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German Pages 626 Year 1986
PRANZ BRENT ANO
Über Aristoteles Nachgelassene Aufsätze J1erausgegeben von ROLFGEORGE
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 378
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INHALT
Einleitung. Von Rolf George .. .. .. ........................................
IX
FRANZ BRENTANO Über Aristoteles I. Methode, Chronologie, Allgemeines .................................. 1. Aristoteles Bedeutung und Verkennung. Einleitung in die Darstellung seiner Lehre .............................. .. 2. Methode . .. .. .. .. .. . .. .. ... .. .. .. . .. .. .... .... .................... .... .. .. 3. Zur Methode aristotelischer Studien, und zur Methode geschichtlicher Forschung auf philosophischem Gebiet überhaupt ...... ............................ 4. Aristoteles, Chronologie seiner Werke. Wandlungen in der Lehre von der Definition und in anderen Fragen als Anhaltspunkte für die Chronologie seiner Schriften .......... ...... .... ................ .... .. ..... 5. Über Aristoteles. Aus einem Brief an Kastil .............
II. Logik ....................................................................... 6. Zur Logik ............................................................... 7. Zur aristotelischen Kategorienlehre. September 1909 .............. .......................... ............ ... 8. De Interpretatione. Florenz, September 1909 ........... 9. Zweite Analytika: I. Buch ........................................ 10. Analytica posteriora: Definitionen. Florenz, Dezember 1909 ........................................................ 111. 11. 12. 13. 14.
1 4 7
21 34 41 41 45 59 66 73
Erkenntnislehre . .. .. .. .. .... .... .. .. .... .. .. .... .. .... .... ............ ... 85 Erkenntnislehre .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 85 Zur Erkenntnislehre. 21. 9. 1910 ............................. 94 Zur Erkenntnislehre und Wissenschaftstheorie ........ 101 Aristoteles' Lehre vom Ursprung unserer Ideen. 26. 4. 1908 .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .... .... .. .. .. ...... ......... 117
VI
Inhalt
15. Zur Ordnung der Darstellung: Ursprung der Ideen ....................................................................... 16. Zu Physik I, 1 ......................................................... 17. Vom für sich Seienden. 25. 7. 1907 .......................... 18. lntellectus agens. Materia prima. Brief an V. Tworbowski. Juli 1909 ..................................................... 19. Verhältnisbegriffe in verschiedenen Gattungen; Nachtrag 7. 6. 1908 .................................................. 20. Abstraktion, Induktion und intellectus agens. Brief an V. Tworbowski, Oktober 1909 ........................... IV. Allgemeine Metaphysik............................................... 21. Aristoteles' Metaphysik als Lehre vom Realen im Allgemeinen. 23. 4. 1908 .......................................... 22. Die verschiedenen Definitionen der aristotelischen Metaphysik. 24. 4. 1908 ........................................... 23. Terminologie........................................................... 24. Aristoteles' Lehre von der mannigfachen Bedeutung des Seienden ................................ .......... 25. Von der Bedeutung des Seienden ................ ............ 26. Aristoteles Ontologist? 6. 5. 1908 .............. .... .......... 27. Zu Aristoteles Lehre vom Wirken und Leiden. 24.f25. 4. 1908 ......................................................... 28. Nus und Pneuma ..................................................... V. Theologie ................................................................... 29. Über die Theologie des Aristoteles: Polemische Bemerkungen gegen Zeller und Gomperz ................... 30. Von der göttlichen Allwissenheit .. .. .. .. .. .. .. .. ...... .. .. ... 31. Übersetzung und Interpolationen zum 9. und 10. Kapitel von Met. A ................................................. 32. Aporien zum 9. und 10. Kapitel von Met. A ............ 33. Aporien zum 9. und 10. Kapitel von Met. A. Zweite Fassung ....................................................... 34. Zu MetaphysikA 10 ................................................ 35. Über das Gesetz der Synonymie .............................. 36. De Anima ........................ ...................... .... .. .... .. .. .. .. 37. Gotteslehre: Aristoteles, wo er zu früheren Ansichten Stellung nimmt. 21. 4. 1909 .......... ............ ...
124 131 134 139 147 151 155 155 160 165 190 198 206 209 214 217 217 254 261 267 288 329 333 352 365
Inhalt
VII
38. Aristoteles' Lehre von Gott und Welt. 27. 1. 23. 2. 1909 ....................... ••.•• .. .. .. .. .... .. .. ... .. . .. .. .. .. ...... 373 39. Aus Briefen an Gomperz ......................................... 388 VI. Ethik, Politik, Poetik .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..... .. .. .. ......... ...... 40. Die Philosophie von den menschlichen Dingen. Zur Nikomachischen Ethik ..................................... 41. Einleitung in die praktische Philosophie des Aristoteles .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . ... .. . ... .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . . 42. Die Nikomachische Ethik und Politik des Aristoteles .. .. .. .. .. .. .. .. . . ... . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . . 43. Zur Nikomachischen Ethik .... ...... ... .. ...... ................ 44. Grundgedanken der aristotelischen Ethik ................ 45. Aristoteles' Lehre vom Guten. Oktober 1909 .......... 46. Das Gute .. .................. .... ......................................... 47. Zur Ethik ................................................................ 48. Zeller zur Ethik des Aristoteles .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 49. Aristoteles' Ethik. Erkenntnis des Guten. Vergleich mit der Ethik Jesu ...................................................... 50. Budemische Ethik und Magna Moralia (September, Oktober 1909) ........................................ 51. Politik. (Florenz, Mai 1910) ........................................ 52. Zur Poetik .. .. .. .. ...... .... .. ..................... ... ... .. .. .. .. .. .. .. ..... VII. Zu Theophrast ........... ............... ................. ..... .............. 53. Zu Theophrast. Sept. 1909 .. .. ...... ..... .. .. .......... ....... .... . 54. Aporien des Theophrast zur Metaphysik .................... 55. Bemerkungen zum Fragment der Metaphysik von Theophrast ................. ..................... ................. ..... ... .. 56. Über Theophrast-Aristoteles' Lehre vom Wirken Gottes. Brief an Theodor Gomperz vom 7. 9. 1904 57. Über Eudemus' und Theophrasts Abweichungen von Aristoteles .. .......... ................ ... .. .... .. .. .. .. .. .. .. .... .
391 391 408 415 428 436 440 454 458 464 470 476 491 496 501 501 516 523 531 534
Anmerkungen des Herausgebers .................................... 541 Verzeichnis der hinterlassenen Schriften Brentanos über Aristoteles .. .. .. .. .. .. ... .. . .. ... .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... 579
VIII
Inhalt
Literaturhinweise ............................................................ 587 Namenverzeichnis
588
Sachverzeichnis .. .. .. ... .. .. .. .. .. ... .. .. .... .... .. .. .. .... ... . ... .. .. .. .. .. . 591
EINLEITUNG
I.
Gegen Ende seines Lebens berichtet Brentano in einem Brief an Oskar Kraus über den ersten von drei Lebensabschnitten in denen er sich intensiv mit Aristoteles befaßte: »Ich hatte mich zunächst als Lehrling an einen Meister anzuschließen und konnte, in einer Zeit kläglichsten Verfalles der Philosophie geboren, keinen bessern als den alten Aristoteles finden, zu dessen besserem Verständnis mir oft Thomas von Aquin dienen mußte.« 1 Er beschrieb sich gelegentlich, so in der Einleitung zu Aristoteles und seine Weltanschauung, als Schüler des Aristoteles, Bruder des Eudemus und Theophrast. Die Studienjahre 1858/59, die er in Berlin verbrachte um Trendelenburg zu hören, waren ausdrücklich dem intensiven Studium des Aristoteles gewidmet, und die beiden folgenden in Münster verbrachten Semester der mittelalterlichen Aristotelesauslegung. Seine beiden ersten Bücher, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, 1862, und Die Psychologie des Aristoteles, 1867, bedeutende exegetische Leistungen, waren das Ergebnis dieser Studien, und seine erste systematische Abhandlung, die Psychologie vom empirischen Standpunkt, ist deutlich eine Weiterentwicklung der aristotelischen Gedanken, die in den historischen Schriften erarbeitet und diskutiert worden waren. In den achtziger ] ahren führte eine Polemik mit Zeller zu einer erneuten Beschäftigung mit Aristoteles. In der Psychologie des Aristoteles hatte Brentano unter anderem die sogenannte kreatianistische These zu beweisen versucht, nämlich, daß nach Aristoteles der Nus jedes einzelnen Menschen von Gott geschaffen sei und nicht von Ewigkeit vorherbestehe. Dieentgegengesetze Ansicht hatte er einer eingehenden Kritik unterworfen und sie 1 Brief vom 21. März 1916, in Die Abkehr vom Nichtrealen; ed. Franziska Mayer Hillebrand, Bern, 1966, S. 291.
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»wunderlich«, »sonderbar« und »ungereimt« genannt. Da er besonders Zeller als Vertreter dieser Meinung nannte, griff dieser ihn in der dritten Auflage der Philosophie der Griechen (11,2,1879) in zahlreichen polemischen Fußnoten an. Brentano antwortete mit dem Buch Über den Creatianismus des Aristoteler und der Schrift Offener Brief an Zelier von 1882 und 1883. In den folgenden zwanzig Jahren veröffentlichte Brentano nichts über Aristoteles, und der Nachlaß enthält nur ganz wenige Notizen aus dieser Zeit, die auf Aristoteles hinweisen. Er!iJ:. um 1905 scheint er den Plan gefaßt zu haben, die Philosophie des Aristoteles in ihrer Gesamtheit ausführlich darzustellen. Brentano kehrt also gerade dann wieder zum Studium des Aristoteles zurück, als er seine theoretische Grundposition in der sogenannten Reismuskrise überdenkt und erneuert. Dies ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, daß er seine philosophischen Theorien von Anfang an im Anschluß an Aristoteles formuliert hatte. Zu der beabsichtigten großen und ausführlichen Darstellung des aristotelischen Werkes ist Brentano nicht gekommen. Das Nachlassen seiner Sehkraft und die schließliehe Erblindung machte das erneute Studium der Texte unmöglich. Allerdings konnte er einen Teil seiner Vorarbeiten für den Beitrag Aristoteies in Asters Große Denker von 1911 benutzen und diesen Aufsatz bedeutend erweitert im selben Jahr als Buch unter dem Titel Aristoteies und seine Weitanschauung herausgeben. Ebenfalls 1911 erschien Aristoteies Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes, eine Überarbeitung des Creatianismus. Danach veröffentlichte Brentano nichts mehr über Aristoteles, und man darf annehmen, daß auch keines der erhaltenen Manuskripte aus späteren Jahren stammt.
2 Zuerst erschienen in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Classe, Cl. Band, I. Heft 1882, S. 95-1 26; noch im gleichen Jahr ließ Brentano in Commission bei Carl Gerold's Sohn, Wien, die Schrift auch als Buch erscheinen.
Einleitung
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II. Carl Stumpf schrieb in seinen Erinnerungen an Franz Brentano 3, dieser hätte in aristotelischen Lehren »SO viel Wahrheit und Tiefe gefunden, daß er ihnen eine gewisse vorgängige Wahrscheinlichkeit, ein gewisses Vorrecht gehört zu werden, zuerkannte, was natürlich eine Prüfung und Verwerfung nicht ausschloß.« Zwei Beispiele mögen zeigen, daß sich einige der wichtigsten Lehrmeinungen Brentanos direkt und bewußt an aristotelisches Denken anschließen. Im dritten Kapitel der Abhandlung Von der mannigfachen Bedeutung befaßt sich Brentano mit dem, was er das Seiende im Sinne des Wahrseins und das Nichtseiende im Sinne des Falschseins nennt. Unter anderem kommentiert er die Stelle Met. E 4 (1027 b18), die in seiner Übersetzung folgendermaßen lautet: »Das Seiende als Wahres, und das Nichtseiende als Falsches findet sich bei der Verbindung und Trennung, beides zusammen aber bei der Teilung des Widerspruchs. Das Wahre nämlich hat auf seiner Seite die Bejahung bei dem Verbundenen, die Verneinung bei dem Getrennten ... « »Offenbar«, sagt Brentano, »wird hier das Urteil wahr und falsch, also auch seiend und nichtseiend genannt; das Urteil selbst ist das Subjekt dem das Seiende als Prädikat zukommt. Nicht die Kopula, die in dem Satze selbst Subjekt und Prädikat verbindet, ist darum das Sein von dem hier gesprochen wird, zumal da auch ein verneinendes Urteil seiend, ein bejahendes nichtseiend genannt wird; vielmehr handelt es sich hier von einem Seienden das von dem ganzen, fertig ausgesprochenen Urteile prädiziert wird.«4 Er beruft sich weiter auf die Stelle Anal. post. I 1, 71a 11, wo Aristoteles davon spricht, daß, wer etwas beweisen will, vorgängig wissen muß, daß etwas anderes ist. Es kann sich auch hier nur um Sosein, Sein im Sinne des Wahrseins handeln. Nun wird allerdings, wenn Sein von Sachverhalten, Tatsachen u. dgl. prädiziert wird, »dadurch keine besondere, außerhalb des Geistes existierende Natur des Seienden kund getan«, sondern dieses 3
Oskar Kraus, Franz Brentano, München 1919, AnhangS. 85-149,
S. 98. 4
Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden, J. 34.
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Sein »hat seinen Grund in den Operationen des menschlichen Verstandes, der verbindet und trennt, affirmiert und negiert.« 5 Diese Abhängigkeit von den Operationen des Verstandes beraubt aber das Wahrsein keineswegs seiner Realität, denn »nichts was wir in unserem Geiste bilden ist so von aller Realität entblößt, daß es ganz von dem Gebiet des öv m erfahren werden oder auch nur existieren kann, wenn kein Gegenstand dem Geist intentional inexistiert. Nur wenn ein solcher Gegenstand vorhanden ist, kann es Annehmen, Begehren und dergleichen überhaupt geben. Folglich haben psychische Phänomene immer einen Gegenstand. Wir nennen dieses in enger Anlehnung an Aristoteles entwickelte Argument das deduktive Argument für die These, daß alle psychischen Phänomene intentional sind. Seine Umrisse finden sich in der P.rychologie des Aristoteles, IV 2. Im zweiten Buch der P.rychologie vom empirischen Standpunkt bemüht sich Brentano dasselbe Resultat durch eine Art induktiven Verfahrens, »durch das Besondere, durch das Beispiel« zu stützen: er gibt Fälle psychischer Phänomene, belegt, daß sie intentionale Gegenstände haben, und verteidigt sein Ergebnis gegen andere Ansichten. Ohne Zweifel kam Brentano durch die Untersuchung der aristoltelischen Psychologie auf diesen Zentralgedanken der P.rychologie vom empirischen Standpunkt. Nicht ganz so sicher kann man sein, daß Brentano die Prämissen des deduktiven Arguments, etwa daß der Geist in Wirklichkeit nur das ist, was er denkt, und den aristotelischen Begriffsapparat in dem sie formuliert sind, jemals vorbehaltlos akzeptiert hat. Wir wissen nur, daß er in der P.rychologie vom empirischen Standpunkt das quasiinduktive Argument vorgezogen hat. Trotzdem wird man sagen dürfen, daß in diesem wichtigen Punkt Aristotcles wirklich sein Lehrer gewesen ist. Immer wieder findet man in Brentanos Aufzeichnungen und Briefen Verweise auf Aristoteles. Wichtige Entwicklungen seiner Lehre werden den einschlägigen Ansichten des Aristoteles gegenübergestellt und an ihnen gemessen. Zum Beispiel hielt Brentano dafür, daß der Reismus ein allgemeines Genus »Etwas« impliziere. Der Gegensatz zu Aristoteles wird pünktlich angegeben. 18
Psychologie vom empirischen Standpunkt, S. 112.
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Ähnlich ist es, wenn er zu der Überzeugung kommt, daß wir nur Allgemeines zu Denkobjekten haben. Er schreibt Aristoteles dieselbe Ansicht zu; denn Akzidenzien werden durch Substanzen individuiert, und die individuellen Bestimmungen einer Substanz können nicht vorgestellt werden, weil sie in der Materie liegen. Also müsse Aristoteles dafür gehalten haben, daß »alle unsere Vorstellungen, auch die sinnlichen Anschauungen, eigentlich Universelles vorstellen.« 19 In einem Diktat beklagt er den betrüblichen Einfluß von Anal. Post. 87b 37, wonach Wahrnehmung auf das Einzelne geht. Man könnte die Beispiele der Rückbeziehung auf Aristoteles fast beliebig vermehren. Wer also an der Entwicklung der Philosophie Brentanos interessiert ist, wird sich auch mit seinem Aristotelesbild und dessen Wandlungen befassen müssen. III.
Der Einfluß des Aristoteles auf Brentano ist deutlich und unbestreitbar. Wie steht es aber mit Brentanos Aristotelesexegese? Welche Verdienste um das Aristotelesverständnis hat er sich erworben? Man wird hier exegetische Einzelleistungen von systematischer Rekonstruktion unterscheiden müssen. Wie andere Exegeten des neunzehnten Jahrhunderts glaubte auch Brentano, daß es ein rekonstruierbares aristotelisches System gegeben habe. Dennoch wird man seine Auffassung von der seiner Zeitgenossen, etwa der Zellers, unterscheiden müssen. Nach Zeller war das Werk des Aristoteles ein »wohlgegliedertes, nach Einem Grundgedanken mit sicherer Hand entworfenes Lehrgebäude«. 2 Für ihn wie für andere Hegelianer war die Geschichte der Philosophie eine Geschichte von Systemen, die in den geschichtlichen Zusammenhang, in den sie gehören, eingereiht und aus ihm erklärt werden sollen. 21
°
19 Psychologie vom empirischen Standptmkt, Bd. III, Hrsg. Oskar Kraus, Meiner (Hamburg) 1968, S. 90. (Diktiert am 12. Jan. 1915.) 20 Die Philosophie der Griechen, 3. Auflage, Leipzig 1879; li 2, S. 801. 21 E., Zeller, Kleine Schriften, Berlin 1910, Bd. I, S. 415.
Einleitung
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Im Gegensatz dazu glaubte Brentano nicht, daß der Geschichte einer Disziplin selbständiger Wert zukomme, sondern daß sie immer nur eine dienende Stellung einnehmen könne. Nur ein verkehrter Historismus könne das verkennen: »Das Studium der Geschichte der Philosophy (hat) nur dann eine Berechtigung, wenn es in den Dienst der sachlichen Forschung tritt.«22 Er sah die Philosophie der großen Epochen als eine sich immer wiederholende Gegenüberstellung mit den seihen zeitlosen Problemen. Einerseits sollte also das Studium der Geschichte die gegenwärtige Forschung lenken und befruchten, andererseits glaubte er aber auch, daß diese Sachforschung und das Verständnis der sachlichen Probleme notwendige Voraussetzungen der angemessenen Exegese seien. Wie die Geschichte der Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie usw. nur von Mathematikern, Astronomen usw. (nicht von Philologen) geschrieben würde, so solle man auch die Geschichte der Philosophie den Philosophen (d.h. denen, die sich mit philosophischen Problemen sachlich befassen) überlassen. 23 Dies schien ihm gerade für Aristoteles wichtig; denn er glaubte, daß die fragmentarische Überlieferung vieler aristotelischer Gedanken zu Ergänzungen nötigt, die nur der mit den Sachproblemen vertraute bewältigen könne. Es sei dies, meinte er, »Gewissermaßen dem Unternehmen Cuviers vergleichbar, als dieser darauf ausging, vorweltliche Tiere auf Grund relativ spärlicher Überreste anatomisch und physiologisch zu rekonstruieren.« Ein solches rekonstruiertes System, glaubte Brentano, sei ein in sich harmonisches, das begreifen läßt, »wie Aristoteles in seiner Betrachtung das höchste aller Erdengüter besitzen zu können vermeinte.« 24 Die spekulative Weiterführung der aristotelischen Metaphysik am Ende von Aristoteies und seine Weitanschauung ist eine solche Ergänzung, und die hier vorliegenden Aufzeichnungen und Diktate müssen auch da, wo es sich um Detailfragen handelt, als Beiträge zu einem synoptischen Rekonstruktionsversuch ver-
Geschichte der griechischen Philosophie, Bem und München 1963, Ms. über Elsers Lehre des Aristoteles über das Wirken Gottes. 24 Selbstanzeige von Aristoteles und seine Weltanschauung, Ms. A 10 (nicht abgedruckt). 22 23
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standen werden. Man bedenke zum Beispiel die Behandlung und Auswertung des Metapl!Jsischen Fragments von Theophrast. In dieser Schrift werden Dutzende die Metaphysik des Aristoteles betreffende Aporien formuliert, von denen sich kaum eine im Corpus wiederfindet. Obwohl die Schrift keinen Anhalt dazu gibt, nimmt Brentano als selbstverständlich an, daß diese Aporien dem Aristoteles nicht nur bekannt, sondern von ihm auch beantwortet worden waren. Daraus ergibt sich dann die Möglichkeit weiterer Ergänzungen. Es erhebt sich die Frage, ob die Schrift sich nicht vielmehr auf Lacunae, nicht nur in den Schriften, sondern im metaphysischen Denken des Aristoteles, wie Theophrast es kannte, bezog. Auch wenn man mit den meisten neueren Forschern annimmt, daß die Schriften des Aristoteles kein System im Sinne Brentanos oder Zellers bilden, sondern sich bestimmten Problemen zuwendende Einzelforschungen sind, die nicht immer mit einander harmonisieren und auch nicht durch Ergänzungen zur Übereinstimmung gebracht werden können, wird man Brentanos Rekonstruktionsversuch bewundern müssen. Außerdem findet man wichtige exegetische Einsichten, von denen nun zwei Beispiele besprochen werden sollen. Die P.rychologie des Aristoteles und Aristoteles und seine Weltanschauung bezeugen Brentanos tiefes Interesse an der aristotelischen Theologie. Einer älteren Tradition sich anschließend und im Gegensatz zu Zellerund der Schulmeinung war er überzeugt, daß der Gott des Aristoteles als allwissender und fürsorgender Schöpfer zu fassen sei. Die Einzelheiten seines Argumentes sollen hier nicht wiedergegeben werden; nur soviel sei gesagt, daß es sich auf die Evidenz vieler, oft weit auseinander liegender Stellen stützt. Sein Kommentar zu einer Stelle verdient aber hervorgehoben zu werden, besonders da er sich mit einer Frage befaßt, die immer wieder aufgeworfen wird, der Frage nämlich, ob nach Aristoteles Gott Wissen von der Welt hat. Gegen Ende von Met. A 4 sagt Aristoteles, es gebe vier Prinzipien der Dinge: Form, Privation, Stoff und das bewegende Prinzip. Aber, fährt er fort, »anders betrachtet sind es nur drei; denn in gewissem Sinne sind das bewegende Prinzip und die Form dasselbe. So ist die Heilkunst sozusagen die Gesundheit, die Baukunst ist die Form des Hauses, und der Mensch erzeugt einen
Einleitung
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Menschen.« Dann fährt er fort: Ett 1tapa 'taCrra ro~ 't"O 7tp&'tov
1tllV'tffiV Xt VOßV 1tllV't"U.
Die vorhergehenden Sätze enthielten zwei Aufzählungen: Vier Prinzipien wurden genannt, und danach drei Fälle, in denen das bewegende und das Formprinzip zusammenfallen. An welche dieser Reihen knüpft die Wendung 1tcxpcX. 'tcxihcx an? Will Aristoteles ein fünftes Prinzip angeben, oder einen vierten Fall, in dem Form und Bewegungsursache zusammenfallen? Bonitz, dem fast alle Textbearbeiter folgten, transponierte ro~ und 't"Ö, so daß der letzte Satz an die äußere Liste anknüpft und der allgemein akzeptierte Sinn resultiert: »Neben diesen (vier Prinzipien) gibt es das, was als erstes aller Dinge alles bewegt.« Diese Wortumstellung, die durch kein Manuskript belegt ist, wird auch durch kein Argument gestützt, außer durch die nackte Behauptung, daß Aristoteles nun ein fünftes Prinzip zu den vier schon gegebenen hinzufügen will/ 5 oder einfach, daß der Sinn die Umstellung fordere. 26 Im Gegensatz dazu will Brentano den gegebenen Wortlaut beibehalten und den letzten Satz als zu der zweiten Aufzählung gehörig betrachten. Dann entsteht folgender Sinn: »In einem gewissen Sinn ist die Heilkunst die Gesundheit, und die Baukunst die Form des Hauses, und der Mensch erzeugt einen Menschen, wie auch darüber hinaus der erste aller Beweger alles ist.« Nach Brentano will Aristoteles hier sagen, daß Gott alles ist, indem er die Ursache aller Dinge ist. Dann würde er, so Brentano, die Welt erkennen, indem er sich als ihre Ursache erkennt. Daß der erste Beweger die Welt ist, kann aber auch im Sinne von De Anima III 4, 5 verstanden werden; denn nach dieser Stelle ist der erkennende Geist was er erkennt. Die von Brentano vertretene Lesart wird durch eine Textstelle in Met. A 10 bestätigt, wo Aristoteles sagt »Anaxagoras macht das Gute als Bewegendes zum Prinzip. Denn der Geist bewegt. Jedoch bewegt er um etwas willen, so daß es doch ein anderes Prinzip gibt. Es sei denn es ist so wie wir sagen. Denn die Heilkunde ist in gewissem Sinn die Gesundheit.« J. Owens findet
25 26
H. Bonitz, Aristotelis Metaphysica, Kommentar, Bonn 1849, S. 483. D. Ross, Aristotle's Metaphysics, Oxford 1924, Bd. II, S. 361.
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diesen Satz ganz kryptisch/7 und von anderen scheint er nicht kommentiert worden zu sein. Wenn man ihn aber mit der Brentanoschen Emendation zusammennimmt, bedeutet er, daß nach Aristoteles das göttliche Denken gewissermaßen die Ordnung der Welt ist. Dadurch wird eine Schwierigkeit beseitigt, die Anaxagoras übersehen hatte. Anaxagoras hatte dafür gehalten, daß der voü~ immer um eines Zweckes willen bewegt. Er würde also zwei oberste Prinzipien annehmen müssen, den voü~ und das Gute oder die intendierte Ordnung. Nach Aristoteles würden diese identisch sein, wie auch Gesundheit und Heilkunst in gewissem Sinne eines sind. Wenn aber der göttliche Geist die Ordnung der Welt ist, dann wird man auch schließen müssen, daß er sie kennt, oder sogar, daß dieses Sein selbst ein Kennen ist. Wenn er nur sich selbst kennt, wie Met. A 9 behauptet, ist er deshalb keineswegs von allem Wissen der Welt ausgeschlossen. Brentano trug diese Interpretation wiederholt vor, zuerst in der Psychologie des Aristoteles, mehrfach in den Manuskripten und zuletzt in Aristoteles und seine Weltanschauung. Sie wird besonders dadurch gestützt, daß sie mit dem offensichtlichen Sinn der Metaphern von Heer und Heerführer und vom Haushalt in Met. A 10 gut zusammenstimmt, wie auch mit dem im Buche A über Gott gesagten. Richard Norman hat eine Auslegung von A 9 geliefert, die auch diesen Text mit der Brentanoschen Interpretation in Einklang bringt. 28 Man darf schließlich auch noch auf die durch Cicero überlieferte Tradition hinweisen, nach der Aristoteles Gott mit der Welt identifiziert habe. 29 Als zweite Leistung Brentanos in der Aristotelesinterpretation soll nun noch sein Versuch einer Chronologie des Werkes zur Sprache kommen. Gewöhnlich wird die vereinfachende Annahme gemacht, daß die systematische Betrachtungsweise Zellers von der entwicklungsgeschichtlichenJägersabgelöst wurde, 27 Joseph Owens, The Doctrine of Beingin the Aristotelian Metaphysics, 2. Aufl., Toronto 1963, S. 453. 28 Richard Norman, >>Aristotle's Philosopher GodAristoteles, Chronologie seiner Werkedurch«, »welcher« u. dgl. Obwohl nun »Denken« nichts nennt, sondern nur »Denkendes«, so sagen wir doch gemeiniglich »Es gibt ein Denken« und nicht bloß »Es gibt ein Denkendes«. Wir sagen aber damit nichts anderes, sondern ganz und gar dasselbe. Wie ist nun dies erklärlich? Offenbar nur dadurch, daß das »es gibt« in beiden Fällen verschieden fungiert und zwar so, daß die Abweichung, die in dem Subjekt des Satzes liegt, wenn ich statt »Denkendes« »Denken« sage, durch den verschiedenen Gebrauch des »es gibt« in dem Sinne des ganzen Satzes ausgeglichen erscheint. Hienach wäre denn von allen jenen sogenannten »Formen« des Aristoteles zu sagen, daß sie nur im uneigentlichen Sinne existieren, daß es sich aber, wenn man sagt, sie seien, immer auch um die Existenz eines eigentlich Existierenden handle, jenes nämlich, dem der konkrete Ausdruck entspricht. Und ganz Ähnliches gilt dann von den Fällen, wo wir sagen, ein zu dem oder jenem Fähiges sei. Es handelt sich um kein im Besondern Seiendes im eigentlichen Sinne, sondern um eine
Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden
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besondere sprachliche Wendung. Sage ich z.B. es sei einer denkfähig, so sage ich er sei und leugne, daß es unmöglich sei, daß er denke. Man könnte solche uneigentliche Seiende, welche nur durch die Eigentümlichkeit einer sprachlichen Wendung auftreten, am passendsten entia linguae nennen. Zu ihnen werden aber noch manche andere gehören, die Aristoteles nicht berücksichtigt hat, und insbesondere die sogenannten entia rationis des Mittelalters. Es ist eine Eigentümlichkeit der psychischen Betätigung, daß sie Objekte habe. Wer denkt, denkt etwas. Man sagt manchmal, daß er sich denkend darauf beziehe, würde aber irren, wenn man hier eine Relation im gewöhnlichen Sinne vor sich zu haben glaubte. Bei dieser hat man es mit zwei Dingen zu tun, zwischen welchen die Relation besteht. Entfällt das eine, so entfällt die Relation. Hier dagegen muß das, woran ich denke, also worauf ich, wie man sagt, mich denkend beziehe nicht sein. Und sagt man »Kein Denkendes ohne Gedachtes«, so ist zu sagen, daß allerdings kein Denkendes sei, das nicht etwas zum Objekt habe, allein daß dies geschehe ohne daß darum das »Objekt« Genannte im eigentlichen Sinn sei. Auch von dem Gestalteten sage ich, daß es eine Gestalt habe, doch ist die Gestalt nicht im eigentlichen Sinne, und es besteht darum keine Relation des Gestaltetseins zur Gestalt. Und so besteht auch keine wahre Relation des Denkenden zum Gedachten. Nichts als das Denkende ist eim eigentlichen Sinne. Sage ich also ein Gedachtes sei, so sage ich dasselbe, wie wenn ich sage, daß ein Denkendes sei; doch kann ich nicht sagen, das Denkende sei das Gedachte, weil jenes im eigentlichen Sinne, dieses im uneigentlichen Sinne, [als] ein bloßes ens linguae, ist. Es sei noch bemerkt, daß die Sprache, welche im Anschluß an Dinge abstrakte Ausdrücke bildet, die nach Aristoteles deren Formen bezeichnen sollen, auch im Anschluß an entia rationis u. dgl. abstrakte Ausdrücke zu bilden liebt, die zu neuen entia linguae führen. So haben wir z.B. ebenso den Ausdruck »Möglichkeit von A« wie »mögliches A«, »Unmöglichkeit von A« wie »unmögliches A«, »Nichtsein von A« wie »nichtseiendes A« und dergleichen. Scheiden wiralldiese im uneigentlichen Sinne seiend Genannten ab, so bleibt uns nach Aristoteles nur das Reich der Substanz und ihrer akzidentellen Erweiterungen. Er glaubt verschiedene
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Allgemeine Metaphysik
Arten des Seienden nachweisen zu können, von welchen eine die eigentliche sei, alle andern in Beziehung zu ihr stehen, ähnlich wie da, wo wir etwas gesund nennen: einmal den gesunden Leib (und diesen im eigentlichen Sinne), dann aber auch die gesunde Speise, Wohnung, Gegend, Lebensweise, weil sie die Gesundheit erhält, wiederum die gesunde Arznei, weil sie sie hervorbringt, wiederum die gesunde Vorschrift, weil sie den, der das Vorgeschriebene tut, zu dem führt, was der Gesundheit zuträglich ist, und ebenso die gesunde Gesichtsfarbe, weil sie ein Zeichen der Gesundheit ist. 10 Ganz ähnlich sei es, meint er, wenn man eine Substanz und wiederum ein Akzidens ein Seiendes nennt. Die Substanz sei ein Seiendes im eigentlichen Sinne, die Akzidenzien aber würden Seiende genannt, weil sie der Substanz zukommen. Sie seien mehr eines Seienden als ein Seiendes, so also daß eine die Größe eines Seienden, das andere seine Qualität, das andere seine örtliche Bestimmtheit, das andere seine zeitliche, das andere sein Tun, das andere sein Leiden, das andere ein Verhältnis, in dem es zu anderen stehe. 11 Erwägen wir diese Lehre etwas genauer. Vor allem ist zu beachten, daß Aristoteles ganz richtig erkennt wie, wenn eine Substanz eine akzidentelle Erweiterung erfährt, wie z. B. eine Seele eine denkende Seele wird, kein zweites für sich mögliches oder auch nur denkbares Ding zum ersten, wie Teil zum Teil, hinzukommt. Das Akzidens involviert die Substanz, ähnlich wie der Begriff Rot den Begriff Farbig involviert. Hier kann keine begriffliche Differenz angegeben werden, welche nicht den differenzierten Begriff enthielte; und so kann dort das Akzidens weder sein noch gedacht werden, ohne daß es die Substanz in sich enthielte und enthalten zeigte. Auch hat es seine Individualität nur in dieser individuellen Substanz. Denken zwei Seelen dasselbe, so sind sie auch als Denkende zwei, indem die individuelle Differenz der Seelen eine individuelle Differenz der Denkenden als solcher zur Folge hat. Unmöglich könnte ein Akzidens individuell dasselbe bleibend von einer Substanz auf die andere übergehen. Wir haben also, wenn mit der Substanz das Akzidens gegeben ist, nicht ähnlich ein Kollektiv von Dingen, wie wenn wir einen Stein zu einem anderen Stein fügen. Jeder Teil der zwei Steine ist hier ein Ding im eigentlichen Sinne. Ist auch das aus ihnen bestehende Ganze ein Ding zu nennen?
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Aristoteles meinte diese Frage verneinen zu müssen. 12 Das Ganze ist eine Mehrheit von Dingen, aber nicht ein Ding, so daß wir dann drei Dinge hätten und, wie Neuere folgern wollten, am Ende gar auch vier, fünf und unendlich viele, weil, wenn die zwei zusammen ein drittes, die beiden ersten mit dem dritten zusammen ein viertes ergäben u. s. w .13 Wenn zwei getrennte k-örperliche Kontinua in Gedanken zusammengefaßt werden, so bleiben sie nach Aristoteles zwei Dinge, werden nicht ein drittes Ding. Nur wenn sie zu einem Kontinuum vereinigt werden, sind sie nach ihm als ein Ding, ein Körper zu bezeichnen, als ein wirklicher Körper nämlich, während sie vorher nur in Möglichkeit ein Körper waren, wie der durch die Vereinigung gewonnene größere Körper jetzt nur in Möglichkeit jene zwei Körper ist, die vorher waren. 14 In unserem Falle liegt die Sache wesentlich anders. Die Substanz ist vielleicht vor dem Akzidens gegeben und sie bleibt individuell dieselbe in Wirklichkeit, wenn sie die akzidentelle Erweiterung erfährt. Was aber ist außer ihr gegeben? Kein zweites Seiendes, welches in allen seinen Teilen neu hinzukäme. Außer der Substanz kann nur wieder die Substanz mit der akzidentellen Erweiterung seiend genannt werden. So gibt es hier kein rechtes Zweites, da ja auch nicht das Paar von Steinen als ein zweites Ding erschien, sondern nur der zweite Stein, und diesem eigentümlichen Verhältnis meint Aristoteles nur dadurch Rechnung tragen zu können, daß er sagt, man habe es hier nicht mit zwei Seienden, sondern nur mit einem Seienden und einem Etwas von diesem Seienden, övto~ tt, nämlich seiner akzidentellen Erweiterung oder auch demselben, nur eben akzidentell erweiterten Seienden zu tun. Die Sprache schon scheint zu einer solchen Auffassung anzuleiten, wenn sie in bezugauf dasselbe fragt: Was ist das? Wie groß ist das? Wie ist das? Was tut es? Was leidet es? Wo ist das? Wann ist das? Wie verhält sich das zu diesem und jenem? Indes scheint hier vieles nicht richtig von Aristoteles bestimmt. Schon seine Lehre, daß zwei Substanzen, zusammengefaßt, kein wirkliches Reale seien, sondern nur etwa ein solches in Möglichkeit, scheint sehr bedenklich, insbesondere im Hinblick auf die unendliche Teilbarkeit der Körper, und den Umstand, daß jeder Teil, wenn der andere entfällt, individuell derselbe bleibt, wenn der Ort und die den Ort erfüllende Masse qualitativ dieselbe ist.
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Daß ein Körper, welcher einen Umfang von Billionen Meilen hätte, wenn an einem Pünktchen ein Kubikmillimeter abgetrennt würde, seinem ganzen Umfange nach einer substantiellen Umwandlung unterläge, erscheint nicht wohl glaublich, vielmehr würden die bleibenden Teile des Kontinuums ebenso gewiß noch dasselbe sein, was sie waren, wie die erste Hälfte vom Leben eines Menschen noch dieselbe gewesen wäre, wenn die zweite nach seinem Ablauf durch einen damals schon erfolgten Tod von ihm abgetrennt worden wäre. Die paradoxen Folgerungen Cantors lassen sich wohl abwehren, wenn man sich nur klar hält, daß, wenn das dritte Reale aus den zwei ersten besteht, offenbar die drei nicht mehr Realität darstellen als die zwei, die Summe also durch Addition eines sogenannten Dritten, Vierten usw. nicht zu einem größeren Quantum wächst. So steht denn nichts im Wege, das Akzidens deshalb, weil es die Substanz enthält, doch als ein anderes, vielleicht nur nicht als ein ganz anderes Seiendes zu betrachten. Und was sich so ergibt, findet seine Bestätigung, wenn wir uns fragen, ob es einen allgemeinen wahrhaft einheitlichen Begriffdes Denkenden gebe. Man wird diese Frage, wenn man nicht nominalistischen Irrtümern huldigt, bejahen. Nun ist es aber doch wahr, daß der Begriff des Denkenden notwendig der Begriff eines etwas Denkenden ist und daß er nicht einheitlich sein kann, wenn der Begriff dieses Etwas nicht einheitlich ist. Auch der Begriff des Empfindenden würde nicht einheitlich sein, wenn der Begriff der sensiblen Qualität nicht einheitlich wäre, und der Begriff des Sehenden nicht, wenn nicht der Begriff des Farbigen einheitlich wäre. Gedacht wird aber sowohl die Substanz als das Akzidens und dieses in verschiedenen Gattungen und Arten. Somit müssen Substanz und alle Akzidenzien im gleichen Sinne des Worten etwas d.i. ein Ding, ein Reales sein. Die Substanz wird also nur etwa als eine der höchsten Spezies der einen Gattung des Realen bezeichnet werden können. Auch sonst ist die aristotelische Kategorienlehre voll von schweren Fehlern. Was er unter der Kategorie des Ortes und unter der der Qualität anführt, sind nachweisbar substantielle Bestimmungen. Das primäre Objekt unseres Sehens enthält nichts anderes als substantielle Merkmale. Aristoteles wurde durch eine unvollkommene Erkenntnistheorie verleitet, den Körpern, die
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wir rot, warm und dergleichen nennen, nicht etwa bloß zuzuschreiben, daß sie, mittelbar auf unsere Sinne wirkend, uns Erscheinungen von Rot, Warm u. dgl. erwecken, sondern ihnen diese Qualitäten selbst zuzuschreiben. Als substantielle Differenz ließ sich dann keine von ihnen fassen, und so erfand er denn noch etwas anderes den Raum Erfüllendes, was diese Qualitäten als Akzidenzien an sich habe, was substantiell dasselbe bleibe wenn es die Qualitäten wechsele und ebenso dann auch, wenn es den Ort wechselt. Wo aber jemals einer die Anschauung von diesem substantiellen Etwas hätte, ist nicht zu sagen, und so ist es denn sonnenklar, daß diese Substanz die erste Bedingung der Substanz und ihres Verhältnisses zu den Akzidenzien nicht erfüllen würde, nämlich die, in ihrem Begriff, in ihrer Anschauung, notwendig enthalten zu sein. Ganz besonders verfehlt ist die aristotelische Kategorienlehre auch hinsichtlich der Relation, bei welcher er hätte erkennen sollen, daß man es immer mit mehreren zu tun hat, und wenn die Mehrheit nicht als real angesehen wird, überhaupt durch die Relation keine realen Bestimmungen gegeben wären. Dabei wird es bei den Relationen des Vergleiches darauf ankommen, ob Substanzen als solche oder Akzidenzien als solche verglichen werden, wenn man entscheiden will, ob eine relative Bestimmung eine substantielle oder akzidentelle zu nennen sei. Wer die Lehre von den Kategorien reformiert, wird erkennen, daß im ganzen Bereiche unsere Erfahrungsvorstellungen Akzidenzien nur auf dem psychischen Gebiete gefunden werden. 15
25. Von der Bedeutung des Seienden
Die Unterscheidung zwischen dem in Wirklichkeit und dem in Möglichkeit Seienden hat Platz, wenn einer sagt, es spiele einer die Flöte oder er sei ein Tänzer, wenn er die Flöte spielen kann und tanzen kann, in einem andern Fall aber, wenn er sie wirklich spielt und wirklich tanzt. Man könnte einwenden, daß es sich hier mehr um eine Vieldeutigkeit des Ausdrucks »spielen« und »Tänzer«, als um den Ausdruck »sein« handelt. Aber man beseitige jene Vieldeutigkeit, man sage statt »Tänzer« »einer, der tanzen kann«, so bekommt man nach Aristoteles in dieser bloßen Fähigkeit, die ausgesagt wird, etwas was sich von einem wirklichen Realen wesentlich unterscheidet. Er meint, es sei etwas Reales, welches sozusagen nur der Anfang, nur eine Art Teil des wirklichen Realen sei. Indem die Fähigkeit mit der Wirklichkeit verbunden werde, ergebe sich die Zusammensetzung des Wirklichen. Auch wollte er, weil einer, von dem man mit Recht sagt, er gehe von A nach B, zwar in jedem Momente des Verlaufes wirklich von A nach B geht, aber doch nicht das ganze Gehen von A nach B zugleich wirklich in sich hat, für das Bewegte nur einen unvollendeten Zustand der Verwirklichung anerkennen, indem er meinte, daß es in bezug auf eben die Bewegung, in welcher man es wirklich begriffen nenne, noch immerauch im Zustand nicht verwirklichter Möglichkeiten bleibe, nämlich in Ansehung aller schon früher durchlaufenen oder später noch zu durchlaufenden Bewegungsmomente. Diese Lehre kann nicht eigentlich [als] richtig befunden werden. Die Möglichkeit eines Realen ist nicht selbst ein Reales, und das wirklich Reale ist nicht aus zwei Teilen, von welchen der eine jene Fähigkeit und der andere eine darin aufzunehmende Wirklichkeit wäre, zusammengesetzt. Dagegen ist es aber allerdings richtig, daß man es, wenn man sagt, es sei etwas in Möglichkeit seiend, mit einer besonderen Funktion des Wortes »seiend« zu tun hat. Übersetzt man den Satz in andere Worte in der Art, daß das »ist« in der gewöhnlichen Art fungiert, so wird man finden, daß nicht behauptet wird, daß etwas sei, sondern daß etwas nicht
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sei: es ist nicht unmöglich, daß aus etwas etwas werde, daß es als materielle Ursache zur Entstehung von etwas beitrage oder als Substanz in dasselbe, als in sein Akzidens, eingehe. Genau genommen hätte Aristoteles nicht bloß reale Möglichkeit und real Wirkliches, sondern auch noch reale Wirklichkeit im Sinne der mit seiner Materie sich verbindenden Form unterscheiden müssen. Manchmal scheint er dies auch geradezu zu tun. Allein diese Wirklichkeit ist ebenso eine Fiktion wie jene reale Möglichkeit. Sie hängt mit den in den verschiedenen Kultursprachen üblichen abstrakten Namen (neben den konkreten) zusammen. Sie sind wohl durch die irrige Vorstellung veranlaßt, daß wie ein Kopf zu den Gliedern und ein Glied zum anderen hinzukommt, auch ein ganz neuer Teil zu einem früher gegebenen und bleibend sich erhaltenden hinzukomme. Wäre zum Beispiel ein Geist denkend, so meint man, das jetzt gegebene Denkende, wenn es die Substanz Geist als einen Teil hat, müsse das Denken als einen zweiten haben, welches sich zum ersten addierend das Denkende ausmache. So ist es nun nicht. So wenig in dem Begriff rot welchen ich zu Farbe füge, um den Begriff zu Röte zu ergänzen, etwas zu erkennen ist, was nicht selbst Farbe enthält, so wenig kann hier ein Denken abstrakt vom Geiste gedacht werden. Es handelt sich also immer um dasselbe Objekt, mag ich sagen »Ein Denkendes ist« oder »Ein Denken ist«. Und doch kann ich nicht sagen ein Denkendes ist ein Denken, sondern nur, es hat ein Denken. Dies aber sagt, wenn man sich von ontologischen Irrtümern freihält, ganz dasselbe wie »Ein Denken ist«. Wir sehen darum, daß wir, wenn wir richtig denken, hier das Wörtchen »ist« ebenfalls verschieden fungieren lassen, ähnlich wie wir ja auch, wenn wir astronomisch richtig denken und doch fortfahren zu sagen, die Sonne gehe auf, das Wort »aufgehen« in einem verschiedenen Sinne verwenden. Wir können sagen, daß, wenn man mit Recht zwischen Worten unterscheidet, die etwas für sich allein, und anderen, die nur etwas in Verbindung mit anderen bedeuten, wozu z.B. Partikel, aber auch casus obliqui und auch viele Nominative zu rechnen sind. So unter anderen sowohl die Ausdrücke »Fähigkeit«, als auch die Ausdrücke »Natur von etwas«, »Wirklichkeit von etwas« und eine weite Fülle von anderen Abstraktis wie »Röte«, »Gestalt« usw. Wendet man sie an und verbindet mit ihnen die
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Wörtchen »es gibt«, »es existiert«, »es ist«, z.B. »Es gibt Tugend«, so sagt man nichts anderes als wenn man sagt »Es gibt Tugendhafte«, obwohl dabei »Tugend« nicht eigentlich mit »tugendhaft« sich deckt. (Denn man kann ja nicht sagen, ein Tugendhafter sei eine Tugend). Und eben darum kann sich auch das eine »es gibt« mit dem anderen in seiner Funktion nicht völlig decken. Sie ist so abgeändert, daß aus dem »es gibt Tugend« derselbe Sinn wie »Es gibt Tugendhafte« resultiert. Es bleibt uns nur noch die mannigfache Bedeutung in welcher das Sein für die verschiedenen Kategorien gebraucht werden soll zu untersuchen ... Im Anfang des zwölften Buches der Metaphysik deutet [Aristeteles] eine doppelte Auffassung an: nach der einen wäre die Substanz mit allen ihren Akzidenzien ein einheitliches Etwas, von dem die Substanz der erste Teil sei; nach der andern hätte man eine Vielheit, welche sich als eine Reihe darstellt, bei der naturgemäß die Substanz als erstes Glied sich darstellt, während die anderen nachfolgen. 1 Es steht seine Kategorienlehre im Zusammenhang mit dem Gedanken von verschieden Prädikaten, die als Spezies höheren Begriffen und schließlich jedes einem höchsten Begriff subordiniert sei; und dabei stand ihm der Gedanke fest, daß nie derselbe höchste Begriff zugleich durch mehrere ihm gleich nahestehende spezifische Differenzen, sondern nur durch eine nächststehende und dann durch andere, ihm weiter und weiter untergeordnete spezifisch differenziert werden könne. So viele niederste Spezies ihm [i.e. dem Subjekte als Prädikate] zukommen, unter so viele höchste Gattungen muß es fallen. (Es müßten dann mehrere unterste Spezies derselben Gattung kompatibel sein, wasAristotelesstillschweigendanzunehmenscheint,indem er, man muß wohl sagen, sehr oberflächlich sich durch die Sprache, welche z. B. in Bezug auf Gestalt und Farbe gleichmäßig den Fragepartiel »wie« anwendet, leiten läßt. Nichts ist doch sichtlicher, als daß der Sinn von »wie gestaltet?« und »wie gefärbt?« nicht minder verschieden ist als der von »wie groß?« und »wie gefärbt?« Hier ist vieles irrig. 1. Mit was haben wir es zu tun, mit Abstrakten oder mit Konkreten, mit »Natur«, »Größe«, »Gestalt«, »Wirken« usw.
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oder mit »Ding«, »Großes«, »Gestaltetes«, »Wirkendes« usw.? Entschieden mit den letzteren. Jene sind nach Aristoteles nur formelle Teile des Wirklichen. AbernuraufdieAbstraktascheint es zu passen, wenn gesagt wird, ein Akzidens sei mehr ein övtoc; als ein öv. 2 Vom Konkreten wird wirklich das öv ausgesagt. Man könnte nur etwa zweifeln, ob es nicht vielleicht weniger Substanz als ein die Substanz Enthaltendes, gewiß aber nicht [ob es] ein als anderer Teil mit der Substanz Verbundenes sei. 2. Es ist eine durchaus irrige Lehre, daß ein Gattungsbegriff nur in einer Linie spezifischer Differenzierung differenziert werde. Nehmen wir z.B. den Begriff »Körper«, so haben wir den Begriff einer Substanz, der es als solcher wesentlich ist, eine Raumbestimmtheit und eine qualitative Bestimmtheit zu haben. Der Körper wird substantiell ein anderer sein je nach der Verschiedenheit der Ortsbestimmtheit und je nach der Verschiedenheit der sogenannten Qualität (der Materie), welche den Raum erfüllt. In jeder ihm wesentlichen Differenzierungsreihe zur extremen Differenzierung geführt, wird der Begriff zur individuellen Bestimmtheit gebracht werden. Das Individuum erscheint dann mehrseitig spezifisch differenziert, aber alles führt schließlich, wenn man die Differenzreihen weiter hinauf verfolgt, im höchsten Gliede zu derselben obersten Gattung wie als unterstes Glied durch die Vereinigung der letzten spezifischen Differenzen sich dasselbe Individuum ergibt. Bestände nun bloß das was wir eben darlegten, so wäre zur Unterscheidung von Substanzen und Akzidenzien überhaupt kein Anlaß. Nun aber zeigt es sich, daß zu den spezifischen Differenzen, welche zusammen ausreichen, um ein Individuum zu ergeben, oft noch anderes hinzukommt, wie z. B. wenn die individuelle Seele bald hört, während sie vorher nicht hörte, sieht, während sie vorher nicht sah, ein Urteil fällt, das sie vorher nicht fällte, etwas will, was sie vorher nicht wollte. Wäre diese Seele nicht, so wäre dieses Wollende nicht, aber diese Seele könnte noch sein, während dieses Wollende nicht mehr wäre, weil die Seele aufgehört hätte, dasselbe zu wollen. Wir sagen nun, die Seele sei dieses Wollende, aber wenn die Seele dieses Wollende ist und dieses Wollende aufhört, ist es da kein Widerspruch, wenn diese Seele noch fortbesteht? Der Widerspruch wäre auffällig, wenn es sich hier um Identität handelte, wie sie für
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diese Röte mit diesem Roten, ja auch für dieses Farbige mit diesem Roten und für dieses Seiende mit diesem irgendwie Farbigen besteht. Denn nur die Vereinigung von letzter spezifischer örtlicher Bestimmung mit letzter spezifischer qualitativer ergibt dieselbe Individualität. Es handelt sich um ein Individuum, welches ist oder nicht ist, und es wäre absurd wenn man behauptete, daß es zugleich noch bestehe und doch zugleich schon aufgehört habe. Es scheint also, wir haben es hier nicht mit einer Identität im seihen Sinne, nicht mit einer Identität im eigentlichen Sinne zu tun, und wenn die Sprache dieselbe Kopula anwendet, so bedeutet sie doch etwas wesentlich anderes. Sehen wir uns den Fall genauer an. Es liegt uns in dem sogenannten Akzidens ein individuelles Ganzes vor, von welchem ein Teil für sich abgeschieden als das, was er ist, ohne Wechsel seiner Individualität fortbestehen kann, vielleicht auch schon vorher bestanden hatte. Dieser Teil ist nicht das Ganze, vielmehr ist das Ganze mehr als er. Aber dieses Mehr ergibt sich nicht durch Hinzukommen eines zweiten ebenso für sich in gleicher Individualität Möglichen, wieetwaein individuelles Paar von Geistern, wenn ein Geist in zweiter Schöpfung zu einem erstgeschaffenen hinzukäme. Wenn eine Seele, die vorher nicht hörte, dann hörte, so sagt man wohl vielleicht, das Hören sei zur Seele hinzugekommen, und fragt man, ob bloß ein Hören im allgemeinen oder ein individuelles Hören, so wird man erwidern, ein individuelles. Aber fragt man weiter, ob dieses individuelle Hören ohne diese individuelle Seele denkbar sei, so wird man antworten: Nein. Und warum nicht? Etwa nur darum, weil es nur von dieser Seele bewirkt werden kann? Nicht doch; ein allmächtiges Wesen müßte ja alles das, was die unendlich schwächere Seele wirken kann, ebenfalls wirken können. Woher also die Unmöglichkeit des Bestandes dieses Hörens ohne dieses Sehen [diese Seele (?)]? Die Antwort ist, daß ähnlich wie der Begriff »rot« den Begriff »Farbe« nicht etwa bloß zum Begriff »Röte« ergänzt, sondern auch ihn einschließt, auch der Begriff des Denkens den der Seele und der Begriff dieses Denkens den dieser Seele einschließt. Mit anderen Worten, das Akzidens ist nicht ein zweiter Teil, der zu dem ersten hinzukommt, sondern es ist ein Ganzes, welchem ein allein für sich selbständig denkbarer substantieller Teil innewohnt.
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Somit bezeichnet das »ist«, wenn man das Akzidens von der Substanz prädiziert, allerdings etwas ganz anderes, wie wenn man substantielle Bestimmungen von einander prädiziert. Ein Verhältnis von einseitiger Dependenz eines Ganzen von einem Teile wird angezeigt. Nennt man nun das Ganze ein Seiendes und nennt man den Teil ein Seiendes, so fragt es sich, ob der Begriff des Seienden in dem gleichen Sinne angewandt werde. Würde man die Frage bejahen, so hieße dies, der höchste Begriff der durch die substantiellen Differenzen individualisiert werde, werde auch durch die substantiellen Differenzen in Vereinigung mit neuen individualisiert. Hieße dies nicht behaupten, daß dasselbe zugleich schon vollständig bestimmt und doch noch weiterer Determination fähig sei? Hieße es nicht doch eigentlich die Substanz mit dem von ihr prädizierten Akzidens im allereigentlichsten Sinne identisch machen? Wäre nicht das Akzidens das überindividualisierte individuelle Seiende? Müssen wir nicht, ähnlich wie Aristoteles es gesagt hat [sagen], dem Akzidens komme der Name »Reales« nur zu in bezugauf die Substanz, die in ihm gegeben sei? Das Ganze könne entweder nicht oder nur in einer anderen Bedeutung Reales genannt werden? 3 Oder sollte es möglich sein, von dem Begriff der Substanz und dem des die Substanz als Teil einschließenden Akzidens doch zu einem noch höheren Begriff zu gelangen, der dann als allerallgemeinster Gattungsbegriff gelten würde? Aristoteles wollte ein Kollektiv von Substanzen nicht selbst als Substanz und als Reales gelten lassen. 4 Es sei eine Mehrheit von Realen, aber kein Reales, komme darum auch nicht als Drittes zu den beiden hinzu. Aber ist nicht jeder Körper aus Körpern zusammengesetzt und darum ebensogut als Kollektiv wie als ein einheitlicher Körper zu betrachten? Würde man nicht im anderen Falle nur im unteilbaren Punkt oder vielmehr, weil auch dieser wieder in gewisser Weise Teile haben kann, im Punkte als Grenze einer Linie genommen zu einem wahrhaft Realen gelangen, so daß sich herausstellt, daß ein Reales auf körperlichem Gebiete nichts für sich, sondern nur im Zusammenhange mit anderem sein könne? Doch vielleicht läge in dieser Annahme nichts so gar Inkonvenientes, ist doch auch zeitlich - und hier sogar [für] Geistiges wie Körperliches- das Seiende nur punktuell und nicht für sich, sondern nur im Zusammenhange mit
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anderem, was freilich nicht ebenso ist, sondern nur war oder sein wird, möglich. Wenn nun wirklich in keinem Falle, auch nicht in dem des Kontinuums, einem Kollektiv der Name des Realen im seihen Sinne wie dem Letzteinheitlichen zuzusprechen wäre, dann gewiß auch nicht dem Akzidens. Anders dagegen, wenn man die Frage im entgegengesetzten Sinne entscheidet. Wir mögen sie hier zunächst offen lassen. Jedenfalls bedarf aber nach dem Gesagten die aristotelische Kategorienlehre vielfacher Korrekturen. Man hat entweder außer neuen Seinsbegriffen für die Akzidenzien auch noch welche für die Kollektive aus einer Mehrheit von Substanzen einzuführen oder die Kollektive und die Akzidenzien mit den Substanzen als im gleichen Sinne real anzuerkennen. Und man hat einerseits die Differenzen, die Aristoteles als akzidentelle betrachtet, als substantielle anzuerkennen und so die Zahl seiner Kategorien zu vermindern und andererseits dieselben vielfach zu vermehren. 3. Dabei muß noch im besonderen auf etwas aufmerksam gemacht werden, was Aristoteles ganz und gar verkennt, nämlich daß Akzidenzien selbst wieder Akzidenzien subsistieren können. Ja, dies kann in abermaliger und abermaliger Wiederholung geschehen. So subsistiert die Seele im Vorstellenden, das Vorstellende im Glaubenden, das Glaubende im evident Erkennenden. Sieht jemand eine geometrische Wahrheit ein, so erkennt er sie mit Evidenz; er hält das Urteil glaubend fest, während die Evidenz, die von der Gegenwart der Gründe bedingt war, der fortbestehenden Überzeugung mangelt. Würde ihm aber die Überzeugung schwinden, so könnte die Vorstellung des Satzes noch immer fortbestehen, wie, wenn auch sie schwände, die Seele noch fortbestehen würde. Auch dem aktuell Liebenden subsistiert die Seele nicht unmittelbar, sondern unter Vermittlung des Vorstellenden usw. Wenn, wie man sagt, ein Urteil aus denVorstellungenals richtig einleuchtet, so bewirkt die Seele als Vorstellende sich selbst als Urteilende. Als das Urteil bewirkende scheint sie auch zunächst die vorstellende Seele als subsistierende unentbehrlich in sich zu haben. So erwächst denn offenbar die Aufgabe, eine ganz neue Kategorientafel mit allseitiger Benutzungder Erfahrung zu entwerfen. Besondere Beachtung verdient dabei die Frage nach der Einheit des Bewußtseins. Auch die Frage nach der verschiedenen Weise,
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in welcher unser Denken sich betätigt, z.B. wenn es etwas Absolutes oder etwas Relatives und wieder wenn es etwas mit verschiedenem Temporalmodus und wieder wenn es etwas deutlich oder undeutlich, und wieder wenn es etwas primär oder sekundär, und wieder wenn es etwas als Einheit oder Vielheit denkt, wenn es zählt, kommt in Betracht. 5
26. Aristoteles Ontologist? -6. 5. 1908-
Im siebenten Buch der Metapf?ysik finden wir die Bemerkung, es sei nicht angebracht zu fragen, warum etwas sei, sondern warum es das oder jenes sei. 1 Der Zusammenhang scheint zu zeigen, daß dies damit zusammenhängt, daß Aristoteles es auch für unpassend hält zu fragen, warum ein Ding ein Ding sei. Es sieht aus als ob er hier einen im kantischen Sinn analytischen Satz vor sich zu haben glaubte, eine selbstverständliche Tautologie. Nun aber steht es ihm fest, daß ein Dreieck nicht länger Dreieck ist, als es ist. Somit könnte es scheinen, daß wie jene Tautologie auch die Existenz selbstverständlich sei. Eine solche Annahme würde aber die gröbsten Ungereimtheiten involvieren, wenn man sie allgemein machte und in ihre Konsequenzen fUhrte. Aristoteles scheint sie darum nur dann für zurecht bestehend zu denken, wenn es sich um die Annahme von etwas reell ganz Einheitlichem handelt, wobei keine Zusammensetzung von Attributen durch einen einheitlichen Namen verhüllt wird. Ist dies der Fall, wie z. B. wenn ich für ))weißes Pferd« den Ausdruck ))Schimmel« setze, so ist klar, daß ))Ein Schimmel ist« so viel bedeutet wie ))Ein Pferd ist weiß«, und da dieser Satz im kantischen Sinne synthetisch und keineswegs tautologisch ist, so erscheint auch der Satz ))Ein Schimmel ist« keineswegs als etwas, was in einer einfachen Tautologie begriffen ist. Nur wo es sich um schlechthin einfache Reale handelt, wo alle Bestimmungen zu einer Definition gehören und diese Definition das ganze Ding erschöpft - was bei materiellen, aus Materie und Form zusammengesetzten und durch die Materie individualisierten Wesen nicht der Fall ist- scheint also nach Aristoteles jener Fall gegeben, wo die Existenz selbstverständlich und also nach einem ))warum ein solches Ding sei« nicht zu fragen ist. Ein solcher Fall läge also bei den reinen Geistern, aber auch bei den Sternen und Himmelssphären vor, nicht aber bei den niederen, körperlichen Substanzen. Dennoch wäre vielleicht auch auf diese
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der Satz auszudehnen, wenn man sich nur an die Form und an die von ihr determinierte Spezies hielte, während man von der Individualität absähe. In der Tat gibt es Stellen die dafür sprechen, daß Aristoteles ein ewiges Bestehen des Allgemeinen 2 der allgemeinen Substanz- beim Wechsel des Einzelnen angenommen habe. Am allereinleuchtendsten wäre aber die Applikation des Falles auf den allgemeinen Begriff der Substanz. Es wäre also selbsteinleuchtend, daß eine Substanz sei, und nach einem Warum hier nicht zu fragen. Sollte dies wirklich die Lehre des Aristoteles sein - Äußerungen über das Warum der Zahl der Himmelssphären und Geister und ihrer Hinordnung zum Weltall, als ihrem Zwecke, 3 stehen damit im Widerspruch- so würden wir dadurch in einer auffallenden Weise an Leibniz erinnert, wenn er den Satz »Was in dem Begriffe einer Sache enthalten ist, kann von ihr ausgesagt werden« in einer gewissen Weise zu registringieren für nötig findet, indem er alle die Fälle ausschließt, wo in dem Begriff selbst ein Widerspruch enthalten ist. Von einem runden Viereck soll man kein Recht haben auszusagen, daß es rund und daß es viereckig sei. Aristoteles wäre bei seiner Restriktion nur noch weiter gegangen und hätte die volle Einheitlichkeit der im Subjekt gegebenen Realität verlangt. Auch dieser Forderung scheint sich aber Leibniz zu nähern, wenn er den ontologischen Beweis nur auf den durch sich selbst notwendig gedachten Gott anwendet, bei welchem keine Zusammensetzung von Möglichkeit und Sein, sondern eine Identität von beiden, ein Enthaltensein des Seins in der Möglichkeit gedacht wird. Erwägen wir dies, so erkennen wir im tiefsten Grunde eine schier identische Lehre. Und auch der ontologische Beweis, die Unleugbarkeit der Existenz eines nicht aus Möglichkeit und Wirklichkeit zusammengesetzten Seins, vielmehr eines Seins, das reine Wirklichkeit ist, scheint sich zu ergeben. Bei Aristoteles scheint nicht sowohl aus der Möglichkeit die Wirklichkeit, als aus der Wirklichkeit die absolute Notwendigkeit erschlossen zu werden. Es ist aber leicht nachweisbar, daß, wo aus der Wirklichkeit die Notwendigkeit, aus der logischen Möglichkeit die Wirklichkeit folgt. Doch auch die vereinigte Autorität zweier so großer Denker
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könnte uns keinen Eindruck machen, wo ihr gemeinsames Verkennen einer Äquivokation des sprachlichen Ausdrucks offenbar wäre. Beide hätten den Satz »A ist A« in dem Sinne, in welchem er wahrhaft affirmativ ist, mit dem, in welchem er tautologisch selbstverständlich ist, verwechselt. In diesem ist er ja nicht affirmativ, sondern negativ, äquivalent dem hypothetischen Satze »Wenn etwas A ist, ist es A«. 4 Die Zusammensetzung aus Materie und Form ist bei Aristoteles nicht eine Zusammensetzung aus logischer Möglichkeit und Wirklichkeit. Es handelt sich bei so zusammengesetzten Dingen um etwas, was einer Umwandlung unterliegen kann. Ich möchte an die Stelle setzen: etwas, dessen Sein mit seinem Gewirktwerden identisch ist. Bei allem solchen ist es unmöglich, daß es ist, wenn es nicht durch anderes gewirkt wird, aber notwendig, daß es ist, wenn es gewirkt wird. Was dagegen wäre, ohne gewirkt zu werden, wessen Sein nicht identisch ist mit seinem Gewirktsein, das kann die Möglichkeit wie Wirklichkeit seines Seins nur in voller Unabhängigkeit von jedem anderen haben und ist also, wie jenes durch ein anderes determiniert ist, für sich und wie man zu sagen pflegt, von selbst notwendig. Und diese Lehre wäre dann berichtigend an die Stelle der von Leibniz sowohl als der eventuell von Aristoteles aufgestellten zu setzen. In ihr läge alles das in entsprechender Fassung, was die Scholastiker mit ihrer These wollten, daß Gott allein aus Wirklichkeit und Möglichkeit nicht zusammengesetzt sei. 5
27. Zu Aristoteles Lehre vom Wirken und Leiden -24./25. 4. 1908-
Aristoteles lehrt, daß manches entstehe, ohne verursacht zu werden. So 1. Die Form dessen, was gewirkt wird. Die Erklärung liegt darin, daß sie im uneigentlichen Sinne ist. 1 2. Die Privation. Erklärung ebenso. 3. Dasselbe könnte von anderen sogenannten entia rationis gesagt werden. Z. B. ein in zweiJahrengeboren Werdender wird aus einem in etwas längerer Zeit geboren Werdenden. Eine Potenz wird, indem sie Subjekt wird, u. dgl. 4. Ein Universale wird, indem ein Individuum wird, wenn zufällig kein anderes Exemplar der Klasse existiert. Sonst tritt zwar das Individuum, nicht aber das Universale aus dem Nichtsein ins Sein. 2 5. Von allen diesen sehr verschieden ist eine fünfte Klasse. Aristoteles sagt, wenn etwas zu etwas gemacht werde, so werde es zugleich3 aus etwas, was dies nicht sei, etwas, was dasselbe sei; z. B. warm aus dem Kalten, sich verändernd aus dem Ruhenden u. dgl. Zugleich aber werde es leidend aus dem Nichtleidenden. Es geschehe dies aber, ohne daß ein besonderes Wirken bewirke, daß es leidend werde, wenn z. B. eines bewirke, daß etwas warm werde. Es sei aber doch etwas anderes ein Erwärmtwerdendes und ein Warmwerdendes zu sein, denn jenes bedeute soviel als ein Warmgemachtwerdendes. So gelte der Satz, daß eben dadurch, daß es zu einem Warmen gemacht werde, es auch zu einem Warmgemachtwerdenden gemacht werde. Würde man nicht so urteilen, so käme man auch noch zu einem Warmgemachtwerdenden-gemachtwerdenden und so in infinitum. Indessen sei es nicht zu leugnen, daß, wie es nicht dasselbe sei Warmsein und Warmgemachtwerdensein, von zwei neuen Eigenheiten gesprochen werden könne. Indem die eine von ihnen gegeben wäre, sei die andere mit da. 4 Die Bemerkung ist interessant, doch scheint sie nicht ganz richtig. Der drohende processus in infinitum ist hier ähnlich wie bei der Wahrnehmung, wo zugleich wahrgenommen wird, daß man wahrnimmt. 5 Man kann nicht leugnen, daß hier ein dop-
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peltes Wahrnehmen sich findet, dessen eines Objekt vielleicht etwas Physisches, das andere etwas Psychisches sei. Dieses zweite Objekt ist aber der betreffende psychische Akt, welcher zugleich nach außen, zugleich nach innen, sich selbst, wahrnimmt. Ähnlich möchte ich nun hier sagen, es werde zwar wohl der Gegenstand zugleich warmgemacht und warmgemachtwerdend gemacht. Das eine sei ein die Wärme Erleiden, das andere ein das Erwärmtwerden Erleiden; aber beides geschehe in einem Prozeß des Erleidens, indem dieser zugleich auf die Wärme und das Warmgemachtwerden sich bezieht. Die Wärme mag dann fortbestehen, während das Warmgemachtwerden aufhört indem die Wärme allein sich dann doch weiter konserviert. Freilich spreche ich das von den neuen Fortschritten der Physik abstrahierend. Einen besseren Einblick können wir in die Sache bekommen, wenn wir einen [von den Fällen ins Auge fassen, wo wir innerlich das Gewirktwerden wahrnehmen, z. B. wenn wir einen] mathematischen Lehrsatz, wie etwa den des Pythagoras, beweisen. Wir erkennen ihn dann mit Evidenz aus den Prinzipien, die uns zugleich den Satz und das aus den Prinzipien Einleuchten des Satzes geben. Diese beiden Momente können wir recht wohl unterscheiden, denn das Urteil besteht dann vielleicht in uns fort oder erneut sich gedächtnismäßig, ohne daß seine Motiviertheit aus den Prämissen und darum auch, [ohne] daß seine Evidenz aus den Prämissen [fort]besteht. Allein wer nun auch noch zwischen einem Motiviertsein und Bestimmtsein zum Motiviertsein unterscheiden wollte, ja sagen wollte, das Motiviertsein könne auch noch fortbestehen ohne ein Bestimmtsein zum Motiviertsein, würde Absurdes und Lächerliches behaupten. Daß aber das Urteil fortbesteht, wenn die Prinzipien es nicht mehr motivieren, müssen wir uns daraus erklären, daß diese Prinzipien, indem sie in uns das Urteil erzeugen, zugleich damit (direkt oder indirekt) noch eine andere - in sich uns unbewußte Veränderung setzen, welche Aristoteles E~t~ oder oui3Ecn~ nennt, 6 und welche dann für sich das Urteil zu erhalten oder neu zu reproduzieren hilft, während sie den Charakter des Motiviertseins durch die Prämissen nicht zugleich damit gibt und auch selbstverständlich nicht geben kann. Nach dem Gesetz der Trägheit erhält sich die zunächst durch äußeren Impuls gegebene Bewegung in Richtung und Geschwin-
Zu Aristoteles' Lehre vom Wirken und Leiden
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digkeit offenbar auch infolge einer gleichzeitig empfangenen auiSecrt~. Doch mag dieselbe, wie das Bewegtsein, auch das Bewegtwerden in gleicher Weise erhalten. Man könnte mit dem Fall auch den des drohenden processus in infinitum in Vergleich bringen, wenn außer Form und Materie auch noch die Vereinigung von Form und Materie unterschieden wird. Doch zwischen Form und vereinigter Form besteht kein begrifflicher Unterschied und, was noch mehr sagt, die ganze Unterscheidung von Form und Materie betrifft nicht Dinge, sondern Fiktionen. Auch den Fall der Relation/ den Aristoteles ähnlich dem des Leidens behandelt, muß man vielmehr mit dem Werden des Kollektivs und zum Teil auch des Universale zusammenstellen. Das Kollektiv hat kein anderes Werden als das, was in der Summe des Werdens seiner Teile besteht. Diese Summe aber kann auf verschiedene Zeiten verteilt sein. Ähnliches gilt vom Werden einer Masse, die ja eigentlich ein ins Unendliche teilbares Kollektiv ist. Und ebenso vom Werden eines Akzidens, eines einfachen und mehrfachen. Denn auch dieses Werden setzt sich aus dem des Subjekts jeder akzidentellen Erweiterung desselben im Einzelnen zusammen. Nachtrag vom 25. 4. 1908 1. Vielleicht könnte einer auch sagen, bei allem was nicht durch sich notwendig ist, sei alle Realität als solche eine determinierte Realität. Das betreffende Determinierte, insofern es determiniert ist, sei mit dem betreffenden Reellen, insofern es reell ist, individuell eins. Im Falle des mit Evidenz Erschlossenen, aus den Prämissen einleuchtenden Urteils ändert das Urteil selbst als solches seine Individualität, wenn es sich dann als nichtevidentes infolge eines gewohnheitsmäßig begründeten Habitus fortsetzt oder erneuert. Auch die sogenannte Selbsterhaltung geschieht nicht ohne Determination des Späteren durch das Frühere, z. B. im Falle des Trägheitsgesetzes. 2. Von den Relationen ist die sogenannte psychische Beziehung zum Objekt kein Verhalten von einem Ding zu einem andern Ding; hier ist denn auch kein Zweifel, daß das in solcher
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Allgemeine Metaphysik
Weise Relative als solches bewirkt werde. Es ist nicht ein Relatives, welches ein sogenanntes Absolutes zum Fundament hätte. Es ist vielmehr selbst sozusagen sein Fundament. 3. Mill wundert sich darüber, daß Aristoteles Tun und Leiden nicht zu den Relationen rechnet. 8 Aber in der Tat kann das Leiden dasselbe sein, während die das Leiden erregende Ursache wechselt. Irgendein Wirkendes, aber nicht gerade dieses Wirkende, gehört dazu. Somit ist auch ein individuell Leidendes als solches in individueller Relation nicht gegeben, vielmehr nur gesichert, daß eine Relation bestehe. 4. Bei der Kontinuität ist etwas Ähnliches vorhanden, insofern die Grenze nichts für sich ist und wesentlich bestimmt ist durch das, was in der betreffenden Richtung mit ihr abschließt. Man kann auch aus ihr darum folgern, daß noch andere Grenzen sind, aber doch nicht so, daß die Existenz eines andern bestimmten Punktes durch sie gesichert wäre, und so scheint von einer Relation hier nicht zu reden. Das Wirkende und Leidende zusammen stellen natürlich eine Relation dar, bei welcher die Beziehung zu beiden Dingen und dem Kollektiv aus ihnen ganz so zu beurteilen ist wie bei den Relationen von Gleichheit und Verschiedenheit. Ähnliches gilt auch von der Relation, die vorliegt, wenn ein Ding ist und ein anderes es denkt. Von den aristotelischen Kategorien 3tcnc;, E~tc;, 1t6crov ist klar, daß sie ebenso wie die Relation eine Beziehung zum Kollektiv haben. Alle gehen auf den Ort zurück und von den Arten der Qualität gilt für die Figur dasselbe. 9 Beim Ort und auch bei der Zeit begegnet es Aristoteles, daß er das, woran gemessen wird, mit dem, was gemessen wird, in seltsamer Weise identifiziert. Es ist gewiß sehr sonderbar, daß die Ortsveränderung durch eine Einwirkung auf das Ding geschieht, während der Ort weit von ihm entfernt ist und ewig ruhen soll. Doch was für Fehler haben in bezug auf Ort und Zeit nicht auch andere begangen, wie z. B. Leibniz, wenn er hier an nichts als an Relatives glaubt. Was wir über die Zugehörigkeit des Determiniertseins zur mittelbar notwendigen Realität sagten, führt [in] konsequenter Folge auf die Lehre der spezifischen Differenzierung der Substanzen durch die transzendente Zeit, welche sich in jedem Mo-
Zu Aristoteles' Lehre vom Wirken und Leiden
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ment der in Gott selbst stetig fortschreitenden Veränderung entsprechend ändert. Doch ist damit noch nicht gesagt, daß die erhaltende Tätigkeit Gottes unmittelbar von ihnen gesetzt sein müsse. Er mag durch ein gleichzeitiges Reales vertreten werden. 10
28. N us und Pneuma
Zeller behauptet, daß das Pneuma »der unmittelbarste Träger der Seele« sei. 1 Dies ist falsch. Denn das Pneuma ist nach De Gen. An. II 3 im entwickelten Organismus nirgends als besonderes Organ zu finden. 2 Wenn es nun dennoch irgendwie darin enthalten ist, so doch nur ähnlich wie die Elemente in einer Mischung. Die Form der Mischung ist nun nicht die Form des Pneuma, das in der Mischung enthalten ist. Um so weniger kann die Form eines lebensfähigen Organismus als Ganzes, nach dem Gesagten aber nicht einmal einem Teile nach, Form des Pneumas sein. Somit ist klar, daß die Seele die ja als solche nur in einem Körper ist, insofern sie seine Form ist, nicht unmittelbar in einem Pneuma sein kann. Damit stimmt es, daß sie nicht in dem Samen ist, den man noch eher für Pneuma halten oder von dem man wenigstens meinen könnte, daß er Teile enthalte, die reines aristotelisches Pneuma seien. 3 Indes ist mir nicht einmal von diesem Samen wahrscheinlich, daß er nach Aristoteles wirklich wie ein besonderes Organ reines Pneuma enthalten soll. Vielmehr scheint die Anwesenheit des Pneuma in ihm nichts anderes zu bedeuten, als den Einfluß, welchen eine aus den niederen Elementen gebildete Masse mittelbar oder unmittelbar durch die Gestirne erfahren haben muß, um, sei es einer Seele teilhaft zu sein, sei es eine beseelende Wirkung ausüben zu können. Nicht um einen Teil eines ungleichteiligen Körpers, der reines Pneuma wäre, sondern um eine Differenz, welche dem aus niederen Elementen gebildeten durch die Modifikation von oben seiner substantiellen Natur nach zukommt, handelt es sich. Ein lebender Körper ist so gewiß in allen seinen Teilen unmittelbar mit der Seele verbunden, als er unmittelbar mit seiner ersten Entelechie, seiner substantiellen Form, verbunden ist, da ja diese nach der ausdrücklichsten Erklärung die Seele selbst ist. Keine Verbindung kann, sagt Aristoteles, inniger, keine Einheit mehr unmittelbar gegeben sein, als die zwischen Form und Materie. Es ist also falsch, daß das Pneuma unmittelbares, der Leib, der Pneuma in sich hat,
Nus und Pneuma
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mittelbares Subjekt der Seele sei. Dagegen ist es wahr, daß ohne eine Modifikation die elementaren Stoffe, welche dieselben über alle aus der Zusammenwirkung bloßer Elemente sich ergebenden Mischungen sozusagen pneumatisch erhebt, nicht eine Seele zur Form haben kann. Und so ist denn eine solche Teilnahme am Pneuma allerdings eine unentbehrliche Bedingung für jedes körperliche Lebewesen. 4
V. THEOLOGIE
29. Über die Theologie des Aristoteles: Polemische Bemerkungen gegen Zeller und Gomperz
I. Aristoteles ist wohl der glänzendste Name, welchen die Geschichte der Philosophie nicht bloß im Altertum, sondern bis in die modernste Zeit hinein kennt. So urteilt mit Trendelenburg noch Ranke in seinen Gesprächen mit dem Bayernkönig Max II., 1 und knüpft daran Betrachtungen über den geschichtlichen Verlauf der philosophischen Bestrebungen, im Vergleich mit dem mehr stetigen Fortschritt, der auf anderen Forschungsgebieten sich zeigt. An keine anderen der aristotelischen Schriften kann sich aber ein größeres Interesse knüpfen, als an jene, die er der Weisheit gewidmet hat. Ihre Betrachtungen waren es, die ihm selbst vor allem am Herzen lagen. Wenn er das theoretische Leben und seine Glückseligkeit hoch über die des praktischen stellt, so hat er ausdrücklich im besonderen diesen Teil der Erkenntnis im Auge. Bei ihr mahnt er uns zu verweilen, um als Sterbliche nach Möglichkeit das Leben der Unsterblichen zu führen. Kein Zweifel, daß er selbst nach dieser Überzeugung gelebt, und indem er sich gerade in diese Gedanken vertiefte, sich am meisten beseligt gefühlt hat. Wie sich hienach erwarten läßt, enthielt denn auch seine »Erste Philosophie« oder» Theologie« eine Weltanschauung, wie sie erhabener nicht wohl gedacht werden kann. Sie ist ein vollendeter Monotheismus, an welchen sich, ähnlich wie bei Leibniz, die Folgerung knüpft, daß die wirkliche Welt die bestmögliche sei. Nur Gott ist unmittelbar und schlechthin notwendig. Aber auch von allem andern ist nichts ohne jene Art von Notwendigkeit, die etwas zukommt, weil das Gute seinen Bestand fordert.
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Theologie
In bezugauf andere Ursachen mag etwas zufällig eintreten. In bezug auf das erste göttliche Prinzip gibt es einen Zufall nicht. Nicht auf die Mitwirkung anderer Kräfte, nicht auf einen unabhängig von ihm gegebenen Stoff war es angewiesen; unendlich vollkommen, wie es ist, gibt es allein allem das Dasein mit einer schöpferischen Allmacht und einer Vorsehung, die sich auf das Kleinste erstreckt. DieWelt zeigt sich als eine Einheit in größter Mannigfaltigkeit. Höheres und Niederes, Geistiges und Körperliches, Unvergängliches und Vergängliches, alldiese und andere Gegensätze finden sich in ihr; aber jedes ist zu demselben Ganzen als Teil künstlerisch geordnet. So steht denn auch unser Leben unter dem Einfluß einer göttlichen Führung. Es hat in bezugauf das, was in ihm das wertvollste ist, an der Unvergänglichkeit teil, und wenn uns das Jenseits in Dunkel gehüllt ist, so dürfen wir doch auch der ferneren Zukunft hoffnungsvoll entgegen blicken. So begreift man vollkommen, wie die fortgeschrittenste der Religionen, die christliche, sich innig mit dieser Philosophie befreunden konnte. Von jenem enthusiastischen Entzücken, dem ein Franziskus in seinem Sonnengesang Ausdruck gibt, mochte auch die Brust des Aristoteles sich beseligt gefühlt haben.
II. Doch nicht jeder, der die metaphysischen Abhandlungen des Aristoteles zum Gegenstand seines Studiums machte, ist auch nur so weit in ihr Verständnis eingedrungen, um die Lehre nach den wenigen hier angegebenen Zügen richtig zu erfassen. Sie bieten dem Leser Schwierigkeiten, die schon im Altertum auffällig empfunden worden sind. Manche meinten geradezu, Aristoteles hülle sich absichtlich in ein Dunkel, sei es, um sich, wo er sich nicht ganz sicher fühlte, einer verfolgenden Kritik zu entziehen, wie ein Tintenfisch, der das Wasser trübt, um sich den Nachstellungen zu verbergen, sei es, um sich und seinen esotherischen Freunden den ausschließlichen Besitz dieser höchsten intellektuellen Güter zu wahren, 2 ähnlich wie es von J esu.s heißt, daß er nur in Parabeln gesprochen, damit ihn die ferner Stehenden auch höhrend nicht verständen. Auf einen angeblich von
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Alexander dem Großen brieflich ihm gemachten Vorwurf, daß er durch Herausgabe seiner »Ersten Phiosophie« ihr Bestes zum Gemeingut gemacht habe, läßt einer, der sich des Philosophen Namen beilegt, ihn antworten: Alexander möge sich beruhigen, diese Bücher seien herausgegeben- und seien nicht herausgegeben, da doch niemand ihre rätselhafte Sprache verstehen werde. 3 Die Tatsache, daß die metaphysischen Schriften des Aristoteles nie von ihm selbst veröffentlicht worden sind, widerlegt genugsam dieses Märchen und weist uns zugleich auf die wahre Erklärung des Übelstandes hin. Sie liegt darin, daß Aristoteles die betreffenden Darstellungen nie eigentlich vollendet hat. Und so ist denn auch keineswegs jedem natürlichen Verlangen des Lesers Rechnung getragen. Was wir seit Andronikus von Rhodus unter dem Namen 'tU J.IZ'tU 'tU cpucrtxa besitzen, ist ein Konglomerat von Schriften von sehr verschiedenem Charakter. Das Buch A bietet sich für einen äußerst kurzen Überblick über das Ganze der metaphysischen Lehren. Mit jedem Wort wird gegeizt; der erkenntnistheoretische Teil ist ganz entfallen. Die Bücher M und N enthalten eine ausführliche Besprechung und Bekämpfung der platonischen Ideenlehre, die uns mehr in bezug aufPlaton, als in bezugauf Aristoteles von Wichtigkeit ist. Von den übrigen Büchern scheint das erste Buch am vollkommensten ausgeführt. Es scheint als Einleitung einer im großen Stil aufgebauten Metaphysik haben dienen zu sollen. Sein ganzer Charakter stimmt zu dem überwiegenden Interesse, das Aristoteles dieser Disziplin zugewandt hat. Eine Art Vorgeschichte dieser wichtigsten Forschung ist darin aufgenommen, welche die Stellung des Aristoteles selbst zu jedem früheren Philosophen in kritischen Bemerkungen zu erkennen gibt. Das Buch A Minor kann anerkanntermaßen nicht als Fortsetzung des ersten betrachtet werden. Es ist vielleicht nicht von Aristoteles selbst verfaßt und war jedenfalls nicht zur Aufnahme in das auszuführende große metaphysische Werk bestimmt. Das Buch B hat dazu näheren Bezug, doch hat es bei ihm fast den Anschein, als ob Aristoteles mehr mit sich zu Rate gehe, was für Fragen er in eine Metaphysik aufnehmen solle, als daß er sich bereits bemühe, sie, eine um die andere, in Angriff zu nehmen. Auch zeigt sich bei der darauf folgenden Untersuchung über die Prinzipien der Er-
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kenntnis etwas, was wir ein Sich Fortentwickeln des aristotelischen Gedankens nennen können, welches ursprünglich gefaßte Meinungen selbst berichtigt und vervollkommnet; denn, wenn Aristoteles ursprünglich das Mißtrauen gegen die W ahrnehmung überhaupt als skeptische Verirrung abzuweisen scheint, sehen wir ihn nachher sich einzig und allein auf die Behauptung, daß die innere Wahrnehmung volles unmittelbares Vertrauen verdiene, beschränken. Auch sonst fehlt manches an dem Charakter einer vollendet geordneten Lehre. Noch viel mehr wird dies in den folgenden Büchern sichtlich. Das Buch ll ist ganz einer Terminologie gewidmet. Es soll offenbar der Metaphysik ähnliche Dienste leisten wie die Definitionen, die z.B. Buklid gruppenweise zusammenstellt, dem Geometer. Es wird für gefährlich erachtet, der gewöhnlichen Sprache entnommene Ausdrücke ohne scharfe Bestimmung der Bedeutung zu lassen. Dies umsomehr, als sie oft vieldeutig sind. Der Geometer schließt solche Vieldeutigkeiten aus. Aristoteles hält es für untunlich, eine so tiefgreifende Reform durchzuführen, sucht aber die Vieldeutigkeit durch genaue Unterscheidung der einzelnen Bedeutungen unschädlich zu machen. Dabei aber zeigt sich in der Aufzählung keinerlei Ordnung und nichts, was darauf hinwiese, daß sie dem Bedürfnis, dem sie zu entsprechen bestimmt ist, voll genügte. Vielmehr hat alles den Charakter einer begonnenen und allmählich durch weitere und weitere Zutaten bereicherten Sammlung. Warum Buch ll gerade zwischen das Buch r und E eingefügt [ist], ist auch nicht zu erkennen, und ebensowenig ist die Ordnung von r, E und den folgenden bis zum Schluß vonKeine einheitlich festgehaltene. r beantwortet wohl die Frage nach dem Gegenstand der Metaphysik. Das Seiende im Allgemeinen wird als solches bezeichnet. Auch von der Unterscheidung von Substanz und Akzidens wird gesprochen, aber die Untersuchung über die mannigfache Bedeutung des Seienden, die Darlegung namentlich und Rechtfertigung der in bestimmter Zahl aufgestellten höchsten Gattungen wird vermißt. Das Buch I zwischen 9 und K ist auch nichts weniger als organisch eingegliedert und die Reihenfolge der Fragen überhaupt eine ziemlich willkürliche, weder der Ordnung, in welcher sie im Buch B berührt worden sind, noch etwa der der vier Bedeutungen der Ursache als Materie, Form, wirkender und
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Endursache entsprechend. Immerhin zeigt sich, wenn wir die Erörterungen mit der kurzen Skizze in Buch A vergleichen, ähnlich wie dort ein Übergang von der Betrachtung der inneren Prinzipien zu den äußeren. Besonders über die inneren Prinzipien, Materie und Form, wird vielerlei erörtert, dabei aber auch manches vorgebracht, was, wenn man es mit Ausführungen in gewissen vonAristoteles' naturphilosphischenSchriften vergleicht, ein unreiferes Stadium seiner Lehre zu verraten scheint. So wird im Buch Z von den Definitionen der Substanz gehandelt, ganz als wenn uns die eigentlichen spezifischen substantiellen Differenzen zugängig wären, 4 während im letzten Kapitel der Meteorologie das Gegenteil zugestanden und gelehrt wird, daß eigentümliche Akzidenzien undinsbesondereeigentümliche Tätigkeiten uns als Ersatz und Zeichen für sie gelten müßten, 5 so daß man an moderne Erörterungen, wie man ihnen bei Locke und Leibniz begegnet, erinnert wird. Die lebenden Substanzen, wird unter anderem gesagt, seien mehr als die anderen in ihrer besonderen Natur kenntlich, weil sie sich mehr in besonderen Tätigkeiten verrieten. 6 Von dieser so vorgeschrittenen Anschauung enthält Metaphysik Z noch kein Wort. Ja, gewisse Regeln, die dieses Buch für die Definition gibt, werden dadurch hinfällig. So weist alles uns darauf hin, daß wir es hier wie gesagt nicht bloß nicht mit einem von Aristoteles selbst herausgegebenen, sondern auch nicht zur Herausgabe fertiggeteilten Werk zu tun haben. Ja, offenbar müssen die metaphysischen Schriften, wenn sie nicht von Aristoteles selbst herausgegeben sind und vielfach unfertig erscheinen, deshalb noch nicht durchwegs als die im Vergleich zu herausgegebenen Schriften späteren Arbeiten des Philosophen angesehen werden, was ihnen eine gewisse höhere Autorität sichern würde. Vielmehr muß von ihnen gelten, was auch in neuerer Zeit von Arbeiten eines Autors gilt, zu denen er sich nicht durch Herausgabe förmlich bekannt und so erst für sie wisenschaftlich verantwortlich gemacht hat. Die von ihm selbst edierten Schriften müssen uns maßgebender sein. Allerdings ist es aber vielleicht erlaubt, von den metaphysischen Schriften des Aristoteles die beiden letzten, welche eine Polemik gegen die Ideenlehre enthalten, und wiederum das so sorgfältig ausgearbeitete erste Buch und vielleicht (trotz seiner Kürze und Sprunghaftigkeit) auch das Buch A als ein in der Redaktion vollendetes
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Werk zu betrachten, welches dem esoterischen Kreis der Schüler bereits zugängig gemacht worden war. Was für andere, war ja für eng verbundene Schüler und Freunde nicht ebenso rätselhaft und mißverständlich. Aus dem Gesagten begreift sich also die so allgemein beklagte Schwierigkeit recht wohl, auch wenn man nicht an ein absichtliches neidisches Vorenthalten der höchsten Lebensgüter bei demjenigen glaubt, welcher einen ähnlich von Dichtern den Göttern zugeschriebenen Neid als ihrer unwürdig verdammt hat.
III. Die Folgen dieser Schwierigkeit für das Werkverständnis zeigen sich schon im Altertum. Selbst unter denen, die sich als Peripatetiker bekannten, verstanden einige ihren Meister so wenig, daß sie seinen Gott keine Wirkung auf die Welt ausüben ließen, außer durch seine Tätigkeit als Beweger des obersten Himmels, wodurch dann natürlich die Zweckmäßigkeit in dem Aufbau des Himmels selbst und die schöne Ordnung des Ganzen unerklärlich würde. Simplicius berücksichtigt sie polemisch am Ende seines Kommentars zur Physik, indem er die Worte, welche der »wahrhaft übermenschliche Aristoteles« hier über die Gottheit gesprochen, gegen sie geltend macht. 7 Man sieht, daß dieser gelehrteste unter den antiken Kommentatoren selbst allerdings weit davon entfernt war, eine solche Auffassung für berechtigt zu halten, und so fühlten sich überhaupt (ich werde alsbald darauf zurückkommen) die bedeutenderen antiken Peripatetiker, insbesondere auch Alexander von Aphrodisias, welcher den Namen des Exegeten mit Auszeichnung führt, nicht versucht, die Lehre in ähnlicher Art zu mißdeuten. Auch von den mittelalterlichen Aristotelikern verfielen manche hinsichtlich der metaphysischen Lehren des Aristoteles in gröbliche Irrtümer. So unter den Arabern, weniger zwar in Syrien der größere Ibn Sina (Avicenna), als in Spanien Ibn Roschd, der im christlichen Abendlande vor allem einflußreich gewordene A verroes, der die Providenz des aristotelischen Gottes auf das Allgemeine beschränkt sein ließ. Doch wieder gilt, daß
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die allerbedeutendsten mittelalterlichen Kommentatoren, und namentlich Thomas von Aquin, mit ihrer mehr kongenialen Kraft nicht ähnlichen Mißverständnissen verfallen sind. Thomas nennt Averroes treffend: »non tarn peripateticus quam peripateticae philosphiae depravator.« 8 Doch was in jenen älteren Zeiten verhütet worden ist, droht in der modernen Zeit einzutreten. Gleich zu Beginn sehen wir Ramus, der in der Logik aufs energischste die aristotelische Lehre bekämpfte, seine Angriffe auch auf dessen Theologie richten, indem er behauptet, Aristoteles leugne alle göttliche V orsehung und lasse sein höchstes Wesen in seiner Erkenntnis und Liebe ganz auf sich selbst beschränkt sein. Seinem Einfluß scheint es zuzuschreiben, daß Leibniz, dem seine Vielgeschäftigkeit sein eigenes gründlicheres Studium des Aristoteles nicht gestattete, von der aristotelischen Gotteslehre, die, richtig verstanden, ihm vor allen hätte sympathisch sein müssen, die traurigste Vorstellung hat. Von Späteren hat in Frankreich besonders Jules Sirnon dieselbe Auffassung wie Ramus energisch vertreten, 9 und nicht bloß unter seinen Landsleuten stimmten und stimmen viele ihm bei, sondern auch unsere deutsche, als so gründlich gerühmte Forschung ist hier auf dieselben Abwege geraten. Es ist wahr, daß Trendelenburg, der philosophischste Kopf unter den deutschen Interpreten des Aristoteles, sich von dem Irrtum freihielt. Aber seine Stimme ist mehr und mehr fast wirkungslos verhallt, nachdem Schwegler, Bonitz und andere namhafte kritische Autoritäten, und insbesondere Zeller, sich einmütig dahin ausgesprochen, daß Aristoteles zur Erklärung der Weltordnung zwar einen Verstand angenommen habe, aber ohne diesen auch nur das mindeste von der Ordnung, die auf ihn als Prinzip zurückgeführt wird, erkennen und vorsehen zu lassen. So soll der aristotelische Gott denn auch nicht schöpferisch allmächtig tätig sein, sondern nur von einer Welt, die von ihm keine Kenntnis hat, geliebt und als Zweck erstrebt werden.
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IV. Nachdem die Absurdität dieser Lehre, zu der wie kein Aristoteles, so gewiß auch kein anderer Denker vor oder nach ihm jemals sich zu bekennen versucht war, nicht hingereicht hat, die Interpreten vor solchen Wahnideen zu schützen, habe ich vor nun mehr als 40 Jahren den Nachweis erbracht, wie diese groteske Anschauung durch den Geist des ganzen Systems nicht bloß, sondern auch durch die ausdrücklichsten Bestimmungen des Philosophen sich widerlegt. *·10 Es ist leichter, meint Pascal, etwas beweisen, als einen zur Annahme des Beweises zu bestimmen. Das erste glaubte ich und glauche ich noch jetzt, in bezug auf die von Zeller vertretenen Irrtümer getan zu haben. Das letztere aber, wenigstens was die Person meines Gegners anlangt, zu erreichen, erkannte ich mich als völlig unfahig.u Hatte ich ihn zu dem Bekenntnis getrieben, daß dem aristotelischen Gott ein Wirken zukomme, so erklärte er, das habe er ja nie geleugnet, nur in Abrede gestellt, daß er unmittelbar auf die Welt wirke. Und frug ich dann, ob er denn meine, daß Gott gar nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar wirke, oder daß er zwar auch unmittelbar wirke, aber auf etwas anderes als die Welt, so bekam ich schlechterdings keine Antwort. Hatte er geleugnet, daß es nach Aristoteles ein Leiden gäbe, das keine Alteration sei, und wies ich ihm die entgegengesetzte Lehre bei Aristoteles auf, so gewann er es doch nicht über sich, seine These zurückzunehmen, und sprach von allem anderen, nur *Eine andere Version der sieben Absätze »Es ist leichter ... finden« lautet: Zeller reagierte, und es kam zu einer literarischen Kontroverse, die aber von mir in einem Moment, wo ich schon eine neue Publikation in Aussicht gestellt hatte, jählings abgebrochen worden ist. Warum ich dies getan, dafür wird jeder, der in die Art und Weise, wie die Polemik von Seite des Gegners geführt wurde, Einblick nimmt, keine weitere Erklärung verlangen. Dennoch hat die kurze Fehde Aufmerksamkeit erregt, und auf andere Schriftsteller einen Einfluß geübt, der sich insbesondere bei dreien, Rolfes, Elser und Gomperz, und bei jedem in eigentümlich anderer Weise, erkennen läßt. Rolfes erscheint von mir überzeugt; Elser meint, das Recht verteile sich zwischen mir und meinem Gegner, indem
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nicht mehr von dieser Sache. Hatte er mit vorgeworden, daß ich den voü~ ÖUVUJ.18t im Unterschied von dem voü~ 7t!l3TJtUc6~ erfunden habe, und hatte ich ihm darauf gezeigt, daß diese selbe Lehre schon vor Jahren und Jahrhunderten so viele Vertreter hatte, daß Julius Pacius sagen konnte, die Interpreten entschieden sich fast alle dafür, daß der voü~ ÖUVUJ.18t für ein anderes Vermögen als der voü~ 7t!l3TJtuc6~ zu nehmen sei, so erwiderte er, er habe nicht gesagt, daß der voü~ ÖUVUJ.18t von mir erfunden worden sei, sondern der aufnehmende voü~. zu dem ich ihn verwandle. Tatsächlich aber gebraucht Aristoteles selbst die beiden Ausdrücke voü~ ÖUVUJ.18t xai ÖeKtucov toü eiöou~. 12 Ja, wenn ich mich darüber beschwerte, daß er, wo er die Vertreter meiner Interpretation aufzählte, nur Brandis einigermaßen mir überließ, aber den Namen des scharfsinnigen Trendelenburg schlechterdings in der Liste unterdrückte, so konnte ich ihn auch hier nicht dazu bringen, die so bedeutende Lücke nachträglich wenigstens berichtigend auszufüllen. Zugleich aber zeigte er sich so empfindlich, daß er, wenn ich einmal mit vollster Entschiedenheit sprach, das wie eine Anmaßung hinstellen wollte. Aus einem Aufsatz von mehr als 30 enggedruckten Seiten stellte er alle in solcher Weise zuversichtlich klingenden Ausdrücke in unverkennbarer Absicht zusammen, den Schein solcher Anmaßung auf mich zu werfen, und als ich mich auch hierüber befremdet zeigte, antwortete er höhnisch, er habe nichts als meine Ausdrücke wiederholt; wenn ich nun fände, daß ich infolge ihrer anmaßend erscheine, so sei das meine Sache. Und doch verschärfte er den so unverdienten Vorwurf, indem er hinzufügte: er habe sich gar nicht schonach ihm einige Stellen klar für mich, andere klar für Zeller entschieden. Gomperz endlich, obwohl er ebenso wie Elser verschiedene Stellen miteinander in Widerspruch finden will, entscheidet sich dennoch ganz für Zeller und tut dies, indem er sich eine methodische Regel erdenkt, nach welcher man erst feststellen müsse, ob eine gewisse Äußerung des Aristoteles wirklich ins Gewicht falle oder nicht. Drei Klassen von Aussprüchen, bei welchen die Entscheidung verneinend lautet, werden namhaft gemacht; und nachdem diese alle ausgeschieden sind, sollen nur solche übrig bleiben, welche einmütig und klar für die Zeller'sche Auffassung, die mit der von Ramus und Jules Sirnon identisch ist, sprechen.
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nender ausdrücken können, wenn er nicht den Schein erwecken wollte, daß er ein gewisses Benehmen ihm gegenüber für in der Ordnung halte. Unter solchen Umständen hätte ich in der Tat meiner Würde etwas zu vergeben geglaubt, wenn ich die Polemik mit Zeller noch weiter fortgesetzt hätte, und ich handelte, indem ich sie abbrach, ganz nach den Grundsätzen, welche Zeller selbst in der Zeitschrift fiir philosophische Kritik von Ulrici veröffentlichten Abhandlung befolgt. Auch er meint dort, ein Gegner, der sich so benehme, sei keines weiteren Wortes zu würdigen. Da ich, zufällig in diese Abhandlung blickend, auf die Bemerkung stieß, gab dies vollends den Ausschlag. Ob freilich die Rücksicht auf das Publikum nicht dennoch anderes erheischt hätte, darüber kamen mit später Bedenken, als ich sah, wie viele noch immer die Irrtümer Zellers zu wiederholen geneigt sind. Nun ist der arbeitsame Forscher uns durch den Tod entrissen, und so könnte einer der Meinung sein, es sei jetzt erst recht nicht mehr am Platze, die abgebrochene Erörterung wieder aufzunehmen. Das sehe ja aus, als habe man nicht den Mut gehabt, dem noch Lebenden entgegenzutreten. Allein die Ansichten von Zeller sind nicht mit ihm zu Grabe getragen; mehr als ein Forscher bekennt sich noch heute vollständig oder doch annähernd zu ihnen. So in allerjüngster Zeit wieder in extremer Weise Theodor Gomperz, 13 während Elser in einer Schrift Vom Wirken des Aristotelischen Gottes, 14 von Zeller beeinflußt, eine eigentümliche Zwitterstellung zwischen ihm und mir einnehmen zu müssen glaubt. So wird seine Sache nicht ohne Verteidiger sein; nur daß ich diesen gegenüber vielleicht mehr hoffen darf, auch die Annahme und das Zugeständnis des Erwiesenen zu erwirken, zumal ich von dem einen wie anderen den Wunsch ausgesprochen erhielt, ich möge doch zu einer öffentlichen Kritik mich bereit finden.
V. Die Arbeiten von Rolfes 15 kann jeder mit Nutzen vergleichen; er hat unter anderem auch die Frage über die Präexistenz des
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menschlichen Nus, als ich schwieg, in meinem Sinne neu besprochen. So ist mir hier ähnliches wie einst Cervantes begegnet, als er die Welt zu lang auf den zweiten Band des Don Quichote warten ließ; aber ich habe keineswegs Grund, ähnlich wie dieser unwillig zu sein; vielmehr finde ich die Abhandlung alles in allem vortrefflich; Differenzen im einzelnen werde ich später mit einem Worte berühren. Auch in der Abhandlung von Elser sind manche Erörterungen in überzeugneder Weise geführt. Doch kann ich dies nur für solche zugeben, bei welchen er zu dem Schlusse gelangt, daß, an einer gewissen Stelle wenigstens, Aristoteles mit aller Entschiedenheit in meinem Sinne sich äußert; nicht für jene, von denen er meint, daß sie ebenso entschieden für Zeller sprächen. Elser zeigt dabei eine freundliche Gesinnung nach beiden Seiten, indem er sich freut, zu einem Ergebnis gelangt zu sein, welches ihn keine der beiden Parteien ganz zu verurteilen nötige. Allein, wenn Zeller und ich dabei glimpflich behandelt werden sollen, so geschieht dies offenbar auf Kosten des großen Denkers, um dessen Verständnis wir beide Zeit und Mühe aufgewendet hatten. Er soll nicht bloß vielfach absichtlich seine Lehre unverständlich vorgetragen, sondern auch fort und fort in bezug auf das Allerwichtigste seinen Standpunkt wechseln, und aufs Unverkennbarste sich widersprechen. Wir haben es hier mit etwas innerlich so Unwahrscheinlichem zu tun, daß es geradezu unglaublich ist. Man bedenke nur, daß es sich um die Fragen handelt, die Aristoteles vor allen am Herzen lagen, um die Betrachtungen, bei denen er am liebsten verweilte, um die Erkenntnisse, in denen er seine höchste Seligkeit zu besitzen glaubte! Da vor allem mußten ja doch seine Überzeugungen am tiefsten wurzeln, und ein leichtsinniges Hin- und Herfackeln der Gedanken war mehr als sonst irgendwo ausgeschlossen. Gewiß ist es auch manchem anderen großen Philosophen begegnet, daß ein Widerspruch in seine Lehre sich einschlich; aber immer war dieser doch einigermaßen verschleiert. Hier dagegen würde er oft so vor Augen liegen, daß ohne jede Beimischung eines anderen Gedankens ganz dasselbebehauptet und geleugnet erschiene. Dies gelte für keine geringere Frage als die, ob Gott nur sich, oder auch die Welt erkenne; ob es von seiner Vollkommen-
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heit gefordert oder ausgeschlossen sei, daß er insbesondere auch von dem Schlechten Kenntnis habe; ob ihm, wie Erkennen auch Wollen zukomme oder nicht; ob er rein kontemplativ oder auch wirkend tätig sei; ob unser Leben unter dem Einfluß seiner Vorsehung stehe oder unser Schicksal soweit nicht von uns selbst, nur von den blind waltenden Kräften bedingt werde.
VI. Unter solchen Umständen würde man sich dann allerdings gedrängt fühlen, mit Gomperz eine Methode zu erdenken, wonach wir den einen Teil der aristotelischen Äußerungen nicht ebenso wie den andern als den Ausdruck seiner wahren Meinung zu nehmen hätten. Sehen wir uns darum seine methodischen Regeln etwas näher an, und suchen wir sie dann in der Anwendung auf das eine oder andere Beispiel zu erproben. Die erste lautet: ))Den Lehrschriften gebührt im Fall eines Konflikts jederzeit der Vorzug vor den populären, eben darum volkstümlichen Meinungen sich mehrfach anbequemenden, überdies uns nur in fragmentarischen Überresten und ohne Angabe der Personenverteilung erhaltenen Dialogen.« 16 Diese Regel mag anstandslos gelten; weniger vielleicht wegen der angeführten Gründe, als, weil die Dialoge aus Aristoteles' jungen Jahren stammen, in welchen er noch vielfach von Platon abhängig war. Meinen Ausführungen gegenüber hat sie aber nicht die geringste berichtigende Kraft, indem ich, niemals auf die fragmentarisch erhaltenen Dialoge mich berufend, mich praktisch ganz an sie gehalten habe. Sie könnte also höchstens gegenüber Zeller verwendet werden, der in seiner Schrift ))Über die Ewigkeit des Geistes nach Aristoteles« 17 die Dialoge irgendwie sich nutzbar zu machen versucht. Doch auch er würde dem, was Gomperz hier sagt, nicht entgegen sein. Vielmehr gibt die zweite Regel zu Bedenken Anlaß. Gomperz sagt: ))Innerhalb der Lehrschriften müssen wir zwischen den systematischen, ein Thema geflissentlich behandelnden Erörterungen und gelegentlichen, in einen anderen Zusammenhang einge-
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streuten und gar leicht durch diesen modifizierten Anspielungen und Äußerungen sorgfältig unterscheiden.«*·18 Hier ist die Weise der Fassung etwas befremdlich. Es werden in Gegensatz gebracht die systematischen Erörterungen, welche ein Thema geflissentlich behandeln, und Äußerungen, welche gelegentlich in einen anderen Zusammenhang eingestreut und gar leicht durch diesen modifiziert sind. Ich denke, es muß anerkannt werden, daß auch da, wo eine Frage systematisch behandelt wird, der Zusammenhang nicht außer acht gelassen werden darf. Aus ihm herausgerissen, wird kein Ausspruch eine genügend sichere Deutung zulassen; ja, der Zusammenhang, dessen Beachtung ich in jedem Falle für geboten halte, geht weiter als auf die unmittelbar vorher und nachher gegebenen Worte. Man muß bei Aristoteles oft den Zusammenhang seiner ganzen Lehre im Auge behalten, um vor den größten Mißverständnissen in bezugauf einzelne Aussprüche bewahrt zu bleiben. Das ist, was ich selbst immer aufs nachdrücklichste hervorhob, was aber von Seite unserer modernen Interpreten, wie insbesondere auch von Zeller, allzusehr versäumt worden ist; und es hat auch dies darin seinen Grund, daß sie nicht genügend davon überzeugt sind, daß das Denken des Aristoteles so viel und auch wohl noch etwas mehr Zusammenhang gehabt habe, als das anderer und ungleich minder bedeutender Menschen. Halten wir nun aber an der Forderung, daß auf den Zusammenhang zu achten sei, allgemein für die systematisch behandelten, wie für die gelegentlich berührten Lehrsätze fest, um hier wie dort Mißverständnisse auszuschließen, so bleibt die Frage, ob der Umstand, daß die eine Äußerung nur gelegentlich gemacht
* Anmerkung zur zweiten Regel von Gomperz: Gerade in bezug auf die höchsten Lehren finden wir oft Einzelbemerkungen eingestreut, selbst ehe sie noch systematisch behandelt sind, und diese immer in vollem Einklang mit der systematisch behandelten Stelle, so z. B. über die Geistigkeit des voiic; gleich im ersten Kapitel von der Seele, und noch sonst im ersten Buch von der Seele, während sie doch erst begründet wird im dritten Buch. Und ebenso. wird sie im XII. Buch von der Metaphysik plötzlich berührt. Ganz ähnlich sind nun auch die Aussprüche über Gott überall eingestreut: De Anima in auffälligster Weise im II. Buch, 5., 6. und 7. Kapitel. In der Physik z. B. am Schluß, De Coe/o mehrfach, DeGen. et Corr. (Auch in der Topik, Ethik, Politik wird Gott erwähnt.)
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ist, die andere etwas sagt, was hier zu systematischer Behandlung kommt, uns ein Recht gibt, die erstere für einen relativ unzuverlässigen Ausdruck der wahren Überzeugung des Philosophen gelten zu lassen. Ein Mathematiker beweist nicht immer den Pythagoreischen Lehrsatz, wenn er ihn irgendwo zur Anwendung bringt, und ebensowenig ein Physiker das Gesetz der Trägheit. Niemals aber kommt es vor, daß jener statt des Pythagoreischen Lehrsatzes, oder dieser statt des Gesetzes der Trägheit sein kontradiktorisches Gegenteil behauptet und zu einer Beweisführung verwendet. Es wäre eine unglaubliche Verkehrtheit, wenn ein Schriftseiler sich solches erlaubte. Und zunächst werden wir also auch Aristoteles sie nicht zutrauen können, und seine gelegentlich gemachten Äußerungen, wenn nach Berücksichtigung des Zusammenhanges der Sinn unzweifelhaft ist, gerade so ernst nehmen, wie jene, die etwas aussprechen, wo es .rystematisch erörtert wird. Ja, sollte eine Stelle, welche dies tut, etwas zu behaupten scheinen, was zu der unzweideutigen gelegentlichen Bemerkung in schroffem Gegensatze steht, so werden wir uns aufgefordert sehen, sie aufs Vorsichtigste zu prüfen, ob nicht außer dem Sinn, den sie uns zunächst zu haben scheint, ein anderer Sinn möglich sei, welcher jenen Widerstreit verschwinden lassen würde, und dies um so mehr, wenn der ihrem scheinbaren Sinn widersprechenden gelegentlichen Äußerungen nicht bloß eine, sondern viele sind, ja wenn sie überall und in den verschiedensten Schriften, unter einander einig, gleichmäßig wiederkehren, während schier keine einzige Stelle sich findet, welche von der angeblich systematisch dargelegten Lehre auch nur scheinbar eine Anwendung zeigt. Mit solchen gehäuften gelegentlichen Äußerungen haben wir es aber gerade in bezugauf jene Lehren zu tun, um deren Verständnis es sich in unserem Fall handelt. Die Bedeutung dieser Kritik der zweiten Regel von Gomperz wird sich uns im folgenden genugsam erweisen, indem ich zu zeigen hoffe, wie gewisse, wie man hervorhebt systematisch behandelnde Stellen, von den Modernen aufs gründlichste mißverstanden worden sind, indem sie vorschnell ihnen eine dem Geist des ganzen Systems widersprechende Deutung gaben, und andere gleich mögliche, oder vielmehr für den, welcher den
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Philosophen philosophisch zu würdigen weiß, von vornherein naheliegende, außer acht ließen. Ein Beispiel der kühnen Anwendung, welche Gomperz von seiner Regel zu machen hätte, und unverkennbar innerlich gemacht hat, bietet Topik IV, 5, 19 wo die ausdrückliche Behauptung, der Gott könne das Schlechte tun, sei aber darum noch nicht schlecht, und darum sei das Vermögen Schlechtes zu tun offenbar nicht selbst etwas Schlechtes; vielmehr sei jede Macht etwas zu vollbringen an und für sich gut,- einfach nicht ernst zu nehmen wäre, weil Aristoteles an dieser Stelle von dem Gott nicht beweist, was er von ihm behauptet; und ein anderes De Gen. et Corr. 11,2° wo von dem Gott gesagt wird, er suche den Dingen überall die ihrer Natur nach möglichst große Vollkommenheit zu geben, und ersetze darum denjenigen, welche im Gegensatz zu den höchsten Wesen, die von ihm ewiges Sein empfangen, eines immerwährenden Seins nicht fähig seien, dasselbe durch ein immerwährendes Werden. Auch hier soll der Ausspruch, weil er nur in einer naturwissenschaftlichen Schrift die Theologie berührt, nicht als wahrhaft dem Sinn des Aristoteles entsprechend genommen werden. 21 Es ist gewiß nicht zu verwundern, wenn keiner der antiken Ausleger auf den Einfall gekommen ist, diese Worte ähnlich in ihrer Bedeutung herabzusetzen. Gomperz hätte aber besser getan, mit solchen Stellen seine Regeln in ihrer Anwendung zu illustrieren, als mit dem Hinweis auf Rhet. II, 23, wenn er sagt: »Zu welchen Ungeheuerlichkeiten diese Unmethode verführen kann, das mag wenigstens ein eben dem theologischen Gebiet entlehntes Beispiel lehren. Zum Erweis der Behauptung, daß Aristoteles seiner Gottheit nicht jedes Tun und Wirken abspreche, ist auf einen Satz aus der Rhetorik verwiesen worden, der da lautet: »Das Dämonische ist entweder eine Gottheit oder das Werk einer Gottheit; wer auch nur ein solches annimmt, der setzt damit notwendig das Dasein von Göttern (man beachte auch die Vielzahl) voraus.«* Das ist einfach die gekürzte Wie-
* In dieser Zwischenbemerkung liegt eigentlich noch eine neue Regel; die Stellen, wo Aristoteles nicht von »dem Gott« in Singular, sondern von »Göttern>Gott>Musiker« zu der Bestimmung Koriskus nicht. Koriskus ist darum nur per accidens Musiker. Wohl aber besteht sie zwischen der Natur des Menschen und seiner Vernunftbegabung. Und so ist denn der Mensch per se nicht bloß Mensch, sondern auch vernunftbegabt, und der vernunftbegabte Mensch kein ens per accidens, wie der Musiker Koriskus. Sollte nun, wo immer ein Wirken statt hat, zugleich auch ein anderes Wirken statthaben müssen, so daß immer und notwendig dasselbe Gesamtresultat sich ergäbe, so würden wir doch dementsprechend nicht von einem Gewirktwerden per accidens, sondern immer noch von einem Gewirktwerden per se zu reden haben. Und dasselbe wird dann der Fall sein, wenn es ein einheitliches Prinzip ist von welchem in einem besonderen Fall die beiden Wirkungen gleichmäßig ausgehen. Das gemeinsame Prinzip ist für sie in dem Fall das einigende und relativ notwendig machende Band. Also z. B. auf den Fall der Kugel angewandt, welche zugleich der Einwirkungzweier Stöße unterliegt, haben wirnicht mehr vom zufalligen Entstehen jener Bewegung in mittlerer Richtung zu sprechen, wenn ein Mechaniker in einheitlicher Absicht die Einrichtung getroffen hat, wonach die Kugel zugleich jene zwei Stöße von verschiedener Seite erhält. Genau genommen können wir hier unterscheiden und sagen, die Entstehung jener Bewegung von mittlerer Richtung war in bezug auf jede nächstbeteiligte Ursache mit Abstraktion von der entfernteren, zufallig; mit Bezugnahme aber auf die entferntere Ursache, wel-
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ehe die beiden Ursachen in Verbindung brachte, nicht zufällig, sondern erscheint hier als per se verursacht. Auf den Himmel und die ganze Welt angewandt, würde, wenn einer behauptete, sie seien durch Zufall, dies hiernach nichts anderes sagen als, sie hätten keine eigentlichen Ursachen, sondern sie seien nur infolge von natürlichen, oder Verstandestätigkeiten, welche auf etwas ganz anderes gerichtet seien. Das aber, sagt die Stelle in der PI?Jsik, welche den ganzen Gedanken des Aristoteles vollständig darlegt, ist wegen der Vollkommenheit und Schönheit des Kosmos und der einheitlichen Ordnung, die er zeigt, jedenfalls nicht genügend. Auch der Kosmos als solcher muß vielleicht mehr eine wahre, eigentliche Ursache haben, und wenn auch in unmittelbarer Wirkung eine Vielheit von Ursachen bei seinem Aufbau beteiligt wäre, von denen die eine diesen, die andere jenen Teil hervorbrächte, oder bei sich kreuzenden Tendenzen keine das erreichte, worauf ihr Wirken per se gerichtet wäre, müßte jedenfalls diesen noch eine andere Ursache per se vorangehen, deren Ziel in dem Aufbau des wohlgeordneten und mit höchster Schönheit geschmückten Weltganzen zu Tage liegt. 35 Wir sehen, daß von jener Konfusion einer »Ordnung in unseren Begriffen« und einer »realen Ordnung« (wie Gomperz sie hier in Aristoteles finden will) nicht das Mindeste zu verspüren ist; vielmehr ist der Satz, daß Zufall und Glück nur per accidens Ursache seien, und darum im eigentlichen Sinne keine Ursachen seien, in dem uneigentlichen Sinne aber, in welchem sie Ursachen genannt werden, später Ursache seien als die Ursachen per se (Natur und Verstand), nichts als die konsequente Geltendmachung dessen, was er über ens per se und ens per accidens gelehrt hat. Auch sehen wir, in welch bedeutungsvoller Weise der Gedanke an die schöne Weltordnung, von welchem Aristoteles durchdrungen ist, für die Beweisführung mit maßgebend wird. Jedes Wirken per se findet statt nach dem Gesetzte der Synorrymie, und dies in mehrfacher Weise. Erstens beim natürlichen Werden, wie wenn ein Mensch den anderen Menschen erzeugt, wo das wirkende Prinzip mit dem, was dadurch bewirkt wird, unter denselben Artbegriff fällt. Zweitens, beim Werden durch Kunst, wie wenn ein Arzt einen Kranken gesund macht, wo er den Begriff der Gesundheit, den er als allgemeinen im Verstande
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hat, in dem Patienten realisiert. Auch wenn der Arzt einem die Gesundheit raubt, bedient er sich desselben Begriffs der Gesundheit, nicht als ob Gesundheit und Krankheit selbst dasselbe wären, vielmehr weil mit der Erkenntnis des Positiven immer auch die seines negativen Gegensatzes gegeben ist. Es gehört nun aber zu den Fällen des per se - Werdens entschieden auch der Fall, wo das Weltganze aus dem göttlichen Prinzip entspringt. Somit muß auch hier das Gesetz der Synonymie gewahrt sein. Mit anderen Worten, es muß Gott gewissermaßen das Weltganze sein, das aus ihm hervorgeht. Wie nun aber dies? Ist er selbst ein Weltganzes vor dem Weltganzen, wie das den Menschen erzeugende Prinzip ein Mensch vor dem Menschen? Oder ist das Weltganze sein Objekt, wie die Gesundheit für den Arzt, der sie hervorbringt? Oder ist etwa ein Gegensatz zum Weltganzen sein Objekt, (welcher aber dann, da die Weltordnung Aristoteles für die bestmögliche gilt, jedenfalls unvollkommener als die Welt sein würde; denn Gegensätze haben die Möglichkeit gemeinsam). Weder das eine noch das andere erscheint zutreffend. Was also ist in Gott, infelgendessen wir auch bei ihm als erster Ursache der Welt das Gesetz der Synonymie gewahrt sehen? Diese Frage ist es, auf welche Aristoteles am Schlusse des 4. Kapitels im XII. Buch der Metapl!Jsik hinweist, 36 und aufwelche uns die folgenden, vielfach so traurig mißverstandenen Kapitel, namentlich das Kapitel 9 und 10 dieses Buches eine Antwort geben. Im 6. Kapitel des III. Buches von der Seele hatte er sie schon in äußerster Kürze antizipiert. Sie besteht darin, daß Gott gewissermaßen das Weltganze ist, insofern er nicht dieses, sondern sich selbst zum Objekt hat. Ein drittes Beispiel könnte man Metaph. A, 10 gegeben glauben, wo es bei Anaxagoras als inkonsequent getadelt wird, daß er fürseinengöttlichen voüc; keinen Gegensatz aufstellt. Auristoteles scheint ihm hier zum Vorwurf zu machen, was er doch selbst ganz ebenso lehrt, also in auffälligster Weise jenen Übereifer zu zeigen, von dem Gomperz uns erzählt. Allein, das tiefere V erständnis der aristotelischen Lehre erklärt alles. Aristoteles hat den göttlichen voüc; nicht bloß als Ordner, sondern auch als Schöpfer der Welt gedacht; Anaxagoras hat dies nicht getan,
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vielmehr seinem Gott eine chaotische Mischung aller Elemente, die dann durch das Eingreifen des Gottes voneinander geschieden werden, als Objekt gegenübergestellt. Wer hätte nun aber die Elemente in diesen Mischzustand gebracht, dem der seinen Plan in weiterem und weiterem Umfang realisierende Gott ein Ende macht? Wollte einer wie in ähnlichem Fall Demokrit antworten, »Die Mischung war von Ewigkeit, und bei Ewigem hat man nach dem Grund nicht zu fragen«, so könnte dies nach aristotelischen Grundsätzen nicht genügen; es bedarf vielmehr dafür eines erklärenden Prinzips, und dieses muß natürlich dann dem göttlichen voüc; entgegengesetzt gedacht werden. Es muß ein Prinzip der Mischung, wie der anaxagoreische Gott ein Prinzip der Sonderung sein. Ein solches dürfte also bei Anaxagoras so wenig wie bei Empedokles fehlen. Man sieht, nur weil man nicht genug erwog, ja vielleicht gar nicht erkannte, daß nach Aristoteles Gott das einzige Prinzip aller Dinge, und ihre Ursache auch der Substanz nach ist, mit anderen Worten, daß er nicht bloß Ordner von etwas Vorgefundenem, sondern Schöpfer ist, war man unfähig, den Sinn sowohl als die volle Berechtigung der Kritik, die Aristoteles hier an Anaxagoras übt, zu begreifen. Was also bei dem aristotelischen voüc; als dem einzigen und vollständigen Prinzip alles Seienden nicht am Platze war, mußte bei Anaxagoras schlechterdings gefordert erscheinen, und so sehen wir denn auch hier der Anklage jedes Recht entzogen. Durch solche und ähnliche Stellen mag aber Gomperz, der sie nicht verstand, zu einer ungerechten Beschuldigung geführt worden sein, und man muß ihm dann das Zeugnis geben, daß seine Irrtümer ebenso konsequent miteinander im Zusammenhang stehen, wie die Lehren des Aristoteles es tun, wo er ihre Konsequenz vermißt. Aber noch mehr; nicht bloß die Voraussetzung der dritten Regel besteht nicht in Wahrheit, sondern, wenn wir sie gelten ließen, so erwiese sie sich noch immer zu der Anwendung auf die Fälle, denen Gomperz dadurch gerecht werden will, als durchaus unanwendbar. Er müßte nämlich selbst für solche Fälle von ihr Gebrauch zu machen wagen, wie da, wo Aristoteles Empedokles in lächerlicher Weise ad absurdum geführt zu haben glaubt, weil es in der Konsequenz seiner Lehre liege, daß sein allerglückselig-
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ster Gott, in der Erkenntnis auf sich selbst beschränkt, allein von dem traurigen Streit keine Kenntnis hätte, 37 und wieder auch für jene andere Stelle aus der Nichomachischen Ethik, wo Aristoteles den dem theoretischen Leben Ergebenen eine besonders liebevolle Fürsorge Gottes in Aussicht stellt. 38 Allein nichts ist sichtlicher, als daß weder da noch dort sein Auskunftsmittel sich bewährt. Denn die Stelle gegen Empedokles begegnet uns zweimal, das eine Mal zwar inmitten einer Anhäufung von anderen Argumenten, das andere Mal aber so, daß Aristoteles sich einzig und allein auf dieses Argument stützt, ja, weil ihm die Sache von besonderer Bedeutung scheint, um es zu erbringen sogar eine eigene Digression macht. Und was die Stelle der Nichomachischen Ethik, welche die göttliche Fürsorge für die dem kontemplativen Leben sich Ergebenden lehrt, anlagt, so schließt sie ebenso oder doch nicht weniger deutlich das Gomperz'sche Auskunftsmittel aus. Aristoteles verweilt hier bei dem Nachweis, daß das theoretische Leben vorzüglichr sei als das praktische, und häuft die Argumente. Eines besteht darin, daß das theoretische Leben das gottähnlichste sei, da auch Gott ein rein theoretisches Leben führe. Dies wäre wohl für sich allein entscheidend; doch ':Aristoteles fügt dann als neuen Vorzug hinzu, daß der dem theoretischen Leben sich Ergebende sich auch einer besonders liebevollen göttlichen Fürsorge erfreuen werde, weil jeder dem ihm Ähnlicheren mehr als dem ihm minder Ähnlichen wohlwolle. Gomperz glaubt, daß Aristoteles hier unmöglich seiner eigenen Überzeugung entsprechend rede, sondern sich nur von seiner Freude an der Häufung von Argumenten fortreißen lasse. Fragen wir aber, worauf sich dieser Glaube von Gomperz stützt, so wird er uns antworten, daß Aristoteles anderwärts seinem Gott ein rein theoretisches Leben zuschreibe. Allein das tut er ja auch an dieser Stelle, und nicht etwa in einem einfach daneben gestellten Argument, welches wieder zu vergessen er dem Leser zumuten könnte, sondern in der Art, daß er die Behauptung, daß Gott ein rein theoretisches Leben führe, geradezu zur Grundlage seiner neuen Beweisführung macht. Weil Gott ein rein theoretisches Leben führt, eben darum soll der dem theoretischen Leben sich Ergebende auf eine besonders gütige Vorsehung Gottes rechnen dürfen. Wie kann es hiernach Gomperz gelingen, aufgrund eben der Lehre uns glaubhaft zu machen, Aristoteles habe
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nicht wahrhaft an die Fürsorge Gottes geglaubt, die Aristoteles geradezu als Grund für diesen Glauben geltend macht?
VII. Fassen wir das Ergebnis zusammen. Von den drei methodischen Regeln, die Gomperz aufstellt, um in dem Streit zwischen Zeller und mir zu Zellers Gunsten zu entscheiden, erwies sich die erste als durchaus irrelevant, die dritte als vollständig verfehlt, weil in ihrer Grundannahme selbst verwerflich, und in den bedeutendsten Fällen unanwendbar. Auch die zweite war verfänglich und muß vielmehr durch die Regel, daß überall der Zusammenhang in weitestem Umfange zu beachten ist, ersetzt werden. Das ist aber gerade das, was ich selbst Zeller gegenüber aufs Nachdrücklichste geltend gemacht habe. Wenn also Elsers vermeintes Ergebnis durchaus unglaublich erschien, so sehen wir das Auskunftsmittel von Gomperz vollständig versagen. Das einzige, was noch bleibt, kann nur sein, daß wir durch Analyse jener wenigen Stellen, welche gegen meine Auffassung in entscheidender Weise zeugen sollen, diesen Schein zerstören.*
* Doch indem ich dies sage, blicke ich auf meine früheren Ausführungen, welche die Berücksichtigung auch der Aussprüche, die gegen mich zeugen sollen, keineswegs unterlassen haben. Ich würde der Wahrhaftigkeit untreu werden, wenn ich leugnete, daß ich das damals Gesagte noch heute in allem Wesentlichen gut heißen muß. Ich glaube es vollkommen dargetan zu haben, daß alle jene Objektionen hinfallig sind. Was ich in meiner P!]chologie des Aristoteles im Jahre 1867 gesagt, erscheint bereits genügend; durch manches in meinem Creatianismus des Aristoteles und meinem Offenen Brief an Zeller Gesagten ward es in manchen Punkten noch verstärkt. Wie also kann noch davon geredet werden, daß ein gewisser Schein, der gegen mich spreche, zu zerstören bleibe? Und doch bleibt eine solche Aufgabe in gewissem Sinne noch heute gegeben. Es bleibt ein Wort, das sich fort und fort neu bewährt, wenn Pascal sagte, daß es etwas wesentlich anderes sei, den Beweis für etwas, und wäre es in schärfster Weise, zu erbringen, und etwas ganz anderes, die Menschen dazu zu bringen, das Erwiesene wirklich zu ihrer Überzeugung zu machen. Die Kunst, dies letztere zu tun, gehe darum auch keineswegs in der Kunst zu beweisen
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Wir wenden uns vor allem zu jenen, wo Aristoteles lehren soll, daß Gott in Bezug auf die Dinge, die außer ihm bestehen, in Unwissenheit sei. Es sind deren zum Glück ganz wenige, und solche, die wesentlich denselben Gedanken wiederholen, nämlich Met. A 7, Met. A 9 und De Anima III, 6 (auch Ethik, Magna Moraiia). Am ausführlichsten und vollständigsten soll die Lehre im 9. Kapitel des Buches A entwickelt sein. Wir können uns darum auf die Erklärung dieses Kapitels beschränken, indem mit seinem Verständnis die Schwierigkeit, welche die anderen Stellen bereiten könnten, ohne weiteres mit behoben sein wird. Ich erinnere daran, daß Aristoteles im Buch A mit äußerster Gedrängtheit seine Lehre vorträgt. Die Beziehung, die sie zu anderen Lehren hat, ist zwar dann und wann, aber keineswegs überall in vollständig erschöpfender (genügender) Weise dargelegt. Umsomehr wird es unsere Sorge sein müssen, dieses für jeden Punkt in Erinnerung zu bringen. Ja, es wird gut sein, vorbereitend sie zusammenzustellen. auf, sei vielmehr etwas ungleich Schwierigeres. So mögen denn auch meine früheren Erörterungen über den aristotelischen Gott, als allwissenden, allmächtigen Schöpfer, der sich mit seiner Vorsehung auf alles in der Welt erstreckt, sowohl in ihren positiven Begründungen als in ihren Verteidigungen gegen mögliche Einwürfe zum Erweisen völlig ausgereicht haben. Eine Versuchung zu weiterem Zweifelließen sie doch noch immer und in dem Maße bestehen, daß ich heute noch mit Bedauern die Vertreter der alten historischen Unwahrheiten tonangebend finde. Ich will aber darum nicht verzweifeln, und die Frage noch einmal und in der Art in Angriff nehmen, daß ich hoffen darf, allen die Augen zu öffnen, welche nicht von Natur mit Blindheit völlig geschlagen sind. Es handelt sich ja um nichts Geringes, vielmehr um die vielleicht bedeutungsvollste Tatsache in der ganzen Geschichte der Philosphie. Das erste, worauf es mir ankommt, ist zu zeigen, daß Aristoteles in seinem Gott das erste und alleinige Prinzip alles Seienden außer ihm, ob es im eigentlichen oder undgentliehen Sinn seiend genannt werde, erblickt habe, also des öv ehe; ÜA.TjlMc; und des öv xa-ra Ul>f.lj31lj3TjK6c;, und des in Möglichkeit seienden nicht minder als des in Wirklichkeit seienden Realen, derTeileeines Realen nicht minderals des Ganzen, unddarumauch der Materie und Form nicht minder als des Kompositums, der Substanzen nicht minder als der Akzidenzien, der immaterialen und unkörperlichen Substanzen nicht minder als der materiellen und körperlichen.
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1. Aristoteles, obwohl er noch nicht die moderne Scheidung von V arsteilen und Glauben als zwei verschiedenen Grundklassen der Beziehung zum Objekt gemacht hat, kennt doch den Unterschied einigermaßen und verweist auf ihn, wo er in den Büchern von der Seele von der Phantasie spricht. Es geschehe, meint er, daß wir manchmal etwas ähnlich denken, wie wenn wir es abgebildet schauen, wobei wir es nicht als seiend erkennen oder glauben. (Wenn wir etwas verneinen, wird er wohl auch erkannt haben, daß das Verneinte uns in solchem Bild vorschweben muß.) 2. Aristoteles rührt ebenso an den Unterschied zwischen tatsächlicher und Vernunfterkenntnis. Jene ist eine Erkenntnis des »Daß«, ohne Erkenntnis des »Warum«; diese ist Einsicht der unmittelbaren Notwendigkeit oder Erklärung aus ihr durch Ableitung. Man könnte ein und dasselbe einmal bloß in seiner Tatsächlichkeit, das andere Mal in seiner Notwendigkeit erkennen. 3. Es gibt in den Wahrheiten ein Früher und Später, und zwar in doppeltem Sinn: an sich und in Bezug auf uns. An sich früher ist die unmittelbar notwendige Wahrheit, für uns früher ist eine Wahrheit, die uns als tatsächlich zunächst durch die Wahrnehmung kund wird, während der Grund, welcher die Tatsache in ihrem Bestehen erklärt, verborgen ist. Es wird genugsam angedeutet, daß dieser Gegensatz der einen und anderen Ordnung ein Mangel unserer beschränkten menschlichen Erkenntnis sei; ein Wesen, bei welchem es gelte, daß die an sich frühere Wahrheit auch für es die frühere wäre, erschiene uns gegenüber vollkommener. 4. Unter unseren positiven (affirmativen) Erkenntnissen gibt es solche, welche sich auf V ergangenes beziehen, wie wenn wir uns an etwas erinnern, auf Zukünftiges, wie, wenn wir etwas voraussehen; vor allem aber solche, welche sich auf gegenwärtig Bestehendes beziehen; und damit diese wahr seien, muß ihr Objekt in Wirklichkeit gegeben sein. Sein Bestand erscheint, wenn nicht das Objekt das Denken selbst ist, als eine Vorbedingung seiner Wahrheit. 5. Das Objekt der Wahrnehmung ist ein Äußeres, welches die Wahrnehmung bewirkt, außerdem aber, wie Aristoteles sagt, nebenher ein Inneres, welches die Wahrnehmung oder das Wahr-
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nehmende selbst ist. Der Sehende z. B. sieht nebenher in dem Akte sein Sehen. 6. Das Negative erkennt man gewissermaßen durch das entsprechende Positive. 7. Das Verstandesvermögen, ähnlich wie die Sinnesvemögen, ist eine Möglichkeit, die gleichzeitig nur durch eine Wirklichkeit aktualisiert sein kann. Nie sind in einem Sinn in der gleichen Zeit zwei sinnliche W ahrnehmungsakte; nie ist in einem V erstand zu gleicher Zeit mehr als ein Denkakt. 8. Dies führt zu einer Schwierigkeit in betreff der Prädikation, wobei zwei Gedanken miteinander verknüpft und doch auch gesondert erscheinen. Man kann jede positive wie negative Prädikation in gewisser Weise cruv3ecrt~, in gewisser Weise Ötaipecrt~ nennen. 39 Wie verträgt sich dies damit, daß nur ein Denkakt zu gleicher Zeit den Verstand aktualisieren kann? Antwort: Dies soll nach Aristoteles möglich werden durch die Eigentümlichkeit des Zeitpunktes des Jetzt, welcher in gewisser Weise einer, in gewisser Weise aber zwei ist, als Grenze der Vergangenheit und der Zukunft. Folgen zwei Gedanken aufeinander, so können sie sich im Jetzt verknüpfen, und so ergibt sich denn die Möglichkeit einer Prädikation. Sind die Gedanken dann verknüpft worden, so können sie den Inhalt eines einzigen Denkaktes ausmachen; und so sind denn weitere Komplikationen möglich, während es ja sonst, da jeder Syllogismus mehr als zwei Termini und außerdem die Conclusio zwei Prämissen haben soll, niemals auch nur zum einfachsten Schlusse kommen könne. Nun aber kann ein Denkakt sein, der dem Inhalt vieler Denkakte äquivalent ist, und es kann dazu kommen, daß einer etwas aktuell, auch aus tiefer liegenden Gründen und mit verwickelterem Zusammenhang begreife. Wer eine mittelbare Wahrheit wahrhaft einsieht, muß sich die Wahrheiten, die für ihn die unmittelbaren sind, und die ganze Schlußkette aktuell gegenwärtig halten. Auch ein solcher Denkakt, wie reich er auch in seinem Inhalte sein mag, ist nach Aristoteles noch immer kein Zusammensetzendes Denken zu nennen, sondern eben einzig und allein die Prädikation in der Weise, wie wir es dargelegt haben. 9. Außerdem ist, was die Erkenntnis anlangt, an die ausführliche Besprechung der intellektuellen Tugenden zu erinnern, die
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wir in der Nikomachischen Ethik VI finden. 40 Es werden unterschieden Einsicht (vouc;), Wissenschaft (bncrtTIJ.I.TJ), Weisheit (cro Verstand« zu nennen, weil von dem, was in unsere Erfahrung fallt,
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der Verstand als relativ Bestes immerhin am wenigsten von ihm absteht und darum am würdigsten sei, daß sein Name auch auf das Göttliche übertragen werde? Doch das scheint nicht; sonst würde nicht die ganze Folge der Erörterung sich auf das stützen, was vom Verstand und Denkenden allein gilt. Vielmehr hat Aristoteles wohl so geschlossen: Verstand ist da, wo etwas ist, was etwas zum Objekt hat, und es gibt kein Drittes außer dem Fall, daß etwas etwas zum Objekt hat oder nicht zum Objekt hat; und hier erkennen wir klar, daß der Fall, wo etwas etwas zum Objekt hat, der vorzüglichere ist. Ja es scheint, als ob Aristoteles der Ansicht sei, die Superiorität sei von der Art, daß, wo alles Bewußtsein fehlte, auch alles Gute fehlen würde. Daß Bewußtloses wohl auch als Teil zur Güte einer Ordnung beitragen könne, wie es ja darum auch im Weltall nicht fehle; daß aber, wenn gar nichts Bewußtes in die Ordnung einginge, das Ganze allen Sinn und Wert verliere. Ohne Beteiligung von etwas Bewußtem gibt es nichts um seiner selbst willen Liebenswürdiges. Er konnte, wenn er so dachte, sich in der Tat auf die allgemeine Übereinstimmung aller stützen, die ihm ja als sicherer Anhalt dient. Sie geht so weit, daß selbst David Hume es mit Entschiedenheit ausspricht, nichts Unbewußtes, Lebloses oder Lebendiges, könne in sich Gegenstand der Liebe oder des Hasses werden. 1 Für diese Deutung zeugt auch der Umstand, daß Aristoteles, wo er dafür entscheidet, daß der Verstand nicht bloß Verstandesvermögen, sondern ein wirklich Denkender sei, geradezu als einleuchtend ausspricht, daß andernfalls nichts von erhabener Würde gegeben wäre. Wäre in solchem, was bewußtlos ist, für sich allein auch nur ein kleines Gut, so könnte dasselbe durch indefinite Vervielfältigung beliebig gesteigert gedacht werden. Eine Bestätigung könnte auch in dem Ausspruch des Aristoteles über Anaxagoras liegen, wenn er sagt, dieser habe, indem er den Verstand als Prinzip der Welt gelehrt habe, an das Gute als Weltprinzip gerührt. 2 Also wer nichts vom Verstand annimmt, nimmt auch nichts vom Guten an. 3. Eine andere Frage ist die, ob der Verstand, wenn er von aller Gemütstätigkeit losgelöst gedacht würde, wie immer denkend, noch ehrwürdig erscheinen würde; würde er doch dann sein Denken selbst gar nicht in seinem Werte würdigen. Viel-
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leicht hat Aristoteles geglaubt, daß das nicht der Fall sein würde. Jedenfalls hat er seinem Gott auch Gemütstätigkeit zugeschrieben. Er läßt ihn ja sich selbst lieben, sich an seiner vollkommenen Tätigkeit in ewiger Wonne freuen. 3 4. Aber wenn Aristoteles seinen göttlichen Verstand als Denken bezeichnet und doch auch als Substanz bezeichnet, 4 sagt er hier nicht Unvereinbares, da doch unsere Seelensubstanz nicht als solche denkt, sondern das Denken als Akzidens an sich hat? Wir müssen darauf erwidern, daß Aristoteles in dieser Hinsicht, wie ja auch in vielen anderen, das göttliche und menschliche Denken verschieden gedacht hat. Wäre der göttliche V erstand nach ihm ein bloßes Vermögen, welches erst zur Wirklichkeit kommt, dann natürlich wäre es ein Widerspruch, ihn anders als akzidentell zu denken. Anders im entgegengesetzten Falle. Nur freilich wird sich ergeben, daß, da die Substanz eine andere Kategorie ist als die, in welche unser Denken fällt, Aristoteles keine Gemeinsamkeit der Gattung, sondern nur eine Analogie für unser Denken und das göttliche annehmen konnte. 5. Und wie wird es dann mit jener Lust und mit der ganzen Gemütstätigkeit sein, die dem aristotelischen Gott, wie wir sahen, nicht fehlt? Auch hier muß offenbar das gleiche gelten. Schon bei unserem Denken ist nach Aristoteles die bei seiner vollkommeneren Betätigung es begleitende Lust nicht ein anderer, dazu hinzukommender Akt, sondern wie er sich ausdrückt, die innere Vollendung des denkenden Aktes selbst. Umsomehr wird sie bei Gott zu demselben Akt, und mit dem Denken zum göttlichen Wesen gehören. 6. Aber weiter: Wenn Aristoteles sagt, Gott denke und denke sich selbst, - was für ein Denken meint er? Etwa ein bloßes Vorstellen, oder ein Erkennen, daß es sei? Aristoteles war der Unterschied nicht ganz entgangen. In den Büchern von der Seele, wo er von der Phantasie spricht, sagt er, daß wir denkend manchmal die Dinge nur erfaßten, wie wenn wir Bilder schauen, die etwas darstellen, ohne daß wir daran glauben. 5 Es ist aber kein Zweifel, daß er in unserem Falle nicht bloß ein solches Vorstellen, sondern ein eigentliches Erkennen meint. In dem Zuwachs, der dadurch in das göttliche Denken kommt, glaubt er aber ebensowenig wie in dem Zuwachs, der in der Lust gegeben
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ist, eine Vermehrung der Akte und eine Zusammensetzung der Substanz mit einem Akzidens gegeben. 6a. Wenn aber der aristotelische Gott sich selbst nicht bloß vorstellt, sondern erkennt, daß er ist, so scheint er urteilend ein Subjekt mit einem Prädikat verbinden zu müssen; und wenn dies, so erschiene er als etwas Zusammengesetztes, ja nach der aristotelischen Lehre von der Prädikation als etwas, was einem zeitlichen Wechsel unterläge. Denn, wie Aristoteles in den Büchern von der Seele ausführt, kommt die Prädikation nur so zustande, daß, was Subjekt und was Prädikat ist, nacheinander gedacht werden, da das Verstandesvermögen, wie jede andere Möglichkeit, nicht gleichzeitig mehrerer Akte fahig ist. 6 Die beiden einander folgenden Denktätigkeiten berühren sich in derselben zeitlichen Grenze. Diese ist wie jede Grenze in gewisser Weise eines, in gewisser Weise mehreres, als Grenze der früheren zugleich und späteren Zeit. Und so kommt denn in ihr die cruvSscrt~ der Prädikation zustande. Vom aristotelischen Gott aber ist jede Zusammensetzung aus mehreren Akten und jeder Wechsel ausgeschlossen. Doch diese Schwierigkeit löst sich vom aristotelischen Standpunkt sehr einfach, indem es nach ihm nicht wahr ist, daß kein Urteil, kein Glauben anders als durch die Verbindung von mehreren Vorstellungen zustande komme. Nach im besteht die Wahrheit in der Übereinstimmung des Urteils mit den Dingen. Ist dies zusammengesetzt, so setzt auch das wahre Urteil zusammen. Ist es getrennt, so trennt auch das wahre Urteil in entsprechender Weise. Wo es sich dagegen um Einfaches in den Dingen handelt, da kann das Urteil, um übereinzustimmen, auch nur ein einfaches sein; und darum ist hier von einer Komposition aus Subjekt und Prädikat keinerlei Rede. Mit dieser Lehre berührt sich wahrscheinlich, was wir in unserem Kapitel gegen Ende ausführen hören. Bei dem göttlichen Denken, welches reine Wirklichkeit ist, entfallt nach den Ausführungen im 7. Buch7 der Metapl!Jsik notwendig sogar die Zusammensetzung aus Gattungsbegriff und Differenz, 8 so daß das Erkennen, das Gott von sich selbst hat, schlechterdings nicht in einer Prädikation bestehen oder auch nur zu ihr Anlaß geben könnte. 7. Aber auch dann bleibt noch die Frage, ob, da wir etwas, was wir anerkennen, manchmal einfach assertorisch anerkennen, manchmal aber modal bereichert, als notwendig, ob Gott,
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der ja nach Aristoteles notwendig ist, indem er sich erkennt, sich nur assertorisch oder mit der Modalität der Notwendigkeit erkennt? Und auch hier ist wohl kein Zweifel, daß wir im Sinne des Aristoteles für das letztere entscheiden müssen. Eine Zusammensetzung aus mehreren Akten wird auch dadurch in das göttliche Denken nicht kommen. 8. Aber weiter: Noch in anderer Beziehung zeigen sich Differenzen in den Denkakten. Aristoteles hat in seiner Ethik fünf Klassen von intellektuell vollkommenen Akten unterschieden: Wissenschaft, Kunst, Vernünftigkeit, Einsicht, Weisheit. 9 Welcher von diesen fünf Klassen wird das göttliche Denken zu vergleichen sein? Die drei ersten kommen wohl minder in Betracht. Dagegen könnte die Einsicht wohl Anspruch erheben; sie ist ja die Erkenntnis des unmittelbaren ersten Prinzips, und ein solches ist vor allem Gott. Und dieser [ist] Gegenstand seines eigenen Erkennens. Aber Aristoteles selbst schreibt im ersten Buch der Metaphysik Gott ausdrücklich vielmehr Weisheit zu, und dies stimmt wohl auch allein damit, daß das göttliche Denken das vollkommenste sein soll. 10 Das vollkommenste aber ist die Weisheit und insbesondere auch darum ganz offenbar vollkommener als die Einsicht der Prinzipien für sich allein, weil sie diesseihe einschließt, das umfassendere Gut aber nach dem von Aristoteles durchwegs mit Entschiedenheit geltend gemachten Grundsatz größer ist als das Umfaßte. 11 Auch erscheint der Weise, welcher, indem er die Prinzipien erkennt, auch die notwendig daran sich knüpfenden Konsequenzen erschaut, im Vergleich mit einem andern, welcher, das Prinzip erkennend, die Konsequenzen nicht daraus zu entnehmen vermöchte, als der schärfer Blickende, dieser im Vergleich mit ihm geistesstumpf und blöde, und wie wäre da zu zweifeln, welcher von beiden dem unendlich vollkommenen Wesen ähnlicher sein müsse? Doch vielleicht wird einer sagen, der aristotelische Gott würde, wenn er als Weiser mit der Einsicht der Prinzipien auch die Erkenntnis der Konsequenzen verbände, dies doch nur so vermögen, daß er bald bei den Prinzipien, bald bei den Konsequenzen exklusiv verweilte, und, täte er das letztere, so würde er dann, mit minder Vollkommenem beschäftigt, minder selig sein. So sei es denn besser für ihn und überhaupt vollkommener, daß er sich einzig auf die Einsicht des Prinzips beschränke. Allein
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gerade das Gegenteil ist der Fall; ist es doch unmöglich, dann etwas aus den Prinzipien zu erkennen, wenn man das Prinzip nicht im Geiste gegenwärtig hat; und wenn selbst eine ferne Konsequenz in aktuellem Denken aus den ersten Prinzipien erkannt würde, müßten die ersten Prinzipien lebendig gegenwärtig sein. So ist es bei uns, so müßte es auch beim aristotelischen Gott sein, wenn er das Prinzip so erfaßte, daß er alle Konsequenzen darin erschaute. Und wie behaupten, daß seine Vollkommenheit dafür nicht ausreichte, wenn sogar unsere bis zu einem gewissen Maß zu solcher Leistung fähig ist? Auch bei uns denkt Aristoteles in einem solchen Falle die ganze Verstandestätigkeit als einen einzigen Akt. Wäre es doch nach ihm ein Widerspruch, daß dasselbe Verstandesvermögen zugleich von mehreren Akten aktualisiert werde; somit würde er selbstverständlich auch bei seinem Gotte, wenn er ihm nicht bloß Einsicht, sondern als penetrantestem aller Geister die aOpOVTJcrtc; zu gelangen, 38 während doch die Erkenntnis, daß in der Weisheit die vorzüglichste Vollkommenheit des Menschen liegt, und daß die möglichste Aus-
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dehnung dieses Gutes auf viele Menschen als höchstes Ziel anzustreben ist, der sichere Ausgangspunkt für Deduktion [ist], und [andererseits] die Würdigung von induktiven Erfahrungen, welche für und gegen gewisse Maßregeln sprechen, recht wohl zur Erkenntnis dessen, was als Mittel dazu Pflicht erscheint, führen kann, auch wenn die besondere Gewohnheit, welche die Pflichterfüllung leicht macht, noch nicht gewonnen ist, ja sogar nach Aristoteles für alle selbst die Wahl des ethisch Guten in gewissen Fällen als etwas übermenschlich Schwieriges bestehen bleibt. 39 7. Obwohl entschieden unecht, sind die Budemische Ethik und die sog. Große Ethik für die Auslegung der Nikomachischen nicht ohne Wichtigkeit. Scheint doch die eine unzweifelhaft einem unmittelbaren, treuen Schüler des Aristoteles zuzuschreiben. Die Abweichungen sind in einem großen Teil geradezu verschwindend und in dem andem teils nur redaktionelle. Die auffallendste Eigentümlichkeit ist das besondere Interesse, welches der Frage nach der ersten Ursache einer sich vollziehenden guten oder schlechten Handlung zugewandt wird. Da durchwegs ein strenger Kausalzusammenhang bestehen muß, ist jede Handlung die unausbleibliche Folge der im Augenblick gegebenen psychischen Akte und Dispositionen und der äußeren Umstände. Dieselben mögen durch vorgängige eigene Handlungen bestimmt sein, aber bei ihnen kehrt die Frage wieder und wiederholt sich so auch bezüglich des ersten eigenen Begehrens, Wollens und Handelns. So ist denn die Handlung im letzten Grund durch ein gottverhängtes Schicksal bestimmt. 40 Aristoteles hatte dies schon recht wohl erkannt, verweilt aber bei dieser Art von Prädestination nicht lange, indem er sich vielmehr nur damit begnügt darzutun, daß durch sie die Verantwortlichkeit, die Strafbarkeit und der Anspruch auf Belohnung des Verdienstes nicht aufgehoben werden. Dazu genügt die Herrschaft über Handeln, Wollen und Änderung der sittlichen Dispositionen auch in der Beschränktheit, in der sie uns zukommt. Die Rücksicht auf Lob und Tadel, Lohn und Strafe kann ja daraufhin ein vom Schädlichen abschreckendes, zum Nützlichen antreibendes und auch ein erziehendes Motiv werden. So zeigt die Budemische Ethik hier nichts Neues der Lehre nach, sondern nur etwa ein Wachsen des Interesses für die spätere Zeiten noch mächtiger bewegende Frage. Ein gewisser Unterschied der Lehre zeigt sich
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dagegen darin, daß Budemus sehr geneigt ist, an eine Art übernatürlicher Einwirkung der Gottheit zu glauben, welche, ohne eigentlich sittlich zu erleuchten, begeisternd zu tugendhaften inneren Regungen und äußeren Handlungen bewegt. Man möchte sagen, die mystische Zeit des Neuplatonismus zeige sich hier schon etwas im Anzug, oder auch, der Kontakt mit dem durch Alexander erschlossenen Orient fange an, sich in seinen Folgen merklich zu machen. 8. Die Magna Moraiia scheinen etwas später verfaßt und nehmen auf eine Mißdeutung der aristotelischen Gotteslehre Rücksicht, der aber der Verfasser so wenig als Budemus und Theophrast huldigt. 41 Er dürfte der nächsten Schülergeneration nach Eudemus und Theophrast angehört haben. Von dem richtig verstandenen Aristoteles weicht er, wenn er selbst richtig verstanden wird, nirgends ab, es sei denn in der Aufzählung der ethischen Tugenden, wo manches neu angegliedert wird und die Scham, die nach Aristoteles keine Tugend sein soll, mit etwas veränderter Fassung als solche anerkannt wird. 42 Und wieder (und dieser Unterschied dürfte noch bedeutsamer sein) darin, daß der Verfasser im Gegensatz zu Aristoteles es nicht für ausgeschlossen zu halten scheint, daß jemand auch beim aktuellen Glauben, die einzelne Handlung, die er verübt, sei schlecht, sich dennoch durch die Leidenschaft dazu bestimmen läßt. 43 Die Lehre von der Freundschaft rückt er begreiflicherweise ans Ende; die Providenzlehre steht ihm fest. 44 Die Lehre von der göttlichen Prädetermination interessiert ihn wie Eudemus lebhaft. Und auch jener Annahme göttlicher Impulse zum Guten neigt er zu. Daß manche Met. A 9 mit einer Lehre der göttlichen Vorsehung für unvereinbar halten, erwähnt er. Hinsichtlich der Lösung ihres Einwandes enthält er sich aber einer eingehenden Erörterung und deutet nur an, daß es etwas ganz anderes sei, wenn die Gottheit sich selbst allein zum Objekt habe, als wenn solches von einem Menschen gelten würde. Dieser erschiene lächerlich blöde und beschränkt, 45 die Gottheit aber, die ja, das unendlich vollkommene Wesen, durch sich selbst notwendig ist und alles andere, was ist, um des Guten und Besten willen notwendig macht, kann, wenn sie allein ihr Objekt ist, in ihrer Erkenntnis nicht beschränkt erscheinen; sie erkennt vielmehr alle Weisheit und in der vollkommensten Weise, weil in ihrem tiefsten Grund.
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Doch wie gesagt, der Verfasser geht darauf nicht ein, sondern begnügt sich mit einem Fingerzeig in dieser Richtung. 9. Wenn wir so aus der Ethik des Eudemus und den Magna Moralia nichts erfahren, was uns nicht eigentlich Aristoteles selbst schon deutlich in seiner Nikomachischen Ethik lehrt, so haben sie doch einen besonderen Wert gegenüber denen, welche versucht sind, Aristoteles die Unart zuzuschreiben, vielfach, sei es im Eifer der Bekämpfung anderer, sei es um gefällige Konzessionen an die Volksstimmung zu machen, das Gegenteil von dem zu behaupten, was er selbst eigentlich glaube. 46 Gewiß wäre es untunlich, die gleiche absonderliche Manier auch Eudemus und dem Verfasser der Magna Moralia zuzuschreiben. Da sie nun aber beide die betreffenden Stellen des Aristoteles anstandslos sich eigen machen, so müssen wir annehmen, daß sie wenigstens an ihre Wahrheit geglaubt und sie auch keineswegs mit jener, wie man meint, allein aufrichtigen Lehre des Aristoteles, die sie ja ebenso festhalten, in Widerspruch gedacht haben. 47
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1. Aus der Erkenntnis des Zieles fließt nun die Erkenntnis der Mittel zur Erreichung des Zieles. Das Mittel zur Erreichung der vollkommenen Seelentätigkeiten besteht nun in dem Erwerb der entsprechenden Dispositionen, sie mit Vollkommenheit zu üben. 2. Vor allem kommt es natürlich darauf an, die richtige Disposition für die vollkommene Betätigung der Weisheit zu erwerben, und hier ist das hauptsächlichste Mittel das Lernen. Dann aber werden wir auch bedacht sein müssen, die Dispositionen zur vollkommenen Übung jener spezifisch menschlichen Tätigkeiten zu erwerben, welche in der richtigen Betätigung des Wollens und Wählens besteht, damit wir bei demselben immer dem Besseren vor dem minder Guten den Vorzug geben. Würden wir ja sonst auch ganz davon abkommen, jenes hohe Ziel der Weisheit als vornehmstes Gut für uns und andere zu erstreben. Hier aber ist es nicht sowohl ein Lernen, als vielmehr die Übung jener Tätigkeiten, zu welchen die Dispositionen uns geschickt machen, welche zu diesen Dispositionen führen. 1 3. Definition der praktischen Tugend. 2 Sie ist ein Habitus zum Treffen der richtigen Wahl, welche in der Mitte liegt zwischen zwei fehlerhaften Extremen, und zwar in jener Entfernung von dem einen und anderen, welche der praktisch Einsichtige als die richtige erkennt. 4. Erläuterung durch Beispiele. 5. Gewiß ist es oberster Grundsatz, daß man der richtigen Einsicht folgen soll. Ihn leugnet niemand, aber es ist damit auch noch so gut wie nichts gesagt. Mehr Licht kommt in die Sache, wenn man sagt, man solle sich in jeder Beziehung so benehmen, wie es zur möglichsten Verwirklichung des aufgestellten menschlichen Lebensideals dienlich ist: also im geselligen Verkehr, im Erwerb und der Entäußerung von Besitz, in der Rücksicht auf menschliche Ehre, in bezug auf Lust, die man sucht, oder der man entsagt, in bezug auf Gefahren, denen man sich entzieht oder denen man sich aussetzt, so handeln, wie es die möglichste
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Verwirklichung jenes Lebensideales, soweit ein Mensch es ermessen kann, fordert. 6. Die richtige Disposition zu ihnen wird erlangt sein, wenn wir an den betreffenden Betätigungen uns freuen und eine Abweichung von·ihnen mit Unlust fühlen. Und so kommt denn alles darauf an, sich dahin zu bringen, sich in bezugauf Lust und Unlust richtig zu verhalten. 3 7. Scheinbarer Zirkel, der dadurch gegeben, daß die Betätigung zur Disposition führen soll und andererseits wieder infolge der Disposition geübt werde. Lösung des Zirkels. 8. Neue Schwierigkeiten. Wegen der Unvollkommenheit unserer Abwägungen* ist es schwer, ja unmöglich, mit vollkommener Genauigkeit überall die richtige Mitte zu bestimmen. Wie soll es also dazu kommen, durch richtige Betätigung die gute Disposition auszubilden, da ich die richtige Mitte für die gute Betätigung nicht auszufinden vermag? Bei verfehlter richtiger Mitte droht es zu einer schlechten statt zu einer guten Gewöhnung zu kommen. Die Antwort auf dieses Bedenken ergibt sich daraus, daß wenigstens eine Annäherung an die richtige Mitte durch Abwägung gewonnen werden kann, und so führt die Übung wenigstens zu einer relativ guten Gewöhnung. Dabei ist aber eine doppelte Rücksicht zu nehmen: einmal daß man, indem man die beiden Extreme zu vermeiden sucht, sich doch hauptsächlich vor dem gefährlicheren Extrem hütet. 4 Und dieses ist entweder darum gefährlich, weil es weiter von der richtigen Mitte abliegt, oder darum, weil ich schon eine größere Neigung nach dieser Seite hin besitze. Ob dies der Fall sei, erkenne ich daraus, daß ich eine besondere Lust an entschieden fehlerhaften Handlungen, die nach dieser Seite gehen, fühle. Im übrigen werde ich in dem Bewußtsein, die richtige Mitte nicht mit voller Genauigkeit treffen zu können, Sorge tragen, *Die Verwickelung mannigfacher Rücksichten spottet oft aller Anstrengung der Analyse. Eine Empirie, direkt angewandt, dient besser (ähnlich der historischen Methode). Dazu aber wichtig eine breite Basis und sehr rätlich die Beachtung des Herkommens. Aristoteles trägt ihm mit Recht, ähnlich wie Descartes, Rechnung. Auch spricht er von dem Wert des Urteils aller Leute, denen die Erfahrung eine Art intuitiven Blickes gegeben hat. 5
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nicht immer nach derselben Seite hin von der richtigen Mitte abzugehen. Das, was noch Fehlerhaftes in der geübten Tätigkeit liegt, korrigiert sich dann in seinem schlechten Einfluß auf die Ausbildung des Habitus gegenseitig. Ja, es kann im Falle, wo ich in mir eine sehr starke Neigung nach dem einen fehlerhaften Extrem bemerke, sittlich rätlich sein, nach dem anderen Extrem so lange in nicht unbedeutender Weise abzuweichen, bis infolge solcher Übungen die fehlerhafte Neigung erloschen ist. Es ist dies gerade so, wie es sich empfiehlt, wenn man einen krummen Stock gerade biegen will, ihn wiederholt nach der entgegengesetzten Seite zu krümmen. 6 9. Sehr wichtig wird es sein, daß schon von früherJugendauf durch den Erzieher die Neigung zu den richtigen Willensbetätigungen ausgebildet werde. 7 Sie sind dann immer zu erreichen, wenn auch infolge glücklicher oder minder glücklicher sittlicher Anlagen von dem einen leichter, von dem andern schwerer. Denn es gibt auch so etwas wie natürliche sittliche Tugend, ähnlich wie ja auch selbst bei Tieren etwas wie natürliche Vernünftigkeit. Durch schlechte Gewohnheit dagegen kann eine Disposition hergestellt werden, gegen die es keine Abhilfe mehr gibt. 8 10. Das Ideal des menschlichen Lebens ist nicht zu dem Lobwürdigen, sondern zu dem Preiswürdigen zu zählen. Die gute sittliche Disposition aber, von der wir eben sahen, wie sie in das Bereich unseres freien Willens fallt, ist etwas Lobwürdiges. 11. Es sind derselben aber viele, nicht eine, und die Erfahrung zeigt uns deutlich, daß der eine Mensch durch Tapferkeit sich auszeichnet, während er unenthaltsam ist, der andere umgekehrt. 12. Immerhin gibt es eine Disposition, an welche sich- das richtige Verhalten bei der Wahl auf allen Gebieten knüpft. Es ist dies die Disposition des q>p6Vt!!O~, die auf dem intellektuellen Gebiete liegt. Mit ihr müssen wir uns jetzt beschäftigen, und wir werden danach sehen, warum der Umstand, daß sich an diese Disposition die Übung aller sittlichen Tugendtätigkeit knüpft, den Besitz der sittlichen Tugenden doch nicht entbehrlich macht. 13. Es gibt verschiedene Klassen richtiger Denktätigkeiten und dementsprechend auch verschiedene Klassen tugendhafter intellektiver Dispositionen. 9 Die eine ist die Wissenschaft. Diese hat es mit notwendigen Wahrheiten zu tun, welche in anderen
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ihren Grund der Notwendigkeit haben und aus ihnen abgeleitet werden. Sie sind mehr oder minder exakt, indem die Gesetze, die sie aussprechen, teils ausnahmslos, teils für die Mehrzahl der Fälle in dieser Weise auch bleibend und notwendig Gültigkeit haben. Was weder für alle noch für die Mehrzahl der Fälle gilt, ist kein Gegenstand für die Wissenschaft. Eine andere Disposition ist die, welche Aristoteles voü~ nennt. Sie geht auf die Erkenntnis unmittelbarer Wahrheiten. Solcher gibt es zwei Klassen. Die einen sind unmittelbare Wahrheiten für uns. Diese sind bloß tatsächliche, nicht notwendige Erkenntnisse, Wahrnehmungen. Zu solchen ist uns die vollkommene Fähigkeit von der Natur gegeben, es bedarf keiner erworbenen Disposition. Auch von der Wahrnehmung, daß ich etwas mit Recht liebe, muß man sagen, daß sie keiner erworbenen Disposition bedarf. Sie gehört zur Klasse der inneren Wahrnehmungen, und es hängt mit ihr die Erkenntnis, daß das betreffende mit Recht geliebte Objekt gut sei, zusammen. Sollte selbst für die betreffende Liebe eine erworbene Disposition möglich sein, so doch nicht eine besondere Disposition, den Akt der Liebe und seine Eigenheit innerlich wahrzunehmen. Die anderen sind an sich erste Wahrheiten, die aber für uns nicht unmittelbar sind, sondern deren Erkenntnis für uns auf Wahrnehmung und Induktion beruht. Hier ist darum eine gute erworbene Disposition nicht ausgeschlossen. Sie enthalten das letzte Warum für die abgeleitete notwendige Wahrheit. Besitzt einer die Disposition für die Erkenntnis dieser ersten Wahrheiten, und für die Ableitung der mittelbar notwendigen Wahrheiten aus ihnen, also für die Erkenntnis derselben aus dem ersten Grunde, so hat er die Disposition des Weisen. Wenn alle diese Dispositionen sich auf notwendige Wahrheiten beziehen, so gibt es neben ihnen andere, welche sich auf solches beziehen, was nicht notwendig ist und nicht notwendig nicht ist und dessen Verwirklichung in unserer Macht liegt. Ein solches sind teils Werke, teils Handlungen. Ein Werk ist etwas, was durch unsere Tätigkeit verwirklicht wird, ohne mit ihr selbst identisch zu sein. Viele, aber nicht alle unsere Tätigkeiten zielen auf ein Werk. Manchmal liegt der Zweck in der Tätigkeit selbst, und in diesem Falle nennen wir dieselbe eine Handlung. Das Werk wie die Handlung ist etwas
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Einzelnes. Die intellektuelle Disposition zur Schaffung guter Werke nennen wir Kunst. 10 Die intellektuelle Disposition zur Übung guter Handlungen ist aber das, was Aristoteles q>pOVT]crtc; nennt. Sie dient uns erkennen zu lassen, wie wir im einzelnen Falle zu handeln haben. Wir können den Künstler, wenn er schafft, auch als Handelnden betrachten und ihn, während wir ihn als Künstler loben, vielleicht als Handelnden tadeln, indem er mit seiner Kunst sittenverderblich wirkt. Darum ist die Kunst keine sittliche Tugend, die q>p6VT]crtc; aber ist es. Wenn ein Künstler absichtlich etwas verkehrt macht, gereicht es ihm als Künstler weniger zur Unehre, als wenn es unabsichtlich geschieht. Dagegen zeigt es einen größeren Mangel von q>pOVT]crtc;, wenn einer mit Bewußtsein, als wenn einerunbewußt das wählt, was ihr zuwiderläuft. 11 Obwohl die q>pOVT]crtc; auf das Einzelne geht, so schließt sie doch allgemeine Kenntnisse ein, welch& dann durch Unterordnung des einzelnen Falles zur Einzelerkenntnis führen. Trifft einer in bezug auf das Einzelne das Richtige, aber ohne es aus der allgemeinen Erkenntnis sich als richtig erwiesen zu haben, so hat die Handlung nicht den gleichen Wert, denn das Motiv ist hierfür von Bedeutung. Es kommt nun aber darauf an, wie die allgemeine Erkenntnis und wie die Erkenntnis, daß das Einzelne ihr unterstehe, gewonnen wird. Aristoteles lehrt nun, daß nur derjenige, welcher die richtige Liebe habe, auch die Liebenswürdigkeit, die Güte der Handlung zu erkennen imstande sei. Ohne die richtige Liebe ist weder die Erkenntnis im allgemeinen, noch die, daß das Einzelne dem Allgemeinen unterstehe, zu gewinnen. 12 Da nun die richtige Liebe die Sache des tugendhaften Willens ist, so muß einer, um zur q>p6VT]crtc; zu gelangen, auch die richtigen Dispositionen für das Begehren besitzen. Aristoteles ist überzeugt, daß nichts mächtiger ist als das Wissen. Wenn einer aktuell sowohl die allgemeine Erkenntnis hat, daß das Beste sei, in gewissen Fällen so zu handeln, als auch die einzelne, daß der vorliegende Fall ein solcher sei, so ist es unmöglich, daß er nicht gut handelt. Dies würde gelten, wenn wir auch nicht die betreffenden tugendhaften Dispositionen des Begehrens besitzen. Und wenn wir trotzdem, ohne diese zu besitzen, nicht tugendhaft handeln, so ist dies eben die Folge
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davon, daß jene Erkenntnisse von den Handlungen, die vorausgegangen und diese von den Dispositionen bedingt sind. 14. Was soeben von dem aktuellen Falle des Wissens gesagt wurde, gilt natürlich nicht ebenso von dem des habituellen. Fehlt das aktuelle, so hat das habituelle keinen Einfluß auf die Handlung. Es kann aber das aktuelle Wissen auch im Falle, daß das habituelle gegeben ist, infolge der Begier, eines mächtig auftretenden Affektes, verhindert werden. Und auch das kann geschehen, daß durch einen solchen zwar nicht das aktuelle Erkennen des allgemeinen Prinzips, aber die aktuelle Subsumption des einzelnen Falles unter das allgemeine Prinzip verhindert wird. Wir nennen solche Fälle Fälle mangelnder Selbstbeherrschung (ax:pacria)Y Von ihnen zu unterscheiden sind die Fälle der x:aKia, wo jemand prinzipiell eine der Tugend entgegengesetzte Maxime zur Richtschnur nimmt, wie z.B. die sinnliche Lust allem anderen vorzuziehen, und aus diesem Grundsatze handelt. Den, welcher aus Mangel an Selbstbeherrschung gefehlt hat, überkommt nach der Tat Reue, der dagegen, welcher grundsätzlich schlecht gehandelt hat, bereut nicht und erscheint darum als unbekehrbar. 14 Die Unkenntnis, welche in der Verkennung des richtigen allgemeinen Grundsatzes des Handeins liegt, entschuldigt nicht ebenso wie die Unkenntnis der Umstände des einzelnen Falles, welche, ähnlich wie die Leidenschaft die Unterordnung desselben unter die allgemeine Regel verhindert. Auch dies erhellt aus dem Zusammenhang, in welchem die So daß wir, indem wir sie für warm halten, weil wir Wärme empfinden, irren.>Das heißt wohl nicht, wo auf die Bücher der Metaphysik Bezug genommen wird, sondern, wo in der Ethik metaphysische Probleme gestreift werden.>Wenn er (der Geist) nichts denkt, was ist er dann Würdiges?>Bindeglied>Beobachtung der BewirkungNeueren