­ führung, womit der neurotische Mensch, ohne es zu durchschauen, sich selbst im Wege steht« (ebd., 98). Abgrenzungsstörungen in der persönlichen Welt ergeben sich »aus den Grauzonen, in denen Sub­ jektivität und Neutralität von Bedeutungen, Eigenheit und Fremdheit von Sachen in einander übergehen« (ebd., 99). Hier ein längeres Zitat von Schmitz (ebd., 100f.) dazu, wie sich Personen voneinander mit Bezug auf ihr Verhältnis zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt unterscheiden: »Bei den Extravertierten ist die Grenze zwischen persönlicher Eigen­ welt und persönlicher Fremdwelt schwach gezogen, so dass sie in fast paradoxer Weise Dominanzstreben und Hingabefähigkeit vereinigen können, weil sie wenig befähigt sind, das Fremde als Fremdes zu sehen. Ihre Gefahr ist die extravertierte Schwäche der Zerstreuung und Ablenkbarkeit; Goethe hatte mit ihr lebenslang zu kämpfen. Die extravertierte Schwäche kann auch reaktiv determiniert sein, indem Konflikte partieller Situationen in der persönlichen Situation die Per­ son zur Flucht nach außen treiben. Dem Extravertierten steht der Introvertierte gegenüber. Bei ihm ist die Grenze zwischen beiden Teil­

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5.8 Grenzfälle subjektiver Fassung beachten

welten weit schärfer durchgezogen und der sein Leben bestimmende Akzent liegt auf der persönlichen Eigenwelt, mit besonderer Ergiebig­ keit (Nachhaltigkeit) der retrospektiven partiellen Situationen. Die persönliche Fremdwelt hat für ihn deutlichen Umriss. Seine Gefahr ist die Schutzreaktion gegen diese durch Rückzug und Abpanzerung. Der dritte Typ, der des Ultrovertierten, gleicht dem Introvertierten durch die Schärfe der Abgrenzung zwischen beiden Teilwelten der persönlichen Welt, aber bei ihm liegt das Hauptgewicht der Lebensführung in der persönlichen Fremdwelt. Das wird dadurch ermöglicht, dass in den breiten Grauzonen die Subjektivität von der Neutralität, die Eigenheit von der Fremdheit so sehr in Schach gehalten wird, dass sie in den Dienst einer anderen Sache tritt. Ultrovertierte sind z.B. ein einseitig auf seinen Betrieb (z.B. wirtschaftlicher, politischer, militärischer Art) und dessen Effizienz fixierter Funktionär, ein nur noch sachlich den­ kender Ingenieur, Arzt oder Mathematiker, ein kalter Machtmensch wie Napoleon oder ein in neutrale Probleme um ihrer selbst willen verliebter Grübler …. Die Gefahr des Ultrovertierten besteht in der Vernachlässigung des affektiven Betroffenseins, der unerlässlichen Stütze der Selbstzuschreibung, bei sich und anderen.«

Weitere Arten von Abgrenzungsstörungen zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt bestehen in den »paradoxen Überschiebungen des Eigenen und Fremden … durch Übergänge in den Grauzonen, namentlich die Parallelführung subjektiver und neutraler Bedeutungen« (ebd., 101). Als psychiatrisch bezeichnete Formen erwähnt Schmitz mit entsprechenden Erklärungen u.a. den Anankasmus (Zwangskrankheit). Neben diesen Störungen der Sub­ jektivität bei Individuen gibt es aber auch »kollektive Störungen der Subjektivität, die großen Kulturen das Gepräge geben« (ebd., 102). Für die abendländische Kultur hat Schmitz die Weltspaltung, die dynamistischen, die autistischen und die konstellationistischen Ver­ fehlungen nachgezeichnet, die in das »ironistische Zeitalter« geführt haben, das heute dominant geworden ist: »Der Mensch des ironistischen Zeitalters steht mit virtuoser Wendig­ keit, die ihm die Konsequenz eigenen Wollens abgewöhnt, ohne die aus solcher Konsequenz sich ergebende Widerstandskraft einem unge­ heuren Angebot vorgeformter Möglichkeiten gegenüber, das von der dynamisch-konstellationistischen Verfehlung der modernen Technik bereitgestellt wird. Er hat nur noch die Aufgabe, in dem riesigen Schienennetz dieses Angebots für sich die Weichen zu stellen, aber kaum noch eine Chance, aus dem Vollen der in der binnendiffusen

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

Bedeutsamkeit von Situationen noch ungeformten Möglichkeiten zu schöpfen.« (Ebd., 104)

Vor dem Hintergrund dieser kollektiven Störungen der Subjektivität ergeben sich für die Philosophische Praxis vielfältige Aufgaben. Dass sie auch bei milden Formen von individuellen Irritationen und Stö­ rungen der Subjektivität, z.B. in Begleitung zu fachärztlicher Behand­ lung, eine Rolle spielen kann, ist nicht grundsätzlich auszuschließen und hat sich schon bewährt, insbesondere bei Philosophischen Pra­ xen, die mit Arztpraxen eng kooperieren. Indes ist insbesondere bei den Störungen der Subjektivität von Typ 2 des Schmitzʼschen Schemas, bezogen auf den Zwischenbereich von personalem und präpersonalem Leben, besondere Obacht walten zu lassen und es bedarf hier wirklich eines Gespürs für die persönliche Situation eines in dieser Weise leidenden Menschen. Immer dann, wenn einer Person ihre Fähigkeit zur Selbstzuschreibung und zu personaler Emanzipa­ tion nicht verlässlich verfügbar ist, sind Zweifel am Gelingen des philosophischen Prozesses angebracht. Nicht vielleicht am Gelingen von solidarischer Partizipation in Richtung und mit Überschuss der mitfühlenden gegenüber der reflektierenden Teilnahme, jedoch kann eine solche Unausgewogenheit erhebliche Probleme für alle Beteilig­ ten mit sich bringen, weshalb hier Inter- und Supervision dringend erforderlich ist. Bei aller Erhellung, die sich durch die Betrachtungen von Schmitz ergibt, ist doch kritisch anzumerken, dass es sich hier um eine Sche­ matisierung und Verallgemeinerung von Phänomenen unter dem Oberbegriff »Störungen« handelt, die teilweise auch noch, allerdings nur zur besseren Einordnung, in den Kontext überholter Begriffe aus der Diagnostik der klassischen Psychiatrie gestellt werden. Wird hier nicht wieder eine Differenzierung nach gestörten und nicht gestörten Menschen vorgenommen und eine Kategorie von Normalität ins Spiel gebracht, auch wenn die ›Störungen‹ jetzt als solche der Subjektivität ausgewiesen werden? Ich denke, das ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Gleichwohl geht es mit der Verankerung in der Leiblichkeit doch um neue Zugangsweisen zum Verstehen von Phänomenen, die einem mitunter als Auffälligkeiten im Leiteindruck einer Person spürbar entgegentreten und erklärungsbedürftig erscheinen – Philo­ sophierende können ja in der Regel kein umfangreiches fachärztliches oder psychotherapeutisches Wissen heranziehen. Leibphänomenolo­ gische Beschreibungen können uns aber das eine oder andere spürbare Regungsfeld und Erregungsmuster einer Person näherbringen, die

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5.9 Kritisch, achtsam und mitfühlend mit sich selbst umgehen

leibliche Disposition und das Lebens- bzw. Selbstgefühl dieser Person – eben ihre subjektiven Tatsachen – verdeutlichen und das Mitgefühl für die Betroffenen stärken. Vielleicht lassen sich aus dieser Leibes­ kunde auch Anregungen oder Anhaltspunkte für das philosophische Gespräch gewinnen. Eine solche Systematik sollte aber nicht dazu verleiten, die Erstgespräche in der Philosophischen Praxis einem wie auch immer gearteten Beurteilungsraster zu unterwerfen. Dem wider­ spricht schon die Grundierung der Philosophischen Praxis durch soli­ darische Partizipation. Jedoch können diese Erkenntnisse orientierend sein, wenn der Philosoph nicht in gewohnter Weise mit dem Anderen mitzugehen oder mitzuschwingen vermag, selbst wenn es sich nur um flüchtige Anmutungen im Leiteindruck seines Gegenübers handelt. Dem nachzuspüren, hat dann weniger mit einer Kategorisierung zu tun als vielmehr damit, herauszufinden, ob ein Begegnungsprozess in der Philosophischen Praxis sinnvoll ist und gelingen kann. So hat die Neue Phänomenologie in ihrem interdisziplinären Austausch mit psychologischen und psychiatrischen Fachdisziplinen, auch mit ihrer Kritik an der traditionellen Weltspaltung und dem Seelenbegriff einige fruchtbare Denkanstöße gegeben, die auch für die Philosophi­ sche Praxis von Gewinn sind.

5.9 Kritisch, achtsam und mitfühlend mit sich selbst umgehen Je nachdem, in welchem Kontext eine Philosophische Praxis steht und welche Formate sie mit sich führt, kann diese Tätigkeit die Philosophin auf ganz unterschiedliche Weise selbst prägen, ja auch mehr oder weniger belasten. Arbeitet sie mit einer Arztpraxis, Pflege­ einrichtung oder einem Hospiz zusammen, in der philosophischen Begleitung Erkrankter oder gar Sterbender, stellen sich häufiger ernste, existenzielle Fragen und wird auch häufiger der Trost der Philosophie erforderlich sein. In einer Praxis, die vorwiegend philoso­ phische Salons anbietet, stehen weniger individuelle Lebensfragen, sondern eher gesellschaftliche, aktuelle politische Themen oder all­ gemeine Themen der Philosophie im Zentrum eines Gruppendiskur­ ses. Philosophische Spaziergänge und Reisen sind ähnlich gelagert, sie rücken die Menschen näher aneinander und haben manchmal noch einen Schwerpunkt in der Selbstbildung und Lebenskunst. Das Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen verfolgt meist eine

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

spielerische Anstiftung zum Selbstdenken usw. So unterscheiden sich die Adressaten und ihre Anliegen erheblich voneinander, auch wenn sich die Inhalte immer auch vermischen können, wenn beispielsweise im Salon ein individuell-existenzielles Problem auf das allgemeine Thema bezogen wird. Gerade in ihrer Vielfalt zeigt sich die Offenheit der Philosophischen Praxis für alles Menschliche und die ganze Bandbreite philosophischer Begegnungsformen. Zu welcher Form Philosophischer Praxis sich ein Philosoph auch immer entscheidet oder vom Schicksal hingeführt wird, stets ist er im Sinne der solidarischen Partizipation mit seiner Person investiert und engagiert, teils mehr, teils weniger. So liegt ein wichtiger Prozess darin, sich selbst in seinem Tun immer wieder kritisch zu hinterfragen. Hier geht es um viele grundsätzliche Fragen: ob die Arbeit gelingt, ob sie einem selbst noch entspricht, ob man gut mit (und von) ihr leben kann, sei es nun zuständlich oder auch aktuell, wie viele Klient*innen man in welcher Folge mit oder ohne Pause in der Praxis empfängt, wie viele andere Formate zu dieser Arbeit passen, ob man etwas Neues ausprobiert, sich mit Kolleg*innen zusammentut usw. Es geht aber ebenso um die Reflexion einzelner Arbeitsvorgänge oder besonderer Herausforderungen, z.B. wenn ein Klient ohne Begründung Sitzun­ gen absagt, wenn man sich selbst für das Beenden einer Begleitung entscheidet, wenn ein Salon nicht die nötigen Einnahmen erwirtschaf­ tet, wenn Teilnehmende ›wegbrechen‹ oder zu viel Nachfrage besteht, wenn eine Moderation aus dem Ruder läuft, wenn ein Besucher sehr einnehmend ist oder man selbst eingenommen oder über Gebühr berührt ist von dem Schicksal eines Besuchers, wenn eine Sitzung Anlass für Lust und Freude ist, wenn man es an Offenheit fehlen lässt oder sich von Vorurteilen, Äußerlichkeiten oder vereinzelten Wahrnehmungen irritieren lässt, wenn eine Klientin total langweilig ist und man das Niveau nicht zu heben vermag, wenn die eigenen ethischen Maßstäbe ins Wanken geraten usw. Sich darauf zu besinnen und Rechenschaft abzulegen, auch mit einem milden Blick auf eigene Begrenzungen, ermöglicht nicht nur eine selbstkritische Schau der eigenen Tätigkeiten, sondern auch eine stete an den eigenen Erfah­ rungen gestärkte und geschulte Festigkeit und Entwicklung, ja sogar Verbesserung des beruflichen Handelns und Lassens. Solche kritische Selbstbespiegelung kann eine beachtliche Spannbreite zwischen zersetzender Destruktion und übertriebenem Eigenlob haben und bedarf, wie alles in der Philosophischen Praxis, einer Eichung am rechten Maß, das unablässig auszuhandeln ist. Es

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5.9 Kritisch, achtsam und mitfühlend mit sich selbst umgehen

steht hier auch die Frage im Raum, wie es sich mit dem Gelingen oder Scheitern in der Philosophischen Praxis verhält bzw. ob man überhaupt das Begegnungsgeschehen in diesen Kategorien bewerten kann, zumal es ja kein Therapieziel wie in der Psychotherapie und keinen Behandlungsplan wie in der ärztlichen Kunst gibt. In der Regel werden keine wie auch immer gearteten Ziele vereinbart und ist die Philosophische Praxis begegnungs- und nicht lösungszentriert, auch wenn es sinnvoll sein mag, in der Sprechstunde ein Anliegen zu formulieren und über die Motivation für den Besuch in der Praxis zu sprechen. Neben der Verständigung über das Anliegen mit der Besucherin und den verschiedenen gemeinsamen Metareflexionen ist es aber doch erforderlich, sich in kritischen Selbstgesprächen über das berufliche Tun an seinen Ansprüchen und Maßstäben zu orientieren und dem Gespür für den Kontakt, die eigene Resonanzfähigkeit und die Qualität der Begegnungen nachzugehen. Die Philosophin ist in der solidarischen Partizipation selbst Mensch und Mitmensch, kann mit manchen Personen eher in Kon­ takt gehen, mit anderen weniger, je nach der Art des Gegenübers, aber durchaus auch abhängig von der Tagesform. Jeder Philosoph hat zudem seine eigenen Schwächen, Begrenzungen und blinden Flecken, die ihm den Blick auf den Anderen oder bestimmte Themen manchmal verstellen. Gender, sexuelle Orientierung, Lebensalter, kulturelle Prägung, Religionszugehörigkeit, politische Ansichten, Sprachniveau, Lebenseinstellungen, Moralvorstellungen der Besu­ cher*innen etc. können für die Begegnung förderlich sein, aber ebenso Hürden darstellen und der Praktikerin ein hohes Maß an Toleranz und Urteilsenthaltung abverlangen. Es kommt vor, dass man eine Besucherin im wahrsten Sinne des Wortes ›nicht riechen‹ kann oder sich ekelt, etwa vor den Speichelfäden, die sich bei ihrem Sprechen bilden. Es mag sein, dass man von der schönen Erscheinung eines Menschen ästhetisch abgelenkt wird oder von galanten Ausdrucks­ weisen und Flirtversuchen geblendet wird. Dies alles bedarf einer kritischen Aufarbeitung, auch wenn es beispielsweise besonders gut läuft – auch daran lässt sich lernen. Bei all dem ist ein maßvolles Urteil über das professionelle Tun, ein achtsamer und mitfühlender Umgang mit sich selbst, also eine gute Selbstsorge und Lebenspflege, ja im Grunde eine tägliche Arbeit am Selbst wichtig.

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

5.10 Sich in Supervision orientieren und in Intervision stärken Nicht nur wenn Schwierigkeiten auftauchen oder die Prozesse auffäl­ lig gut verlaufen, sondern ganz allgemein sollte Philosophische Praxis kontinuierlich von Supervision und Intervision begleitet werden, damit der Philosoph immer wieder Orientierung durch kritische Außenperspektiven und Stärkung in wertschätzender Solidarität fin­ den kann. Das betrifft alle, die in helfenden, pflegenden, beraten­ den, therapeutischen und auf interpersonaler Begegnung beruhenden Berufen tätig sind. In der Philosophischen Praxis ist eine berufsbeglei­ tende Supervision allerdings noch nicht durchgängig selbstverständ­ lich. Dieses Feld ist insgesamt noch stärker auch im Hinblick auf geschultes Personal für die Supervision zu professionalisieren. Nicht umsonst gibt es für die unterschiedlichen Berufe eigene Ausbildungen oder Zusatzqualifikationen, für die Philosophische Praxis ist dies aber noch in der Entwicklung. So kann die Wahl einer geeigneten Person für die Supervision mitunter schwierig sein. Hinderlich für eine Supervision durch Expert*innen, die mit der Philosophischen Praxis nicht vertraut sind, wirkt sicher die Offenheit und Unbestimmtheit dieses Berufszweigs, das weitgehende Fehlen von Standards und allgemeingültigen Richtlinien sowie der breite Spielraum für Interpretationen und Gestaltungsmöglichkeiten – Freiheitsspielräume, welche die eigene Kreativität der Praktiker herausfordern und eine beachtliche Diversität am Markt hervorbrin­ gen. So begegnet man in der Supervision auch schon einmal Vorur­ teilen, gerade hinsichtlich mancher heiklen Frage im Rahmen der solidarischen Partizipation, die dann nicht im Rahmen professioneller Vorgaben, sondern immer nur von Fall zu Fall behandelt werden kann. So geht es in der Supervision vielfach um eine eingehende Beschäftigung damit, was im Berufsfeld der Philosophischen Praxis eigentlich geschieht und mit welchem Selbstverständnis der einzelne Praktiker in seinen Formaten vorgeht. Dies muss kein Nachteil sein, denn das eigene Verständnis durch einen Supervisor etwa aus der Psychotherapie oder dem Coaching immer wieder neu zu durchleuch­ ten, kann eine Bereicherung sein. Fachfremde Vorstellungen des Therapierens und Coachens sollten dann weniger Verunsicherungen begünstigen, als vielmehr Schärfungen des eigenen Berufsverständ­ nisses ermöglichen.

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5.10 Sich in Supervision orientieren und in Intervision stärken

Die kontinuierliche Intervision hat vor diesem Hintergrund dann noch einmal eine besondere Bedeutung, da sie ausschließlich mit Vertreter*innen vom Fach und aus der Praxis vollzogen wird. Die Diversität und das unterschiedliche Verständnis von Philosophischer Praxis bei den Mitgliedern einer Intervisionsgruppe kann sich als ausgesprochen fruchtbar für den oft nötigen Perspektivenwechsel, aber auch für den wertschätzenden Beistand aus dem Kollegium erweisen. Vor allem können mit den Kolleg*innen auf Augenhöhe wichtige Anhaltspunkte für das rechte Maß von mitfühlender und reflektierender Teilnahme erarbeitet werden, mithin auch die Chan­ cen und Risiken ausgelotet werden, die mit dem ebenso offenen wie unabhängigen Beruf ›Philosophischer Praktiker‹ verbunden sind. Für eine Profession, die noch nicht einmal auf ein halbes Jahrhundert Berufserfahrung zurückblicken kann, ist Intervision auch ein Ort für die Thematisierung von Anfangsproblemen aller Art, von noch nicht abzusehenden Entwicklungen und Ansprüchen. Ein fortschreitendes, erfahrungsgeleitetes Zusammenwachsen in dialogischen Prozessen trägt letztlich zur Professionalisierung des Berufsfelds ebenso bei wie zur Stabilisierung der individuellen Arbeit. Insbesondere erfahren die Mitglieder einer Intervisionsgruppe die nötige kollegiale Solidarität, ja recht eigentlich die mitfühlende und reflektierenden Partizipation, die ja selbst bereits Gegenstand der philosophischen Arbeit ist. Im Ausgesetztsein, das sich mit einer eigenen Falldarstellung einstellt, verbindet sich zweierlei: Die Philo­ sophin vertraut auf das Mitgefühl der Kolleg*innen, etwa mit den persönlichen Schwächen und Schwierigkeiten bei der Arbeit, mit dem Ringen um den rechten Umgang mit einem schweren Problem, mit einer angemessenen Distanznahme oder einem fehlenden Inter­ esse an der Situation des Klienten, mit Frustrationen, Gefühlen der Unfähigkeit etc. Sie vertraut aber auch darauf, von den Kolleg*innen in der Analyse des Falls mit ihren Perspektiven, Reflexionen und Interpretationen unterstützt zu werden. Durch beides gewinnt sie Stand in ihrer eigenen professionellen Lotung, ja letztlich in ihrer Arbeitsfähigkeit. Für die Kolleg*innen, die nicht selbst eine Falldar­ stellung einbringen, aber darüber ins Gespräch kommen, ist diese Arbeit in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten ebenfalls von unschätzbarer Bedeutung. Wenn sich ein Mitglied mit einem Beispiel ›aussetzt‹, werden sie mit der Vielfalt möglicher Probleme ebenso vertraut wie mit den Prozessen der kritischen Selbstreflexion, die dem Einbringen des Falls in die Intervisionsgruppe vorangehen. Allein die

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5. Konkrete Prozesse in der Philosophischen Praxis

Möglichkeit, in die Gruppe selbst etwas einbringen zu können, stärkt die Kreativität und auch den eigenen Mut bei der Arbeit, weil man gewissermaßen unter dem wohlwollenden, aber auch kritischen Blick der Anderen steht. So ist die Intervisionsgruppe ein Ort beständigen Lernens und Einübens in Bezug auf einen behutsamen, respektvollen Umgang mit dem eigenen und fremden Erleben des Ausgesetztseins in einer Fallpräsentation, im Hinblick auf die Erkenntnis je gegebener Begren­ zungen der individuellen Vermögen und Handlungsspielräume, in der spontanen Reaktion auf einen unbekannten Fall und der Vitali­ sierung multiperspektivischer Ansatzpunkte für Analyse, Interpreta­ tion und Justierung der Orientierung. Dieses Lernfeld ist besonders bereichernd, wenn die Intervisionsgruppe in kontinuierlicher Arbeit zusammenwächst. Somit ist sie ein geschützter Raum für die Refle­ xion der eigenen Berufstätigkeit, zugleich auch ein Mikrokosmos für die Weiterentwicklung der Philosophischen Praxis selbst. Das heilsame Feld der Intervisionsgruppe schafft eine völlig andere Nähe als der kollegiale theoretische Diskurs über Grundpositionen Philo­ sophischer Praxis. Sie ist selbst eine Philosophische Praxis unter gemeinsamer Prozessbeobachtung.

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TEIL III: ASPEKTE EINER FUNDIERUNG DES ETHOS

Nachdem im ersten Teil die historischen, systematischen und orga­ nisatorischen Grundlagen Philosophischer Praxis erörtert und im zweiten Teil die Situationen in Gestalt der Interpassionen und Inter­ aktionen nachgezeichnet wurden, behandelt der dritte Teil philoso­ phische Einsichten, die das Ethos der philosophisch Praktizierenden nähren können. Ich spreche von ›können‹, weil es eine Auswahl von mir ist, die beliebig erweiterbar oder ersetzbar wäre. Aus meiner Sicht bedarf eine Ethik Philosophischer Praxis in wenigstens drei Feldern einer gewissen Rahmung, und zwar bezogen auf die Abgründigkeit menschlicher Existenz zwischen Selbstmächtigkeit und leiblicher Ein­ gelassenheit, im Hinblick auf eine Grundnorm für die mitmenschliche Zuwendung und in Bezug auf eine Konzeption des guten Lebens. Die existenzialistische Moral der Ambiguität bei Simone de Beauvoir, die Ethik der Fürsorge in der Anthropologie Wilhelm Kamlahs und der Ethics of Care sowie der Fähigkeitenansatz von Martha Nussbaum erscheinen mir wichtig, um die moralische Existenz philosophisch Praktizierender zu grundieren.

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6. Moral der Ambiguität

6.1 Simone de Beauvoir als Moralphilosophin Die drei in den Jahren 1944 bis 1952 publizierten moralphilosophi­ schen Essays hat Simone de Beauvoir selbst einmal als »die Grundlage für jegliche Interpretation und Beurteilung ihres Oeuvres« bezeichnet (vgl. Bair 1990, 329). Diese Einschätzung Beauvoirs wurde erst am Ende des letzten Jahrhunderts wirklich ernst genommen, als man Beauvoir als Phänomenologin wiederentdeckte und die moralphiloso­ phischen Grundlagen ihres Werkes freilegte. Die seither erschienene, vorwiegend englischsprachige Beauvoir-Literatur ist breiter angelegt, allerdings ist auch für neuere Deutungen charakteristisch, dass sie Beauvoir primär auf feministische Ambitionen festlegen. Der Essay über den Marquis de Sade (1952) wird dabei gern ignoriert oder mit Kopfschütteln quittiert. Beauvoirs Debüt als Moralphilosophin in »Pyrrhus und Cineas« (1944) wird aber gewürdigt, die Bedeutung der Schrift »Für eine Moral der Doppelsinnigkeit« (1947) ist ebenfalls heute unbestritten, und man verkennt auch nicht mehr, dass Le deu­ xième sexe (1949) aus der Perspektive einer existenzialistischen Ethik geschrieben ist. Aber selbst die in diesem Hauptwerk auf Geschlech­ terverhältnisse angewandte Ethik der Befreiung hat immer noch den Nimbus, ›bloß‹ feministisch zu sein, so dass die philosophische Grundstellung Beauvoirs weiterhin reduktionistisch gedeutet wird. Demgegenüber lässt sich mit guten Gründen behaupten, dass Beauvoir in erster Linie Moraltheoretikerin war und dass ihre Konzep­ tion der »situierten Freiheit« ihr wichtigster Beitrag zur Philosophie war. Sartre hat am Ende von L’etre et le néant (1943) eine Ethik des Existenzialismus programmatisch in Aussicht gestellt, sich von seiner Streitschrift L’existentialisme est un humanisme (1946) aber später distanziert. Einige verstreute Entwürfe dokumentieren sein weiteres Bemühen um moralphilosophische Konzeptionen (Sartre 2005; vgl. Schönwälder-Kuntze 2001). Beauvoir hat sich indes schon früh inten­ siv und von Sartre unabhängig der Entwicklung einer existenzialis­ tischen Moraltheorie gewidmet. Wenngleich diese primär in den

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6. Moral der Ambiguität

frühen moralphilosophischen Essays verortet wird, gehört Beauvoirs Klassiker, mit dem sie zur ›Mutter‹ der feministischen Philosophie avancierte, ebenfalls, und zwar genuin, zu ihrer Moralphilosophie. Mit dieser Revision der Deutung erhebt sich die eher wissenschafts­ theoretische Frage nach dem Verhältnis von feministischer Philoso­ phie zum sogenannten Kanon. Ist die feministische Ethik, so sinnvoll sie für eine sich von androzentrischer System- und Begriffsbildung emanzipierenden Moraltheorie gewesen ist und immer noch ist, nicht als eine zeit- und kulturbedingte Disziplin zu verstehen, deren Inhalte eigentlich in jeder Moralphilosophie repräsentiert sein müssten? Eine Ambivalenz dieses Verhältnisses zeigt sich aktuell darin, dass einerseits die feministische Ethik bahnbrechende Konzepte lieferte, die auch der allgemeine moraltheoretische Diskurs nicht übergehen konnte, und dass andererseits die von Judith Butler (1990) ausge­ hende Irritation des Selbstverständnisses in Bezug auf die Kategorie Geschlecht eine Transformation des Begriffs »feministisch« einleitete. Beauvoir jedenfalls konnte fraglos jede nach den Merkmalen Geschlecht, Rasse, soziale Klasse etc. unterdrückte Menschengruppe in ihrer Moralphilosophie konkret aufgreifen. Als sie Le deuxième sexe schrieb, verstand sie sich nicht als Feministin und konnte doch feministische Anliegen in großem Umfang bedienen. Der drei Jahre später publizierte Sade-Essay zeigt, dass ihre Moraltheorie keines­ wegs abgeschlossen war, sondern am Beispiel eines extremen Mora­ listen der Eigentlichkeit erneut eine Pointierung erfährt. Will man schließlich auch ihre literarischen Schriften in einem ethischen Kon­ text deuten, so steht vollends in Frage, ob das Prädikat ›feministisch‹ für eine angemessene Beauvoir-Interpretation ausreicht (vgl. Vintges 1996). Dass indes ihre Moralphilosophie manchmal schwierig und vor allem streitbar ist, sollte nicht über Beauvoirs Verdienst hinweg­ täuschen, eine existenzialistische Ethik formuliert zu haben. Sie ist für die Philosophische Praxis von einiger Relevanz, weil sie mit der Ambiguität der Existenz auch auf die Lebenskunst rekurriert und das Scheitern integriert.

6.2 Von der Ontologie des Entwurfs zur Ethik des Entwurfs Beauvoirs erster moralphilosophischer Essay »Pyrrhus und Cineas« enthält einen fiktiven Dialog zwischen dem tatendurstigen Eroberer Pyrrhus und dem alle Ziele hinterfragenden Ratgeber Cineas. Dieser

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6.2 Von der Ontologie des Entwurfs zur Ethik des Entwurfs

lässt sich von Pyrrhus über seine geplanten Feldzüge unterrichten. »Und«, fragt Cineas, »was wirst du tun, wenn die Welt erobert ist?« Pyrrhus antwortet: »Dann werde ich mich ausruhen.« Nun fragt Cineas weiter: »Warum ruhst du dich nicht lieber gleich aus?« – Mit der so eingeführten Frage »Wie handeln?« geht es Beauvoir nicht etwa um die Legitimation von Kriegshandlungen, sondern um den existenzialistischen Topos, dass der Mensch sich entwerfen und handeln muss. Dabei stützt sie sich auf die Dialektik von Entwurf und Faktizität, kritisiert aber mit Sartre Heideggers Konzeption des Entwurfs als Sein zum Tode. Beauvoir (1997, 227) argumentiert, dass der Mensch weder seinen Tod schafft noch ihn begründet: »er ist sterblich«. Als Sein setzt sich das Sein keinerlei Ziel, »es ist«; »nur der Entwurf bestimmt« das Sein »als ein Sein zu etwas«. Die Entwürfe, die dadurch bestimmt sind, dass der Mensch sein Sein zu sein hat, sind keine Entwürfe auf den Tod hin, sondern auf konkrete Ziele. Zu ihrer Verwirklichung bedarf es nach Beauvoir der Anderen, die ich mit meinem Entwurf anrufe und die meine Freiheit anerkennen, so, wie auch ich ihre Freiheit anerkenne. Beauvoir will Freiheit, die Voraussetzung für den Vollzug der Existenz, als situierte Freiheit verstanden wissen und weist die Kanti­ sche Achtung vor der Freiheit als handlungsleitende abstrakte Regel ab. Da wir es nicht mit einer singulären Freiheit, sondern mit Freihei­ ten zu tun haben und die Menschen, gerade weil sie frei sind, nicht übereinstimmen, ignoriere ein am Urteil Aller orientierter Pflichtfor­ malismus die Lebensrealität. Die Urteile der Menschen können, wie Beauvoir (ebd., 251) betont, »nirgendwo auf einen Nenner gebracht werden«, und aus diesem Dilemma heraus leben wir auch nicht in einer Welt der Harmonie. Freiheit muss vielmehr in je gegebenen Situationen immer wieder neu errungen werden und erfordert eine kämpferische Haltung – den Kampf um meine Freiheit gegen all diejenigen, die sie zu unterdrücken trachten, und um die Freiheit der Anderen, die meine Freiheit erst ermöglicht. Die Menschen müssen zur Freiheit hin befreit werden. Wenngleich eine gewaltsame Befreiung in Extremsituationen legitim bzw. unvermeidbar erscheint, verurteilt Beauvoir doch jede Form von Gewalt mit dem Argument der Reziprozität des Freiheitsanspruchs. Entscheiden wir uns, auf die Faktizität einzuwirken, »dann verzichten wir darauf, den anderen als Freiheit gelten zu lassen«; »der Mensch, dem ich Gewalt antue, ist nicht auf der gleichen Stufe wie ich; zur Verwirklichung meines Seins brauche ich jedoch Menschen, die meinesgleichen sind« (ebd., 260).

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6. Moral der Ambiguität

Dass wir durch Rückgriff auf Gewalt zum Scheitern »verurteilt« sind, ist ein »absolute[r] Skandal«, der »durch keinen Erfolg je ausgelöscht« wird, aber gleichwohl eine Folge der Widersprüchlichkeit der Men­ schen (ebd., 261). Beauvoir spricht Gewalt und Kampf als Bedingung der Möglich­ keit von Freiheit und Transzendenz klar aus, bleibt im Weiteren aber eine Klärung des Verhältnisses von Freiheit und Disziplinierung schuldig (vgl. Moser 2002, 60). Der Spannung zwischen Freiheit und Situation begegnet sie zunächst mit einer Ethik des Entwurfs (vgl. Bergoffen 1997). Die wechselseitige Abhängigkeit der Freiheiten führt bei Beauvoir zu der ethischen Verpflichtung, eine Welt zu realisieren, »in der allen Menschen die Möglichkeit zur freien Ver­ wirklichung ihrer Entwürfe in eine offene Zukunft hin gleichermaßen sichergestellt wäre«, schreibt Moser (2002, 63). Als einzig positiv zu setzende Werte für alle Menschen nennt Beauvoir (1997, 259) dann Gesundheit, Bildung, Wohlbefinden und Muße, auf dass die Freiheit der Menschen »nicht im Kampf gegen Krankheit, Unwissenheit und Not aufgezehrt werde«. Diesen sehr reduzierten Wertekanon, der auf Martha Nussbaums Minimalkonzeption des Guten vorausweist, ergänzt Beauvoir mit Blick auf den Entwurf, der immer nur auf kon­ krete Einzelne verweisen kann, durch einen »negativen moralischen Code«, eine Bezeichnung von Vintges (1997). Das zu vermeidende Übel ist der »Absturz der Existenz in ein Ansichsein, der Freiheit in Faktizität«. In Das andere Geschlecht beschreibt Beauvoir (1970, 21) diesen Absturz als »moralisches Vergehen«: »Jedes Subjekt setzt sich konkret durch Entwürfe hindurch als eine Transzendenz; es erfüllt seine Freiheit nur in einem unaufhörlichen Übersteigen zu anderen Freiheiten, es gibt keine andere Rechtfertigung der gegenwärtigen Existenz als ihre Ausweitung in eine unendlich geöffnete Zukunft. Jedesmal, wenn die Transzendenz in Immanenz verfällt, findet ein Absturz der Existenz in ein Ansichsein statt, der Freiheit in Faktizität; dieser Absturz ist ein moralisches Vergehen, wenn er vom Subjekt bejaht wird; ist er ihm auferlegt, so nimmt er die Gestalt einer Entziehung und eines Druckes an; in beiden Fällen ist er ein absolutes Übel.«

Die Orientierung an dem Ziel, die Freiheit zu befreien, lässt viele Fragen offen und führt, obwohl Beauvoir der Kritik an allgemeinen Moraltheorien zustimmt, doch Versatzstücke der kantischen Moral­ lehre mit. Jedenfalls weiß Beauvoir, dass der Andere sehr wohl als Hindernis, Verbündeter oder Feind und damit nicht einmal –

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6.3 Von der Ontologie der Freiheit zur Ethik der Befreiung

kantisch gesprochen – als Zweck an sich empfunden werden kann, was gleichfalls für mich im Verhältnis zum Anderen gilt. Beauvoir stellt jedoch die Intersubjektivität unter die Prämisse der Reziprozität der Freiheiten und versucht diese funktionalistische Begründung des Verhältnisses von Ich und Anderen zu überwinden: Die Freiheit des Anderen als Freiheit für ihn und nicht für mich zu erkennen, sei eine Geste des Geschenks und der Großzügigkeit von hohem moralischen Wert. Beauvoir bringt freie Handlungen ins Spiel, in denen ich, auf situative Betroffenheit reagierend, meine Freiheit einem anderen zum Geschenk mache, und führt hier, den Geschlechterstereotypen folgend, die mütterliche Fürsorge ebenso an wie den männlichen Großmut. Diese Überlegungen gehen in Richtung einer Ethics of Care.

6.3 Von der Ontologie der Freiheit zur Ethik der Befreiung Der zweite Essay »Für eine Moral der Doppelsinnigkeit« ist auf das Paradox der Existenz in zwei Kernüberlegungen bezogen: Erstens schließt das Dasein »unerbittlich die Tatsache eines Körpers« ein, der gleichzeitig »Ding« und »Gesichtspunkt auf dieser Welt«, also eine Situation ist (Beauvoir 1997, 26); zweitens ist es dem Menschen zwar gegeben, »ein souveränes, einzigartiges Subjekt inmitten einer Welt von Objekten zu sein«, doch er muss »dieses Privileg mit allen seinesgleichen teilen« (ebd., 79). Beauvoir kritisiert das Bemühen vieler Philosophen, »diese Ambivalenz zu vertuschen« (ebd.), und hält uns nicht ohne Pathos die Lügen jener »tröstlichen Morallehren« (ebd., 80) entgegen, die uns die Möglichkeit versprechen, ihr zu ent­ kommen. Die Kritik am Existenzialismus, dass er mit seiner Behauptung, alle Werte würden einzig aus der menschlichen Freiheit hervorgehen, »lediglich die Tradition von Kant, Fichte und Hegel« fortführe, weist Beauvoir zurück. Allgemeine Moraltheorien würden das Individuum – und damit auch die Möglichkeit des Scheiterns – übergehen. So fasst Hegel in seiner Philosophie des Rechts die Besonderheit zwar als die »äußerlich erscheinende Weise«, »in welcher das Sittliche existiert« (§ 154), erkennt in ihr nach Beauvoir (1997, 85) aber »nur ein Moment der Gesamtheit, innerhalb deren sie sich überschreiten muss«. Für den Existenzialismus gehen dagegen »die Werte nicht vom unpersönli­ chen, universellen Menschen aus, sondern von der Vielzahl konkreter, einzelner Menschen, die sich aus Situationen heraus, deren Beson­

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6. Moral der Ambiguität

derheit ebenso vollkommen, ebenso unaufhebbar ist wie die Subjek­ tivität, auf die von ihnen gesetzten Ziele hin entwerfen« (ebd.). Beau­ voir plädiert für eine Moral der Doppelsinnigkeit, »die es ablehnt, a priori zu leugnen, dass vereinzelte Wesenheiten gleichzeitig mitein­ ander verbunden sein können und dass ihre individuellen Freiheiten Gesetze aufstellen können, die für alle gültig sind« (ebd., 87). Damit denkt sie in Richtung einer Anschlussfähigkeit des verallgemeinerten an den konkreten Anderen, wie sie später von Seyla Benhabib (1989) eingebracht und weiter unten noch besprochen wird. Die Verbindung der »vereinzelten Wesenheiten« versucht Beau­ voir über eine phänomenologische Deutung des Situationsbegriffs herzustellen (vgl. Bergoffen 1997, 62). Gegenüber Husserl betont sie, mit Verweis auf die Diskrepanz zwischen seiner Konzeption von der Intentionalität des Bewusstseins und der lebendigen Erfahrung, dass die Beziehung Ich-Andere ebenso untrennbar gegeben ist wie die Beziehung Subjekt-Objekt. Beauvoir verknüpft den so erweiterten Gedanken der Intentionalität mit dem Topos der Freiheit. Intentional auf Andere bezogen zu sein, bedeute, dass die Verwirklichung meiner Freiheit immer zugleich die Freiheit der Anderen bejaht, und beinhalte die Aufforderung, die Freiheit jener durchzusetzen, deren Freiheit negiert wird. Auch wenn Beauvoir den Care-Gedanken weiterführt und sogar behauptet, man könne so lange nicht wirklich frei sein, bevor nicht die Freiheit aller erreicht sei, geht dieser Ansatz nicht wesentlich über das Konzept von der Befreiung der Freiheit hinaus. An Kant orientiert ist Beauvoir, wenn sie schließlich den sollensethischen Satz prägt: »Tu, was du sollst, mag kommen, was will«, der besagt, »dass das Ergebnis des Tuns nicht außerhalb des guten Willens liegt, der dadurch wirklich wird, dass er dieses Ergebnis anstrebt« (Beauvoir 1997, 192). Beauvoirs Art, verschiedene Traditionen zusammenzuführen – Cartesianismus, Husserls Intentionalität, Merleau-Pontys Chiasma, Hegels Anerkennungstheorie, Kants guter Wille, ja selbst die christ­ liche Nächstenliebe –, mag wie Eklektizismus vorkommen und gar manche Konstruktion bleibt allzu fragmentarisch. Eine Moralphiloso­ phie, die nur wenige Grundwerte benennt und sich auf ein Sollen bezieht, das zwar an der Reziprozität der Freiheiten orientiert ist, aber nur als negativer moralischer Code bestimmt werden kann, erscheint geradezu schlicht. Dieser Reduktionismus ist aber gewollt. Die existenzialistische Ethik lässt nicht mehr abstrakte Bestimmung zu. Wenn der Existenzialismus für Beauvoir (ebd., 98) »die einzige

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6.3 Von der Ontologie der Freiheit zur Ethik der Befreiung

Philosophie« ist, »in der eine Ethik am Platze ist«, so bezieht sich diese gewagte These darauf, dass er die Ambiguität des Daseins nicht leugnet. Der Existenzialismus gewährt keine »Tröstungen einer Flucht ins Abstrakte«, im Gegenteil, »man erfährt«, wie Beauvoir schreibt, »die existenzialistische Ethik in der Wirklichkeit des Lebens, und dort erscheint sie als die einzige Möglichkeit zum Heil, die man einem Menschen aufzeigen kann«. So greift der Existenzialismus die Auflehnung Descartes’ gegen »den Stolz des denkenden Schilfrohrs angesichts des Universums, von dem es erdrückt wird, wieder auf«: Der Existenzialismus »behauptet, dass es jedem Menschen trotz seiner Begrenzungen und durch seine Begrenzungen zukommt, sein Dasein als etwas Absolutes zu verwirklichen« (ebd., 192). Diese Verwirklichung ist jedem Menschen aufgegeben und abhängig von seiner Situation. Es wundert daher nicht, dass Beauvoir immer wieder konkrete Lebenslagen in den Blick nimmt, z.B. in ihrem Geschlechterbuch, vor allem auch in ihrer Literatur, der man nicht zu Unrecht vorwirft, moralische Konflikte würden allzu konstruiert in Prosa gefasst. Damit kommt Beauvoir aber ihrer Auffassung von der notwendigen Kontextualisierung ethischer Fragen nach. Sie schreibt (ebd., 85): »Der Mensch ist da. Für ihn geht es nicht darum, sich zu fragen, ob seine Anwesenheit in der Welt nützlich ist, ob das Leben die Mühe lohnt, gelebt zu werden: diese Fragen sind völlig sinnlos. Es geht darum zu wissen, ob und unter welchen Bedingungen er leben will.« Dazu aber bedarf es der Analyse jener Bedingungen. Sind die Mechanismen des Absturzes der Existenz in Faktizität erkannt, kann sich die Selbstsorge und die Sorge für Andere auf Befreiung richten. Beauvoirs Geschlechterbuch führt eindringlich aus, wie das Subjekt-Sein der Frau durch die Strategien ihrer Objektivierung als die absolut Andere unterdrückt wird, und es legt auch dar, dass Frauen es sich in der ihnen zugewiesenen Sphäre der Immanenz auch bequem zu machen verstehen. Für Andere einzustehen, womöglich um ihre Freiheit zu kämpfen, selbst wenn sie ihre von Suppression gezeichnete Situation als gegeben hinnehmen, ist ein schon früh sich in Beauvoirs sozialem und politischem Engagement zeigender mora­ lischer Auftrag, der sich bei ihr nicht nur auf feministische Anliegen bezieht, sondern allgemein auf die von ihr gefühlte Verantwortung als Schriftstellerin.

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6. Moral der Ambiguität

6.4 Die ›ethische Nacht‹ des Marquis de Sade: Wahrheit und Abgrund der Unmöglichkeit einer allgemeinen Moral »Soll man de Sade verbrennen?« Donatien Alphonse François de Sade (1740–1814) – diesen Philosophen und Schriftsteller, der durch über­ wiegend im Gefängnis verfasste exzessive gewaltpornographische Schriften bekannt wurde und der seine Grausamkeit mit Blick auf eine libertinäre Weltsicht philosophisch zu rechtfertigen versuchte? Beauvoir stellt hier eine heikle Frage, zumal sich de Sade in den intel­ lektuellen Kreisen ihrer Zeit einer gewissen Beliebtheit erfreut. Wäh­ rend die Hüter der guten Moral den Marquis beharrlich verbieten, haben die Surrealisten, aber schon Apollinaire, sein Werk geradezu kultisch gefeiert. Noch Horkheimer und Adorno beschäftigen sich mit Sades Werk, das den „›Verstand ohne Leitung eines anderen‹, das heißt das von Bevormundung befreite bürgerliche Subjekt« zeige, »bis in die Einzelheiten durchgeführt« (Horkheimer & Adorno 2003, 93). Sades Schriften eignen sich nur allzu gut zu vielerlei Stilisierung, doch Beauvoir stellt sogleich klar: Er ist weder Schurke noch Abgott (vgl. Beauvoir 1997, 10). Beachtung verdiene er auch weder als Schriftstel­ ler, da seine Schriften »größtenteils unlesbar« sind, noch als sexuell Pervertierter, da seine »Einfälle« wenig originell und keineswegs neu sind. Von Bedeutung ist ihr einzig, dass er sein Schicksal, indem er hartnäckig an seinen Besonderheiten festhielt, in eine ethische Wahl verwandelte. Das Fundament seiner »dämonische[n] Moral« war für ihn »zuerst eine erlebte Erfahrung« (ebd., 17). Hätte es keinen Skandal gegeben, dann, so Beauvoir, wäre Sade »vielleicht nur ein ganz alltäglicher Wüstling gewesen, den man an bestimmten Orten seiner etwas sonderbaren Neigungen wegen gekannt hätte« (ebd., 15). Erst mit seiner Verurteilung hat er gegenüber der Gesellschaft, statt Reue zu zeigen, die Rechtfertigung seiner Sexualität vorgenommen. Sein Beispiel verhelfe daher dazu, »das menschliche Drama allgemein zu definieren« (ebd., 11): »Können wir unser Streben nach Universa­ lität befriedigen, ohne auf unsere Individualität zu verzichten? Oder müssen wir aufgeben, was uns unterscheidet, wenn wir uns in die Gemeinschaft einordnen wollen?« (Ebd., 10) Nicht ohne Grund ist dem Essay ein Ausspruch Sades vorange­ stellt, in dem er die Gesellschaft herausfordert, Stellung zu beziehen: Tötet mich oder nehmt mich so, wie ich bin, denn ich werde mich nicht ändern. – Obwohl Beauvoir nicht an Sades Eigenart interessiert ist,

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6.4 Die ›ethische Nacht‹ des Marquis de Sade

sondern daran, wie er ihre Folgen auf sich genommen hat, entwickelt sie ein dezidiertes, von der Metapher des Fleisches durchzogenes Psychogramm seiner Erotik. Sie schreibt über Sades ambivalente Bisexualität, seine Misogynie, seine Koprophilie; ihn interessierten die »Konflikte zwischen Bewusstsein und Fleisch«, also wie durch Demütigung und Grausamkeit das Fleisch zum Abgrund werde, »in den der Geist hineinstürzt« (ebd., 34). Den Schlüssel zu seiner Eigen­ art sieht Beauvoir »in der Verbindung von heftiger sexueller Triebhaf­ tigkeit mit einem vollkommenen ›Isolationismus‹ des Gefühls« (ebd., 28). Sade sei »das Erlebnis echter Erschütterung« (ebd.) unbekannt geblieben, in dem »das Dasein in sich und im anderen gleichzeitig als Subjektivität und Objektivität erfasst« wird (ebd., 29). Es sei ihm unmöglich gewesen, »sich der Gegenwart anderer wirklich bewusst« zu werden (ebd.). Seine Methode, um der Objekte seines Begehrens habhaft zu werden, war der Übergriff. Freilich: Das Fleisch »als Fleisch« enthüllt sich am dramatischs­ ten, »wenn es geschunden, gequält wird«, sagt Beauvoir (ebd., 30). Damit aber auch der Peiniger »zu Fleisch und Blut werde«, müsse er »in der Passivität des anderen« seine eigene Lage erkennen, d.h. gewahr werden, »dass in ihm eine Freiheit und ein Bewusstsein vorhanden sind« (ebd.). Diese Bestätigung als seinesgleichen erfolgt durch die Windungen und Klagen des Opfers. Das Ziel, »gleichzei­ tig sich selbst zu entfliehen und die Realität der Fremdexistenz zu entdecken«, ist auch auf dem Weg zu erreichen, sich durch andere selbst quälen zu lassen. Diese Variante gehört zu Sades Repertoire, aber Sade kennzeichnet nach Beauvoir »die Spannung eines Willens, der sich das Ziel gesetzt hat, das Fleisch wirklich werden zu lassen, ohne sich in ihm zu verlieren« (ebd., 35). Sein »Ersatz für die Erschütterung« sei die Kombination von zugleich erduldetem und zugefügtem Schmerz, eingebettet in eine weitere Verdoppelung: die »Vergesellschaftung der Erotik« durch die Gemeinschaft der Libertins. Komplizen verhindern, »dass sich die ausgeführte oder erduldete Handlung in zufällige Momente auflöst«. Werden die »Einfälle« vor ihrer Ausführung besprochen und von Zeugen begleitet, wird »eine Gegenwärtigkeit aufrechterhalten, die dem Subjekt hilft, selbst gegenwärtig zu bleiben« (ebd., 39). Diese »rein verstandesmäßige« Rekonstruktion kann aber, so Beauvoir, nicht zur lebendigen Erfahrung der Ambiguität des Daseins führen. Schon die Beziehung, die der Sadist Sadeʼscher Prägung zu seinem Opfer stiftet, enthält einen Widerspruch. Er verlange »nach

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Sklaven, die gleichzeitig frei sein sollen, und das gibt es nicht«. Jeder Kompromiss zeige, dass auch das noch so ausgeklügelte Verbrechen nie dem entsprechen könne, »was sein Urheber will: das Opfer ist stets nur ein Analogon, das Subjekt erfasst sich nur als Imago, und ihre gegenseitige Beziehung ist nur eine Parodie des Dramas, das die Herstellung einer wirklichen Wechselbeziehung« bedeuten würde (ebd., 40). Der damit bestehenden Gefahr der Enttäuschung in der Wirklichkeit mit allen ihren Widersprüchen entgeht Sade nach Beau­ voir aber dadurch, dass er »mit der Erotik das Imaginäre« wählt. Seine Erotik gipfelt »nicht im Mord, sondern in der Literatur« (ebd., 41). Mit Sades Umsetzung in Prosa geht Beauvoir allerdings auch kritisch ins Gericht: Geradezu »fügsam« beuge er sich den »Konven­ tionen der Ästhetik seiner Zeit und den Forderungen der allgemeinen Logik«. Die Parodie, selbst das Rüstzeug des Schauerromans symbo­ lisiere lediglich »die Isoliertheit der Vorstellung«: »Wenn nicht mehr da ist als wollüstiges oder gequältes zur Schau gestelltes Fleisch, wie könnte man da den Widerstreit individueller Freiheiten oder das Hineintauchen des Geistes ins Fleisch erfahren? Diese Exzesse, in denen kein Bewusstsein konkret gegenwärtig ist, heben selbst das Entsetzen auf.« (Ebd., 46f.) Die anatomischen Möglichkeiten wür­ den systematisch erschöpft, »bestimmte Gefühlskomplexe« jedoch »kaum aufgezeigt«. Es herrsche in »diesen schauerlichen Bukolika die Strenge einer Nudistenkolonie«. Allerdings würdigt Beauvoir, dass Sade »bis dahin nicht deutlich erkannte Formen der Sexualität« aufge­ griffen und auf das Gewicht der Phantasie für die Erotik hingewiesen hat (ebd., 47). Er habe erkannt, »dass die Sexualität auch Egoismus, Tyrannei und Grausamkeit ist: er erfasst einen naturgegebenen Trieb als Einladung zum Verbrechen« (ebd., 53). Seine Schriften dokumen­ tieren nach Beauvoir ein vereinzeltes Bemühen um »Befreiung« und geben gerade deshalb Raum für eine »ethische Unruhe«: In der Aufrichtigkeit seines Ringens verdiene Sade es, »wenn nicht als bedeutender Schriftsteller oder systematischer Philosoph, so doch als großer Moralist bezeichnet zu werden« (ebd., 50). Beauvoir betont, dass man die Sadeʼschen Eigenarten nicht »als bloße Gegebenheiten« missverstehen dürfe: »sie haben eine ethische Bedeutung« und sind seit dem Skandal von 1763 »eine Herausforderung an die Gesellschaft«. Sein Fanatismus sei, wie Sade selbst sagt, »das Ergebnis der Verfolgungen durch meine Tyrannen« (ebd., 53). Da die Gesellschaft seine Vergnügungen zum Verbrechen stempelt, »macht er aus dem Verbrechen sein Vergnügen«. Doch

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Sade begeht weder das Böse, um sich schuldig zu fühlen, noch hebt er seine Schuld dadurch auf, dass er sie auf sich nimmt. Er treibt das Verbrechen auf die Spitze, ist dabei jedoch bemüht, »sich von jeder Schuld freizusprechen« (ebd., 44), indem er eine universelle Moral zurückweist. Für ihn besteht das Verbrechen aber nicht darin, Gott anzugreifen, sondern »die Natur zu vernichten« (ebd., 51). Sade wendet den Kult der Natur gegen dessen Anhänger. Die Natur ist grausam, doch der Mensch ist nicht ihr Sklave. Beauvoir folgert in Sadeʼscher Logik: »Wenn der Mensch in den Augen des Alls nicht mehr zählt als eine Schaumflocke, dann garantiert ihm gerade diese Bedeutungslosigkeit seine Autonomie. Daher kann er von sich aus ethische Entscheidungen treffen, und keiner Macht der Welt steht es zu, sie ihm vorzuschreiben.« (Ebd., 55) Ein »gemeinsames Interesse« aller lasse sich »durch nichts in der Natur begründen«, und allgemeine Gesetze vermehrten die Unge­ rechtigkeit der »ursprüngliche[n] Weltordnung« (ebd., 57). So brand­ markt Sade die heuchlerischen Konventionen zur Unterdrückung der Schwachen ebenso wie die Institution der Strafen. Er entlarvt den Gesellschaftsvertrag als Mythos: »die individuelle Freiheit« könne sich niemals in einer Ordnung wiedererkennen, »von der sie unter­ drückt wird«, referiert Beauvoir (ebd., 58). Scharf kritisiert er das bürgerliche Täuschungsmanöver, Klasseninteressen als universelle Prinzipien hinzustellen, und ebenso scharf verwirft er Tugendlehren, die zu Konformismus zwängen. Wie Stirner postuliert Sade, dass die Tugend das Individuum zu »jener leeren Wesenheit« entfremdet, dem Menschen; doch anders als Stirner meint Sade in Beauvoirs Lesart, sich »nur im Verbrechen« »als konkretes Ich« ergreifen zu können (ebd., 64). Muss der Mensch also seiner schlechten Natur folgen? Wird nicht, fragt Beauvoir, »durch das Bestreben, die Eigentlichkeit des Menschen zu retten, seine Freiheit vernichtet?« Keineswegs, ant­ wortet sie mit Verweis auf eine existenzialistisch gedeutete stoische Umkehr: »Zwar kann die Freiheit dem Gegebenen nicht widerstreiten, aber sie kann sich ihm entreißen, um es dann freiwillig auf sich zu nehmen.« (Ebd.) Sade habe sich aber aus Verzweiflung dem Bösen verschrieben: seine Helden ahmen die Natur nach, ohne sie zu verste­ hen, ja sie verabscheuen sie; »sie wollen sein, ohne sich zu bejahen« (ebd., 65). Beauvoir ist davon überzeugt, dass Sade nach Integration in die Gesellschaft strebte. Er verharmlost seine Ausschweifungen als bloße Spielereien, die man als Ausnahmen gelten lassen könnte: »Von Zeit

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zu Zeit ein Mädchen auszupeitschen«, so Sade wörtlich, »richte weni­ ger Schaden an als ein Steuer-Generalpächter«. Abstrakte Gesetze, »die unterschiedslos einer Vielzahl vollkommen verschiedener Men­ schen auferlegt werden«, führen also zu den »wahren Geißeln der Menschheit« (zit. nach Beauvoir, ebd., 59f.) Ohne letztendlich etwas Gutes bewirken zu können, richten sich gesellschaftliche Restriktio­ nen gegen die »einzige Wirklichkeit«, die es für Sade gibt: »den in sich eingeschlossenen Menschen, den Feind eines jeden, der ihm seine Souveränität streitig machen will«. Beauvoir (ebd., 61) fasst Sades Logik so zusammen: »Der Freiheit des einzelnen ist es deshalb unmöglich, sich für das Gute zu entscheiden, weil dieses weder in der Leere des Himmels noch auf der ungerechten Erde oder in einer idealen Ferne existiert: es ist nirgendwo. Das Böse hingegen ist etwas Absolutes, dem nur ›eingebildete‹ Begriffe entgegenstehen; es gibt nur eine Art und Weise, sich dem Bösen gegenüber zu verhalten: man muss es annehmen.«

Sades Helden ersinnen die schlimmsten Katastrophen, wenn sie Gewissensbisse empfinden: »Wer zögert, wer bereut, erkennt Richter über sich an, ist also bereit, schuldig zu sein, anstatt sich als freier Urheber seiner Handlungen zu behaupten.« (Ebd., 65) Der Libertin soll weder Scham noch Furcht empfinden. »Er kennt die abgeklärte Ruhe des antiken Weisen, der ›die Dinge, die nicht von uns abhängen‹, für nichtig hält.« Der düstere Moralismus Sades beschränkt sich aber nicht darauf, mögliches Leiden fernzuhalten, sondern verspricht »ein positives Glück«. In den Worten eines seiner Helden: »Entweder das Verbrechen, das uns glücklich macht, oder das Schafott, das uns daran hindert, unglücklich zu sein.« Der Libertin wird durch die Faktizität nicht mehr erdrückt, da ihn »nur die Bedeutung der Dinge etwas« angeht, »und diese hängt wiederum einzig und allein von ihm ab«. So zeigt Sade an Justine und Juliette, dass ein Mensch ebenso Herr wie Sklave seines Peinigers sein könne. Da der Inhalt der Erfahrung bedeutungslos ist, führe der Hedonismus »zur völligen Gemütsruhe«. Die Sade‘sche Grausamkeit erscheint für Beauvoir damit in einem neuen Licht: als Askese – und der Sadismus als asketischer Stoizismus. Nicht Gefühlswallung ist das Ziel, sondern Gefühllosigkeit, weshalb es auch gilt, sich gegenüber den Schmerzen Anderer abzuhärten. Wenngleich der Libertin anfangs noch heftiger Erregungen bedarf, »um die Wirklichkeit seines individuellen Daseins zu erfahren«, genüge ihm später »die reine Form des Verbrechens« (ebd., 66).

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Sade weist ernsthafte Einwände gegen seine Moral zurück: Sie beleidige weder Gott, ein Truggebilde, noch die Natur, da man auch dann noch mit ihr im Einklang handelt, wenn man sich gegen sie wendet. Die schlimmste Qual ist für Sade allerdings, die Natur nicht wirklich beleidigen zu können. Sie bleibt dem Verbrechen gegenüber gleichgültig; in Wahrheit mache einzig der Stolz den Mord zum Verbrechen. Damit aber spricht Sade dem Verbrechen den verbreche­ rischen Charakter ab, ja letzten Endes ist er davon überzeugt, dass das Verbrechen sogar gut ist. Durch die Schandtaten des Menschen käme der Widerspruch in die Welt. Indem Sade betont, »dass eine Gesellschaft sofort erstarren würde, wenn sie ganz und gar tugendhaft wäre«, ahnt er Hegels Theorie voraus, »nach welcher die ›Unruhe des Geistes‹ nicht aufgehoben werden könnte, ohne das Ende der Geschichte zur Folge zu haben«. Bei Sade ist jedoch, wie Beauvoir sagt, »die Reglosigkeit nicht erstarrte Fülle, sondern bloße Absenz« (ebd., 69). Die betrügende und betrogene Gesellschaft, gegen die er aufsteht, bezieht Beauvoir auf das Heideggerʼsche ›man‹, »in dem die Eigentlichkeit des Daseins untergeht«. Auch bei Sade gehe es darum, »das Dasein durch eine individuelle Entscheidung wiederzu­ erlangen«. So wird bei Sade das Verbrechen zur Pflicht: »In einer verbrecherischen Gesellschaft muss man ein Verbrecher sein.« Dieser Satz sei, so Beauvoir, die Zusammenfassung seiner Ethik: »Durch das Verbrechen lehnt der Libertin jedes Komplizentum mit den Schändlichkeiten des Gegebenen ab, deren passive, also verach­ tenswerte Widerspiegelung die Masse der Menschen ist; er hindert die Gesellschaft daran, die Ungerechtigkeit gleichgültig hinzunehmen, und schafft einen apokalyptischen Zustand, durch den alle Menschen gezwungen werden, ihre Vereinzelung ... als nie aufhörende Spannung auf sich zu nehmen.« (Ebd., 69f.)

Wenngleich Beauvoir Sades »nicht hoch genug einzuschätzendes Ver­ dienst« (ebd., 73) in der Forderung nach Eigentlichkeit angesichts der Abstraktionen und Entfremdungen einer allgemeinen Moral sieht, bringt sie gerade »im Namen des Individuums« »sehr überzeugende Einwände« gegen ihn vor: »der Mensch ist durchaus wirklich und wird vom Verbrechen tatsächlich betroffen« (ebd., 70). Sade erweise sich als maßlos, wenn er argumentiert, dass nichts für mich wahr ist, »was nicht in meiner Erfahrung beschlossen ist«, und dass mich die Gegenwärtigkeit des Anderen nicht betrifft, weil sie mir entgeht. Zwar leugnet Sade nicht grundsätzlich die Möglichkeit einer Beziehung zwischen den Menschen, aber er stellt in Abrede, dass »a priori eine

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Beziehung zwischen dem anderen und mir gegeben sei, nach der sich abstrakt mein Verhalten zu richten habe«. Sade weigert sich, den Anderen auf Grund falscher Begriffe einer »Gegenseitigkeit und Universalität ethisch anzuerkennen, weil er das Recht haben will, konkret die fleischlichen Schranken zu zerbrechen, durch welche die Vereinzelung« hervorgerufen wird (ebd., 71). Ein solches Verhalten aber bedeutet für das Subjekt kein Wagnis, keine Geste unkalkulierter Reziprozität, wie sie Beauvoir für die Erotik formuliert. Das Subjekt bleibt souverän, investiert seine Ambiguität nicht wirklich. Wenn man zudem noch – mit Beauvoir – unterstellt, dass Sade Beispiel sein wollte, so wiegen seine Täuschungen besonders schwer: Indem er die abstrakte Moral dem Verbrechen alternativlos gegenüberstellte und keinen anderen Weg als individuelle Auflehnung sah, verwehrte er dem Menschen seine Transzendenz und überantwortete ihn einer Bedeutungslosigkeit, »die erlaubt, ihm Gewalt anzutun« (ebd., 74). Mit Sade stimmt Beauvoir überein, wenn es um den Abweis des beliebten Traums geht, »die Menschen in ihrer Immanenz in Einklang zu bringen«, und sie sieht in Sade »eine pathetische Widerle­ gung dieses Traums durch die Schreckensherrschaft der Revolution«: »Der Mensch, der nicht bereit ist, auf seine Eigenart zu verzichten, wird von der Gesellschaft ausgestoßen.« Erkennt man im Menschen hingegen nur die Transzendenz an, die ihn mit seinesgleichen verbin­ det, »entfremdet man die Menschen zu neuen Idolen« und »um so offensichtlicher wird ihre individuelle Bedeutungslosigkeit«. Opfere man die Freiheit des Einzelnen dem Kollektiv, sei die logische Folge Gefängnis und Schafott. »Ist es da nicht besser«, fragt Beauvoir mit Sade, »das Böse anzunehmen, als sich diesem Guten zu verschreiben, das zu abstrakten Massenopfern führt?« Die Ambiguität lässt sich nicht umgehen: »Wenn alle Menschen, die die Erde bewohnen, in ihrer ganzen Wirk­ lichkeit gegenwärtig wären, dann wäre überhaupt kein kollektives Tun mehr möglich, und für keinen Menschen wäre die Luft mehr zu atmen. In jedem Augenblick leiden und sterben Tausende von Menschen vergeblich, ungerechterweise, und doch rührt uns das nicht an: nur um diesen Preis ist unser Dasein überhaupt möglich.« (Ebd., 75)

Diese Ausführungen sind nicht als Versöhnung mit dem Scheitern oder Legitimation zum Wegschauen misszuverstehen; vielmehr benennen sie eine Tatsache des In-der-Welt-Seins. Sades Verdienst sei es, so Beauvoir, »mit lauter Stimme verkündet zu haben, was jeder Mensch sich verschämt eingesteht«, und »sich damit nicht abgefun­

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den zu haben«. Freilich, um gegen die Gleichgültigkeit anzukämpfen, hat er sich für die Grausamkeit entschieden und »eine ethische Nacht« verwirklicht, »aber zumindest hat er alle allzu oberflächlichen Antworten in Abrede gestellt«. So resümiert Beauvoir, dass man nur dann hoffen kann, »die Vereinzelung der Menschen jemals aufheben zu können, wenn man diese Vereinzelung nicht verkennt; anderen­ falls bergen alle Versprechungen auf Glück und Gerechtigkeit die schlimmsten Gefahren« (ebd., 76). Wenn nun die Alternative abstrakte Moral versus Verbrechen unhaltbar ist bzw. nicht einmal eine Alternative darstellt, wie ist dann das Verhältnis zwischen dem verallgemeinerten und dem kon­ kreten Anderen zu denken, um mit Benhabib zu sprechen? Beauvoir lässt dieses Problem in seinem Widerspruch bestehen, indem sie den vermeintlichen Trost durch abstrakte Moral ebenso abweist wie Sades Moral der Eigentlichkeit. Hier kann man Moser (2002, 244) zustimmen, wenn sie Beauvoirs Werk mit der existenzialisti­ schen Aufkündigung des Modells, der Mensch sei »Bürger zweier, getrennter, einander gegenüberstehender Welten«, als »Drehpunkt zwischen Moderne und Postmoderne« bezeichnet. Beauvoir wolle »die Widersprüche zwischen Freiheit und Situation« nicht »durch eine Aufhebung« versöhnen, sondern »als Teil der Existenz« denken, d.h. »deren ontologischen, ethischen und sozialen Gründen« nachgehen. Die Widersprüche »können nur auf kreative Weise durch das aufrich­ tige Engagement in Form der je eigenen und einzigartigen Existenz gemeistert werden«. Beauvoir fordert mit ihrer Ethik der Ambiguität dazu auf, authen­ tisch zu leben. Damit ist aber nicht viel gewonnen, wenn man im Sinne von Sades Helden verfährt. Wichtiger ist hier der Gedanke von der wechselseitigen Bedingtheit der Freiheiten, die es zur moralischen Pflicht werden lässt, für die eigene Freiheit und die Freiheit der Anderen einzustehen. Mit diesem »Abstraktionsschub« fasst die exis­ tenzialistische Ethik die »der Position des verallgemeinerten Anderen impliziten Ideen von Gleichheit und Gleichwürdigkeit«, durch die wir nach Benhabib (1989, 475f.) »den universalistischen und egalitären moralischen Standpunkt erreichen«. Benhabib argumentiert, dass der moralische Standpunkt weder allein durch den Gesichtspunkt des konkreten Anderen noch hinreichend durch die Anerkennung des Wertes eines verallgemeinerten Anderen definiert werden kann. Im metaethischen und normativen Sinne plädiert sie für eine Moraltheo­ rie, »die die Würde des verallgemeinerten Anderen durch eine Aner­

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kennung der moralischen Identität des konkreten Anderen gewähr­ leistet« (ebd., 476). Beauvoirs Konzept der situierten Freiheit spricht diesen Verweisungskontext klar aus. Beauvoir (1997, 74) hält »eine konkrete Verbindung zwischen den Menschen« dann für realisierbar, wenn sich »alle Menschen in dem gemeinsamen Entwurf, Mensch zu sein« (ebd., 75), zusammenschließen. Sie hat zugleich die subjektiven Dimensionen der Leiblichkeit in der Beziehung Ich und Andere im Blick, welche die Menschen ebenfalls aneinanderbindet. Mit ihrem Versuch einer Ethik der Erotik rückt sie die Ambiguität des Daseins schließlich noch in den Kontext von Überschreitungsmöglichkeiten in der leiblichen Liebe. Beauvoirs eigentliche Antwort auf de Sade liegt darin, dass sie die Menschen nicht ausschließlich über den Entwurf ethisch anein­ anderbindet, sondern auch über den Leib und hier besonders durch die Erotik. Während für die Ethik des Entwurfs und die Ethik der Befreiung der Andere ein epistemologischer Anderer ist, wird er für Beauvoir in den Begierden zum konkret gespürten Anderen. Nun könnte man anmerken, dass die Anderen, ohne sogleich erotisch interessant sein zu müssen, bereits durch ihr Dasein in atmosphäri­ scher Gegenwart immer schon am eigenen Leibe gespürt werden. Eine daran anschließende Ethik der Gefühle liegt Beauvoir aber fern, wenn sie sich auf die Sexualität als einen Weg bezieht, die Vereinzelung mit Ansprüchen der Wechselseitigkeit zu verbinden. Der Körper, in Beauvoirs Vokabular hier das Fleisch (frz. chair), kann den Menschen nicht nur auf seine Faktizität zurückwerfen. In freien Akten lasse sich vielmehr die Bedeutung seiner Ambiguität, nämlich zugleich subjektiv und objektiv zu sein, mit dem und am Anderen erfahren und somit auch die Differenz von Ich und Du konkret umfangen. Das Fleisch werde dann nicht als Veräußerung der Immanenz erfahren, sondern seiner selbst gewahr als das Andere, als das es für und durch den Partner wird, sprich als Geschenk, und gleichzeitig als eigener Leib. Damit überschreitet Beauvoir Sartres Konzept der Unaufheb­ barkeit der Vereinzelung. Diese Analyse ist wohl bahnbrechend, insbesondere wenn Beauvoir von der erotischen Erschütterung als einer unkalkulierten Reziprozität spricht und betont, dass in ihr die Ambiguität des Daseins wirklich investiert wird. Diese Geste des Geschenks bedeutet immer auch ein Wagnis (vgl. Bergoffen 1997). Die Erkenntnis der Subjektivität des Leibes führt nicht zuletzt zur zentralen Pointe von Beauvoirs Patriarchatskritik: Indem sie das Subjekt als Transzendenz definiert, beklagt Beauvoir, dass im

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6.4 Die ›ethische Nacht‹ des Marquis de Sade

Patriarchat nur zu oft die Transzendenz des Mannes von der Unter­ drückung des Subjekt-Seins der Frau abhängt; indem sie das Subjekt als Immanenz definiert, beklagt sie, dass die subjektiven Dimensio­ nen der Immanenz verleugnet werden. Die Reduktion auf die Posi­ tion der absolut Anderen entfremdet Frauen von ihrer Subjektivität durch die Entfremdung von Männern und Frauen von der lebendi­ gen Bedeutung ihres Leibes. Mit der in den Schlussfolgerungen von Le deuxième sexe formulierten Utopie der Geschwisterlichkeit zwischen den Geschlechtern tritt Beauvoir für die Humanisierung sexueller Beziehungen ein. Das post-patriarchalische Subjekt würde das Andere seiner selbst nicht im Kontext von Übergriffen, sondern von Überschreitungen – auch der Geschlechtergrenzen – erfahren. Beauvoir ist indes weit davon entfernt, die Sexualität romantizistisch hochzustilisieren oder gar in ein pazifistisches Sollen im Sinne von ›make love, not war‹ zu überführen. Am Beispiel eines extremen Moralisten der Eigentlichkeit, der im Namen der vereinzelten Frei­ heit den Übergriff in sexuellen Beziehungen und die Vernichtung des Anderen sogar moralisch zu legitimieren sucht, verdeutlicht sie vielmehr die Gefahr einer Erotik, die sich auf den Entwurf beruft, ohne die Reziprozität der Freiheiten und die Wirklichkeit des Leibes anzuerkennen. So konnte Beauvoir die Abgründe einer »ethischen Nacht« ausloten. Für die Erörterung ihrer existenzialistischen Ethik ist Sade insofern interessant, als er seine Vereinzelung auf sich genommen und gegen die Gleichgültigkeit einer abstrakten Moral gegenüber dem konkreten Menschen aufbegehrt hat. Diese Deutung hat damals zur Modifizierung des Sade-Bildes beigetragen. Ohne dies weiter zu vertiefen, sei lediglich darauf hingewie­ sen, dass Beauvoir sich nach ihren moralphilosophischen Essays mit ethischen Fragen vorwiegend literarisch über ihre Romane und Autobiographien befasste. In ihnen zeigt sich, nach Vintges (1996, 106f.), als Ergänzung ihrer eher negativen, reduktionistischen Moral­ theorie eine bestimmte Art von positiver Moral, »die Vorstellung eines persönlichen Ethos in Form von Selbst-Identität, welche durch einen bestimmten Lebensentwurf ausgebildet wird«. Beauvoir prägt dafür den Begriff der »Lebenskunst« als Äquivalent zur Moral, wobei die Selbsterschaffung durch moralisches Engagement als zentraler Gesichtspunkt hervortritt (vgl. ebd., 107). Durch das Schreiben als Form einer Selbsttechnik zur Hervorbringung ihrer selbst als morali­ sches Subjekt lässt uns Beauvoir – wie Sade auf seine Weise und auch

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6. Moral der Ambiguität

Montaigne in seiner essayistischen Existenz – an ihrem Bemühen um Befreiung teilnehmen. Das autobiographische Schreiben ist in mancher Hinsicht der Selbstreflexion und dem Sich-Rechenschaft-Ablegen in der Philoso­ phischen Praxis verwandt und kann auch eine Rolle bei der Selbstdis­ tanzierung spielen. Im Horizont einer Moral der Ambiguität steht das Individuum in einem lebenslangen Prozess, sich im Hinblick auf Ziele zu entwerfen, das Chiasma (Merleau-Ponty) menschlicher Existenz auszuhalten und in authentischer Lebensweise für die eigene und die Freiheit der Anderen einzutreten. Für die Philosophische Praxis ist bedeutsam, die Abgründigkeit menschlicher Existenz, die Vereinzelung des Menschen und seiner Freiheitsansprüche, aber auch seine Verwiesenheit auf Andere anzuerkennen. Beauvoir ventiliert gelegentlich die Reziprozität der Freiheiten auch im Kontext von Care und bringt in ihrer Ethik der Erotik eine Form zwischenmenschlicher und -leiblicher Zuwendung ins Spiel, in der sich Menschen in ihrer Ambiguität füreinander und wechselseitig investieren. Die ethische Dimension der Mitgefühle wird in ihrer existenzialistischen Ethik jedoch nicht ausformuliert. Für eine Fundierung des Ethos von philo­ sophisch Praktizierenden ist jedoch als zweite Säule auch eine Ethik der Fürsorge zentral.

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7. Ethik der Fürsorge

7.1 Fürsorge und Care Im Hauptstrom der europäischen Philosophiegeschichte wurde die Fürsorge bzw. Care als ethische Kategorie erst im 20. Jahrhundert entdeckt. In der Ethik orientierte man sich an den großen Gesten der Freiheit des Entwurfs. Selbstmächtigkeit, Reziprozität, Autonomie, Gerechtigkeit, freier Wille, Pflicht, Tugend, Vertrag etc., so lauten Stichworte dieser Lehren, für die ein Angerührt-Werden und Betrof­ fen-Sein von der Bedürftigkeit Anderer keine Ausgangsmotivation für moralisches Handeln darstellt. Aufwallende Gefühle oder sich regende Bedürfnisse gelten in den Morallehren teilweise sogar als vollends obsolet. Für Kant etwa ist menschliches Handeln nur dann moralisch, wenn es ohne jede Neigung, ausschließlich aus Pflicht entsteht. Aus so gearteten Ethiken kamen so gut wie keine Impulse für mitfühlende Praxis oder ein Engagement für Bedürftige: Es ging um den abstrakten, verallgemeinerten, nicht den konkreten Ande­ ren. Dem christlichen Ethos der tätigen Nächstenliebe entsprangen dagegen genau die praktischen Einrichtungen der Fürsorge, die in der Neuzeit schließlich mehr und mehr in staatliche Hände über­ gingen. Hier ist zu denken an die Betreuung von Kranken in den Pflegezimmern der Klöster, an die Armenspeisung, an die Pflege der Heilkräutergärten, an die Armen-, Waisen- und Altenhäuser, die christlichen Spitalgründungen etc., aber auch an die Traditionen von Trost und Seelsorge. Nun gab es u.a. mit Arthur Schopenhauer einen Philosophen, der die Frage nach der Grundlage der Moral anders beantwortete als die Hauptlinie der Tradition. Schopenhauer (1989, 742) spricht den menschlichen Handlungen drei mögliche Triebfedern zu: »a. Egoismus, der das eigene Wohl will (ist grenzenlos), b. Bosheit, die das fremde Wehe will (geht bis zur äußersten Grausamkeit), c. Mitleid, welches das fremde Wohl will (geht bis zum Edelmut und zur Großmut).« Nach Schopenhauer gibt es nur eine Grundlage der Moral: kein Begriff von Moral, keine Idee oder Erkenntnis, kein

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7. Ethik der Fürsorge

Wollen oder Sollen, kein Vernunftgebrauch, sondern das Mitleid. In ihm werde fremdes Leiden an sich und als solches unmittelbar mein Motiv (ebd., 760). »Wie ist es nun aber möglich, dass ein Leiden, welches nicht meines ist, nicht mich trifft, doch ebenso unmittelbar wie sonst nur mein eigenes Motiv für mich werden, mich zum Handeln bewegen soll?« Schopenhauer meint, dies setze voraus, »dass ich mich mit dem andern gewissermaßen identifiziert habe und folglich die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich für den Augenblick aufgehoben sei«. Und er fügt an, dieser Vorgang sei schlechthin »mysteriös«, »denn er ist etwas, wovon die Vernunft keine unmittelbare Rechenschaft geben kann und dessen Gründe auf dem Wege der Erfahrung nicht auszumitteln sind«, und doch sei er »alltäglich« (ebd., 763). Was immer in den moralischen Wissenschaften theoretisiert werde, die Grundlage jeder Handlung, die wir als moralisch qualifizieren, ist Mitleid, das »große Mysterium der Ethik« (ebd., 811). Schopenhauers Position blieb die eines Vereinzelten. Erst als die Ethics of Care in den 1980er Jahren aus der Fürsorge-Perspektive Einwände gegen die universelle Gültigkeit etablierter Moraltheorien erhob, erinnerte man sich gelegentlich wieder an Schopenhauer. Bei Heidegger findet sich indes schon mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor die Fürsorge als Existenzial expliziert, ohne dass jedoch ihre ethische Bedeutung erfasst würde. Fürsorge ist eine in jeder Kultur vollzogene menschliche Pra­ xis. Etymologisch handelt es sich um einen recht alten Begriff, von mittelhochdeutsch vür-sorge, entlehnt aus dem lateinischen procura­ tio zu lateinisch pro-curare in der Bedeutung von ›für etwas Sorge tragen‹, was u. U. auch in der Zukunft liegt (dann liegen Für- und Vorsorge sogar dicht beieinander), sowie in der Bedeutung ›pflegen‹ und ›verwalten‹. Fürsorge bezeichnet die Sorge für andere Personen oder, wie der Duden sagt, die »tätige Bemühung um jemanden, der ihrer bedarf«. Diese tätige Bemühung hat sich im Deutschen nun auf wenigstens zwei Weisen ausdifferenziert, denn wir können Fürsorge sowohl auf den privaten Bereich des Umsorgens der Nächsten bezie­ hen als auch auf öffentliche Hilfeleistungen zugunsten Bedürftiger. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war der Begriff ›Fürsorge‹ an die Stelle früherer Bezeichnungen wie Armen- oder Wohlfahrtspflege getreten und repräsentierte reformerische Konzepte. 1961 erhielten dann die als ›Öffentliche Fürsorge‹ oder ›Fürsorgeunterstützung‹ bezeichneten staatlichen Maßnahmen zugunsten Bedürftiger vom Bundessozialhilfegesetz das Etikett ›Sozialhilfe‹ – eine interessante

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7.1 Fürsorge und Care

Entwicklung im Sprachgebrauch. Die dann folgende kontextfreie Bezeichnung ›Hartz IV‹ wurde schließlich in ›Grundsicherung‹ über­ führt und ist inzwischen durch den Begriff ›Bürgergeld‹ abgelöst. Neben der Fürsorge als öffentliche Hilfe für Bedürftige wird alltagssprachlich mit Fürsorge doch sehr viel mehr assoziiert, eigent­ lich gerade nicht nur die unpersönliche Hilfe für Arme, sondern Tätigkeiten des Lebensvollzugs, die in der geschlechtlichen Arbeits­ teilung traditionell den Frauen zugewiesen werden. Gemeint sind umsorgende, besorgende, versorgende, vor- und nachsorgende Akti­ vitäten in den persönlichen Beziehungen zu Kindern, Ehemännern, Lebenspartnern sowie kranken, behinderten, alten und sterbenden oder gebärenden Familienangehörigen – sich sorgen um, sorgen für, versorgen, nachsorgen, vorsorgen, häufig auch als Sorge assoziiert mit bedrückenden Gefühlen. Jedenfalls findet sich im Begriffsfeld Fürsorge eine ganze Reihe von Wörtern mit Bedeutungsnuancen des Sich-Sorgens-um. Im juristischen Vokabular spricht man vom kindlichen ›Recht auf Fürsorge‹ sowie von der ›Fürsorgepflicht‹ der Eltern und nennt Personen, die für Kinder oder Pflegebedürftige sor­ gen, ›Personen mit Fürsorgepflichten‹. Jedoch ist der Begriff Fürsorge damit noch nicht in allen seinen Sinnbezügen voll erfasst. Fürsorge kann ferner in der Bedeutung von Instandhaltung, Pflege, Beistand, Aufsicht, Rücksichtnahme, Versorgung etc. verwendet werden und wir verbinden mit ihr ebenso negative Konnotationen, etwa in dem Wort ›Bemutterung‹, wie auch positive, z.B. in der Rede von der ›zärtlichen Fürsorge‹. Nun wird seit dem Aufkommen der Ethics of Care auch im deutschen Sprachraum dafür votiert, sich in der philosophischen Ethik vom deutschen Wort Fürsorge zugunsten von Care zu verab­ schieden. Dafür werden einige Gründe vorgetragen: Positiv konno­ tiert impliziere Care nicht nur Fürsorge, sondern allgemein Pflege, Obhut, Betreuung, Achtsamkeit, Zuwendung, Anteilnahme. Es gehe in ihr um situationsbedingte Vorsicht, taktvollen Umgang, Rücksicht­ nahme, Einfühlungsvermögen. Darüber hinaus könne Care auch Sorge um sich bedeuten, etwa in der Redewendung ›Take care‹ = ›Pass auf Dich auf‹, so dass Care Fürsorge und Selbstsorge gleicher­ maßen enthalte. Negativ konnotiert könne Care die Bedeutung von Überwachung, Pflicht, Mühe oder Last haben und mit Abhängigkeit in Verbindung gebracht werden. Das Begriffsfeld Care sei damit im Vergleich zu Fürsorge deutlich anders und weiter aufgestellt, so die Reflexionen in der Literatur (vgl. Kohlen & Kumbruck 2008). Der

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7. Ethik der Fürsorge

deutschen Sprache fehle, so Elisabeth Conradi (2001, 13), »ein Wort, das den Gesichtspunkt der Zuwendung mit interaktiven Aspekten vereint und einer gemeinsamen Gestaltung der Praxis durch die daran beteiligten Menschen Ausdruck verleiht«. Conradi spricht in ihrer Ethik der Achtsamkeit aus diesem Grund sogar in einer erweiterten Terminologie von der »gemeinsame[n] Praxis Care« (ebd., 14). Nicht zuletzt spricht für die Bevorzugung von Care, dass die in den USA entstandene Ethics of Care das Prinzip Care überhaupt erst in den Diskurs eingespeist hat. Dagegen haftet der Fürsorge ein etwas selt­ samer Nimbus an, weil sie in einem veralteten Sinn auch Sozialhilfe meint. Die zweifache Ausrichtung als zwischenmenschliche und insti­ tutionelle Praxis ist aber wiederum eine Besonderheit der deutschen Wortentwicklung. Nimmt man noch hinzu, dass der Begriff Sorge im Deutschen vor allem bei Heidegger philosophisch reichhaltig, ja bis hin zur Bedeutung als Existenzial erschlossen ist, so scheint es gar nicht mehr so plausibel, den Begriff Care gegenüber Fürsorge vorzuziehen, sogar für das Gegenteil spricht einiges. Einzig in der Doppelung von Selbstsorge und Fürsorge scheint Care eine Nuance zu enthalten, die in unserem kollektiven und kulturellen Gedächtnis nicht im Fürsorge-Begriff verankert ist.

7.2 Die Sorge als Sein des Daseins: Besorgen und Fürsorge bei Heidegger Wenn nicht in ethischer, so doch in fundamentalontologischer Hin­ sicht steht die Sorge bei Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) an zentraler Stelle. Hier zeigt Heidegger (1984, 120), über die Analyse der Angst als Grundbefindlichkeit und über den Grundzug des Daseins als Sich-vorweg-schon-sein hinaus, dass »Inder-Welt-sein wesenhaft Sorge ist«. In seinem Fragen nach dem Wer des Daseins erschließt Heidegger Dasein außerdem als »wesenhaft an ihm selbst Mitsein«. Der Mensch kommt, einfach gesagt, nicht alleine vor, sondern immer mit anderen Menschen, die auch in der Welt sind. »Das Mitsein bestimmt existenzial das Dasein auch dann, wenn ein Anderer faktisch nicht vorhanden oder wahrgenommen ist«, es geht also zunächst nicht um das Mitdasein von Anderen, etwa im Sinne einer konkret gelebten Gemeinschaft, sondern um das Mitsein als Grundzug des In-der-Welt-seins. Alleinsein wäre dann ein »defizienter Modus des Mitseins« (ebd.), ebenso kann das

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7.2 Die Sorge als Sein des Daseins: Besorgen und Fürsorge bei Heidegger

Mitdasein Anderer »im Modus der Gleichgültigkeit und Fremdheit« (ebd., 121) begegnen. Wenn Heidegger an dieser Stelle den Begriff der Fürsorge ein­ führt, dann geschieht das mit Blick darauf, dass der andere Mensch in der Welt nicht in der »Seinsart des zuhandenen Zeugs« ist, wie die uns in Sinnzusammenhängen und Zweckbezügen gegenwärtigen Dinge, auch nicht im Sinne der ohne Bezug zum Menschen vorhandenen Dinge der Objektwelt. Beim anderen Menschen handelt es sich vielmehr um ein Seiendes, das selbst Dasein ist. »Dieses Seiende« wird folgerichtig »nicht besorgt, sondern steht in der Fürsorge«. Bemerkenswert ist Heideggers Ausgangspunkt aus dem Phänomen der Sorge: Den Umgang mit dem innerweltlich Zuhandenen kenn­ zeichnet er als Besorgen, den Umgang mit den Mitmenschen als Fürsorge. Beispielhaft nennt Heidegger das Besorgen von Nahrung und Kleidung sowie die Pflege des kranken Leibes als Fürsorge, wobei er diesen Ausdruck »entsprechend der Verwendung von Besorgen als Terminus für ein Existenzial« versteht (ebd., 121). Heidegger (1984, 121) sieht die im Deutschen mögliche und herausgebildete zweite Bedeutung des Begriffs der Fürsorge, also neben der konkret-persönlichen auch die institutionell-unpersönliche Form, und erwähnt die »Fürsorge« ebenfalls als »faktische soziale Einrichtung«. Diese gründe in der »Seinsverfassung des Daseins als Mitsein« und werde dringlich benötigt, da »das Dasein sich zunächst und zumeist in den defizienten Modi der Fürsorge hält«. Diese Rede von den »defizienten Modi der Fürsorge« erscheint zunächst missver­ ständlich. Eine Fürsorge, die keine ist, so würden wir sagen, verdient diese Bezeichnung nicht. Fürsorge ist bei Heidegger aber grundlegen­ der aus dem Mitsein selbst zu verstehen, also nicht zwingend aus konkreten Handlungen am oder mit dem Mitmenschen. Allein in der Tatsache, dass es andere Menschen gibt, dass Mensch-sein Mit-Ande­ ren-sein bedeutet, begründet Heidegger den Begriff der Fürsorge. So weist er explizit selbst das Wider- und Ohne-einandersein sowie das Aneinandervorbeigehen als mögliche Weisen der Fürsorge aus, ja konstatiert zu Recht, dass gerade die Modi der Defizienz und Indifferenz »das alltägliche und durchschnittliche Miteinandersein« charakterisieren (ebd.). Beauvoir hat diesen Gedanken Heideggers radikalisiert und mit Bezug auf die Ambiguität des Daseins die Unumgänglichkeit beschrieben, dass uns andere Menschen ›gleichgültig‹ sind. Ihre Ausführungen sind nicht als Versöhnung mit dem Scheitern oder

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7. Ethik der Fürsorge

Legitimation zum ›Wegschauen‹ misszuverstehen, sondern benen­ nen – wie bei Heidegger – eine Tatsache des In-der-Welt-Seins. Anders als Heidegger bewertet Beauvoir diese Tatsache jedoch mora­ lisch, denn sie fordert uns auf, in Erkenntnis und Anerkennung der wechselseitigen Bedingtheit meiner eigenen Freiheit und derjenigen der Anderen für die eigene Freiheit und die der Anderen einzustehen. Diese moralische Pflicht gegenüber den Anderen, die sich sehr wohl als Fürsorge-Pflicht generieren lässt, steckt in letzter Konsequenz auch in dem von Heidegger eingeführten ontologischen Unterschied zwischen den in der Welt mit-seienden Dingen und den in der Welt mit-seienden Menschen. Man könnte zwar vermuten, dass die Anderen lediglich vorhandene Subjekte seien, so wie den Menschen in der Welt neben den zuhandenen auch lediglich vorhandene Objekte begegnen. Heidegger (ebd.) macht aber klar, dass ontologisch zwi­ schen dem „’gleichgültigen’ Zusammenvorkommen beliebiger Dinge und dem Einander-nichts-angehen miteinander Seiender ein wesen­ hafter Unterschied« besteht. Der darin liegende Ansatzpunkt für die Ethik, etwa im Hinblick auf eine Fürsorge-Verantwortung, wird von Heidegger nicht aufgegriffen. Er bleibt bei der Explikation der Für­ sorge als Existenzial, hält dabei aber grundlegend fest, dass Fürsorge geleitet ist von Rücksicht und Nachsicht (defizient: Rücksichtslosig­ keit, indifferent: Gleichgültigkeit), ähnlich wie zum Besorgen in der zuhandenen Dingwelt die Umsicht gehört (vgl. ebd., 123). Hinsichtlich der Zuwendungsweisen zum anderen Men­ schen, die das Miteinandersein grundlegend prägen, unterscheidet Heidegger (ebd., 122) als positive Modi der Fürsorge »zwei extreme Möglichkeiten«. Die einspringend-beherrschende Fürsorge, die das, was zu besorgen ist, für den Anderen übernimmt, ihm gewissermaßen das Besorgen abnimmt, ist die häufigste Fürsorgehandlung. Die vorspringend-befreiende Fürsorge, »wesentlich die eigentliche Sorge«, betrifft die Existenz des Anderen, nicht ein »Was«, das besorgt wird, und »verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden«. Mit dieser Form der Fürsorge scheint ein tiefes Verständnis des Anderen gemeint zu sein, eine »eigentliche Verbundenheit«, aus »dem je eigens ergriffenen Dasein«. Während der Andere in der einspringend-beherrschenden Fürsorge »aus seiner Stelle geworfen« wird und zurücktritt – er wird hier durchaus zum Abhängigen und Beherrschten –, wird der Andere in der vorsprin­ gend-befreienden Fürsorge für sich frei. Die Sorge wird ihm nicht abgenommen, »sondern erst eigentlich als solche« zurückgegeben.

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7.2 Die Sorge als Sein des Daseins: Besorgen und Fürsorge bei Heidegger

Heidegger beschreibt in diesen teilweise dunklen Formulierungen offenbar so etwas wie eine tiefe Empathie, die in der Fürsorge auf das Seinkönnen des Anderen rekurriert, also den Anderen wirklich in seiner Existenz meint. Wenn Heidegger sich in dem behandelten § 26 noch kurz mit den Phänomenen der Einfühlung und des Verstehens befasst, dann wird noch einmal deutlich, dass er mit der ›positiven‹ Fürsorge, insbeson­ dere mit der vorspringend-befreienden Variante, tatsächlich eine grundlegende Möglichkeit zwischenmenschlicher Bezogenheit meint. In der Beschreibung der Fürsorge als Existenzial gerät der kon­ krete Andere als Referent solcher Bezogenheit allerdings wieder aus dem Blick. Heidegger (ebd., 125) bleibt aber vom »Mitsein« als »exis­ tenziales Konstituens des In-der-Welt-Seins« durchaus fasziniert: »Das Mitdasein erweist sich als eigene Seinsart von innerweltlich begegnendem Seienden. Sofern Dasein überhaupt ist, hat es die Seins­ art des Miteinanderseins.« Dieses könne »nicht als summatives Resultat des Vorkommens mehrerer ›Subjekte‹ begriffen werden«. Gleichwohl sei es möglich, andere Subjekte als »Nummern« zu behandeln, durch ein »bestimmtes Mit- und Zueinandersein«: »Die­ ses ›rücksichtslose‹ Mitsein ›rechnet‹ mit den Anderen, ohne dass es ernsthaft ›auf sie zählt‹ oder auch nur mit ihnen ›zu tun haben‹ möchte.« Ein Miteinander, das den ontologischen Unterschied zwi­ schen Menschen und Dingen nicht anerkennt und Menschen zu zähl­ baren Objekten degradiert, muss im Sinne der existenzialistischen Ethik Beauvoirs als moralisch verwerflich gelten, da dem Anderen dadurch sein Subjekt-Status entzogen wird. Heideggers Deskriptio­ nen bleiben hier wie auch an anderen Stellen in dieser Hinsicht unkommentiert. Auch in § 41, dem eigentlichen Kapitel über die Sorge als Sein des Daseins, geht es Heidegger beim erneuten Aufgreifen der Termi­ nologie von Besorgen und Fürsorge lediglich um den bereits vollzo­ genen ontologischen Unterschied zwischen dem Sein mit den in der Welt begegnenden Dingen, die in Zuhandenheit besorgt werden, und dem Sein mit dem »innerweltlich begegnenden Mitdasein Anderer«, das in Fürsorge steht (ebd., 193). Dass damit eine ethische Forderung verknüpft ist, liegt außerhalb der von Heidegger vorgesehenen Unter­ suchung. Seine Analytik des Daseins zielt »nicht auf eine ontologische Grundlegung der Anthropologie« ab, sondern hat »fundamentalon­ tologische Abzweckung« (ebd., 200). Auch wenn dieser Erkenntnis­ rahmen keine ethischen Implikationen einfordert, so ist doch Fürsorge

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7. Ethik der Fürsorge

als Existenzial, als Grundzug des In-der-Welt-Seins ausgewiesen, und zwar erstens negativ in den indifferenten und defizienten Modi, die auf Heideggers Analyse des ›Man‹ vorbereiten, sowie zweitens positiv als zweifach entfaltete intersubjektive Bezogenheit und drit­ tens als notwendige soziale Einrichtung.

7.3 Die ethische Anthropologie Wilhelm Kamlahs Noch vor der Einführung der Care-Ethik durch Carol Gilligan hat Wilhelm Kamlah, Mitbegründer des Erlanger Konstruktivismus, die Ethik in der philosophischen Anthropologie fundiert und mit seiner praktischen Grundnorm bereits eine Ethik der Fürsorge begründet. Kamlah sieht im Widerfahrnis eine Grunddimension menschlichen Lebens und versteht Philosophische Anthropologie als eine Disziplin, die sich mit dem Menschen befasst, »wie er sein Leben wirklich erfährt und erlebt, ohne durch methodische Reduktion … den Horizont die­ ses Erlebens, dieser unmittelbaren Erfahrung zu verlassen« (Kamlah 1973, 39). So ist in der Erfahrung unabweisbar, dass der Mensch sein Leben »eingespannt zwischen den Widerfahrnissen Geburt und Tod« verbringt: »Gleichsam das erste und letzte Wort hat für uns nicht unser eigenes Handeln. Aber auch, wenn wir handeln, widerfährt uns stets etwas. Es gibt Widerfahrnisse ohne Handeln, aber es gibt kein pures Handeln.« (Ebd., 35) Handeln kann gelingen oder misslin­ gen, Widerfahrnisse sind »erfreulich« oder »widrig«, angenehm oder unangenehm, gut oder schlimm: »Sie widerfahren uns bezogen auf unsere Bedürftigkeit.« (Ebd., 36) Im deskriptiven Teil seiner Anthropologie formuliert Kamlah auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen Begehren und Bedür­ fen den allgemein gültigen Satz: »Der Mensch begehrt nicht allein, er ist auch bedürftig.« Ferner gilt: »Begehren ist ein Fall von Sichverhal­ ten, Bedürfen dagegen nicht.« (Ebd., 55) Gernot Böhme hat in etwas anderer Kontextualisierung die Unterscheidung zwischen Bedürfnis­ sen und Begehrnissen für eine Kritik der ästhetischen Ökonomie (2001) geltend gemacht. Bei Kamlah wird der eigentlich triviale, aber zentrale Satz »Wir alle sind bedürftig«, moralisch bedeutsam im Zusammenhang mit dem Aufmerken (Beachten). Er (ebd., 75) versteht »aufmerken« synonym mit »aufmerksam sinnlich aufneh­ men« und expliziert die Weisen aufmerksamen Hörens, Sehens etc. Im aufmerkenden Beachten wenden sich Menschen einander aufge­

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7.3 Die ethische Anthropologie Wilhelm Kamlahs

schlossen zu. Wer aber »in seiner zielstrebigen Geschäftigkeit den Menschen neben ihm unaufmerksam ›übersieht‹, wird es nicht allein unterlassen, ihm ›Aufmerksamkeit‹ zu erweisen, sondern auch schon, sich ihm im Anblicken als Partner des Redens, des Handelns und des Leidens mitmenschlich aufzuschließen« (ebd., 79f.). Er bewegt sich, um mit Heidegger zu sprechen, im indifferenten (gleichgültigen) oder gar defizienten (rücksichtslosen) Modus der Fürsorge. Im normativen Teil seiner Anthropologie entwickelt Kamlah aus dem Gesagten grundlegende ethische Konsequenzen. »Wir Men­ schen alle sind bedürftig«, so lautet der allgemein gültige Satz, nun ergänzt um einen weiteren, dass wir nämlich alle aufeinander ange­ wiesen sind. Zur Befriedigung unserer Bedürfnisse bedürfen wir nicht nur dieser oder jener Dinge, sondern auch des Zusammenwirkens mit anderen, obwohl wir dabei einander durchaus im Weg sein können. Wir bedürfen also »nicht nur der Güter, sondern auch der Mitmenschen«. Dem ist hinzuzufügen: »Wir sind auf andere angewiesen nicht allein, um mit ihrer Hilfe zu den Gütern zu gelangen, deren wir bedürfen, sondern wir sind auch aufeinander angewiesen, um z.B. miteinander zu reden, unsere Situation zu besprechen, einander Geborgenheit zu gewähren, um in wechselseitigem Vertrauen unser menschliches Leben zu bestehen.« (Ebd., 95)

Dies lässt sich in dem Satz zusammenfassen: »Wir Menschen alle sind bedürftig und sind aufeinander angewiesen.« Wer das einsieht, so Kamlah, »erkennt damit an, dass nicht nur er selbst bedürftig und auf die anderen angewiesen ist, sondern dass ebenso die anderen bedürftig und auf ihn angewiesen sind«. Mit dieser Einsicht ist eine Forderung verbunden: »Beachte, dass die anderen bedürftige Menschen sind wie du selbst, und handle demgemäß!« (Ebd.) Als praktische Grundnorm lässt sich also formulieren: »Es ist jedermann jederzeit geboten zu beachten, dass seine Mitmenschen bedürftig sind, wie er, und demgemäß zu handeln.« (Ebd., 96) Diese Grund­ norm, schlechthin allgemeingültig, »erste und oberste Norm für menschliches Verhalten und Handeln ist ›Grundnorm‹ insofern, als sie zur Begründung anderer, speziellerer moralischer Handlungsnormen dient oder doch dienen sollte, und zwar zur Begründung aller anderen Handlungsnormen, die Paragraphen der Gesetzbücher eingeschlos­ sen (ohne freilich allein zu diesen Begründungen auszureichen)« (ebd., 103).

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7. Ethik der Fürsorge

Die Grundnorm ist eigentlich nichts Neues, wie Kamlah weiß, es handelt sich der Sache nach um den in normativen Sätzen for­ mulierten Grundgedanken der Goldenen Regel oder des unter der lateinischen Kurzform Neminem laede (imo omnes, quantum potes, iuva) kursierenden Appells »Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit Du kannst!« (vgl. Schopenhauer 1989, 663) oder um das volksmundliche Gebot »Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem Anderen zu!« – allerdings mit einer konsequenten Fun­ dierung in der philosophischen Anthropologie. Indem die praktische Grundnorm erstens die Bedürftigkeit des Menschen, zweitens die Fähigkeit, aufmerksam zu beachten, und drittens die Möglichkeit zu handeln miteinander in Verbindung setzt, liefert sie den idealen Aus­ gangspunkt für eine Ethik der Fürsorge. Ihre detaillierte Explikation ist an dieser Stelle nicht möglich, es sei aber auf dreierlei hingewiesen: Die in der Grundnorm angesprochenen Anderen konkretisiert Kamlah (1973, 100) als alle anderen Personen, ja, jeder andere Mensch, »dem ich in einer konkreten Situation begegne oder der als Abwesender von meinem Handeln oder Nichthandeln betroffen wird«. Hier zeigt sich die Tragweite der Grundnorm: Gemeint ist der konkrete, persönlich gegenwärtige, aber auch der verallgemeinerte abwesende Andere. Kamlah entwickelt hier schon die ethische Kate­ gorie der Mitverantwortung, die Hans Jonas 1979 als Das Prinzip Verantwortung ins Zentrum seines Entwurfs einer Ethik für die tech­ nologische Zivilisation stellt. Zum Zweiten macht Kamlah (1973, 100f.) deutlich, dass die Grundnorm selbstverständlich einfordert, sich gegebenenfalls von eigenen Bedürfnissen zu distanzieren, dass die Beachtung der Bedürf­ nisse anderer jedoch Situationen nicht ausschließt, »in denen wir uns ungerechtfertigter Begehrungen anderer zu erwehren haben«. Dieses Problem wird auch in der Care-Ethik als »Gratwanderung zwischen Verantwortung und Bevormundung«, »Selbstachtung und Achtsamkeit«, »Desinteresse und Überforderung« diskutiert (vgl. Conradi 2001). Zum Dritten betrifft die Grundnorm im Wissen um die Bedürf­ tigkeit die »Solidarität der miteinander redenden, miteinander han­ delnden und miteinander leidenden Menschen«. Wo diese Solidarität aufhört, da hört nach Kamlah (1973, 101) jedoch »nicht der Bereich des »Mitleids« auf, das uns auch mit der übrigen »leidenden Kreatur« verbindet und Normen besonderer Art begründet (z.B. das Verbot, Tiere zu quälen …)«. Dieser Punkt eröffnet eine wohl zu diskutierende

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7.4 Care-Ethik im moralphilosophischen Diskurs

Unterscheidung zwischen Solidarität und Mitleid, die aber deutlich macht, dass Ethik nicht nur den Bereich menschlichen Zusammenle­ bens betrifft. Zuletzt sei noch erwähnt, dass die praktische Grundnorm in der Konzeption von Kamlah an Individuen und Institutionen gleicherma­ ßen adressiert ist: Sie gelte »in jeder Situation menschlichen Mitein­ anderlebens, einerlei, ob dieses Miteinanderleben sich ›rein privat‹, vielleicht zwischen nur zwei Menschen, vollzieht oder im Rahmen von Institutionen«. So hat die praktische Grundnorm »in jede spezi­ elle Norm und somit in jede Rechtsnorm miteinzugehen«; sie nehme »eine maßsetzende Stelle ein, die manche Rechtsdenker früher einem angeblichen ›Naturrecht‹ zugewiesen haben« (ebd., 110).

7.4 Care-Ethik im moralphilosophischen Diskurs Die Selbstverständlichkeit, mit der Kamlah aus der Bedürftigkeit des Menschen die praktische Grundnorm entwickelt, ist im moralphi­ losophischen Diskurs weitgehend unbeachtet geblieben. Von Selbst­ verständlichkeiten kann auch nicht die Rede sein, wenn wir die historische Etablierung der Ethics of Care in den Blick nehmen, die zuerst mit Gilligans Buch In a different Voice (1982) auf den Plan trat, und zwar in Reaktion auf den Psychologen Lawrence Kohlberg. Dieser hatte in Anlehnung an Piaget ein Entwicklungsmodell konzipiert, in dem der weiblichen Bevölkerung ein niedrigerer moralischer Status zugewiesen wurde als der männlichen, selbstverständlich aufgrund moraltheoretischer Vorannahmen. Kohlberg (1996) beschreibt eine standardisierte moralische Entwicklung, die – grob gesagt – vom Gehorsam über Empathie zur Gerechtigkeit ihren Verlauf nimmt. In diesem Modell bleiben Frauen nach Kohlberg unterentwickelt, da sie in ihrem angeblich auf Haushalt und Kindererziehung beschränk­ ten Tätigkeitsfeld zwar das Stadium des Helfens und Fürsorgens erreichen, aber kein autonomes Gerechtigkeitsverständnis erlangen. Dagegen argumentiert Gilligan, dass die moralische Entwicklung von Frauen keineswegs defizitär ist, sondern eine eigene Logik und Qualität mit sich bringt. Gilligan kritisiert die Hierarchisierung von theoretischem und praktischem Urteilen, vernimmt in ihren eigenen Untersuchungen die »andere Stimme« der Moral und rückt die zwi­ schenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt.

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7. Ethik der Fürsorge

Die Kritik an den etablierten moraltheoretischen Topoi Gerech­ tigkeit, Autonomie, Reziprozität, Pflicht, Tugend etc. führte zu lebhaf­ ten Diskussionen, zumal die darin entwickelte Position der Care-Ethik sich nicht einfach als Aufarbeitung von Defiziten oder als zusätzliche Option, als das Mehr oder Plus zu anderen Ethiken abschütteln ließ. Sie betraf vielmehr die Fundamente der Moraltheorie selbst und macht geltend, dass wir Menschen nämlich nicht nur autonom sind, sondern auch Widerfahrnissen ausgesetzt und einander verbunden sind. Die Ethics of Care wollte eine allgemeine moralphilosophische Debatte anregen und ein Umdenken in der Beurteilung moralischer Qualität einleiten. Im Rückblick zeigt sich indes, dass diesem Vor­ stoß bis heute das Stigma ›feministisch‹ anhaftet und von einer allgemeinen Akzeptanz der Fürsorge-Perspektive im Moraldiskurs der Gegenwart keine Rede sein kann, eher von einer strukturellen ›Blindheit‹. Als ›weibliche Ethik‹ etikettiert, ist die Care-Ethik auf einen Nebenschauplatz abgedrängt und steht unter Legitimations­ zwängen, obwohl sie mittlerweile in vielen Spielarten entfaltet ist und allenfalls aus historischen, nicht aber aus systematischen Gründen als ›Frauen-Ethik‹ bezeichnet werden kann. Dabei handelt es sich um bekannte Verfahren der akademischen Kulturalisierung subversiver Denkmuster, die sich vor allem dann erfolgreich etablieren, wenn die neuen Erkenntnisse politische und ökonomische, in diesem Fall grundlegende feministische Forderungen nach sich ziehen. Es bleibt aus meiner Sicht allerdings unklar, warum selbst Vertreterinnen der Care-Ethik ihr Anliegen nach wie vor als feministisch ausweisen, obwohl es um einen universalmoralischen Anspruch geht oder die Fürsorge-Perspektive als gleichrangig neben die Gerechtigkeits-Per­ spektive gestellt wird. So lässt sich eine Ethik der Achtsamkeit, wie sie Elisabeth Conradi (2001) als feministische Ethik entwickelt, sehr wohl universalmoralisch ausdeuten und damit u. U. sogar einem weiteren Erkenntnishorizont zuführen. Care-Ethiken haben jedoch entschieden dazu beigetragen, die Tätigkeiten des Caring, also des Fürsorge-Tragens überhaupt als moralisch zu qualifizieren und aus ihrer traditionellen Unsichtbarkeit ins Blickfeld ethischer Theorie zu rücken. Schon Hannah Arendt hat die klassische Hierarchie von oîkos und pólis, von privat-häuslichem und öffentlich-politischem Leben, dadurch zu entzerren versucht, dass sie die auf Subsistenz, also auf Lebenserhaltung und Lebens­ pflege zielenden Tätigkeiten im privaten Bereich aufwertete und immerhin als Arbeit bezeichnete (vgl. Arendt 2007). Inzwischen

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7.4 Care-Ethik im moralphilosophischen Diskurs

haben Care-Ethiken umfassende Wissenschaftsanalysen zur Bedeu­ tung der tagtäglichen Fürsorge-Verrichtungen für die Existenz und den Fortbestand der Menschheit sowie für die moralische Qualität einer Gesellschaft vorgelegt. Alle Care-Ethiken machen geltend, dass im Hauptstrom abendländischer Ethik grundlegende Kategorien moralischen Verhaltens unberücksichtigt geblieben sind, so z.B. die zwischenmenschliche Verbundenheit. Menschlich zu existieren bedeutet, in Beziehung zueinander zu stehen. So fordert Gilligan eine Aufwertung der emotionalen und relationalen Dimension für ein Verständnis moralisch relevanter Situationen. Caring ziele nicht zwangsläufig auf Übereinstimmung, sondern auf Verständnis. Es gehe um den Standpunkt des konkreten Anderen. Dagegen margina­ lisieren gerechtigkeitsbasierte Ethiken, etwa bei John Rawls (1979, 140–166), der sogar die Vorstellung einer hypothetischen »original position« jenseits individueller Merkmale entwickelt, sowohl die bedürftigen als auch die versorgenden Subjekte und verschleiern die grundlegende Angewiesenheit von Menschen auf andere, so die Kritik von Eva Kittay (vgl. Conradi 2001, 142 ff.). Menschen sind nicht alle, erst recht nicht über den Zeitraum eines gesamten Lebens in der Lage, freie, unabhängige und gleiche Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Tatsächlich sind wir während vieler Jahre, mitunter Jahrzehnte auf die Fürsorge anderer angewiesen. Diese schlichten Tatsachen würden die an Autonomie und Reziprozität orientierten Morallehren völlig igno­ rieren; auch sei es nicht vertretbar, all jene Menschen aus der Defini­ tion einer wohlgeordneten Gesellschaft auszuschließen, die vorüber­ gehend oder langfristig abhängig und unfrei sind – so die immer wieder vorgetragene Kritik. Indem Care-Ethiken die bedürftigen Subjekte einschließen, rücken auch die sie versorgenden Subjekte mit in den Fokus. Diese befinden sich nach Kittay (1999) in einer Art sekundären Abhän­ gigkeit und haben ebenfalls unter anderen Bedingungen an der Gesellschaft teil als die sogenannten freien Subjekte. Im Zuge sol­ cher Überlegungen werden mittlerweile auch kulturelle Praktiken erforscht, die sich auf die Sorge für die Fürsorgenden beziehen, etwa die Praxis der doulia, oder auf unkonventionelle Hilfsmodelle, etwa bei den othermothers. Doulas sind Menschen, die sich um jene küm­ mern, die Andere versorgen, wobei sie davon ausgehen, dass diese Versorgenden als sekundär Abhängige ebenfalls einer besonderen Fürsorge bedürfen. Beispielhaft für die Tätigkeit der Doulas ist das Sich-Kümmern um Wöchnerinnen, also um Frauen, die gerade ein

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7. Ethik der Fürsorge

Kind geboren haben. Bei dem Pflegschaftsmodell der othermothers in afro-amerikanischen Gemeinschaften nehmen Frauen mit einer für uns unvorstellbaren Selbstverständlichkeit Waisenkinder oder Kinder, die nicht durch ihre Familie versorgt werden, in ihre privaten Haushalte auf. Caring hat hier ein gesamtes, vormals auf Separa­ tismus und Individualismus gestütztes soziales System verändert. Solche Praxen der Fürsorge beruhen auf einem Verständnis für die moralische Bedeutung asymmetrischer und irreziproker Intersubjek­ tivität und zeigen im besten Fall die Möglichkeit einer sich aus dem Alltag entwickelnden Reform des Sozialgefüges einer Gesellschaft (vgl. Conradi 2001, 141ff.). Die Ethics of Care entfaltet sich bis heute in unterschiedlichen Richtungen. Nel Noddings (1984) etwa votiert für eine Care-Ethik als Tugendethik, die sich aus der Praxis des Sorgens begründen lässt. Wie Jonas für seine Verantwortungsethik verweist Noddings für ihr Care-Konzept auf die Mutter-Kind-Dyade. Caring sei Beziehungstä­ tigkeit und lasse sich in den Entscheidungsdimensionen nicht aus konkreten Situationen herauslösen. Bei Noddings wird Fürsorge als moralisches Ideal handlungsleitend und beschränkt sich daher nicht auf Frauen, jedoch lehnt Noddings institutionalisierte Formen von Care grundsätzlich ab, was ihren Ansatz erheblich beschränkt. Joan Tronto (1993) votiert für ein weit gefasstes Modell der engagierten Sorge, das auch auf Pflanzen, Tiere, Gegenstände sowie die Umwelt bezogen ist. Care im engeren Sinne ist nach Tronto eine alltägliche Praxis zwischen Menschen, in deren Vollzug sie vier Phasen identi­ fiziert: Anteilnahme (caring about), Unterstützung (taking care of), Versorgen (care-giving) und Reaktion auf Versorgen (care-receiving). Diesem vierfach entfalteten Prozess der engagierten Sorge ordnet Tronto vier ethische Elemente zu, die für eine gelungene Praxis von Care unabdingbar sind: Aufmerksamkeit (attentiveness), Verant­ wortlichkeit (responsibility), Kompetenz (competence) und Resonanz (responsiveness). Mit diesen ethischen Elementen verbindet Tronto einen normativen Anspruch, sie beschreibt aber auch Dilemmata und erschließt neue Forschungsfelder. Gilligan und Tronto stimmen in der moralischen Forderung überein, »not to turn away from someone in need«, identifizieren die damit verbundenen moralischen Konflikte aber unterschiedlich. Gilligan sieht die Schwierigkeit in Trennung, Einsamkeit und Verlassenheit, also einem Mangel an Kontakt, von dem sie meint, er führe zu Gleichgültigkeit; Tronto betont, dass die Schwierigkeit in dem zu erfüllenden Bedürfnis liegt, dass es

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7.4 Care-Ethik im moralphilosophischen Diskurs

durch Unaufmerksamkeit nicht angemessen wahrgenommen wird (vgl. Conradi 2001, 228). Conradi, die Care wie Tronto als Praxis versteht und auf den deut­ schen Begriff der Fürsorge zugunsten der Terminologie gemeinsame Praxis Care verzichtet, entwickelt einen feministischen Ansatz, der die moralischen Probleme von Care identifiziert, aber auch deren Lösung in der Praxis verortet, also im situativ gegebenen dynamischen Umgang mit Konfliktsituationen. Im Vollzug von Care könne sich erst das »kritische Urteilsvermögen entfalten«, »das zum konstruktiven Umgang mit Konflikten nötig ist«. Hier zeige Care, dass sich »situa­ tiv innerhalb einer konkreten Praxis« die Kritik an Konventionen ergeben und eine Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse vollziehen kann (Conradi 2001, 233). Conradi entwickelt neun The­ sen zu Care: Sie sieht Care als menschliche Interaktionen, die mit Ausnahme der Selbstsorge von mindestens zwei Menschen gestaltet werden. Sie hebt hervor, dass im Verlauf von Care-Interaktionen menschliche Beziehungen entstehen oder vertieft werden, so dass Care neben sorgender Aktivität auch Bezogenheit impliziert. »Care umfasst sowohl das Zuwenden als auch das Annehmen der Zuwen­ dung« (ebd., 51). In Care-Interaktionen, die oft asymmetrisch sind, gibt es nach Conradi eine »Dynamik der Macht«. Die beteiligten Menschen sind unterschiedlich autonom, jedoch ist Achtung nicht auf eine »Unterstellung von Autonomie angewiesen«. »Care-Verhält­ nisse sind in der Regel nicht reziprok«, aber das Schenken von Achtsamkeit ist »nicht an Reziprozität gebunden« (ebd., 56). Conradi erwähnt, dass Care-Interaktionen »auch nonverbal« sein und »mit körperlichen Berührungen« zu tun haben können. Schließlich seien in Care-Interaktionen »Fühlen, Denken und Handeln verwoben«. Damit wird deutlich, dass Care als reflektiertes Handeln zu verstehen ist, das »affektiv-emotionale mit kognitiven Anteilen verbindet« und die Bedeutung von Erfahrung und Praxis hervorhebt (ebd., 59). Ein sol­ cher Ansatz, der auch die Besonderheiten der pflegerischen Situation aufgreift, richtet sich explizit gegen die oft unterstellte Annahme, Care sei ein Instinkt oder ein Affekt, und gegen die Unterstellung, ethische Entscheidungen seien nur dann als solche zu bezeichnen, wenn sie rational sind. Conradi arbeitet in ihrer Ethik der Achtsamkeit die Tragweite einer Ethik heraus, die in kritischer Stellung gegen die Kategorien Autonomie, Gleichheit und Gegenseitigkeit auch nicht-symmetri­ sche, irreziproke Interaktionen zwischen Menschen mit unterschied­

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7. Ethik der Fürsorge

lichen Fähigkeiten, Kompetenzen und Autonomiespielräumen als moralisch qualifiziert. Achtsamkeit habe »ihren Platz in gemein­ samem Handeln und innerhalb von konkreten Situationen«. Im Unterschied zum pflichtenethischen Achtungsbegriff formuliert ihr Konzept der Achtsamkeit »den Grundgedanken, dass Menschen füreinander außerordentlich bedeutsam sind« (ebd., 238). So trägt Achtsamkeit der Bezogenheit von Menschen aufeinander, ja der Abhängigkeit voneinander Rechnung. Wenn es »überhaupt einer universalisierbaren Kategorie zur Begründung von Achtung bedarf«, so biete sich dafür »die grundlegende Angewiesenheit von Menschen aufeinander eher an als deren ›Fähigkeit‹, autonome Entscheidungen zu treffen« (ebd., 239). So stimmt Conradi letztlich mit Kamlah überein, der aus dem anthropologischen Satz »Wir alle Menschen sind bedürftig und aufeinander angewiesen« die Grundnorm entwickelt. Allerdings gibt es eine bedeutende Differenz zwischen der CareEthik und dieser praktischen Grundnorm. Ich verstehe die Care-Ethi­ ken als notwendige, aber noch nicht hinreichende Explikationen der Grundnorm, die in ihrer Schlichtheit spröde erscheinen mag. Der neuralgische Punkt ist hier der Übergang vom konkreten zum verallgemeinerten Anderen. Care-Ethiken bewegen sich im Kontext konkreter Situationen. Nach Conradi (2001, 238) beginnt »Achtsam­ keit« »in einer Situation, in der Menschen ein Verhältnis zueinander haben und eine Beziehung zueinander entwickeln«. In Care-Inter­ aktionen begegnen sich mindestens zwei Menschen und reagieren im Nahbereich aufeinander. Die Grundnorm Kamlahs akzentuiert in ihrer Konzeption der Mitverantwortung dagegen eine aus dem Nahbereich menschlicher Interaktionen hinausführende universelle Ausrichtung bzw. eine Integration der Bedürftigkeit sowohl konkreter als auch verallgemeinerter Anderer. Gegenüber manchen späteren Ausrichtungen der Care-Ethik hatte aber z.B. schon Gilligan mit Care als Prinzip der fürsorglichen Zuwendung durchaus ein universalisti­ sches Anliegen verfolgt. Mit Seyla Benhabib (1989, 475) kann man behaupten, dass »der moralische Standpunkt nicht allein durch den Standpunkt des konkreten Anderen definiert werden kann«. So braucht es z.B. in der Philosophischen Praxis nicht nur eine ethische Perspektive auf das konkrete Beziehungsgeschehen in den verschiedenen Formaten, sondern auch eine ethische Perspektive auf Humanität als allgemeine und universalisierbare Haltung und Hintergrundfolie des professio­ nellen Handelns. Der »Abstraktionsschub«, der in der Einnahme

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7.4 Care-Ethik im moralphilosophischen Diskurs

der Position des verallgemeinerten Anderen liegt, ermöglicht erst Ideen von Gleichheit und Gleichwürdigkeit. Mit Benhabib (ebd., 474) ist indes zweierlei zu beachten, einerseits wird eine »auf den Standpunkt des verallgemeinerten Anderen beschränkte Definition des Ich inkohärent« und erlaubt nicht, »zwischen Individuen zu differenzieren«; andererseits kann »kein kohärentes Universalisie­ rungsverfahren durchgeführt werden«, ohne »den Standpunkt des konkreten Anderen zu beziehen«, denn es fehlt hier »die notwendige epistemische Information, um meine moralische Situation als der deinen ›gleich‹ oder ›ungleich‹ zu beurteilen«. So versteht Benhabib (ebd., 476) dann in der Folge die von ihr vorgenommene Unterschei­ dung zwischen dem verallgemeinerten und dem konkreten Anderen nicht präskriptiv, sondern kritisch. Der konkrete Andere sei »ein kritischer Begriff«, »der die ideologischen Grenzen des universalisti­ schen Diskurses kennzeichnet und das Ungedachte, Ungesehene und Ungehörte in solchen Theorien deutlich macht«. Letztlich geht es Benhabib um eine Integration beider Stand­ punkte – Gerechtigkeit und Fürsorge – in den moralischen Bezugs­ rahmen eines Modells der »kommunikativen Bedürfnisinterpreta­ tion«. Eine solche Ethik sei verträglich mit einer »dialogischen, interaktiven Generierung von Universalität« und liefere einen Über­ bau, innerhalb dessen »moralisch und politisch Handelnde ihre eigenen konkreten Identitäten auf der Basis der Anerkennung der gegenseitigen Würde als generalisierte Andere definieren können« (ebd., 477). In letzter Konsequenz stellt dieser Entwurf einer kom­ munikativen Ethik der Bedürfnisinterpretation eine Erweiterung dar: Nicht nur Recht, sondern auch Bedürfnisse, nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch »mögliche Formen des guten Lebens« könnten so in »eine antizipatorisch-utopische Perspektive« gerückt werden. Eine solche, den konkreten Anderen berücksichtigende Ethik würde dann nicht nur universelle Normen hervorbringen, »sondern auch Anre­ gungen für zukünftige Formen des Zusammenlebens« bieten können (ebd.). Damit kann auch der Bogen zur Lebenskunst geschlagen werden, die sich stets auch auf die lagespezifischen Bedingungen konkreten Lebens bezieht. Mit Benhabib (ebd., 480) wird hier ins­ gesamt die Möglichkeit einer Revision der Moraltheorie eröffnet, und zwar derart, dass Bedürfnisse, Gefühle, Affekte etc. nicht mehr auf »kontingente Eigenschaften der Individuen reduziert« und in der Theoriebildung als Störfaktoren der Autonomie des souveränen Sub­

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7. Ethik der Fürsorge

jekts ausgeblendet werden, sondern Eingang finden in die Prozesse der Reflexion, Diskussion und Veränderung auch der Lebensformen. Benhabibs Initiative hin zu einer »ganzheitlicheren Sicht von uns selbst und unseren Mitmenschen als ›verallgemeinerte‹ wie auch als ›konkrete‹ Andere« (ebd., 480) erscheint als vielversprechender Ansatz einer Integration der Impulse aus den Care-Ethiken in die bisher vom verallgemeinerten Anderen und von universellen Gerech­ tigkeitsansprüchen dominierte Diskurs-Ethik. Allerdings priorisiert er moraltheoretische Verfahren der Urteilsbildung und Normenbe­ gründung. Der konkrete Andere wird hier nicht als bedürftiges oder versorgendes Subjekt in Fürsorge-Handlungen sichtbar. Eine an Kamlahs Grundnorm orientierte Ethik der Fürsorge bezeichnet dagegen einen anderen Versuch der Vermittlung zwischen dem ver­ allgemeinerten und dem konkreten Anderen, der von der Praxis fürsorglicher Handlungen ausgeht. Caring als gesellschaftliche Praxis betrifft auch längst nicht mehr nur den Nahbereich zwischenmenschlicher Interaktionen, sondern die seit langem international und institutionell verankerte engagierte Sorge für die abwesenden, für die vielleicht noch nicht einmal gebore­ nen Anderen, wie z.B. Hans Jonas (1993) in seiner Ethik für die tech­ nologische Zivilisation geltend macht. So kommt die Differenzierung des deutschen Begriffs Fürsorge in den privaten, zwischenmenschli­ chen und den öffentlichen, institutionellen Sektor zur Geltung. Hier zeigt sich zugleich eine Notwendigkeit zu dieser Differenzierung: Der Mensch hält sich in Bezug auf seine Mitmenschen u.a. in den von Heidegger bezeichneten indifferenten und defizienten Modi der Fürsorge auf und ist, wie Beauvoir herausarbeitet, auch gar nicht in der Lage, gegenüber allen bedürftigen konkreten Anderen persönlich tätig zu werden. Heute ist uns durch das erweiterte Wissen die Bedürf­ tigkeit einiger Millionen Menschen tagtäglich präsent und lässt uns geradezu ohnmächtig erstarren. Diese Tatsache des In-der-Welt-seins bzw. der Ambiguität des Daseins entlässt uns aber gerade nicht aus der Fürsorge-Verantwortung, sondern fordert unser Eintreten für die Bedürftigen mit unserer Existenz noch viel stärker heraus. Auch mit solchen Überlegungen erschließt sich die politische Dimension der Lebenskunst und der Philosophischen Praxis. Fürsorge waltet also nicht nur in persönlichen Beziehungen, sondern auch im Fernbereich, etwa in der Organisation von Hilfsgü­ tern, im Naturschutz etc., auch in der Stärkung vorhandener oder der Schaffung neuer Formen der Fürsorge für Hilfs- und Pflegebedürftige.

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7.4 Care-Ethik im moralphilosophischen Diskurs

Das Wissen um die Bedürftigkeit völlig unbekannter Menschen am anderen Ende der Welt oder in der Zukunft weckt heute Spenden­ bereitschaft oder mobilisiert politischen Protest. Dieses Verhalten nimmt seinen Ausgang im Schopenhauerʼschen Mitleid vis à vis oder im Levinasʼschen Antlitz des Anderen, das einen Appell an uns richtet und die Anerkennung unserer eigenen Verletzlichkeit herausfordert. Es beruht ebenso – wenn man nicht auf den Utilitarismus eines Peter Singer zurückgreifen will – auf den verallgemeinerbaren Einsichten, die in Kamlahs praktischer Grundnorm mitgedacht sind. Ferner wird es ausgelöst durch die von Schmitz (1995, 321–438) beschriebenen moralischen Gefühle Scham und Zorn, die sich angesichts einer poli­ tischen und ökonomischen Weltordnung regen, in der die praktische Grundnorm systematisch missachtet und das Begehren Weniger dem Bedürfen Vieler vorgezogen wird. In eben diesem Sinn scheint mir Richard Rorty (1994, 79) auch zu verstehen, worin moralischer Fort­ schritt besteht, nämlich nicht in »einer Zunahme der Rationalität«: »Er beruht also nicht auf einer allmählichen Verminderung des Einflus­ ses von Vorurteilen und abergläubischen Ansichten, durch die wir die Möglichkeit erhalten, unsere moralische Pflicht klarer zu sehen. Er beruht auch nicht auf dem, was Dewey eine Zunahme der Intelligenz nennt, also die immer größere Fähigkeit, Handlungsweisen zu ersin­ nen, die zur gleichen Zeit viele widerstreitende Forderungen erfüllen. Die Menschen können in diesem Sinne höchst intelligent sein, ohne dass ihr Mitgefühl weit reicht. Es ist weder irrational noch unintelli­ gent, die Grenze der eigenen moralischen Gemeinschaft so zu ziehen, dass sie mit einer Grenze des Volks, der Rasse oder des Geschlechts zusammenfällt. Es ist jedoch unerwünscht – in moralischer Hinsicht unerwünscht. Daher ist es am besten, den moralischen Fortschritt im Sinne zunehmender Sensibilität und wachsender Empfänglichkeit für die Bedürfnisse einer immer größeren Vielfalt der Menschen und der Dinge zu begreifen.«

Die radikale Bedeutung von Care erschließt sich meiner Meinung erst, wenn man sie aus dem Kontext einer Bindestrich-Ethik heraus und wie bei Kamlah an den Anfang der Ethik stellt. Eine Ethik fürsorglicher Praxis könnte hier eine Explikation liefern, die Fürsorge in ihrer leiblichen Verankerung erkennt und als Bezogenheit auf den konkre­ ten Anderen mit der engagierten Sorge um die verallgemeinerten Anderen verbindet. Dafür ist indes auf der Basis anthropologischer Erkenntnisse eine möglichst allgemeine Konzeption des guten Lebens

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7. Ethik der Fürsorge

nötig, eine dritte Säule zur Fundierung des Ethos philosophisch Prak­ tizierender.

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8. Minimalkonzeption des guten Lebens

8.1 Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen Mit Martha Nussbaums Minimalkonzeption des guten Lebens, die sie anfänglich in Zusammenarbeit mit Amartya Sen und mittlerweile in eigenen Erweiterungen vorgelegt hat, lässt sich vergegenwärtigen, was es konkret heißen kann, ein gutes Leben zu führen, dem die Kam­ lahʼsche Grundnorm unterlegt ist. Mit einer zweistufigen Konzeption des Menschen hat sich Nussbaum der Herausforderung gestellt, inter­ kulturell zustimmungsfähige Grundparameter menschlichen Existie­ rens herauszuarbeiten, und zwar unter dem Topos: »Die menschliche Lebensform in ihrer Grundstruktur« (Nussbaum 1999, 190). Zum Menschsein gehört demnach Folgendes (vgl. ebd., 190–197): die Sterblichkeit (Menschen haben den Tod vor sich und wissen darum); der menschliche Körper (in ihm sind wir beheimatet; ihm sind die Regungen Hunger und Durst, mithin das Bedürfnis nach Essen und Trinken zu eigen; er bedarf des Schutzes vor Verletzung; in ihm regt sich sexuelles Verlangen; er verfügt über Mobilität); die Fähigkeit, Freude und Schmerz zu empfinden (die Abneigung gegen Schmerz ist dem Menschen gegeben); kognitive Fähigkeiten: Wahrnehmungs-, Vorstellungs-, Denkfähigkeit (Menschen haben Sinneswahrnehmungen, können sich etwas vorstellen, denken, unter­ scheiden und streben nach Wissen); frühkindliche Entwicklung (am Lebensbeginn empfinden Menschen ihre eigene Hilflosigkeit, erfah­ ren extreme Abhängigkeit, Bedürftigkeit und Zuwendung sowie Aus­ geliefertsein an Gefühle); praktische Vernunft (Menschen planen und organisieren ihr Leben); Verbundenheit mit anderen Menschen (Menschen kennen und empfinden Verbundenheit mit und Anteil­ nahme an anderen Menschen); Verbundenheit mit anderen Arten und mit der Natur (Menschen erkennen, dass sie nicht die einzigen Lebewesen auf der Welt sind); Humor und Spiel (wir erkennen Men­ schen als Wesen, die lachen und spielen); Getrenntsein: jede/jeder ist »Eines«, unterscheidbar von jedem Anderen (wir erkennen trotz unserer Verbundenheit mit anderen, dass wir von ihnen getrennt und

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8. Minimalkonzeption des guten Lebens

etwas Eigenes sind); starkes Getrenntsein (jedes Menschenleben hat seine eigene Umgebung, seine Biographie, seine gesonderte Existenz, die mit keinem anderen identisch ist oder verglichen werden kann). Diese erste Stufe der Konzeption des Menschen, wie Nussbaum sie 1999 vorlegte, enthält eine Bewertung auf der Basis einer Unter­ scheidung von Fähigkeiten und Grenzen, woraufhin später weitere Modifizierungen erfolgten. Bedeutsam ist hier, wie Nussbaum darauf aufbauend Schwellenwerte nach zwei Richtungen diskutiert. Sie mar­ kiert eine Schwelle »der Fähigkeit zur Ausübung von Tätigkeiten, unterhalb derer ein Leben so verarmt wäre, dass es überhaupt nicht mehr als ein menschliches Leben gelten könnte«, und eine andere Schwelle, die etwas höher anzusetzen wäre, unterhalb derer »die für den Menschen charakteristischen Tätigkeiten so reduziert ausgeübt werden, dass wir das entsprechende Leben zwar als ein menschliches, nicht aber als ein gutes menschliches Leben bezeichnen würden« (ebd., 197). Um genau diese Schwelle, oberhalb derer man von einem guten Leben sprechen könnte, geht es ihr auf der zweiten Stufe der Konzeption des Menschen mit dem Fähigkeitenansatz (capability approach). Dieser benennt Grundfähigkeiten, die zu einem guten Leben gehören und in jeder Gesellschaft verwirklicht werden sollten. Dabei entwickelt sie ihren Fähigkeitenansatz in Abhebung von der von Sen eher unter ökonomischen Gesichtspunkten entwickelten ursprünglichen Version kontinuierlich weiter und hat ihn mittlerweile im Kontext von Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit ergänzt (vgl. Nussbaum 2010). Als zentrale Fähigkeiten nennt Nuss­ baum im Jahr 2010 als Stichworte: Leben; körperliche Gesundheit; körperliche Integrität; Sinne, Vorstellungskraft und Denken; Gefühle; Praktische Vernunft; Zugehörigkeit; andere Spezies; Spiel; Kontrolle über die eigene Umwelt (vgl. ebd., 112–114). Mit diesem Fähigkeitenansatz, der darauf verzichtet, tatsächliche Handlungsweisen in den Blick zu nehmen, formuliert Nussbaum eine reichhaltige, wenngleich vage und in jedem Fall minimale Konzeption des Guten, die aber doch so substanziell ist, dass sie Elemente eines guten Lebens konkretisiert. Für die Lebenskunst und die Philosophi­ sche Praxis wurde in Kapitel 1.9 bereits die »Praktische Vernunft« als Eigenschaft des Menschen herangezogen, aus der Nussbaum mehrere Grundfähigkeiten ableitet. In späteren Fassungen führt sie diese immer weiter in den politischen Bereich hinein. Im Jahr 1999 formuliert Nussbaum (1999, 201) zur Fähigkeit 10 zunächst so: »Die Fähigkeit, sein eigenes Leben und nicht das eines anderen

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8.1 Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen

zu leben. Das bedeutet, gewisse Garantien zu haben, dass keine Eingriffe in besonders persönlichkeitsbestimmende Entscheidungen wie Heiraten, Gebären, sexuelle Präferenzen, Sprachen und Arbeit stattfinden.« Die spätere Version lautet bei Nussbaum (2010, 114) unter dem Stichwort »Kontrolle über die eigene Umwelt« wie folgt: »A. Politisch: Die Fähigkeit, wirksam an den politischen Entscheidun­ gen teilzunehmen, die das eigene Leben betreffen; ein Recht auf politische Partizipation, auf Schutz der freien Rede und auf politische Vereinigung zu haben. B. Inhaltlich: Die Fähigkeit, Eigentum (an Land und an beweglichen Gütern) zu besitzen und Eigentumsrechte auf der gleichen Grundlage wie andere zu haben; das Recht zu haben, eine Beschäftigung auf der gleichen Grundlage wie andere zu suchen; vor ungerechtfertigter Durchsuchung und Festnahme geschützt zu sein. Die Fähigkeit, als Mensch zu arbeiten, die praktische Vernunft am Arbeitsplatz ausüben zu können und in sinnvolle Beziehungen der wechselseitigen Anerkennung mit anderen Arbeitern treten zu kön­ nen.«

Im Vergleich der beiden Versionen wird eine Zuspitzung hin zur aktiven politischen Teilhabe deutlich. Unter anderem aus dieser Explikation von Fähigkeiten aus der Konstitution bzw. Eigenschaft »Praktische Vernunft« geht hervor, dass Nussbaum ihren Ansatz nicht nur als Basis einer lokalen Entwicklungspolitik, sondern als Grundlage einer globalen Ethik versteht. Das »Vorhandensein der menschlichen Fähigkeiten« begründet nach Nussbaum (1999, 205) »den moralischen Anspruch auf Entfaltung«. Dieser richtet sich »an andere Menschen« und »insbesondere, wie Aristoteles es sah, an die Regierung« (ebd., 206) sowie in der heutigen Zeit an entsprechende transnationale Institutionen. Die menschlichen Fähigkeiten sind in Nussbaums Konzeption nicht untereinander priorisierbar, sie müssen im Verbund ermöglicht werden. Wenn die »Praktische Vernunft«, wie Nussbaum (ebd., 194) geltend macht, »auf komplexe Art und Weise mit den emotionalen, imaginativen und intellektuellen Fähigkeiten verbunden« ist, so muss sie durch die Verwirklichung aller anderen Fähigkeiten gewährleistet werden und auf diese zurückwirken. Damit ist nun ein Bildungsauftrag verbunden, der nicht nur die elementare Schul- und Berufsbildung betrifft, sondern auch eine durch lebenslan­ ges Lernen charakterisierte Persönlichkeitsbildung, wie sie z.B. zu den Aufgaben der Philosophischen Praxis gehört.

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8. Minimalkonzeption des guten Lebens

8.2 Bildung und politische Mündigkeit In Paragraph 26.2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wird von der Bildung gefordert, dass sie »auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein« muss. Vor allem der erste Teil der Formulierung lässt sich gut auf Nussbaums Fähigkeitenansatz beziehen: Es geht darum, dass Bildungsprozesse sich nicht nur auf bestimmte Aspekte der Persönlichkeit beziehen, etwa nur spezielle rationale Fähigkeiten. Nussbaum ist eine Philoso­ phin, die gerade die emotionale Bildung als bedeutsam für die Ent­ faltung der moralischen Subjektivität ausweist. In Deutschland wird ein solcher Ansatz besonders von Heidemarie Bennent-Vahle vertre­ ten (vgl. Bennent-Vahle 2013, 2020). Wichtig ist also die volle Ent­ faltung der Persönlichkeit, die, um mit Nussbaum zu sprechen, zum guten Leben, zumindest in minimaler Grundform, befähigen kann, und dazu gehört auch die Fähigkeit, das politische Leben selbst so mitzugestalten, dass dieser Standard nicht nur erreicht und stabili­ siert, sondern auch angehoben wird. Darauf bezieht sich u.a. der zweite Teil der Formulierung aus § 26.2 der Menschenrechtserklä­ rung, der von der Bildung eine Befähigung zur politischen Mündigkeit fordert, und zwar auf der Ebene einer moralischen Haltung der Ach­ tung »vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten«. Ein solcher Bildungsauftrag ist nun wirklich keine Kleinigkeit und seine Reali­ sierung scheint – weltweit gesehen – in ferne Zukunft gerückt, wenn man bedenkt, dass trotz vielfacher Bemühungen in einigen Erdregio­ nen eine Alphabetisierung der Bevölkerung immer noch nicht erreicht oder wieder rückläufig ist. Gleichwohl ist es bemerkenswert, dass dieser Auftrag 1948 in dieser Weise formuliert wurde. Er ist bis in die heutige Zeit aktuell geblieben, ja aktueller denn je. Die Bildungs­ agenda der Vereinten Nationen hat ihn jedenfalls nicht aus dem Blick verloren. Mit Nussbaum erhält die innere Haltung in der Bildungsarbeit eine moralische Qualität, wenn sie sich auf den Menschen als ein Wesen richtet, das fähig ist, ein gutes Leben zu führen, zumindest den Wert eines guten Lebens anzuerkennen. Was aber, wenn andere Menschen und die von Nussbaum immer wieder mit ihrer Verant­ wortung konfrontierten Regierungen den Menschen nicht als ein Wesen begreifen, das fähig ist zu lachen, zu spielen, kreativ zu sein oder sich an erholsamen Tätigkeiten zu erfreuen? Was, wenn

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8.2 Bildung und politische Mündigkeit

sie den Menschen als ein Wesen betrachten, das der Wirtschaft dienlich sein und Profit abwerfen soll, damit es im Produktionsprozess ein Garant für Wirtschaftswachstum bleibt? Dann wird man mehr und mehr darauf verzichten, Bildungsformen anzubieten, die den Reichtum menschlicher Fähigkeiten entwickeln. Man wird für die Wirtschaft ausbilden, statt den Menschen zu bilden und die »volle Entfaltung« seiner Persönlichkeit zu fördern. In der Folge davon werden bestimmte Denkweisen wie Zweckrationalität und Profitori­ entierung in den Vordergrund treten und bestimmte Fähigkeiten, wie z.B. diejenige zu einem respektvollen Zusammenleben, verkümmern. Bezeichnenderweise ist diese Entwicklung aktuell sogar in der sogenannten ersten Welt in vollem Gange: Geistes- und kulturwis­ senschaftliche, musische und künstlerische Fächer werden auf allen Stufen des Bildungswesens zusammengestrichen; Naturwissenschaf­ ten, Technologie- und Wirtschaftswissenschaften werden dagegen protegiert und bezuschusst. Im Bereich der öffentlichen Mittel werden die Ausgaben für Kultureinrichtungen wie Theater, Musik, Literatur, gemeinnützige Vereine etc. radikal gekürzt. So wird die weltweite Wirtschaftskrise von einer lautlosen, der Bildungskrise begleitet, die nach Nussbaum gravierender und dramatischer ist als die Krise der Ökonomie. Ihre Streitschrift Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht (2012) ist ein leidenschaftliches Pamphlet gegen die zunehmende Ökonomisierung der Bildung und ruft zum Wider­ stand gegen ein Bildungssystem auf, das nur noch an Nützlichkeit und Marktförmigkeit orientiert ist. Für Nussbaum braucht Demokra­ tie mündige, offene, neugierige, nachdenkliche und phantasievolle Menschen. Kunst, Musik, Literatur, Philosophie sowie geistes- und kulturwissenschaftliche Bildung sind von großer Bedeutung für ein demokratisches Bewusstsein und damit für die moralische Integrität von Individuen, weil in ihnen sowohl die Begegnungs- als auch Kritikfähigkeit mobilisiert werden. Es geht um die Kultivierung von Gefühlen und Kognitionen, um innere Haltungen zur Welt, zu sich selbst, zu anderen. Wirtschaftswachstum funktioniert auch in Län­ dern, die Menschenrechte missachten und undemokratisch geführt werden. Den Markt interessiert die politische, religiöse oder morali­ sche Orientierung einzelner Menschen und Staaten nicht, es zählen nur Kaufkraft und Kapitalmacht. Nussbaum (2012, 38) schreibt: »Pädagogen, die nur Wirtschaftswachstum im Blick haben, ignorie­ ren die Kunst nicht nur, sondern fürchten sie. Denn gut entwickelte Empathie ist ein besonders gefährlicher Feind der Stumpfheit, und

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8. Minimalkonzeption des guten Lebens

moralische Stumpfheit ist notwendig, um ökonomische Entwicklungs­ prozesse zu organisieren, die sich um Ungleichheiten nicht scheren. Es ist leichter, Menschen als manipulierbare Objekte zu behandeln, wenn man nie gelernt hat, sie anders zu sehen.«

Um sie anders zu sehen, muss man gelernt haben, was es bedeutet, Mensch zu sein und ein gutes Leben zu führen. Um sie anders zu sehen, muss man gelernt haben, Perspektiven zu wechseln, sich in andere einzufühlen, Kritik zu üben und auszuhalten etc. Diese Fähigkeiten werden durch den Reichtum der Darstellungsformen in Kunst, Literatur, Musik und etwa auch durch die unterschiedlichen Disziplinen und Positionen der Philosophie gefördert. Wenn Men­ schen in ihrer Fähigkeit gestärkt werden sollen, moralische Wesen zu werden und zu bleiben, dann gehört zur Bildungsarbeit nicht nur das Expertenwissen für den Beruf, sondern ein Berufsethos, das an einer Vorstellung vom guten Leben orientiert ist. Nussbaum bezieht sich in ihrer Streitschrift auf große reformatorische Persönlichkeiten wie Sokrates oder auch Rabindranath Tagore, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner »Lebensschule« großen Wert auf Tanz, Spiel, Musik, Kreativität, Literatur und Theater legte. Für das wirtschaftliche Fortkommen des Einzelnen und des Landes scheinen solche Bildungs­ inhalte wenig lukrativ zu sein, für das demokratische Leben sind sie aber unabdingbar, weil sie die Menschen als fühlende und selbst­ ständig denkende Subjekte anerkennen. Es sind nicht die Kompeten­ zen der Wirtschaftsakteure, die eine lebendige Demokratie und ein respektvolles Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft ermöglichen. Letztlich aber – und das ist Nussbaums Pointe – wird eine moralisch integere Gesellschaft auch für eine vernünftige Wirt­ schaftsordnung und ein gesundes Wirtschaftswachstum sorgen. Die Wirtschaft wird also langfristig sogar von der humanistischen Bildung profitieren, um es einmal utilitaristisch zu fassen. Das wiederum hätte auch positive Effekte auf die weltwirtschaftliche Rahmenordnung, die derzeit vom kalten Finanzmarkt-Kapitalismus dominiert wird. In jeder Bildungsarbeit, so auch in der Philosophischen Praxis, ist bedeutsam, dass sich die Bildungsakteure nicht darauf reduzieren, Wirtschaftsakteure zu sein. Vielmehr sollten sie sich selbst und den anderen Menschen mit einer Haltung begegnen, die tatsächlich die volle Entfaltung der Persönlichkeit zum Ziel hat. Nussbaum stellt ihre Streitschrift explizit in den Kontext der Bemühung um Erhalt und Förderung der Demokratie. In den aktuellen Entwicklungen im Bildungswesen sieht sie sogar eine Gefahr für die politische Mündig­

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8.2 Bildung und politische Mündigkeit

keit. Hier kommt auch der Philosophischen Praxis eine besondere Bedeutung zu. Mit Blick auf die Bestimmung des Menschen als zôon politikón ist sie grundsätzlich auf politische Mündigkeit bezogen und verstand sich immer als auf das Politische einwirkende Instanz des Diskurses, der Orientierung und der Auslotung von Handlungsspiel­ räumen (vgl. u.a. Polednitschek 2013). Auch wenn in ihrer jüngeren Geschichte nur von wenigen Initiativen unmittelbar in den politischen Raum gesprochen werden kann, ist im Hinblick auf das Verstehen von Werten, die Persönlichkeitsbildung und Bewusstseinsschulung etc. die Bildungsarbeit in der Diskurs- und Begegnungspflege von großer Bedeutung. So stiftet die Philosophische Praxis einen sozialen Mikrokosmos gemeinschaftlicher Selbstermächtigung mit politischer Strahlkraft, wie sich mit der Geschichte der europäischen Salons verdeutlichen lässt. Für diese philosophischen und ähnlich gearteten kulturellen Bildungsinitiativen, aber auch für die politische Bildung in Kinder­ gärten und Schulen ist nun bedeutsam, dass Nussbaum einige Kern­ kompetenzen beschreibt, wenn es um die Frage geht, mit welchen Fähigkeiten Bürger*innen ausgestattet sein sollen, um in einer »bür­ gernahen Demokratie« ihre Chancen auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück zu verwirklichen. Angelehnt an das von Nuss­ baum mitentwickelte Human Development-Modell ist hier von sieben Kernfähigkeiten auszugehen. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus verschiedenen Kompetenzen, die sich sowohl auf die Ausbildung und Anwendung des Verstehens (qua Vernunft und Gefühl) beziehen als auch auf Haltungen, die sich im Zuge von Bildungs- und Selbst­ kultivierungsprozessen inkorporieren und im Miteinander dauerhaft zum Tragen kommen. So geht es im ersten Punkt darum, politische Fragen, das Land betreffend, gut durchdenken, prüfen, reflektierten, erörtern und dis­ kutieren zu können, »ohne sich einer Tradition oder einer Autorität zu unterwerfen«. Der zweite Punkt bezieht sich einerseits darauf, in den Mitbürger*innen »gleichberechtigte Menschen« zu sehen, auch wenn sie sich von einem selbst unterscheiden, und andererseits darauf, sie »respektvoll als Handlungszweck und nicht als Werkzeuge zu betrachten, die man für den eigenen Profit manipulieren kann«. Drittens sollen Menschen befähigt sein, »sich um das Leben anderer Menschen zu sorgen« und zu sehen, welche Auswirkungen unter­ schiedliche politische Ansätze für die Chancen und Erfahrungen Anderer haben können. Die vierte Fähigkeit hängt eng mit der von

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8. Minimalkonzeption des guten Lebens

Nussbaum vorgetragenen Konzeption des Menschen zusammen, es geht bei ihr also darum, sich Vorstellungen machen zu können von der Komplexität und Entwicklung menschlicher Existenz und Verständnis für die »Vielfalt von Lebensmodellen« aufzubringen. Die fünfte Fähigkeit hat in bedeutsamer Weise zu tun mit der grund­ sätzlichen kritischen Kompetenz des Menschen, hier bezogen auf die Beurteilung der politisch Verantwortlichen, und zwar »auf der Basis einer fundierten und realistischen Einschätzung der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten«. Die sechste Fähigkeit setzt an der Selbstdistanzierungsmöglichkeit des Menschen an, nämlich darüber nachdenken zu können, »was gut für das ganze Land und nicht nur für die eigene Gruppe ist«. Siebtens, noch etwas weitergeführt, sollen Menschen befähigt werden, auch das eigene Land als »Teil einer komplizierten Weltordnung zu sehen, in der viele Fragen für ihre Lösung intelligenter transnationaler Beratungen und Gespräche bedürfen«. (Nussbaum 2012, 40f.) Dieser Katalog der Fähigkeiten könnte, vielleicht sogar mit eige­ nen Ergänzungen, für die Philosophische Praxis in allen ihren Wir­ kungsformen leitend sein und komplettiert die auf das gute Leben hin orientierten Kompetenzen. So wäre die Philosophische Praxis ihrem Sinn und ihrer Aufgabe gemäß als politische Institution in der Gesell­ schaft zu sehen, die Verantwortung für die Förderung und den Erhalt dieser Kernkompetenzen trägt. Der damit verbundene Anspruch ist hoch, aber das Anliegen, die Menschen zu politischer Mündigkeit zu befähigen, ist so essenziell, dass philosophisch Praktizierende nicht nur für eine Reform der Bildung eintreten, sondern selbst in diesem Feld aktiv sein sollten. Unabhängig von staatlich geförderten Bildungseinrichtungen können sie die für den Auftrag so bedeutsame Selbstständigkeit und Kreativität für die Entwicklung neuer Vermitt­ lungsformen bewahren. Hier ist insbesondere das Philosophieren mit Heranwachsenden eine wertvolle und notwendige Arbeit.

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9. Moralische Existenz und moralischer Diskurs

Mit Beauvoirs Moral der Ambiguität richtete sich der Einstieg in Aspekte einer Fundierung des Ethos auf die Abgründigkeit menschli­ cher Existenz und ihre Aufgespanntheit zwischen Selbstmächtigkeit und leiblicher Eingelassenheit. Dabei ging es auch um die Legitima­ tion einer Moral der Eigentlichkeit oder Jemeinigkeit im Horizont der Notwendigkeit allgemeiner Moraltheorien. Bei Beauvoir tauchen nur kursorisch verallgemeinerbare Werte auf, vielmehr richtet sie ihre Moralphilosophie an einem negativen moralischen Code mit Blick auf den Absturz der Transzendenz in Immanenz aus. Sie hat vor allem Situationen im Blick, die den Menschen daran hindern, sich als Sub­ jekt zu setzen. Mit der Ethik der Fürsorge rückte die Bedürftigkeit der Menschen und ihr Aufeinander-Angewiesensein in den Blick sowie zugleich die in der Fürsorge gestiftete Bezogenheit und das aufmerk­ same Beachten des Anderen, die Achtsamkeit für seine Befindlichkeit. Damit wird noch einmal deutlich, dass wir nicht nur über unsere Entwürfe aneinandergebunden sind, indem wir uns wechselseitig unserer Freiheit versichern und möglichst für die Freiheit aller ein­ treten, sondern auch über unsere Vulnerabilität. Daraus erwächst die Aufgabe, füreinander fürsorglich da zu sein. Kamlah formuliert mit der praktischen Grundnorm eine an der Bedürftigkeit verankerte abstrakte Formel. Die Ethics of Care betont die Intersubjektivität in der Praxis Care und nimmt zugleich die Selbstsorge der Fürsorgenden in den Blick. Schließlich wurde mit Nussbaum auf eine Philosophin verwiesen, die in jahrzehntelanger Arbeit eine Minimalkonzeption des guten Lebens ausformuliert hat. Sie orientiert sich an Eigenschaften des Menschen und daraus resultierenden Fähigkeiten. Dabei bleibt sie einerseits so vage und wird andererseits so konkret, dass ihre Liste als eine angemessene Explikation der Kamlahʼschen Grundnorm interkulturell anschluss- und zustimmungsfähig erscheint. Zugleich adressiert Nussbaum über das individuelle Bemühen hinaus die institutionellen und politischen Ebenen in ihrer Verantwortung für die Verwirklichung eines guten Lebens.

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9. Moralische Existenz und moralischer Diskurs

Mit diesen drei Positionen lässt sich eine allgemeine ethische Leitorientierung formulieren, die eigentlich alle Menschen gleicher­ maßen angeht. Für die Ethik Philosophischer Praxis, ja für alle mit Lebens- und Begegnungskunst befassten Tätigkeiten, ist diese Leit­ orientierung aber besonders bedeutsam. Wer immer mit Bildung und Persönlichkeitsentfaltung, politischem und gesellschaftlichem Engagement sowie mit Lebensorientierung und Trost professionell zu tun hat, ist auch Vorbild oder sollte es zumindest sein. Selbst wenn man Philosoph*innen nicht, wie in Platons Staat angedacht, durchweg in politische Ämter berufen oder zu Staatspräsident*innen küren sollte, stellen sie doch eine Art moralisches Gewissen dar und geben sowohl durch ihre Haltung als auch durch die Diversität ihrer Lebensentwürfe Orientierung – zumindest sollte ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft in dieser Weise weiter gestärkt werden. In einem Imperativ könnte man eine allgemeine ethische Leitorientierung mit ausreichend Spielraum für eigene Handlungsoptionen so formulie­ ren: Im Wissen um die Ambiguität der Existenz, um die Angewie­ senheit der Menschen aufeinander und um die mit der menschli­ chen Lebensform verbundenen Fähigkeiten sollten alle Menschen, besonders philosophisch Praktizierende in ihrer eigenen Person, in zwischenmenschlichen Begegnungen, im Umgang mit unserem Lebensraum und in öffentlicher Wirksamkeit wenigstens zur Ver­ wirklichung einer Minimalkonzeption des guten Lebens aktiv bei­ tragen. Damit wird mit Beauvoir, Kamlah und Nussbaum sowie vielen wei­ teren hier nicht herangezogenen Theoretiker*innen erstens deutlich, dass moralische Subjekte grundsätzlich in Verantwortung für das Wohlergehen der Mitmenschen und ihres Lebensraums stehen; es wird zweitens deutlich, dass Lebenskunst und Philosophische Praxis eine starke politische Dimension haben, die mit ethischen Haltun­ gen verbunden ist und von individuellen Fragen der Lebensführung über die Bildungskonzeptionen einer Gesellschaft bis hin zu den Problemen einer globalisierten Welt expliziert werden muss; es wird drittens deutlich, dass es hier nicht nur um Theorie, sondern um eine Praxis, ein aktives Hineinwirken in die Gesellschaft geht. Mit Blick auf die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, den in der allgemeinen Leitorientierung formulierten Anspruch einzulösen, bleibt man zeit­ lebens herausgefordert und gewissermaßen unversöhnt. Man muss

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9. Moralische Existenz und moralischer Diskurs

die eigene Begrenztheit und Fehleranfälligkeit, ja auch das Scheitern mitdenken, wie dies Beauvoir deutlich macht. Aber das sollte uns in unserem aktiven Bemühen nicht verzagen lassen, vielmehr gilt es, diese Ambiguität anzuerkennen und sich dennoch in der Welt zu investieren. Auch darin zeigt sich ein Bemühen, weshalb dem Hauptsatz noch folgender Ergänzungssatz beigefügt werden kann: Dies erfordert Übung und Anstrengung in einem lebenslangen Bemühen um Verstehen und Erkennen, um Kritikfähigkeit und Begegnungsoffenheit, um soziale Verantwortung und politische Teilhabe sowie um die Pflege des Lebens im Bewusstsein kulturty­ pischer Formung und individueller Begrenzungen. Damit rückt auch das Ethos nochmals in den Fokus. In den heuti­ gen philosophischen Debatten rund um Moral, Ethik, Angewandte Ethik, Berufsethik, Ethik-Kommissionen etc. ist wenig vom Ethos die Rede als einer von ethischen Leitorientierungen eingefassten und in Haltungen erprobten Existenzweise, also von jener Ethik als Lebens­ kunst, die in den griechischen, indischen und chinesischen Lehren der Achsenzeit selbstverständlich mit Philosophie identifiziert wurde. Lexikalisch bezeichnet Ethos »ursprünglich den Ort des Wohnens, in einer erweiterten Bedeutung auch die Rolle, den Charakter«; mit Ethos ist in einer anderen Herleitung ebenso »die Gewohnheit, die Sitte« gemeint. Jedoch handelt, wer sich »bestimmte moralische Grundsätze zur Gewohnheit macht«, nicht einfach »fremdbestimmt nach konventionellen Vorgaben, sondern verfestigt die Orientierung an akzeptierten Prinzipien zu Tugenden und bildet damit einen unver­ wechselbaren Charakter aus« (Wils & Hübenthal 2006, 92). Edith Stein (2000, 17) hat Ethos wie folgt umrissen: »Unter Ethos ist dem Wortsinn nach etwas Dauerndes zu verstehen, was die Akte des Menschen regelt; dabei denken wir nicht an ein Gesetz, das von außen oder oben an den Menschen herantritt, sondern an etwas, was in ihm selbst wirksam ist, eine innere Form, eine dauernde Haltung der Seele, das, was die Scholastik einen Habitus nennt. Solche dauernden Seelenhaltungen geben den wechselnden Verhaltungswei­ sen ein bestimmtes einheitliches Gepräge, und durch dieses Gepräge werden sie nach außen hin sichtbar.«

Stein unterscheidet angeborene Habitus, »z.B. die Temperamente, natürliche Grundstimmungen der Seele wie Heiterkeit oder Melan­ cholie«, durch natürliche Anlagen erworbene Habitus und – gemäß der theologischen Ausrichtung ihres Aufsatzes – eingegossene Habi­

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tus, »die göttlichen Tugenden; überhaupt alles, was die Heiligkeit eines Menschen ausmacht« (ebd.). Ferner schreibt Stein, diese Habi­ tus könnten, sofern sie erworben werden, auch wieder verloren gehen, sie »gehören der Seele nicht unwandelbar an, aber sie sind nicht leicht wandelbar«. Diese »allgemeine Idee des Habitus« spezifiziere sich sodann zum Ethos »durch den Gesichtspunkt des Wertes«: »Wenn man von Ethos spricht, so meint man damit einen Habitus oder eine Mehrheit von solchen, die positiven Wert besitzen und gewissen objektiven Forderungen oder Gesetzen genügen.« (Ebd.) In der mora­ lischen Biographie bildet jeder Mensch Habitusformen und in der Regel auch ein umgreifendes Ethos aus. Jenseits einer Terminologie rund um die Seele und eine InnenAußen-Dichotomie lässt sich mit Schmitz auf die leiblichen Bedin­ gungen bei der Herausbildung des Ethos zurückgreifen, vor allem auf die betroffene Selbstgegebenheit und die Autorität der Gefühle. Schmitz behandelt dies als Thema der Gesinnung im Rahmen der Frage nach der Freiheit. »Sitz der moralischen Verantwortung« ist nach Schmitz (2018, 60) »die Gesinnung als die aktive Seite des affektiven Betroffenseins«. Dies werde verständlich, wenn man sich die Struktur des affektiven Betroffenseins »nicht nur passiv« vorstelle. Zwar werde der Mensch von ergreifenden und berührenden Mäch­ ten heimgesucht, aber das genüge nicht, »um ihn empfindlich sich selbst, als den so Betroffenen oder Herausgeforderten, spüren zu lassen«: »Bloße Passivität des Erleidens wäre eine Nachgiebigkeit, durch die niemand zu sich selbst kommt.« So muss der Betroffene »von sich aus etwas einsetzen, auf das, was ihn betrifft, gleichsam zugehen, um sich als er selbst im Betroffensein abzuheben und sich nicht einfach darunter wegzuducken«. Diese aktive Stellungnahme ist in einem elementaren Sinn »unbeliebige Selbstverstrickung«, etwa indem in der Angst eine Abwehrhaltung zum Tragen kommt, beim Menschen ragt sie aber in den Bereich des Regulierbaren hinein, was Scheler (1954, 270) »Funktionalqualität des Fühlens« nennt. Die »aktive Gesinnung« ist also nach Schmitz (2018, 61f.) nicht »eine nachträgliche Reaktion auf das passive affektive Erleben, sondern von vorneherein in dieses verwoben«. Dadurch erlangt das affektive Betroffensein einen »reflexiven Zug«: »Mit dem passiven Betroffensein, in dieses eingewoben, kommt die eigene Aktivität der Gesinnung dem Betroffenen nahe, berührt oder ergreift ihn, weckt seine Subjektivität, lässt ihn sich selbst spüren.« (Ebd., 62) »Erleiden und Tun, Passivität und darauf eingehende Aktivi­

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tät (Gesinnung) stehen sich nicht als zwei sich ergänzende, konverse Beziehungen gegenüber, sondern greifen in unspaltbarem Verhältnis in einander.« (Ebd., 63)

Mit der Reflexivität der Gesinnung im affektiven Betroffensein wird deutlich, wie sich das Ethos in leiblichen Dispositionen einwächst, wie es gleichsam im Leibe wohnt, womit eine Ursprungsbedeutung von Ethos als »Ort des Wohnens« aufgenommen werden kann. Mit Blick auf die Bedingungen für die sittliche Verantwortung im Sinne der Zuschreibbarkeit von Freiheit expliziert Schmitz anhand der Begriffe Macht, Verantwortung, Verantwortungsfreiheit und Wählen bzw. Anderskönnen die »Bedingungen für die Steuerung, denen eine Freiheit genügen muss, wenn sie für sittliche Verantwortung ausreichen soll« (ebd., 63). Hier kann nur in aller Kürze auf die Macht, definiert als Steuerungsfähigkeit, eingegangen werden. Schmitz weist zwischen Fremdsteuerung (Determinismus) und Ungesteuertheit (Indeterminismus) auf die Selbststeuerung hin, für die er konkret die Reflexivität der aktiven Gesinnung im affektiven Betroffensein als eine Art »aktiv-passiven Kreisprozess« anführt, der Selbststeue­ rung und Selbstbestimmung fundieren kann (ebd., 64). Als »aktive Seite des Betroffenseins, als Zugehen und Einlassen auf das, was betroffen macht«, weckt und zündet die Gesinnung erst die Subjek­ tivität, »und damit alle Tatsachen des affektiven Betroffenseins von denen sie selbst, als Tatsache verstanden, eine ist« (ebd., 71). Zwar könne die Gesinnung nicht inhaltlich alle Tatsachen des affektiven Betroffenseins bestimmen, »wohl aber sich selbst, da sie ja für sich zureicht« (ebd.). So ermittelt Schmitz die Gesinnung als Fundament der Verantwortungsfreiheit und kommt zu folgenden Thesen: »Der Mensch ist durch seine Gesinnung für seine Gesinnung sittlich verantwortlich.« (Ebd., 72) »Nicht das, was der Mensch sich vornimmt, sondern das, was er frisch im Augenblick als Gesinnung in sein affektives Betroffensein einsetzt und damit die Art, wie er als affektiv Betroffener jeweils bei der Sache ist, gibt ihm (auch beim Wählen) kausale Macht aus eigener, unabhängiger Initiative.« (Ebd., 73)

Hier wäre, ohne auch nur annährend auf die Schmitzʼsche Morallehre eingehen zu können, noch zu ergänzen, dass Schmitz die verbindliche Geltung rechtlicher, moralischer und auch religiöser Normen der Autorität von Gefühlen zuschreibt und damit auch das Gewissen, eine »Quelle unmittelbarer moralischer Evidenz«, als Regungsherd rehabilitiert (vgl. Schmitz 1995, 334ff.). »Die Autorität des Gewissens

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ist die Autorität von Gefühlen« (ebd., 344), unter diesen besonders Zorn, als Empörung über Unrecht, und Scham, als Lähmung jeglicher Initiative. Zorn und Scham sind nach Schmitz (ebd., 346) Hauptge­ fühle der im »richtenden Gewissen herrschenden Atmosphären«, zu denen noch bestimmte Vorgefühle gehören (Furcht, Trauer, Verstört­ heit, Misstrauen). Sie zensieren das eigene Verhalten, und Schmitz (ebd., 347) betont bei den moralischen Gefühlen den »unbedingten Ernst der Verbindlichkeit und der Autorität für den Betroffenen«. Moralisch handelt aber nicht schon, wie Schmitz sagt (ebd., 348), wer sich von Gewissensgefühlen überrennen lässt, sondern »wer ein Niveau personaler Emanzipation erlangt hat, an dem sich die Autorität eines solchen Gefühls als überlegen bewähren kann«. Mit der »Prüfung des unbedingten Ernstes der Autorität eines Gewissens­ gefühls« treten Verstand, Vernunft und die Besinnung in der Moral auf den Plan. Deswegen, so insistiert Schmitz (ebd.), »ist es eine wichtige moralische Aufgabe, den Gefühlen gegenüber kritisch zu sein und ihre Autorität auf die Probe zu stellen, wie jede andere Autorität«. Bennent-Vahle (2020) hat hierfür u.a. mit Rekurs auf die Besonnenheit eine »Angemessenheitsprüfung« entwickelt und fordert eindringlich die Berücksichtigung der emotionalen Bildung schon bei Kindern und Jugendlichen. Im Hinblick auf die Prüfung des Ernstes der Autorität eines Gefühls meint Schmitz (1995, 348), sie sei kritisch, nicht produktiv: Die Vernunft erlasse kein Sittengesetz, vielmehr stammten die mora­ lischen Impulse aus »der Dynamik des Gefühls, dessen Autorität sich vor der Vernunft als moralische zu bewähren hat«. Für das Ergebnis dieser Bewährung gebe es keine »allgemeingültige Richtlinie und keine Möglichkeit der Vorhersage«. So kommt Schmitz (ebd.) zu dem Schluss: »Was für jemanden moralisch verbindlich ist, hängt von der Zentrie­ rung und der ergreifenden Macht seiner Gewissensgefühle sowie dem Spielraum ab, den ihm sein Niveau personaler Emanzipation gegen die Autorität der Gefühle lässt. … Dieser höchstpersönliche Charakter der Moral betrifft aber nur die Perspektivität, nicht die Adressiertheit moralischer Normen. Es folgt auch nicht im Mindesten daraus, dass jeder nur an sich und nicht auch an die Anderen moralische Ansprüche stellen dürfte.«

Mit diesem reduziert dargestellten theoretischen Überbau lässt sich die Konstituierung des Ethos auch leibphänomenologisch verständ­ licher machen. Für die Philosophische Praxis ist festzuhalten, dass

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die Philosophierenden wie auch alle anderen Berufstätigen, wenn sie ihre Tätigkeit aufnehmen, bereits eine moralische Biographie durch­ laufen haben und idealerweise in einem Ethos ›wohnen‹. Das Ethos wurde und wird weiter lebensgeschichtlich aus vielen gemeinsamen Situationen geformt, kann dabei auch durchaus verformt werden, ist indes stets in die persönliche zuständliche Situation eingewach­ sen, ja man könnte das Ethos selbst als eine persönliche Situation bezeichnen. So ist das Berufsethos letztlich eine Ausformung oder Verdichtung des Ethos im Handlungsbereich des Berufs, genährt und zusätzlich angereichert durch die gemeinsamen Situationen in diesem Feld. Vor diesem Hintergrund kann die Bedeutung einer ethischen Leitorientierung in der Bildung und Selbstbildung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dass Menschen zu Whistleblowern werden, wie beispielsweise der Informatiker Edward Snowden, der im Jahr 2013 die Weltöf­ fentlichkeit über die perfiden Verletzungen der Privatsphäre durch Regierungen und Geheimdienste aufklärte, hängt damit zusammen, dass ihr zum Berufsethos verdichtetes Ethos in Konflikt mit den Üblichkeiten im Arbeitsumfeld gerät. Der unbedingte Ernst der Auto­ rität von Gefühlen ruft bei ihnen das Gewissen als unabweisbaren Regungsherd auf den Plan. Bei Snowden hat sich bei eingehender Prüfung der Ernst der Autorität seiner Gefühle moralisch bewährt, so dass er sogar mit seiner Person öffentlich für sein Gewissen eintrat und damit erhebliche Konsequenzen für sein berufliches und privates Leben auf sich nahm. Für ihn stellte sich eine moralische Frage, mit der es ernst war und mit der sich entscheidet, wie Gernot Böhme (1997, 111) sagen würde, »was für ein Mensch man ist«. Ernst war die Frage auch für die Gesellschaft, was sich an den Reaktionen auf Snowdens Enthüllungen zeigte, denn sie betraf unser Selbstverständnis im Umgang mit Privatheit. Böhme ermittelt hier zwei wichtige Bereiche philosophischer Ethik: moralische Existenz und moralischer Diskurs. Über beides kann man aber, wie er in seiner Ethik im Kontext darlegt, nur konkret vor dem Hintergrund historischer und gesellschaftlicher Bedingun­ gen sprechen. Für die Gegenwart hält Böhme (ebd., 112) fest, dass »in der durchschnittlichen Lebenssituation moralisches Verhalten überflüssig« geworden ist, weil das alltägliche Verhalten »durch Üblichkeiten hinreichend geregelt ist«: »Die Bereiche des öffentlichen Handelns sind zu zweckrationalen Subsystemen ausdifferenziert, so dass die Systemimperative dieser

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Subsysteme bis hinab zu einzelnen Firmen und Behörden zur Hand­ lungsorientierung ausreichen. Das Handeln ist zweckrational auf Sys­ temziele hin organisiert, und der jeweilige Comment verlangt vor allem systemkonformes Verhalten. Was übrigbleibt: der Bereich des Biographischen und der privaten Existenz, wird dem einzelnen weitge­ hend von Experten abgenommen. Die Beziehung zu ihnen, sei es nun Vertrauen oder Abhängigkeit, entlastet von der Notwendigkeit, eine eigene Lebensform zu entwerfen. Und was den anderen Pol angeht, das große Ganze, die Gesellschaft und den Staat: Sie sind durch liberale Prinzipien geprägt und verlangen vom einzelnen kein Engagement. Das Verfolgen von Einzel- und Gruppeninteressen – so unterstellt es das liberale Prinzip – wird in deren Zusammenspiel, notfalls mit ein wenig Steuerung, wohl zum Gemeinwohl resultieren. Moral ist nicht gefragt.«

Und doch »gibt es« (ebd., 112) moralische Fragen und – was die Lage erschwert – ein Misstrauen, dass das Ganze gut und das Gutsein erfolgreich ist. Gerade in einer Situation, in der sich sowohl der Einzelne als auch die Gesellschaft »von moralischen Fragen entlastet haben«, muss »moralische Existenz heute mit Skepsis« anfangen, sich als »ein Abstoßen« und einen Aufbruch verstehen (ebd., 113). Hier greift Böhme auf die griechische Idee der areté zurück, »nach der Gutsein heißt: besser zu sein«. So verlange auch heute eine moralische Existenz, »anders zu sein, besser zu sein als die Vielen, auszubrechen aus dem, was geschieht«. Böhme spitzt es noch weiter zu: »Moralität beginnt mit Widerstand.« (Ebd.) Zur moralischen Existenz wird man durch Kernkompetenzen befähigt: Selbstsein, Handeln-Können und Partizipation. Mit dem Selbstsein beginne der Aufbruch in eine moralische Existenz, es gehe darum, das Übliche zu durchbrechen, wobei dies nicht zwingend faktisch zu verstehen ist. Bedeutend sei vielmehr die »Fähigkeit zur Verbotsüberschreitung« (ebd., 114), das Neinsagen-Können, das Sich-Trauen usw. – das ist nicht selbstverständlich und bedarf »eines harten Trainings und einer tiefgreifenden Sozialisation« (ebd., 114). Dem Negativen komme für die moralische Existenz eine bedeutende Rolle zu. Das Positive sei immer schon im Gange, der Anfang des Selbstseins sei dagegen »ein Nein«, »ein Ausstieg aus dem, was geschieht«. Neinsagen-Können wird damit zur »Grundtugend« oder »Ausgangskompetenz« für eine moralische Existenz (ebd., 117). Eine zweite Kompetenz sei Handeln-Können, und zwar unabhängig von Anmutungen und Zumutungen. Heute seien »bei einem ohnehin gedämpften Triebhaushalt« (ebd., 124), also allgemeiner Coolness,

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weniger die Anmutungen als vielmehr die Zumutungen relevant. Als Grundqualifikation moralischen Verhaltens nennt Böhme hier die Zivilcourage als »Tugend im zivilen Bereich, die eigentlich im kriegerischen Bereich entwickelt wurde, nämlich Mut und Tapferkeit« (ebd., 126), also »Mut im bürgerlichen Leben im Gegensatz zum Mut im Krieg« (ebd. 124), und dieser sei im Frieden häufig schwieriger als Mut im Krieg. Als dritte Kompetenz nennt Böhme Partizipation. Auch hier argumentiert er aus dem Verständnis unserer liberalen Gesellschafts­ verfassung: Es werde unterstellt, dass die Einzelinteressen im Prinzip das Gemeinwohl bewirken, dass jeder Partizipationsrechte habe, sie aber nicht wahrzunehmen brauche und dass die gewählte Lebensform für die Struktur des Ganzen nicht relevant sei. Daraus werde dann gefolgert, dass die gesellschaftlichen Regelungen, für die man im Bedarfsfall durchaus zu argumentieren in der Lage ist, »nichts mit der eigenen moralischen Existenz zu tun haben brauchen« (ebd., 127). Dagegen arbeitet Böhme als »Kernpunkt moralischer Existenz« heraus, »dass man sich mit dieser Dichotomie nicht abfindet« (ebd., 127f.) – das klingt ein wenig nach Beauvoir, die sich mit der Ambi­ guität der Existenz nicht versöhnen will. Ein Leben im Üblichen bedeute, so Böhme, meist, »von den liberalen Rechten großzügig Gebrauch machen, ohne sich um ihren Bestand und ihre Weiterent­ wicklung zu kümmern« (ebd., 128). Hier sei der Urtext zum Thema der Selbstsorge in dem Dialog Alkibiades I wegweisend: Selbstsorge, Einübung ins Selbstsein, Seelenpflege etc. wird zusammen gesehen mit der Entwicklung des Zöglings »zum Politiker, zum Polites, also dem öffentlich wirksamen Bürger« (ebd., 128). Während Selbstsein und Handeln-Können zuvor als formale Möglichkeiten respektive negative Kompetenzen genannt wurden, wird mit der Partizipation moralische Existenz inhaltlich gefüllt. Es geht darum, »die Partizipa­ tionsrechte ernst zu nehmen, d.h. die Möglichkeiten eines politischen Engagements als solche zu verstehen, in denen sich auch entschei­ det, was für ein Mensch man ist« (ebd., 129). Es handelt sich um das »Politischwerden des eigenen Lebensentwurfs« (ebd., 130) und zudem darum, die moralische Existenz nicht nur auf die eigene Person zu beschränken, sondern den moralischen Konsens mit anderen zu suchen, also auch in Gruppen politisch zu gestalten. Auf der Grundlage von Selbstsein, Handeln-Können und Parti­ zipation fasst Böhme das Streben nach Verwirklichung des Guten in die Formel vom Gut-Menschsein. Dies habe nichts mit dem

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Gutmenschentum zu tun oder damit, ein guter Mensch zu sein. Vielmehr verwendet Böhme das ›gut‹ adverbial: »es ist kein Attribut des Menschen, sondern bezeichnet eine Qualität des Menschseins« (ebd., 132); es bezeichnet keine Eigenschaften, sondern den Vollzug des Menschseins. Dieser bedeutet in der moralischen Existenz heute, »sich auf das Menschsein einzulassen und nichts zu verleugnen von dem, was dazugehört« (ebd.). Selbstsein und Handeln-Können sind als formale Voraussetzungen einer moralischen Existenz zu verstehen, zumal im gegenwärtigen zivilisatorischen Zustand, in dem uns »das Menschsein immer schon abgenommen ist« (ebd., 133). Nein sagen zu können und sich nicht mit dem Gegebenen abzufinden, gehört unabdingbar zum Gut-Menschsein. Heute jedoch richte sich diese Fähigkeit, so Böhme, »weniger gegen die Natur als gegen die zweite Natur«, also eigentlich gegen das, was uns durch die Lebensformen daran hindert, uns auf das Menschsein in seiner Komplexität einzulassen. Dies bedeutet keineswegs, die Ideale der Autonomie und des Handelns zu verleugnen, aber sich mit deren ›Kosten‹ oder ›Nebenwirkungen‹ auseinanderzusetzen und sich für das Andere der Vernunft zu öffnen (vgl. Böhme & Böhme 1987). »Die durchschnittliche Existenz in der technischen Zivilisation steht unter dem Ideal der Sicherheit, erzeugt die Illusion einer Abschaffung von Krankheit, verleugnet den Tod, entfremdet vom eigenen Leib und entwertet die leibliche Anwesenheit. Da gut Mensch zu sein sich von den Rahmenbedingungen der jeweiligen historischen Situation … her definiert, geht es heute im Gut-Menschsein primär um das Pathische, darum, sich etwas widerfahren lassen zu können, sich einzulassen auf das Gegebene, und es geht um die Integration der Natur, die wir selbst sind, in unser praktisches Selbstverständnis.« (Böhme 1997, 135)

Daraus hat Böhme später eine Ethik leiblicher Existenz (2008) ent­ wickelt, die ein neues Verständnis vom souveränen Menschen vor­ stellt, der das Pathische in sein Leben zu integrieren vermag. Böhmes Spätwerk bleibt auf das Gut-Menschsein fokussiert und insistiert auf die Notwendigkeit der Übung, der Praxis, des Vollzugs. In seiner Ethik im Kontext setzte er mit der Partizipation schon einen inhaltli­ chen praktischen Akzent; im Gut-Menschsein erhält die moralische Existenz ihre eigentliche Bestimmung. Als zentrale Bereiche der Praxis führt Böhme das Natursein, das Teilsein, das Sicheinlassen auf Anmutungen und Zumutungen sowie zuletzt das Leben der Menschenwürde bzw. die Bereitschaft zur Biographie an (vgl. Böhme 1997, 135–150).

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Für die moralische Existenz bringt Böhme zuletzt noch die Bezie­ hung von Spiel und Ernst ein. Mit dem Spiel als anthropologische Kategorie, wie sie etwa durch Schiller als Lebensform des eigentlichen Menschen oder von Johan Huizinga als Ausgang der Kultur näher bestimmt wurde, rückt auch der Ernst als ethische Kategorie in den Blick. Während der Mensch in spielerischer Existenz kreativ, freischwebend, indifferent, handlungsentlastet sein kann, wird es in der Ethik ernst und steht er plötzlich selbst auf dem Spiel: Er ist involviert, es geht nicht um irgendeine, sondern um seine Sache. Moralische Fragen ergeben sich also nach Böhme erstens dadurch, dass es für mich ernst wird und sich in ihnen entscheidet, »wie ich Mensch bin« – sie werden »durch den praktischen Entwurf einer Lebensform beantwortet«, und zweitens dadurch, dass es für die Gesellschaft ernst wird und sich mit ihnen entscheidet, »in welcher Gesellschaft wir leben« – sie werden »durch die Diskurse beantwortet, in denen es um Konventionen zur Regelung des gesellschaftlichen Lebens geht« (ebd., 155f.). Böhme bindet also, gewissermaßen mit Kierkegaard, die moralische Frage an den existenziellen Begriff des Ernstes: »Moralische Fragen sind solche, mit denen es ernst ist, weil es existentielle Fragen sind.« (Ebd., 158) Eine letzte Pointe der Beziehung Ernst – Spiel ergibt sich nun daraus, dass solche moralischen Fragen tatsächlich selten sind. Hier ist eine Rückbindung des Ernstes an das Spiel angezeigt. Zu erkennen, dass es »mit dem gewöhnlichen Leben nicht ernst ist, ist paradoxerweise der Anfang der Moralität« (ebd., 160). Viele Menschen nehmen sich sehr wichtig, sie agieren so, als sei gerade dieses gewöhnliche Leben ernst, als bestehe Moralität schon darin, den Üblichkeiten zu folgen; »sie nähren ihr Selbstbewusstsein von der Illusion, sie seien unvertretbar, und sie glauben sich selbst zu verwirklichen, wo sie nur Moden und Trends folgen«. Demgegenüber sagt Böhme (ebd.): »Das Leben als Spiel zu durchschauen und sich an ihm auch als Spieler, zwar kompetent, aber doch gelassen, zu beteiligen bringt einen überhaupt erst in die Lage, in der es dann auch einmal ernst werden kann.«

In solchen seltenen Lagen wird das gewöhnliche Leben durchbrochen und ist der Mensch existenziell herausgefordert. Im Entwurf einer moralischen Existenz bedarf es folglich einer »Aufmerksamkeit, eines Gespürs für die entscheidenden Situationen, und einer Bereitschaft, auch entschieden zu sein, wenn die Situation da ist – also nicht

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ewig sich zu bedenken und Entscheidungen zu vertagen« (ebd., 162). Das macht Böhme am biblischen Beispiel vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25–37) deutlich, der sich im Unterschied zu den professionell Guten (Priester, Levite) in seinem Tun durch die Hilfsbedürftigkeit des Überfallenen moralisch anmuten lässt, obwohl er ein Fremder ist. Entgegen dem zuweilen etwas hochtrabenden Gerede von der philosophischen als einer moralischen oder irgendwie ›geheiligten‹ Lebensform richtet sich Böhmes Gegenüberstellung von Spiel und Ernst darauf, zu erkennen, dass Ernst seine Bestimmtheit erst im Unterschied zum Spiel erhält: »Ernst charakterisiert die moralische Existenz, gerade weil sie nicht das gesamte Leben umfasst. Die Auffassung vom Leben als Spiel und die implizite Distanz, die darin liegt, bleiben eine Voraussetzung moralischer Existenz. Nur wer das gewöhnliche Leben als Spiel kennt und auch spielen kann, wird gelegentlich und im entscheidenden Moment Situationen ernst nehmen.« (Böhme 1997, 167)

Eine moralische Existenz wird von Böhme im Grunde für alle Mitglie­ der der Gesellschaft als notwendig erachtet, vor allem, wenn es darum geht, neben den Rechten auch die Pflichten der Staatsbürgerin ernst zu nehmen. Hier steht der Staat in der Pflicht, zur Heranbildung politischer Mündigkeit beizutragen, gerade heute, in einer Zeit der Abflachung unserer Kritik- und Diskursfähigkeit sowie unserer Lie­ bes- und Begegnungsfähigkeit. In säkularen Gesellschaften sind zwar immer auch noch die Religionen bedeutsame Instanzen der Moral, doch welche Disziplin ist zur ethischen Orientierung mehr prädesti­ niert als die Philosophie? Wenn es um die zweite Säule einer Ethik im Kontext geht, der moralischen Argumentation als Kernbereich der Aushandlungen über gesellschaftliche Konventionen, so wird man darin ohne weiteres eine wichtige Aufgabe der Philosophie in der Öffentlichkeit sehen. Dieser kommt sie heute auch in gewissem Umfang nach. Doch wie sieht es mit moralischer Existenz aus? Selbst für Philosoph*innen wird man sie heute nicht mehr selbstverständlich voraussetzen – Philosophie lässt sich gut und gerne als intellektuelles Spiel betreiben, ohne von ihr existenziell betroffen und zum ethischen Handeln aufgefordert zu sein. Für philosophisch Praktizierende stellt sich die Lage jedoch anders dar. Als Professionelle in solidarischer Partizipation sind sie existenziell investiert und mit den moralischen Dimensionen des Lebens umfänglich konfrontiert. Sie haben es mit ernsten Fragen auf der Ebene des Individuums (moralische Existenz), hier des konkreten Gegenübers in der philosophischen Sprechstunde,

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und auf der Ebene der Gesellschaft (moralischer Diskurs), hier durch ihre öffentlichen Veranstaltungen, unmittelbar zu tun. Diese profes­ sionelle Tätigkeit mag viele spielerische Elemente integrieren, sie ist kreativ, ergebnisoffen und auch Humor spielt eine wichtige Rolle, in Anerkennung der betroffenen Selbstgegebenheit ist sie aber zugleich eine ernste verantwortungsvolle Aufgabe. Insofern Philosophische Praxis moralische Existenz und moralischer Diskurs ist, bedarf sie einer berufsethischen Orientierung mit ausreichend Spielraum für die individuelle Gestaltung.

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TEIL IV: BERUFSETHISCHE PERSPEKTIVEN

Der Beruf des Philosophischen Praktikers bzw. der Philosophischen Praktikerin, der nicht einmal ein halbes Jahrhundert Bestand hat, braucht unabhängig von individuellen Konzeptionen und vom Ethos des Einzelnen weitere Rahmungen, wenn man mehr von ihm erwar­ ten möchte als ethisch und existenziell entkernte intellektuelle Gedankenprojekte, um es einmal zugespitzt zu formulieren. Was man von ihm erwarten kann, ist, wie in den Leitdefinitionen des ersten Kapitels dargelegt, nichts weniger als philosophisch fundierte solidarische Partizipation, eine mitfühlende und reflektierende Teil­ nahme an der Situation der Besucher*innen. Im Erkenntnis- und Inspirationsraum der Philosophischen Praxis geschieht bestenfalls eines: existenzielles Verstehen in mitmenschlicher Verbundenheit. Dies tiefergehend nachzubuchstabieren, auch im Hinblick auf eine ›Begegnungsfolgenabschätzung‹, diente das zweite Kapitel mit seiner leibphänomenologischen Erkundung der Interaktionen und Interpas­ sionen in den Situationen der Philosophischen Praxis. Die solidari­ sche Partizipation als primum movens einer ethischen Anthropologie erfordert philosophische Einsichten in die Abgründigkeit menschli­ cher Existenz, in die ethische Bedeutung der Begegnung und in das, was ein gutes Leben sein könnte. Dies wurde im dritten Kapi­ tel gezeigt. Für die Gegenwart und Zukunft der immer noch etwas fragilen und wenig geschützten Philosophischen Praxis sind berufsethische Leitorientierungen dringlich erforderlich. Es geht dabei auch um die systematische Ausformulierung einer Art Richtlinie mit Präambel, Definitionen, allgemeinen Grundlagen und besonderen Prinzipien der Berufsausübung. In dieser Weise berufsethische Perspektiven zu entwickeln, bedeutet in mancher Hinsicht Engführung und Reduk­

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tion. In diesem vierten Kapitel bereiten die historische Einführung und allgemeine Überlegungen zur Berufsethik in der Philosophischen Praxis eine Auseinandersetzung mit Beispielen ethischer Richtlinien von zwei Berufsverbänden vor. Im Anschluss daran folgt mein Vor­ schlag für eine ethische Leitorientierung. Ich möchte aber betonen, dass sich in solchen Konkretisierungen nur sekundär niederschlägt, was als Ethos in die Wirksamkeit philosophisch Praktizierender ein­ geht. Philosophische Praxis ist eng mit moralischer Existenz und moralischem Diskurs verbunden. Was für ein Mensch man ist und in welcher Gesellschaft man leben möchte – diese Fragen sind es, die philosophisch Praktizierende anders als akademisch Intellektuelle existenziell involvieren und mit eigenen Haltungen herausfordern. Das ist jedem Praktiker, jeder Praktikerin individuell aufgegeben. Eine berufsethische Leitorientierung kann immer nur Allgemeines vor­ bringen.

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10. Historisches zur Berufsethik

Allgemein ist Ethik im Kontext von Arbeit und Beruf immer dann herausgefordert, wenn das durch die berufliche Aktivität Hervorge­ brachte in seinem Wert angezweifelt werden kann, wenn die berufs­ tätigen Menschen ihrer Humanität entraten oder wenn von ihren Handlungen gar Gefahren für die Mit-, Um- und Nachwelt ausgehen. Dabei können allgemeine ethische Grundsätze zum Tragen kommen und historisch nahmen viele Überlegungen in einem Ethos ihren Ausgang, das sich als Haltung auf das ganze Leben bezog. Die Notwendigkeit zur Konkretisierung ethischer Grundsätze für bestimmte Tätigkeiten hat aber nicht erst die Philosophierenden von heute beschäftigt. Schon die Ma’at-Lehre im alten Ägypten ori­ entiert berufliche Rollen in der Staatsführung an der Gerechtigkeit (vgl. Assmann 2020). Im antiken China formulierte z.B. Konfuzius eine Herrscher- und Beamten-Ethik und trat den Neigungen der ›Staatsdiener‹ zu Selbstsucht und Korruption mit einer Tugendlehre entgegen. Ähnliche Leitgedanken finden sich auch in den Schriften des Daoismus. Der Eid des Hippokrates, der erste schriftlich überlieferte Berufseid, betraf die Ärzte. Bemerkenswert ist hier nicht nur die Forderung, ohne Honorar zu arbeiten, sondern auch die konkrete Abgrenzung des ärztlichen Tuns und Heilauftrags gegenüber jenen Tätigkeiten, die den Körper verletzen oder das Leben gefährden. Genannt werden hier ausdrücklich chirurgische Eingriffe, etwa durch die damals tätigen Steinschneider, aber ebenso Abtreibung und Ster­ behilfe. Auch bei Platon finden sich berufsethische Reflexionen. So behandelt insbesondere der Dialog Politeia die Eigenschaften der Herrschenden und das durch einen gemeinsamen Auftrag zusam­ menhängende Gefüge der Werktätigen. Anhand der Ausführungen Platons zur Berufstätigkeit lassen sich die damals gängigen Berufe mit Blick auf ihre charakteristischen Merkmale in sieben Gruppen systematisieren (vgl. Waack-Erdmann 2006): die Versorgung des menschlichen Körpers, also Ärzte, Köche bzw. Nahrungszubereitung, Landwirtschaft und Bewässerung, Jäger, Fischer, Hirten; die Behand­

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lung der Seele, d.h. Erziehung und Unterricht in Gymnastik und Sport, Musik, Lesen und Schreiben sowie Mathematik; die Handwerker, die für den Schutz des Körpers durch Bekleidung und Baumaßnahmen, Schiffbau, Herstellung von Gerätschaften etc. zuständig sind; Handel und Verkehr als Gruppe von Werktätigen, die mit den Eigentümlich­ keiten des Warenaustauschs und der Seefahrt bzw. des Wagenver­ kehrs zu tun haben; die staatsleitenden Berufe, also Herrscher, Redner, Richter, Wächter, Krieger, Priester; die im Sektor Vergnügen und Spiel Tätigen; schließlich, am Ende der Berufsskala, die Philosophen, für die Platon im Philosophencurriculum der Politeia 15 Jahre praktischer Tätigkeit in öffentlichen Ämtern als notwendig für die Berufsaus­ übung vorsah (vgl. Platon 1990, Bd. 4, 540a). Platons Überlegungen richten sich darauf, dass in der Werktätig­ keit dreierlei zusammenkommt: naturgegebenes Talent, Theorie und erfahrungsgeleitete Ausführung. Zur téchne, also zur Befähigung, etwas hervorzubringen, gehört »die Aufgabe, mit Hilfe von Kopf und Hand mit einer gegebenen Situation fertig zu werden« und mit Sachverstand »die begrenzten (natürlichen) Gegebenheiten optimal auszunutzen« (Waack-Erdmann 2006, 261). Dabei fordert Platon zur Entfaltung der téchne neben der empirischen Lehre eine theoretische Schulung, zu der auch Sport, Musik, Sprache und Mathematik gehört. Die Träger der téchne haben stets eine Verantwortung für das Ganze: Sie müssen gegebenenfalls unabhängig und selbständig entscheiden, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen überblicken und sollten so mit ihrer téchne als einer dauernd vorhandenen Kompetenz verwach­ sen sein (vgl. ebd.). Mit dieser Haltung geht bei Platon für das Produkt der Arbeit einher, dass es von höchstmöglicher Qualität ist und an »jener höchsten Wahrheit selbst«, also dem Guten, orientiert ist, wie er im Politikos schreibt (Platon 1990, Bd. 6, 300e). So würden die Erzeugnisse der Arbeit schon in ihrer Art und Auswahl regulierend wirken. Diese idealtypische Sichtweise wird um eine weitere Pointe ergänzt: Mit ihrer Arbeit tragen alle Menschen zum Gelingen der Polis bei, sie sind somit Professionelle im ›öffentlichen Dienst‹. Daher wählt Platon für die Berufstätigen vorwiegend den Begriff demiurgós, von gr. démios für »öffentlich« und érgon für »Arbeit«. Darin liegt eine Aufwertung aller im Staat vollzogenen Werktätigkeit, insbesondere auch der Arbeit im Handwerk, in den unteren Gesellschaftsschichten und in abhängigen Beschäftigungen; ja selbst den Sklaven wird ein sinnvoller Beitrag zur Polis zugesprochen, ohne freilich ihren Status als inhuman zu disqualifizieren. Eine solche über den Bezug zur Polis

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herausgearbeitete Sinnstiftung dürfte den antiken Sklaven kaltgelas­ sen haben. In nachplatonischer Zeit nahm das christliche Ethos zunehmend Raum ein und bestimmte ein breites Spektrum von Vorschriften für Laien, Ordinierte und Geistliche bis hin zu den hohen politischen Ämtern. Es regulierte die Berufstätigkeit in den verschiedenen Rollen in den Kirchen, Glaubensgemeinschaften und angegliederten Insti­ tutionen. Luther säkularisierte dann die religiöse Vorstellung von Berufung und als man von der vocatio auch bei weltlichen Tätigkeiten zu sprechen begann, bildete sich der Begriff Beruf heraus, wie wir ihn heute kennen. Namentlich in Gestalt des Arbeitsethos Calvins nahm das Christentum später auch in erheblicher Weise Einfluss auf die Haltungen in der weltlichen Berufstätigkeit und die Herausbildung des Kapitalismus. Die Verstädterung hatte im europäischen Mittelalter bereits in säkularer Hinsicht zur Herausbildung der Zünfte geführt, die als kor­ porative Verbände der Handwerker und Kleinhändler Arbeit, Lebens­ welt, Sitte und Gemeinschaft vereinten. In der Zunftbruderschaft und der Zunftstube wurde ein das ganze Leben durchdringendes Ethos kultiviert, das allen Mitgliedern eine kollektive Ehre sicherte, die in der Ehre der Zunft, der kunstgerechten Arbeit, einem reichen rituellen Brauchtum, der Solidarität der Mitglieder, aber auch in einer rigiden Ausgrenzung Anderer zum Ausdruck kam. In den Zünften wurde die Berufstätigkeit häufig kleinteilig reguliert, von der Ausbildung über die Preisgestaltung bis zur Reichweite des Betriebs und des damit verbundenen Kundenkreises. Die Zünfte sind aufgrund der komplexen Organisation, Ausbildung und Sicherung von Berufstäti­ gen historisch hoch bedeutsam. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußert sich Edith Stein (2000, 17) zum Berufsethos in Analogie zum Ethos, wenn sie es als die »dau­ ernde Seelenhaltung oder die Gesamtheit von Habitus« bezeichnet, die im Berufsleben »als von innen her formendes Prinzip hervortre­ ten«. Zu Recht weist Stein darauf hin, dass man aber von einem genui­ nen Berufsethos nur dann sprechen kann, »wenn das Berufsleben tatsächlich ein bestimmtes, einheitliches Gepräge zeigt«, und zwar eines, das ihm nicht nur von außen zukommt, durch Vorschriften, Gesetze usw., sondern »das sichtlich von innen her kommt«, also beispielsweise Pflichttreue oder Gewissenhaftigkeit. Sodann werde es wesentlich mitbestimmt durch die »Einstellung, die man zum Beruf selbst hat« (ebd.). Die Berufstätigkeit wird anders verrichtet, wenn sie

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bloß Erwerbsquelle oder Zeitvertreib, anders wenn sie Lebensaufgabe ist. Strenggenommen, so Stein, könne man eigentlich nur von einem Berufsethos sprechen, wenn sich eine Person zu ihrem Beruf berufen fühle, noch dazu entspreche jedem Beruf ein eigenes Berufsethos. Es könne »von Natur aus im Menschen liegen« oder »durch den häufigen Vollzug« allmählich »in ihm erwachsen« und dann von innen her sein Verhalten bestimmen, ohne dass es noch »einer äußeren Regelung bedarf« (ebd., 18). Als Stein vom Berufsethos als »dauernde[r] Seelenhaltung« und »von innen her formende[n] Prinzip« spricht, hat sie noch eine Arbeitswelt vor sich, in der in der Regel ein Beruf gelernt und ein Leben lang ausgeübt wird. Heute sind berufliche Flexibilität und Mobilität, befristete Tätigkeit, Zeitarbeit und Nebenjobs normal geworden und Berufsbiographien haben häufig Brüche. Die Arbeitsund Berufswelt hat sich grundlegend geändert, nicht zuletzt durch die Digitalisierung. Schon Stein hatte ja davon gesprochen, dass ein Berufsethos nicht für alle Berufe gleichermaßen bedeutend ist, sondern eigentlich jenen vorbehalten ist, die durch Berufung geprägt werden und mit dem persönlichen Leben tief verbunden sind. Das wird man für sehr viele Tätigkeiten nicht behaupten können, die Philosophin und der Philosophische Praktiker gehören aber sicher dazu. Und gerade das damit einhergehende Ethos befähigt dann auch die Mitglieder dieser ›Zunft‹, sowohl unsichere Berufsperspektiven, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und vorübergehende Erwerbslo­ sigkeit hinzunehmen als auch mit großem Elan ehrenamtlich zu arbei­ ten. Berufsethik war historisch für Ärzte immer relevant, jedoch musste nach den menschenverachtenden Experimenten in den Lagern und Forschungslaboren des nationalsozialistischen Deutschlands und anderer totalitärer Regime erheblich nachreguliert werden. Auch die lange als neutral angesehene Wissenschaft ist heute gesetzlich und berufsethisch teils strikt eingefasst, z.B. im Hinblick auf bestimmte Forschungen, und muss immer wieder die Frage beantworten oder sich gefallen lassen, ob sie alles das tun soll, was sie tun kann. Das betrifft besonders den medizintechnologischen Fortschritt und daran geknüpfte ethisch relevante Entscheidungen. Das professionelle Handeln von Ärzt*innen und ebenso Jurist*innen ist überdies durch entsprechende Kammern und eine verpflichtende Mitgliedschaft in ihnen reguliert. Bei Verfehlungen können Berufsverbote erlassen werden. Auch die im öffentlichen Dienst tätigen Personen müssen

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vom Gesetzgeber festgelegte Auflagen erfüllen, Selbstverpflichtun­ gen bezüglich der Grundordnung eingehen, und ihnen obliegt je nach Verantwortungsbereich die Erfüllung eines Katalogs eng definierter Vorschriften, etwa im Bereich der Vorteilsnahme oder Bestechlichkeit. Selbstständig Tätige in Berufen, die eng mit dem Wohlergehen von Menschen zusammenhängen, verständigen sich häufig in Berufsver­ bänden über ethisch relevante Themen der Berufsausübung. So haben etwa Psycholog*innen eigene Kodizes verabschiedet und für spezi­ elle Therapieformen, z.B. Psychoanalyse oder Körperpsychotherapie, weitere Regelungen getroffen. Auch im Feld des Coaching wurden Leitlinien entwickelt. Religiös Seelsorgende unterliegen den berufs­ ethischen Anforderungen ihrer jeweiligen Kirchen. Berufsethik spielt schon länger ebenso in technischen Berufen eine Rolle. Die Gründung der Vorläuferorganisation des Vereins Deut­ scher Ingenieure im Jahr 1856 erfolgte aufgrund der Erkenntnis einer Gefahrenlage beim Dampfkesselbetrieb und der Notwendigkeit einer Regulierung und Grenzwertbestimmung für den Druckeinlass. Der VDI hat dann schon im Jahr 1950 ein Bekenntnis des Ingenieurs auf­ gelegt: Mit Pathos wird gefordert, dass der Ingenieur seinen Beruf ausübe »in Ehrfurcht vor den Werten jenseits von Wissen und Erken­ nen und in Demut vor der Allmacht, die über dem Erdendasein wal­ tet«. Er solle »seine Berufsarbeit in den Dienst der Menschheit stel­ len« und im Beruf »die gleichen Grundsätze der Ehrenhaftigkeit, Gerechtigkeit und Unparteilichkeit« wahren, die »für alle Menschen Gesetz sind«. Es wird von ihm ferner erwartet, dass er sich nicht jenen beuge, »die das Recht eines Menschen geringachten und das Wesen der Technik missbrauchen«. (Lenk & Ropohl 1993, 314) Die 1974 in Haifa verabschiedete Karmel-Deklaration über Technik und moralische Verantwortung fordert u.a. »Wächterdisziplinen« zur Beurteilung von Technologien (vgl. ebd., 315ff.). Die VDI-Richtlinie 3780 stellte erst­ mals 1991 einen Kanon zu Werten im technischen Handeln auf: Funktionsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit, Wohlstand, Sicherheit, Gesundheit, Umweltqualität, Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität (vgl. ebd., S. 334ff.). Auch in der Informatik hat man sich früh mit der machtvollen Wirksamkeit der Algorithmen befasst und Berufsorganisationen wie die Association for Computing Machi­ nery oder die Gesellschaft für Informatik haben Kodizes bzw. Leitlinien für ihre Mitglieder erlassen. Das Wiener Manifest für Digitalen Huma­ nismus von 2018 ist die jüngste Erklärung, die an alle Akteur*innen in diesem weit verzweigten Berufsfeld adressiert ist.

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Solche ethischen Leitlinien beschreiben die Grundlagen der Berufsausübung als Hilfestellung und Orientierung. Sie dienen dem Schutz der den Beruf Ausübenden und der von ihm Betroffenen sowie der Wahrung von deren Rechten. Sie klären die Öffentlichkeit, Fachwelt und Politik über ethisch angemessenes Handeln auf. Sie stellen einen Rahmen zur Lösung ethischer Fragen in der Berufs­ ausübung dar und verpflichten die Berufsangehörigen, z.B. durch Mitgliedschaft in einem Berufsverband, auf die Einhaltung dieser ethischen Richtlinien in allen Situationen ihrer Berufsausübung. Sie liefern Maßstäbe, anhand deren die Tätigkeit öffentlich überprüfbar wird, und ermöglichen Maßnahmen bei Nichteinhaltung. Außerdem bilden sie eine Grundlage für Entscheidungen und Umgangsformen bei Beschwerden. Grundsätzlich sind Ethikkodizes aber im Verhältnis zu Rechtsnormen und Gesetzen nachrangig, haben also keinen sank­ tionierbaren Charakter. Auch wenn man sie qua Selbstverpflichtung an die Mitgliedschaft in einem Verein oder Berufsverband bindet, gibt es nur wenige Handhaben, um Verstöße zu ahnden, z.B. den Ausschluss aus dem Verein oder das Publikmachen der Verfehlun­ gen. In diesem Sinn mag die Verbindlichkeit ethischer Leitlinien schwach erscheinen, ihr Sinn liegt aber gar nicht darin, wie Gesetze installiert zu werden, sondern orientierend zu wirken. Daher wird häufig darüber diskutiert, welcher Oberbegriff dafür geeignet ist, ob man sie z.B. Kodex/Kodizes, Regelwerk, Deklaration oder anders nennt und ob der Adressatenkreis z.B. mit Imperativen/Geboten oder eher sanfteren Formulierungen angesprochen werden sollte. Ethische Leitlinien folgen in der Regel einem bestimmten Aufbau: Die Präambel oder Einführung führt meist ethische Haltungen an, auf die man sich als Mitglied einer Berufsgruppe allgemein bezieht. Dies können internationale Regelwerke wie die Menschen­ rechte oder globale Standards der Unternehmensführung sein. Eine solche Rahmung bindet den eigenen ethischen Standpunkt an his­ torisch relevante Diskurse und bereits entwickelte Normen. Nie­ mand erwartet eine Eigenleistung im Hinblick auf Grundwerte, wohl aber eine Spezifizierung für die besondere Tätigkeit. Definitionen und inhaltliche Bestimmungen dienen zur näheren Beschreibung des Berufs und des Selbstverständnisses der Berufsausübung, etwa mit Bezug auf Leitbilder oder Rahmendefinitionen von Berufsverbänden, die fortlaufend weiterentwickelt werden. Dabei wird in der Regel deutlich, warum die Tätigkeit eine ethische Unterlegung braucht. Im nächsten Schritt folgen meist Grundsätze, Haltungen, Vorschriften

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und Verpflichtungen, auf die man sich verbindlich geeinigt hat. Das geschieht anhand von Kernstichworten, gegebenenfalls mit Spezifi­ zierung für bestimmte Tätigkeitsbereiche oder Personen respektive Verantwortungsgruppen. In Schlussbestimmungen folgt u.U. eine Zusammenfassung oder die Hervorhebung eines wichtigen Leitsatzes für das berufliche Handeln. An dieser Stelle wird gegebenenfalls dargelegt, wie man bei Verstößen gegen die Leitlinien verfährt, wenn es sich um eine Selbstverpflichtung im Rahmen einer Vereinsmit­ gliedschaft handelt. Ein Glossar kann Begriffe noch ausführlicher definieren. Das Datum der Verabschiedung zeigt den aktuellen Stand bzw. Status der Leitlinien an.

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Philosophie lässt sich betreiben, ohne philosophische Sprechstunden, Salons oder Reisen anzubieten, ohne Arbeit für das Gemeinwohl oder in gemeinnützigen Vereinen, auch ohne sich politisch einzumischen. Engagiert und investiert man sich aber in solchen Aktivitäten, ist damit ein erweitertes Interesse verbunden, womöglich durch eine Aufmerksamkeit für jene mitmenschlichen und öffentlichen Belange, die tief in der menschlichen Existenz verankert sind. Bei philosophisch Praktizierenden kann man im Sinne des Berufsethos bei Edith Stein davon ausgehen, dass sie sich zu ihrem Beruf berufen fühlen und ihn häufig sogar neben einer als Erwerbsquelle dienenden Arbeit in universitären, pädagogischen oder sogar philosophie-fremden Kon­ texten ausüben. Ihnen ist die Philosophie nicht nur eine intellektu­ elle, theoretische und wissenschaftliche Angelegenheit, sondern ein bestimmtes Streben, nennen wir es einmal Streben nach Weisheit, aber auch ein Anliegen bezogen auf die Mitmenschen und die Gesell­ schaft. Stein spricht allgemein und eher abstrakt vom Wert, der in einer Berufung und in einem Berufsethos zum Tragen kommt und der sich im Vollzug der Tätigkeit sowohl weiter formt als auch festigt. So ›wohnt‹ der Philosophische Praktiker in einem Ethos und antwortet auf einen ›Ruf‹ im Sinne der Berufung, nimmt also einen Auftrag an. Er setzt sich seinen Mitmenschen und der Gesellschaft aus, um mit ihnen und in ihr auf fruchtbare Weise wirksam zu sein, etwa im Hinblick auf die Verwirklichung eines guten Lebens. Seine Arbeit ist von seiner ethischen Bezogenheit zur Welt nicht zu trennen, in dieser Involviertheit prägt sich das Berufsethos aus. Die Berufstätigkeit in einer Philosophischen Praxis gestattet eine breite Interpretation und ist in der Öffentlichkeit immer noch eher vage präsent. Worin sie konkret besteht, kommt meist erst im Selbstverständnis des einzelnen Praktikers zum Ausdruck. So geben Praktiker*innen auf ihren Flyern oder Internetseiten Hinweise zu ihrer Tätigkeit oder zu ihren Haltungen, z.B. in einer Geschäftsord­ nung. Verbindliche Regeln und Standards des beruflichen Handelns gibt es nicht. Jedoch gelten allgemein die gesetzlichen Vorschriften für

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freie Berufe, Selbstständige und Kleinunternehmen, wozu die Steu­ ergesetze und der Datenschutz gehören. Für die Berufstätigkeit der Philosophischen Praktikerin gibt es also von außen einige Vorgaben, die unter Androhung von Sanktionen einzuhalten sind; es gibt auch Sitten und Gewohnheiten, also Konventionen und Üblichkeiten, die gleichsam von außen das Geschehen in der Philosophischen Praxis einfassen. Dennoch bleibt die Praktikerin durch ihr in einem individu­ ellen Berufsethos verdichtetes Ethos erst einmal durch ihr Gewissen moralisch geleitet – wie übrigens auch alle anderen Berufstätigen in moralisch relevanten Berufen, vor allem wenn es um Grenzlagen geht. So wird sie die Gesetze achten, sich in die Gepflogenheiten des Berufsfelds einleben, sie gegebenenfalls jedoch kritisch prüfen und etwas anders machen. In dieser Perspektive auf das Individuum als Instanz ethischer Fragen liegt nun aber auch eine gewisse Beliebigkeit und, was schlimmer ist, eine Anfälligkeit für Selbstbezogenheit und andere egomane Verfehlungen. Es ist durchaus bemerkenswert, dass das Führen einer Philoso­ phischen Praxis mehr oder weniger frei aufgenommen und gestaltet werden kann, und zwar dies, obwohl doch gerade die philosophische Lebensberatung als die intensivste Begegnungsform dieses Berufs ein ernst zu nehmendes und mit Erwartungen verbundenes Unterfangen ist. Ist es nicht fragwürdig oder sogar gefährlich, dass Philosophische Praxis ein ungeschützter Begriff ist und sich im Grunde jeder dazu selbst ermächtigen kann? Ist das nicht ein idealer Nährboden für Scharlatane, selbsternannte Heilerinnen oder experimentierfreudige Laien? Es ist noch nicht einmal irgendwo festgelegt, dass man dafür beispielsweise ein Philosophiestudium abgeschlossen haben muss. Aber selbst mit dem Graduierungszertifikat einer Universität kann man höchst relevante Fragen nach der persönlichen Kompetenz stel­ len: Was kann ich als Philosophin eigentlich? Befähigt mich ein akademisches Studium zu dieser praktischen Tätigkeit? Was ist nötig, damit die Arbeit in der Philosophischen Praxis eine gute Arbeit wird? Welche Ausbildung sollte noch dazu gehören? Welche Fortbildung? Welche Maßnahmen zur Abfederung der Wirkungen, die meine Arbeit auf mich und Andere hat? Mit solchen Fragen sind seit langem die Vereine, Gesellschaf­ ten und Berufsverbände der Philosophischen Praxis befasst. Ihre Überlegungen zum Berufsbild und zu Leitlinien der Berufsausübung sind für die fortschreitende Professionalisierung des Berufs ein wich­ tiger Schritt. Sie geben Orientierung innerhalb und außerhalb des

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Berufsfelds, stärken die Gemeinschaft der Berufstätigen und binden die Arbeit in einen verbindlichen und erwartbaren Rahmen ein, der gleichwohl Spielräume lässt, die je individuell gefüllt werden können und sollten. Ein in Leitlinien objektiviertes Berufsethos wirkt in der Gesellschaft vertrauensbildend und kann zu einem wichti­ gen Bestandteil des Berufsbildes werden. Für die Philosophischen Praktiker*innen selbst ist hier wesentlich, dass sie gemeinsam im beruflichen Handeln Stand gewinnen und den unbedingten Ernst der Autorität moralischer Gefühle in gemeinschaftlicher Verständigung ausloten. Dies erfordert indes eine konzertierte Arbeit und umfang­ reiche Aushandlungen, etwa auch im Hinblick auf die Wahl der Begriffe. Es liegen inhaltliche, ja ethische Entscheidungen zugrunde, wenn man als Berufsbezeichnung allgemein ›Philosoph‹ oder spe­ zifischer ›Philosophischer Praktiker‹ wählt, wenn man die Tätig­ keit ›Beratung‹, ›Begleitung‹, ›Denkraum‹‚ ›Philosophische Begeg­ nung‹‚ ›Philosophische Lebenshilfe‹ etc. nennt oder wenn man die in die Praxis kommenden Menschen als Ratsuchende, Klientinnen, Kun­ den, Gäste, Patienten oder Besucherinnen bezeichnet. Welches Hono­ rar angemessen ist, hat für alle Beteiligten ebenfalls ethische Aspekte. Es ist unerlässlich, hier zähe Prozesse der Verständigung zu durchlau­ fen und dabei sowohl die individuellen Positionen zu schärfen als auch die Gemeinsamkeiten herauszufiltern, um einen anschluss- und zustimmungsfähigen Minimalstandard zu entwickeln. Ethikkodizes, ethische Leitlinien oder Orientierungen zum Berufsethos im engeren Sinn wurden für die Philosophische Praxis bisher nur vereinzelt konkret entwickelt. Im Jahr 2016 ist immerhin ein erster Sammelband mit dem Titel Ethik und philosophische Praxis erschienen, in dem die Herausgeberin Patrizia Cipolletta (2016, 180) hervorhebt, dass die »Aufgabe dieses neuen Berufsbildes vor allem ethisch ist«. Jedoch wird eine solche Ethik in nur sehr geringem Umfang durchdekliniert, besonders was die Ausformulierung einer berufsethischen Leitlinie angeht. Im Hinblick auf Berufsstandards und die Objektivierbarkeit einer Berufskompetenz kann man sehr wohl unterschiedliche Standpunkte vertreten: Man kann schätzen, dass man sich in diesem Berufsfeld relativ frei und kreativ entwickeln kann, und fürchten, dass es in Zukunft einer zu starken Reglementie­ rung ausgesetzt sein könnte. Jedoch ist die Klärung berufsethischer Fragen innerhalb der Grenzen dieser beiden Positionen dennoch dringlich, auch um das Berufsbild in der Öffentlichkeit eindeutig zu etablieren und durch ethische Rahmung zu schützen.

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11. Zur Berufsethik Philosophischer Praxis

So ist es sehr erfreulich, dass es seit vielen Jahren und inzwischen nicht nur im deutschsprachigen Raum Lehr- bzw. Bildungsgänge für Philosophische Praxis sowie Fort- und Weiterbildungen gibt. In ihnen werden Qualitätsstandards etabliert und Praktiker*innen zertifiziert, wodurch eine Verbindlichkeit mit der Berufsausübung nach innen und außen einhergeht. Bei der Aufnahme in die mehrjährigen Ausbildun­ gen ist ein philosophisches oder verwandtes kulturwissenschaftliches Studium häufig eine wichtige Voraussetzung. Eine berufsethische Orientierung ist meist optional und bleibt daher eher unverbindlich, sie findet aber durchaus schon Eingang in den Zertifizierungsprozess. Auch die Berufsorganisationen, wie in Deutschland der Berufsverband für Philosophische Praxis, tragen zur Qualitätssicherung bei, indem sie die Mitgliedschaft an bestimmte Voraussetzungen koppeln, hier z.B. an ein Studium der Philosophie oder verwandter Fächer, den Abschluss eines Lehr- oder Bildungsgangs zur Philosophischen Praxis bzw. einer vergleichbaren Schulung und an die Selbstverpflichtung auf das vom Verband erlassene Berufsethos. Mit der Mitgliedschaft in diesem Berufsverband wird also eine Berufskompetenz verbun­ den und sichtbar gemacht. Die Mitglieder werden mit Praxishilfen, einem Mentor*innenprogramm und weiteren Handreichungen bei der Gründung und Pflege einer Praxis sowie fortlaufend durch Inter­ visionsangebote unterstützt. Dies alles sind wertvolle Entwicklungen zur Qualitätssicherung und weiteren Etablierung der Philosophischen Praxis am Markt und in der Gesellschaft. Gleichwohl ist mit dieser Rahmung, mit der Schär­ fung des Berufsbilds und einigen wenigen Texten zur Berufsethik die Frage nach der Berufskompetenz bzw. dem Ethos des Einzelnen noch nicht vollends geklärt. Bestimmt am Ende – selbst wenn man sich an allgemeinen ethischen Leitlinien orientiert – nicht doch das individuelle Ethos darüber, in welcher Weise die Tätigkeit in einer Philosophischen Praxis ausschlägt? Das ist sicher kein Argument gegen die Entwicklung berufsethischer Leitorientierungen, aber auf jeden Fall für die moralische Existenz der philosophisch Praktizieren­ den, die in diesem Buch im Fokus steht. Idealerweise ›wohnt‹ jeder philosophische Praktiker bereits durch seine moralische und philoso­ phische Biographie in seinem Ethos als einer persönlichen Situation. Sowohl das Berufsbild als auch das Berufsethos müssen also bei aller Notwendigkeit zur groben Orientierung doch ausreichend Spielraum für individuelle Haltung und Gestaltung einräumen.

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So ist z.B. mein Verständnis einer Ethik Philosophischer Pra­ xis zunächst davon getragen, dass ich Philosophin bin. Und dieses Philosophin-Sein richtet sich nicht nur auf meine philosophischen Tätigkeiten, also lehren und forschen, Bücher schreiben und Vorträge halten, in Vorständen von Vereinen arbeiten, Einzelgespräche und Gruppenarbeit in meiner Philosophischen Praxis durchführen usw., dieses Philosophin-Sein ist auf mein Leben als solches gerichtet, und dazu gehören meine verschiedenen Lebensrollen als zweifache Mutter, als Tochter, Schwester, Freundin, Liebende, Geliebte etc. und mein Dasein in seinen alltäglichen oder besonderen Verrichtungen. Irgendwann hat mich der Weckruf der Philosophie »Erkenne Dich selbst!« gepackt und nicht mehr losgelassen. Seither versuche ich zumindest bewusst zu leben und mich von der Philosophie so inspi­ rieren zu lassen, dass sie mir nicht nur Theorie, sondern auch Lebens­ übung ist. Daher rührt meine Begriffsbestimmung von Philosophie und Philosophischer Praxis in den früher genannten Leitdefinitionen. Darin drückt sich ein – freilich mein – Ethos aus und ich fühle mich wohl damit, als Philosophin qua definitionem auf dem Weg zu sein, also nach Weisheit zu streben bzw. die Weisheit zu lieben, und nicht schon weise zu sein. Wenn es unterwegs zum Scheitern kommt – und das ist ja wohl das Gewisseste, was sich über diesen Weg sagen lässt –, nehme ich den Faden des Bemühens wieder auf und finde Motivation in der Verbündung mit Gleichgesinnten. Meine Definition von Philo­ sophie zielt praktisch auf das individuelle und das gemeinschaftliche Leben. Gerade weil mich die anderen Menschen interessieren und mir im besten Fall ermöglichen, auf eine gute Weise Ich zu sein bzw. Ich zu werden, liegen mir die interpersonale Bezogenheit und die solidarisch verbundene Gemeinschaft sehr am Herzen. Diese Haltung zum Mitmenschen, in die ich mich immer wie­ der übend vertiefe, trägt mich als Philosophin. Sie ist aber gerade nicht eins zu eins auf meine professionelle Beziehung zu den Besu­ cher*innen meiner Philosophischen Praxis zu übertragen. Und hier ist der Punkt erreicht, wo es um Metareflexion und Berufsethik gehen muss, die in Grenzsituationen nicht zuletzt Selbstschutz bedeuten kann und muss. In der Philosophischen Praxis begegne ich den Anderen auf einer tiefen Ebene mitmenschlicher Verbundenheit, aber auch noch auf eine besondere Weise. In ihr ist mein Selbstsein anders: Es ist eingebettet in asymmetrische Relationalität mit klarer Rollenverteilung, in der ich mich dem Anderen gegenüber öffne, ihn sprechen lasse, mich von ihm anrühren lasse. In ihr kommt meine

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11. Zur Berufsethik Philosophischer Praxis

Fähigkeit, mich berühren und beeindrucken zu lassen, ebenso zum Tragen wie meine Kreativität im Dialogischen. Sollte dabei meine eigene Lebensform, mein eigener Lebensstandpunkt keine Rolle spie­ len? Cipolletta (2016, 183) fragt danach, was »der philosophische Berater mit der eigenen Weltanschauung, mit dem eigenen Vorurteil« macht, und antwortet: »Er versucht nicht, es auszusprechen, um den eigenen Standpunkt zu stärken und zu erweitern, … Sondern er macht die epoché des eigenen Standpunktes, um sich auf das Zuhören vorzubereiten. Die Philosophische Praxis verwendet keine Techniken, sie hat nur Übun­ gen. … und diese laufenden und beharrlichen Übungen, um sich auf das Zuhören vorzubereiten, sind ein schwer erreichbarer habitus, der eine ununterbrochene Übung benötigt. Eine Übung der Demut, der Einklammerung der eigenen Art, die Dinge zu sehen. Nur auf diese Weise kann man dem anderen helfen, aus den eigenen geschlossenen Mäandern herauszukommen, und ihm bei den Beziehungen mit den anderen helfen.«

Hier beschreibt Cipolletta treffend die Voraussetzungen für die wich­ tige, durch fortlaufende Übung zu stärkende Praxis des Zuhörens und ihr ist darin zuzustimmen, dass es in der Philosophischen Praxis um Resonanz- und Responsivitätsbefähigung geht, bei der man von sich selbst absehen können muss. Ich denke indes, dass es legitim sein kann, einen allgemeinen, u.U. sogar den eigenen moralischen Standpunkt zumindest als Möglichkeit ins Spiel zu bringen bzw. auf dieser Ebene grundsätzlich ansprechbar zu sein. Manche Besu­ cher*innen sind nämlich sehr wohl an der persönlichen Sichtweise des Praktikers, ja sogar an einer Bewertung ihrer Anliegen oder Situationen interessiert. Und man kann sich fragen, und das ist eine phänomenologische Debatte, ob es überhaupt möglich ist, die epoché in der Philosophischen Praxis zu vollziehen und zugleich empathisch mit dem Anderen verbunden zu bleiben. Klassischerweise wird die Seinssetzung ›ausgeklammert‹, also der ontologische Status von etwas, ein legitimer Vorgang in der phänomenologischen Forschung. Sind wir damit nicht bei der therapeutischen Distanz, die in der Psychoanalyse anfangs verlangte, dass der Therapeut geradezu im Off, nicht einmal sichtbar hinter dem Kopf des liegenden Patienten sitzt? Interessiert hier nicht gerade das Sein, also dass der Mensch mit seinem Anliegen aktuell wirklich da ist, in betroffener Selbstgege­ benheit, in moralischen Konflikten, im Ringen um Orientierung, in der Trostbedürftigkeit etc.? In der Philosophischen Praxis reagiere ich

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doch und lasse mich berühren vor dem Hintergrund meines So- und Nicht-anders-Seins. In der Art, wie ich im Dialog bin, Fragen stelle, antworte etc., kommt der eigene Standpunkt interaktiv und interpas­ siv ohnehin zur Geltung, ja ich kann ihn wohl gar nicht abschütteln oder mit einem Willensakt ›ausklammern‹, wenn ich von einem Ethos ausgehe, das bis ins Leibliche hinein verankert ist. Gerade die in der Philosophischen Praxis erreichbare Intensität des intersubjektiven Geschehens, das In-existenzieller-Gemeinschaft-Sein macht berufs­ ethische Überlegungen und Leitlinien des professionellen Handelns so dringlich, aber eben als Rahmung, die in moralischer Existenz zu füllen ist. Es gibt mir viel Anlass zum Nachdenken, wenn ich im Rückblick auf die Einzelsitzungen in meiner Praxis Solidarität. Lebensorientie­ rung und Selbstkultivierung durch Philosophie feststelle, dass weniger meine wissenschaftliche Ausbildung in der Philosophie beansprucht wird als vielmehr mein Dasein als dieser Mensch, diese Philosophin, mit ihrer Biographie, ihren richtigen und falschen Lebensentschei­ dungen, Krisenerfahrungen, ihrem Mitgefühl, ihrer Kreativität, ihrer Offenheit, ihren Begrenzungen und blinden Flecken etc., also mit dem, was ich mitbringe aus meiner persönlichen philosophischen Orientierung im Leben. Ist Philosophische Praxis am Ende doch eine Art therapeutisches Sein, wie dies Christian Hellweg nennt? Jedenfalls habe ich nur in wenigen Fällen eine philosophische Lektüre empfohlen oder einen theoretischen Text eingehender besprochen. Manchmal habe ich das Ringen der Philosoph*innen um Verstehen und eine angemessene Sprache ins Spiel gebracht, zuweilen etwas aus deren Leben oder Sterben berichtet, das eine oder andere Mal aus der Ferne eine Lebenstheorie erörtert oder explizit über Lebenskunst gesprochen. Viel häufiger bin ich schlicht und ergreifend mit dem Orientierungsbedürfnis, ja auch der Not, den Krisen, Umbruchphasen und dem Leiden von Menschen konfrontiert und befinde mich in einer Situation, in der Philosophie als Theorie, wenn ich sie ins Spiel bringen würde, sogar als Affront betrachtet werden könnte, ganz abgesehen davon, dass professionell Philosophierende sich häufig einer nicht jedermann zugänglichen Sprache bedienen. Vielmehr bin ich im Angesicht des Anderen aufgefordert zu partizipieren und im vorsichtigen Dialog herauszufinden, wie dieser konkrete Mensch überhaupt zu mir und wie ich zu ihm sprechen kann, wenn es um die existenziellen Themen seines Lebens geht, die von Yalom (2010) sogenannten »ultimate concerns«: Tod, Freiheit, Isolation und

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11. Zur Berufsethik Philosophischer Praxis

Sinnlosigkeit. Sodann bin ich aufgerufen, aufmerksam die Spielräume für eine mögliche Sprachfähigkeit und Selbstermächtigung meines Gegenübers auszuloten und Freiräume für neue Perspektiven offen zu halten. In dieser Solidarität bin ich als Praktikerin berührbar, aber auch selbst verletzlich, was dann intuitive und methodisch gestützte Prozessbeobachtung, Selbstdistanzierung, Supervision, Intervision, ein Netzwerk unterstützender Expert*innen etc. notwendig macht. Wenn also gerade im Arbeitsfeld der Philosophischen Praxis als ›Beratungskultur‹ der Aufbau und die Pflege einer dialogischen Bezo­ genheit in einem eigens dafür geschaffenen Rahmen im Mittelpunkt steht, dann bedeutet dies für die Ethik Philosophischer Praxis, dass sie in besonderer Weise als Ethik von Set und Setting, von Relationalität und interpersonalen Prozessen, mithin als eine Ethik von Kontakt und Verbundenheit in gemeinsamer Situation für alle daran Beteiligten entfaltet werden sollte. Viele Formate der Philosophischen Praxis sind, wie besprochen, ethisch niederschwellig anzusiedeln. Für den Bereich der philosophisch gestützten mitfühlenden und reflektieren­ den Teilnahme in der Sprechstunde sollte aber in jedem Fall eine berufsethische Rahmung erfolgen. Solche Leitlinien gibt es vielfach für die psychotherapeutische Arbeit, und so könnte die philosophi­ sche Sprechstunde in ethischer Hinsicht mindestens an sogenannten Basics orientiert sein, wie sie etwa von der European Federation of Psychologists‘ Associations, EFPA (2022), in ihrem Ethischen MetaCode dargelegt sind: 1. Achtung vor den Rechten und der Würde des Menschen, 2. Kompetenz, 3. Verantwortung und 4. Integrität. Auch die 9 Grundsätze der European Association for Bodypsychotherapy EABP (2022) erscheinen kompatibel: 1. Verantwortung, 2. Kompe­ tenz, 3. Moralische und gesetzliche Normen, 4. Schweigepflicht, 5. Das Wohl der Klienten, 6. Professionelle Beziehungen, 7. Öffentliche Äußerungen, 8. Bewertungsverfahren, 9. Forschung. Selbst einige Konkretisierungen zu den ethischen und fachlichen Grundhaltun­ gen könnten für die philosophische Sprechstunde passen. Hier ein paar Beispiele aus den Berufsethischen Richtlinien des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGP), zugleich Berufsordnung des BDP (DGP & BDP 2016): »Psychologinnen und Psychologen (1) achten die Würde des Men­ schen und respektieren diese in ihrem Handeln; (2) erkennen das Recht des Einzelnen an, in eigener Verantwortung und nach eigenen Überzeugungen zu leben; (3) handeln mit besonderer Verantwortung

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11. Zur Berufsethik Philosophischer Praxis

gegenüber den Menschen, mit denen sie umgehen; (4) gehen sensi­ bel mit der Bereitschaft von Menschen um, sich anzuvertrauen und klären über mögliche Grenzen der Vertraulichkeit auf; (5) fördern Möglichkeiten der selbstbestimmten Persönlichkeitsentwicklung und tragen zur Gewährleistung fördernder Rahmenbedingungen bei; (6) fördern die Verständigung im sozialen Zusammenleben und den gegenseitigen Respekt; … (8) setzen sich ein für gute natürliche, sozioökonomische und kulturelle Lebensbedingungen von Einzelnen und Gemeinschaften; (9) fördern ein redliches Miteinander und gehen in ihrem Handeln mit gutem Beispiel voran; … (11) bewirken durch Reflexion und durch einen offenen Austausch über Einstellungen, Orientierungen und Menschenbilder Veränderungen bei Einzelnen, Institutionen und in der Gesellschaft; … (14) achten besonders auf die eigenen psychischen und körperlichen Voraussetzungen, die eine kom­ petente Berufsausübung erlauben; … (16) orientieren sich bei neuen beruflichen Ansätzen und Methoden am Grundsatz der wiss. Red­ lichkeit, überprüfen systematisch die Wirkungen ihres Handelns; … (17) sind wachsam gegenüber persönlichen, sozialen, institutionellen, wirtschaftlichen und politischen Einflüssen, die zu einem Missbrauch bzw. zu einer falschen Anwendung der professionellen Kenntnisse und Fähigkeiten führen könnten; (18) sind sich über das Ungleich­ gewicht der Machtverteilung in beruflichen Beziehungen bewusst; (19) zeigen in beruflichen Beziehungen Aufmerksamkeit für mögliche Gefahren des Machtmissbrauchs und vermeiden Handlungen im Sinne eines Machtmissbrauchs.«

Einige der hier dargestellten Themen und Grundhaltungen könnten sogar wörtlich übernommen werden. In meinem Vorschlag einer ethischen Leitorientierung für die Philosophische Praxis habe ich z.B. Überlegungen aus Punkt (4) und (17) aufgegriffen. Andere Punkte müssten gestrichen oder überarbeitet werden, gerade wenn es um die genuin philosophische Arbeit geht. Menschen, die in die Philosophi­ sche Praxis kommen, haben ja häufig Anliegen, die von Psychothera­ peuten, aber auch von Ärzten, Seelsorgern und Priesterinnen oder sozialen Diensten nicht in ihrem Sinn angemessen bearbeitet werden (können). Gleichwohl zeigt sich in den Berufsethischen Richtlinien von BDP und DGP eine deutliche Nähe zu den Haltungen, die auch in der Philosophischen Praxis selbstverständlich sind, etwa bezogen auf das Beziehungsgeschehen. Sogar Aspekte einer Philosophie als Lebens­ form klingen an. Nimmt man noch einen Kodex aus dem Feld des Coaching hinzu, z.B. den »Code of Ethics« der International Coaching Federation (ICF 2021), so stößt man bei den vier ethischen Standards,

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11. Zur Berufsethik Philosophischer Praxis

»Responsability to Clients«, »Responsibility to Practice and Perfor­ mance«, »Responsibility to Professionalism« und »Responsability to Society«, sowie den 28 darin verarbeiteten, eher pragmatisch orientierten Handlungshinweisen ebenfalls auf einige Aspekte, die für die Philosophische Praxis relevant sind, bis hin zu der Haltung: »I adhere to the philosophy of ›doing good‹ versus ›avoiding bad‹«. Nun hat die Philosophische Praxis ein Alleinstellungsmerkmal in ihren anthropologischen Dimensionen, so dass sie mit der Philoso­ phie die Freiheit zur Selbstermächtigung, aber auch zum Lassen-Kön­ nen als Verbündete hat. Wenn sie nicht das Risiko eingehen möchte, sich auf die »Seite des Netzes der diskursiven Regime der therapeu­ tischen Kultur« zu schlagen und sich »im Meer des Counseling und seiner Orthopädien der Konfliktbeilegung zu verirren«, wie Pier Aldo Rovatti (2006, 33) schreibt, dann sollte sie sich gerade dort Gehör verschaffen, wo der Mensch in seinem existenziellen Unbehagen zum Fragen, Überdenken, Experimentieren und zum Verstehen eigener Lebensmöglichkeiten gelangt. So macht Cipolletta (2016, 29) für die Philosophische Praxis geltend, dass sie ein Schutz der Freiheit ist, und zwar dadurch, dass sie »jene Schwermut aufnimmt, die den Menschen immer ergreift, wenn er beginnt zu denken, und indem man ihm ermöglicht, die Probleme des alltäglichen Lebens, die lösbar sind, von jener Unruhe zu unterscheiden, die aus dem dunklen Ort der Freiheit entsteht«. Wodurch erwirkt Philosophische Praxis dies? Cipolletta sagt (ebd., 183): »Indem sie die grundlegenden Fragen offenhält, gestattet sie, sich mit größerem Abstand den lösbaren Fragen zuzuwenden, den zufälligen Problemen, den Leiden und den Schmerzen, die sich im Laufe des eigenen Lebens einstellen. Sie gewöhnt daran, mit den offenen und unlösbaren Problemen zu leben: der philosophische Dialog hilft, die Würde des Mann/Frauseins hochzuhalten.«

Im Folgenden wird nun zur Veranschaulichung kurz diskutiert, wie ein amerikanischer und ein deutscher Berufsverband für Philosophische Praxis diese und weitere besondere Aspekte der Berufstätigkeit in ethische Leitorientierungen eingefasst haben.

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12. Ethischer Kodex der APPA und Berufsethos des BV-PP

Die American Philosophical Practicioners Association wurde in den Jahren 1997–98 in New Jersey, New York und Pennsylvania konzi­ piert, im März 1998 in Washington gegründet und hat heute ihren Sitz in New York. Sie ist damit deutlich jünger als die 1982 in Deutschland gegründete Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis. Der Code of Ethics der APPA (2022) ist verpflichtend für alle Mitglieder und gilt auch als Grundlage »for addressing ethical complaints against member practitioners«. Der Webseite ist nicht zu entnehmen, wann er konzipiert und verabschiedet wurde. Er ist in »Fundamental Canons« und »Standards of Ethical Practice« unterteilt. Die vorangestellte Präambel nennt Grundsätzliches zur Berufsausübung, wobei vor allem Wert darauf gelegt wird, dass Philosophische Praktiker*innen sich in ihren Methoden und theo­ retischen Ausrichtungen unterscheiden können. Genannt werden beispielhaft sechs Tätigkeitsbereiche, die sich allesamt auf kognitive Prozesse beziehen, also »examination of clients‘ arguments and jus­ tifications« (1), »clarification, analysis, and defintion of important terms and concepts« (2), »exposure and examination of underlying assumptions and logical implications« (3), »exposure of conflicts and insconsistencies« (4), »exploration of traditional philosophical theo­ ries and their significance for client issues« (5) sowie »all other related activities that have historically been identified as philosophical« (6). Obwohl diese Beschreibung des Berufs im Kognitiven zentriert ist und das Beziehungsgeschehen mehr oder weniger ausgeblendet wird, folgt noch eine Klarstellung darüber, dass auch in anderen »helping professions« Bezug auf diese Grundlagen genommen wird, dass aber Philosophische Praktiker*innen – offenbar eben auch in Ausübung einer »helping profession« – eigens philosophisch ausgebildet und geschult sind. Das »Helfen«, so legt die Präambel nahe, liegt also in diesen kognitiv-philosophischen Tätigkeiten; worin es dabei genau besteht, wird nicht thematisiert.

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12. Ethischer Kodex der APPA und Berufsethos des BV-PP

Die »Fundamental Canons« (Teil I) bestehen aus sechs Unterar­ tikeln: Es geht für Philosophische Praktiker*innen darum, keinen Schaden anzurichten (1), die Leistungen zum Nutzen der Klienten zu erbringen (2), Klienten in andere Betreuung zu verweisen, falls eine philosophische Arbeit nicht angebracht ist (3), die Würde und Autonomie der Klienten sowie Vertraulichkeit und Anonymität zu wahren (4), die Arbeit mit Seriosität und Integrität durchzuführen und den Berufsstand nicht in Verruf zu bringen (5) sowie, über die Arbeit mit Klienten hinaus »endeavour to serve the greater good of the community and society in which they reside« (6). Damit sind nun, etwa mit Bezug auf die Würde und Autonomie des Klienten deutlich Werte aufgeführt sowie Haltungen, besonders im Hinblick auf die Seriosität und Integrität der Philosophischen Praktikerin. Am Ende ragt mit Punkt 6 heraus, dass der Philosoph über seine konkrete Tätigkeit hinaus auch gesellschaftliche Aufgaben erfüllt und für das Gemeinwohl aktiv wird. Damit scheint die politische Dimension der Philosophie und der Philosophischen Praxis auf. In den »Standards of Ethical Practice« (Teil II) wird dieser Kanon dann mit 25 weiteren, teils sehr kleinteiligen und mit konkreten Hinweisen versehenen Artikeln näher erörtert. Diese Ausarbeitung ist »adapted from the American Society for Philosophy, Counseling and Psychotherapy«, wurde also aus bestehenden Leitlinien für die Philosophische Praxis angepasst. Ein Teil dieser Artikel befasst sich damit, dass der Klient jederzeit freie und autonome Entscheidungen fällt, dass die Arbeit immer philosophisch zu sein hat, dass keine Abhängigkeiten entstehen dürfen, keine überflüssigen Sitzungen anberaumt werden etc. Ein anderer Teil fordert dazu auf, unter Berück­ sichtigung etwa kultureller und geschlechtsspezifischer Aspekte sen­ sibel für »alternative ›world views‹« zu sein, nicht zu diskriminieren, zu nötigen oder zu manipulieren. Ein eigener Artikel (18) thematisiert das Vermeiden sexueller Intimität und jeglicher Doppelrollenbezie­ hungen. Weiter gibt es mehrere Artikel, die dazu auffordern, alle Qualifikationen exakt darzulegen, anderweitige berufliche Netzwerke nicht für die Akquise von Klienten zu nutzen, offen über Honorar und Art der Dienstleistung zu informieren, über die Grenzen der Vertraulichkeit aufzuklären, wenn etwa gesetzliche Vorschriften es erfordern (z.B. Selbstschädigung oder Gefahr für andere) oder – und dies ist ein eigener Artikel (15) – wenn der Klient eine ansteckende tödliche Krankheit hat und damit Dritte gefährdet. Zwei Artikel befas­ sen sich mit dem Datenschutz, ein Artikel mit der Handhabung von

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12. Ethischer Kodex der APPA und Berufsethos des BV-PP

Verstößen bzw. Verfehlungen, die einem Anderen bekannt werden, und ein weiterer Artikel geht auf die Notwendigkeit von Weiterbil­ dung in allen für die Praxis relevanten Themen, auch sozialen Fragen, Gesundheitsrecht etc. ein. Was nun noch einmal ethische Haltungen angeht, so fordert Artikel 21, philosophisch Tätige »should exemplify those moral qual­ ities of character that are associated with being philosophical (for example, being open-minded, honest, rational, consistent, fair, and impartial)«. Dies scheinen allerdings Charaktereigenschaften zu sein, die auch für andere, nicht genuin philosophische Berufe angemessen erscheinen und »being philosophical« in seiner ganzen Breite noch nicht hinreichend qualifizieren. Zuletzt wird noch einmal darauf aufmerksam gemacht, Gesetze auf den verschiedenen Ebenen zu achten und auf deren Veränderung einzuwirken, sofern sie der Berufs­ tätigkeit im Wege stehen. Diese Einschränkung auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Berufsausübung wirkt mit Blick auf die in den »Canons« eingeforderte allgemeine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft etwas reduktionistisch. Sollte es nicht auch um andere Gesetze gehen können, welche im Sinne des »being philosophical« nicht hingenommen werden können? Von dem vorher erwähnten allgemeinen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft und davon, der Gesellschaft zu dienen, in der die Praktiker*innen leben, ist hier nicht weiter die Rede, wohl aber davon, zum »advancement of the private practice of philosophy« beizutragen, indem man das öffentliche Ver­ ständnis und die Wertschätzung Philosophischer Praxis fördert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Ethische Kodex der APPA zu vielen Aspekten der Berufstätigkeit, die nicht über Gesetze geregelt sind, Orientierung gibt und insbesondere in den »Standards« die gebotenen Handlungsspielräume sehr genau und detailreich definiert. Das in dem Kodex aufscheinende Berufsbild ist indes stark an Kognitionen ausgerichtet und erwähnt den besonderen Wert des Beziehungsgeschehens und damit verbundene ethische Fra­ gestellungen nur randständig, z.B. ex negativo bezogen auf sexuelle Intimität. Auch die moralischen Aspekte des »being philosophical« sind eher minimalistisch dargelegt; sie scheinen weder auf die Arbeit mit anderen Menschen und deren Orientierungsanliegen spezifiziert zu sein noch die Philosophie als Lebensform aufzugreifen. Positiv her­ vorzuheben ist hier jedoch zumindest als ein Punkt der »Standards« der Dienst des Philosophischen Praktikers am Wohl der Gemeinschaft und Gesellschaft.

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12. Ethischer Kodex der APPA und Berufsethos des BV-PP

Zieht man nun zum Vergleich das Berufsethos und die Selbstver­ pflichtung der Mitglieder des 2009 aus der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis hervorgegangenen Berufsverbands für Phi­ losophische Praxis (BV-PP 2022) heran, so haben wir es hier mit einem ›work in progress‹ zu tun, dessen Ergebnisse erstmals im Mai 2018 vorgestellt wurden. Diesem Berufsethos ist ein Berufsbild vorangestellt, das analog zur Präambel im Kodex der APPA gelesen werden kann. Hier zeigen sich jedoch große Unterschiede, denn der Beruf wird als »Bildungs- und Beratungsberuf« ausgewiesen. Damit werden die Bildung betreffend der »emanzipatorische und persönlichkeitsentwickelnde Prozess der Aneignung von Kultur und Zivilisation« in den Mittelpunkt gerückt und bezogen auf Beratung »der Prozess des gemeinsamen Abwägens von Gründen« im Unter­ schied zur »asymmetrische[n] Expertenberatung«. Als Gegenstand der Arbeit wird dann sogar – ausgesprochen unbescheiden – die »Gesamtheit der menschlichen Existenz« genannt, und damit einher­ gehend werden »Lebensorientierung«, ein erweiterter »Blick auf die eigene Existenz« und Sinngebung erwähnt. Vollends unterscheidet sich die Auffassung vom Berufsbild der beiden Vereine dadurch, dass der BV-PP die Tätigkeit als »Rahmen für Resonanzerfahrungen« beschreibt, wobei das Resonanzgeschehen als ein »gelingender und fruchtbarer Dialog« oder »andere erlebte Veränderungsmomente« verstanden wird. Weiter ist von »wechselseitiger Transformation« die Rede. Dabei geht ein »Entwicklungsprozess« von der »professionellen Haltung« der Philosophischen Praktiker*innen aus, die z.B. in »wohl­ wollender, empathischer Zuwendung, einem gemeinsamen Fragen und Erforschen, sowie gemeinsamem Nachdenken und Reflektieren liegt«. Die Professionalität der Philosoph*innen beruht insbesondere darauf, den Prozess der Begegnung offen zu halten. Hier wird also der Schwerpunkt der Berufstätigkeit deutlich in der Begegnung angesie­ delt. Orientierendes Prinzip im Ethos der philosophisch Tätigen ist die Achtung der Würde des Menschen sowie die Anerkennung der Individualität und des unschätzbaren Wertes eines jeden Menschen. Dazu wird nun aufgeführt, dass der Philosophierende sein Handeln in der Begegnung verantwortet und die »Selbstverantwortung der anderen Personen« respektiert, dass er »nach bestem Wissen und Gewissen« auf der Basis »kontinuierlicher Supervision, Intervision, Weiterbildung, Selbstreflexion« etc. agiert und dass er fortgesetzt

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12. Ethischer Kodex der APPA und Berufsethos des BV-PP

»um philosophische Lebenspraxis und gesellschaftspolitische Partizi­ pation« als »Standards des Berufs« bemüht ist. Analog zum Kodex der APPA expliziert der BV-PP im Weiteren das Berufsethos bzw. die Selbstverpflichtung für seine Mitglieder, und zwar nach vier Rubriken: Beim »Verständnis von Philosophischer Praxis« (I) ist die »Fähigkeit und Bereitschaft, sich selbst und ande­ ren Menschen Rechenschaft über das eigene Tun und Handeln« zu geben, zentral, ferner das Synphilosophein, also »gemeinsames und gemeinschaftliches Philosophieren im Dialog«, sowie die Sorge um die res publica, also »aktive Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben« als »Grundstruktur eines philosophischen Lebens«. Inhaltlich handelt es sich um »Begleitung der Selbstaufklärung von Menschen in Fragen nach dem guten Leben«, wobei damit einhergehend Pro­ zessualität und Multiperspektivität betont werden. Zum Beziehungs­ geschehen wird verdeutlicht, dass der philosophisch Tätige »seinem Gast gegenüber immer Mensch (Betroffener und Mitmensch) und Philosoph (Außenperspektive und ›Fremder‹)« ist. Damit werden über das Rationalsein als moralische Charaktereigenschaft beim »being philosophical« (APPA) hinaus auch das Betroffensein und die Haltung der Mitmenschlichkeit eingebracht. Bei den »Grundhaltungen des Philosophischen Praktikers« (II) werden erneut das orientierende Prinzip sowie der Anspruch ins Spiel gebracht, »undogmatisch und unideologisch zu philosophieren, ohne dabei beliebig zu sein«. So könne die Selbsterkenntnis der individuellen Sichtweise des Praktikers als eine mögliche Perspektive ins Gespräch einfließen. Die Arbeit wird noch einmal ausdrücklich als eine dialogische ausgewiesen. Zu den »Grundlegenden Voraus­ setzungen eines Philosophischen Praktikers« (III) zählt der BV-PP »Interesse am Menschen« und »Freude an der Begegnung«. Inso­ fern Philosophische Praxis Bildung zur Grundlage hat, besteht eine wesentliche Haltung darin, begegnungsoffen und neugierig zu sein. Die Begegnung solle den Gast befähigen, »seinen Weg durch das Leben zu finden«. Als wichtiger Punkt wird hier noch der kollegiale Austausch erwähnt. Zu den Voraussetzungen zählt auch, »sich immer tiefer in der philosophischen Tradition« zu verwurzeln (IV). Bei der Anbindung der Philosoph*innen an ihr Fach wird aber die Perspektive der Lebenswirklichkeit als wichtiges Kriterium einer Beschäftigung mit der historischen Überlieferung hervorgehoben, zuletzt auch noch­ mals der kontinuierliche Prozess des Ablegens von Rechenschaft.

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12. Ethischer Kodex der APPA und Berufsethos des BV-PP

Zusammenfassend ist für dieses Dokument des BV-PP zunächst bezeichnend, dass es überwiegend abstrakt und allgemein formuliert ist, ohne spezifische Imperative aufzulisten oder Spielräume für Handlungsanweisungen konkret festzulegen. Beim Berufsbild sind inhaltlich das Begegnungsgeschehen und der dialogische Prozess im Fokus, so dass auch die Haltungen dementsprechend eine andere Ausrichtung haben. Philosophische Praxis wird als ein Beruf verstan­ den, der mit Verantwortung für die Öffentlichkeit einhergeht und Philosophie als Lebensform zumindest andenkt. Bedeutsam ist die Erwähnung der Kollegialität und der Relevanz berufsbegleitender Intervision und Supervision. Im Vergleich zum Ethischen Kodex der APPA wird kein Procedere im Umgang mit Verfehlungen oder Verstößen gegen das Berufsethos bzw. die Selbstverpflichtung der Mitglieder erwähnt. Mit dem Ethischen Kodex der APPA und dem Berufsethos bzw. der Selbstverpflichtung der Mitglieder des BV-PP liegen zwei Orientie­ rungen vor, die im Rahmen von Verbänden, also übergreifenden Insti­ tutionen und Berufsstandorganisationen für Mitglieder entwickelt wurden. Soweit ich sehe, sind dies die einzigen Organisationen, die sich mit ethischen Leitlinien der Philosophischen Praxis insoweit konkret befasst haben, dass ein Kodex bzw. Grundlagenpapier zur Veröffentlichung gebracht wurde. Beide Texte sind das Ergebnis längerer Gruppendiskussionen und der Verständigung auf Qualitäts­ merkmale der beruflichen Tätigkeit. Sie legen Standards fest und geben Orientierungen für die Philosophische Praxis, es kommen aber teils erhebliche Unterschiede zum Tragen. Wenn ich im Folgenden nun eine ethische Leitorientierung für die Philosophische Praxis vorschlage, so beruht sie auf den in diesem Buch erörterten Grundlagen und ist wesentlich durch die moralische Existenz des philosophisch Praktizierenden getragen. Sie ist nicht für eine Organisation, sondern als allgemeine Einlassung zum Thema und Anregung für weiterführende Diskussionen gedacht.

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13. Ethische Leitorientierung für die Philosophische Praxis – ein Vorschlag

Präambel Das Handeln von philosophisch Praktizierenden steht in Wechselwir­ kung mit den global vernetzten Gesellschaften und mit Menschen in ihren verschiedenen Lebenssituationen. Die Menschen in ihrer Würde zu achten und die Vielfalt der Lebensformen zu respektieren, ist ein wichtiges Anliegen Philosophischer Praxis. Daher verpflichten sich philosophisch Praktizierende erstens darauf, allgemeine morali­ sche Prinzipien zu wahren, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen formuliert sind. Sie verstän­ digen sich zweitens darauf, die jeweils national geltende Grundord­ nung, die darin verankerten Gesetze sowie die speziellen Vorschriften für die Ausübung ihrer Berufstätigkeit zu achten. Sie berufen sich drittens auf die Gewissens- und Handlungsfreiheit, die es ihnen erlaubt, individuelle Entscheidungen zu treffen.

(1) Definition Philosophische Praxis Philosophische Praxis ist ein institutionell verankertes philosophi­ sches Angebot zur solidarischen Partizipation mit verschiedenen Begegnungsformen im Hinblick auf Bildung und Persönlichkeits­ entfaltung, politisches und gesellschaftliches Engagement sowie Lebensorientierung und Trost. Institutionell verankert ist dieses Angebot durch die Person und Arbeit der philosophisch Praktizierenden, u.a. in Selbstständigkeit, in eigener unternehmerischer Niederlassung, im Angestelltenverhält­ nis, auf Honorarbasis oder in Werk- und Beratungsverträgen. Philosophisch ist das Angebot, weil philosophisch Praktizierende in der Philosophie ausgebildet sind und eine Expertise für das Begeg­ nungsgeschehen in Philosophischer Praxis haben.

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13. Ethische Leitorientierung für die Philosophische Praxis – ein Vorschlag

Solidarisch partizipieren philosophisch Praktizierende an der persönlichen Situation anderer Menschen. Dies geschieht in gemein­ samen Situationen, die durch spezifische Rahmenbedingungen defi­ niert sind. In Form der mitfühlenden und reflektierenden Teilnahme ist die solidarische Partizipation in der philosophischen Sprechstunde von besonderer Tragweite. Begegnungsformen Philosophischer Praxis sind insbesondere öffentliche Veranstaltungen (Salons, Workshops, Vorträge, Lesun­ gen etc.), philosophische Spaziergänge und Reisen, Philosophieren in Institutionen und Unternehmen, Philosophieren mit Kindern, Jugendlichen und anderen ausgewählten Personengruppen, philoso­ phische Begleitung besonderer Ereignisse und Lebenslagen sowie individuelle Gespräche. Die Philosophische Praxis ist thematisch nicht festgelegt, also offen für alle Anliegen. Zugleich steht sie in diskursiver Ausein­ andersetzung mit den Lebensformen ihrer Zeit und Kultur. Sie erhält ihre jeweilige Prägung durch die individuelle Ausrichtung der philosophisch Praktizierenden. Insofern gibt es keine Bindung an bestimmte Arbeitsformate und Wirkungsweisen, allenfalls die allgemein beschriebenen möglichen Schwerpunkte.

(2) Allgemeine ethische Orientierung Als allgemeine ethische Orientierung gilt folgender Leitsatz: Im Wissen um die komplexen Bedingungen der Existenz, um die Angewiesenheit der Menschen aufeinander und um die mit der menschlichen Lebensform verbundenen Fähigkeiten tragen philosophisch Praktizierende in ihrer eigenen Person, in zwischen­ menschlichen Begegnungen, im Umgang mit ihrem Lebensraum und in öffentlicher Wirksamkeit wenigstens zur Verwirklichung einer Minimalkonzeption des guten Lebens aktiv bei. Dazu gilt folgender Ergänzungssatz: Dies erfordert Übung und Anstrengung in einem lebenslangen Bemühen um Verstehen und Erkennen, um Kritikfähigkeit und Begegnungsoffenheit, um soziale Verantwortung und politische Teilhabe sowie um die Pflege des Lebens im Bewusstsein kulturty­ pischer Formungen und individueller Begrenzungen.

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(3) Allgemeine Grundlagen der Berufsausübung

(3) Allgemeine Grundlagen der Berufsausübung Die Berufsausübung ist nach mindestens drei allgemeinen Grundla­ gen ausgerichtet: Humanität Philosophisch Praktizierende kultivieren eine Haltung der Huma­ nität gegenüber der Menschengemeinschaft im Allgemeinen und gegenüber den Stakeholdern ihrer Philosophischen Praxis im Besonderen, allen voran gegenüber den Teilnehmenden und Mitar­ beitenden ihrer Veranstaltungen sowie den in der Sprechstunde Rat, Trost und Orientierung suchenden Menschen. Insofern philosophisch Praktizierende Arbeitgeber sind und die Geschäfte eines Unternehmens lenken, kommen sie in ihrer Rol­ lenverantwortung der Sorgfaltspflicht vollumfänglich nach und orientieren sich an den Bestimmungen für eine humane Führung. Kollegialität Philosophisch Praktizierende leben und reflektieren eine Haltung der Kollegialität in ihren Beziehungen und Interaktionen mit ande­ ren philosophisch Praktizierenden. Dies beinhaltet Respekt vor ihrer Arbeit, Teilnahme am Diskurs in den Belangen der beruflichen Tätigkeit und eine Zusammenarbeit zur Förderung des Berufsfelds, wo und wann immer es sinnvoll erscheint. Gesellschaftliche Wirksamkeit Philosophisch Praktizierende erfüllen mit der Gestaltung mit­ menschlicher Begegnungen eine wichtige Aufgabe in der Gesell­ schaft. Sie sind sich ihrer Verantwortung bewusst und pflegen eine offene Dialogkultur bezüglich aller Fragen des individuellen, gemeinschaftlichen und global situierten Lebens. Sie begleiten kri­ tisch die Entwicklung der etablierten Lebensformen und fördern bei Einzelnen, in Institutionen und Unternehmen sowie in Politik und Zivilgesellschaft das Nachdenken über ein gutes Leben. Sie sind zu Widerstand, Zivilcourage und politischem Einspruch bereit, wann immer es eine aktuelle Lage erfordert.

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13. Ethische Leitorientierung für die Philosophische Praxis – ein Vorschlag

(4) Besondere Prinzipien der Berufsausübung Die Berufsausübung ist in mindestens fünf Prinzipien fundiert: Wohlwollen Philosophisch Praktizierende begegnen anderen Menschen mit Wohlwollen. Sie sind an ihrem Wohlbefinden interessiert und versuchen Leiden zu lindern. Sie entwickeln eine zugewandte, verständnisvolle und wertschätzende Haltung. Sie öffnen sich den Anliegen und Beiträgen der Anderen, stellen eigene Sichtweisen und Befindlichkeiten zurück, sind aber in ihrer persönlichen Haltung und moralischen Integrität als Philosophierende fest verankert und stets ansprechbar. Vertraulichkeit Philosophisch Praktizierende gehen sensibel mit der Bereitschaft von Menschen um, sich anzuvertrauen, und halten die Vorschriften für den Schutz persönlicher Daten ein. Sie klären über mögliche Grenzen der Vertraulichkeit auf. Sie sind sich der Asymmetrie der Rollen in ihren beruflichen Beziehungen bewusst, vor allem bei den individuellen Konsultationen. Sie achten daher auf das Beziehungsgeschehen und handeln nicht missbräuchlich. Mitgefühl Philosophisch Praktizierende nehmen an der persönlichen Situa­ tion der sie aufsuchenden Menschen Anteil. Dabei sind sie ein­ fühlsam und arbeiten aufmerksam mit Gespür für die Anwesen­ heit der Person in ihren affektiven und kognitiven Dispositionen, ihren Lebenseinstellungen und Handlungsspielräumen sowie ihrer Sprach- und Dialogfähigkeit. Sie treten in Resonanz, fördern die Verständigung und handeln dabei fürsorglich und verantwortungs­ voll gegenüber den Anderen und sich selbst. Weise Umsicht Philosophisch Praktizierende pflegen in der Moderation, Struktu­ rierung und Gestaltung sowie in Vor- und Nachbereitung der Begegnungen eine weise Umsicht im Hinblick auf die Möglichkeiten der philosophischen Arbeit, der selbstbestimmten Persönlichkeits­ entwicklung aller Beteiligten und der Gewährleistung fördernder

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(5) Schlussbestimmungen

Rahmenbedingungen. Sie reflektieren die Prozesse ihrer Wirksam­ keit und achten auf bestmögliche Voraussetzungen für die Berufs­ ausübung. Urteilsfähigkeit Philosophisch Praktizierende entwickeln ihre Urteilsfähigkeit ste­ tig weiter, um an der Ausübung und Gestaltung ihres Berufes in individueller und gemeinschaftlicher Verantwortung sorgfältig mitzuwirken. Sie sind wachsam gegenüber persönlichen, sozialen, institutionellen, wirtschaftlichen und politischen Einflüssen, die zu einer falschen Anwendung ihrer professionellen Fähigkeiten führen könnten. Sie üben kritische Selbstreflexion, nehmen an Fortund Weiterbildungen teil und suchen regelmäßig Intervision und Supervision auf.

(5) Schlussbestimmungen Die Entwicklung dieser ethischen Leitorientierung für die Philosophi­ sche Praxis wurde im Oktober 2022 abgeschlossen. Das Dokument erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Letztgültigkeit und ist als Anregung für weiterführende Diskussionen gedacht.

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