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German Pages 161 [164] Year 2020
Iso Kern
Erinnerung – Personale Einheit – Reflexion Drei philosophische Studien
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Lektorat: Schwabe Verlag, Berlin Umschlaggestaltung: icona basel gmbh, Basel Layout: icona basel gmbh, Basel Satz: 3w+p, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4254-1 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4285-5 DOI 10.24894/978-3-7965-4285-5 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. [email protected] www.schwabe.ch
Meinem Freund Guido Küng Prof. em. für moderne und zeitgenössische Philosophie an der Universität Fribourg/Freiburg gewidmet.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erste Studie: Erinnerung und die besondere Wirklichkeit der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kapitel. Einleitung: Begriffliche Klärungen zu Gedächtnis und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Kapitel. Ist das im aktuellen Erinnern Vorgestellte etwas Gegenwärtiges? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Kapitel. Enthalten Erinnerungen notwendig sinnlich qualifizierte Anschauungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Kapitel. Was bewirkt, dass die in der Erinnerung anschaulich vorgestellten Sachen als vergangene erscheinen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Sicht des Vijnanavada: «Das Erinnerte trägt aufgrund des Alaya- oder Speicherbewusstseins Wirklichkeit mit sich.» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ist das Bewusstsein des anschaulich erinnerten Vergangenen so etwas wie eine optische Illusion, deren wir uns bewusst werden, wenn wir aus dem Erinnern heraustreten und auf es reflektieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Idee, dass im Erinnern mit einem gegenwärtigen geistigen Bild etwas Vergangenes vorgestellt wird . . . . . . . . d) Anschauliches Erinnern von etwas Vergangenem und anschauliches Phantasieren von etwas Gegenwärtigem . . . .
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Inhalt
e)
f)
Mein Erklärungsversuch, warum die im Sich-Erinnern anschaulich vorgestellten Ereignisse und Dinge als vergangene erscheinen: Wir haben in der anschaulichen Erinnerung nicht nur anschauliche Vorstellungen von irgendwelchen Dingen und Ereignissen, sondern wir sind uns dabei auch bewusst, dass wir sie in der Vergangenheit wahrgenommen oder irgendwie erlebt oder getan haben. Dieses eigene vergangene Wahrnehmen, Erleben und Tun ist nicht in Phantasmen angeschaut und kann auch nicht in Phantasmen angeschaut werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analogie zwischen Sich-Erinnern und Wahrnehmen: So wie ein gegenwärtiges Ding in unbegrenzt vielen verschiedenen anschaulichen Wahrnehmungen, in denen man sich auch täuschen kann, selbst zum Erscheinen gebracht werden kann, so kann eine vergangene Sache in unbegrenzt vielen verschiedenen anschaulichen Erinnerungen, in denen man sich auch täuschen kann, selbst zum Erscheinen gebracht werden . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Kapitel. Nur mehr oder weniger aufmerksame Tätigkeiten sind mehr oder weniger bewusst und können daher auch mehr oder weniger erinnert werden. Gewohnheitsmässig, «automatisch», unaufmerksam verrichtete Tätigkeiten oder Tätigkeiten, bei denen unsere Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt wird, sind nicht bewusst und können daher auch nicht erinnert werden . . . . . . . . . . . . . .
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6. Kapitel. Woran erinnern wir uns? Wir erinnern uns umso besser an Ereignisse, je aufmerksamer wir auf sie waren, d. h. je mehr sie uns in unserem Tun interessierten oder je mehr sie uns in unserem passiven Leben betrafen oder je intensiver wir darauf emotional reagierten . . . . .
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7. Kapitel. Wir erinnern uns nicht nur an einzelne für uns wichtige Ereignisse, sondern auch an eine Gesamtheit oft wiederholter, gewohnter und für uns wichtiger Tätigkeiten, an vertraute, gewohnte und für uns wichtige Lebensräume und an eigene frühere Überzeugungen, die wir unterdessen abgelegt haben, aber auch an solche, die wir noch immer haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
a)
Erinnerung an eine Gesamtheit oft wiederholter, gewohnter und für uns wichtiger Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . Erinnerung an vertraute, gewohnte und für uns wichtige Lebensräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerung an eigene frühere Überzeugungen, die wir unterdessen abgelegt haben, aber auch an solche, die wir noch immer haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8. Kapitel. Wir erinnern uns nicht nur absichtlich an etwas, sondern oft fällt uns zuerst etwas ein, an das wir uns dann anschaulich erinnern können. Wodurch fällt uns etwas zum anschaulichen Erinnern ein? . . .
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9. Kapitel. Was macht die Objektivität der Vergangenheit aus? Unsere Vergangenheit als intersubjektive Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) c)
10. Kapitel. Zur Richtigkeit (Wahrheit) und Falschheit der Erinnerungen: Haben eigene Erinnerungen einen internen Massstab (interne Norm) ihrer Richtigkeit, ist es also prinzipiell möglich, durch eigene Erinnerungen die eigenen Erinnerungen zu berichtigen? . . . . . . . a) Das Bewusstsein des Unterschiedes zwischen der eigenen Vergangenheit, so wie ich sie jetzt erinnere, und der eigenen Vergangenheit, so wie ich sie damals erlebte. . . . . . b) Standards für unsere Wahrheitssuche in unserer erinnerten Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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11. Kapitel. Welche Ursachen bewirken, dass wir uns in unserem Erinnern täuschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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12. Kapitel. Warum sollen wir unsere Vergangenheit durch Erinnern wieder lebendig werden lassen? Bezugnahme auf Freud . . . . . . . . . . . . . .
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13. Kapitel. Sind die in der Erinnerung auftretenden (präsenten) Phantasmen, d. h. die durch sie vorgestellten erinnerten Sachen, gegenwärtig, oder sind sie atemporal (unzeitlich) und, wenn sie dies sind, in welchem Sinn sind sie es? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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14. Kapitel. Enthalten alle Erinnerungen an früher selbst Erlebtes Phantasmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
15. Kapitel. Warum sind wir uns in der Erinnerung des Erinnerten nicht nur als eines Vergangenen bewusst, sondern auch als eines mehr oder weniger zeitlich entfernten Vergangenen, mit anderen Worten, wie kommt es im Sich-Erinnern zum Unterschied verschiedener zeitlicher Distanzen des erinnerten Vergangenen von der erlebten Gegenwart aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Raumperspektive und Zeitperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Auffassungen von Bertrand Russell und William J. Friedman über die Erfahrung der zeitlichen Distanz von erinnerten Ereignissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Inhaltliche, im Gehalt des Erinnerten liegende Anhaltspunkte für das Wissen um die Zeitdistanz von erinnerten Ereignissen. Die Lebendigkeit von erinnerten Ereignissen hat mit ihrer Erstmaligkeit sowie Einmaligkeit und der damit verbundenen eigenen Anstrengung und dem emotionalen Gewicht zu tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Bewusstsein verschiedener zeitlicher Distanzen des Erinnerten, bei denen wir uns nicht auf den Gehalt des Erinnerten stützen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Versuch, das Bewusstsein der zeitlichen Distanz des Erinnerten zu erklären, bei dem wir uns nicht auf den Gehalt des Erinnerten stützen können . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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16. Kapitel. Schluss: Unsere erinnerte Vergangenheit als eine durch unsere Gegenwart bedingte, fehlerhafte objektive geistige Wirklichkeit .
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Dank an den Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweite Studie: Bewusstseinseinheit und personale Identität. Zwei Prinzipien der Bewusstseinseinheit: Erlebtsein und Zusammenhang der Erlebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kapitel. Das Problem der Bewusstseinseinheit. Interpretation von physiologischen empirischen Tatsachen und Analyse des Bewusstseins .
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2. Kapitel. Das Erlebte im Urmodus und in seinen Modifikationen . . . . 100
Inhalt
3. Kapitel. Das eigentlich Erlebte und Durchlebte und seine Modifikationen einerseits und andererseits der «subjektive Charakter des Bewusstseins» oder «der Gesichtspunkt der ersten Person» bei Thomas Nagel, Sidney Shoemaker und Bernhard Williams’ Auseinandersetzung mit dem Gedanken «ich könnte ein anderer sein oder gewesen sein, z. B. Napoleon». . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4. Kapitel. Das mehr oder weniger aufmerksam gegenständlich Erlebte und das urbewusste (durchlebte) mehr oder weniger aufmerksame Erleben als das Original. Es kann nur ein Original geben . . . . . . . . . . . . . 110 5. Kapitel. Zusammenhänge des aktuell Erlebten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 6. Kapitel. Einbeziehung der Vergegenwärtigungen, vor allem der Erinnerung. Das Problem der personalen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 7. Kapitel. Schluss: Unterscheidung zwischen zwei verschiedenartigen Prinzipien der Bewusstseinseinheit und der personalen Identität: einerseits ein Zusammenhang von Erlebnissen, der ein «mehr oder weniger» erlaubt, andererseits der Charakter des Erlebtseins im Urmodus (Original), der entweder vorhanden ist oder nicht, bei dem ein «alles oder nichts» besteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Dritte Studie: Reflexion und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
1. Kapitel. Warum schreibe ich über Reflexion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Kapitel. Reflektieren ist kein inneres Wahrnehmen gegenwärtiger intentionaler Erlebnisse und in diesem Sinne keine Introspektion. Zwei Gründe, warum Reflektieren kein inneres Wahrnehmen sein kann . . . . 136 a) Erster Grund, warum Reflektieren kein inneres Wahrnehmen gegenwärtiger intentionaler Akte sein kann . 137
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Inhalt
b)
Zweiter Grund, warum Reflektieren kein inneres Wahrnehmen gegenwärtiger intentionaler Akte sein kann. Selbst wenn das Reflektieren ein inneres sinnliches Wahrnehmen der eigenen intentionalen Akte des Wahrnehmens von etwas, Denkens von etwas, Sich-Erinnerns von etwas, des Phantasierens von etwas usw. wäre, könnten wir nicht gleichzeitig z. B. etwas Äusseres vor uns im Raum aufmerksam wahrnehmen und auch noch dieses intentionale Wahrnehmen innerlich aufmerksam wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
3. Kapitel. Ist die Frage nach dem Grund der Unmöglichkeit, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen, z. B. Wahrnehmen von etwas, und auf diesen Akt zu reflektieren, ein Problem der Aufmerksamkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4. Kapitel. Ist die Frage nach dem Grund der Unmöglichkeit, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen, z. B. Wahrnehmen von etwas, und auf diesen Akt zu reflektieren, ein Problem verschiedener Ebenen oder Dimensionen unseres gegenständlichen Verstehens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Ist die Frage nach dem Grund, warum es nicht möglich ist, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren analog zum Verhältnis bei der Tatsache, dass wir uns nicht gleichzeitig für einen sprachlichen Ausdruck und für die Bedeutung dieses Ausdrucks interessieren können? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Ist die Frage nach dem Grund, warum es nicht möglich ist, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren, analog zur Tatsache, dass ich mich nicht gleichzeitig interessieren kann für die physischen Eigenschaften eines Bildes, beispielsweise für die Eigenschaften der Leinwand eines Ölbildes, des Holzgestells, auf das die Leinwand gespannt ist usw. einerseits und andererseits für das in diesem Bild Dargestellte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
Inhalt
c)
d)
Ist die Frage nach dem Grund, warum es nicht möglich ist, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren analog zur Tatsache, dass wir uns nicht gleichzeitig dem Anschauen der vom Maler im Bild dargestellten Frühlingslandschaft widmen und uns aufmerksam an dieselbe Landschaft zur selben Jahreszeit erinnern können, so wie wir sie vor einigen Jahren selbst gesehen haben, als wir uns selbst im Frühling oder in einer anderen Jahreszeit in ihr aufhielten, so wie wir sie selbst auch später wieder sehen können und so wie der Künstler sie gesehen hat, als er sich in ihr aufgehalten hat, als er sein Ölbild malte oder einen Entwurf dafür skizzierte? . . . . . . . . 143 Antwort auf die in den drei obigen Abschnitten a), b) und c) gestellten Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
5. Kapitel. Reflexion auf intentionale Erlebnisse ist nur aufgrund von Vergegenwärtigungen möglich, z. B. aufgrund von Erinnerungen an Vergangenes, Vorstellen von Künftigem, Phantasieren von Möglichem, Einfühlen in andere erlebende Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6. Kapitel. Einwand: Es gibt Reflexion auf gegenwärtige intentionale Erlebnisse, denn das Wissen um nur Scheinbares im gesehenen Gegenwärtigen enthält Reflexion auf unser gegenwärtiges Sehen. Antwort auf diesen Einwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 7. Kapitel. Nicht nur auf eigene intentionale Erlebnisse können wir reflektieren, sondern in der vergegenwärtigenden Einfühlung in andere erlebende Wesen auch auf deren intentionale Erlebnisse. Diese Reflexion ist «Vergegenwärtigung» in einem doppelten Sinn. . . . . . . . . . 152 8. Kapitel. Was motiviert uns, auf die eigenen und die fremden intentionalen Erlebnisse zu reflektieren? Erst durch die Reflexion auf eigene und auf fremde Erlebnisse gewinnen wir die Erkenntnis des subjektiv bedingten Charakters unserer Erfahrung und erst durch die Reflexion in der Einfühlung gewinnen wir die volle Intersubjektivität . . 155 Zitierte Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
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Vorwort
Die erste der drei in diesem Buch vorgelegten Studien geht auf einen Vortrag zurück, den ich im Rahmen des Symposions über «Gedächtnis und Voraussicht / Mémoire et projet» der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft am 11.–13. Mai 2000 in Mendrisio unter dem Titel «Die besondere Wirklichkeit der Vergangenheit» gehalten habe und der in der Jahreszeitschrift dieser Gesellschaft, in den Studia philosophica, veröffentlich wurde (Vol. 60 (2002), S. 13–32). Diesen Text habe ich danach grundlegend und aufgrund in ihm noch nicht gestellter Fragen überarbeitet und weitergeführt und lege ihn nun in dieser sehr erweiterten Fassung zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor. Die zweite Studie, «Personale Einheit und Identität. Zwei Prinzipien der Bewusstseinseinheit: Erlebtsein und Zusammenhang der Erlebnisse», schrieb ich für eine Festschrift meines Freundes und Kollegen, Prof. Guido Küng, Universität Fribourg/Freiburg. Diese Festschrift wurde dann aber von ihren zwei Initianten nicht veröffentlicht, sodass ich meinen Beitrag in der mittlerweile eingegangenen Zeitschrift des Philosophischen Institutes der Universität Bern unterbrachte: Facta Philosophica 2, 2000, S. 51–74, Verlag Peter Lang, Schweiz. Auch ihn habe ich für die Aufnahme in dieses Buch Philosophische Studien überarbeitet, aber nicht im selben Ausmasse wie die erste Studie. Die dritte Studie, «Reflexion und Intersubjektivität», habe ich zuerst im Januar 2003 als Vortrag gehalten, der als Grundlage für eine Diskussion in einer Veranstaltung zu meinem Abschied als Professor am Philosophischen Institut der Universität Bern diente. Denn ich dachte, Reflektieren ist die eigentliche Arbeit des Philosophierenden, nicht irgendein Reflektieren, sondern primär ein Reflektieren über sich selbst als Selbsterkenntnis. Frau Prof. Martine Nida-Rümelin (Universität Fribourg), Herr Prof. Ullrich Melle (Universität Leuven) und Herr Prof. Emil Anghern (Universität Basel) ha-
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Vorwort
ben dazu in Korreferaten Stellung genommen. Ich bin diesen Korreferenten zu grossem Dank verpflichtet, denn ich habe aus ihren Beiträgen wertvolle Anregungen empfangen. Ein Teil von diesen hat in der hier vorliegenden Fassung dieser Studie Ausdruck gefunden. Sie wird hier nach einer Überarbeitung, abgesehen von einer chinesischen Übersetzung,1 zum ersten Mal veröffentlicht. Diese drei Studien hängen eng miteinander zusammen, sowohl zeitlich als auch, was wichtiger ist, inhaltlich, sachlich gesehen. Der zeitliche Zusammenhang ist aus der obigen Angabe der Jahre ihrer ersten Publikation ersichtlich, auch wenn ihre damalige Fassung nur mehr oder weniger derjenigen in diesem Buch entsprach. Ihre ersten Fassungen habe ich innerhalb von ungefähr drei Jahren geschrieben. Was ihren sachlichen Zusammenhang betrifft, so ist die erste Studie über Erinnerung eine philosophische Voraussetzung für die zweite über personale Einheit und Identität. Denn das Problem der personalen Einheit und Identität kann sich nur für ein Wesen stellen, das sich an vergangenes eigenes Erleben und Handeln, an seine vergangenen Überzeugungen und Entschlüsse erinnern kann und sich fragt, inwiefern es in seinen Handelns- und Erlebensweisen, in seinen Überzeugungen verschiedenster Art und in seinen Entschlüssen eine Einheit bildet und bildete und inwiefern es in seinem vergangenen Erleben und Handeln dasselbe und inwiefern es nicht dasselbe geblieben ist. Ein solches Befragen der eigenen Einheit und der Geschichte des eigenen Erlebens und Handelns, der eigenen Überzeugungen und Entschlüsse ist nur möglich durch Reflexion über diese subjektive Geschichte. Der Charakter und die Möglichkeiten einer solchen Reflexion (Rückwendung) ist der Gegenstand der dritten Studie. In ihr ist auch von Intersubjektivität die Rede, weil das Reflektieren sich nicht nur auf die eigene subjektive Geschichte, sondern aufgrund der Einfühlung auch auf die subjektive Geschichte anderer richten kann. Erst aufgrund dieser Reflexion in der Einfühlung kommt die Subjektivität anderer und ihrer subjektiven Beziehungen zum Reflektieren-
心的現象.耿寧現象學研究文集 (Das Phänomen des Geistes. Sammlung phänomenologischer Aufsätze von Iso Kern), Commercial Press, Beijing 2012, pp. 381–401.
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Vorwort
den und der Beziehungen des Reflektierenden zur anderen einfühlenden Subjektivität zur klaren Geltung.
Dank Ich möchte meinem Freund und ehemaligem Kollegen an der Universität Bern, Prof. em. Eduard Marbach herzlich danken, dass er die erste der drei Studien, diejenige über Erinnerung und die besondere Wirklichkeit der Vergangenheit, kritisch gelesen und mit mir diskutiert hat. Dadurch vermochte ich diese Studie wesentlich zu verbessern. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Frau Prof. Martine Nida-Rümelin, Universität Fribourg/Freiburg. Nachdem ich im Januar 2003 eine Vorfassung der dritten Studie als Vortrag gehalten hatte, nahm sie in einem Korreferat dazu kritisch Stellung. Daraus habe ich für meine in diesem Buch vorgelegte dritte Studie, für diejenige über Reflexion, gelernt.
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Erste Studie: Erinnerung und die besondere Wirklichkeit der Vergangenheit
1. Kapitel. Einleitung: Begriffliche Klärungen zu Gedächtnis und Erinnerung Der berühmte aus Estland stammende und in Kanada lehrende Psychologe Endel Tulving (geboren 1927) hat seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, vor allem in seinem Werk Elements of Episodic Memory (1983), im Wesentlichen drei Arten von memory unterschieden, nämlich procedural memory («Verhaltensgedächtnis»), semantic memory und episodic memory («Gedächtnis an ein Ereignis»). Das procedural memory («das prozedurale Gedächtnis») ist nach ihm anoetic, d. h. nicht erkennend, es ist ein Gedächtnis, das frühere Erfahrungen gelernt (gespeichert) hat und das sich im gegenwärtigen Verhalten äussert. Z. B. hat ein Hund seinen Meister kennengelernt und verhält sich ihm gegenüber nun entsprechend; oder ein Mensch oder ein Hund hat Wege in einer Stadt kennengelernt und bewegt sich nun gewohnheitsmässig (vertraut) auf ihnen (Beispiele von mir). Das «semantische Gedächtnis» ist noetic, d. h. wissend oder erkennend, es weiss aufgrund früheren Kennenlernens, dass etwas so oder so ist, z. B. dass Oslo die Hauptstadt von Norwegen ist. Das episodic memory («Gedächtnis an ein Ereignis») ist autonoetic, d. h. selbsterkennend. Auf seiner Grundlage erinnert sich also ein Mensch an ein Ereignis, das er selbst erlebt hat. Ich interessiere mich in dieser Studie nur für das Sich-Erinnern an etwas selbst Erlebtes (und auch selbst Getanes), denn nur in diesem haben wir es mit unserer eigenen, selbst erlebten Vergangenheit zu tun. Auch das «semantische Gedächtnis» kann es mit der Vergangenheit zu tun haben, z. B. wenn ich weiss, dass der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 gedauert hat, oder
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Erste Studie: Erinnerung und die besondere Wirklichkeit der Vergangenheit
wenn ich weiss, dass ich 1937 geboren wurde; aber dieses semantische Wissen ist kein Sich-Erinnern, d. h. keine eigene Erinnerung an etwas Vergangenes, das ich selbst erlebt oder getan habe. Mit anderen Worten: In dieser Studie werde ich nicht vom Gedächtnis sprechen, über das die meisten Psychologen sehr viel schreiben. Das tun sie, weil sie das Gedächtnis im Gehirn lokalisieren und letztlich das Gedächtnis welcher Art auch immer durch das Gehirn erklären wollen. In dieser Studie interessiere ich mich nicht für das Gedächtnis, nicht für das Gehirn, sondern nur für das Sich-Erinnern an die selbst erlebte, selbst wahrgenommene, durch damaliges eigenes Tun veränderte eigene Vergangenheit. Obschon auch das Gehirn etwas höchst Interessantes ist, ist schon dieses Sich-Erinnern an die selbst erlebte Vergangenheit für sich allein betrachtet etwas höchst Kompliziertes, schwierig zu Verstehendes und mindestens ebenso Interessantes wie das Gehirn. Es erscheint mir auch als unmöglich, die Wirklichkeit der selbst erlebten eigenen Vergangenheit durch das eigene Gehirn erklären zu wollen, das nur wirklich ist, sofern es jetzt, also gegenwärtig ist. Etwas gegenwärtiges Materielles vermag nur gegenwärtiges Materielles und nicht etwas Vergangenes hervorzubringen, wie dies das Sich-Erinnern vermag. Vom Gehirn her gesehen ist die eigene erinnerte Vergangenheit gar nichts Wirkliches. Über diese Wirklichkeit werde ich in dieser Studie schreiben. Erinnern ist eine Form des Vergegenwärtigens, wie das Sich-Vorstellen von etwas, was in unserer wahrnehmbaren Umwelt nicht gegenwärtig ist, z. B. wenn ich mir hier in Krattigen das Pantheon in Rom zuerst von seinem Vorplatz aus und dann innen von unten nach oben bis zu seiner einzigen, runden Lichtquelle oben in der Kuppel vergegenwärtige, oder wenn ich mir in der Einfühlung vergegenwärtige, was ein anderer Mensch von seinem jetzigen Gesichtspunkt aus sieht, der notwendig von meinem jetzigen Gesichtspunkt verschieden ist, oder wenn ich mir verschiedene Handlungsmöglichkeiten vergegenwärtige oder eine künftige Reise plane und mir vergegenwärtige, was ich an den zu besuchenden Orten am Meer oder im Gebirge sehen werde. Auch von einigen dieser Formen des Vergegenwärtigens werde ich im Folgenden schreiben.
2. Kapitel
2. Kapitel. Ist das im aktuellen Erinnern Vorgestellte etwas Gegenwärtiges? Zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen über die besondere Wirklichkeit der erinnerten Vergangenheit nehme ich eine Meinungsverschiedenheit innerhalb der buddhistischen Tradition. Auf diese Meinungsverschiedenheit bin ich in meiner Beschäftigung mit einer chinesischen Form des sogenannten Vijnanavada gestossen, einer buddhistischen Schule, die zum Mahayana, zum «Grossen Fahrzeug», gehört. Diese Schule, die «Schule des blossen Bewusstseins» (chinesisch 唯識宗 wei shi zong), analysiert z. T. recht ähnlich wie unsere westliche Phänomenologie das Bewusstsein. Die Bewusstseinsanalysen des Vijnanavada haben ein praktisches Ziel: Sie sollen zusammen mit praktischen Übungen zu einer Bewusstseinsumwandlung führen, in der nach dieser Schule die «Erleuchtung», d. h. das Ziel des buddhistischen Pfades, besteht. Diese Schule ist nun der Auffassung, dass die Vergangenheit nicht existiert. Weiter lehrt sie, dass die erinnerte Vergangenheit, d. h. das, was in unserem Erinnern als etwas Vergangenes vorgestellt wird, in Wahrheit etwas Gegenwärtiges ist, von dem wir in der Erinnerung bloss meinen, dass es etwas Vergangenes sei. Anders ausgedrückt, diese Schule ist der Auffassung, dass die erinnerte Vergangenheit in Wirklichkeit nichts anderes sei als ein gegenwärtiger Bewusstseinsinhalt. Ich werde später auf diesen Punkt noch genauer zu sprechen kommen. Demgegenüber lehren die Sarvastivadin, die zum Hinayana, dem «Kleinen Fahrzeug», gehören, dass nicht nur das Gegenwärtige, sondern auch das Vergangene wie auch das Künftige existiert. Zwei ihrer Argumente lauten: Es gibt Erkenntnisse von Vergangenem in besonderen Erinnerungen; die Gegenstände von Erkenntnissen müssen existieren, sonst wären es keine Erkenntnisse. Ein zweites Argument: Die vergangenen Taten, das vergangene karma, wirken sich in der Gegenwart oder in der Zukunft aus; sie könnten sich nicht auswirken, wenn sie nicht existieren würden, denn etwas, das nicht existiert, kann keine Wirkung ausüben. Ich möchte nun meine folgenden Überlegungen unter die Frage stellen: Wie ist uns Vergangenes bewusst? Ich möchte mich dabei auf die eigene Lebensvergangenheit beschränken, sodass die Frage lautet: Wie ist uns Vergangenes aus unserem eigenen Leben bewusst? Diese Fragestellung entspricht
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Erste Studie: Erinnerung und die besondere Wirklichkeit der Vergangenheit
dem Gesichtspunkt des Vijnanavada, der «Schule des blossen Bewusstseins», dem gemäss etwas nur das ist, als was es in unseren verschiedenartigen Erkenntnistätigkeiten erkannt wird. Alles ist vijnaptimatra: «bloss zum Bewusstsein Gebrachtes».
3. Kapitel. Enthalten Erinnerungen notwendig sinnlich qualifizierte Anschauungen? Wir wissen auf verschiedene Weise um Vergangenes aus unserem Leben. Sicher spielt dabei das Uns-Erinnern an es eine besondere Rolle. Es ist aber nicht der einzige Zugang zu unserer Vergangenheit. Wir wissen von dieser auch durch Mitteilungen anderer, etwa unserer Eltern oder Geschwister oder anderer Verwandter und Bekannter, die uns über unsere Vergangenheit berichten, z. B. über unsere Kindheit, ohne dass wir uns daran erinnern können. An einigen solchen Berichten mögen wir zweifeln, aber oft halten wir sie für zuverlässig. Wir können um Vergangenes aus unserem Leben auch durch eigene Notizen, z. B. Tagebücher, wissen, ohne dass wir uns dabei noch erinnern können. Es geschieht mir, dass ich in alten Reisenotizen lese, über Dinge, die ich gesehen, oder über Personen, mit denen ich damals gesprochen habe; ich zweifle nicht, dass das geschehen ist, aber die Erinnerung daran will sich nicht mehr einstellen. Auch können wir die Namen z. B. einer Person oder einer Ortschaft im Kopf behalten und wissen, dass wir sie gesehen haben, aber wir können sie uns nicht mehr vorstellen und uns insofern nicht mehr an sie erinnern. Was heisst das – ich weiss z. B. aufgrund meiner Notizen um gewisse eigene vergangene Erfahrungen, aber ich erinnere mich nicht daran? Offenbar fehlt diesem Wissen eine gewisse Anschaulichkeit. Die Kunstwerke, die Landschaften, die Personen, die ich in meinen Notizen beschrieben habe, werden mir bei der Lektüre nicht mehr anschaulich. Bei dieser Anschaulichkeit geht es nicht nur um Visuelles; meine Notizen berichten vielleicht auch von der Stimme einer Person oder dem Gesang von Vögeln, vom Duft von Blumen oder dem Geschmack einer besonderen Frucht oder auch von taktilen Erfahrungen; aber bei der Lektüre bleiben die Wörter leer und kraftlos, sie vermögen keine Erinnerungsanschauungen mehr hervorzurufen. Aber damit ich mich an das in meinen Notizen Beschriebene erinnere, genügt es auch nicht, dass ich es in der blossen Phantasie irgendwie veran-
3. Kapitel
schauliche. Sprachliches Wissen um eigene vergangene Erfahrungen, gepaart mit den Wörtern entsprechenden Phantasieanschauungen, macht immer noch keine Erinnerung an diese Erfahrungen aus. Wenn ich solche für mich gewissermassen leeren, keine Erinnerungsanschauungen mehr weckenden Tagebuchnotizen lese, kann ich versuchen, sie mit allerhand anschaulichen Vorstellungen anzufüllen, indem ich etwa einen chinesischen Tempel oder den Gesang eines Vogels phantasiere, aber bei diesen Phantasieanschauungen habe ich nicht das Bewusstsein, dass mir in ihnen das früher Erfahrene wieder erscheint. Solches Veranschaulichen in der Phantasie kann zwar Erinnerungen wecken, aber es tut es nicht immer und unterscheidet sich jedenfalls von den anschaulichen Erinnerungen selbst. Der Versuch, anhand von Tagebuchnotizen sich nicht einstellen wollende Erinnerungen zu wecken, kann anstelle blosser Phantasieanschauungen Wahrnehmungen zu Hilfe nehmen: Ich habe etwa datierte Fotografien zur Hand, von denen ich weiss, dass sie genau den in den Notizen beschriebenen Tempel und auch die Personen abbilden, mit denen ich, gemäss meinen Notizen, damals diesen Tempel besucht habe. Aber selbst diese wahrgenommenen fotografischen Bilder vermögen in mir, zu meinem Leidwesen, nicht immer eigentliche Erinnerungen hervorzurufen. Es gibt einen japanischen Dokumentarfilm des Regisseurs Hirokazu Kore-eda aus dem Jahre 1996 mit dem Titel «Ohne Gedächtnis» (Kioku ga ushinawareta toki). Kore-eda und sein Filmteam besuchten während drei Jahren einen Mann namens Hiroshi Sekine, der aufgrund eines postoperativen Fehlers teilweise sein Erinnerungsvermögen eingebüsst hatte. Hiroshi konnte sich noch an Dinge erinnern, die er vor seiner Operation erlebt hatte, und auch an solche, die höchstens zwei Stunden zurücklagen. Aber was jeweils gestern oder vorgestern oder vor einer Woche passiert war, daran konnte er sich nicht erinnern. Hiroshi und seine Frau erhielten nun eine Videokamera, mit der sie filmen konnten, was in ihrem Leben jeweils sich abspielte. Doch wenn Hiroshi sich am nächsten oder übernächsten Tag diese Videos ansah, blieben ihm die Bilder fremd; sie weckten in ihm keine Erinnerungen. Aufgrund der zuverlässigen Mitteilungen seiner Frau und auch weil er seine Frau und seine eigene Gestalt, die eigenen Möbel usw. auf den Videobildern erkannte, wusste er zwar, dass er z. B. gestern an einer Teezeremonie im eigenen Haus teilgenommen hatte, und er nahm die Videobilder davon wahr, dennoch konnte er sich nicht daran erinnern. Wissen um Ereignisse der ei-
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genen Vergangenheit, blosse Phantasieanschauungen und wahrgenommene Bilder von der Vergangenheit machen also noch keine Erinnerung aus. Die Anschaulichkeit, die zur Erinnerung gehört, ist folglich eine ganz besondere: Wenn wir uns an eine vergangene Episode unseres Lebens erinnern, dann wird ein Gegenstand als ein in der Vergangenheit erfahrener Gegenstand direkt anschaulich, z. B. ein Zimmer, in dem wir wohnten, eine Person, der wir begegneten, eine Landschaft, die wir durchwanderten. D. h., etwas Vergangenes selbst, z. B. das Zimmer, in dem wir wohnten, wird anschaulich, es wird nicht durch etwas anderes, z. B. ein wahrgenommenes fotografisches Bild oder ein bloss phantasiertes Zimmer veranschaulicht. Die in der Erinnerung angeschauten Gegenstände haben in ihrer Erscheinung eine gewisse Unbestimmtheit, Vagheit, Verschwommenheit, Lückenhaftigkeit. Bekannt ist Sartres Bemerkung, dass er in der Erinnerung an einen Besuch der Akropolis von Athen die Frontsäulen des Pantheon nicht zählen konnte. Die erinnerten Gegenstände können in der Vertiefung der Erinnerung an Anschaulichkeit gewinnen. Sie können dadurch in ihrer Erscheinung deutlicher und vollständiger werden; Einzelheiten, an die man sich vorher noch nicht erinnerte, tauchen auf, und dadurch können sich Bestandteile des Erinnerten in ihren Zusammenhängen auch verschieben. Korrekturen finden statt. Wir sagen, dass das Erinnerte aus dem Dunkel auftauche oder dass wir es aus dem Dunkel zurückrufen und dass es dann ans Licht trete. Trotz dieser Erhellung und genaueren Bestimmung bleibt das Erinnerte aber für uns in der Vergangenheit, es rückt dadurch nicht zeitlich näher zu den gegenwärtigen wahrgenommenen Dingen. Das Erinnerte ist nicht deshalb für uns in der Vergangenheit, weil es vage oder verschwommen ist. Auch Gegenstände unserer wahrgenommenen Gegenwart können vage und verschwommen erscheinen: Dinge am Rande unseres Gesichtsfeldes oder in der Dämmerung erscheinen vage und verschwommen, aber gehören für uns zur wahrgenommenen Gegenwart. Wenn wir uns erinnern, so leben wir im Bewusstsein, dass uns etwas Vergangenes mehr oder weniger anschaulich selbst erscheint. Dass es uns anschaulich erscheint, zeigt sich auch dadurch, dass wir nicht gleichzeitig mit dem anschaulichen Erinnern von etwas Vergangenem uns auch etwas Gegenwärtiges durch Wahrnehmen anschaulich machen können. Wir müssen uns zwar im anschaulichen Erinnern unserer gegenwärtigen Situation dunkel bewusst bleiben, sonst wird das Erinnern zum
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Träumen. Aber wir können uns diese gegenwärtige Situation nicht gleichzeitig mit dem anschaulichen Erinnern an Vergangenes durch Wahrnehmen anschaulich machen, wie wir nicht gleichzeitig etwas in der gegenwärtigen Situation uns durch Wahrnehmen anschaulich machen und uns an etwas Vergangenes anschaulich erinnern können. Das eine «verdeckt» oder «überdeckt» das andere, oder das eine verdrängt das andere.
4. Kapitel. Was bewirkt, dass die in der Erinnerung anschaulich vorgestellten Sachen als vergangene erscheinen? a) Die Sicht des Vijnanavada: «Das Erinnerte trägt aufgrund des Alaya- oder Speicherbewusstseins Wirklichkeit mit sich.»
Dennoch kommt mir und wohl auch einigen Lesern der erwähnte Gedanke des buddhistischen Vijnanavada nicht absurd vor, dass das jetzt als etwas Vergangenes Erinnerte ein gegenwärtiger Bewusstseinsinhalt sei. Klar ist, dass, wenn ich mich jetzt an etwas Vergangenes erinnere, dieses Erinnern, dieser psychische Akt, jetzt stattfindet, also in der Gegenwart. Das Problem betrifft nicht das Erinnern, sondern das im Erinnern Erinnerte. Ist dieses Erinnerte etwas Vergangenes oder ist es etwas Gegenwärtiges, von dem wir bloss meinen, dass es etwas Vergangenes sei? Wenn aber das Erinnerte wirklich nur ein gegenwärtiger Bewusstseinsinhalt ist, meinen oder denken wir dann nicht bloss fälschlicherweise, wie das Vijnanavada lehrt, dass wir uns an etwas Vergangenes erinnern? Doch diese Unterscheidung zwischen einem gegenwärtigen anschaulichen Erinnerungsinhalt und dem durch diesen gegenwärtigen Erinnerungsinhalt fälschlicherweise gemeinten oder mit Wörtern gedachten Vergangenen hat eine Schwierigkeit: Tritt beim durch das anschaulich Erinnerte bloss fälschlicherweise gemeinten oder gedachten Vergangenen nicht dasselbe Problem auf wie beim anschaulich Erinnerten? Ist dieses gedachte oder gemeinte Vergangene an sich nicht auch ein Inhalt des gegenwärtigen Denkens oder Meinens, zwar kein gegenwärtiger Anschauungsinhalt, aber ein gegenwärtiger Denkinhalt? Wie kommen wir dazu, fälschlicherweise zu meinen oder zu
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denken, dass dieser gegenwärtige Denkinhalt etwas Vergangenes sei? Das muss einen Grund haben! Hören wir uns jetzt genauer an, was das Vijnanavada des Buddhismus über unser Problem des Erinnerten sagt! Ich stütze mich in meinen Ausführungen auf chinesische Texte aus dem 7. Jahrhundert, die vom berühmten chinesischen Mönch Xuanzang (geboren um 600, gestorben 664) und seinen Schülern und Schülerschülern verfasst wurden. Fünfzehn Jahre, bevor Xuanzang seinen u. a. dieses Problem betreffenden Text, das 成唯識論 Cheng wei shi lun («Vollständige Lehre vom blossen Bewusstsein»), im Winter 659/ 60 schrieb, war er von einer Studienreise in Indien nach China zurückgekehrt. Sie hatte sechzehn Jahre gedauert. Diese Schule lehrt, dass jedes Bewusstsein, z. B. Sehen, Riechen, Lieben, Wollen, Denken, Sich-Erinnern, aus drei bzw. vier Komponenten besteht. Z. B. besteht das Sehbewusstsein (das visuelle Bewusstsein), erstens, aus dem intentionalen Akt des Sehens von etwas, zweitens, aus dem vom Sehen Gesehenen als solchem, z. B. dem gesehenen Tuch, so wie es gesehen ist, und, drittens, einem Bewusstsein des Sehens des Gesehenen, einer Art Wissen, dass man sieht, wenn man sieht. Die erste Komponente, der intentionale Akt, heisst, wörtlich übersetzt, «Blickteil» (Sanskrit: darsanabhaga; chinesisch: jianfen 見分); die zweite Komponente, das gegenständliche Moment (das Gesehene, Gedachte, Erinnerte usw.) heisst «Bildteil» (Sanskrit: nimittabhaga; chinesisch: xiangfen 相分), und die dritte Komponente heisst «Teil der Selbstbezeugung» (Sanskrit: svasamvittibhaga; chinesisch: zizhengfen 自 證分). In dieser dritten Komponente wird von einem Zweig der Schule noch eine vierte analysiert: die «Bezeugung der Selbstbezeugung».2 Von diesen drei oder vier Komponenten alles Bewusstseins wird gesagt, dass sie alle gleichzeitig seien; also z. B.: der «Bildteil» des Erinnerungsbewusstseins, d. h. das Erinnerte, ist gleichzeitig mit dem «Blickteil», dem Akt des Sich-Erinnerns. Das im gegenwärtigen Sich-Erinnern Erinnerte ist also auch gegenwärtig. Als Grund für diese Gleichzeitigkeit wird angegeben, dass die Bestandteile eines Ganzen gleichzeitig sein müssen.
Vgl. meinen Aufsatz «The Structure of Consciousness according to Xuanzang», in Journal of the British Society of Phenomenology, Vol. 19, No. 3, October 1988. 2
4. Kapitel
Das im Erinnern Erinnerte wird nun in dieser Schule als «blosser Schattengegenstand» (du ying jing 獨影境) bezeichnet, im Gegensatz zu den Bewusstseinsgegenständen, den sogenannten «Bildteilen», der sinnlichen Wahrnehmung, die «reale Gegenstände» (xing jing 性境) heissen. Die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung heissen deshalb reale Gegenstände, weil sie in sich selbst Gründe ihres Erscheinens haben (diese Gründe sind die sogenannten «Samen des Bildteils»); das Erinnerte heisst deshalb «blosser Schattengegenstand», weil es nur vom Erinnerungsakt, vom «Blickteil» der Erinnerung, zum Erscheinen gebracht wird. Im Gegensatz zu anderen Bewusstseinsformen, deren Gegenstände auch blosse Schattengegenstände sind, z. B. im Gegensatz zum Einfühlen in mentale Zustände von anderen empfindenden Wesen, hat der Erinnerungsakt, wenn er das Erinnerte zum Erscheinen bringt, auch «keine äussere Stütze»; das heisst: der Erinnerungsakt bringt seinen Gegenstand, das Erinnerte, das ein gegenwärtiger Bewusstseinsinhalt ist, nicht irgendwie gestützt auf einen vergangenen Gegenstand hervor. Als Grund für diese Auffassung wird angegeben, dass vergangene Gegenstände nicht mehr existieren, und dass etwas, was nicht mehr existiert, nicht Stütze einer gegenwärtigen Tätigkeit sein kann. Aber der Erinnerungsakt, der das Erinnerte hervorbringt, schwebt nach dieser Schule doch nicht einfach grundlos in der Luft. Obschon das Erinnerte ein «blosser Schattengegenstand» ist und obschon das Sich-Erinnern «keine äussere Stütze» hat, «trägt das Erinnerte doch Wirklichkeit mit sich». Dies ist deshalb so, wie es weiter wörtlich heisst, «weil die durch Beräucherung entstandenen Samen Wesenhaftigkeit erzeugen». Die «durch Beräucherung entstandenen Samen» sind nach dieser Lehre die Niederschläge der vergangenen Taten und Erfahrungen im sogenannten Alaya- oder Speicherbewusstsein. In diesem Speicherbewusstsein hinterlassen alle unsere Taten und Erfahrungen latente Spuren. Das Speicherbewusstsein wird durch unsere Taten und Erfahrungen, wie es heisst, «beräuchert», ähnlich wie unsere Kleider beräuchert werden, wenn wir uns in einem Lokal aufhalten, in dem geraucht wird. Und diese Beräucherungsniederschläge werden «Samen» genannt, da sie sich in den späteren Erfahrungen und Taten auswirken, darin keimen und Früchte hervorbringen. Dass der erinnerte Gegenstand aufgrund der durch Beräucherung entstandenen Samen «Wirklichkeit mit sich trägt», ist wohl so zu verstehen, dass das Sich-Erinnern aufgrund der im Gedächtnis
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sedimentierten Spuren der früheren Erfahrungen den erinnerten Gegenstand zum Erscheinen bringt. Aber auch diese Grundlage des Sich-Erinnerns scheint mir noch nicht zu erklären, warum das Erinnerte, das ja nach dieser Lehre im aktuellen SichErinnern nur ein gegenwärtiger Bewusstseinsinhalt ist, als Vergangenes erscheint. Denn unsere vergangenen Erfahrungen wirken sich ja auch in dem aus, wie wir unsere gegenwärtige Umwelt wahrnehmen oder was wir bloss phantasieren oder was wir träumen, und dennoch erscheinen uns das Wahrgenommene, das bloss Phantasierte und das Geträumte nicht als etwas Vergangenes. b) Ist das Bewusstsein des anschaulich erinnerten Vergangenen so etwas wie eine optische Illusion, deren wir uns bewusst werden, wenn wir aus dem Erinnern heraustreten und auf es reflektieren?
Oder soll man vielleicht das Folgende sagen: Wenn wir uns im Erinnern selbst befinden und uns für das erinnerte Vergangene interessieren, dann meinen wir, das Vergangene selbst anzuschauen; wenn wir aber auf dieses Erinnern reflektieren, wenn wir aus dem Erinnern heraustreten und es zum Gegenstand unseres Interesses und unserer Überlegungen machen, dann kommen wir darauf, dass das erinnerte Vergangene etwas Gegenwärtiges ist? Ist es ähnlich, wie wenn wir in einem kleinen Guckkasten Diapositive anschauen, dann weite, sich in die Ferne erstreckende Landschaften sehen und uns für sie interessieren; wenn wir aber nachher uns dieses Anschauen von Diapositiven von aussen vorstellen und uns dafür interessieren, wie wir durch den Guckkasten die Landschaften sehen konnten, es uns bewusst wird, dass wir bloss kleine flache Bildchen anschauten, die sich ganz nahe vor unseren Augen befanden? Ist das Paradox, dass das anschaulich Erinnerte einerseits etwas Vergangenes und andererseits etwas Gegenwärtiges ist, einfach so aufzulösen, dass wir uns einmal im Erinnern selbst befinden, also en-mnemisch sprechen, das andere Mal aber nachträglich über das Erinnern reflektieren, also meta-mnemisch sprechen? Solche Unterscheidungen sind eventuell nützlich, aber so lange unbefriedigend, wie sie uns nicht wirklich
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darüber aufklären, wie das Erinnerungsbewusstsein von etwas Vergangenem in sich selbst beschaffen ist. c) Die Idee, dass im Erinnern mit einem gegenwärtigen geistigen Bild etwas Vergangenes vorgestellt wird
Die chinesische Vijnana-Schule vergleicht manchmal das Erinnerte mit dem Mond, den wir im Wasser sehen, also dem Mond, den wir, auf die spiegelnde Oberfläche eines Sees blickend, tief in diesem See zu sehen meinen, obschon er dort unten gar nicht existiert. So meinen wir in einem gegenwärtigen Erinnerungsinhalt etwas tief (fern) Vergangenes zu sehen, das als solches gar nicht existiert. Dieses erklärende Gleichnis lässt uns an ein ähnliches Gleichnis denken, mit dem Aristoteles in seiner kleinen Schrift «Über das Gedächtnis und das Erinnern» (Περὶ μνημῆς καὶ ἀναμνήσεως, Peri mnêmês kai anamnêseôs) zu verstehen versucht, wie wir uns aufgrund eines anwesenden psychischen Affektes (πάθος, pathos) an etwas Abwesendes erinnern können. Das Anwesende ist ein gegenwärtiges Phantasma, ein gegenwärtiges Phantasiegebilde, das seinen Ursprung letztlich in der Wahrnehmung hat; das Abwesende ist etwas Vergangenes. Wenn wir uns erinnern, so «betrachten» (θεωρεῖν, theôrein) wir nach Aristoteles ein an sich (καθ’ αὑτό, kath’ hauto) gegenwärtiges Phantasiegebilde als ein Abbild (εἰκών, eikôn) von etwas anderem, nämlich von etwas Vergangenem, so wie wir im Anschauen eines gegenwärtigen Porträts die darauf abgebildete, nicht gegenwärtige Person betrachten. Auch Augustinus schrieb im 15. Kapitel des 10. Buches seiner Confessiones («Bekenntnisse») bei der Erinnerung von Bildern (imagines) einer Sache selbst (res ipsa): «Ich spreche von der Gesundheit des Leibes, wenn ich leiblich gesund bin; da ist mir die Sache selbst (res ipsa) gegenwärtig. Aber wenn nicht auch ein Bild (imago) von ihr in meinem Gedächtnis (in memoria mea) wäre, so könnte ich in keiner Weise mich erinnern (recordari), was der Klang dieses Wortes zu bedeuten hat. Und auch die Kranken wüssten nicht, wenn man ihnen von Gesundheit spricht, was das ist,
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besässen sie nicht kraft des Gedächtnisses dasselbe Bild (imago), obschon die Sache selbst (res ipsa) ihnen vom Leibe fern [nicht gegenwärtig] ist.»3
Man spricht heute, wahrscheinlich in der Gefolgschaft von Aristoteles und Augustinus, viel von «Erinnerungsbildern». Das Problematische dieser BildErklärung der Erinnerung ist, dass bei ihr ein wahrgenommener gegenwärtiger Gegenstand herangezogen wird, die wahrgenommene Spiegelfläche des Sees oder das wahrgenommene Porträt, während in der Erinnerung an etwas Vergangenes kein wahrgenommener gegenwärtiger Gegenstand eine solche repräsentierende Bildfunktion ausübt oder auf alle Fälle nicht auszuüben braucht. Jedenfalls sind wir uns im Erinnern keines gegenwärtigen geistigen Bildes bewusst, welches etwas Vergangenes abbildet. In der anschaulichen Erinnerung ist vielmehr das erinnerte Vergangene selbst angeschaut. Daher ist die Rede von «Erinnerungsbildern» irreführend, und die Erklärung des Vergangenheitsbewusstseins in der Erinnerung durch ein Bildbewusstsein falsch. d) Anschauliches Erinnern von etwas Vergangenem und anschauliches Phantasieren von etwas Gegenwärtigem
Vergleichen wir einmal das Erinnern an etwas Vergangenes nicht mit dem Wahrnehmen von etwas Gegenwärtigem, sondern mit dem Phantasieren von etwas Gegenwärtigem! Ich stelle mir das Castel Grande in Bellinzona vor: Im Innenhof, wenn ich Richtung Gotthard blicke, ragen vor mir die beiden durch eine begehbare Mauer verbundenen Türme auf, links liegt ein Durchgang zu Terrassen, vor denen man zum Fluss Ticino hinuntersehen kann, weiter links befindet sich ein langes Gastronomiegebäude, hinter mir das Museum, rechts ein Abstieg, der dann linker Hand zum Lift in die Stadt hinunter, rechter Hand zum Fussweg in die Stadt führt. Das alles kann ich mir recht anschaulich vorstellen, und ich mache dies nicht bloss zu Zwecken ei-
3 Nomino salutem corporis, cum salvus sum corpore; adest mihi quidem res ipsa. Verum tamen nisi et imago eius inesset in memoria mea, nullo modo recordarer, quid huius nominis significaret tonus. Nec aegrotantes agnoscerent salute nominata, quid esset dictum, nisi eadem imago vi memoriae teneretur, quamvis ipsa res abesset ab corpore.
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ner theoretischen philosophischen Studie, sondern z. B. auch im praktischen gewöhnlichen Leben dann, wenn mich jemand fragt, wie das Castel Grande in Bellinzona von innen aussieht. Wenn ich mir das Castel Grande so veranschauliche, erinnere ich mich dabei nicht notwendig an frühere Besuche dieser Burg, auch wenn dabei sporadisch einzelne Erinnerungen an vergangene Besuche dieses Ortes auftreten mögen. Aber in dieser Veranschaulichung in der Phantasie steht das Castel Grande nicht als etwas Vergangenes, sondern als etwas Gegenwärtiges vor mir. Ich will nicht leugnen, dass ich eine solche Phantasieanschauung des Castel Grande nur aufgrund meines Gedächtnisses bilden kann, aber Gedächtnis ist nicht dasselbe wie Sich-Erinnern, das ich hier als Bewusstsein von etwas Vergangenem verstehe. Solche Phantasien aufgrund unseres Gedächtnisses, aber ohne Vergangenheitsbewusstsein, haben wir sehr viele. In diesen Phantasievorstellungen liegt kein Vergangenheitsbewusstsein. Was ist nun der Unterschied zwischen solchen Phantasievorstellungen, die zwar aufgrund des Gedächtnisses stattfinden, aber nicht notwendig ein Vergangenheitsbewusstsein enthalten, und Erinnerungen, die ein anschauliches Bewusstsein von etwas selbst erlebtem Vergangenem sind? Ich kann mich auch an einen Besuch des Castel Grande erinnern. Um mich zu erinnern, brauche ich nicht zu wissen, in welchem Jahr dieser Besuch stattfand. In einer solchen Erinnerung ist mir z. B. anschaulich, wie meine Frau und ich durch ein Tor der südlichen Stadtmauer von Bellinzona gingen, dann nach rechts über einen ziemlich weiten Platz bogen. Im Micherinnern sehe und höre ich noch vage die freundliche Dame mittleren Alters, wie sie uns auf diesem Platz auf meine Frage hin den Weg wies, der weiter geradeaus führte, um dann bei einem Haus, auf das sie zeigte, durch ein schmales ansteigendes Gässchen abzubiegen. Es ist mir im Mich-erinnern anschaulich, wie wir auf einem gepflasterten Weg den Berg hinaufgingen; zu unserer Linken, oberhalb des Weges, lag so etwas wie ein Wächterhaus mit einer Warnung vor dem Hunde. Diese Warnungstafel will mir in ihrer genauen visuellen Gestalt und Schrift nicht mehr anschaulich erscheinen, aber ich erinnere mich an ihre gedankliche Bedeutung. Weiter wurden bald rechter Hand, über der brusthohen Wegmauer, hoch über der Stadt die beiden anderen Burgen sichtbar, Montebello und Sasso Corbaro, wie auch die Zinnenmauern, die diese beiden Burgen untereinander und mit der Stadt verbinden. Ich erinnere mich, dass meine Frau, die Chinesin ist, beim Anblick dieser ganzen Befestigungsanlage auf Chinesisch sagte: «Das ist ja wie die
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Grosse Mauer», und dass ich auf Chinesisch geantwortet habe: «Ja ja, das ist die grösste mittelalterliche Befestigungsanlage der Schweiz, nur dass sie nicht von den Schweizern, sondern von den Mailändern gegen die Schweizer gebaut, aber von diesen Barbaren aus dem Norden später erobert wurde.» Auch in diesem Punkt erinnere ich mich genauer an den Sinn der Rede als an ihren akustischen Wortlaut. Wenn ich diese Erinnerungen mit jener anschaulichen Phantasievorstellung des Castel Grande, die kein Vergangenheitsbewusstsein ist, vergleiche, so muss ich sagen, dass in der Anschaulichkeit kein wesentlicher Unterschied besteht. In beiden Fällen habe ich mehr oder weniger schemenhafte, lückenhafte, konfuse, schwankende Anschauungen, aber in einem Fall mit Vergangenheitsbewusstsein, im anderen Fall mit Gegenwartsbewusstsein. Worin liegt dieser Unterschied? Liegt er darin, dass ich bei der Erinnerung an den Besuch des Castel Grande einen festen zeitlichen Ablauf von Geschehnissen, eine feste Folgen von Früher und Später («zuerst sahen wir dieses, dann jenes») mir vorstelle, während bei jener Phantasievorstellung das Castel Grande gewissermassen in einem statischen Zustand vorgestellt wird? Aber bei dieser anschaulichen Phantasievorstellung des gegenwärtigen Castel Grande, die kein Vergangenheitsbewusstsein ist, können wir uns auch ein zeitliches Vorher und Nachher von Ereignissen anschaulich vorstellen, ohne dass wir dabei diese Folge als eine vergangene bewusst haben. Wenn mich z. B. jemand fragt, wie man das Castel Grande besuchen kann, antworte ich ihm, indem ich mir das gegenwärtigen Castel Grande in der Phantasie vergegenwärtige: «Sie können zuerst mit dem Lift von der Stadt her im Inneren des Burgfelsens zur Burg hinauffahren, dann die Sehenswürdigkeiten in der Burg und um die Burg besuchen und schliesslich auf der Südseite der Burg den Fussweg hinunter zur Vorstadt nehmen. Aber Sie können den Besuch auch in umgekehrter Weise vornehmen; nur ist der Zugang zum Fussweg auf die Burg etwas schwierig zu finden.»
Allerdings vergegenwärtige ich mir hier auch einen möglichen künftigen Besuch des Castel Grande durch den mich Fragenden, und den zeitlichen Ablauf kann ich mir dabei verschieden vorstellen. Oder wir können uns den Ablauf einer Melodie anschaulich vergegenwärtigen, sie gleichsam «hören», oder uns die Folge der Episoden eines gesehenen Films oder Theaterstückes oder die Entwicklungsphasen eines Lebewesens, z. B. des Frosches, in der ver-
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gegenwärtigenden Phantasie anschaulich machen, von seinem Zustand im Ei zur schwimmenden Kaulquappe und dann zum hüpfenden Frosch. Nach dem Vijnanavada kommen wir dadurch dazu, einen gegenwärtigen Vorstellungsinhalt als etwas Vergangenes zu betrachten, dass wir uns des kontinuierlichen Vergehens und Entstehens unserer eigenen Erlebnisse bewusst sind. Das Vergehen von etwas, das durch sein Vergehen dem Entstehen des unmittelbar Folgenden und Gleichartigen Platz macht, ist nach dieser Lehre eine der vier Bedingungen (pratyaya) des Werdens. Sie heisst «die Bedingung der Gleichartigkeit und Kontinuität» (samanantarapratyaya). Wenn z. B. beim Lesen das Lesen der vorangehenden Sätze nicht durch sein Vergehen dem entstehenden Lesen der folgenden Sätze Platz machen würde, wäre der Prozess des Lesens nicht möglich. Dieses Vergehen und Entstehen sind beide wirklich, insofern beide im jeweils gegenwärtigen Moment geschehen. Aufgrund des wahren Bewusstseins dieses jeweils jetzigen Vergehens hält man nun nach dieser Schule gewisse gegenwärtige gegenständliche Bewusstseinsinhalte illusionistisch für etwas Vergangenes. Es scheint mir aber doch nicht wirklich verständlich, wenn ich diese Erklärung des Vijnanavada richtig verstehe, warum das Bewusstsein des jeweils aktuellen Werdens und des in diesem beschlossenen Vergehens oder Vernichtet-Werdens dazu führt, dass man gegenwärtige gegenständliche Bewusstseinsinhalte fälschlicherweise als etwas Vergangenes auffasst, und weiter bin ich nicht sicher, ob das Sich-Erinnern an etwas Vergangenes einfach nur ein solches illusionistisches Bewusstsein ist. e) Mein Erklärungsversuch, warum die im Sich-Erinnern anschaulich vorgestellten Ereignisse und Dinge als vergangene erscheinen: Wir haben in der anschaulichen Erinnerung nicht nur anschauliche Vorstellungen von irgendwelchen Dingen und Ereignissen, sondern wir sind uns dabei auch bewusst, dass wir sie in der Vergangenheit wahrgenommen oder irgendwie erlebt oder getan haben. Dieses eigene vergangene Wahrnehmen, Erleben und Tun ist nicht in Phantasmen angeschaut und kann auch nicht in Phantasmen angeschaut werden
In der erwähnten Schrift über «das Gedächtnis und die Erinnerung» schreibt Aristoteles, nicht im Zusammenhang der Frage, wie wir mit einem anwesen-
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den Phantasma uns einer abwesenden, vergangenen Sache erinnern, sondern im Zusammenhang der Feststellung, dass sich das Gedächtnis nicht auf etwas Gegenwärtiges oder etwas Künftiges, sondern auf etwas Vergangenes bezieht: «Denn immer, wenn man das Gedächtnis im Erinnern betätigt, sagt man in der Seele, dass man früher etwas hörte, sah oder dachte. Daher ist das Gedächtnis weder ein Wahrnehmen noch ein begriffliches Auffassen, sondern ein aus diesen gewordener Habitus (ἕξις, hexis) oder eine Affektion (πάθος, pathos) davon, nachdem Zeit vergangen ist.» (S. 449 b, gemäss der Standardpaginierung von Bekker)
Und etwas später schreibt er im Zusammenhang der Wahrnehmung von Zeit: «Wenn man [im Erinnern] das Gedächtnis betätigt, dass man etwas sah, hörte oder lernte, dann nimmt man dazu wahr (προσαισθάνεσθαι, prosaisthanesthai), dass es früher war. Das Früher und Später ist aber in der Zeit.» (450 a)
Dass wir in der Erinnerung ein an sich gegenwärtiges Phantasma wie ein Abbild von etwas Abwesendem betrachten, scheint nach Aristoteles nicht darin zu wurzeln, dass wir uns dabei eines vergangenen Wahrnehmens oder Denkens bewusst sind, sondern er scheint es gerade umgekehrt zu sehen. Er schreibt: «Es geschieht, dass wir bedenken und uns erinnern, dass wir früher etwas hörten oder sahen. Dies geschieht dann, wenn man wechselt von der Betrachtung [des Phantasma], wie es selbst ist, zu seiner Betrachtung als von etwas anderem.» (451 a)
Mir scheint nun gerade das Bewusstsein, dass wir etwas hörten, sahen oder sonst wie etwas erlebten oder taten, der Quellpunkt des Vergangenheitsbewusstseins im Sich-Erinnern an etwas zu sein. Dieses Bewusstsein, dass wir etwas taten oder erlebten, scheint mir im Erinnern das Vergangenheitsbewusstsein auszumachen. Es ist ja nicht so, dass wir im Erinnern einfach mit Phantasiebildern eine vergangene Welt anschauen. Wir schauen nicht einfach in solchen Phantasmen unsere vergangenen Situationen mit ihren Sachen, Personen, Ereignissen usw. an, sondern unser Erinnern an Vergangenes ist grundlegend Bewusstsein davon, dass wir das und das sahen, hörten, dachten, wollten, sagten, taten, erfuhren.
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Dieses im Erinnern als vergangen bewusste eigene Wahrnehmen, Tun, Erleben ist nun als eigenes Tun und Erleben nicht durch Phantasiebilder, nicht durch irgendwelche visuellen, auditiven, taktilen Phantasmen vorgestellt; durch solche sinnlichen Phantasmen vorgestellt sind vielmehr die räumlichen Gegenstände, das gegenständliche räumliche und zeitliche Geschehen dieses als vergangen bewussten eigenen Wahrnehmens, Tuns, Erlebens dieser Gegenstände und dieses Geschehens. Evtl. sind durch Phantasmen auch Leibesempfindungen vorgestellt. Man kann sich zwar im Erinnern auch das eigene vergangene Wahrnehmen, Denken, Tun in Phantasiebildern vorstellen, aber dann stellt man sich dieses eigene Wahrnehmen und Tun so wie das Wahrnehmen und Tun einer anderen Person in der wahrgenommenen gegenständlichen äusseren räumlichen Umwelt vor; oder man stellt sich dieses eigene Wahrnehmen und Tun so vor, wie es mit den Augen von anderen gesehen wird. Diese phantasierte räumliche Aussenvorstellung des eigenen Tuns «mit den Augen der anderen» ist aber für das Erinnern an eigenes Tun nicht notwendig, kommt im Sich-Erinnern meistens nicht vor und setzt, wenn sie im eigenen Sich-Erinnern vorkommt, Sich-Erinnern ohne eine solche räumliche Aussenvorstellung der eigenen Person schon voraus. Wenn wir uns im Uns-Erinnern nicht nur an die damals wahrgenommenen Raumdinge, räumlichen Verhältnisse und Geschehnisse, nicht nur an die damals getanen, in räumlichen Dingen zum Ausdruck kommenden Sachen erinnern, sondern auch an unser damaliges Wahrnehmen, Erfahren und Tun, bedeutet dies natürlich nicht, dass wir im Erinnern notwendig auf unser damaliges Wahrnehmen und Tun reflektieren, im Sinne, dass wir dieses Wahrnehmen und Tun zum Gegenstand unseres Interesses und unserer Überlegungen machen. Wir können zwar darauf reflektieren, tun es aber nur in besonderen Fällen, denn im Uns-Erinnern interessieren uns meistens die damals gesehenen, erfahrenen, getanen Sachen, nicht unser damaliges Sehen, Erfahren, Tun. Dennoch ist uns im Erinnern auch ohne Reflexion bewusst, dass wir diese Sachen gesehen, erfahren oder getan haben. Sich erinnern ist also eine Art Selbstbewusstsein, durch das wir uns unseres vergangenen Tuns und Erlebens bewusst sind. Dieses Selbstbewusstsein ist verschieden vom Selbstbewusstsein, das das Vijnanavada, wie zuvor erwähnt, unter dem Titel des «Teiles der Selbstbezeugung» (svasamvittibhaga; 自證分 zizhengfen) diskutiert. Diese «Selbstbezeugung» betrifft nur das jeweils aktuelle Wahrnehmen, Erleben und Tun: Indem wir wahrnehmen, sind
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wir uns bewusst, dass wir wahrnehmen; wenn wir etwas tun, sind wir uns bewusst, dass wir etwas tun.4 Aber dieses Selbstbewusstsein, Selbstgewahren oder diese «Selbstbezeugung» des jeweils aktuellen Tuns und das Erinnern an das eigene vergangene Tun hängen für diese Schule eng zusammen. Denn der chinesische Hauptvertreter dieser Schule, Xuanzang (600–664), bringt als Argument für die Existenz des «Teiles der Selbstbezeugung» gerade das Sich-Erinnern. Er schreibt: Im Uns-Erinnern erinnern wir uns nicht nur an vergangene Dinge, sondern auch daran, dass wir sie getan oder gesehen oder gehört haben etc., und wir könnten uns nicht an dieses Tun, Sehen, Hören erinnern, wenn es uns nicht schon damals, im aktuellen Vollzug, bewusst, «selbstbezeugt», gewesen wäre. Doch das Vijnanavada hat, soweit mir bekannt ist, bei der Erinnerung nicht prinzipiell differenziert zwischen dem erinnerten eigenen Erfahren und Tun und den in diesem erinnerten Erfahren und Tun erfahrenen und getanen Sachen, sondern es spricht beim Erinnerten nur pauschal vom «Bildteil», also vom «gegenständlichen Teil» des Erinnerns. Und dieser «gegenständliche Teil» soll, wie wir hörten, mit dem Akt des Erinnerns, dem sogenannten «Blickteil», gleichzeitig, also im aktuellen Sich-Erinnern etwas Gegenwärtiges sein. Das Erinnerungsbewusstsein vom eigenen vergangenen Wahrnehmen und Tun scheint mir nicht in visuellen, auditiven und anderen sinnlichen Phantasiebildern (Phantasmen) zu bestehen, wie auch das Bewusstsein von unserem aktuellen Wahrnehmen und Tun kein Sehen oder Hören oder ein sonstiges sinnliches Wahrnehmen dieses aktuellen Wahrnehmens und Tuns ist. Wir sind uns z. B. unseres Sehens bewusst, aber wir sehen nicht unser Sehen, sondern den im Sehen gesehenen Gegenstand. In der Sprache des Vijnanavada: Die «Selbstbezeugung» des Sehens ist nicht selbst wiederum ein Sehen oder ein anderer Akt sinnlichen Wahrnehmens. Ich bin relativ spät zur Einsicht gelangt, dass wir uns nicht alles eigenen Wahrnehmens und Tuns bewusst sind, sondern nur unseres eigenen aufmerksamen Wahrnehmens und Tuns von etwas. Was wir ohne Aufmerksamkeit, aus blosser Gewohnheit tun, z. B. ein Medikament einnehmen, das wir jeden Morgen einnehmen müssen, oder wenn unsere Aufmerksamkeit von dem, was wir tun, abgelenkt wird, z. B. wenn wir gleichzeitig jemandem zuhören, der mit uns spricht, dann sind wir uns unseres Wahrnehmens und Tuns nicht bewusst und können uns nachher daran auch nicht erinnern. Siehe dazu unten im fünften Kapitel dieser ersten Studie. 4
4. Kapitel
Wie wissen wir, dass das erinnerte eigene Wahrnehmen und Tun ein vergangenes und nicht ein gegenwärtiges, aktuelles ist? Ich glaube, man muss antworten: Weil wir uns bewusst sind, dass wir uns an das eigene vergangene Wahrnehmen und Tun erinnern, und das heisst: Wir sind uns bewusst, dass wir uns jetzt aktuell an unser vergangenes Wahrnehmen und Tun erinnern, und sind uns in diesem als jetzt aktuell bewusstem Uns-Erinnern auch bewusst, dass wir das erinnerte Wahrnehmen und Tun jetzt nicht aktuell vollziehen, sondern dass wir es vollzogen haben. Das Sich-Erinnern ist immer aufmerksamer intentionaler Akt und deshalb bewusst, ebenso wie der erinnerte Akt. Darauf werde ich im nächsten Kapitel (Kapitel 5) noch genauer zu sprechen kommen. Ist es sinnvoll zu sagen, dass dieses von mir in meinem jetzigen Mich-Erinnern erinnerte, von mir nicht jetzt vollzogene, sondern in der Vergangenheit vollzogen gewesene bewusste Erfahren und Tun von etwas ein an sich gegenwärtiger Bewusstseinsinhalt sei, der etwas anderes, nämlich Vergangenes vorspiegelt, abbildet oder repräsentiert? Es kann nicht einfach ein gegenwärtiges Phantasma sein. Aber was denn sonst? Ist es nicht treffend zu sagen, dass das im Mich-Erinnern als vergangen bewusste eigene Erfahren und Tun selbst vergangen ist? Dem scheint die Tatsache zu widersprechen, dass wir uns im Uns-Erinnern an unser vergangenes Erfahren, Denken und Tun täuschen können. Und wir können auch z. B. darüber zweifeln, ob wir selbst etwas gesehen oder nur von jemand anderem davon gehört haben, oder darüber, ob wir etwas gesagt haben oder nicht gesagt haben. Auch können wir manchmal unsere Erinnerungen korrigieren, indem wir uns in ihre Zusammenhänge vertiefen und uns evtl. durch gegenwärtig vorhandene Dokumente oder Mitteilungen anderer zu dieser Vertiefung anregen lassen. Unsere eigene Lebensvergangenheit ist nicht nur dunkel, sondern eine Erinnerung ist oft durch eine andere verdeckt und mit ihr vermischt. Z. B. kann eine erinnerte von uns unternommene Reise uns eine andere erinnerte von uns unternommene Reise verdecken und sich mit ihr vermischen. Auch blosse Einbildungen können sich in Erinnerungen einmischen oder sich als Erinnerungen ausgeben. Dieses Kunterbunt von Falschem und Wahrem, von Zweifelhaftem und Gewissem, von Dunklem und Klarem, von Vermischungen und Einbildungen kann doch nicht unser vergangenes Erfahren und Tun selbst sein! Dennoch ist uns dieses so erinnerte Erfahren und Tun als unsere Vergangenheit und nicht als ein gegenwärtiger Repräsentant derselben bewusst.
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Erste Studie: Erinnerung und die besondere Wirklichkeit der Vergangenheit
Doch diese erinnerte Vergangenheit ist nicht einfach ein beliebiges Kunterbunt, sondern sie ist bewusst unter der Norm der Wirklichkeit oder der Wahrheit. Wir haben in unseren Erinnerungen das sichere Bewusstsein, dass wir in einer bestimmten Weise, so und nicht anders, gelebt und gehandelt haben, dass das, was unsere Vergangenheit war, nicht in unserem jetzigen Belieben steht. Das, was wir damals erlebt und getan haben, und nichts anderes, ist für uns die Wahrheitsnorm unseres Uns-Erinnerns. Weil wir uns unseres vergangenen Erlebens und Tuns als einer Wirklichkeit bewusst sind, stellen wir an unsere Erinnerungen die Frage der Wahrheit und Falschheit und suchen wahre Erinnerungen an das, was wir wirklich erlebt oder getan haben, und können falsche korrigieren. Unsere erinnerte «kunterbunte» Vergangenheit steht also unter der Idee der im Sich-Erinnern selbst zu suchenden und sich mehr oder weniger anschaulich zeigenden vergangenen Wirklichkeit. Indem wir auf etwas von uns Erinnertes durch weiteres UnsErinnern eingehen, es vertiefen und korrigieren, verändert sich unsere erinnerte Vergangenheit, so wie sie von uns erinnert ist; sie wird dadurch wirklicher. Dabei ist das blosse Zusammenstimmen, die Kompatibilität, verschiedener Erinnerungen noch kein ausreichendes Kriterium ihrer Wahrheit. Auch ein Roman muss innerlich zusammenstimmen, die einzelnen Bestandteile müssen untereinander kompatibel sein. Dadurch aber meinen wir nicht, dass der Roman berichtet, was in der Vergangenheit wirklich war. Zu einer wahren Erinnerung gehört ein klares Wirklichkeitsbewusstsein des erinnerten vergangenen Tuns und Erfahrens und seiner Zusammenhänge. Es scheint mir prinzipiell möglich, dass wir uns an unser vergangenes Erfahren und Tun ohne Verdeckungen, Vermischungen und Einbildungen in lauterer Wahrheit erinnern. Gesamthaft geschieht dies wohl erst am «Jüngsten Tag», wie Locke in seinem Essay schrieb. Erst dann wird uns völlig klar, was wir in unserem Leben getan, unterlassen und versäumt haben. Aber auch vor diesem «Tag» machen wir die Erfahrung, dass unsere Vergangenheit sich als wirkliche zeigt, wenn wir im Erinnern uns ihr zuwenden und uns auf ihre Zusammenhänge einlassen, uns für sie Zeit nehmen, indem wir uns aus dem ganz auf das Künftige gerichteten aktuellen aktiven Tun zurückziehen, dieses loslassen. In einzelnen Erinnerungen haben wir die unerschütterliche Gewissheit: So war es wirklich, das haben wir so erfahren und getan, oder auch: Das haben wir nicht getan. Ein solches klares und gewisses Erinnern an einzelne vergangene Erfahrungen und Taten ist durchaus verträglich mit einer
4. Kapitel
gewissen Vagheit und Lückenhaftigkeit der dazugehörigen Erinnerungsphantasmen. Wenn wir uns nicht der Wirklichkeit unserer erinnerten Vergangenheit und der Möglichkeit bewusst wären, unsere Vergangenheit in wahren Erinnerungen zu erkennen, müssten wir das Interesse an unserem vergangenen Leben verlieren. Wahres Sich-Erinnern als Möglichkeit und Aufgabe ist eine Sache unserer Freiheit und damit der Ethik. Wahre Erinnerungen müssen bewahrt, gepflegt, gesucht werden, man muss sich ihnen aussetzen und zu ihnen stehen, sonst verliert man seine Vergangenheit. Es gibt Leute, die nicht zu ihrem vergangenen Tun stehen und schliesslich kaum noch unterscheiden können, was sie taten oder nicht taten, und sich letztendlich in einem Gespinst von Phantasien ohne Wirklichkeit verlieren. Unsere Vergangenheit, so wie sie von uns erinnert ist, ist mehr oder weniger wirklich, aber sie kann und soll im Uns-Erinnern wirklicher werden. f) Analogie zwischen Sich-Erinnern und Wahrnehmen: So wie ein gegenwärtiges Ding in unbegrenzt vielen verschiedenen anschaulichen Wahrnehmungen, in denen man sich auch täuschen kann, selbst zum Erscheinen gebracht werden kann, so kann eine vergangene Sache in unbegrenzt vielen verschiedenen anschaulichen Erinnerungen, in denen man sich auch täuschen kann, selbst zum Erscheinen gebracht werden
In unserem alltäglichen praktischen Leben nehmen wir viele «Dinge» wahr, Berge und Seen, Felsen und Häuser, verschiedene Tiere und verschiedene Pflanzen, bekannte und unbekannte Menschen, Frauen und Männer, Vogelstimmen und das Kreischen von Maschinen usw. Sie erscheinen uns in verschiedenster Weise: Ein Berg erscheint uns von verschiedensten Gesichtspunkten aus so verschieden, dass wir uns manchmal fragen, ob es derselbe Berg ist, oder meinen, es sei ein anderer. Ein bekannter Mensch sieht von hinten und von vorne sehr unterschiedlich aus; wenn wir ihn von hinten sehen, nehmen wir ihn als den gut bekannten Hans Müller wahr, wenn wir ihn überholt haben und ihn grüssen wollen, sehen wir, dass er ein uns völlig Unbekannter ist. In der Ferne sehen wir an einem Berg ein Haus, wenn wir näher kommen, sehen wir, dass es ein mächtiger Felsbrocken aus Granit ist. Auf einem Waldweg sehen wir ein kauerndes Kaninchen, wenn wir in seine Nähe kommen, sehen wir, dass es ein Stück Holz ist. Die wahrgenommenen
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Dinge erscheinen uns in einer grossen Vielheit von Erscheinungen, bei einigen täuschen wir uns in unseren «Interpretationen», was sie sind. Bei einigen Täuschungen können wir uns korrigieren, indem wir genauer hinsehen oder ihnen näher kommen; bei anderen haben wir keine Gelegenheit dazu. Dennoch denken wir, dass wir im Grossen und Ganzen die Berge selbst, die Menschen selbst, die Felsen selbst, die Häuser selbst sehen, sonst wären wir unfähig, als gesunde Menschen zu leben. Und durch diese Überzeugung leben wir auch tatsächlich; ohne sie würden wir wahrscheinlich in ein Irrenhaus gebracht. Unsere Vergangenheit erscheint uns in unseren vielen Erinnerungen in verschiedenster Weise, manchmal täuschen wir uns dabei, oft können wir diese Täuschungen durch bessere, anschaulichere Erinnerungen oder sonst wie korrigieren, manchmal nicht. Dennoch haben wir Gründe anzunehmen, dass wir uns an das Vergangene selbst erinnern können und sollen. Ohne diese Überzeugung würden wir nicht als wahre Menschen leben. Und wir können und sollen als wahre Menschen leben. Auf die grossen Differenzen zwischen Wahrnehmen von Gegenwärtigem aufgrund von verschiedenen Sinneseindrücken (visuellen, taktilen, auditiven, olfaktorischen) und Sich-Erinnern an Vergangenes aufgrund von Phantasmen möchte ich hier nicht eingehen.
5. Kapitel. Nur mehr oder weniger aufmerksame Tätigkeiten sind mehr oder weniger bewusst und können daher auch mehr oder weniger erinnert werden. Gewohnheitsmässig, «automatisch», unaufmerksam verrichtete Tätigkeiten oder Tätigkeiten, bei denen unsere Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt wird, sind nicht bewusst und können daher auch nicht erinnert werden Zur oben dargestellten Lehre Xuanzangs vom «Teil der Selbstbezeugung», durch den wir uns unseres aktuellen Sehens von etwas, Hörens von etwas, Sagens von etwas und sonstigen Tuns von etwas bewusst sind, möchte ich hier bemerken, dass ich sie nicht als für alle intentionalen Akte («Blickteile») mit ihren intentionalen Gegenständen («Bildteile») gültig betrachte. Diese
5. Kapitel
Bemerkung macht das enge Verhältnis zwischen dem unmittelbaren Bewusstsein aktuellen eigenen Tuns von etwas und dem späteren Erinnern an dieses nun vergangene eigene Tun von etwas deutlicher und bestätigt es: Es gibt aktuelles Sehen, Hören, Sagen und anderes Tun von etwas, dessen wir uns nicht bewusst sind. Ich schrieb im vorangegangenen Kapitel, dass Xuanzang eine enge Verbindung zwischen dieser Lehre vom «Teil der Selbstbezeugung» und dem Erinnern herstellte, indem er als Argument für die Existenz dieses «Teiles» sagte, dass wir uns im Erinnern nicht nur vergangener Dinge erinnern, sondern auch daran, dass wir sie getan oder gesehen oder gehört haben etc. und dass dies nicht möglich wäre, wenn wir uns dieses vergangenen Tuns, Sehens, Hörens von etwas nicht schon im Moment ihres gegenwärtigen Vollzuges bewusst, wenn sie uns nicht «selbstbezeugt» gewesen wären. Diese enge Verbindung zwischen Sich-Erinnern an ein vergangenes Sehen, Hören und sonstiges Tun von etwas und dem Bewusstsein («Selbstbezeugung») im Moment des Vollzuges dieses Tuns von etwas besteht tatsächlich: Wir können uns nicht an alles Sehen, Hören und anderes Tun von etwas erinnern, sondern eine Bedingung dafür ist, dass wir in diesen intentionalen Akten («Blickteilen») aufmerksam auf ihre intentionalen Gegenstände («Bildteile») waren. Wie oft kam es vor, dass wir in Gedanken versunken an irgendeinen Zielort gelangt sind, der auf verschiedenen uns gewohnten, vertrauten Wegen erreichbar ist, und wir am Zielort angekommen uns nicht daran erinnern konnten, welchen dieser gewohnten Wege wir eingeschlagen haben! Und doch haben wir auf diesem Weg vielerlei wahrgenommen (gesehen, gehört etc.). Wir mussten ja ein Zusammenstossen mit anderen Menschen vermeiden, beim Überqueren von Strassen Autos und Fahrrädern ausweichen. Aber unsere Aufmerksamkeit war nicht auf dieses Wahrgenommene gerichtet, sondern auf das, was wir dachten und was mit diesem Weg nichts zu tun hatte. Gerade weil wir auf dem Weg die Häuser, Leute, Strassen, Autos nicht aufmerksam wahrnahmen, konnten wir uns danach nicht mehr an diesen Weg und alles Drum und Dran erinnern. Oder wie oft kommt es vor, dass unsere Aufmerksamkeit von dem, was wir gewohnheitsmässig tun, durch unser Sehen oder Hören von etwas anderem abgelenkt wird, z. B. wenn während dieser Tätigkeit jemand zu uns spricht und wir aufmerksam sind auf das, was er sagt, und wir dann unaufmerksam in jenem Tun fortfahren.
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Erste Studie: Erinnerung und die besondere Wirklichkeit der Vergangenheit
Nun gibt es aber verschiedene Grade der Aufmerksamkeit; die Aufmerksamkeit kann in verschiedenen Tätigkeiten (Sehen von etwas, Hören von etwas, etwas tun) mehr oder weniger intensiv sein. Entsprechend ist auch das Bewusstsein (Husserl spricht auch vom Urbewusstsein) dieser Tätigkeiten mehr oder weniger intensiv. Und entsprechend erinnern wir uns auch viel besser an Tätigkeiten, in denen unsere Aufmerksamkeit intensiv war, als an solche, in denen unsere Aufmerksamkeit nur schwach war. Ich habe z. B. die Erfahrung gemacht, dass ich mich an den Abend von grossen Wanderungen, als ich müde, hauptsächlich am Erreichen einer Übernachtungsgelegenheit interessiert und entsprechend weniger aufmerksam war auf das, was ich dann unterwegs sah, schlechter erinnere als an den Morgen oder früheren Nachmittag dieses Wandertages, als ich noch frischer und deshalb auch aufmerksamer auf das achtete, was ich unterwegs sah, hörte und dem ich begegnete.
6. Kapitel. Woran erinnern wir uns? Wir erinnern uns umso besser an Ereignisse, je aufmerksamer wir auf sie waren, d. h. je mehr sie uns in unserem Tun interessierten oder je mehr sie uns in unserem passiven Leben betrafen oder je intensiver wir darauf emotional reagierten Wie ich im vorangegangenen Kapitel schrieb, können wir uns nur an ein solches eigenes Tun erinnern, in dem wir mehr oder weniger aufmerksam etwas erlebten oder taten. Wir können auch sagen: Wir sind umso aufmerksamer auf etwas, je mehr es uns interessiert oder je mehr es uns beeindruckt oder je mehr es uns betrifft. Wir erinnern uns also umso besser an etwas, je mehr es uns interessierte oder beeindruckte oder betraf. Erstens: Sehr interessiert uns oder beeindruckt uns das Neuartige, das Unerwartete, das Ungewohnte, etwas, was wir zuvor noch nie erlebten, etwas, was wir noch nie sahen, noch nie hörten, noch nie taten usw. Darauf sind wir besonders aufmerksam, und daran erinnern wir uns besonders gut. Und darauf müssen wir auch besonders aufmerksam sein, um es zu verstehen oder tun zu können, im Gegensatz zum Gewohnten, das wir auch unaufmerksam tun können. Der Psychologe Willem A. Wagenaar schreibt in seinem Aufsatz «Is Memory Self-serving?» aus dem Jahre 1994 von seinem
6. Kapitel
«Modell, nach dem in einem autobiographischen Ereignis das Ausserordentliche gespeichert wird» (model of storing what is exceptional in an autobiographical event). Phänomenologisch ausgedrückt heisst dies, dass wir uns an das Ausserordentliche, Aussergewöhnliche in unserem Erleben und Tun erinnern. Dieser Auffassung schliesse ich mich an. Zweitens: Wir sind besonders aufmerksam auf das, was uns in unserem Leben einschneidend widerfährt, was wir passiv mit grossen Folgen erleiden und worauf wir reagieren («entgegentun») müssen, und wir sind umso aufmerksamer, je mehr es uns betrifft und unsere Reaktion erfordert, z. B. auf einen Unglücksfall und seine Folgen, einen Unglücksfall, der uns an einen Rollstuhl bindet, oder an eine psychologische Lebenskrise, in der wir fast zugrunde gehen. Solcher Erlebnisse und unserer Reaktionen auf sie sind wir uns bewusst, und umso mehr sie in unser Leben eingriffen und umso aufmerksamer wir reagieren mussten, desto besser erinnern wir uns an sie. Auch solche Erlebnisse sind für uns etwas Neuartiges. Drittens: Wir sind uns unseres besonders starken emotionalen Reagierens und Tuns in unseren Begegnungen mit geliebten Menschen bewusst. In solchen Beziehungen sind wir in unserem Fühlen, Wahrnehmen und Handeln besonders aufmerksam auf solche Menschen und unser Verhalten zu ihnen und wir erinnern uns besonders gut an Ereignisse in solchen Beziehungen. Es ist sehr sinnvoll, dass wir uns nur an solche wichtigen Ereignisse der aufgezählten drei Arten in unserem Leben erinnern. Denn sonst wäre unsere erinnerte Vergangenheit, mit der wir leben sollen, für uns zu absorbierend und wir hätten nicht genügend Zeit, um uns dem Handeln in der Gegenwart zu widmen.
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Erste Studie: Erinnerung und die besondere Wirklichkeit der Vergangenheit
7. Kapitel. Wir erinnern uns nicht nur an einzelne für uns wichtige Ereignisse, sondern auch an eine Gesamtheit oft wiederholter, gewohnter und für uns wichtiger Tätigkeiten, an vertraute, gewohnte und für uns wichtige Lebensräume und an eigene frühere Überzeugungen, die wir unterdessen abgelegt haben, aber auch an solche, die wir noch immer haben a) Erinnerung an eine Gesamtheit oft wiederholter, gewohnter und für uns wichtiger Tätigkeiten
Dass wir uns an Gewohntes erinnern, scheint im Widerspruch zu dem zu stehen, was ich oben im fünften Kapitel schrieb, nämlich dass wir uns nur aufmerksam ausgeführter und nicht gewohnheitsmässig, «automatisch», unaufmerksam verrichteter Tätigkeiten erinnern. Aber was wir aufgrund von Gewohnheit tun, mussten wir, bevor es zur Gewohnheit wurde, zuerst einmal aufmerksam tun. Doch erinnern wir uns oft nicht jener neuen aufmerksam ausgeführten Tätigkeiten, da sie als etwas Neues für unser Leben nicht besonders wichtig waren. Sie wurden erst durch ihre zahlreichen Wiederholungen für uns wichtig. Dies wird deutlich an folgenden Beispielen. Ich erinnere mich, dass ich ungefähr während des ersten Jahres meiner Progymnasialzeit mit ungefähr zehn Jahren den ungefähr eine halbe Stunde dauernden Weg vom damals mitten in der Stadt Bern liegenden Progymnasium bis zu unserer Wohnung an der Wernerstrasse 20, die am Rande dieser Stadt lag, zu Fuss zurücklegte. Auch an den Kontext erinnere ich mich genau. Ich hätte damals gerne ein Fahrrad gehabt. Doch mein Vater sagte mir, dass ein solches für ihn zu teuer sei. So unternahm ich den Heimweg zu Fuss, um mit dem dadurch gewonnenen Geld mir ein Fahrrad zu ersparen. Den Hinweg ins Progymnasium legte ich mit der Strassenbahn zurück, um sicher rechtzeitig in der Schule einzutreffen. Doch nachdem ich während etwa eines Jahres ungefähr einen Drittel des Fahrradpreises erspart hatte, gab mir mein Vater doch das noch fehlende Geld, damit ich für ungefähr 300 Sfr. beim Fahrradhändler Brennecke im Murifeld, welcher in Bern, soweit ich wusste, die billigsten Fahrräder mit der Hausmarke Brennecke anbot, ein blaues davon kaufen konnte. Ich dachte, dass mein Vater mir das Geld gab, weil er spürte, wie wertvoll mir ein Fahrrad war, und um meinen physischen Einsatz
7. Kapitel
für den Geldverdienst zu belohnen. Soviel zum Kontext, der also ziemlich reichhaltig ist, obschon es sich um erinnertes, jetzt über 70 Jahre zurückliegendes Erlebtes handelt. An Erlebnisse und Tätigkeiten auf meinem damals immer wieder begangenen Weg vom Progymnasium zum Casino und von dort über die Kirchenfeldbrücke zum Helvetiaplatz vermag ich mich überhaupt nicht mehr zu erinnern, wohl aber an solche auf dem Weg vom Helvetiaplatz die schurgerade, ziemlich steile, etwa einen Kilometer lange, sehr langweilige Thunstrasse hinauf bis zum Thunplatz. Auch an Erlebnisse und Tätigkeiten auf dem damaligen ebenen, mühelosen Weg vom Thunplatz bis nach Hause erinnere ich mich nicht mehr. An zwei Sachen erinnere ich mich noch sehr genau auf jenem langen Weg die Thunstrasse hinauf. Unten am Helvetiaplatz bei der Haltestelle des «blauen» oder «Muri-Bähnchens» stand jeweils André, der mittags seine damalige Freundin Liseli vom nahe gelegenen KirchenfeldGymnasium, das beide besuchten, zu diesem Bähnchen begleitete. André wohnte im Hause neben uns an der Wernerstrasse. Er war mein Pfadfinderführer und wurde später der Mann meiner älteren Schwester Trudi. Wenn ich jeweils bei André und Liseli am Helvetiaplatz vorbeikam, lüftete ich meine Progymnasiasten-Kappe und schwang sie, mich tief verbeugend, fast bin an den Boden. Dieses Gebaren provozierte jeweils bei den beiden, vor allem bei André, ein grosses Gelächter. Die zweite Sache, an die ich mich genau erinnere, ist eine geistige «Methode», mit der ich die Langeweile des Aufstieges auf der Thunstrasse überwand. Ich nahm mir jeweils vor, an etwas Schönes, mich Interessierendes zu denken. In diesen Gedanken versunken kam ich subjektiv auf schnellste und angenehmste Weise zum Thunplatz hinauf. Da ich damals vor allem mein Aquarium mit seinen verschiedenartigen Fischen und mein Terrarium mit Zauneidechsen liebte, dachte ich meistens an diese. Die Gründe, warum ich mich heute noch so gut an diese sich oft wiederholenden zwei Dinge auf meinem Heimweg zu Fuss vom Progymnasium erinnere, scheinen mir folgende zu sein: Mein Lacherfolg bei André und Liseli, denn diesen Erfolg zu haben beeindruckte mich, und die Schwierigkeit meiner Überwindung der Langeweile beim Aufstieg auf der langen Thunstrasse durch jene gedankliche Methode. Ich erinnere mich nicht, dass ich schon früher eine solche Methode zur Überwindung der Langeweile erfinden musste. Sie war also auch etwas Neues. Aber ich gewöhnte mich daran, sie
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anzuwenden, und insofern war sie dann nicht mehr neu, sondern wurde eine Gewohnheit oder Fähigkeit, ich hatte mich in sie eingeübt. Ich erinnere mich nicht daran, wann ich zum ersten Mal bei meinem Heimweg auf der langweiligen Thunstrasse diese Methode anwandte. Zuerst litt ich sicher an dieser Langeweile, dann dachte ich einmal zufällig an mein Aquarium oder Terrarium, verspürte die gute Wirkung eines solchen Denkens gegen die Langeweile und wandte es darauf absichtlich an. Aber das ist nur eine Erklärung; ich erinnere mich nicht mehr an diese drei sich folgenden Etappen. b) Erinnerung an vertraute, gewohnte und für uns wichtige Lebensräume
Für die Erinnerung an vertraute, gewohnte und für uns wichtige Lebensräume gebe ich folgendes Beispiel: meine sehr genaue Erinnerung an mein Zimmer an der Universität Nanjing, das ich im Jahre 1980/81 bewohnte, also vor vierzig Jahren. Der Aufenthalt in Nanjing wurde mir von einem Amt der chinesischen Regierung zugewiesen. Ich war im Rahmen eines Austauschprogrammes zwischen chinesischen und schweizerischen Forschern zu einem Forschungsaufenthalt von einem Jahr nach Nanjing gekommen. Das Zimmer, das ich in Nanjing bewohnte, wurde mir vom Ausländeramt der Universität Nanjing zugeteilt. Es befand sich ganz in der Nähe des Südportals der Universität Nanjing in einem Komplex von zwei parallelen schönen, aus der Zeit der Republik, also vor der kommunistischen Machtergreifung stammenden langen zweistöckigen Bauten, die zusammen einen Innenhof bildeten. Dieser Komplex war damals für die ausländischen Studenten dieser Universität bestimmt. Ich bewohnte das zweite Zimmer auf der Nordseite des südlichen Baues, auf der linken Seite, wenn man die Treppe zum oberen Stock hinaufstieg. Im Gegensatz zu den ausländischen Studenten des Komplexes hatte ich ein Zimmer für mich allein, während diese Studenten einen chinesischen Begleiter im Zimmer hatten. So befanden sich in meinem Zimmer zwar zwei Betten, aber das zweite war unbenützt und bestand nur aus einem leeren Holzgestell. Wenn ich in mein Zimmer eintrat, befanden sich gleich zur rechten Hand an der Wand mein Bett mit einer dünnen Matratze und zur linken an der gegenüberliegenden Wand ein Kleiderschrank. Nach meinem Bett gegen Norden zum östlichen der beiden Fenster hin waren ein
7. Kapitel
als Pult dienender Holztisch und ein davor stehender Stuhl aufgestellt sowie ein einfacher Fauteuil, den ich mir zum Lesen gewünscht hatte, und in greifbarer Nähe an der rechten Wand ein Büchergestell. Das zweite Bett befand sich hinter dem Schrank an der linken Wand vor dem westlichen Fenster. Das Zimmer hatte einen rötlich lackierten Holzboden. Da seine beiden Fenster nach Norden in den Innenhof des Ausländerkomplexes gerichtet waren, wurde es kaum von der Sonne beschienen und war daher im Winter sehr kalt. Die Heizung wurde nur während einer Stunde am Morgen und einer Stunde am Abend eingestellt. Das war damals eine besondere Gunst für die Ausländer, denn in den Dormitorien der chinesischen Studenten, die von acht bis vier Studenten bewohnt wurden, wie auch in den Vorlesungssälen wurde überhaupt nicht geheizt. Ich hatte keine Bilder an der Wand. Um aber meinem Zimmer etwas Persönliches und Schönes zu geben, hatte ich auf meinem Pult ein kleines Aquarium mit zwei roten Goldfischen und einen Topf mit Blumen aufgestellt. Auch kaufte ich bald einmal in einem staatlichen Antiquitätengeschäft für Ausländer eine kleine geschnitzte, an den unbekleideten Teilen (Gesicht, Hals und obere Brust, Hände und Füsse) dunkelrot lackierte und vergoldete Holzstatue der «kinderbringenden Guanyin», d. h. des in China weiblich dargestellten Bodhisattvas Avalokiteshvara mit einem Kind. Dieser Typus der Guanyin trat in China erstmals im 14. Jahrhundert in der Mongolenzeit (Yuan-Dynastie) auf und ist eine chinesische Interpretation der damals von Franziskaner-Missionaren nach China gebrachten Madonna (Maria) mit Kind. Diese Statue, die aus dem 19. Jahrhundert stammt und die ich immer noch besitze, hatte ich zuoberst auf mein Büchergestell gestellt. Zu meinem Zimmer gehörten aber nicht nur diese Einrichtungsgegenstände, sondern auch liebe Menschen: die Professorin Frau Gu Manjun 顧曼 君, die sehr freundliche und hilfsbereite Lehrerin für klassisches Chinesisch im philosophischen Institut, die mich während des ersten Semesters als Tutorin betreute, d. h. zwei Mal pro Woche zu mir in dieses Zimmer kam, um meine Übersetzungsfragen in chinesischen Texten von Schülern des Philosophen Wang Yangming (1472–1529) zu beantworten. Zu diesen Menschen gehörte auch Professor Yan Tao 閻韜, der von mir sehr geschätzte und hilfreiche Lehrer für chinesische Philosophiegeschichte, besonders der MingZeit (1368–1644), der mich im zweiten Semester ebenfalls zwei Mal pro Woche als Tutor in meinem Zimmer besuchte. Mit diesem Lehrer, der im
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selben Jahr geboren ist wie ich, bin ich bis heute in einem freundschaftlichen Kontakt geblieben. Wir haben uns im November 2017 in Shanghai zum letzten Mal wiedergesehen. Ebenfalls besuchten mich damals in meinem Zimmer an der Universität Nanjing regelmässig zwei überaus intelligente und menschlich sehr angenehme chinesische Studenten, nämlich Ni Liangkang und Zhu Ping, die von ihrem Lehrer für die Geschichte der westlichen Philosophie zu mir geschickt wurden, um etwas über die Phänomenologie Husserls zu erfahren. Auch mit ihnen bin ich bis heute in Verbindung. Ich erinnere mich wohl vor allem aus emotionalen Gründen an dieses Zimmer, da ich mich in ihm zu Hause fühlte, mich in es zurückziehen konnte, aber auch schöne Begegnungen und lehrreiche Gespräche mit mir sehr lieben Menschen hatte. Die Engländer sagen: My home is my castle. Ich mag mich an keinen einzelnen Besuch erinnern, auch an keinen einzigen Abend allein für mich in diesem Zimmer, aber dieses Zimmer und die oben genannten lieben Menschen sehe ich anschaulich vor mir, wenn ich mich an sie erinnere, auch wenn ich mir jetzt diese Menschen älter vorstelle, als sie damals waren, denn ich begegnete ihnen auch noch mehrmals nach 1980/1981, nachdem ich mich eine Zeit lang nicht mehr in Nanjing aufgehalten hatte, sodass jetzt die neueren Anschauungen von ihrer Gestalt und ihrem Verhalten die alten überlagern. c) Erinnerung an eigene frühere Überzeugungen, die wir unterdessen abgelegt haben, aber auch an solche, die wir noch immer haben
Ich erinnere mich z. B., dass ich bis etwa zu meinem 16. Altersjahr die mir in der Christenlehre unterrichtete Glaubensüberzeugung über die Richtigkeit der traditionellen kirchlichen Dogmen einfach übernahm, dann aber ganz plötzlich aufgrund meiner, durch meinen Vater hervorgerufenen Überlegungen nicht mehr annehmen konnte und sie ablehnte, aber bis jetzt die Überzeugung behielt, dass die christlichen Kirchen in praktischer Hinsicht sehr viel Gutes tun und in ihrem Zusammenhang wunderbare Kunstwerke der Architektur, der Malerei, der Plastik und der Musik entstanden sind.
8. Kapitel
Die berühmte Einteilung von Endel Tulving in procedural, semantic, und episodic memory, über die ich oben im ersten, einleitenden Kapitel sprach, vermag, soweit ich Tulvings zahlreiche Studien über diese Themen kenne, den in diesem siebten Kapitel dargestellten Arten des Sich-Erinnerns nur bedingt Genüge zu tun.
8. Kapitel. Wir erinnern uns nicht nur absichtlich an etwas, sondern oft fällt uns zuerst etwas ein, an das wir uns dann anschaulich erinnern können. Wodurch fällt uns etwas zum anschaulichen Erinnern ein? Ich kann mich absichtlich an etwas erinnern; z. B. frage ich mich jeden Abend, wenn ich im Bette liege und bevor ich schlafen will, was ich heute erlebt und getan habe, und erinnere mich dann, manchmal kürzer, manchmal länger, anschaulich daran; länger, wenn ich etwas Schönes erlebte oder mit meiner Frau oder einem Freund, den ich traf, ein längeres interessantes Gespräch hatte. Aber ich will mich dann nicht genau daran erinnern, was ich am heutigen Tag gearbeitet habe, denn sonst beginne ich wieder lange darüber nachzudenken und kann nicht einschlafen. Daran erinnere ich mich lieber am nächsten Morgen vor dem Aufstehen, dann kommen mir oft die besten neuen Gedanken, und oft wird mir auch klar, dass das, was ich am Vortag geschrieben habe, nur halb wahr ist. Im Folgenden werde ich eine ganze assoziative Reihe von Einfällen erzählen, um Folgendes zu zeigen: Erste These: Erinnerungseinfälle scheinen immer von einer gegenwärtigen Situation auszugehen. Wenn man dann aber im Erinnern ist, führt eine Erinnerung durch verschiedene Arten von Assoziationen, besonders solche der Ähnlichkeit, zu weiteren Erinnerungen. Zweite These: Man wird wahrhaftig manchmal von Erinnerungseinfällen bombardiert. Dritte These: Wenn man einmal in einer eingefallenen Erinnerung die erinnerten Ereignisse weiter anschaulich verfolgt, schweift man sehr leicht vom ersten Erinnerungsthema ab und fragt sich dann plötzlich verlegen, warum man jetzt dasjenige erinnert und eventuell auch erzählt, was man gerade erinnert und eventuell auch erzählt, mit dem «Gefühl», dass
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man ja etwas ganz anderes Erinnertes erzählen wollte, aber nicht mehr weiss, was dies denn eigentlich war. Also hier dieses Beispiel einer assoziativen Reihe von acht Einfällen, welche die obigen drei Thesen illustrieren soll: Heute, am 20. September, im Monat der Hochjagd, d. h. der Jagd auf Wildschweine, auf Rehe, Hirsche, Gämsen, im Gegensatz zur erst späteren Niederjagd, d. h. vor allem auf Hühnervögel, traf ich im Wald oberhalb von Krattigen den mir seit vielen Jahren bekannten Gämsenjäger Res und seine Frau Theres mit ihrem Jagdhund, und wir begannen über die Gämsenjagd dieses Monats zu sprechen, auf die er, wie er sagte, auch in diesem Jahr wieder gegangen war. Das liess mir im Gespräch und danach gleich folgende acht Erinnerungen an Gämsen einfallen, von denen ich zwei noch Res und Theres erzählte: Zuerst erinnerte ich mich aufgrund einer Assoziation der Ähnlichkeit an eine junge Gämse, die ich unerwartet sah, als ich vor zehn bis zwanzig Jahren zuoberst im Onsernonetal, in einem seiner italienischen Seitentäler nicht weit von der Schweizer Grenze, auf einer Alp einen grossen leeren Kuhstall betrat (erster Einfall). Als die kleine Gämse mich am Eingang an einer der beiden Schmalseiten dieses Stalles erblickte, sprang sie zuerst in Richtung der anderen Schmalseite, an der sich aber kein Ausgang befand, kehrte dann wieder eilends zurück in der Richtung zum einzigen Ausgang, in dem ich stand; erschreckt von meinem Anblick lief sie wieder weg, mehrmals hin und her und kreuz und quer. Schliesslich trat ich vom Eingang des Stalles zurück und versteckte mich neben dem Eingang – da raste das kleine, schöne, mutterlose Tier an mir vorbei ins Freie und verschwand. Nachdem ich dies erzählt hatte, fragte ich Res, ob er seinen Hund auch auf die Gämsjagd mitnehme. Er antwortete, dass sein Hund nun 14 Jahre alt und pensioniert sei und dass er auf die Gämsenjagd nie einen Hund mitnehme. Das rief in mir wieder durch Ähnlichkeit folgende Erinnerung wach, die ich von Maria-Grazia, der Frau meines Tessiner Freundes Michele, einmal gehört hatte (zweiter Einfall): Ihre kleine Hündin, die Vicki hiess, sei in den Bergen einer Gämse nachgejagt, und sie habe um das Leben von Vicki gefürchtet. Denn sie habe von einem anderen Hund gehört, der dasselbe getan hatte und nie mehr zurückgekehrt war, beim Verfolgen einer Gämse also abgestürzt war. Doch Vicki sei wieder zurückgekehrt. Nach dieser Assoziation sagte ich Res, dass ich gehört habe, dass ein Hund, der eine Gämse verfolgt habe, verschwunden sei. Darauf antworte Res, dass von einem Hund verfolg-
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te Gämsen ins steile Gelände flüchteten und ihn dadurch zum Abstürzen brächten. – Weiter erinnerte ich mich in diesem Gespräch, in dem mir Res auch noch anderes Interessantes über die Gämsenjagd erzählte, durch eine Ähnlichkeitsassoziation, dass ich einmal oberhalb der Waldgrenze im Wildschutzgebiet des schweizerischen Vergelettotals, eines Seitental des Onsernonetales, etwa fünfzig Gämsen ruhig an einem flachen Hang zum Teil liegen, zum Teil äsen sah (dritter Erinnerungseinfall). Res sagte mir, dass dies eine ganze Gämsenherde sei. Danach trennten wir uns, indem er und Theres mit ihrem Hund an der Leine bergabwärts stiegen und ich aufwärts ging. Als ich allein weiterging, fiel mir gleich durch Ähnlichkeitsassoziation noch eine vierte Geschichte mit einer jungen Gämse ein (vierter Einfall): Als ich einmal an einem Morgen über den Garinapass nach Aurigeno im Maggiatal hinunter stieg, sah ich auf dem Waldweg unterhalb von mir, nur etwa zwanzig Meter von mir entfernt, unerwartet eine junge Gämse stehen, die mich anblickte. Auch ich blieb stehen und begann mit ihr zu sprechen, was genau, daran erinnere ich mich nicht mehr, aber wahrscheinlich ungefähr in folgendem Sinne: «Guten Tag, liebes Gämschen, du musst vor mir keine Angst haben, ich werde dir nichts tun, du bist ein so schönes …». Das Gämschen hörte mir mit hoch aufgestellten Ohren während ein, zwei Minuten zu, verliess dann ruhig den Weg und verschwand im Wald. Die Angstlosigkeit des Gämschens erklärte ich mir dadurch, dass es noch nie eine Jagd erlebt hatte. Im Gegensatz zum Gämschen im Kuhstall war ihm der Fluchtweg nicht abgeschnitten, so dass es auch deshalb keine Angst haben musste. Die obigen vier Einfälle illustrieren die erste These, nämlich dass Erinnerungseinfälle immer von einer gegenwärtigen Situation auszugehen scheinen und dass, wenn man dann sich erinnert, eine Erinnerung durch verschiedene Arten von Assoziationen, besonders solche der Ähnlichkeit, eine weitere Erinnerung hervorruft. Kaum war ich auf meinem Spaziergang etwas weiter, erinnerte ich mich, in Assoziation mit jener Gämsenherde im Wildschutzgebiet des Vergelettotales, von der ich mit Res sprach, an ein Bivaco (Biwak) zuoberst im Onsernonetal an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien, das von Jägern zum Gedenken an einen italienischen Wilderer gebaut wurde, der wie sie Jäger war (fünfter Einfall, durch Zusammenhangsassoziation). Dieser Wilderer war im Wildschutzgebiet des schweizerischen Vergelettotales, wo ich jene
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Gämsenherde sah, von schweizerischen Wildhütern von einem Helikopter aus auf der Gämsjagd beobachtet worden und wurde darauf von ihnen in ihrem Helikopter bis zur Bocchetta del Ragozzo an der schweizerisch-italienischen Grenze verfolgt. Kurz vor der Passhöhe verunglückte er tödlich im felsigen Gelände. Dieses Biwak und seine Geschichte erinnerte mich durch Zusammenhangsassoziation (sechster Einfall) daran, dass ich ungefähr vor sechs oder sieben Jahren in diesem zehn Höhenmeter unter dem Pass befindlichen Biwak mit Michele, meinem Wanderfreund aus dem Tessin, übernachtete. Dieses Biwak war sehr klein. Es hatte nur eine immer offene Türe, keine Fenster, und innen zwei übereinanderliegende Schlafplätze wie in Schlafwagen der Eisenbahn. Von diesem Biwak wusste Michele nicht, sondern nur ich, denn es war auf den damaligen geografischen Karten noch nicht eingezeichnet. Dies erinnerte mich durch kausale Assoziation an die Aussage des Älplers Giorgio von der Alpe di Arena, wo ich einige Jahre früher übernachtet hatte, dass es auf der Bocchetta di Ragozzo ein Biwak gebe, wo man übernachten könne (siebenter Einfall). – Schon diese Reihe von sieben Einfällen bestätigen die zweite These, nämlich dass man wahrhaftig manchmal von Erinnerungseinfällen bombardiert wird. Die Erinnerung an die Übernachtung mit Michele in diesem Biwak liess mich durch zeitliche Kontinuitätsassoziation, nicht durch einen Einfall, mich weiter daran erinnern, dass wir am nächsten Morgen nach dem Aufstehen und einem kleinen stärkenden Imbiss aus dem Rucksack den Ragozzo-Pass (2219 m. ü. M.) überquerten, der zwischen dem Pizzo del Fornale (2490 m. ü. M.) und der Punta di Pezza Comune (2429 m. ü. M.) liegt (an diese Höhenmeter konnte ich mich natürlich nicht erinnern, sondern habe sie aufgrund einer geografischen Karte oben eingetragen), und dann am östlichen Hang dieser Bergkette entlang und schliesslich wieder gegen Westen über den Larecchiopass zum Lago Panelatte weiterwanderten («See von Milch und Brot») und dort ein Morgenbad nahmen. Bei dieser Wanderstrecke erinnere ich mich besonders daran, dass wir einmal auf einem sehr schmalen Felsvorsprung mit dem Gesicht und der Brust gegen die Wand quer gehen mussten, da wir für einen normalen Gang mit unseren Rucksäcken zu breit waren. – Diese Kontinuitätsassoziation beweist die dritte These, nämlich dass man, wenn man einmal in einer Erinnerung die erinnerten Ereignisse weiter anschaulich verfolgt, man sehr leicht vom eigentlichen Thema abschweift, und
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sich dann plötzlich verlegen fragt, warum man jetzt dasjenige erinnert und eventuell auch erzählt, was man gerade erinnert und dass man dies mit dem «Gefühl» tut, dass man ja etwas ganz anderes Erinnertes erzählen wollte, aber nicht mehr weiss, was dies denn eigentlich war. Ich frage mich nämlich jetzt, warum ich von dieser Wanderung erzähle, und habe das Gefühl, dass ich noch etwas anderes erzählen wollte. – – – Endlich ist mir eingefallen, was ich noch erzählen wollte: Es war mir in der Folge der Begegnung mit dem Gämsenjäger Res noch eine weitere Geschichte eingefallen, in der es wieder um Gämsen geht und die mit der erzählten Geschichte der Wanderung mit Michele über den Ragozzo-Pass sachlich nichts zu tun hat. Hier diese Gämsen-Geschichte (achter Erinnerungseinfall): Als ich etwa vor zwanzig Jahren vom Gipfel des Gridone (2188 m. ü. M.) an der schweizerisch-italienischen Grenze, den ich von Süden (Italien) her vom Dorfe Spoccia aus bestiegen hatte, die steile, felsige, von Weitem aus gesehen Wanderern unzugänglich erscheinende Nordwand abstieg, rastete ich an einem Bächlein, um etwas zu essen. Durch ein kleines Geräusch aufmerksam gemacht, sah ich, mich zurückwendend, links steil oberhalb von mir in einer Distanz von etwa zehn Metern eine erwachsene Gämse, die auf einer ungefähr ein bis zwei Zentimeter schmalen, steil abfallenden Felsverschiebung mir entgegenkam. Als sie meiner gewahr wurde, hielt sie inne. Um zu fliehen, konnte sie sich nicht rückwärts umwenden, denn die Felsverschiebung war dazu zu schmal. Ich war sehr gespannt darauf, was sie jetzt tun würde: Sie kletterte mehrere Meter langsam ihren steilen Weg auf der Felsverschiebung rückwärts zurück, bis sie sich umwenden konnte, und verschwand dann eilig hinter den Felsen. Ich hatte nie zuvor eine Gämse rückwärts bergsteigen gesehen und sah auch danach nie wieder eine Gämse rückwärts klettern. An dieses vergangene Ereignis erinnere ich mich völlig klar, wie wenn ich es jetzt sehen würde.
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Erste Studie: Erinnerung und die besondere Wirklichkeit der Vergangenheit
9. Kapitel. Was macht die Objektivität der Vergangenheit aus? Unsere Vergangenheit als intersubjektive Wirklichkeit Woher kommt unsere Sicherheit, dass unsere Vergangenheit eine Wirklichkeit ist, dass sie so war, wie sie war, dass unsere Erinnerungen unter der Norm der Wahrheit stehen, dass meine Vergangenheit wirklich ist, selbst wenn ich mich jetzt nicht an sie erinnere? Meine Vergangenheit transzendiert (überschreitet) mein Mich-Erinnern an sie und mein Erinnertes, weil sie zu einer gemeinsamen Wirklichkeit gehört, auf die ich zusammen mit anderen Menschen in der wechselseitigen vergegenwärtigenden Einfühlung, in der Kommunikation und im gemeinsamen Handeln intentional bezogen bin: Meine Vergangenheit hat eine intersubjektive Objektivität. So wie das ganze seelische Leben anderer Menschen mein Bewusstsein von diesem seelischen Leben überschreitet (transzendiert), da es nicht bloss das ist, als was es in meiner vergegenwärtigenden Einfühlung in dieses andere Leben für mich ist, sondern primär das ist, was es für diese anderen in ihren eigenen Erfahrungen ist, so ist meine Vergangenheit nicht nur für mich, nicht nur meine Vergangenheit, sondern auch Vergangenheit für sie, wie ihre Vergangenheit auch für mich ist. Wenn ich mich zum Beispiel mit einem anderen Menschen in einem mündlichen telefonischen Gespräch für den morgigen Tag verabrede, dann ist dies nur möglich, weil ich voraussetze, dass der andere sich morgen an unsere heutige gemeinsame Verabredung erinnern wird, wie ich mich selbst an diese erinnern werde, und weil ich voraussetze, dass der andere seinerseits voraussetzt, dass ich mich an die gemeinsame Verabredung erinnern werde, wie er sich daran erinnern wird. Und falls ich oder der andere dann am nächsten Tag diese Verabredung vergisst, sich nicht daran erinnert, dann werden wir beide die vergangene gemeinsame Wirklichkeit dieser vergangenen gestrigen Verabredung nicht infrage stellen, wenn der eine oder der andere den anderen an diese Verabredung erinnert. Oder wenn wir uns im Gespräch an eine gemeinsame vergangene Reise oder an ein anderes gemeinsames Unternehmen erinnern, so erinnern wir uns an eine gemeinsame vergangene Wirklichkeit, die für uns beide ihre intersubjektive Objektivität hat. Die vergangene Zeit ist eine intersubjektive und in diesem Sinn objektive Zeit. Der eine kann sich, an dieser Objektivität gemessen, manchmal falsch oder unzureichend erinnern, der andere kann ihn dann mit
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seinen eigenen Erinnerungen korrigieren und die Erinnerungen des anderen ergänzen. Wie wir in unserem Leben und Handeln immer mehr oder weniger intensiv in Akten der vergegenwärtigenden Einfühlung und in sozialen Akten mit anderen Menschen intentional verbunden oder uns mindestens dieser Möglichkeit bewusst sind und dabei eine gemeinsame, objektive (intersubjektive) wahrgenommene gegenwärtige Welt haben, die uns von verschiedenen Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Interessegesichtspunkten aus verschieden erscheint und mehr oder weniger wahr oder mehr oder weniger falsch erscheint, so haben wir in unseren Erinnerungen, seitdem wir uns erinnern können, auch eine gemeinsame intersubjektiv-objektive vergangene Welt, die jedem in seinen auch von Interessen geleiteten Erinnerungen verschieden und mehr oder weniger wahr oder falsch erscheint. Aufgrund dieser intersubjektiv-objektiven Wirklichkeit der Vergangenheit haben die einzelnen Erinnerungen der verschiedenen miteinander kommunizierenden Menschen ihre Wahrheitsnorm.
10. Kapitel. Zur Richtigkeit (Wahrheit) und Falschheit der Erinnerungen: Haben eigene Erinnerungen einen internen Massstab (interne Norm) ihrer Richtigkeit, ist es also prinzipiell möglich, durch eigene Erinnerungen die eigenen Erinnerungen zu berichtigen? Die Wahrheit oder Richtigkeit der eigenen Erinnerungen hat auch eine gesellschaftliche Bedeutung, z. B. wenn jemand als Zeuge vor Gericht aufgrund seiner Erinnerung über etwas aussagen muss, was er gesehen oder gehört hat, oder wenn jemand vor Gericht aufgrund solcher Zeugenaussagen für ein vergangenes Verbrechen verurteilt wird. Aber abgesehen von dieser gesellschaftlichen Bedeutung gibt es meines Erachtens auch ein genuines Interesse an der eigenen Vergangenheit, so wie sie wirklich war, wenn auch nicht ein Interesse für alles, was ich wirklich erlebt und getan habe, aber doch für solches, was mir davon als für mich und eventuell auch für andere Menschen jetzt als wichtig erscheint. So wie das Interesse der Geschichtsschreibung für die soziale Geschichte beruht auch das autobiografische Interesse für die eigene erlebte Lebensgeschichte auf einer Gewichtung nach der Wichtigkeit der erinnerten erlebten Ereignisse, also auf einer Auswahl. Aber während
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diese Auswahl in der Geschichte und autobiografischen Geschichte eine absichtliche, d. h. eine wirkliche Auswahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten ist, denkt man beim gewöhnlichen spontanen Sich-Erinnern nicht an möglichst alles, was man selbst bewusst erlebt hat, um dann auszuwählen, sondern man erinnert sich nur an «Besonderes» (vgl. dazu oben die Kapitel 6 und 7). Aber auch dieses Erinnern kann eine Arbeit der Vertiefung und der Wahrheitssuche sein. Vielleicht haben nicht alle Menschen ein Interesse, am spontan Erinnerten festzuhalten, es zu vertiefen und das Wahre in ihm zu suchen. Dieses Interesse ist ein spezifisch menschliches Interesse und seine Befolgung scheint mir zur Verwirklichung unseres Menschseins zu gehören (vgl. das nächste Kapitel). a) Das Bewusstsein des Unterschiedes zwischen der eigenen Vergangenheit, so wie ich sie jetzt erinnere, und der eigenen Vergangenheit, so wie ich sie damals erlebte.
Das, wonach ich mich in meinem Mich-Erinnern im Streben nach Wahrheit richte, nämlich die von mir wirklich erlebte eigene Vergangenheit, so wie ich sie damals erlebt habe, in ihrer intersubjektiven Objektivität, muss im SichErinnern selbst erinnert werden. Aber was ist die von mir wirklich erlebte eigene Vergangenheit in ihrer intersubjektiven Objektivität anderes als die von mir erinnerte eigene Vergangenheit, die, wie ich aus Erfahrung weiss, auch falsch sein kann? Das ist zu einfach gesprochen. Denn ich bin mir auch des Unterschiedes bewusst zwischen der eigenen Vergangenheit, so wie ich sie jetzt erinnere, und der eigenen Vergangenheit, so wie ich sie damals erlebte, d. h. so wie ich sie erlebte, als diese erinnerte Vergangenheit noch von mir erlebte Gegenwart war. Ich habe schon oben bemerkt, dass, wenn wir uns nur unklar, verschwommen, schemenhaft (mit unklaren, verschwommenen, schemenhaften Phantasmen) an etwas von uns früher Wahrgenommenes erinnern, wir uns bewusst sind, dass diese Unklarheit, Schemenhaftigkeit usw. nicht dem erinnerten Wahrgenommenen selbst zukam, sondern die Art und Weise ist, wie wir jetzt das damals Wahrgenommene erinnern. Es gibt noch viele andere Arten dieses bewussten Unterschiedes zwischen der eigenen Vergangenheit,
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so wie ich sie jetzt erinnere, und der eigenen Vergangenheit, so wie ich sie damals erlebte: Wenn ich mich jetzt an eine lange Wanderung erinnere, die vom Morgen bis zum Abend gedauert hat, kann diese jetzige Erinnerung nur kurze Zeit dauern; ich kann die ganze Wanderung in ihren für mich jetzt wichtigen Erlebnissen «mit meinem geistigen Auge» in wenig Zeit durchgehen, wobei ich mir immer bewusst bin, dass sie lange gedauert hat. Um mich jetzt richtig zu erinnern, brauche ich jetzt die erinnerten Wandererlebnisse zeitlich nicht gleich lang zu erinnern, wie sie damals gedauert haben. Es kommt sehr selten vor, dass ich mich an eine längere Erlebnisfolge gleich lang erinnere, wie sie gedauert hat. Aber umgekehrt kann ich jetzt in meinem Mich-Erinnern auch sehr lange Zeit bei einem damals zeitlich sehr kurzen Erlebnis verweilen, ohne dass ich es dadurch verfälsche. Das geschieht bei erlebten Ereignissen, die mich sehr beeindruckt haben. In gewissen Fällen befindet sich die subjektive Zeit des Sich-Erinnerns an etwas Vergangenes gerade im umgekehrten Verhältnis zur erinnerten, vergangenen und wahrgenommenen subjektiven Zeit. Wenn wenig Interessantes passiert, wie beim monotonen Warten auf den Bus oder im Wartesaal beim Arzt, fliesst die wahrgenommene Zeit viel langsamer, als wenn wir uns danach daran erinnern. Wir «gehen» dann meistens «schnell darüber hinweg». Weiter können wir auch, obschon wir es faktisch kaum tun, einen erinnerten Zeitablauf, z. B. wiederum denjenigen einer Wanderung, in umgekehrter Folge der erinnerten Erlebnisse erinnern. So ist es, wenn wir erinnernd vom Ende der Wanderung am Abend ausgehen und den damals eingeschlagenen Weg und die Zeitfolge der erinnerten Erlebnisse zurückverfolgen bis zum Anfang der Wanderung am Morgen jenes Tages. Dabei kommt uns die Sache nicht komisch und lustig vor wie beim schnellen Rückwärtsabspielen eines Filmes, wenn die auf der Leinwand wahrgenommenen Personen in grösster Geschwindigkeit rückwärtsgehen. Was wir aber faktisch häufig im Erinnern tun, ist das Folgende: Eine vergangene Zeitfolge von erinnerten Erlebnissen erinnern wir bald zeitlich rückwärts, bald zeitlich vorwärts, hin und her, bald in der Zeitrichtung der erinnerten Erlebnisse, bald in ihrem zeitlichen Gegensinn, wobei wir uns aber immer im Klaren sind, dass die jetzige Zeitfolge unseres Erinnerns nicht die Zeitfolge der dabei erinnerten damaligen Erlebnisse ist.
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Auch in emotionaler Hinsicht ist der Unterschied zwischen dem Erinnerten und der Art und Weise, wie wir es jetzt erinnern, deutlich: In meinem Leben war ich drei Mal in höchster Lebensgefahr: das erste Mal, als ich 28jährig war, im eisigen Hochgebirge über 4000 m. ü. M. zusammen mit einem Freund, das zweite Mal, als ich 31 Jahre alt war, bei einem Autounfall zusammen mit meiner Mutter an der steilen ligurischen Küste in Italien und das dritte Mal, als ich 76 Jahre alt und allein war, als mir hier in Krattigen ein tonnenschwerer Stier nachrannte. An alle drei Erlebnisse erinnere ich mich ganz genau und sehr anschaulich, und zwar an alle drei gleich genau, ich kann an der Wirklichkeit ihres genau und sehr anschaulich erinnerten Ablaufes überhaupt nicht zweifeln. In allen drei Lebensgefahren hatte ich überhaupt keine Angst, denn meine ganze Aufmerksamkeit war in intensivster Weise – denn es ging um Leben und Tod – auf das gerichtet, was ich für mein Überleben tun musste. Ich hatte keine Zeit, Angst zu haben. Erst hinterher hatte ich Zeit, Angst zu haben, besonders am Abend oder in der Nacht im Bett liegend, wenn ich nichts mehr für mein Überleben tun musste und mich nur noch an diese Ereignisse erinnerte. Auch daran erinnere ich mich deutlich. Diese drei Beispiele des Sich-Erinnerns an eine erlebte Situation grosser Lebensgefahr beweisen erneut, dass wir uns umso besser und zweifelsfreier an ein eigenes Tun erinnern, je mehr dabei unsere Aufmerksamkeit in Anspruch genommen wurde. Das gehört in den Kontext der These, dass wir uns nur an aufmerksam verrichtete Tätigkeiten erinnern können, da nur solche Tätigkeiten bewusst sind (siehe oben das fünfte Kapitel). Diese drei Beispiele zeigen aber auch die Wichtigkeit der eigenen Anstrengung und Konzentration in einem eigenen Erlebnis für seine spätere Erinnerung. Anstrengung und Konzentration haben viel mit Aufmerksamkeit zu tun. Wer wie der amerikanische Psychologe William Brewer in seinem Artikel «What is Recollective Memory»5 vertritt, dass Erinnern «ein scheinbares Wiedererleben der ursprünglichen Erfahrung» (an apparent reliving of the original experience) ist, sieht die Erinnerung viel zu simpel. Wenn wir im Uns-Erinnern selbst ein Bewusstsein eines vergangenen eigenen Erlebnisses haben, so wie es damals erlebt war, und zugleich ein Be-
In David C. Rubin (ed.), Our Past. Studies in autobiographical Memory, Cambridge University Press, Cambridge 1996, S. 202. 5
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wusstsein davon haben, wie dieses vergangene Erlebnis im Erinnern erinnert ist, so stellt sich die Frage, wie genau dieses doppelte Bewusstsein beschaffen ist. Es sind nicht zwei Erinnerungen. Das Bewusstsein, wie etwas erinnert ist, ist nicht selbst wieder eine Erinnerung, auch nicht, wenn wir uns an eine Erinnerung erinnern. Auch in diesem Fall gilt: Das Bewusstsein, wie wir uns an eine eigene Erinnerung erinnern, ist nicht selbst wieder ein Sich-Erinnern. Das Bewusstsein, wie wir uns erinnern, ist ein notwendiger Bestandteil des Erinnerns, d. h. es ist eine Bedingung der Möglichkeit des Sich-Erinnerns, aber nicht selbst wieder ein Sich-Erinnern. Wie ist im Sich-Erinnern die Beziehung zwischen dem Bewusstsein eines vergangenen eigenen Erlebnisses, so wie es damals erlebt war, und dem Bewusstsein, wie dieses vergangene Erlebnis im Erinnern erinnert ist, positiv zu formulieren? Richtig verstanden kann man sagen, dass das Erinnern der eigenen Vergangenheit Bewusstsein von Bewusstsein von etwas ist, ebenso wie andere Formen des vergegenwärtigenden Bewusstseins (Vorausplanen der Zukunft, blosses Phantasieren von etwas, was keinerlei Wirklichkeit beansprucht, z. B. goldene Luftschlösser, Einfühlen in andere Personen). Mich jetzt Erinnern ist mein jetziges Bewusstsein, dass ich das und das wahrgenommen habe, das und das gesagt habe, das und das getan habe, das und das erlitten habe usw. Dieses erinnerte Wahrnehmen von etwas, Sagen von etwas, Tun von etwas, Erleiden von etwas ist selbst wieder ein Bewusstsein von etwas, mein vergangenes Bewusstsein von etwas, dessen ich mir im jetzigen erinnernden Bewusstsein bewusst bin. Dieses erinnerte vergangene Bewusstsein von etwas ist im jetzigen Mich-Erinnern daran, wie Husserl sich ausdrückt, «intentional impliziert». Dieses intentional implizierte vergangene Bewusstsein, dieser «intentional implizierte Bewusstseinsakt» (Husserl), d. h. dieses vergangene Wahrnehmen von etwas, Tun von etwas etc. ist jetzt nicht aktuell, d. h. wenn ich mich jetzt an ein Wahrnehmen von etwas erinnere, vollziehe ich jetzt nicht dieses vergangene Wahrnehmen von etwas, sondern erinnere mich an dieses Wahrnehmen. Im vierten Kapitel dieser Studie habe ich durch dieses erinnernde Bewusstsein an ein vergangenes «Tun» von etwas (im weitesten Sinne, auch im Sinne von Wahrnehmen von etwas, d. h. im Sinne eines «intentionalen Bewusstseinsaktes» im Sinne Husserls) das Sich-Erinnern an etwas Vergangenes zu verstehen versucht, im Gegensatz zu den Versuchen, das erinnernde
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Vergangenheitsbewusstsein durch irgendwelche Charaktere der im Sich-Erinnern vorkommenden Phantasmen zu verstehen. Nun versuche ich, durch dieselbe intentionale Struktur des Sich-Erinnerns an ein vergangenes Bewusstsein von etwas (an einen vergangenen intentionalen Bewusstseinsakt von etwas) verständlich zu machen, dass das Mich-Erinnern die Vergangenheit, so wie diese im Mich-Erinnern mir als von mir damals erlebte bewusst ist (im Gegensatz dazu, wie mir meine Art und Weise des jetzigen MichErinnerns an diese Vergangenheit bewusst ist), sich sozusagen als «Leitidee», d. h. als es leitende Wirklichkeit vornimmt. Diese «Leitidee» soll mir in meinem Mich-Erinnern als Richtschnur der Wahrheit dienen, wenn ich mich daran erinnern will, was ich wirklich erlebt und getan habe, und mich nicht in Illusionen darüber verlieren will. b) Standards für unsere Wahrheitssuche in unserer erinnerten Vergangenheit
Aufgrund des voranstehenden Abschnittes a) darf genauer gesagt werden, dass uns gewisse im Uns-Erinnern selbst erinnerte Ereignisse, so wie wir sie damals erlebt haben, als Standards für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit, für die Wahrheit oder Falschheit unseres Erinnerns dienen können. Ich schrieb im voranstehenden Abschnitt in Bezug auf meine drei Erinnerungen an Episoden grösster Lebensgefahr: «An alle drei Erlebnisse erinnere ich mich ganz genau und sehr anschaulich, und zwar gleich genau, ich kann an der Wirklichkeit ihres genau und sehr anschaulich erinnerten Ablaufes überhaupt nicht zweifeln.» Wir alle haben wohl Erinnerungen, an deren Richtigkeit oder Wahrheit wir nicht zweifeln können. Es sind vor allem Erinnerungen an Erlebnisse, die als Gehalt grösste Anstrengungen und grosse Emotionen hatten. Wenn wir an ihnen zweifeln würden, müssten wir uns nicht nur von unserer Vergangenheit als eine für uns für immer unerkennbare konfuse Geschichte abwenden, sondern auch an unserem ganzen Erkenntnisvermögen zweifeln, sowohl an unserem alltäglichen als auch an unserem wissenschaftlichen. Ich müsste z. B. auch an meiner Existenz zweifeln, auch daran, dass der Erdboden, auf dem ich stehe, in der nächsten Minute mich noch tragen wird, daran zweifeln, dass meine treue Ehefrau, mit der ich nun seit mehr als zwanzig Jahren treu zusammenlebe, mich liebt und mir treu bleibt und dass
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ich sie liebe und ihr treu bleiben werde. Und wir müssten auch daran zweifeln, dass es besser ist, einen guten Menschen zu lieben und ihm Gutes zu tun, als ihn zu hassen, ihm zu schaden und ihn umzubringen. Wenn wir in solcher Weise alles Sichere bezweifelten, würde unser menschliches Leben unmöglich. Völlig klare Erinnerungen, an deren Richtigkeit oder Wahrheit wir wegen ihrer grossen Anschaulichkeit nicht zweifeln können, können uns als Standards für unsere Wahrheitssuche in unserer erinnerten Vergangenheit dienen. Wir müssen also, um möglichst wahre Erinnerungen zu erlangen, ihre Anschaulichkeit zu intensivieren versuchen. Dazu müssen wir uns von den praktischen Interessen der Gegenwart abwenden und uns erinnernd ganz in unsere Vergangenheit versenken. Ich will mich jetzt z. B. an einen grossen Festumzug erinnern, den ich vom Fenster eines Hauses einer meinem Vater bekannten Familie aus unter mir von links nach rechts die Kramgasse hinauf zum «Zytglogge» (Zeitglocken-Turm) in der Altstadt von Bern ziehen sah. Am Anfang ist mir in dieser Erinnerung noch kaum etwas anschaulich, aber je mehr ich mich in sie vertiefe, umso mehr Anschaulichkeit gewinne ich. Ich erinnere mich immer anschaulicher, dass am Anfang des Umzuges eine grosse Familie mit 16 Kindern aus dem Kanton Uri (dem ersten Kanton der Schweiz) unten auf dieser Gasse hinaufzog. Dass es 16 Kinder waren, das sehe ich mit meinen geistigen «Erinnerungsaugen» nicht genau, aber ich weiss es noch, wahrscheinlich, weil ich gezählt habe oder eine andere Person das Resultat ihres Zählens für mich hörbar kundgetan hat oder weil beides geschehen ist. Ich weiss es noch, weil es für mich als Stadtbub völlig neu war, dass es eine Familie mit 16 Kindern geben kann. Aber ziemlich anschaulich ist mir im Erinnern noch der Vater dieser grossen Familie, der mit seiner Frau seiner Familie voranschritt: Er trug einen grossen Bart, was für mich ungewohnt war. Indem ich mich in die geistige Anschauung des damals sinnlich mit meinen Augen gesehenen Erinnerten weiter vertiefe, taucht plötzlich noch ein Mensch mit einem übergrossen künstlichen Stierkopf auf: der «Uristier», das Wahrzeichen und Wappen des Kantons Uri. Auch diese menschliche Form des Uristiers hatte ich vorher noch nie gesehen. Das ist schon meine ganze anschauliche Erinnerung an jenen grossen Umzug, bei dem aber auch noch, wie ich mich vage erinnere, die anderen Kantone mit ihren Leuten in den lokalen Trachten, ihren Wahrzeichen und Besonderheiten vertreten waren. Daran vermag ich
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mich nicht mehr anschaulich zu erinnern, sondern nur in Leerintentionen, so wie jede anschauliche Erinnerung von Leerintentionen umgeben ist, d. h. von nicht von Anschauungen erfüllten Intentionen. Ich bin ziemlich sicher, dass es sich um den Festumzug zur Feier des hundertjährigen Bestehens des Schweizerischen Bundesstaates im Sommer des Jahres 1948 handelte; damals war ich fast elf Jahre alt. Dass ich mich nur an die Spitze dieses Umzuges erinnern kann, hat seinen Grund darin, dass sie mich am meisten beeindruckte, wohl nicht nur wegen dieser grossen Familie und wegen des Uristiers, sondern auch, weil nach langem angespannten Warten auf den Umzug dieser endlich mit diesem imposanten, noch nie gesehenen Anblick der Urner Delegation begann. An diesem von mir gesehenen Anblick kann ich nicht zweifeln, und auch nicht daran, dass der Umzug noch viel länger war, obschon mir dies nur in zu diesen Erinnerungsanschauungen gehörenden Leerintentionen bewusst ist.
11. Kapitel. Welche Ursachen bewirken, dass wir uns in unserem Erinnern täuschen? Obschon wir uns an einzelne erlebte Ereignisse mit Gewissheit völlig richtig erinnern können, täuschen wir uns doch in vielen Erinnerungen. Ich sehe folgende Ursachen dafür, dass wir uns in unseren Erinnerungen täuschen können und dass wir uns daher in unserem Leben nie an unsere ganze aufmerksam erlebte Vergangenheit mit Gewissheit richtig erinnern können. Erstens, Vermischungen: Während in der räumlichen Perspektive die als näher gesehenen Dinge die in weiterer Distanz gesehenen teilweise verdecken, vermischen sich in der zeitlichen Perspektive anschaulich erinnerte ähnliche Ereignisse, die wir zu verschiedenen Zeiten erlebt haben. Wenn wir mehrere Wanderungen im gleichen Gebiet unternommen haben, können wir im Uns-Erinnern meinen, dass wir etwas bei einer früheren Wanderung gesehen, gehört oder gegessen haben, was wir aber in Wirklichkeit erst auf einer späteren getan haben, und umgekehrt. Zweitens, Verwechslungen von inhaltlich Ähnlichem: Als Beispiel aus meinem Leben kommt mir in den Sinn, dass ich während langer Zeit mich erinnernd meinte, dass eine selbst gestrickte, schöne Sofa-Decke meiner
11. Kapitel
Mutter von Lü Shuzhen, der Frau meines taiwanesischen Freundes Li Yihong, geschenkt wurde. Bei einem Besuch meines chinesischen Freundes Ni Liangkang und seiner Frau Lin Wei sagte mir diese, dass sie diese Decke gestrickt und meiner Mutter geschenkt habe. Sie erinnerte sich bestimmt besser als ich. Es besteht hier eine Ähnlichkeit zwischen den von mir verwechselten Erinnerungsinhalten. Drittens, die Schwierigkeit, die Motive von erinnerten Handlungen zu verstehen: Um unser vergangenes Leben in seinen Zusammenhängen wirklich und wahrheitsgetreu erinnern zu können, müssten wir es auch verstehen. Wir verstehen unser Leben, wenn wir die Motive verstehen, deretwegen wir etwas getan haben. Schon in der Gegenwart wissen wir oft nicht genau, aus welchen Motiven wir handeln. Bei mir selbst stelle ich fest, dass ich meistens mindestens zweier Motive bedarf, um mich zu einem gewissen Handeln entscheiden zu können. Um diese Motive weiss ich, aber ich weiss nicht, ob mich noch andere, unbewusste Motive zu diesem Handeln drängen. Im SichErinnern werden selbst die einmal bewussten Motive einer Willensentscheidung und eines Handlungswillens unklarer, sodass wir uns über diese Motive in der Erinnerung oft täuschen und so die Zusammenhänge unseres Lebens oft nicht richtig verstehen können und so unser vergangenes Leben nie wirklich richtig zu interpretieren vermögen. Eugene Winogorod schreibt in seinem Beitrag «The authenticity and utility of memories» in einem von Ulrich Neisser und Robyn Fivush herausgegebenen Sammelband (1. Aufl. 1994, 2. Aufl. 2008)6, dass es in der «postmodern view of the world» «keine einzelne gültige Interpretation eines ursprünglichen Ereignisses (original event)» gebe. «Vergangene Wirklichkeiten werden immer wieder neu konstruiert, und jegliche Übereinstimmung [mit einer vergangenen Wirklichkeit] ist illusorisch.» (S. 243) Diese «postmodern view of the world» mag für die Interpretation unserer erinnerten Lebenszusammenhänge mehr oder weniger gelten, sicher aber nicht für das Erinnern einzelner Erlebnisse und Handlungen, an die wir uns klar und mit unerschütterlicher Gewissheit erinnern, wie ich oben dargelegt habe.
Eugene Winogorod, The Remembering Self: Construction and Accuracy in Self-Narrative, Cambridge University Press, Cambridge. 6
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Viertens, Unwahrhaftigkeit im Erinnern, um besser zu scheinen als man war: Zu den obigen drei Punkten kommt hinzu, dass viele von uns sich in ihrer Vergangenheit im gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem wir uns mehr oder weniger immer befinden, gerne als bessere Menschen sehen, als sie es wirklich waren. Sie können sich zwar auch an eigene schlechte Handlungen erinnern; indem sie aber nicht darauf eingehen und sich nicht damit befassen, sondern sich davon abwenden, existieren diese eigenen schlechten Handlungen schliesslich für sie selbst nicht mehr. Das gehört zum ethischen Verhältnis der Wahrhaftigkeit zu unserer eigenen erinnerten Vergangenheit, und in dieser Hinsicht verhalten sich, wie wir wissen, die Menschen sehr unterschiedlich.
12. Kapitel. Warum sollen wir unsere Vergangenheit durch Erinnern wieder lebendig werden lassen? Bezugnahme auf Freud Warum sollen wir uns im Uns-Erinnern Vergangenem zuwenden und es wieder lebendig werden und es nicht einfach auf sich beruhen lassen und uns ganz unseren gegenwärtigen Aufgaben widmen und den heutigen Tag geniessen? In den Ausdrücken verschiedener Sprachen für das, was wir im Deutschen Sich-Erinnern nennen, kommt kurz und treffend zum Ausdruck, was im Erinnern geschieht. Im Deutschen und im dem Deutschen nahen Niederländischen (zich herinneren) sagt das Wort: sich etwas wieder in unser Inneres zurückholen (was ins Äussere geraten war). Im Lateinischen und den beiden dieser nicht mehr gesprochenen Sprache nächsten heutigen Sprachen, Italienisch und Spanisch, bedeuten die Wörter (Latein: recordari; Italienisch: ricordarsi, Spanisch: recordarse): sich etwas wieder ins Herz zurückholen (was ihm entschwunden war). Im Englischen bedeuten die entsprechenden Wörter (to remember): etwas (was vergessen war) wieder ins Gedächtnis bringen, und to recall (a thing or a person) to one’s mind: etwas (was weggelaufen war) in seinen Geist zurückrufen. To recall entspricht dem Französischen se rappeler: sich etwas (was weggelaufen war) zurückrufen. Im Altgriechischen bedeutet das entsprechende Wort ἀναμιμνήσκεσθαι, anamimnêskesthai: etwas (was einem entfallen war) sich wieder ins Denken
12. Kapitel
hinaufbringen. Im heutigen Chinesischen bedeuten die entsprechenden Wörter xiang qi 想起: etwas, was entfallen war, ins Denken erheben; ji qi 記 起: etwas (was entfallen war) ins Gedächtnis erheben; huiyiqi 回意起: etwas (was vergessen war) zurück ins Gedenken erheben. Zusammengefasst bedeuten diese Wörter: etwas, was einmal zum eigenen Geist oder Herzen gehörte, wieder in den Geist oder das Herz zurückholen. Ich sehe drei Gründe, warum wir uns eines erlebten Vergangenen anschaulich erinnern sollen: Erstens, müssen wir uns oft für unser aktuelles Handeln an gewisse Tätigkeiten erinnern, um zu wissen, wie wir jetzt handeln können oder jetzt handeln müssen. Zweitens, würden wir durch eine völlige Abwendung von unserer eigenen erlebten Vergangenheit das verlieren, was wir am meisten sind. Drittens, würde unsere Vergangenheit dadurch nicht einfach verschwinden, sondern teilweise auf unserer Gegenwart lasten und uns krank machen. Zum ersten Grund: Wir müssen uns für unser aktuelles Handeln z. B. daran erinnern, wo wir den Schlüssel vor dem Verlassen der Wohnung versteckt haben, wenn wir ihn, um ihn nicht zu verlieren, nicht mitgenommen haben und ihn nun brauchen, um unsere Wohnung aufzuschliessen. Aber wenn wir das immer wieder tun, entsteht ein Gewohnheitswissen darüber, in dem wir uns nicht mehr erinnern müssen. Oder wenn wir an einen für uns neuen Ort gekommen sind und ihn von unserer Aufenthaltsstätte aus erkunden wollen, müssen wir uns auf dem Erkundungsweg einprägen, auf welchen Strassen und Wegen wir gehen, um uns nicht zu verirren, sondern schliesslich uns erinnernd unsere Aufenthaltsstätte wieder zu finden. In solchen Fällen ist das Erinnern unserem aktuellen Handeln nützlich bzw. sogar notwendig. Beiläufig bemerkt träume ich in letzter Zeit oft, dass ich mich in einer fremden Stadt befinde und den Weg nicht mehr weiss, um in mein Hotel oder in meine Pension zurückzufinden, und auch deren Namen und Adresse vergessen habe. Das sind Angstträume, vielleicht Altersträume, welche die Furcht ausdrücken, das Erinnerungsvermögen zu verlieren. Zum zweiten Grund: Wenn wir überlegen, was wir sind, dann müssen wir sagen, dass wir unsere Zukunft nicht sind, denn sie ist ja nicht wirklich, dass unsere aktuelle Gegenwart, das Jetzt, nur eine sehr schnell vergehende, kurze Wirklichkeit ist, während unsere Vergangenheit im Laufe unseres Le-
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bens immer grösser und reicher geworden ist. So sind wir am meisten das, was wir in ihr waren, d. h. was wir in unserer Vergangenheit an für uns Wichtigem erlebten und taten. Wenn wir uns also von unserer Vergangenheit abwenden, wenden wir uns von dem ab, was wir am meisten sind. Dies ist der grösste Verlust unseres eigenen Seins. Da ich denke, dass es besser ist zu sein als nicht zu sein, ist dieser Verlust ein grosses Übel. Positiv gesprochen ist unsere erinnerte Vergangenheit für uns der grösste geistige Schatz. Ich kannte eine alte, neunzigjährige Frau, die ein so anschauliches Erinnerungsvermögen hatte, wie ich es weder vorher noch nachher traf, und die mir sagte, dass es ihr nie langweilig werde, da sie sich oft an ihre Vergangenheit erinnere. Wenn wir uns in unserer Erinnerung unserer Vergangenheit zuwenden, weil wir erkennen und sein möchten, wer wir sind, hat dies in unserem aktuellen Handeln keinen Nutzen. Wir müssen uns vielmehr zeitweilig von diesem abwenden, um uns erinnernd ganz in unsere Vergangenheit vertiefen zu können. Es ist nur bedingt richtig zu sagen, dass wir aus unserer erinnerten Vergangenheit für unser gegenwärtiges und künftiges Handeln lernen können. Denn für neue praktische Probleme können wir aus der Vergangenheit meistens nicht lernen, denn solche Probleme sind uns ja in der Vergangenheit noch nie begegnet. Nur wenn wir in unserer Erinnerung ein Problem finden, welches wir gelöst haben und das dem neuen ähnlich ist, kann diese Erinnerung für die Lösung des neuen Problems von Nutzen sein. Alte Probleme praktisch zu lösen, sind wir gewohnt und brauchen uns deshalb nicht an sie zu erinnern; sich an sie zu erinnern kann nur nützlich sein, wenn ein Problem in unserer Vergangenheit sich nicht häufig stellte und seine Lösung für uns nicht Gewohnheitssache geworden ist. Doch der praktische Nutzen für das aktuelle Handeln ist für den Menschen, dessen Geist durch Vergegenwärtigung über die aktuelle Gegenwart hinausreicht, nicht das Wichtigste des Sich-Erinnerns und nicht dessen praktisches Kriterium. Zum dritten Grund: Wenn wir uns nicht an unser vergangenes Erfahren und Tun erinnern, sondern es vergessen wollen und vergessen, verlieren unsere Phantasmen von den vergangenen Dingen ihren Charakter als Erscheinungen von Vergangenem. Sie können dann in psychischen Krankheiten als etwas Gegenwärtiges ihr Eigenleben führen, das vom Sich-Erinnern an diese Phantasmen unabhängig ist, und sich auch mit ihnen entsprechendem Tun verbunden in die wahrgenommene Gegenwart einmischen und sie belasten.
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Auch bei psychischen Erkrankungen aufgrund von traumatischen Erlebnissen kann das der Fall sein. Wir werden also auf diese Weise unsere Vergangenheit nicht los, aber anstatt dass wir sie uns erinnernd als unsere Vergangenheit aneignen und sie dadurch als nicht mehr gegenwärtig auf zeitliche Distanz von unserer Gegenwart halten, belastet sie unser gegenwärtiges Leben und Handeln. Von diesem Gesichtspunkt ist erhellend, was Sigmund Freud 1914 in seiner Schrift über «Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten»7 schrieb. Er unterschied hier bei seinen Patienten vier unbewusste Mechanismen des Vergessens von eigenen Erlebnissen: 1. «Absperrung» (Wegsperrung, Verdrängung) von erinnerten Erlebnissen: «Das Vergessen von [eigenen] Eindrücken, Szenen, Erlebnissen reduziert sich zumeist auf eine ‹Absperrung› derselben. Wenn der Patient von diesem ‹Vergessenen› spricht, versäumt er selten hinzuzufügen: das habe ich eigentlich immer gewusst, nur nicht daran gedacht.» (S. 127/128) 2. «Verdeckung» von erinnerten Erlebnissen durch andere, banale Erinnerungen: Diese banalen «Deckerinnerungen» verdecken und enthalten zugleich die vergangene erlebte Kindheit und erklären das Vergessen der eigenen Kinderjahre (Kindheitsamnesie). (S. 128) 3. Vergessen von Zusammenhängen des Erinnerten (Isolierung von Erinnerungen): «Besonders bei den mannigfachen Formen der Zwangsneurosen [die in zwanghaftem, für die gegenwärtige Situation sinnlosem Verhalten bestehen] schränkt sich das Vergessene meist auf die Auflösung von Zusammenhängen, Verkennung der Abfolgen, Isolierung von Erinnerungen ein.» (S. 128) 4. Zwanghafte «Wiederholung» des Erinnerten im aktuellen Agieren, ohne dass man um diese «Wiederholung» weiss: «Der Analysierte [Patient] erinnert überhaupt nichts vom Vergessenen und Verdrängten, sondern agiert es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als [aktuelle] Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt. Zum Beispiel: Er erzählt nicht, er erinnere sich, dass er trotzig und ungläubig gegen die Autorität der Eltern gewesen sei, sondern er benimmt sich in solcher Weise
Sigmund Freud, Gesammelte Werke, vierte Auflage, S. Fischer, Frankfurt am Main 1967, Bd. 10, S. 126–136. 7
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gegen den Arzt.» (S. 129) «Der Analysierte wiederholt, anstatt sich zu erinnern.»(S. 131) Freud erklärt schliesslich in dieser Schrift: «Für ihn [den Arzt] bleibt das Erinnern nach alter Manier […] das Ziel, an welchem er festhält, wenn er auch weiss, dass es bei der neuen Technik [der Psychoanalyse] nicht zu erreichen ist. Er richtet sich auf einen beständigen Kampf mit dem Patienten ein, um alle Impulse auf psychischem Gebiet zurückzuhalten, welche dieser aufs Motorische lenken möchte, und feiert es als einen Triumph der Kur, wenn es gelingt, etwas durch die Erinnerungsarbeit zu erledigen, was der Patient durch eine [motorische] Aktion abführen möchte.» (S. 131)
In der Rede Freuds gewinnt das Ich des Patienten durch die Erinnerungsarbeit seine Genesung und seine Freiheit gegenüber dem zwingenden Es zurück. Dies entspricht dem bekannten Satze Freuds: «Wo Es war, soll Ich werden.» Bei traumatischen Erlebnissen, z. B. bei Vergewaltigungen, ist wichtig, dass sich die traumatisierte Person nicht nur an das traumatisierende Erlebnis erinnert, dessen sie sich schämt, sondern auch mit anderen Menschen darüber spricht. Es ist ähnlich wie bei Nahtoderfahrungen. Wenn ein Mensch, der nach seinem Gehirntod ein Nahtoderlebnis hatte, mit niemandem darüber sprechen kann, wird er schliesslich selbst nicht mehr an die Wirklichkeit dieser erinnerten Erfahrung glauben.8 Denn, wie ich oben im neunten Kapitel ausführte, hat die Vergangenheit ihre Objektivität durch die Intersubjektivität.
Siehe Pim Van Lommel, Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung. Patmos, Düsseldorf 2009. 8
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13. Kapitel. Sind die in der Erinnerung auftretenden (präsenten) Phantasmen, d. h. die durch sie vorgestellten erinnerten Sachen, gegenwärtig, oder sind sie atemporal (unzeitlich) und, wenn sie dies sind, in welchem Sinn sind sie es? Kehren wir wieder zu den «Phantasiebildern»; den Phantasmen in der Erinnerung zurück. Ich versuchte, sie auf die gegenständliche Seite des Erinnerten, auf die erinnerten, damals wahrgenommenen Sachen zu schlagen. Den Satz von Aristoteles in seiner Schrift über Gedächtnis und Erinnerung, dass die Erinnerung nicht ohne Phantasmata sei, möchte ich nicht in Zweifel ziehen. Aber wir erinnern uns jedenfalls nicht deshalb an unsere Vergangenheit, weil wir jetzt Phantasmen haben. Tausend Phantasmen machen noch keine einzige Erinnerung aus. Auch Aristoteles ist dieser Auffassung. Nach ihm sind die in der Erinnerung spielenden Phantasmen an sich etwas Gegenwärtiges oder, wörtlicher übersetzt, etwas Anwesendes (παρών, parôn). Dafür scheint mir manches zu sprechen: Ich erwähnte schon oben im vierten Kapitel, dass mir die Phantasiedinge, mit denen ich mir das gegenwärtige Castel Grande in Bellinzona vorstelle, von gleicher Art zu sein scheinen wie die Phantasiedinge, mit denen ich mich an das bei einem vergangenen Besuch dieser Burg Gesehene erinnere. Auch kann das in der Erinnerung Angeschaute beim Einschlafen im Dämmerbewusstsein übergehen in Traumwahrnehmungen, in denen das Vergangenheitsbewusstsein fehlt. Aber in welchem Sinn sind diese Phantasmen oder Phantasiedinge in der Erinnerung «anwesend»? Sie sind als erinnerte Dinge nicht zeitlich gegenwärtig, wie irgendwelche anschaulichen Gegenstände im wahrgenommenen Raum zeitlich gegenwärtig sind. Sie sind zeitlich nicht gegenwärtig, wie sie auch räumlich nicht gegenwärtig sind. Diese erinnerten Phantasiedinge befinden sich nicht hier oder dort, links oder rechts, oben oder unten, vor oder hinter uns in diesem wahrgenommenen gegenwärtigen Raum als dem Ordnungssystem der räumlich ausgedehnten Dinge. Sie befinden sich auch nicht in unserem Kopf, wie wir manchmal sagen. Das ist eine blosse façon de parler, denn wir nehmen diese phantasierten Dinge nicht als innerhalb unseres Kopfes befindliche wahr. Man kann von einer jetzt wahrgenommenen Fotografie eines erinnerten Ereignisses sagen, dass sie jetzt hier sei, z. B. in
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meiner Hand. Erinnerung ist aber kein Bildbewusstsein, und die Phantasmen in der Erinnerung sind keine Bilder. Dennoch sind die in der Erinnerung durch Phantasmen angeschauten Dinge nicht unräumlich. Sie sind meistens irgendwie «vor» uns oder «neben» uns, d. h. sie sind in einer gewissen Orientierung mit Phantasmen erinnert, phantasiert und verweisen damit auf einen Gesichtspunkt, von dem aus sie wahrgenommen wurden. Aber dieser Gesichtspunkt, ebenso wie der in ihm zentrierte Phantasieraum, in dem diese durch Phantasmen gegebenen Dinge sich befinden, ist nicht der gegenwärtige Gesichtspunkt und der gegenwärtig wahrgenommene Raum, sondern der erinnerte Gesichtspunkt und der erinnerte, von diesem Gesichtspunkt aus wahrgenommene gewesene Raum. Erinnerte Phantasiedinge können aber mit wahrgenommenen, gegenwärtigen Dingen zu einer identifizierenden Deckung kommen, z. B. wenn ich mich beim Anblick eines jetzt gegenwärtigen Dinges daran erinnere, was ich früher mit ihm getan habe. Dann habe ich dieses Ding einerseits als wahrgenommenen Gegenstand gegenwärtig vor mir und andererseits als in Phantasmen gegebenen Gegenstand meines erinnerten Tuns mehr oder weniger anschaulich vorgestellt. Im Bewusstsein, dass das gegenwärtige wahrgenommene Ding mit dem in der Erinnerung vorschwebenden Phantasieding identisch ist, ist auch der Unterschied zwischen der wahrgenommenen Gegenwart und der anschaulich erinnerten Vergangenheit dieses Dinges bewusst. Die erinnerten Phantasiedinge haben eine ganz eigenartige «Anwesenheit», die sich nicht in die Gegenwart des wahrgenommenen Raumes einordnet oder sich ihm als seine Fortsetzung zuordnet. Es wäre weiter zu zeigen, dass die erinnerten Phantasiedinge, die Phantasmen, auch nicht im selben Sinn gegenwärtig sind, wie im Erinnerungsbewusstsein das aktuelle Sich-Erinnern, der Akt des Sich-Erinnerns, gegenwärtig ist. Im Erinnern sind wir uns bewusst, dass wir uns jetzt, aktuell, erinnern. Dieser aktuelle Erinnerungsakt ist uns aber nicht in einem Phantasieraum präsent wie die Phantasmen. Folgende Annahme ist zu überlegen: Die Phantasmen sind, in der Sprache des Aristoteles ausgedrückt, «an sich» (καθ’ αὑτό, kath’ hauto) zeitlich unbestimmt, d. h. nicht in ihrem Bezug zu unseren jeweiligen Akten des Vergegenwärtigens (wie Sich-Erinnern an etwas, sich etwas als in der nicht wahrgenommenen Gegenwart Vorstellen, die Zukunft Vorausplanen usw.)
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betrachtet (nicht «in Beziehung zu uns», καθ’ ἡμάς, kath’ hêmas, wie sich Aristoteles ausdrückt). In diesem Sinn, könnten wir sagen, sind sie unzeitlich, atemporal, d. h. sie gehören an sich nicht zu unserer Gegenwart, nicht zu unserer Vergangenheit, nicht zu unserer Zukunft. Sie haben eine gewisse «Anwesenheit», die aber nicht in einem zeitlichen Sinn zu verstehen ist, sondern im Gegensatz zu «Abwesenheit» ihre sinnlich anschauliche Gegebenheit, ihr sinnlich anschauliches «Vorschweben» meint. Je nach unserem Zeitbewusstsein, in dem diese Phantasmen konkret auftreten, können sie vergangene, gegenwärtige oder künftige Dinge sein. Im Sich-Erinnern sind sie vergangene; im Träumen sind sie gegenwärtige; wenn ich mir das Castel Grande anschaulich vorstelle, wie es gegenwärtig aussieht, d. h. wie es dort in nördlicher Fortsetzung meines wahrgenommenen gegenwärtigen Umfeldes aussieht, sind die entsprechenden Phantasmen auch gegenwärtige Dinge; wenn ich für die Zukunft eine Reise plane und mir dabei vorstelle, was ich unternehmen werde, sind die in diesem Bewusstsein meines künftigen Erlebens auftretenden Phantasmen künftige oder, genauer gesagt, mögliche künftige Dinge. Wenn wir uns an unser vergangenes Leben und Tun erinnern, dann erscheinen uns die vergangenen Gegenstände unseres erinnerten Erfahrens und Tuns in vorschwebenden Phantasiedingen. Doch sind für uns in der Erinnerung diese Phantasiebilder nicht gegenwärtige Abbilder eines Vergangenen, sie repräsentieren nichts anderes, wie Aristoteles meinte, sondern wir schauen in ihnen mehr oder weniger lückenhaft und verschwommen die vergangenen Gegenstände selbst. Diese Phantasiedinge sind deshalb keine eigentlichen Abbilder, weil wir uns im Abbildbewusstsein das Abbild und das Abgebildete (den Repräsentanten und das Repräsentierte) gesondert vorstellen können, während dies im Sich-Erinnern nicht der Fall ist. Im Uns-Erinnern können wir uns die vergangenen Dinge nicht zuerst als Phantasiedinge und dann auch ohne Phantasiedinge vorstellen, während wir bei einem Porträtgemälde die abgebildete Person einmal in diesem Porträt anschauen und dann auch in der Wahrnehmung oder in der Erinnerung oder in der Phantasie, ohne Vermittlung eines Porträts, direkt anschauen können. Wir können das im Porträt und ohne Porträt Angeschaute miteinander vergleichen. Ein Vergleich dieser Art findet aber in der Erinnerung nicht statt. Dennoch sind wir uns in der Erinnerung gewisser Differenzen zwischen den Phantasiedingen und den erinnerten Gegenständen bewusst. Einmal können sich im Erinnerungsverlauf die Phantasmen derselben Gegenstände verändern. Wir sind
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uns bewusst, dass der zuvor sehr lückenhaft und verschwommen erinnerte Gegenstand derselbe ist wie der im jetzigen uns Erinnern deutlicher und vollständiger erscheinende. Zudem sind wir uns prinzipiell der Differenz bewusst, die zwischen den erinnerten Phantasiedingen und der vergangenen Welt besteht, wie wir sie in unserem erinnerten Erleben und Tun damals erfahren haben. Denn die Verschwommenheit, Lückenhaftigkeit, Vagheit, Schemenhaftigkeit dieser Phantasiedinge schreiben wir im Uns-Erinnern nicht den erinnerten Dingen zu, wie wir sie in unserer Vergangenheit wahrgenommen haben. Gerade weil wir uns an das vergangene Erleben und Tun selbst erinnern, sind wir uns dieses Unterschiedes zwischen den Phantasmen und den damals erfahrenen Dingen bewusst. Dadurch, dass wir uns an unser vergangenes Erfahren und Tun erinnern, werden die mit diesem erinnerten Erfahren und Tun auftretenden Phantasmen zu Erscheinungen der damals erfahrenen und getanen Sachen. Sie sind durch das erinnerte Erfahren und Tun in unsere Vergangenheit gerückt. Doch diese Annahme, dass die Phantasmen an sich, d. h. abgesehen von ihrem Bezug zu unseren jeweiligen Akten des Vergegenwärtigens (wie SichErinnern, Vorausplanen, Sich-als-in-der-nicht-wahrgenommenen-Gegenwart-Vorstellen, Die-Zukunft-Vorausplanen usw.), zeitlich unbestimmt und in diesem Sinn unzeitlich, atemporal sind, d. h. weder zu unserer Gegenwart noch zu unserer Vergangenheit oder zu unserer Zukunft gehören, diese Annahme bedarf einer Ergänzung. Es kommt zwar vor, dass in besonderen Bewusstseinszuständen uns unzeitliche Phantasmen vorschweben. Dies ist vor allem der Fall im Halbschlaf, vor dem Einschlafen, im Übergang vom Wachzum Schlafzustand oder vom Schlaf- zum Wachzustand oder wenn unser Geist nach einer Bewusstlosigkeit sich noch «benebelt» in einem dämmerigen Zustand befindet. Aber wenn wir im klaren Wachzustand uns etwas vergegenwärtigen, haben wir in unserem Vergegenwärtigen nicht zuerst einmal unzeitliche Phantasmen. Phantasmen sind im Vergegenwärtigen keine selbstständigen Bewusstseinsinhalte; d. h. wir sind uns vergegenwärtigend keiner unzeitlicher Phantasmen bewusst, sondern diese kommen nur in den verschiedenen Formen des Vergegenwärtigens vor (im Sich-Erinnern, Vorausplanen etc., im anschaulichen Vergegenwärtigen von Möglichkeiten, was in Zukunft geschehen könnte). Von den Phantasmen im Träumen, das kein Vergegenwärtigen ist, sehe ich hier ab. So sind die Phantasmen im Sich-Erinnern die anschaulichen vergangenen Dinge und Ereignisse, im Vorausplanen
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sind sie die künftigen Dinge und Ereignisse, im Phantasieren des Gegenwärtigen, aber nicht Wahrgenommenen die gegenwärtigen. «Die Phantasmen sind an sich unzeitlich» kann in Vergegenwärtigungen nur heissen, dass den Phantasmen als den anschaulichen, intentionalen Inhalten verschiedener Vergegenwärtigungsarten, in dieser abstrakten Allgemeinheit gesprochen, keine Zeitbestimmung zukommt. Doch innerhalb jeder besonderen Art des Vergegenwärtigens kommt den Phantasmen der vorgestellten Dinge und Ereignisse eine bestimmte Zeit zu, d. h. Gegenwart oder Vergangenheit oder Zukunft. Nur im freien Phantasieren, z. B. im Phantasieren einer Schlacht zwischen Kentauren und Drachen, sind die Phantasmen unzeitlich; d. h. die frei phantasierte Schlacht kann weder unserer Gegenwart noch der Vergangenheit oder der Zukunft zugeordnet werden, obschon die frei phantasierten Abläufe der Schlacht zeitliche Abläufe im Sinne eines Früher und Später sind.
14. Kapitel. Enthalten alle Erinnerungen an früher selbst Erlebtes Phantasmen? Das Problem, ob alle Erinnerungen an früher selbst Erlebtes Phantasmen enthalten, die man oft «Erinnerungsbilder» nennt, scheint mir von der Beantwortung der Frage abzuhängen, ob alle Erinnerungen an früher selbst Erlebtes in sich eine erinnerte, frühere, eigene, mehr oder weniger anschauliche Wahrnehmungssituation enthalten müssen oder nicht. Diese Erinnerungen werden heute in der psychologischen Literatur oft «episodische Erinnerungen» (episodic memories) genannt. Ich bin für mich in meinen diesbezüglichen Überlegungen von folgendem Beispiel ausgegangen: Ich erinnere mich, dass vor vielen Jahren in China ein chinesischer Daoist mir sagte, dass man nicht gleichzeitig Gurken und Knoblauch essen soll, da diese dann einander in ihren für die Gesundheit guten Wirkungen aufheben. Vielleicht sagte es mir der daoistische Meister (dao shi 道師), der in der Shancai-Höhle (善財洞) auf dem steilen Weg zum Dailuo-Gipfel (黛螺頂) wohnte, hoch über der zentralen buddhistischen Tempelanlage des den Buddhisten heiligen Wutai-Gebirges im Norden der Provinz Shanxi im Nordwesten Chinas, vielleicht war es ein anderer Daoist, der es mir sagte. An jenen daoistischen Meister in der Shancai-Höhle erinne-
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re ich mich sehr anschaulich: Er trug einen dünnen langen Bart und nach oben gebundene Kopfhaare; sagte, er sei achtzigjährig; er musterte meine Physiognomie und sagte danach, ich sei kein gewöhnlicher Mensch. Auch erinnere ich mich, dass ein kleines Mädchen zu ihm kam und dass er ihm einen Apfel schenkte. Weiter erinnere ich mich sehr anschaulich, dass er sich jugendlich flink auf eine Mauer setzte, mit dem Rücken gegen den senkrechten Abgrund. Ich weiss auch, dass dies im August 1984 geschah, in dem Monat, bevor ich die Universität Beijing für immer verliess. Aber ich erinnere mich nicht anschaulich an eine genaue Situation, in der er mir jenes über den Knoblauch und die Gurken sagte. Ich halte es jetzt nur für möglich, dass er mir dies sagte. Ich habe also keine Erinnerungsphantasmen an ein solches Ereignis. Vielleicht war es aber ein anderer chinesischer Daoist, der mir jenes über den Knoblauch und die Gurken sagte. Welcher andere es war, daran kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Ich erinnere mich auch nicht mehr an den genauen chinesischen Wortlaut dieser Aussage. Ich erinnere mich an den Sinn dieser Aussage, den ich mir in deutscher Sprache merkte, aber wenn ich mich an das Ereignis dieser Aussage erinnern will, stelle ich mir notwendigerweise einen chinesischen Wortlaut vor und auch einen Chinesen, der diese Aussage aussprach, doch nur vage, sehr wenig anschaulich bestimmt. Seit ungefähr den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist in der Welt der Psychologen eine Unterscheidung sehr bekannt, die der Psychologe Endel Tulving erstmals getroffen hat: die zwischen einerseits Erinnerungen an Ereignisse (episodic memory), z. B. die Erinnerung, dass vor vielen Jahren in China ein daoistischer Meister (道師 dao shi) mir sagte, dass man nicht gleichzeitig Gurken und Knoblauch essen soll, und semantischer Erinnerung (semantic memory), z. B. meine Erinnerung daran, dass man nicht gleichzeitig Gurken und Knoblauch essen soll. Im Hinblick auf diese Unterscheidung von Endel Tulving kann ich mich fragen: Erinnere ich mich überhaupt noch an jenes Ereignis, in dem mir ein Daoist sagte, dass man nicht gleichzeitig Gurken und Knoblauch essen soll (episodic memory), oder erinnere ich mich nur daran, dass man nicht gleichzeitig Gurken und Knoblauch essen soll (semantic memory)? Die Beantwortung dieser Frage ist für mich für dieses Beispiel klar: Man kann diese zwei Arten von Erinnerung gar nicht trennen. Ich erinnere mich
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ja an das Ereignis, dass ein Daoist mir diesen semantischen Inhalt sagte, und ich erinnere mich auch daran, dass es irgendein Chinese war, und daher ist es für mich auch klar, dass er es mir in chinesischer Sprache sagte. Und wenn ich mich an dieses Ereignis erinnere, stelle ich mir auch, wenn auch nur in vager und ungefährer Anschaulichkeit, einen chinesischen Menschen besonderer Art vor, der stand oder sass und mit seinem Mund und seiner Stimme in chinesischer Sprache mir, der ich ihm gegenüber war, jene Aussage machte. Anschaulichkeit ist da also sehr viel vorhanden und damit sind es auch Phantasmen. Doch sind diese anschaulichen Phantasmen nur für die Erinnerungsvorstellung eines solches aussagenden daoistischen Chinesen notwendige anschaulich phantasierende «Füllsel», ich schaue in ihnen nicht den chinesischen Daoisten und die Situation an, in der er mir jenen Satz sagte. Man kann also wohl sagen: Phantasmen sind in Erinnerungen immer vorhanden, aber diese Phantasmen sind nicht notwendig eigentliche Erinnerungsphantasmen, in denen wir das erinnerte Ereignis selbst sehen. Natürlich gibt es auch blosse semantische «memories» – aber nur dann, wenn ich nur noch weiss, dass man Gurken nicht zusammen mit Knoblauch essen soll, und wenn ich mich nicht mehr daran erinnere und ich mich auch nicht darum kümmere, ob mir dies jemand gesagt hat oder ob ich es in einem Vortrag für viele oder in einer Radiosendung gehört oder in einem Buch oder in einem Zeitschriftenartikel gelesen habe oder sonst wie weiss, ohne mich an etwas erinnern zu können oder zu wollen, was als episodic memory bezeichnet werden kann. Aber dieses blosse «semantische Gedächtnis» ist gar kein «Sich-Erinnern» im Sinne, wie ich dieses Wort gebraucht habe, nämlich als Sich-Erinnern an etwas selbst erlebtes Vergangenes. Blosses «semantisches Gedächtnis» enthält kein Vergangenheitsbewusstsein. Sobald ich mich noch daran erinnere, woher ich dieses semantische Wissen habe, also die Herkunft (Quelle) meines Wissens weiss, mag dieses Wissen noch so vage und unbestimmt sein, ist dieses Mich-Erinnern ein episodisches Erinnern an etwas Vergangenes.9
9 Gegen die obige These, dass mein Wissen um die Herkunft meines semantischen Wissens ein episodisches Erinnern an ein vergangenes Ereignis impliziert, sprechen sich Mark A. Wheeler, Donald T. Tuss und Endel Tulving in ihrem Artikel «Source Amnesia» im Psychological Bulletin, 1977, pp. 331–354 aus. Sie schreiben, dass die Quelle eines se-
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15. Kapitel. Warum sind wir uns in der Erinnerung des Erinnerten nicht nur als eines Vergangenen bewusst, sondern auch als eines mehr oder weniger zeitlich entfernten Vergangenen, mit anderen Worten, wie kommt es im Sich-Erinnern zum Unterschied verschiedener zeitlicher Distanzen des erinnerten Vergangenen von der erlebten Gegenwart aus? a) Raumperspektive und Zeitperspektive
Es wird von der zeitlichen Perspektive in Analogie zur räumlichen Perspektive gesprochen, in der von einem Hier aus räumliche Dinge in verschiedenen räumlichen Entfernungen gesehen werden. Wenn wir von einem hohen Gesichtspunkt aus vor uns eine weite Landschaft sehen, nehmen wir zum Beispiel in der Nähe unter uns eine Reihe von grossen Kastanienbäumen wahr, die wir als einzelne sehen und bei denen wir verschiedene Äste und visuell zusammenfliessendes Blattwerk unterscheiden können; von diesen Bäumen teilweise verdeckt, sehen wir weiter unten eine Wiese mit vier erwachsenen Menschen und mit dem Mast einer Drahtseilbahn für Warentransporte; hinter der am weitesten rechts stehenden Kastanie ragt der spitze Turm der Kirche des weit unten liegenden, aber vom rechts herabsteigenden bewaldeten Berghang verdeckten Dorfes hervor; obschon wir den Kirchturm als weit grösser als der Drahtseilbahnmast wahrnehmen (in diesem Wahrnehmen ist
mantischen Wissens auch semantisch festgehalten werden kann: z. B. wenn ich weiss, dass mein semantisches Wissen von einem College-Professor stammt. Sie denken wohl z. B. an den Fall, in dem ich weiss, dass ich das semantische Wissen von irgendeinem College-Professor her weiss, so wie ich in meinem obigen Beispiel von irgendeinem Daoisten weiss, dass ein gleichzeitiger Genuss von Gurken und von Knoblauch ihre gute Einzelwirkung für die Gesundheit aufhebt. Mir scheint aber, dass aus den oben angeführten Gründen jedes Wissen um die Quelle oder Herkunft eines semantischen Wissens (das an sich selbst kein Vergangenheitsbewusstsein enthält), ein, wenn auch noch so vages, unbestimmtes, wenig anschauliches Vergangenheitsbewusstsein enthält, d. h. ein Mich-Erinnern an ein vergangenes, von mir erlebtes Ereignis, z. B. mein Mich-Erinnern, dass ich mein semantisches Wissen durch mein vergangenes Hören der Rede eines College-Professors erworben habe.
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ein Wissen enthalten), ist seine optische Erscheinung kleiner als diejenige des Drahtseilbahnmastes; obschon wir die Menschen unten auf der Wiese beim Mast als ungefähr gleich gross wahrnehmen wie den Menschen, der hier oben neben mir sitzt, erscheinen sie optisch als viel kleiner als er; bei den links und rechts von uns ins Tal hinuntersteigenden bewaldeten Bergrücken können wir kaum noch einzelne Bäume, geschweige denn Baumäste unterscheiden; gegenüber von uns, teilweise verdeckt von den beiden links und rechts herabsteigenden Bergrücken und vom nahe gelegenen Mast der Drahtseilbahn sowie vom weit unten gelegenen Kirchturm, erhebt sich eine von links nach rechts langsam ansteigende bewaldete Bergkette. Hinter ihr wird sie in der weitesten sichtbaren Ferne überragt von einem mächtigen Felsengebirge, auf dem keine Vegetation zu sehen ist. Durch solche Verdeckungen, solche optische Grössenunterschiede, die aber den wirklichen von uns gewussten Verhältnissen nicht entsprechen, sowie durch die oft sich mit der Entfernung steigernde atmosphärische Vagheit und Bläue, vermögen wir die Unterschiede der räumlichen Distanzen recht gut abzuschätzen, d. h. ihr Ferner und Näher vom Hier aus, obschon wir sie nur sehr ungefähr in Massen, in Metern und Kilometern, anzugeben vermögen. Bei der sogenannten «zeitlichen Perspektive» in der Erinnerung kann man nicht sagen, dass das Erinnerte sich mit der zeitlichen Entfernung in seiner Erscheinung verkleinert oder dass das zeitlich Nähere das zeitlich Fernere teilweise verdeckt. Wir haben also in der Erinnerung keine Kriterien für die zeitlichen Entfernungen, die der räumlichen Perspektive entsprechen würden. Und dennoch sind uns in unseren Erinnerungen die erinnerten Tätigkeiten, Ereignisse und Sachen in verschiedenen zeitlichen Entfernungen oder Distanzen bewusst. Wie kommt es im Sich-Erinnern zu den Unterschieden solcher zeitlicher Distanzen? b) Die Auffassungen von Bertrand Russell und William J. Friedman über die Erfahrung der zeitlichen Distanz von erinnerten Ereignissen
Bertrand Russell sagt in der neunten, dem Gedächtnis gewidmeten Vorlesung seiner Analysis of Mind von 1921, dass ein besonderes «feeling of the pastness» «unseren Erinnerungen Stellen in der Zeitordnung anweist»
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(S. 163). Dieses «feeling of the pastness» charakterisiert er genauer auch als «feeling of greater or less remoteness in some remembered event» oder als «sense of the nearness or remoteness of a remembered event» (S. 163 f.) Russell sagt aber nicht, worauf dieses «feeling» oder dieser «sense» beruht, er lehnt es vielmehr ab, dieses «Gefühl der Vergangenheit» genauer zu analysieren (S. 187). Als weiteres Kriterium für die geringere oder grössere zeitliche Entfernung von erinnerten Ereignissen nennt Russell auch den Kontext des Erinnerten: «A recent memory has, usually, more context [als eine Erinnerung an ein älteres Ereignis].» (S. 163) Es sei in einer «recent memory» so, wie in der Wahrnehmung ein ablaufender Ereignisprozess aufgefasst (apprehended) wird: Hier erhalten die sich folgenden Empfindungen (sensations) durch Verblassen (fading) und indem sie in wachsendem Masse verblassen (in an increasing degree as they fade), «das Kennzeichen des Soeben-Vergangenen» (the mark of just-pastness) und «werden so in eine Serie [immer weiterer zeitlicher Entfernung] eingeordnet»(S. 163). Soweit ich richtig verstehe, denkt Russell, dass es in einer recent memory so sei wie in der Wahrnehmung, in der, aufgrund des allmählichen Verblassens der aufeinander folgenden Empfindungen, Serien, also zeitliche Kontexte gebildet werden. Für das von Russell angegebene Merkmal «zeitliche Länge des Kontextes des Erinnerten» scheint auch mir aufgrund meiner Erfahrung einiges zu sprechen. Ich werde gleich darauf noch genauer zurückkommen. Aber ich glaube nicht, dass es der eigentliche Grund dafür ist, warum wir einem erinnerten Ereignis unmittelbar, ohne zu überlegen, eine ungefähre zeitliche Distanz geben. Denn in diesem unmittelbaren vagen Gefühl oder in dieser unmittelbaren vagen Intuition überlegen wir nicht die zeitliche Länge des Kontextes. Was das Verblassen der Empfindungen anbetrifft, so ist zu bemerken, dass uns das im Erinnern Erinnerte überhaupt nicht in Empfindungen gegeben ist, sondern, was die erinnerten Sachen betrifft, in Phantasmen, die keine Empfindungen sind. Und erinnerte Sachen, die wir erinnernd als zeitlich sehr weit entfernt erfahren, können in weit weniger «faden» Phantasmen gegeben sein als solche, die wir als zeitlich viel näher einschätzen. William J. Friedman vom Oberlin College in Ohio, der sich während Jahrzehnten mit der Zeitordnung der erinnerten Ereignisse befasste, schrieb in seinem Beitrag «Memory Processes Underlying Human’s Chronological
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Sense of the Past»,10 dass nach den Aussagen von befragten Personen angenommen werden kann, dass die zeitliche Distanz eines erinnerten Ereignisses aufgrund seiner Lebendigkeit (vividness) eingeschätzt werde; je lebendiger ein Ereignis also erinnert wird, desto näher wird es in zeitlicher Hinsicht eingeschätzt. Er vertritt hier die Auffassung, dass erinnerte Ereignisse nicht durch das Gedächtnis zeitlich organisiert sind, sondern wie einzelne «Inseln in der Zeit» stehen, denen wir einerseits durch die Rekonstruktion dessen eine Zeitstelle geben, wann ein erinnertes Ereignis stattgefunden haben muss, andererseits intuitiv aufgrund ihrer Lebendigkeit. (S. 139) Am Ende dieses Beitrages fragt Friedman: «Welche Art von Informationen wird gebraucht, um Urteile über die Distanz von etwas Vergangenem zu fällen?» (S. 160) Und er antwortet: «Dass sie [die Erinnerungen] verbessert werden können (in case of retrieval), ist nicht die entscheidende Information. […] Für die erinnerte Menge (amount) an Einzelheiten, die über ein Ereignis erinnert wird, gibt es keine eindeutigen positiven wissenschaftlichen Resultate. Eine gewisse Qualität, die als Lebendigkeit (vividness) erfahren wird, scheint involviert zu sein.» (S. 161)
Aufgrund meiner eigenen Erfahrung kann mich diese aufgrund von Befragungen und Statistik gewonnene «wissenschaftliche» Auffassung nicht überzeugen. Denn erinnerte Ereignisse meiner Kindheit sind mir mindestens ebenso lebendig bewusst wie gewisse erinnerte Ereignisse, die sich vor einem Jahr ereigneten. c) Inhaltliche, im Gehalt des Erinnerten liegende Anhaltspunkte für das Wissen um die Zeitdistanz von erinnerten Ereignissen. Die Lebendigkeit von erinnerten Ereignissen hat mit ihrer Erstmaligkeit sowie Einmaligkeit und der damit verbundenen eigenen Anstrengung und dem emotionalen Gewicht zu tun
Ich möchte hier zwei Beispiele von eigenen Erinnerungen an Ereignisse meiner Kindheit geben, die beide eine grosse Lebendigkeit zeigen (was William
Erschienen 2001 im Sammelband Time and Memory. Issues in Philosophy and Psychology, edited by Christoph Hoerl and Teresa McCormack, S. 139–167. 10
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J. Friedmans Auffassung widerspricht) und die beide wenig Kontext beinhalten (ein Punkt, auf den Russell hinwies). Erstes Beispiel: Ich erinnere mich sehr lebendig daran, wie ich als Kind, wahrscheinlich zum ersten Mal, etwas zu zeichnen versuchte. Es war wahrscheinlich an einem Sonntagmorgen, als unsere ganze Familie auf unserer nach Süden gerichteten Terrasse sass. Ich erinnere mich deutlich, dass ich diesen Zeichnenversuch auf dieser Terrasse in Gesellschaft meiner Eltern unternahm. Ich versuchte, eine Eule zu zeichnen. Als Vorbild diente mir irgendeine der mehreren gleichen, aus Holz geschnitzten Eulen (von denen ich später lernte, dass sie zur Spezies Uhu gehören), die jeweils oben auf einer Säule mit einer Liste von Geboten und Verboten sassen, welche an verschiedenen Stellen des nahe von uns gelegenen Naturschutzgebietes Elfenau aufgestellt waren. In dieses Gebiet nahmen mich meine Eltern oft zu Spaziergängen mit. Ich erinnere mich nun sehr lebendig, und am lebendigsten in dieser Erinnerung, dass ich die Schwierigkeit dieses meines Zeichnenversuches spürte. Schliesslich sagte ich zum Resultat meines Versuches: «Ich wollte eine Eule zeichnen, und es ist ein Liegestuhl herausgekommen!» Dieser Kommentar hatte, wie ich mich erinnere, ein grosses Lachen der Anwesenden zur Folge. Liegestühle befanden sich auf unserer Terrasse, in denen jeweils meine Eltern oder auch wir Kinder halb lagen, halb sassen und deren Steile man durch Einrasten einer Holzstange wählen konnte. Es waren einfache Gestelle aus Holzstangen mit einem darin hängenden festen Tuch. Man konnte sie nach Gebrauch völlig flach zusammenklappen und an die Wände stellen. Die verschiedenen Striche meiner Zeichnung kamen mir vor wie die Holzstangen eines solchen Liegestuhls. – Dieses erinnerte Geschehen muss in grosser zeitlicher Entfernung von meiner jetzigen erlebten Gegenwart liegen, denn ich zeichnete, wie ich mich aber nur vage erinnere, als Kind auch später, und das Zeichnen fiel mir allmählich leichter. Aus dem Inhalt dieser Erinnerung ist mir diese grosse zeitliche Entfernung unmittelbar klar. Es ist keine Konstruktion, von der William J. Friedman spricht. Aber ich konstruiere jetzt, dass ich damals wahrscheinlich fast vier Jahre alt gewesen sein muss, im Sommer vor dem 3. Oktober 1941, als ich vier Jahre alt wurde. Dass ich damals dieses Alter hatte, daran erinnere ich mich überhaupt nicht. Die Lebendigkeit dieser Erinnerung zeigt mir, dass die Lebendigkeit (vividness) des Erinnerten wahrscheinlich mit der zeitlichen Nähe bzw. Ferne des Erinnerten nichts zu tun hat, dass also die Mutmassung aufgrund von Befra-
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gungen von William J. Friedman nicht richtig ist. Diese Lebendigkeit hat vielmehr mit der Erstmaligkeit sowie Einmaligkeit des erinnerten Ereignisses und der damit verbundenen eigenen Anstrengung und dem emotionalen Gewicht zu tun. Darüber habe ich schon oben im sechsten Kapitel geschrieben. Zweites Beispiel: Ich erinnere mich auch sehr lebendig, dass ich einmal mit meiner Grossmutter, die damals bei uns wohnte, nicht weit von unserer Wohnung, am Anfang des Weges spazierte, der am Rande des Dählhölzliwaldes verlief und zum Thunplatz führte. Meine Grossmutter sprach mir von etwas, was gestern geschah, und von etwas, was morgen geschehen würde, an das ich mich nicht mehr erinnere. Es war mir damals klar, dass dieses Gestern und Morgen nicht jetzt, also nicht gegenwärtig ist, aber den Unterschied zwischen der Bedeutung von «gestern» und derjenigen von «morgen» verstand ich nicht. Ich konnte, phänomenologisch gesprochen, zwischen jetzt wahrgenommenem Gegenwärtigem und vergegenwärtigtem nicht Gegenwärtigem unterscheiden, aber nicht zwischen erinnertem Vergangenem und vorausgeplantem Künftigem als zwei verschiedenen Formen des Vergegenwärtigtens. Ich konnte damals dieses wichtige Problem nicht lösen, es war für mich zu schwierig, so wie im voranstehenden Beispiel das Zeichnen einer Eule für mich zu schwierig war. Dies bestätigt mir erneut, dass die Lebendigkeit des erinnerten Ereignisses mit der Erstmaligkeit, Neuartigkeit sowie Einmaligkeit des erinnerten Ereignisses, mit der damaligen eigenen Anstrengung für eine Problemlösung, dem damit verbundenen emotionalen Gewicht zusammenhängt. Ich erinnere mich zwar an viel Kontext dieses erinnerten Ereignisses, dass ich Schwierigkeiten mit der Zeitordnung von Heute, Gestern und Morgen hatte. Aber ich erinnere mich an keinen zeitlich ablaufenden Kontext im eigentlichen Sinn. Ich erinnere mich zwar, dass meine Grossmutter mit mir oft diesen Waldrandweg zum Thunplatz einschlug, um dann meistens vom Thunplatz noch kurze Zeit die Thunstrasse hinunterzugehen zu einem kleinen Park, wo meine Grossmutter sich ausruhen und ich spielen konnte. An der Stelle dieses Parks wurde nach dem zweiten Weltkrieg ein Wohnblock gebaut. Aber ich erinnere mich nicht, ob wir damals, als ich jenes Zeitproblem hatte, danach in jenes «Pärkli» gingen oder nicht. Ich erinnere mich auch, dass meine Grossmutter mit mir auch auf einem breiten Weg in den Dählhölzliwald hinein ging bis zu einer Bank, wo meine Grossmutter sich ausruhte und ich spielte. Ich erinnere mich sehr le-
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bendig, dass ich dort mehrmals mit einem Mädchen spielte, das ein Zwerglein war, kleiner als ich, aber älter, mit grossen Augen. Es sammelte mit seinen kleinen Händchen flink am Boden liegende Buchnüsschen, öffnete sie und gab auch mir welche zum Essen. Auch erinnere ich mich sehr lebendig, dass am Eingang des Weges zu diesem Wald meine Grossmutter, bei der ich war, einmal zwei alten Frauen begegnete und mit ihnen sprach. Meine Grossmutter sagte ihnen ihr hohes Alter, und die beiden alten Frauen reagierten mit Gesten, Lauten und Worten sehr erstaunt. – Diese Ereignisse assoziiere ich jetzt erinnernd mit jenem zuerst erzählten, sie gehören in einem weiten Sinn auch zu ihrem Kontext, aber nicht in einem engen Sinn. Und diesen engen Sinn meinte wohl Russell, wenn er sagte, dass zeitlich frühere Ereignisse weniger Kontext haben als zeitlich nähere. Aber wie schon gesagt und begründet glaube ich nicht, dass dieser mehr oder weniger lange Kontext zeitlicher Folge der eigentliche Grund dafür ist, warum wir einem erinnerten Ereignis unmittelbar, ohne zu überlegen, eine ungefähre zeitliche Distanz geben. Ich denke, dass wir deshalb so lebendige Erinnerungen an unsere Kindheit haben, weil wir damals sehr vieles zum ersten Mal erlebten und dies von uns eine Anstrengung verlangte. Ein Kind erlebt und erfährt so viel für es Neues, mit dem es irgendwie zurechtkommen muss; und das ist für es meistens nicht leicht. Auch nach der Zeit der Kindheit, in der Jugend und auch wenn wir eine höhere Ausbildung bis über unser 20. Lebensjahr hinaus verfolgen und dabei viel Neues mit Anstrengung und Schwierigkeiten lernen und wenn wir nach der Pubertät und darüber hinaus auch Freundschaftsund Liebesbeziehungen aufbauen, die uns sehr in Anspruch nehmen, gibt es für uns viel Neues, Erstmaliges, Einmaliges mit vielen Emotionen Verbundenes, woran wir uns sehr lebendig erinnern. Demgegenüber wiederholt sich im erwachsenen Alter, wenn wir meistens gesellschaftlich «installiert» und integriert sind, weit mehr, es gibt nicht mehr so viel und vor allem nicht mehr so viel radikal Neues. Denn wir haben gelernt mit dem umzugehen, womit wir zu tun haben, und mit dem, was wir tun wollen. Aber natürlich stossen wir auch dann noch auf Neues und emotional uns Beanspruchendes, das von uns Anstrengung verlangt, und an solche Ereignisse erinnern wir uns dann auch sehr lebendig. Aber sie sind seltener geworden. Wegen dieser Fülle von Neuem, Erstmaligem, Einmaligem, Anstrengendem mit vielen Emotionen Verbundenem erscheint uns später auf unser Leben zurückbli-
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ckend unsere Lebenszeit vor dem 20. Lebensjahr meistens als weit länger als diejenige danach, auch wenn diese nach der physikalischen Zeit doppelt so lange dauerte. d) Das Bewusstsein verschiedener zeitlicher Distanzen des Erinnerten, bei denen wir uns nicht auf den Gehalt des Erinnerten stützen können
Wir haben viele Erinnerungen an unser vergangenes Leben, deren zeitlicher Distanz wir uns nicht aufgrund des Erinnerungsgehaltes bewusst sind. Dies ist besonders für erinnerte Ereignisse der Fall, die im erwachsenen Leben geschahen und die sich wiederholten. Wir erinnern uns an sie, aber finden keine inhaltlichen Anhaltspunkte für ihre Zeitferne. Trotzdem wissen wir irgendwie mit ziemlich grosser Sicherheit, ob diese erinnerten Ereignisse ungefähr vor zwei Tagen oder ungefähr vor zwei Jahren, ob sie ungefähr vor zwei oder ungefähr vor zwanzig Jahren geschahen. Ob etwas z. B. vor zwei oder vor fünf Jahren stattfand, darüber können wir zweifeln und uns leicht täuschen, aber nicht darüber, ob etwas vor zwei oder vor zwanzig Jahren stattfand. Es ist zu präzisieren, dass das gefühlsmässige Wissen um die Zeitdistanz in sich keinerlei aufgrund kosmischer, also räumlicher Phänomene errechnete Zeitangaben enthält, wie Tage, Monate und Jahre. Vielmehr belegen wir erst nachträglich die «Intuition» der Zeitdistanz mit solchen räumlichen Zeitberechnungen. Henri Bergson würde sagen, dass das intuitive Wissen um die Zeitdistanz von etwas Erinnerten nicht zur räumlichen, physikalischen, «quantitativen Zeit» gehört, sondern zur «qualitativen Zeit», d. h., dass sie zur «durée» (Dauer) des subjektiven Lebens gehört, die kein Aussereinander der verschiedenen Teile, sondern deren Ineinander ist. Dieses intuitive Wissen um die Zeitdistanz von etwas Erinnerten drückt sich unmittelbar z. B. in folgenden Beispielen aus: Jemand erzählt mir etwas, was er erlebt hat, und ich antworte sofort: «Oh, kürzlich ist mir etwas ganz Ähnliches passiert»; oder beim Hören eine anderen Geschichte antworte ich: «Diesen Ort habe ich auch einmal besucht, aber vor langer Zeit.» Auch diese sehr vage Distanz-«Intuition» muss in unserem Geist oder in unserem Bewusstsein Gründe haben.
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e) Versuch, das Bewusstsein der zeitlichen Distanz des Erinnerten zu erklären, bei dem wir uns nicht auf den Gehalt des Erinnerten stützen können
Ich versuche in folgender Richtung dieses Problem der in der Erinnerung unmittelbar bewussten, mehr oder weniger grossen zeitlichen Distanz des Erinnerten zu klären. Ich glaube nicht, dass etwas von uns Erinnertes in der Erinnerung eine «isolierte Insel» ist, wie William J. Friedman annimmt. Ich glaube vielmehr, in diesem räumlichen Gleichnis gesprochen, dass, wenn etwas Erinnertes so etwas wie eine Zeitinsel sein soll, dann auch das Zeitmeer, das, von unserem erlebten Jetzt aus gesehen, vor und hinter dieser Insel liegt, unanschaulich, dunkel bewusst ist, und dass uns aufgrund unserer Erinnerungserfahrung auch unanschaulich, dunkel bewusst ist, dass sich in dem Meer, das die Insel umgibt, noch andere von uns mehr oder weniger entfernte Inseln befinden, an die wir uns erinnern können. Wenn wir uns erinnernd gefühlsmässig bewusst sind, dass das erinnerte Erlebnis in der Vergangenheit weit zurückliegt, sind wir uns dunkel, undifferenziert bewusst, dass wir seither viel anderes erlebt haben; und wenn uns etwas als kürzlich geschehen in Erinnerung ist, so sind wir uns dunkel, undifferenziert bewusst, dass wir seither nicht viel erlebt haben. Ein solches unanschauliches, dunkles, undifferenziertes Bewusstsein muss vorhanden sein, denn es ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir aktuelle Erinnerungen an das wecken können, was wir aufmerksam erlebt haben, oder dass sie uns einfallen und wir sie dann uns anschaulicher machen können. Und ich muss sofort differenzierend hinzufügen: Wir erinnern uns nach inhaltlichen Beziehungen und nicht nach chronologischen Beziehungen der Zeitdistanz. Woran wir uns erinnern, hat immer eine gewisse inhaltliche Bestimmung. Der Inhalt unserer Vergangenheit, das, was wir bewusst getan und bewusst erlebt haben, ist uns viel wichtiger als ihre chronologische Ordnung nach verschiedenen Zeitdistanzen. Wenn wir uns erinnern, folgen wir den Erinnerungsinhalten, z. B. erinnere ich mich an ein Erlebnis mit meinem Vater, dann an ein anderes Erlebnis mit meinem Vater, dann, damit zusammenhängend an eines auch mit meiner Mutter, dann auch an Erlebnisse mit meinen Geschwistern, dann an andere Ereignisse mit meiner Familie. Oder wir erinnern uns an eine Reise nach China, zuerst an Ereignisse in Beijing, dann an solche in Nanjing usw., dann in inhaltlichem Zusammenhang an
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andere Reisen in China. Wohl wegen des grösseren inhaltlichen Interesses sind unsere Erinnerungen in ihrem erinnerten Inhalt besser, genauer, wenn auch nicht fehlerfrei, als in ihrem Bewusstsein der Zeitdistanz. Man darf sagen, dass unsere Erinnerungen primär nach inhaltlichen Ähnlichkeiten oder manchmal auch Gegensätzen geordnet sind, und nicht wie Annalen nach einem chronologischen Gesichtspunkt. Auch das dunkle Bewusstsein dessen, was man seit einem erinnerten vergangenen Erlebnis erlebt hat, welches das Bewusstsein der Zeitdistanz dieses erinnerten Erlebnisses ausmacht, hat mit dem Inhalt des Erinnerten zu tun. Wenn ich z. B. ein für mich sehr wichtiges, mich sehr interessierendes telefonisches Gespräch mit einem Freund führte und danach längere Zeit nichts mehr von diesem Freund hörte, also nichts inhaltlich Ähnliches mehr stattfand, dann kann es mir in meiner Erinnerung an es scheinen, als habe es «gerade erst», also in geringer Zeitdistanz stattgefunden, obschon es nach der quantitativen räumlichen Uhrzeit schon vor einer Woche stattfand. Nichts inhaltlich Ähnliches ist unterdessen an seine Stelle getreten und hat es für mich in die Vergangenheit zurückgeschoben. Dennoch ist auch dieses von mir erinnerte Telefongespräch für mich in dieser Erinnerung in die Vergangenheit gerückt oder geschoben worden, denn dieses Gespräch war damals nichts Isoliertes, es stand im Lebenszusammenhang jenes Tages und damit im Zusammenhang mit den in der Erinnerung an dieses Gespräch dunkel bewussten anderen Ereignissen, die ich an jenem Tag erlebte. Diese wurden von neueren Ereignissen immer weiter in die Vergangenheit geschoben und haben jenes erinnerte Gespräch in diesem Zusammenhang sozusagen mitgezogen. Um meinen Gedanken, dass neuere, jetzt dunkle, unbewusste, latent im Bewusstsein «schlafende» (aber mindestens teilweise zu erweckende und dadurch in die patente, offenbare, wache, anschauliche Erinnerung tretende) Ereignisse das jetzt erinnerte Ereignis in eine mehr oder weniger vage Zeitdistanz gestossen haben, etwas plausibler zu machen, möchte ich auf zwei allbekannte Phänomene hinweisen: Erstens: Wenn wir z. B. morgens um acht Uhr auf die Uhr geschaut haben und also wissen, dass es acht Uhr ist, und dann uns irgendwie beschäftigen, aber nicht auf die Uhr schauen, und uns plötzlich fragen, wie viel Uhr es denn jetzt ist, können wir oft, ohne auf die Uhr zu schauen, ziemlich genau angeben, wie viel Zeit unterdessen verflossen ist, z. B. vier Stunden, d. h. dass
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es jetzt zwölf Uhr ist. Und wir sind oft selbst erstaunt, dass wir dies können. Dies kann geschehen, ohne dass wir dabei äussere Anhaltspunkte, z. B. den Sonnenstand, zu Hilfe nehmen. Wir erinnern uns dabei, dass wir um acht Uhr auf die Uhr schauten, und die zeitliche Distanz dieses Ereignisses können wir recht gut abschätzen. Unser Gefühl der zeitlichen Distanz ist in diesem Fall also recht zutreffend. Dabei müssen wir uns nicht an alles anschaulich erinnern, was wir unterdessen getan haben, es kann ziemlich dunkel bleiben. Es ist aber im retentionalen, zurückhaltenden Zeitbewusstsein, d. h. im Bewusstsein, das dunkel zurückhält, was wir getan und erlebt haben, noch sehr neu. Aber nicht immer ist unser Gefühl der zeitlichen Distanz eines nahe gelegenen, erinnerten Ereignisses so genau. Zweitens: Nachdem wir zum Beispiel auf einer nach der Uhrzeit gemessenen vierwöchigen sehr abwechslungsreichen Ferienreise nach Griechenland jeden Tag etwas für uns Neues und Begeisterndes dieses schönen Landes mit seinen freundlichen Menschen, seinen vielen klassischen und byzantinischen Kunstschätzen, mit seinen Bergen, seinen Inseln und dem Meer besuchten und mit grosser Freude bestaunten und auch die guten, ungewohnten nur lauwarmen Speisen in den Selbstbedienungsrestaurants assen und den türkischen Kaffee mit gratis beigegebenen Pistazien und das einmalige, von der Wirtin selbstgemachte Joghurt in den Vorgärten der Kaffeehäuser tranken und noch vieles Ungewohntes mehr erlebt haben, dann scheint uns in der Erinnerung der erste Tag dieser Reise, an dem wir vom italienischen Brindisi aus mit der Fähre in Igoumenitsa, beim Eingang in die antike Unterwelt, nördlich von Parga, ankamen, gefühlsmässig schon relativ weit entfernt in der Vergangenheit zu liegen. Demgegenüber erscheint uns in einer eintönigen Lebensstrecke mit vielen ähnlichen, gewohnten, täglichen Wiederholungen etwas Besonderes, Neues, für uns Wichtiges, das nach der Uhrzeit vor einem Monat geschah, in der Erinnerung als etwas «erst gerade» Geschehenes. Für uns ist in der Zwischenzeit nicht viel Verschiedenes, Neues und Bedeutendes abgelaufen, welches das erinnerte Ereignis immer weiter in die Vergangenheit geschoben hätte. Mir kommt in diesem Zusammenhang auch eine Legende von einem Mönch in den Sinn, der sich von einem Dorf aus, wo er lebte, an einen einsamen Ort begab, dort in das Hören des Gesangs eines besonderen Vogels versank und dabei grösstes Glück empfand. Nachdem er mit dem Hören dieses Gesanges am Ende war, erschien es ihm, dass er gerade erst, noch am selben
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Tag, sein Dorf verlassen hatte. Als er danach aber wieder in sein Dorf zurückkehrte, sah er zu seinem grossen Erstaunen, dass dort die Menschen, die er als Kinder verliess, erwachsen geworden und dass die damals Erwachsenen nun Greise und Greisinnen waren. Ich verstehe das Märchen in seinen zeitlichen Verhältnissen so: Der Mönch erlebte in seiner glücklichen, völligen Versunkenheit in den Gesang des besonderen Vogels, in der er nichts anderes als diesen Gesang hörte, ausserordentlich Schönes, Mystisches, aber in der zeitlichen Folge nicht Vielerlei, Verschiedenes, sondern sehr Einfaches, Tiefes, Unsägliches, sodass das Gehörte nicht durch immer Neues, Verschiedenes immer weiter in die Vergangenheit geschoben werden konnte, sondern zeitlich zu bleiben schien; so wie das Nunc permanens (das bleibende Jetzt), worin nach Boëthius (480–524) die göttliche Ewigkeit besteht.11 Wenn tatsächlich im Gefühl der zeitlichen Nähe oder Ferne eines erinnerten Ereignisses ein dunkles, undifferenziertes Bewusstsein des inzwischen Geschehenen ähnlichen Inhaltes liegt, dann stellt sich die Frage, um was für ein dunkles, undifferenziertes Bewusstsein es sich dabei handelt. Es ist nicht selbst wieder eine Folge von aktuellen Erinnerungen: Wenn wir uns jetzt an ein vergangenes Ereignis erinnern, können wir uns jetzt nicht auch noch an ein anderes vorangegangenes Ereignis erinnern; denn wenn wir uns anschaulich, d. h. mit Phantasmen, an jenes Ereignis erinnern, können wir uns nicht auch noch gleichzeitig anschaulich an ein vorangegangenes anderes Ereignis anschaulich erinnern. Denn die «Anschauung» des einen vergangenen Ereignisses würde die «Anschauung» des anderen verdecken. Es ist so, wie wir nicht gleichzeitig zwei verschiedene gegenwärtige Landschaften (anschaulich) wahrnehmen können. Und wie ich schon mehrfach hervorgehoben habe, enthält Erinnerung notwendig eine gewisse Anschaulichkeit. Auch können wir nicht gleichzeitig unsere Aufmerksamkeit auf zwei erinnerte Ereignisse richten. James Mill stellte sich in seiner Analysis of the Phenomena of the Human Mind (1829) vor, dass wir in einer Erinnerung an ein vergangenes Ereignis «sehr schnell» die Serie der ideas «durchlaufen», die den sense impressions entsprechen, die wir seit dem erinnerten Ereignis hatten, und dass wir dadurch fähig werden, dieses Ereignis in der Vergangenheit mehr oder weni-
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Boëthius, De trinitate, Buch IV, S. 72–74.
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ger entfernt zu lokalisieren, d. h. um seine zeitliche Distanz zu wissen. (Bd. I, S. 330/31) Wie sich James Mill dieses «very rapidly run over those ideas» genauer vorstellt, ist mir ein Rätsel. Drei Gründe scheinen mir gegen ein solches Durchlaufen zu sprechen: Erstens: Es kann kein sehr schnelles Durchlaufen von aktuellen Erinnerungen an vergangene Ereignisse sein. Denn ein solches würde eine Folge von vielen, zum Teil enorm vielen, anschaulichen Erinnerungen voraussetzen. Ein solches rasantes Durchlaufen von aktuellen anschaulichen Erinnerungen müsste bewusst sein, denn aktuelle anschauliche Erinnerungen sind immer bewusst, da anschauliches Sich-Erinnern immer aufmerksam ist, wie jedes aktuelle anschauliche Vergegenwärtigen (z. B. von Künftigem, Möglichem, bloss Phantasiertem, Erlebnissen anderer Menschen). Aber dieses «sehr schnelle Durchlaufen» ist uns nicht bewusst. Zweitens: Es ist äusserst unwahrscheinlich, dass wir, wenn wir uns z. B. an ein Ereignis vor zwanzig Jahren erinnern, unsere ideas aller entsprechenden sense impressions der inzwischen abgelaufenen Ereignisse durchlaufen müssen, um uns der zeitlichen Distanz dieses erinnerten Ereignisses bewusst werden zu können. Denn das vage Gefühl der zeitlichen Distanz eines erinnerten Ereignisses stellt sich bei der Erinnerung daran sofort, unmittelbar ein; kein noch so schnelles Durchlaufen der ideas der sense impressions der vorangegangenen Erlebnisse kann für diese zeitliche Unmittelbarkeit aufkommen. Drittens: Wenn wir wirklich ein solches Durchlaufen vollzögen, müsste die Einschätzung der Zeitdistanz eines erinnerten Erlebnisses viel genauer und nicht so vage und oft nicht richtig sein, wie es in Wirklichkeit ist, wenn wir keine inhaltlichen Gründe für diese Einschätzung haben oder wenn wir die Zeitdistanz nicht durch Schlüsse rekonstruieren können. Die Dunkelheit und Undifferenziertheit, in der wir uns unseres Erlebnisflusses bewusst sind, der seine in ihrer ehemaligen Aktualität bewusst gewesenen Erlebnisse immer weiter in die Vergangenheit trägt und dadurch das zeitliche Distanzgefühl eines erinnerten Erlebnisses schafft, diese Dunkelheit und Undifferenziertheit kann durch die Analogie mit einem Beispiel des Bewusstseins meiner gegenwärtigen Situation und ihres «Horizontes» besser verstanden werden. Ich halte zum Beispiel jetzt einen Vortrag. Durch meine Aufmerksamkeit bin ich jetzt diesem Blatt Papier zugewendet und seinen Schriftzeichen
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mit ihren Bedeutungen, die ich gerade vorlese, und auch meinen Zuhörern. Ich sehe, wenn ich vorlese, noch ein Stück dieser Tischfläche, ohne dass meine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet wäre. Dunkler und undifferenzierter ist aber in meinem Bewusstsein auch das gegenwärtig, was hinter meinem Rücken im Vortragssaal ist, auch das Universitätsgebäude im Länggassquartier, in dem ich den Vortrag halte, denn ich weiss während meines jetzigen Vortrages, wo ich jetzt bin. Am Ende der Diskussionen nach dem Vortrag werde ich nicht zu überlegen haben, wo ich jetzt bin, wie dies manchmal nach dem Aufwachen aus einem Traum geschehen kann. Und das bedeutet auch, dass ich jetzt um den Weg von mir zu Hause aus zum Vortragsraum weiss, den ich hierhin heute Morgen eingeschlagen habe. Es ist unpassend, Einzelnes aufzuzählen, denn es ist jetzt, wenn ich wegen dieses Vortragsbeispiels nicht Einzelnes aufzählen würde, nichts Einzelnes unterschieden, nichts differenziert, sondern ununterschieden, undifferenziert, dunkel bewusst. Dieses dunkle und undifferenzierte Bewusstsein ist zugleich Bewusstsein von Räumlichem und Zeitlichem, von Hier und Dort und von Jetzt und Früher. Das, was wir jetzt aufmerksam wahrnehmen und woran wir aufmerksam denken und wovon wir sprechen, ist nichts Isoliertes, sondern ist in unserem Erleben für uns da als helles Interessenzentrum einer Situation mit dunklen, grenzenlosen, undifferenzierten räumlichen und zeitlichen Horizonten. Kein bloss dunkles und undifferenziertes (konfuses), aber ein immer dunkler und undifferenzierter (konfuser) werdendes Bewusstsein des immer weiter in die Vergangenheit Rückenden haben wir bereits im Wahrnehmen des Gegenwärtigen. Auf Analoges hätte ich auch im vorigen Beispiel meines Vortragens eines Textes hinweisen können. Denn beim aktuellen Lesen eines Satzes aus einem Text mussten mir auch die vorangegangenen Sätze mit ihren Bedeutungen, d. h. der vorangegangene Zusammenhang des Textes mehr oder weniger deutlich bewusst sein. Das Bewusstsein des immer weiter in die Vergangenheit Rückenden ist besonders klar beim Hören eines Musikstückes. Wenn wir ein Musikstück hören, sind wir uns nicht nur des jetzt erklingenden Tones und, bei einem mehrstimmigen Musikstück, der jetzt erklingenden Tongruppen bewusst, sondern mehr oder weniger deutlich und immer undeutlicher werdend einer Folge von verklingenden und bereits verklungenen, vergehenden, vergangenen und immer weiter ins Vergangene gehenden Töne bzw. Tongruppen. Ohne dieses Bewusstsein von Vergehendem und Vergangenem könnten wir
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uns nicht einmal einer kurzen Melodie erfreuen. Wir brauchen dabei nicht, um diese uns zu verdeutlichen, uns erinnernd verklungenen, zeitlich vergangenen Phasen der Melodie oder des Musikstückes aufmerksam zuzuwenden, obschon wir das oft können. Dies ist aber nachteilig für das Hören eines Musikstückes. Denn durch solches Uns-Erinnern sind wir nicht mehr aufmerksam auf das, was jetzt gerade erklingen wird, erklingt und verklingt, sondern auf eine vorangegangene, verklungene Phase. Husserl sprach beim Bewusstsein des jetzt Erklingenden von Impression, beim Bewusstsein des gerade Verklungenen von Retention und beim erwartenden Bewusstsein des gleich Erklingenden von Protention. Wie weit reicht das retentionale Bewusstsein des Vergehenden und immer entfernteren Vergangenen in die Vergangenheit zurück? Reicht es z. B. nur bis zum Anfang des jetzt gespielten dritten Satzes oder umfasst es auch noch die beiden vorangegangenen Sätze? Bei einem guten Musikhörer muss das Zweite der Fall sein, denn er muss Anspielungen im dritten Satz auf Themen oder Motive des ersten und zweiten Satzes mithören. Ist in diesem retentionalen Bewusstsein auch noch dunkel und undifferenziert das vorangegangene Musikstück und auch noch der Gang ins Konzertgebäude bewusst, in dem wir jetzt den dritten Satz des zweiten Musikstückes hören, und auch noch das Anziehen einer besseren Kleidung zu Hause vor diesem Gang und das dem Umziehen vorangegangene Abendessen? Wo sind da die Grenzen der zeitlichen Ferne? Im Dunklen, Undifferenzierten und Unbestimmten gibt es keine bestimmten Grenzen. Verschwimmen sie nicht schliesslich in die frühe Kindheit hinein, in welcher der Mensch beginnt sich zu erinnern? Aufgrund all dessen, was mir durch mein Reflektieren auf mein MichErinnern und sein Erinnertes einsichtig wurde, denke ich, dass wir unser ganzes vergangenes aufmerksames Erleben und Tun in unserem Geist immer dunkel und undifferenziert, sozusagen schlafend, «hinten auf unserem Rücken» mit uns tragen. Aus dieser unserer mitgetragenen dunklen Vergangenheit heraus erinnern wir uns jeweils in der Gegenwart mehr oder weniger anschaulich und differenziert an einzelne Erlebnisse und Erlebniszusammenhänge, indem diese in verschiedenen möglichen Weisen «geweckt» und dadurch wieder «wach» werden. Und aufgrund des dunklen und undifferenzierten retentionalen Bewusstseins der diesen erinnerten Erlebnissen voranstehenden Erlebnisse erscheint uns unmittelbar, intuitiv das Erinnerte in einer ungefähren zeitlichen Distanz. Ich vermute, dass diese zeitliche Di-
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stanz genauer wäre, wenn das erste Interesse unseres Erinnerns die zeitliche Ordnung, die zeitliche Abfolge unseres vergangenen Lebens wäre. Aber mehr als diese zeitliche Abfolge interessiert uns, wie gesagt, sein Inhalt. Und so tritt das Erinnerte aus dem dunklen und undifferenzierten retentionalen Bewusstsein durch das Sich-Erinnern mehr nach inhaltlichen als nach «chronologischen» Assoziationen oder Zusammenhängen hervor, und daher lässt das Sich-Erinnern das Gefühl für die zeitliche Distanz des Erinnerten mehr oder weniger im Ungefähren, Vagen. Aber zum Verschwinden bringen kann es dieses ungefähre Gefühl der mehr oder weniger grossen zeitlichen Distanz nie. Denn wir sind uns immer auch des zeitlichen Zusammenhanges unseres Erlebens bewusst, d. h., dass dem, was ich jetzt aufmerksam erlebe oder was ich jetzt aufmerksam tue, zeitlich etwas vorangegangen ist und dass es daher im Sich-Erinnern an es in einer gewissen zeitlichen Distanz gegeben sein muss.
16. Kapitel. Schluss: Unsere erinnerte Vergangenheit als eine durch unsere Gegenwart bedingte, fehlerhafte objektive geistige Wirklichkeit Ich muss endlich zum Schluss kommen: Wenn man wie die Vijnanavadin meint, dass die Vergangenheit keine Wirklichkeit habe und dass nur das Gegenwärtige wirklich sei, dann orientiert man sich, glaube ich, an der Existenz räumlich-materieller Dinge, deren Wirklichkeit allein in ihrem gegenwärtigen Vorhandensein besteht. Ihre Vergangenheit besteht nur in gegenwärtig vorhandenen Spuren oder Wirkungen dessen, was einmal war, aber gegenwärtig nicht mehr ist. Mit vergangenen materiellen Dingen kann man nichts tun. Ein gegenwärtig nicht mehr vorhandenes Haus kann man nicht bewohnen, mit gegenwärtig nicht mehr vorhandenem Geld kann man nichts kaufen. Sie sind nichts. Wenn man aber der Vergangenheit eine eigene, wenn auch nur latente Wirklichkeit zuschreibt, die sich ausserhalb der gegenwärtigen, aktuellen Wirklichkeit befinden soll, wie dies wohl die Sarvastivadin taten, dann lässt man sich wohl nochmals von der Idee materieller Dinge im Raum leiten, nur dass man sich die vergangenen Dinge irgendwie latent, irgendwo versteckt vorstellt. Muss man nicht das Folgende sagen: Unsere in Wahrheit erinnerte Vergangenheit ist in unseren intersubjektiven Beziehun-
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gen objektiv wirklich, sie war, aber sie ist, erstens, nicht ausserhalb gegenwärtigen aktuellen Sich-Erinnerns an sie, und sie ist, zweitens, nicht losgelöst von der wahrgenommenen Gegenwart. Zum ersten Punkt: Eine von mir erinnerte eigene Vergangenheit ist nichts Gegenwärtiges, aber sie ist als eigene Vergangenheit nur in meinem jeweiligen gegenwärtigen, aktuellen Mich-Erinnern mit seinen anwesenden, mehr oder weniger vagen, verworrenen Phantasmen. Und eine von mir und anderen gemeinsam erinnerte, intersubjektiv objektive Vergangenheit ist nur in unserem jeweiligen gegenwärtigen, Intersubjektivität implizierenden aktuellen Uns-Erinnern mit seinen anwesenden, mehr oder weniger vagen, verworrenen Phantasmen. Diese Vergangenheit ist nicht so in diesem gegenwärtigen Erinnern, wie ein räumliches, materielles Ding in einem anderen materiellen Ding ist, nicht wie ein Apfel in einem Sack oder wie ein Nervenprozess im Gehirn, sondern wie überhaupt nur geistige Wirklichkeiten «ineinander» sein können. Dies braucht nicht bloss ein einfaches mentales «Ineinander» zu sein. Denn ich kann mich, und wir können uns, ja auch an vergangenes Uns-Erinnern erinnern, das jeder von uns als individuelle Akte hatte, in denen ich mich oder wir uns z. B. an Wahrnehmungen erinnerten. Husserl spricht hier von «intentionalen Verschachtelungen», was allerdings wieder ein räumliches Bild ist. Aber von räumlichen Modellen scheinen wir in unserem Denken über das Mentale kaum loszukommen. Auch die Rede vom «Ineinander», auch die Rede, dass das Erinnerte ein Bewusstseinsinhalt sei, sind räumliche Metaphern, die, wörtlich verstanden, falsch sind. Die Vergangenheit ist eine rein geistige Wirklichkeit unseres intersubjektiv verbundenen Uns-Erinnerns, die nicht nach räumlich-materiellen Verhältnissen gedacht werden kann und in solchen Verhältnissen gedacht überhaupt keinen Sinn hat. Räumlich-materielle Dinge haben, wie Leibniz sagte, eine bloss momentane Wirklichkeit, sie sind nur, insofern sie im jetzigen Moment sind. Obschon eigene Vergangenheit als patente, als erscheinende Vergangenheit nur als erinnerte im jeweils aktuellen Sich-Erinnern mit seinen vorschwebenden Phantasmen ist, ist es unsinnig, diese Vergangenheit auf das Aktuelle und die anwesenden Phantasmen reduzieren zu wollen. Denn das aktuelle Sich-Erinnern ist gar kein Sich-Erinnern ohne die von ihm erinnerte Vergangenheit; und ohne das Sich-Erinnern an das eigene vergangene Erfahren und Tun sind anwesende Phantasmen auch nicht Erscheinungen der in der Vergangenheit erfahrenen und getanen Dinge. Anwesende (präsente) Phantas-
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men vermögen nicht darüber zu entscheiden, was in der Erinnerung unsere Vergangenheit wirklich war. Und unsere latente Vergangenheit, an die wir uns aktuell nicht erinnern, aber an die wir uns teilweise erinnern können, hat ihren Sinn nur aufgrund der patenten Vergangenheit, an die wir uns jeweils wirklich erinnern. Denn die Wirklichkeit geht der Möglichkeit voraus. Zum zweiten Punkt: Unsere erinnerte Vergangenheit hat auch keine von der wahrnehmbaren Gegenwart losgelöste Wirklichkeit. Denn wenn wir im Uns-Erinnern das Bewusstsein der wahrgenommenen oder wahrnehmbaren Gegenwart verlieren, wenn dieser Kontakt mit der wahrnehmbaren Gegenwart sich löst, wenn wir vergessen, wo wir jetzt sind, dann bricht die zeitliche Distanz der erinnerten Vergangenheit gewissermassen zusammen. Das Vergangenheitsbewusstsein schwindet und macht eventuell traumhaft gegenwärtigen Illusionen mit z. T. denselben Phantasmen und ihnen sich assoziierenden Phantasmen Platz. Die Phantasmen gehorchen aber nunmehr ganz anderen Gesetzen. Sie stehen nicht mehr unter der Norm der Wirklichkeit des Vergangenen und bilden andere Assoziationen als im Vergangenheitsbewusstsein. Ich muss am Ende dieser Studie noch eine kurze Bemerkung anfügen: Ich habe in ihr über die eigene Vergangenheit nur in Beziehung auf die eigene Erinnerung und unsere gemeinsamen Erinnerungen gesprochen. Selbstverständlich ist das, was uns als unser eigenes vergangenes Leben gilt, auch durch das bestimmt, woran wir uns nicht erinnern, was uns aber andere aufgrund ihrer Erinnerungen darüber sagen oder was sie uns darüber sagen aufgrund dessen, was sie selber darüber von anderen gehört oder gelesen haben, und durch anderes mehr. Auch diesem intersubjektiv konstituierten Charakter unserer eigenen Lebensvergangenheit muss man Rechnung tragen, wenn man verstehen will, was die eigene Vergangenheit ist. Wenn man also nur in Bezug auf das eigene Sich-Erinnern von der eigenen Vergangenheit spricht, wie ich es hier primär getan habe, ist dies ein abstrakter Gesichtspunkt. Aber das eigene Sich-Erinnern scheint mir doch für das Bewusstsein der eigenen Lebensvergangenheit das Fundamentale zu sein. Für ein Wesen, das sich überhaupt nicht erinnern kann, existiert kein eigenes vergangenes Leben, kein eigenes vergangenes Tun und Leiden, mögen ihm die anderen noch so viel darüber erzählen. Ihre Rede hat für es keinen Sinn, es weiss nicht, was Vergangenheit ist. Und die Frage der Wahrheit des Sich-Erinnerns und damit der Wirklichkeit der eigenen Vergangenheit stellt sich schon für den Ein-
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zelnen, wenn er sich an sie erinnert, zwar nicht unabhängig von der intersubjektiven Gemeinschaft von sich erinnernden Menschen, da die Vergangenheit eine intersubjektiv objektive menschliche Wirklichkeit ist, aber unabhängig davon, was dem Einzelnen von den anderen darüber gesagt wird.
Dank an den Leser Ich danke dem Leser, der diese detaillierte, ins Einzelne gehende Studie genau und kritisch gelesen hat. Denn um genau zu erkennen, was Sich-Erinnern ist, sind die Erkenntnisse dieser Details notwendig; nur durch sie wird deutlicher, was es ist. Man sagt: «Der Teufel liegt im Detail», und meint damit, dass das Schwierige im Detail liegt, d. h. für die Erinnerung, dass eine allgemeine Charakterisierung des Sich-Erinnerns leicht ist, aber seine detaillierte, genaue schwierig. Nur durch ihre detaillierte Analyse wird klarer, was Sich-Erinnern ist, und nur durch sie kommt man der Wahrheit darüber nahe.
Zweite Studie: Bewusstseinseinheit und personale Identität. Zwei Prinzipien der Bewusstseinseinheit: Erlebtsein und Zusammenhang der Erlebnisse
1. Kapitel. Das Problem der Bewusstseinseinheit. Interpretation von physiologischen empirischen Tatsachen und Analyse des Bewusstseins Die Probleme der Bewusstseinseinheit und der personalen Identität, die ich hier diskutieren möchte, werden manchmal als Problem der simultanen oder synchronen Einheit des Bewusstseins und das Problem der sukzessiven oder diachronen Einheit oder der Einheit des Bewusstseins durch die Zeit hindurch bezeichnet. Dieses zweite Problem wurde seit Locke unter dem Titel der personalen Identität oft diskutiert. Die simultane oder synchrone Einheit des Bewusstseins wurde bis in unser Jahrhundert weniger zum Problem, obschon sie auch berührt wurde, etwa durch Kants transzendentale Apperzeption, das «Ich-denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss», vor allem aber in Franz Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt, im Kapitel über die reale Einheit unserer gleichzeitigen psychologischen Erlebnisse (2. Buch, 4. Kap.). Zum akuten Problem wurde sie aber wohl erst aufgrund von neurologischen Eingriffen, der sogenannten Kommissurotomie bei Affen, Katzen und Menschen, in der mehr oder weniger grosse Teile der Verbindungen zwischen den beiden Gehirnhälften durchschnitten wurden. R. W. Sperry interpretierte aufgrund von sehr raffinierten Experimenten das Verhalten von Menschen, die einer Kommissurotomie unterzogen worden waren (Epileptiker, für die man sich von dieser Operation eine therapeutische Wirkung erhoffte), in folgender Weise: Bei solchen Patienten laufen während dieser künstlichen experimentellen Situationen gleichzeitig zwei un-
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abhängige Bewusstseinsströme ab, in jeder Gehirnhälfte ein solcher Strom, mit je eigenen Empfindungen, Wahrnehmungen, Begriffen, Handlungsimpulsen, Erinnerungen, von denen der jeweils andere Bewusstseinsstrom nichts weiss. Es lägen hier sozusagen «two minds in one body» vor. Z. B. könne der mind in der rechten Gehirnhälfte im linken Gesichtsfeld etwas sehen, von dem der mind in der linken Gehirnhälfte, die nur über das rechte Gesichtsfeld verfügt, nichts weiss, und umgekehrt, und der mind in der linken Gehirnhälfte könne mit der rechten Hand etwas ertasten und erkennen, von dem der mind in der rechten Gehirnhälfte nichts weiss, und umgekehrt. Diese Patienten hätten während dieser Experimente «nicht eine innere visuelle Welt, sondern zwei getrennte innere visuelle Welten».12 Thomas Nagel hat diese Experimente und ihre möglichen Interpretationen als Vorkommnisse eines oder zweier individueller minds diskutiert und den Schluss gezogen, dass unser gewöhnlicher Begriff eines individuellen Geistes (mind) nicht auf diese Fälle getrennter Hirnhälften anwendbar sei und dass bei ihnen keine bestimmte Anzahl (ein oder zwei) solcher individueller Geister zu finden sei. Noch wichtiger ist sein Schluss, dass unser gewöhnlicher Begriff eines individuellen Geistes oder eines einzelnen Bewusstseinssubjekts auch nicht unserer eigenen normalen Bewusstseinseinheit entspreche. Im Gebrauch solcher mentaler Begriffe würden wir uns selbst zum Paradigma psychologischer Einheit machen, dabei aber die Möglichkeit übersehen, «dass unsere eigene Einheit nichts Absolutes sein könnte, sondern bloss ein Fall mehr oder weniger erfolgreicher Integration im Kontrollsystem eines komplexen Organismus. Dieses System äussert sich durch unseren Mund in der ersten Person, und das macht es verständlich, dass wir uns seine Einheit in irgendeinem Sinne numerisch absolut vorstellen, anstatt sie als relativ und als Funktion der Integration ihrer Inhalte zu betrachten. Aber das ist eine wirkliche Illusion.»13 Nagel stellt also zwei Begriffe der Einheit des Geistes oder des Bewusstseins einander gegenüber: erstens unseren gewöhnlichen Begriff, der sich primär in der ersten Person äussert und der ins
«Hemisphere Deconnection and Unity in Conscious Awareness» in American Psychologist 23 (1968), S. 723–733. 13 «Brain Bisection and Unity of Consciousness», Synthese 22 (1971), aufgenommen in Mortal Questions (1979), S. 163.
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Zentrum des Geistes ein einziges Subjekt projiziert, das eine absolute Einheit garantieren soll, und, zweitens, einen Begriff verschiedener Arten und Grade funktionaler Integration von psychischen Komponenten. Nach diesem zweiten Begriff wäre unser Bewusstsein einem komplexen und sich stetig verändernden Wolkengebilde am Himmel vergleichbar, von dem man kaum je eindeutig sagen kann, ob es aus einer oder zwei oder noch mehr Wolken besteht. Der erste, gewöhnliche Begriff sei illusorisch und könne mit den physiologischen Fakten in Konflikt kommen. In derselben Richtung wie Nagel hat Derek Parfit aufgrund von imaginären Gedankenexperimenten sowohl die Idee einer festen Einheit des Bewusstseins oder der Person zu einem gegebenen Zeitpunkt als auch die Idee der personale Identität durch die Zeit hindurch weiter aufgelöst. Er stellt sich in der Phantasie vor, er selbst sei ein Mathematikstudent mit völlig gleichen Gehirnhälften, der in einer Examensprüfung, um Zeit zu sparen, für 15 Minuten seine Gehirnhälften trennen und so gleichzeitig zwei verschiedene Rechenaufgaben lösen und mit seinen zwei Händen unabhängig voneinander niederschreiben könne. Während dieser zeitlich beschränkten Gehirn- bzw. Bewusstseinsteilung wisse das eine Rechnen nichts vom anderen, und umgekehrt, und sie werden so auch nicht voneinander gestört. Auch Parfit negiert die «notwendige Einheit des Bewusstseins» und will unser Bewusstsein nicht mit einem kanalisierten Wasserlauf, sondern mit einem Fluss vergleichen, der durch trennende Inseln in mehrere Arme auseinanderströmen und wieder zusammenfliessen kann.14 Die simultane und sukzessive Bewusstseinseinheit ist für ihn eine Frage mehr oder weniger enger faktischer Relationen (Verknüpfung, Kontinuität) zwischen Erlebnissen (experiences). Auch er denkt, dass unser gewöhnlicher Begriff einer absoluten Bewusstseinseinheit und einer unteilbaren Person nicht der Wirklichkeit entspricht: «Wir sind nicht, was wir zu sein glauben».15 In diesen kritischen Erörterungen Nagels und Parfits wird nicht nur die Einheit des simultanen Bewusstseins fragwürdig, sondern es treten zwei verschiedene Begriffe des Bewusstseins auseinander: eine Bewusstseinseinheit, die den wissenschaftlichen physiologischen Fakten entsprechen soll und ei-
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Reasons and Persons, Oxford, New York 1985, 3. Teil, § 87, S. 246/7. A. a. O., Titel des elften Kapitels.
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nen mehr oder weniger engen (relativen) faktischen Zusammenhang (Integration, Relation) zwischen Erlebnissen und anderen psychischen Komponenten ausmacht, und eine «gewöhnliche», der alltäglichen Erfahrung entsprechende Bewusstseinseinheit, die sich primär in der ersten Person ausspricht und sich aufgrund eines einzigen Subjektes (Ich), das seine Erlebnisse hat, als eine notwenige Einheit darstellt. Was ist dieser «gewöhnliche» Begriff im Genaueren, wobei dahingestellt sei, ob er nur «gewöhnlich» ist oder nicht? Ich glaube, er wird in neuerer Zeit sehr gut durch Ausführungen in Roderick Chisholms The First Person (1981) repräsentiert, die sich auch auf Gedanken Descartes’ und Kants berufen, welche Nagel und Parfit mit diesem «gewöhnlichen» Begriff u. a. kritisch im Auge haben. Chisholm betrachtet die cogitationes (Bewusstseinserlebnisse) Descartes’ als «selbst-präsentierende Eigenschaften (self-presenting properties)». Er definiert diese Eigenschaften dadurch, dass ein Subjekt, das diese Eigenschaften hat und daran denkt, dass es sie hat, ipso facto sie sich selbst direkt attribuiert (S. 80). In seinem früheren Werk, Theory of Knowledge, definiert er sie durch ihre notwendige Evidenz: Einem Subjekt, das diese Eigenschaften hat, sind sie während der Zeit, in der es sie hat, eo ipso auch evident. Die Bewusstseinserlebnisse zeichnen sich nach Chisholm durch besondere «Erscheinungsweisen» (ways of being appeard to) aus, eben durch die Weisen des Selbst-Präsentierens. «Die Erkenntnis, dass eine gewisse Eigenschaft selbstpräsentierend ist, kann als a priori bezeichnet werden» (The First Person, S. 85). Kants Aussage, dass das «Ich-denke alle meine Vorstellungen begleiten können muss», versteht Chisholm in dem Sinne, dass man sich selbst jede selbst-präsentierende Eigenschaft direkt attribuieren muss (normalerweise in einer Aussage in der ersten Person), wenn man darauf reflektiert, dass man sie hat. Was nun die Einheit der Bewusstseinserlebnisse (der selbst-präsentierenden Eigenschaften oder Zustände) betrifft, schreibt Chisholm unter dem Titel The unity of consciousness and certainty: «Wenn es eine Eigenschaft G gibt, die für mich selbst-präsentierend ist, und wenn es eine Eigenschaft H gibt, die für mich selbst-präsentierend ist, dann kann ich ipso facto sicher sein, dass ich G und H beide besitze [… ]. Die selbst-präsentierenden Eigenschaften einer Person sind so, dass man absolut sicher sein kann, dass sie alle
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vom einen und selben Ding gehabt werden, nämlich von einem selbst. […] Man war fähig, ein Subjekt des Hörens und ein Subjekt des Sehens (Sehen und Hören als zwei selbst-präsentierende Eigenschaften G und H) zu identifizieren, und man tut es ohne Zuhilfenahme eines Mittelbegriffes und ohne Berufung auf eine Serie gemeinsamer Eigenschaften.» (S. 89)
Hier haben wir also die Behauptung einer notwendigen Bewusstseinseinheit verschiedener Erlebnisse, die nicht auf einer faktischen, mehr oder weniger starken Integration, Verknüpfung oder anderen faktischen Relation dieser Erlebnisse beruht – von solchen Verhältnissen ist hier bei Chisholm gar nicht die Rede –, sondern letztlich auf ihrem a priori erkennbaren, keinem Zweifel unterziehbaren «Erscheinungscharakter» (way of being appeard to), nämlich ihrem Selbst-Präsentieren. Das Subjekt, das hier auftaucht, ist Korrelat dieses Selbst-Präsentierens, nämlich das, für welches diese Eigenschaften selbst-präsentierend sind, und mehrere solche Eigenschaften haben notwendig (ipso facto) ein einziges Subjekt. Ist dieser «gewöhnliche» Begriff der Bewusstseinseinheit eine Illusion? Jedenfalls hat er für mich, zumal wenn ich ihn im Kontext der CartesianischKantianischen Analyse des Bewusstseins verstehe, einen intuitiv überzeugenden Gehalt, mag ich mir auch über die Richtigkeit und Tragweite der Formulierungen nicht ganz sicher und im Klaren sein. Andererseits sind aber jene sich auf empirische physiologische Tatsachen stützenden Interpretationen über die mehr oder weniger enge, ja möglicherweise sich auflösende funktionale Integration unserer Erlebnisse und anderer psychischer Komponenten nicht von der Hand zu weisen. Ich befinde mich also in einem Dilemma. Beruhen die beiden gegensätzlichen Auffassungen auf gegensätzlichen methodischen Positionen? Die eine Auffassung geht von empirischen physiologischen Fakten aus und interpretiert sie psychologisch oder in Bewusstseinsbegriffen; die andere Auffassung analysiert unser menschliches IchBewusstsein. Sind diese zwei widersprüchlichen Sichten irgendwie vereinbar? Vielleicht ist eine Lösung des Widerspruches zu finden, wenn wir genauer fragen, was auf beiden Seiten unter dem Titel der Bewusstseinseinheit infrage steht, denn schon das bisher Erwähnte weckt die Vermutung, dass unter demselben Namen von Verschiedenem die Rede sein könnte. Sollte dies der Fall sein, dann müsste das eine das andere nicht ausschliessen und wir hätten diesen Widerspruch aufgelöst, indem wir ihn als nur scheinbar erwiesen. Ich
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möchte im Folgendem zuerst den internen Charakter der eigenen Bewusstseinserlebnisse unter der Frage diskutieren, was sich aus ihm für ihre Einheit ergibt (2. Kapitel); dann ähnliche, aber nicht gleiche Probleme, die Thomas Nagel und Sidney Shoemaker unter dem Titel «subjektiver Charakter des Bewusstseins» oder «der Gesichtspunkt der ersten Person» erörtern und dann Bernhard Williams’ Auseinandersetzung mit dem Gedanken «ich könnte ein anderer sein oder gewesen sein, z. B. Napoleon» erörtern (3. Kapitel); dann im Hinblick auf das mehr oder weniger aufmerksam gegenständlich Erlebte und das urbewusste (durchlebte) mehr oder weniger aufmerksame Erleben den Begriff des Originals einführen (4. Kapitel); dann Zusammenhänge des aktuell Erlebten darstellen (5. Kapitel); dann unter Einbeziehung der Vergegenwärtigungen, vor allem der Erinnerung, das Problem der personalen Identität einführen (6. Kapitel); dann als Schluss unterscheiden zwischen zwei verschiedenartigen Prinzipien der Bewusstseinseinheit und der personalen Identität: einerseits einem Zusammenhang von Erlebnissen, der ein «mehr oder weniger» erlaubt, andererseits dem Charakter des Erlebtseins im Urmodus (Original), der entweder vorhanden ist oder nicht, bei dem ein «alles oder nichts» besteht (7. Kapitel).
2. Kapitel. Das Erlebte im Urmodus und in seinen Modifikationen Ich möchte ausgehen vom Begriff des selbst Erlebten. Gewisse Dinge sind von mir aktuell erlebt, so mein gegenwärtiges wahrgenommenes Umfeld in seiner vollen Subjektivität mit seinen Gestalten, Farben, Tönen, Gerüchen, in seiner Vertrautheit bzw. Unvertrautheit für mich, Behaglichkeit oder Unbehaglichkeit für mich, mehr oder weniger guten Ordnung oder mehr oder weniger grossen Unordnung seiner Dinge für mich, mit dem Gebrauchssinn dieser Dinge für mich. Von mir aktuell erlebt ist auch mein eigener, einziger und sich für mich immer im Hier befindliche Leib in seiner subjektiven Beweglichkeit für mich und mit seinen Empfindungen und seinen verschiedenen Wahrnehmungsvermögen (Tastsinn, Gesichtssinn, Hörsinn, Geruchssinn) für äussere, auf ihn als Nullpunkt der Orientierung hin orientierte Dinge in ihren Erscheinungen und auch für blosse Erscheinungen wie ein Regenbogen. Von mir aktuell erlebt sind weiter auch meine Mitmenschen, so
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wie ich sie jetzt unmittelbar in ihrem Verhalten und Ausdruckgebaren sinnlich wahrnehme. Erlebt ist aber nicht nur das aktuell Wahrgenommene: das Gesehene, das Gehörte und das von mir Gewünschte und Gewollte in seinem Wertcharakter sowie das von mir soeben Getane und daran noch weiter zu Tuende. Erlebt ist auch mein aktuelles Sehen von etwas Gesehenem, Hören von etwas Gehörten, mein aktuelles Fühlen von etwas Gefühltem, mein aktuelles Denken von etwas Gedachtem, aktuelles Wünschen von etwas Gewünschtem, mein aktuelles Wollen von etwas Gewolltem in dessen Wertcharakter, erlebt ist auch mein aktuelles Tun von dem, was ich jetzt zu tun im Begriffe bin, mein aktuelles Mich-Erinnern an etwas erinnertes Vergangenes usw. Von diesen psychischen Akten oder intentionalen Erlebnissen und diesen aktuellen in meine Umwelt eingreifenden Handlungen schrieb der Husserl-Schüler Roman Ingarden (1893–1970), dass sie durchlebt seien, denn die in intentionalen Erlebnissen erlebten gegenständlichen Dinge sind anders erlebt als die intentionalen Erlebnisakte, das Tun von etwas ist anders erlebt als das Getane, z. B. dieses weisse, glatte Papier ist anders erlebt als das Sehen und Tasten desselben. Edmund Husserl spricht nicht vom «Durchlebtsein» der aktuell vollzogenen intentionalen Erlebnisakte und Handlungen, sondern sagt anstelle dieses Wortes, dass sie «urbewusst» sind, d. h. bewusst sind, ohne dass man sich in neunen, nämlich reflektierenden Akten auf sie bezieht und sie damit zu Gegenständen des Denkens macht, d. h. ohne dass man sie vergegenständlicht. Ich möchte hier noch hinzufügen, was ich schon oben in der ersten Studie schrieb, nämlich dass die aktuell vollzogenen intentionalen Erlebnisse und Handlungen (d. h. die Erlebnisse und die Handlungen in ihrem aktuellen Vollzug) nur dann «urbewusst» sind, wenn sie mehr oder weniger aufmerksam vollzogen werden. Entsprechend dem Grad der Aufmerksamkeit, den man ihnen widmet, sind die intentionalen Erlebnisse und Handlungen mehr oder weniger «urbewusst». Mit Roman Ingardens Wort des Durchlebtseins müsste man meiner Überzeugung nach sagen, dass intentionale Erleb-
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nisse und Handlungen, in denen man Erlebtem und Getanem keine Aufmerksamkeit schenkt, nicht durchlebt sind.16 Nicht mehr aktuell erlebt, aber erlebt gewesen ist z. B. mein von mir erinnertes gestern wahrgenommenes Umfeld, z. B. das, was ich sah, als ich gestern auf der Au-Brücke stand und aufmerksam auf die dahinfliessende Aare hinunterblickte. Dieses Hinunterblicken ist nicht mehr aktuell urbewusst (in der Sprache Roman Ingardens: nicht mehr aktuell durchlebt); aktuell urbewusst ist vielmehr mein jetziges Erinnern daran (Sich-Erinnern geschieht immer aufmerksam). Doch wenn ich mich jetzt an die gestern wahrgenommene Aare unterhalb der Au-Brücke erinnere, ist in diesem Mich-Erinnern an diesen Gegenstand auch ungegenständlich (nicht reflektiert) mein vergangenes gestriges urbewusstes Sehen und Hören der rauschenden Aare mit impliziert. Dieses vergangene urbewusste Sehen kann ich jetzt zum Gegenstand meines Reflektierens machen; doch meistens tue ich dies nicht. Bei einigem, woran ich mich zu erinnern glaube, zweifle ich, ob es erlebt bzw. urbewusst war oder nicht. Vieles kann von mir künftig erlebt bzw. urbewusst werden, was es jetzt noch nicht ist, aber in der Voraussicht als erlebt bzw. urbewusst vergegenwärtigt ist. Aber was andere Menschen von ihren Gesichtspunkten oder Interessensstandpunkten aus aktuell erleben, z. B. ihre von ihnen wahrgenommenen und als mehr oder weniger gut oder schlecht bewerteten subjektiven Situationen, erlebe ich aktuell nicht, habe ich nie, so wie sie es erleben und erlebt haben, erlebt und kann es so gar nicht erleben. Und ihrer diese Situationen wahrnehmenden intentionalen Erlebnisse bin ich mir nicht urbewusst, war mir ihrer nie urbewusst und kann mir ihrer auch nicht urbewusst sein. Ich kann mir mehr oder weniger gut bzw. schlecht ihre erlebten Situationen und ihre urbewussten Erlebnisse vergegenwärtigen, kann mir sie in Analogie mit von mir eigentlich gegenständlich Erlebtem und eigentlich urbewussten Erlebnissen mehr oder weniger anschaulich vorstellen, kann mich in sie verge-
Vgl. in der obigen ersten Studie «Erinnerung und die besondere Wirklichkeit der Vergangenheit» das fünfte Kapitel «Nur mehr oder weniger aufmerksame Tätigkeiten sind mehr oder weniger bewusst und können daher auch mehr oder weniger erinnert werden. Gewohnheitsmässig, ‹automatisch›, unaufmerksam verrichtete Tätigkeiten sind nicht bewusst und können daher auch nicht erinnert werden». 16
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genwärtigend «einfühlen», kann die Überzeugung haben, dass ein anderer Mensch jetzt Ähnliches oder «Gleiches» erlebt oder erlebte, wie ich jetzt gegenständlich erlebe oder früher erlebte, und sich ähnlicher intentionaler Erlebnisse urbewusst ist wie ich mir jetzt urbewusst bin oder mir urbewusst war. Aber seine ihm urbewussten Erlebnisse und seine in diesen Erlebnissen erlebten Situationen, z. B. die von ihm erlebten Farben und Töne, Schmerzen und Freuden, Begierden und Ängste, erlebe ich nicht eigentlich und kann sie nicht eigentlich erleben. Eigentlich erlebt bzw. urbewusst ist mein aktuelles einfühlendes Vergegenwärtigen, aber nicht die eingefühlten Situationen und die eingefühlten intentionalen Erlebnisse, so wie sie der andere selbst erlebt, sondern nur so, wie ich sie mir vergegenwärtige. Ich habe mit anderen Menschen und auch mit dem Menschen mehr oder weniger ähnlichen Tieren, vor allem Säugetieren, aber auch anderen Wirbeltieren, eine gemeinsame, identische Welt. Aber diese intersubjektive, objektive Welt ist von niemandem erlebt, sondern von mir eigentlich erlebt ist nur meine eigene subjektive Welt; von anderen ist jeweils ihre subjektive Welt erlebt, die ich nicht eigentlich erleben, sondern mir nur als die subjektive Welt der anderen vergegenwärtigen kann. Die gemeinsame, objektive Welt ist gedacht, sie ist mir und anderen Menschen als unsere gemeinsame Welt bewusst, die identisch ist, obwohl wir sie unterschiedlich erleben oder erfahren und sie uns unterschiedlich erscheint. Aber diese gemeinsame identische Welt ist nicht von mir erlebt oder erlebbar, denn sie impliziert die Vergegenwärtigung der von anderen erlebten und erlebbaren subjektiven Welten. Auch die intentionalen Erlebnisse anderer Menschen sind mir bewusst. Es ist mir in der vergegenwärtigenden Einfühlung bewusst, dass sie sich ihrer als der ihren urbewusst sind, aber diese intentionalen Erlebnisse sind mir nicht als selbst erlebte Erlebnisse urbewusst. Z. B. bin ich mir bewusst, dass sie auch das oder jenes sehen, hören, fühlen, begehren und essen, aber bin mir dessen nicht als selbst erlebtes Sehen, Hören, Fühlen, Begehren oder Essen urbewusst. Kann ich mir nicht auch aufmerksamer intentionaler Erlebnisse anderer urbewusst sein und ihre von ihnen erlebten gegenständlichen Situationen selbst erleben? Etwa durch Telepathie? Wenn ich mir der aufmerksamen intentionalen Erlebnisse anderer urbewusst wäre, ihre von ihnen erlebten gegenständlichen subjektiven Welten selbst oder eigentlich erleben würde, dann wären diese fremden intentionalen Erlebnisse keine fremden mehr,
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sondern wären zu eigenen geworden. Die in diesen Erlebnissen erlebten gegenständlichen Situationen wären nicht mehr die Situationen anderer, sondern eigene. Ich liess mich in den voranstehenden Überlegungen von einer unmittelbaren Einsicht (Intuition) leiten und habe versucht, sie durch gewisse Wörter auszudrücken und zu verdeutlichen, um dadurch beim Leser eine entsprechende Einsicht zu wecken oder in Erinnerung zu rufen. Ich vertraue der unmittelbaren Einsicht mehr als dem Sprachgebrauch und versuche, mich in diesem nach jener zu richten. Was ich hier unter dem Titel des eigentlich Erlebten und Erlebbaren sowie des eigentlich Urbewussten (Durchlebten) zu umreissen versuche, scheint mir auf dasselbe hinauszulaufen, was Husserl die «Eigenheitssphäre» nannte im Gegensatz zur «Sphäre des Fremden».17 Es scheint mir auch dasselbe zu sein wie das, was Leibniz die einzelne endliche Monade (Einheit, unité) nannte, die von ihrem Gesichtspunkt, d. h. in der Perspektive von ihrem wahrnehmenden Leib aus die ganze Welt, d. h. sich selbst und alle anderen Monaden wahrnimmt (perçoit) oder spiegelt, so wie die anderen Monaden von ihren Gesichtspunkten, d. h. ihren Leibern aus die Welt aller endlichen Monaden spiegeln.
3. Kapitel. Das eigentlich Erlebte und Durchlebte und seine Modifikationen einerseits und andererseits der «subjektive Charakter des Bewusstseins» oder «der Gesichtspunkt der ersten Person» bei Thomas Nagel, Sidney Shoemaker und Bernhard Williams’ Auseinandersetzung mit dem Gedanken «ich könnte ein anderer sein oder gewesen sein, z. B. Napoleon». Was ich hier unter dem Titel des eigentlich Erlebten und Erlebbaren sowie des eigentlich Urbewussten (Durchlebten) zu umreissen versuche, ist nicht dasselbe, was heute in der angelsächsischen Philosophie etwa «der subjektive Charakter der Erfahrung» genannt wird, d. h. die «Innenperspektive» oder
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Vgl. z. B. Cartesianische Meditationen (Husserliana I), §§44–47.
3. Kapitel
«Innenansicht», die «Perspektive» oder der «Gesichtspunkt» der ersten Person.18 Denn diese Innenperspektive wird als etwas Allgemeines, Abstraktes betrachtet, z. B. als die Art und Weise, wie Menschen ihre Umwelt erfahren oder wie Fledermäuse ihre Umwelt erfahren oder wie Fische oder Ameisen ihre Umwelten erfahren. Es gibt viele Innenperspektiven, die der Menschen und diejenigen der anderen Tierarten. Die fremdartigen «Innenperspektiven» kann ich mir als Mensch (mehr oder weniger anschaulich) vergegenwärtigen, ich kann mich in die Lage von anderen Arten versetzen: Ich verstehe, wenn andere Menschen das Wort «ich» gebrauchen und von ihrer IchPerspektive her oder in ihrer subjektiven Sicht sprechen. Das eigentlich Erlebte und Erlebbare ist demgegenüber individuell und konkret; der Bereich des Erlebten im eigentlichen Sinne ist ein einziger und nicht multiplizierbar. Ich bin nur das, was ich als Ich meiner Monade gegenständlich erlebe und wie ich es erlebe, und bin die Erlebnisse, deren ich mir als der eigenen urbewusst bin. Doch besteht zwischen dem eigentlich Erlebten einerseits und der «Innenperspektive» im Sinne der beiden erwähnten Autoren andererseits ein Zusammenhang: Das eigentlich Erlebte ist die «Innenperspektive» in ihrem Ursprung, und zwar in dem Sinne, in dem alle «Innenperspektiven», die fremden und die eigene, auf das eigentlich Erlebte und Durchlebte zurückweisen. Dieses eigentlich Erlebte und Durchlebte wird in der Vervielfältigung der Innenperspektiven zur eigenen Innenperspektive, aber primär ist es keine Innenperspektive, d. h. keine Perspektive unter anderen, sondern es ist alles im eigentlichen Sinn Erlebte und Durchlebte. Dieser Charakter des gegenständlich Erlebtseins und des Urbewusstseins (nicht reflexiven Bewusstseins) des aufmerksamen intentionalen Erlebens (oder in der Sprache Roman Ingardens: der Charakter des Erlebt- und Durchlebtseins) ist kein objektives, d. h. intersubjektiv identifizierbares Unterscheidungsmerkmal, sondern ist rein subjektiv. Ich könnte alles, was ich
Vgl. z. B. Thomas Nagel, «What Is It Like to Be a Bat» in The Philosophical Review, Oct. 1974, später auch publiziert in seinem Buch Mortal question; und Sidney Shoemaker’s «Actions and experiences from the inside» in «Self-Knowledge and ‹Inner Sense›, Lecture III, The phenomenal Character of Experience», Philosophy and Phenomenological Research, vol. 54, No. 2 (1994), pp. 291–314. 18
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aktuell erlebe und früher erlebt habe, anstatt in der ersten auch in der dritten Person als das Leben eines anderen beschreiben. Es wäre dann nicht mehr als im eigentlichen Sinn (als von mir) erlebt gedacht, aber es müsste sich bei dieser Modifikation kein Merkmal in der objektiven Welt verändern, auch nicht mein Name. Diese gedankliche Verfremdung, wenn sie wirklich durchgeführt werden könnte und nicht nur eine stilistische Form oder eine blosse Phantasie wäre, wäre für mich alles andere als bedeutungslos: Kein Mensch in der objektiven Welt hätte sich verändert oder würde fehlen, aber ich, d. h. das eigentliche Erleben und Durchleben, wäre nicht mehr. Brentano hat in seiner späten «Kategorienlehre» die Auffassung vertreten, dass eine geistige Substanz keine objektiven psychischen Merkmale anzugeben vermag, die sie von allen anderen Personen unterscheiden, d. h. individualisieren würden. Die Erfassung der psychischen Individualität liegt nach ihm nur in der Gegebenheitsweise psychischer Eigenschaften (Chisholm würde sagen: ways of being appeared to): in der unmittelbaren Evidenz der «inneren Wahrnehmung», die nicht in Bezug auf ein anderes Wesen, sondern nur in Bezug auf sich selbst möglich sei.19 Ich vermute, dass Brentano sich hier von derselben Intuition leiten liess, die ich mit dem Begriff des eigentlich Erlebten und Durchlebten (oder Urbewussten) auszudrücken versuche. Bernard Williams hat in dem den Ausgangspunkten nach phänomenologischen Aufsatz «Imagination and the self»20 Phantasien analysiert der Art wie: «Ich könnte ein anderer sein oder gewesen sein, z. B. Napoleon», oder: «Ein anderer könnte genau das sein, was ich jetzt empirisch bin, nur dass es eben ein anderer und nicht ich wäre.» Er schreibt, dass solche Phantasien die Illusion wecken, das eigenschaftslose «Cartesianische Ich» oder «Bewusstseinszentrum» könnte von einer empirischen Person zu einer anderen überwechseln: «Aber, wenn es so ist, was kann ‹ich könnte nicht existieren› bedeuten? Denn nun sieht es so aus, als ob absolut nichts übrig bliebe, um irgendein Cartesianisches Ich von irgendeinem anderen zu unterscheiden, und es ist unmöglich noch einzusehen, was dem Universum entzogen würde, wenn ich daraus verschwände.»
F. Brentano, Kategorienlehre, hrsg. von A. Kastil, S. 104–112. In Proceedings of the British Academy, 1966; abgedruckt in Problems of the Self, 1973 (deutsch: Probleme des Selbst, 1978).
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3. Kapitel
Diese illusionären Phantasien seien ihrer echten Grundlage nach nichts anderes als das Spielen einer fremden Rolle, z. B. derjenigen Napoleons, durch «partizipierende Phantasie», und es kämen dabei nur «zwei Leute» vor, im Beispiel ich selbst als eine gewöhnliche empirische Person und Napoleon. «Es gibt keinen Raum für etwas Drittes, für das Cartesianische ‹Ich›, von dem ich mir phantasiere, dass es zu Napoleon gehört haben könnte.» Ein solches «Cartesianisches Ich» als Bewusstseinszentrum, Entität, gar Substanz mag tatsächlich eine Illusion sein. Aber Williams scheint mir in seinen Analysen doch etwas zu übersehen oder zu unterschlagen, was tatsächlich nicht objektiv unterschieden und so kein Bestandteil des objektiven Universums ist, aber dennoch keine Illusion ist, nämlich den Charakter oder die Gegebenheitsweise des selbst Erlebten. Ich habe nicht nur das aktuell Erlebte und Urbewusste (Durchlebte), sondern kann mir Erlebtes und urbewusst Durchlebtes auch vergegenwärtigen, sei es in temporaler Abwandlung (was früher erlebt und urbewusst war oder in Zukunft erlebt sein und urbewusst sein wird), sei es in modaler Abwandlung (was erlebt sein oder erlebt gewesen sein könnte). Ich kann mir das Erlebte und Urbewusste (Durchlebte) aber auch in verfremdender Abwandlung (was ein anderer erlebt) vergegenwärtigen. In dieser verfremdenden Abwandlung ist es als nicht eigentlich erlebt und urbewusst vergegenwärtigt. Diese Abwandlungen (Modifikationen) des Erlebten und Urbewussten (Durchlebten) sind in unserem Bewusstsein sehr real und sind die Grundlagen jener von Williams analysierten Phantasien und die echten Grundlagen jenes illusionären «Cartesianischen Ich». Ich kann mir aufgrund historischer Dokumente durch Einfühlung vergegenwärtigen, ich sei Napoleon gewesen, indem ich mir gewisse Ereignisse seines Lebens als eigentlich erlebt vergegenwärtige und dabei die verfremdende Modifikation gleichsam aufhebe. Ich vergegenwärtige mir das Erlebte und Urbewusste Napoleons, als ob ich Napoleon wäre. Aber solange ich nicht verrückt werde, bin ich mir dieser Aufhebung, dieses Als-ob, durchaus bewusst. Ich stelle mir in mehr oder weniger lebendiger vergegenwärtigender Einfühlung gewisse Lebensabschnitte Napoleons so vor, als ob sie meine eigenen gewesen wären, d. h. als ob sie eigentlich erlebt gewesen wären (Als-ob-Umwandlung der verfremdenden in eine bloss temporale Modifikation). Solche Vergegenwärtigungen können durchaus sinnvoll sein.
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Die französische Autorin Marguerite Yourcenar (1903–1987), seit 1980 Mitglied der Académie française, schrieb aufgrund genauer historischer Recherchen in Ich-Form einen Roman über den römischen Kaiser Hadrian: Mémoires d’Hadrien.21 So, aber nicht so gut, könnte ich in der Ich-Form einen Roman über den Kaiser Napoleon schreiben: «Ich wurde am 15. August 1769 in Ajaccio an der Westküste der Insel Korsika als zweiter Sohn von Carlo Buonaparte und Maria Letizia Ramolina geboren. Die Familie Buonaparte stammte wahrscheinlich ursprünglich aus Italien und wird dort als eine Patrizierfamilie erwähnt. Doch ist der Name schon früh in Korsika bestätigt. Den Namen «Buonaparte», der «guter Teil» bedeutet, habe ich immer als ein gutes Omen für unsere Familie betrachtet. Denn unsere Familie und auch ich selbst teilten uns immer den guten Teil des Lebens zu. Mein Vater Carlo wurde 1746 geboren und war ein angesehener Advokat und Richter. Er war Sekretär von Pascal Paoli, der für die Unabhängigkeit von Korsika kämpfte. Meines Vaters Idee dieses Unabhängigkeitskampfes hat auch mich sehr beeinflusst. Mein Vater war sehr willensstark und sorgte für die Ausbildung seiner Söhne in Frankreich. Meine Mutter wurde am 24. August 1750 geboren. Sie förderte bei uns einen starken Familiensinn. Sie liebte mich sehr, war aber gegenüber meinem Aufbau eines grossen Reiches der Vernunft sehr skeptisch: Sie sagte einmal über dieses Reich, das ich mit meinem ganzen Einsatz begründet hatte: ‹Pourvu que ça dure (vorausgesetzt, dass das dauert)!› In der Kirche von Ajaccio wurde ich auf den Namen Napoleone getauft. Ich habe einen älteren Bruder, der früh starb, und mehrere jüngere Brüder; die bekannteren sind: Lucien (geboren am 21. März 1775), Louis (geboren am 2. September 1778) und Jerôme (geboren am 15. November 1784), sowie mehrere Schwestern: Carolina, Elisa und Paulina. Wir waren 13 Geschwister. Da meine Lieblingsbeschäftigung als Knabe das Kriegsspiel war, wurde ich von meinem Vater schon mit zehn Jahren (1779) an die Militärschule von Brienne-leChâteau im heutigen Departement Aube, südöstlich von Paris, geschickt. Ich war in dieser Schule so erfolgreich, dass ich bald an die Ecole royale militaire in Paris befördert wurde. Hier fühlte ich mich in meinem Element. Im Jahre 1785 schloss ich diese sehr angesehene Schule im Alter von 16 Jahren ab. Ich war damals das älteste männliche Mitglied unserer Familie und hatte daher vor allem für meine Mutter und meine Geschwister zu sorgen. […]
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1971.
Librairie Plon, 1958; nouvelle édition revue et corrigée, Editions Gallimard, Paris
3. Kapitel
Seitdem ich am 23. Juni 1815 dem Kaiserthron entsagt habe, lebe ich nun auf der Insel St. Helena. Wenn ich jetzt als Mann von 50 Jahren vier Freunden meine Memoiren diktiere und in ihnen auf mein Leben zurückblicke, kann ich sagen: Ich habe die Revolution in Frankreich von ihrem Schmutz befreit, die Völker veredelt, die Könige befestigt. Ich habe einen allgemeinen Wetteifer angeregt, jedes Verdienst belohnt, die Grenzen des Reiches sehr ausgeweitet. Das ist doch etwas! Wenn man mich beschuldigt, den Krieg geliebt zu haben, so werde ich darlegen, dass immer nur ich der Angegriffene gewesen bin. Man kann keinen Eierkuchen backen, ohne ein paar Eier zu zerschlagen. Der erhabenste Ehrgeiz erfüllte mich, endlich die Herrschaft der Vernunft und die freie Ausübung der menschlichen Fähigkeiten zu begründen und sicherzustellen. Woran ich jetzt in der Verbannung am meisten leide, ist, dass ich so ferne von meiner geliebten Mutter leben muss. Sie lebt jetzt in Rom.»22
Für all diese Abwandlungen (Bewusstseinsmodifikationen) des Erlebten und Durchlebten ist das eigentlich gegenständlich Erlebte und eigentlich Urbewusste (Durchlebte) die primäre Form, der Urmodus, das Original, und zwar «primär», «ursprünglich» etc. in der Ordnung des Bewusstseins des reflektierenden Subjekts. Alle Bewusstseinsmodifikationen dieses Originals sind sekundär und weisen in sich selbst auf das Original zurück: Die temporale Modifikation ist das eigentlich Erlebt-Gewesene oder Erlebt-sein-Werdende; die entfremdende Modifikation ist das von einem anderen Erlebte usw. Dieses «von einem anderen» enthält eine Negation: Was andere erleben und erlebt haben, ist und war nie im ursprünglichen Sinn erlebt, d. h. nie eigentlich erlebt, ist und war nie schlechthin (eigentlich) erlebt und urbewusst. Verschiedene Modifikationen können sich miteinander kombinieren, z. B. die temporale (das von mir erlebt und urbewusst Gewesene) und die verfremdende Modifikation: das von einem anderen erlebt und urbewusst Gewesene. Bewusstseinsmodifikationen sind nicht wie Kopien (Kopien von Schriftstücken, von Kunstwerken, von gespeicherten Daten), denn Kopien weisen nicht in sich notwendig auf das Original zurück (man kann einer Kopie als solcher nicht notwendig ansehen, dass sie eine Kopie ist). Alle solchen Bewusstseins-
Bei den Aussagen Napoleons auf der Insel Sankt Helena stütze ich mich vor allem auf Propyläen der Weltgeschichte, Das neunzehnte Jahrhundert, Band 8, herausgegeben von Golo Mann, Propyläen Verlag, Berlin / Frankfurt a. M., S. 115. 22
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modifikationen wären genauer nach ihren Implikationen und Differenzen zu analysieren.
4. Kapitel. Das mehr oder weniger aufmerksam gegenständlich Erlebte und das urbewusste (durchlebte) mehr oder weniger aufmerksame Erleben als das Original. Es kann nur ein Original geben Das Original ist das mehr oder weniger aufmerksam gegenständlich Erlebte und urbewusste (durchlebte), mehr oder weniger aufmerksame Erleben schlechthin, d. h. ohne alle modifizierenden «Indices» temporaler, modaler, verfremdender Art. Um dieses Original zu charakterisieren, muss ich gemäss seiner Bewusstseinsstruktur nichts hinzufügen; ich brauche nicht zu sagen «das jetzt oder aktuell Erlebte»; das brauche ich nur, um von diesem Original die temporale Modifikation zu negieren. Eine solche Negation ist im Original, d. h. im ursprünglich oder schlechthin Erlebten, nicht vorhanden. Die temporale Modifikation ist bewusst als Modifikation, und ihr sprachlicher Ausdruck braucht einen entsprechenden Index. Ich brauche für den Urmodus, das Original, auch nicht zu sagen, das «von mir Erlebte», denn das «von mir» bedeutet hier nichts anderes als die Abweisung, die Negation der verfremdenden Modifikation. Auch diese Negation ist im Original selbst nicht vorhanden. Während alle Modifikationen als sekundäre Bewusstseinsformen auf das Original zurückweisen, ruht das Original in sich selbst: Es ist schlicht und einfach das gegenständlich Erlebte und urbewusste Erleben (Durchlebte). Ist dieses Original, das schlechthin Erlebte und Durchlebte (oder wie ich im Hinblick auf die möglichen Modifikationen, aber nicht dem Original gemäss sage: das von mir jetzt oder aktuell Erlebte), eine Einheit? Alles Modifizierte, alles im Erleben von etwas Sekundärem, ist von ihm unterschieden. Ein erinnerter Schmerz (ein vergegenwärtigter, gewesener Schmerz) ist etwas anderes als ein aktueller Schmerz; ein fremdes, eingefühltes Sehen ist etwas anderes als ein eigenes Sehen. Man kann auch sagen: Es kann nur einen Urmodus, nur ein Original geben. Jede Vervielfältigung des Originals ist eo ipso seine Modifikation. Für das in dieser Studie gestellte Problem ist aber auch zu fragen: Ist das originale Erleben (mein aktuell urbewusstes aufmerksames
4. Kapitel
Hören, Sehen, Denken, Fühlen etc.) und das korrelative, aktuell gegenständlich original aufmerksam Erlebte (Gehörte, aufmerksam Gesehene, aufmerksam Gedachte, Gefühlte etc.) eine innere Einheit, bildet es einen Zusammenhang? Brentano hat in seinen Erörterungen über die «Einheit des Bewusstseins» den Satz aufgestellt: «Die Einheit des Bewusstseins, so wie sie mit Evidenz aus dem, was wir innerlich wahrnehmen, zu erkennen ist, besteht darin, dass alle psychischen Phänomene, welche sich gleichzeitig in uns finden, mögen sie noch so verschieden sein, wie Sehen und Hören, Vorstellen, Urteilen und Schliessen, Lieben und Hassen […], wenn sie nur als zusammenbestehend innerlich wahrgenommen werden, sämtlich zu einer einheitlichen Realität gehören.»23
Brentano scheint die Auffassung zu vertreten, dass, wenn man zugleich (simultan) zwei psychische Akte vollzieht (die nach ihm immer «in innerer Wahrnehmung» sekundär bewusst sind), z. B. wenn man hört und sieht, man sich eo ipso auch ihrer zeitlichen Zusammengehörigkeit bewusst ist («innerlich wahrnimmt, dass sie zusammenbestehen»). Dies würde ein zeitlich einheitliches Bewusstsein dieser beiden Akte ausmachen: «Wenn einer etwas vorstellt und begehrt oder wenn er zugleich mehrere Objekte (z. B. einen Ton und eine Farbe) vorstellt, so erkennt er nicht bloss (in der inneren Wahrnehmung) die eine und andere Tätigkeit, sondern auch die Gleichzeitigkeit beider. […] wer erkennt, dass er sieht und hört, erkennt auch, dass er beides zugleich tut.»24
Ist das Erlebte in seinem Urmodus (Originalität) eo ipso Bewusstsein der Gleichzeitigkeit all dessen, was in diesem Urmodus urbewusst (durchlebt) ist? Mit anderen Worten: Impliziert das original Urbewusste und gegenständlich Erlebte das einheitliche Bewusstsein des Zusammenbestehens all dessen, was original erlebt und durchlebt ist? Das original Erlebte ist das aktuell Erlebte. Aber diese Aktualität bedeutet nicht, das alles original Erlebte
Psychologie vom empirischen Standpunkt, 2. Buch, 4. Kap. (Ausgabe des Meiner-Verlages, S. 232), Hervorhebungen von mir. 24 A. a. O., S. 227. 23
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in der Relation der Gleichzeitigkeit bewusst sein muss, sie bedeutet nicht, dass es notwendig als ein zeitliches Zusammen erlebt ist. Es scheint mir denkbar, dass ich aktuelle Empfindungen haben könnte, die zwar in ihrem urmodalen Erlebtsein (Originalität) von allen Modifikationen (erlebt Gewesenem, Erlebtes anderer etc.) unterschieden sind, aber im Bewusstsein sich doch nicht innerhalb einer gemeinsamen Zeitordnung präsentieren würden, d. h. nicht in einer zeitlichen Relation oder einem zeitlichen Zusammenhang. Ein Aussenbetrachter könnte vielleicht sagen, dass ich die Empfindungen gleichzeitig habe, aber in meinem eigenen Bewusstsein bestünde diese Relation der Gleichzeitigkeit nicht. Die Aktualität des originalen Erlebtseins ist kein Zusammenhang, keine Relation, keine Ordnung, keine Integration, auch keine zeitliche. Sie bedeutet letztlich nichts anderes als den Urmodus. Das ist für unser Problem der Bewusstseinseinheit entscheidend. Es besteht die Möglichkeit, dass ich z. B. nach einer Kommissurotomie aktuelle Erlebnisse habe, ohne zwischen ihnen einen bewussten Zusammenhang herstellen zu können. Ob das je eine faktische Wirklichkeit war oder bei einem Menschen heute so ist, lasse ich dahingestellt. Wenn die Originalität des Erlebten keinen zeitlichen Zusammenhang von Erlebnissen bedeutet, bedeutet sie dann den Zusammenhang durch ein und dasselbe Subjekt, das diese Erlebnisse hat? Denken wir an Chisholms selbstpräsentierende Eigenschaften, die schon durch ein Subjekt, das sie hat, definiert sind und von denen man ipso facto absolut sicher sein kann, dass sie alle von ein und demselben Ding (Subjekt) gehabt werden, nämlich von einem selbst. Auch ich schrieb oben mehrmals selbst, dass das original Erlebte das von mir Erlebte sei. Aber, wie schon gesagt, dieses «von mir» braucht es für eine vollständige Beschreibung des Erlebten im Urmodus nicht, dieses ist das Erlebte schlechthin. Das «von mir» diente hier nur dazu, den Urmodus von etwas Sekundärem abzuheben, nämlich von der verfremdenden Modifikation des Erlebten (vom Erlebten eines anderen). Ich glaube, wenn wir radikal das ursprünglich Erlebte (das Original) in sich selbst betrachten, ohne Rücksicht, ohne Hinblick auf seine Modifikationen, dann stossen wir nicht eo ipso auf ein Subjekt oder ein identisches Subjekt, welches das ursprünglich Erlebte als etwas von ihm Verschiedenes hat. Wenn wir die gewöhnliche Sprache voraussetzen und damit die ganze Ontologie voraussetzten, die sich in unseren sprachlichen Leistungen etabliert hat, dann sprechen wir ganz natürlich von Subjekten, die ihre Erlebnisse haben. Wenn wir aber zurückgehen
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auf das originale Erleben von etwas bloss als solchem, d. h. so wie es in sich selbst bewusst und urbewusst ist, und von allem absehen, was nicht zu ihm selbst notwendig gehört, wenn wir also reduzieren auf das original Erlebte und wenn wir alle sich ihm anfügenden geistigen Leistungen der temporalen und verfremdenden Vergegenwärtigungen, des sprachlich-begrifflichen Urteils, der Reflexion, Identifikation etc. ausschalten, dann stossen wir hier, soweit ich sehe, auf nichts, was uns nötigen könnte, von einem Subjekt zu sprechen, dass alles original Erlebte notwendig vereint. Erst wenn auf etwas original Erlebtes reflektiert wird, tritt das Bewusstsein seines Subjekts hervor, das das Erlebte hat. Das Subjekt ist hier als das Eine bewusst, das sowohl dem aktuell reflektierenden zugrunde liegt als auch dem reflektierten Erlebnis (z. B. einer Schmerzempfindung oder einem Hören, Sehen etc., die selbst keine reflektierenden Erlebnisse sind). Dann erst tritt ein Bewusstsein auf, das dem «Ich habe Schmerzen», «Ich sehe Wasser» entspricht. Chisholm hat in seine Definition der selbst-präsentierenden Eigenschaften diese Reflexion schon aufgenommen,25 obschon er betont, dass diese Reflexion (consideration, thought) nicht vollzogen werden muss. Das Erlebte braucht nicht reflektiert zu werden und ist es meistens auch gar nicht. Auch kann gar nicht alles original Erlebte reflektiert sein. Das würde bekanntlich zu einem unendlichen Regress führen, zu einer «unendlichen Verwickelung», wie Brentano sagt. Urbewusst (durchlebt) ist eben etwas anderes als darauf Reflektieren. Wenn sich jemand nun verschiedene gleichzeitig erlebte Inhalte zuschreibt, z. B. «Ich sehe dies und sehe auch das» oder «Ich sehe dies und höre das», «Ich möchte dies und möchte aber auch das», dann muss er nicht nur auf diese Inhalte reflektieren, sondern sie auch unterscheiden, was voraussetzt, dass sie unter sich in einem Zusammenhang stehen, hier in einem Zusammenhang der Gleichzeitigkeit, aber auch im Zusammenhang des gegenseitigen Kontrastes, der Abhebung voneinander oder gar eines Konfliktes zwischen ihnen. Es ist also schon ein Zusammenhang, eine Relation zwischen erlebten Inhalten vorausgesetzt, wenn ich sie reflektierend auf ein einziges Subjekt beziehe. Dieses Subjekt ist nicht etwas, was a priori, «ipso fac-
«Every self-presenting property is such, that an individual has it, if he considers his having it, if he thinks of himself as having it […].» The first person, S. 80. 25
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to» zwischen original erlebten Inhalten solche Zusammenhänge schafft, und wenn solche Zusammenhänge nicht vorhanden sind, kann es auch nicht in der Reflexion als das eine Subjekt auftreten, das gleichzeitig solche verschiedenen Erlebnisse hat. Ich halte aus dem Obigen für unser jetziges Problem der synchronen Bewusstseinseinheit folgende Resultate fest: Das Erlebte und Durchlebte ist durch den Unterschied zwischen seinem Urmodus und seinen Modifikationen und durch den Unterschied zwischen diesen Modifikationen ein unterscheidendes Prinzip, und insofern ist es auch ein Prinzip der Einheit. Aber es kann nicht für einen inneren Zusammenhang (Relation, Integration etc.) zwischen originalen und urbewussten Erlebnissen von etwas aufkommen. Es tritt auch nicht notwendig innerhalb des original Erlebten ein Ich-Träger auf, der solche Zusammenhänge dadurch herstellen würde, dass er diese Erlebnisse hat oder sie «begleitet». Der Charakter des Erlebten im Urmodus hat mit den vielfältigen Wörtern «ich», «mein», «eigen» sicher etwas zu tun (dazu unten, Kapitel 5), aber für den inneren Zusammenhang zwischen den Erlebnissen oder gar für ihre Integration kommt er nicht auf. Das original Erlebte und Durchlebte könnte sich faktisch sehr wohl in ein blosses Gewühl, in zusammenhangslose Fetzen auflösen. Was spräche a priori, d. h. notwendigerweise, dagegen?
5. Kapitel. Zusammenhänge des aktuell Erlebten Wie hängen urbewusste Erlebnisse von etwas miteinander zusammen, bzw. wie lösen sich solche Zusammenhänge auf? Ich möchte vor allem das Erlebte im Urmodus, im Original betrachten, also abgrenzend gesagt das aktuell von mir mehr oder weniger aufmerksam gegenständlich Erlebte und mehr oder weniger Urbewusste (Durchlebte). In diesem Bereich liegt, wie mir scheint, ein prinzipieller Unterschied: Auf der einen Seite haben wir Erlebnisse wie Empfindungen, Wahrnehmungen, Strebungen, Tätigkeiten, die sich als Bewusstseinsakte nur in gegenwärtigen leiblichen Funktionen abspielen und sich auf die gegenwärtige, auf sie bezogene Umwelt beziehen. Auf der anderen Seite haben wir Erlebnisse, die zwar auch aktuell urbewusst (durchlebt) sind, sich aber intentional auf Vergangenes, Künftiges, Mögliches, Fiktives, fremdes Bewusstsein, Allgemeines beziehen und daher in sich notwendig Er-
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lebnisse implizieren, die nicht aktuell durchlebt sind; z. B. impliziert (enthält in sich) mein aktuell durchlebtes Mich-Erinnern an die Aussicht von der Au-Brücke am letzten Freitag das jetzt nicht aktuelle, sondern vergangene Sehen und Hören (sinnliche Wahrnehmen) der rauschend strömenden Aare, der Uferböschungen, der hinunter treibenden, einander Wörter zurufenden Schwimmer und Bootsfahrer etc. Dieser radikale Unterschied zwischen «Sinnlichkeit» und «Verstand» wird im Folgenden noch etwas deutlicher werden. Ich nenne die sinnlichen Erlebnisse (Gegenwartsbewusstsein) auch unmittelbares Bewusstsein und nenne die Verstandeserlebnisse (vergegenwärtigendes Bewusstsein) auch mittelbares Bewusstsein, weil die Verstandeserlebnisse von etwas in sich andere (eigene oder fremde) Erlebnisse implizieren. Sie verweisen also in sich auf andere Erlebnisse von etwas, wie im Beispiel das aktuelle Sich-Erinnern in sich auf nicht aktuelles Sehen, Hören oder sonstiges anderes (eigenes) Erleben von etwas verweist und daher nicht einfaches oder unmittelbares Bewusstsein ist wie das Hören und Sehen von Gegenwärtigem, sondern in einem bestimmten Sinne Bewusstsein von Bewusstsein.26 Ich erörtere vorerst phänomenologische Zusammenhänge innerhalb des sinnlichen, unmittelbaren Bewusstseins, dann innerhalb des mittelbaren oder Verstandesbewusstseins und auch Zusammenhänge zwischen beiden. Die aktuellen sinnlichen Wahrnehmungen und Strebungen bilden normalerweise einen gewissen Zusammenhang; gegenständlich ausgedrückt bildet die aktuell wahrgenommene Umwelt normalerweise eine gewisse Einheit. 1. Grundlegende Einheitsordnung ist der unmittelbar wahrgenommene sinnliche Raum in seinen Verhältnissen von nah und fern, links und rechts, unten und oben, vorn und hinten; das Zentrum dieser Ordnung, auf das sie sich in all ihren Verhältnissen bezieht, ist der erlebte, subjektive, eigene, sich selbst bewegende wahrnehmende Leib. 2. Die verschiedenen Sinnesfelder, z. B. visuelles und taktiles Feld, sind vereinheitlicht an den wahrgenommenen Raumdingen, von denen z. B. dieser Bleistift als lang, schwarz, hart und stechend wahrgenommen wird. An
Diesen Unterschied zwischen «Sinnlichkeit» und «Verstand» habe ich im 2. Abschnitt von Idee und Methode der Philosophie. Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft, De Gruyter, Berlin, New York 1975, zu verdeutlichen versucht. 26
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den wahrgenommenen Raumdingen kommen Sinnesfelder nicht nur zur Deckung, sondern durchdringen sich auch, z. B. kann Härte bzw. Weichheit aufgrund der Erfahrung auch sichtbar sein, z. B. ein harter Stein oder ein weicher Schwamm. 3. Ein wichtiger Zusammenhang in der gegenwärtigen Umwelt ist die Struktur «abgehobene Figur – Hintergrund», die mit der Aufmerksamkeit zu tun hat. 4. Zusammenhänge, auch in der Gestalt des Konflikts, bilden die konativen Charaktere der Umwelt, ihre wahrgenommene Attraktion und Repulsion bzw. die entsprechenden subjektiven Strebungen, z. B. die geschmackvolle Süsse, die angenehme Weichheit, der gute Geruch von reifen Erdbeeren auf einem Beet, das dem Nachbarn gehört. Ich deute hier nur diese vier Punkte an und verweise dafür auf die Phänomenologie der Wahrnehmung von Husserl und Merleau-Ponty. Für die Frage dieser Studie scheint mir hier Folgendes wichtig zu sein: l. Die Einheit oder die Zusammenhänge der aktuellen sinnlichen Erlebnisse von etwas korrelieren mit der Einheit oder den Zusammenhängen der unmittelbar bewussten, gegenwärtigen, sinnlich wahrgenommenen Umwelt; Bedingungen der Einheit der wahrgenommenen Umwelt sind Bedingungen der Einheit des Wahrnehmens und umgekehrt. 2. In allen vier aufgezählten Zusammenhängen ist fundamental der subjektive Leib. Gemeint ist der eigene selbstbewegliche Leib, so wie er im Empfinden, Wahrnehmen, Agieren erlebt ist. Gemeint ist nicht der objektive, physiologisch-kausale Naturkörper. Ich glaube mit Merleau-Ponty, dass man vom subjektiven Leib sagen kann, er sei Subjekt, «Subjekt» in einem ganz bestimmten Sinne, nämlich Subjekt des Könnens oder das Könnende. «Können» bezieht sich hier auf die «Kinästhese», d. h. die gefühlte intentionale Selbstbewegung. Wahrgenommener, sinnlicher Raum, Einheit der Sinnesqualitäten an Raumdingen, Figur – Hintergrund, appetitive Tendenzen beziehen sich alle auf die intentionale Selbstbewegung des subjektiven Leibes. Dabei ist die in der aktuellen Situation mitbeschlossene Tendenz und Potenzialität als unmittelbare Zukunft (als unmittelbare Ausrichtung der leiblichen Selbstbewegung, als Offenheit des Gegenwärtigen auf das unmittelbar Kommende, nicht als vergegenwärtigte Zukunft) wesentlich. Unmittelbar wahrgenommene Raumverhältnisse wie nahe und fern, oben und unten etc., die Struktur Figur – Hintergrund etc. haben also einen kinästhetischen, d. h. auf
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die erlebte leibliche Selbstbewegung bezogenen Sinn. Der wahrgenommene Raum ist der Spielraum (potenzielle, tendenzielle Raum, Raum des Könnens) der erlebten leiblichen Selbstbewegung. Zusammenhang des sinnlichen Erlebens bzw. Zusammenhang der unmittelbar wahrgenommenen Umwelt bedeutet also ein subjektiv-leibliches Gefüge verfügbarer intentionaler Selbstbeweglichkeit. Dieses System ist keine physikalisch-kausale Maschine, sondern ein von der unmittelbar erwarteten und intendierten Zukunft her bestimmtes Motivationssystem. Diese erwartete und intendierte Zukunft ist nicht die vergegenwärtigte Zukunft, sondern die unmittelbare Zukunft, die ein Aspekt der unmittelbar wahrgenommenen Gegenwart ist, nämlich ihre nach vorwärts gerichtete Offenheit. Vom kausalphysiologischen Leibkörper, sofern er in der lebendigen Selbstbewegung nicht unmittelbar kinästhetisch wahrgenommen ist, sondern ein Körper wie andere Körper im Raum ist, haben wir hier abzusehen, denn es geht hier um Bewusstseinszusammenhänge, und solche Körper als Bestandteile von Bewusstseinszusammenhängen zu betrachten, würde eine Metabasis in ein anderes Genos bedeuten, d. h. ein Überschreiten des Wissenschaftsgebietes einer Gattung in ein Wissenschaftsgebiet anderer Gattung. Der kausalphysiologische Leibkörper nimmt nicht wahr, sondern gehört zur wahrgenommenen Umwelt. Das subjektive, leibliche Motivationssystem ist alles andere als ein notwendiger Zusammenhang. Sinnesfelder (und das bedeutet Abläufe der Selbstbewegung) können ausfallen, das sinnliche Subjekt kann blind oder taub oder beides werden. Dieses System ist mehr oder weniger einheitlich: Es können z. B. darin mehrere Zentren der Aufmerksamkeit, der Ausrichtung der Selbstbewegung, auftreten; ich hörte von einem Geologieprofessor, der im Unterricht gleichzeitig an der Wandtafel mit der rechten Hand schreiben und mit der linken zeichnen konnte. Die verschiedenen Sinnesfelder brauchen sich nicht notwendig zu decken; ein von Geburt an Blinder bringt nach erfolgreicher Augenoperation seine Licht- und Farbempfindungen nicht ohne Weiteres mit seinen von ihm genetisch schon konstituierten taktilen Raumdingen in Deckung. Es gibt Konflikte zwischen appetitiven Tendenzen. Das sind alles Fakten und empirisch-faktisch zu erörternde Probleme. Schliesslich, und damit wären wir wieder bei der Kommissurotomie, können Bestandteile dieses Systems offenbar in Hinsicht auf das Bewusstsein auch völlig auseinandergeraten, sodass zwei Umwelten, oder genauer gesprochen
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zwei Umfelder, ohne jeglichen intentionalen Zusammenhang original erlebt werden. Man kann aber bei kommissurotomierten Personen auch die Tendenz zur Integration ihrer Wahrnehmungen bzw. Umfelder annehmen, da sie ausserhalb der einzelnen Wahrnehmungen in künstlich isolierenden experimentellen Situationen ein normal integriertes Wahrnehmungsverhalten zeigen und da die Psychologen die grössten Listen aufwenden müssen, um in ihren Experimenten dieser Integrationstendenz entgegenzuwirken. Völlig getrenntes aktuelles sinnliches Erleben (sofern auf beiden Seiten voneinander unabhängig noch interne Integrationen vorliegen), würde getrennte original erlebte Wahrnehmungsfelder und getrennte original erlebte subjektive, sich bewegende Leiber bedeuten. Dabei wäre aber keine Gleichzeitigkeit zwischen ihnen und so auch keine Vielheit von unmittelbaren Umwelten bzw. eigenen Leibern bewusst, da überhaupt kein erlebter Zusammenhang zwischen ihnen bestünde. Es ist müssig, ohne Fakten diesbezüglich phantastische Spekulationen anzustellen, aber a priori scheint mir nichts gegen solche Möglichkeiten zu sprechen. Sie erinnern mich an die Geschichten der sogenannten Bilokation oder Multilokation. Der Kirchenlehrer Ambrosius, ein sehr vernünftiger Mann, soll gleichzeitig in Mailand und in Südfrankreich gesehen worden sein. Nicht nur von christlichen Heiligen und Mystikern, sondern auch von Yogis, Schamanen, Boddhisattvas und in der Parapsychologie wird von solchen Vervielfältigungen der eigenen Leiber und den dazu gehörigen unmittelbaren Umwelten berichtet.
6. Kapitel. Einbeziehung der Vergegenwärtigungen, vor allem der Erinnerung. Das Problem der personalen Identität Ziehen wir nun auch Vergegenwärtigungen, d. h. das Verstandes- oder mittelbare Bewusstsein, mit ins Spiel. Während ich am Schreibtisch sitze und meine perzeptive Umwelt (Situation) mehr oder weniger klar sinnlich gegenwärtig habe, kann ich mich an Vergangenes erinnern oder eine künftige Reise in China planen oder bloss fiktive Umwelten phantasieren oder mir einfühlend vergegenwärtigen, wie ein anderer Mensch wohl seine Situation erlebt, z. B. jetzt meine Frau, die mit dem Bus ins Städtchen am See hinunter in verschiedene Geschäfte mit einem Einkaufswagen einkaufen gefahren ist;
6. Kapitel
oder ich kann auch an Probleme und Theorien der Einheit des Bewusstseins und der personalen Identität denken etc. Auch gewisse Raumdinge in der mir gegenwärtigen Umwelt, wie Bücher und Bilder, versetzen mich, wenn ich auf sie eingehe, in abwesende (vergangene, mögliche, fiktive, fremde) Situationen. Hier haben wir eine aktuelle Vielheit von Erlebnissen, die nicht einfach durch das leiblich-kinästhetische System und die ihm entsprechende jeweilige gegenwärtige Umwelt integriert sind. Infrage steht einerseits die Verbindung zwischen aktuellen gegenwärtigenden (Gegenwart zum Erscheinen bringenden) sinnlichen Erlebnissen und aktuellen vergegenwärtigenden (verstandesmässigen) Erlebnissen und andererseits die Verbindung zwischen verschiedenen aktuellen vergegenwärtigenden Erlebnissen wie die Verbindung zwischen Sich-Erinnern an etwas und Planen von etwas oder die Verbindung zwischen Planen von etwas und blossem Phantasieren von etwas. Für das erste Verhältnis, dasjenige zwischen aktuellen gegenwärtigenden (sinnlichen) und aktuellen vergegenwärtigenden (verstandesmässigen) Erlebnissen, sind zwei Sachverhalte hervorzuheben: der Sachverhalt der Fundierung und derjenigen der Verdeckung. «Fundierung» soll hier bedeuten, dass ein Vergegenwärtigen irgendwelcher Art (Sich-Erinnern, Einfühlen, begriffliches Denken etc.) nicht möglich ist ohne gleichzeitiges Gegenwärtigen (sinnliches Wahrnehmen); ein Vergegenwärtigen muss mit diesem Gegenwärtigen im Bewusstsein notwendig zusammen bestehen, wenn es ein Vergegenwärtigen von etwas sein soll. Ich kann mich z. B. nur an Vergangenes erinnern, wenn ich mir auch meiner gegenwärtigen Umwelt unmittelbar bewusst bin; würde ich im Mich-Erinnern an ein vergangenes Erleben oder Tun den bewussten Kontakt mit der unmittelbaren sinnlich wahrgenommenen Gegenwart verlieren, dann schlüge das Mich-Erinnern an etwas Vergangenes in eine Art Träumen von etwas um, das nicht mehr ein Bewusstsein von etwas Vergangenem ist, sondern in sich den unmittelbaren Charakter des sinnlichen Wahrnehmens von etwas Gegenwärtigem hat, welches sich allerdings nachträglich, nach dem «Erwachen», als Illusion herausstellt. Vergegenwärtigen irgendwelcher Art ist nur in der bewussten Abhebung von der Basis (Fundament) des Gegenwärtigens, d. h. des Wahrnehmens von etwas möglich, das dabei aktuell bleiben muss. Das Umgekehrte ist nicht der Fall. Ein sinnlich-leibliches Bewusstsein der gegenwärtigen Umwelt ist möglich ohne Vergegenwärtigen von etwas (Sich-Erinnern an etwas, Vorausplanen von etwas, Vergegenwärtigen von Möglichkeiten), d. h. es ist möglich ohne
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Verstand als notwendigem Bestandteil der Vernunft. Dies zeigt das Erleben und Tun der Tiere. Denn ihnen sprechen wir vernünftigerweise keine Vernunft, auch keine praktische Vernunft (Ethik) zu und damit auch kein Vergegenwärtigen von etwas. Tiere erinnern sich nicht an ihre eigene Vergangenheit, planen ihre Zukunft nicht voraus und vergegenwärtigen sich nicht die Situationen anderer Tiere oder diejenigen von Menschen, indem sie sich auf ihre Gesichtspunkte und auf ihre Interessenstandpunkte versetzen und diese in ihrem Verhalten berücksichtigen. Deshalb schrieb ich oben von Fundierung; denn mit dem Fundament ist das darauf Gebaute noch nicht gegeben. «Verdeckung» meint hier, dass sich gegenwärtige und vergegenwärtigte Situation in ihrer Anschaulichkeit und Klarheit gegenseitig konkurrenzieren. Je anschaulicher ich mir meine künftige Reise in China vergegenwärtige («ausmale»), umso unanschaulicher (dunkler, latenter) wird mir meine gegenwärtige wahrgenommene Situation; und umgekehrt: In dem Masse, in dem diese wieder anschaulich (klar, patent) wird, verdunkeln sich die vergegenwärtigten künftigen chinesischen Situationen. Indem Thales an astronomische Probleme denkend zum Himmel blickte, fiel er in einen Brunnen. «Da soll ihn eine witzige und reizende Magd ausgelacht haben, weil er zwar die Dinge am Himmel zu erkennen begehre, ihm aber das, was ihm vor den Füssen liege, entgeht.»27 Wäre ein Thales denkbar, der nicht in den Brunnen fällt? Diese Verdeckungen (gegenseitigen Verdunkelungen) spielen auch zwischen Vergegenwärtigungen. Wenn ich anschaulich etwas Künftiges plane, kann ich mich nicht gleichzeitig klar (anschaulich) meiner Vergangenheit erinnern. Beides kann aber doch zusammenspielen, wenn ich etwa eine Reise in einem Land plane, in dem ich früher schon war, und ich die künftige Reise mit einer vergangenen vergleiche. Wichtig für unser Problem der Bewusstseinseinheit ist, dass im vergegenwärtigenden Verstandesbewusstsein ganz andersartige Zusammenhänge bestehen als im sinnlichen, bloss gegenwärtigenden Wahrnehmungsbewusstsein. Während dieses durch die Integration des subjektiv-leiblichen Systems der intentionalen Selbstbewegung bzw. durch die Tendenz zu dieser Integra-
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Platon, Theaitetos, 174 a.
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tion charakterisiert ist, haben wir im vergegenwärtigenden Bewusstsein eine Vervielfältigung der vergegenwärtigten Umwelten oder Situationen (erinnerte Wahrnehmungssituation, bloss phantasierte Situation, eingefühlte, fremde Situation etc.) bzw. der diese Situationen vergegenwärtigenden Erlebnisse. Und zwischen solchen vergegenwärtigenden Erlebnissen bzw. zwischen ihren intentionalen Umwelten muss keine Integration wie bei den sinnlichen Erlebnissen und ihrer gegenwärtigen wahrgenommenen Umwelt herrschen: Z. B. brauchen eine bloss phantasierte und die unmittelbar gegenwärtige Umwelt überhaupt nicht integriert zu sein; ein bloss phantasierter Drache und ein bloss phantasierter Phönix brauchten sich nicht in die wahrgenommene Umwelt oder in die erinnerte Umwelt einzufügen. Was ihre Anschaulichkeit betrifft, so liegt primär keine Integration vor, sondern gegenseitige Konkurrenz durch Verdeckung. Aber auch Verdeckung ist ein Zusammenhang. Im Vergegenwärtigen ergeben sich auch besondere Möglichkeiten des Konfliktes, z. B. zwischen dem, was ich jetzt tun wollte (ich erinnere mich an dieses Vorhaben), und dem, was ich jetzt wirklich tue. Auch diese Zusammenhänge des vergegenwärtigenden Bewusstseins kann ich hier nur andeuten. Ich frage nun geradewegs: Was macht Einheit des vergegenwärtigenden Bewusstseins aus? In den voranstehenden Kapiteln war die Frage: Was macht die Einheit der aktuellen (originalen) Erlebnisse aus (synchrone Einheit)? Die Frage nach der Einheit des Bewusstseins durch die Zeit hindurch (diachrone Einheit) und damit das Problem der personalen Identität möchte ich nun in diesem Kapitel diskutieren. Im aktuellen Vergegenwärtigen (Planen, Sich-Erinnern etc.) muss das fundierende aktuelle Wahrnehmen von etwas bewusst sein. Es ist im aktuellen Vergegenwärtigen bewusst als ein von ihm verschiedenes, aber gleichzeitiges, es fundierendes Erleben von etwas. Man kann nicht im selben Sinne sagen, im Planen oder Sich-Erinnern ist das aktuelle Wahrnehmen, das dieses sich Vergegenwärtigen fundiert, urbewusst (durchlebt), wie ich sagte: im Wahrnehmen von etwas ist dieses Wahrnehmen, im Planen ist dieses Planen urbewusst (durchlebt). Was ist dann ein solches vergegenwärtigendes Bewusstsein? Müssen wir, wie Brentano, eine «reale Einheit», eine Substanz, annehmen, in der diese zwei gleichzeitigen Erlebnisse (sich Vergegenwärtigen von etwas und Wahrnehmen von etwas) bewusst sind? Was ist hier aber diese «reale Einheit», diese «Substanz»? D. h. was könnte sie für das betref-
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fende vergegenwärtigende Bewusstsein selbst bedeuten, denn das ist der Gesichtspunkt meiner Fragen. Ich kann aufgrund des oben Ausgeführten antworten: Bei einem Planen (und entsprechend bei jedem Vergegenwärtigen) muss das aktuelle, fundierende Wahrnehmen von etwas im Planen bewusst sein. Aber umgekehrt ist es nicht so, dass dieses fundierende Wahrnehmen sich des in ihm fundierten Planens von etwas (des Vergegenwärtigens von etwas) bewusst wäre. Wir brauchen demnach wohl kein Drittes (eine Substanz) zu postulieren, das aktuelles Wahrnehmen von etwas und aktuelles Planen von etwas paritätisch vereint, sondern wir müssen das Einheitsbewusstsein im Planen selbst, oder allgemeiner gesprochen, im Vergegenwärtigen von etwas selbst suchen. Im Planen von etwas – ich will mich an dieses Beispiel für das Vergegenwärtigen halten! – ist ja einerseits dieses aktuelle Planen urbewusst (durchlebt), andererseits ist auch ein geplantes (vergegenwärtigtes) Tun und Erleben, z. B. mein künftiges Besichtigen der buddhistischen Höhlen von Dunhuang, urbewusst, wenn auch nicht als aktuell urbewusst, sondern bewusst als künftig urbewusst. Muss nicht auch gesagt werden: Im Planen ist nicht nur mein künftiges, geplantes Erleben, sondern notwendig auch mein aktuelles fundierendes, gleichzeitiges Wahrnehmen urbewusst? Im Planen (und mutatis mutandis in jedem Vergegenwärtigen) hätten wir also drei Arten von «Bewusstsein»: Erstens: Das aktuelle Planen ist urbewusst (durchlebt); auch das ist eine Art Bewusstsein, ein ungegenständliches Bewusstsein: das «Urbewusstsein» Husserls, die conscience préréflexive Sartres. Zweitens: Das künftige Erleben von etwas, z. B. das geplante Besichtigen der Höhlen von Dunhuang, ist als vergegenwärtigt (im aktuellen Planen «intentional impliziert») urbewusst. Drittens: Das aktuelle fundierende Wahrnehmen (der unmittelbar gegenwärtigen Umwelt) ist als gleichzeitig mit dem aktuellen Planen mitbewusst. Auch das aktuelle Wahrnehmen von etwas ist urbewusst (durchlebt), aber nicht als Urbewusstsein des vergegenwärtigenden Planens, sondern in dem im Planen notwendig mitbewussten aktuellen Wahrnehmen selbst. Bei dieser komplexen Struktur des Vergegenwärtigens von etwas, die nur dessen notwendiges Minimum, d. h. seine Bedingungen der Möglichkeit, ausmacht, da sie sich noch sehr komplizieren kann (ich kann mich ja auch z. B. an ein vergangenes Planen einer Reise erinnern, mir also ein Vergegenwärtigen von etwas vergegenwärtigen), scheint es mir sinnvoll, von einem
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Ich-Bewusstsein zu sprechen. Das «Ich» steht hier für das Bewusstsein einer Einheit in dieser Vielfalt bewusster Erlebnisse: Diese Vielfalt hat die Einheitsform «ich». Wenn ich mich z. B. erinnere, bin ich mir bewusst, dass ich das und das gesehen, gehört, getan habe, und das bedeutet: ich, der ich mich jetzt aktuell daran erinnere und gleichzeitig auch das und das aktuell wahrnehme. Oder wenn ich meine Zukunft überlege, bin ich mir bewusst, dass ich wahrscheinlich das und das erleben und tun werde: ich, der ich mir jetzt meine Zukunft vergegenwärtige und der ich mich jetzt in der gegenwärtigen Situation befinde. Mit den erinnerten oder den in der Zukunft erwarteten Erlebnissen habe ich den Bereich der aktuellen Erlebnisse und damit auch die Einheit des synchronen Bewusstseins überschritten. Diese Überschreitung war notwendig, denn zum aktuellen jetzigen Vergegenwärtigen (Erinnern, Planen) gehört notwendig das in ihm vergegenwärtigte (erinnerte, geplante) nicht aktuelle, nicht jetzige Erleben von etwas. Auf unsere Frage nach dem Zusammenhang der aktuellen Erlebnisse im Vergegenwärtigungsbewusstsein kann man nicht einfach antworten, dass das aktuelle Vergegenwärtigen das es fundierende aktuelle sinnliche Wahrnehmen von etwas mitbewusst hat, da die Weise dieses Mitbewusstseins notwendig durch das Bewusstsein der vergegenwärtigten (nicht aktuellen) Erlebnisse charakterisiert ist, nämlich charakterisiert als Ich-Bewusstsein: z. B. habe ich, der ich jetzt diese Situation wahrnehme, mich erinnernd damals das und das erlebt. Unter «ich» kann man sehr vieles verstehen, aber ich vermute, dass eine notwendige Sinneskomponente von «ich», die in den alltäglichen, gewöhnlichen Gestalten des Ich-Bewusstseins vorausgesetzt ist, in der angedeuteten Vergegenwärtigungsstruktur des Verstandes wurzelt. Diese Ich-Komponente ist eine relationale Einheit, eine Zusammenhangsform.28 Letztlich gibt es für mich nur ein Ich, aber es gibt in meiner vergegenwärtigenden Einfühlung auch andere Ich.
Ich habe andernorts dieses Ich als subjektive Einheit der Vergegenwärtigungsvielheit genauer darzustellen versucht: «Selbstbewusstsein und Ich», in Husserl-Symposion, Mainz 1988, hrsg. von G. Funke, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz 1989, und in Idee und Methode der Philosophie. Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft, De Gruyter, Berlin, New York 1975, § 21. 28
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Zweite Studie: Bewusstseinseinheit und personale Identität
Bevor wir diese relationale Ich-Einheit, nämlich Ich als Einheit eines Zusammenhanges von Erlebnissen in der Vergegenwärtigung, die der Keim der personalen Identität ist, mit demjenigen Sinn von «ich» konfrontieren, der im Charakter des Erlebtseins wurzelt, möchte ich noch etwas über Bewusstseinszusammenhänge von aktuellen Vergegenwärtigungen bemerken. Bisher bin ich ja nur auf die Einheit von aktuellem Vergegenwärtigen von etwas und dem sie fundierenden aktuellen Gegenwärtigen (Wahrnehmen von etwas, sinnliches Bewusstsein von etwas) eingegangen. Während jedes Vergegenwärtigen von etwas, wie Sich-Erinnern, Planen, blosses Phantasieren, begriffliches Denken, in einem aktuellen sinnlichen Bewusstsein fundiert ist und mit ihm notwendig einen Bewusstseinszusammenhang bildet, kann zwischen verschiedenen aktuellen Vergegenwärtigungen kein notwendiger Zusammenhang dieser Art bestehen. Während, wenn ich mich erinnere, ich zugleich Gegenwärtiges wahrnehmen muss (sei es noch so verdeckt, dunkel), so scheinen sich verschiedene Vergegenwärtigungen von etwas, weil sie sich gegenseitig nicht im obigen Sinn fundieren, sondern nur verdecken, vielmehr auszuschliessen oder sich zu verdrängen. Jeder weiss etwa aus dem Gespräch, wie schnell man vergisst, was man denkt (sagen will), wenn man etwas anderes zu denken hat, nämlich das, was der Gesprächspartner einem mitteilt. Dennoch kann ich etwa meine erinnerte und meine geplante Reise in China miteinander vergleichen (ich fuhr damals mit dem Zug von Wuxi nach Hangzhou, nun will ich aber für diese Strecke das Schiff auf dem Grossen Kanal benützen), also erinnere ich mich und plane gleichzeitig und bin mir der Gleichzeitigkeit dieser beiden aktuellen intentionalen Vergegenwärtigungsakte auch bewusst. Solche Bewusstseinszusammenhänge zwischen Vergegenwärtigungen scheinen auf inhaltlichen (sachlichen, gegenständlichen) Zusammenhängen zu beruhen, d. h. die vergegenwärtigten Dinge und Ereignisse, so wie sie im Vergegenwärtigen bewusst sind, haben sachlich miteinander zu tun. Es ist wohl faktisch nicht möglich, gleichzeitig sich an etwas zu erinnern und etwas zu planen und überhaupt simultan verschiedene Gedanken zu verfolgen, wenn sie, so wie sie bewusst sind, keinen inhaltlichen, sachlichen Zusammenhang besitzen. Natürlich braucht dieser Zusammenhang nicht konsequent-logisch zu sein, sondern kann nur assoziativ auf Ähnlichkeit, Kontrast etc. beruhen. Demgegenüber braucht zwischen gleichzeitigem Vergegenwärtigen von etwas und sinnlichem Wahrnehmen von etwas überhaupt kein in-
6. Kapitel
haltlicher Zusammenhang zu bestehen, aber er kann durchaus bestehen, etwa in Form der Assoziation: Etwas jetzt Wahrgenommenes erinnert mich an etwas, was ich in meiner Vergangenheit wahrgenommen habe; oder in Form der Rekognition: ich erkenne in etwas jetzt Wahrgenommenem etwas in meiner erinnerten Vergangenheit Wahrgenommenes (siehe oben die erste Studie). Man darf wohl sagen, dass auch in als gleichzeitig bewussten aktuellen Vergegenwärtigungen, die als solche notwendig in aktuellen Gegenwärtigungen (sinnlichen Wahrnehmungen von etwas) fundiert sind, die Ich-Einheit vorhanden ist. Aber auch wenn das Ich-Bewusstsein diese Vergegenwärtigungsstruktur besitzt und die Einheit in einem Zusammenhang oder in einer Relation ausmacht, so ist das, was ich erlebe, erlebte und erleben werde, nicht durch diese relationale Struktur begründet. Mein Leben ist nicht einfach die Einheit dieser relationalen Struktur. Ich erlebte und tat nicht einfach das, weil ich es mir jeweils als Ich des mich Erinnerns an es aneigne. Das Kriterium (Grund der Wahrheit) dafür, was ich erlebt und getan habe und was ich nicht erlebt und getan habe, ist nicht der Zusammenhang meiner Erinnerungen. Wenn wir uns das Erleben anderer Menschen von ihrem Gesichtspunkt aus vergegenwärtigen, so liegt in diesem Sich-Vergegenwärtigen wie in jedem anderen ein Ich-Bewusstsein, aber hier in Form einer Negation: «nicht ich, ein anderes Ich». Das Erlebte ist hier vergegenwärtigt als nicht-eigenes, als fremdes, als anderes: nicht als das, was ich erlebe oder erlebt habe, sondern als das, was ein anderer, ein anderes Ich erlebt oder erlebt hat. Das vergegenwärtigte Erlebte ist in dieser Vergegenwärtigungsmodifikation als nicht eigentlich, nicht selbst erlebt und erlebbar bewusst. Und was als nicht eigentlich, nicht selbst erlebt bewusst ist, ist als nicht original erlebt (jetzt nicht original erlebt oder nicht original erlebt gewesen oder nicht original erlebbar) bewusst. Das Kriterium des Eigenen ist letztlich die Originalität des Erlebtseins. Das, woran ich mich jeweils erinnere und faktisch erinnern kann, der Umfang der Ich-Einheit, ist einerseits nur ein kleiner Teil dessen, was ich getan und sonst wie erlebt habe, und ist andererseits von Entfremdungen und Illusionen durchsetzt. Es ist eine tendenziöse Auswahl, die durch meine gegenwärtige Situation und meine gegenwärtigen Erwartungen und Interessen motiviert wird. Ich erinnere mich an mein vergangenes Erleben und Tun auch immer «durch die geistigen Augen» und Mitteilungen anderer, vom
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Zweite Studie: Bewusstseinseinheit und personale Identität
vergegenwärtigten Gesichtspunkt anderer aus. Ich kann mich in meinen Erinnerungen täuschen, durch Gedächtnisschwäche, Vermengungen, aber auch aufgrund meiner Eitelkeit, meiner Ambitionen, mich zu rechtfertigen oder ein konsequentes Leben vorzuweisen etc., sodass das, woran ich mich als an mein Leben erinnere und faktisch erinnern kann, eher ein imaginäres Gebilde als mein wirkliches vergangenes Leben ist, wenn ich auch in einzelnen Erinnerungen nicht zweifeln kann, dass es so geschehen ist, wie ich mich erinnere, ihre Wahrheit also ausser Frage steht. Aber ich kann solche Erinnerungen auch verdrängen. Auch kann ich zweifeln, ob ich das, woran ich mich zu erinnern glaube, wirklich original selbst erlebt habe oder nicht (siehe oben, erste Studie). Es könnte auch sein, dass ich mir in wechselnden Situationen und Interessen gänzlich verschiedene vorausblickende Lebensprojekte und vergegenwärtigend zurückblickend diesen Projekten entsprechende Autobiografien konstruiere oder gar gleichzeitig einander widersprechende eigene Lebenszusammenhänge vergegenwärtige und in ihnen entsprechend verschiedene einander widersprechende eigene habituelle Personen mit sich widersprechenden Überzeugungen und vorgenommenen Aufgaben. Auch hier ist das Kriterium dafür, was ich wirklich tat und erlebte, das, was original erlebt und durchlebt war. Nur als «reine Erinnerung» (souvenir pur) Bergsons oder, wie Locke in seinem Essay concerning Human Understanding wiederholt schreibt, nur am «Great Day [am Tag des Jüngsten Gerichtes] wherein the secrets of all hearts shall be laid open» (27. Kapitel, §§ 22 und 26) könnten alle meine Erinnerungen als Mass dessen dienen, was ich tat und war, da dann alles original erlebt Gewesene in voller Klarheit erinnert würde. Sidney Shoemaker hat in seinem Aufsatz «Persons and their pasts» (1970)29 und in seinem Buch Personal Identity (1984, S. 86) die Idee von Quasi-Erinnerungen dargestellt, die sich dadurch und nur dadurch von gewöhnlichen Erinnerungen unterscheiden, dass die sich quasi-erinnernde Person nicht notwendig dieselbe sein muss wie diejenige, welche die quasi-erinnerten Ereignisse erlebte, also nicht notwendig eine personale Identität vorhanden wäre. In einer Quasi-Erinnerung würde ich das quasi-erinnerte
Neu veröffentlicht in Identity, Cause and Mind, 1984, S. 19–48; siehe besonders S. 24 f.
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Ereignis zwar «von innen» (from the inside) vergegenwärtigen, aber die Person, welche dieses Ereignis erlebt hat, wäre noch unbestimmt, «irgendjemand». Sie wäre nur eventuell ich selbst, nämlich unter gewissen faktischen Bedingungen physiologisch-kausaler Art. Fehlidentifikation wäre möglich. Shoemaker führt diesen «erweiterten» Erinnerungsbegriff vor allem darum ein, um die personale Identität mithilfe eines Erinnerungsbegriffs definieren zu können, der diese Identität nicht schon voraussetzt. Er behauptet nicht, dass wir solche Quasi-Erinnerungen haben, sondern sagt, dass wir sie faktisch nicht haben, hält sie aber für möglich, bzw. er betrachtet die personale Identität in unserer faktischen Erinnerung an Handlungen «von innen» als nicht logisch notwendig. Aufgrund der vorangegangenen Überlegungen möchte ich dazu bemerken, dass Erinnerungen an Handlungen und Situationen «von innen» auch Erinnerungen an fremde Handlungen und Situationen sein können, da ich diese auch von einem fremden Gesichtspunkt und fremden Interessenstandpunkt aus erinnern kann, indem ich mich auf den Gesichtspunkt und Interessenstandpunkt eines anderen vergegenwärtigend versetze. Erinnerungen an Ereignisse «von innen» enthalten also, wie Shoemaker schreibt, keine notwendige Ich-Identität, ja noch mehr, sie enthalten nicht einmal faktisch eine Ich-Identität. Aber Erinnerungen an original erlebt Gewesenes (eigentlich Erlebtes) sind notwendig Erinnerungen an eigenes Erlebtes. Natürlich kann ich mich, wenn ich mich unklar, wenig anschaulich an eigentlich Erlebtes erinnere, täuschen und kann auch zweifeln, ob ich es erlebt habe oder nicht. Das steht hier nicht infrage. Aber wenn ich mich an Situationen und Tätigkeiten als eigentlich erlebte erinnere, sind sie notwendig auch als eigene erinnert. Man könnte sagen: Ich habe eine «Ich-Synthese» vollzogen. Doch bin ich mir keiner solchen Synthese bewusst, und es gibt sie auch nicht. Denn sie würde drei verschiedene Ich voraussetzen: erstens das Ich, das jetzt die Synthese vollzieht; zweitens das vergegenwärtigte Ich, welches zum Beispiel im Mich-Erinnern an meine Vergangenheit das oder jenes erlebt oder getan hat; drittens das Ich, das jetzt sinnlich etwas wahrnimmt, was Fundament des Sich-Erinnerns an etwas Vergangenes ist. Aber ich bin mir nur eines Ich bewusst, nie deren drei, wenn nicht zwei davon andere Ich sind, welche nicht Ich, sondern eben andere Ich sind.
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Zweite Studie: Bewusstseinseinheit und personale Identität
Ich, der ich mich hier und jetzt erinnere, habe das getan oder erlebt. Und wenn ich mich klar (anschaulich) an eigenes Erlebtes erinnere, kann ich auch nicht zweifeln, ob ich es erlebt habe oder nicht. Das erinnernde Vergegenwärtigen von eigentlich Erlebtem (original erlebt Gewesenem) enthält notwendig die Ich-Einheit. Sich-Erinnern an eigentlich Erlebtes (original erlebt Gewesenes) ist zwar nicht tautologisch dasselbe wie Erinnern an eigenes Erlebtes, zwischen ihnen besteht kein Verhältnis «trivialer Analytizität», denn eigentlich Erlebtes ist nicht als eigenes Erlebtes definiert, sondern im Sich-Erinnern an eigenes Erlebtes kommt zum Bewusstsein des eigentlich Erlebten die subjektive Ich-Einheit als ein anderer Bewusstseinsgehalt hinzu. Doch ist das vergegenwärtigende Bewusstsein des eigentlich erlebt Gewesenen der ausreichende Grund der Ich-Einheit. Logisch ausgedrückt würde Kant sagen: Es handelt sich nicht um ein analytisches Urteil, sondern um ein synthetisches Urteil a priori. Das Bewusstsein des eigentlich Erlebten könnte sich der Ich-Einheit verweigern, d. h. eigentlich Erlebtes nicht als eigenes Erlebtes anerkennen, und zwar nur dadurch, dass dieses Bewusstsein verdeckt oder verdrängt würde. Aber, und hier möchte ich Shoemaker zustimmen, die Ich-Einheit ist nicht notwendig eine Identität im Sinne des objektiven, gegenständlichen, logischen Identitätsbegriffs, d. h. einer äquivalenten (transitiven, symmetrischen, reflexiven) Relation (Relation eins zu eins). Die subjektive Ich-Struktur ist nicht notwendig eine Identität in diesem Sinne, denn mein eigenes Leben und Tun könnte sich spalten. Das ist das Problem, das bei Shoemaker als Motiv mitspielt, das Gedankenexperiment der fission von David Wiggins. Aber auch als gespaltenes wäre mein eigenes Leben und Tun original durchlebt und in seinem verschiedenen Sich-Vergegenwärtigen von etwas (Sich-Erinnern an etwas, Voraussehen von etwas, Vergegenwärtigen von verschiedenen Möglichkeiten) in der Ich-Einheit als eigenes anerkannt. Offenbar lässt sich die Ich-Einheit, verstanden als eine rein subjektive Einheit, nicht dem allgemeinen logischen (objektiven) Identitätsbegriff unterordnen. Aufgrund des Voranstehenden können wir als Ergebnis dieses sechsten Kapitels festhalten, was zu dem am Ende des zweiten Kapitels festgehaltenen nicht schlecht passt. Während wir dort zum Gedanken kamen, dass das original Erlebte zwar ein Unterscheidungsprinzip zwischen Eigenem und Fremdem und insofern ein Einheitsprinzip des Bewusstseins darstellt, jedoch keinen internen Zusammenhang (Relation) der eigenen Erlebnisse ausmacht,
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können wir nun an dieser Stelle als Ergebnis festhalten, dass weder das subjektive System der leiblichen Selbstbewegung im sinnlichen Wahrnehmungsbewusstsein noch die Ich-Einheit im vergegenwärtigenden Bewusstsein von etwas begründet, was eigene und was nicht eigene Erlebnisse sind.
7. Kapitel. Schluss: Unterscheidung zwischen zwei verschiedenartigen Prinzipien der Bewusstseinseinheit und der personalen Identität: einerseits ein Zusammenhang von Erlebnissen, der ein «mehr oder weniger» erlaubt, andererseits der Charakter des Erlebtseins im Urmodus (Original), der entweder vorhanden ist oder nicht, bei dem ein «alles oder nichts» besteht Wir haben also zwei ganz verschiedenartige Prinzipien der Bewusstseinseinheit oder auch der Ich-Einheit. Einerseits haben wir als Prinzip der Bewusstseinseinheit eine Relation zwischen, einen Zusammenhang von Erlebnissen, sei es als subjektiv-leibliches System des sinnlichen Wahrnehmens von Gegenwärtigem (wobei ich auf dieser bloss sinnlichen Ebene das Wort ich noch nicht gebrauchen möchte, da das Ich-Bewusstsein erst in Vergegenwärtigungen auftritt), sei es als Ich-Form im Vergegenwärtigen von etwas. Andererseits haben wir als Prinzip der Bewusstseinseinheit den Charakter des Erlebtseins im Urmodus (Original). Zusammenhänge, Relationen erlauben ein «mehr oder weniger»; der Charakter des original Erlebtseins ist entweder vorhanden oder nicht, hier besteht ein «alles oder nichts». Was wir in philosophischen Diskussionen unter «ich» und «meinen Erlebnissen» verstehen, wird wohl aus beiden diesen Quellen genährt. Ich-Zusammenhänge können sich auflösen, seien es simultane (synchrone) Erlebnisse, seien es sukzessive (diachrone) Erlebnisse. Was ich letzte Nacht im Traum erlebte, braucht in keinem bewussten Zusammenhang mit meiner jetzt erlebten wachen Situation zu stehen, ich kann mich vielleicht, ja meistens, überhaupt nicht mehr daran erinnern. Dasselbe gilt von vielem, was ich früher erlebte. Zudem können sich meine Interessen, Überzeugungen, Aufgabenstellungen und alles, was meine Persönlichkeit ausmacht, ändern: Spätere solche Habitualitäten können frühere ablösen und verdrängen.
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Zweite Studie: Bewusstseinseinheit und personale Identität
Eine Person kann sich plötzlich «bekehren» und damit zu einer anderen Person werden. Mein Ich-Zusammenhang ist ein schwankendes, unscharfes Bild. Der Bewusstseinszusammenhang meiner aktuellen Erlebnisse hat schwache Stellen, er könnte sich in verschiedener Weise auflösen, sodass ich wie in meiner Geschichte so auch in meiner Gegenwart eine Vielheit wäre. In diesem Sinn könnte ich mehrere Personen sein: die jetzige, und mehrere aufeinanderfolgende vergangene, aber auch gleichzeitig eine uneinheitliche, ein in mehrere Personen zerrissenes Ich. Doch die Auflösung dieser Zusammenhänge, dieser Relationen, auch der Identität der Person, bedeutet keine Verwischung des Unterschiedes zwischen dem, was original erlebt ist, erlebt war und erlebt sein kann einerseits, und anderseits dem, was es nicht ist, nicht war und nicht sein kann. Das original Erlebte begründet den Unterschied zwischen dem Eigenen und dem Fremden, noch abgesehen von allen faktischen Verknüpfungen und ihren Auflösungen. Man kann es daher als das unterscheidende Prinzip der IchEinheit bezeichnen, während das relationale Prinzip jeweils verschiedenartige Einheiten (Zusammenhänge) im Ich-Bewusstsein herstellt. Diesen Unterschied zu bemerken, scheint mir in der heutigen «analytischen» Diskussion um die personale Identität wichtig. Denn, wie besonders deutlich etwa Derek Parfits Überlegungen zur personalen Identität zeigen, die Ablehnung der absoluten Bewusstseins- oder Ich-Einheit aufgrund der Relativität der faktischen Bewusstseinszusammenhänge hat auch dazu geführt, den Unterschied zwischen dem, was ich erlebt und nicht erlebt habe, aufzuweichen und schliesslich verschwimmen zu lassen, und somit auch den Unterschied zwischen dem, was ich getan und nicht getan habe, und auch zwischen dem, was ich erleben und nicht erleben werde. So spricht Parfit etwa in Bezug auf die eigene Vergangenheit von einer ganzen Reihe von selfs – my past self, one of my past selfs, an ancestral self –, die graduell ins not my self übergehen und für deren Taten meine Verantwortung allmählich abnimmt, wie andererseits die für die Zukunft eingegangenen Verpflichtungen und Versprechen je nach meinen faktischen psychologischen Zusammenhängen ihr Gewicht variieren: «Die Unterscheidung zwischen verschiedenen sukzessiven Selbst kann […] je nach dem Ausmass der psychologischen Verknüpfung getroffen werden. Da Verknüpfung eine graduelle Angelegenheit ist, können diese Unterscheidungen dem Belieben des
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Sprechers anheimgestellt werden und können je nach Kontext variieren […]. Nach meiner vorgeschlagenen Sprechweise gebrauchen wir «ich» und die anderen Pronomina nur für jene Teile unseres Lebens, mit denen wir, wenn wir sprechen, die stärksten psychologischen Verknüpfungen haben. Wenn diese Verknüpfungen spürbar abgenommen haben – wenn eine bedeutsame Veränderung des Charakters, des Lebensstiles oder der Überzeugungen und Ideale stattgefunden hat oder durch irgendeinen spürbaren Verlust des Gedächtnisses –, können wir sagen: nicht ich habe das getan, sondern ein früheres Selbst.»30
Hier scheint mir eine Verdeckung und Missachtung des einen Ich- oder Einheitsprinzips aufgrund des anderen vorzuliegen. Parfit beruft sich in seiner Sicht der personalen Identität auf Buddha.31 In den meisten Schulen des Buddhismus wird ein Ich im Sinne einer unabhängigen, unbedingten geistigen Substanz abgelehnt: Der Mensch ist ein Komplex von körperlichen und psychischen «Bündeln» (Skandha). Diese Zusammenhänge bilden sich kontinuierlich und lösen sich wieder auf. Insofern spricht Buddha für Parfit. Andererseits spricht er aber auch vehement gegen ihn. Bei einer vergangenen Tat (Karma) ist es eindeutig, ob sie meine (die eigene) war oder nicht; was ich jetzt tue, hat seine Konsequenzen für mein künftiges Leben, und es ist eindeutig, was mein künftiges Leben sein wird im Unterschied zum Leben anderer. Hier besteht ein Entweder-oder. Tatsächlich hat in der buddhistischen Philosophie das Zusammenbestehen von Karma-Lehre einerseits und der Anatman-Lehre (kein absolutes Selbst) andererseits nicht wenig Kopfzerbrechen verursacht. Dass aber gleichzeitig beide Lehren aufrechterhalten werden konnten, hat seinen Grund vielleicht darin, dass sie letztlich keinen Widerspruch bilden, sondern zwei verschiedene Ich-Prinzipien repräsentieren: Dass kein absoluter Ich-Zusammenhang besteht, bedeutet nicht, dass zwischen dem, was ich erlebe, und dem, was ich nicht erlebe bzw. was andere erleben, dass zwischen dem, was ich tue, und
30 Reasons and Persons, Oxford, New York 1985, S. 304/5; ebenso im Aufsatz über «Personal Identity» in Philosophical Review 80 (1971). Den Passus «oder durch einen spürbaren Verlust des Gedächtnisses» hat Parfit allerdings in Reasons and Persons vorsichtshalber fallen lassen. 31 Reasons and Persons, Oxford, New York 1985, § 92 und Appendix J.
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Zweite Studie: Bewusstseinseinheit und personale Identität
dem, was ich nicht tue bzw. was andere tun, kein absoluter Unterschied besteht.
Dritte Studie: Reflexion und Intersubjektivität33
1. Kapitel. Warum schreibe ich über Reflexion? Als Einleitung zu dieser dritten, abschliessenden Studie möchte ich drei Dinge hervorheben, die zu wissen für meine nachfolgenden Ausführungen nützlich sind. Zuerst möchte ich erwähnen, dass diese Studie auf einen Vortrag zurückgeht, den ich im Januar 2003, wenige Monate nach meiner Pensionierung als Professor für Philosophie an der Universität Bern, zum Abschied von meinen dortigen Kollegen, ehemaligen Schülern und Freunden gehalten habe. Ich wählte das Thema «Was ist philosophische Reflexion auf das Bewusstsein von etwas?», weil nach meiner Auffassung das Philosophieren in nichts anderem besteht als im Reflektieren auf das eigene menschliche Leben, d. h. auf das eigene sinnliche Wahrnehmen, auf das eigene Erkennen, Werten, Wollen und Handeln, z. B. bedeutet es zu fragen, was Sich-Erinnern an etwas ist (erste Studie), wie es sich mit der Einheit des Bewusstseins und der Identität der Person verhält (zweite Studie) oder was Reflexion auf das Bewusstsein von etwas ist (dritte Studie). Weiter möchte ich bemerken, dass ich mich in der Zeit, bevor ich diesen Vortrag hielt, im Zusammenhang mit Problemen der Phänomenologie der 33 Dieser Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages, den ich im Januar 2003 an der Universität Bern gehalten habe. Frau Prof. Martine Nida-Rümelin (Universität Fribourg), Herr Prof. Ullrich Melle (Universität Leuven) und Herr Prof. Emil Anghern (Universität Basel) haben dazu in Korreferaten Stellung genommen. Ich bin diesen Korreferenten zu Dank verpflichtet, besonders Frau Nida-Rümelin, denn ich habe aus ihren Einwänden viele Anregungen empfangen. Ein Teil von diesen hat in der hier vorliegenden Fassung dieser Studie Ausdruck gefunden.
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Dritte Studie: Reflexion und Intersubjektivität
Intersubjektivität, vor allem mit dem Problem des Verstehens anderer Menschen, vermehrt mit einigen wissenschaftlichen Fakten der genetischen Psychologie und der kognitiven Wissenschaften beschäftigt habe. Besonders haben mich dabei deren Feststellungen interessiert, dass Kinder normalerweise erst ungefähr mit vier bis fünf Jahren gewisse mentale Vorkommnisse bei anderen Menschen und bei sich selbst verstehen. Sie verstehen erst von diesem Alter an, dass andere und sie selbst unter gewissen Umständen sich täuschen (eine falsche Meinung haben) können, z. B. wenn sie eine Veränderung in der Umwelt nicht wahrgenommen haben, oder dass dann andere und sie selbst gewisse Dinge nicht wissen können. Erst von diesem Alter an beginnen Kinder normalerweise zu fragen und zu überlegen, wie oder warum andere und sie selbst gewisse Dinge wissen. Weiter wurde auch festgestellt, dass die Kinder erst von diesem Alter an die Perspektivität des sinnlichen Wahrnehmens von etwas und die Abhängigkeit des Wahrnehmungswissens von den verschiedenen Wahrnehmungsarten (Sehen, Hören, Tasten etc.) erkennen, z. B. erkennen, dass man die Farbe eines Dinges nicht wissen kann, wenn man es bloss getastet hat. In diesem Alter beginnen die Kinder auch zu unterscheiden zwischen dem, was ein Gegenstand ist, und dem, was er zu sein scheint. Auch vermögen Kinder erst von diesem Alter an die Meinungen anderer zu manipulieren, d. h. sie absichtlich irrezuführen, sie absichtlich etwas glauben zu machen, was nicht der Fall ist. Bei manchen Psychologen, die sich mit dieser Entwicklung von Kindern befassen, besteht die Meinung, dass die erwähnten neuen Fähigkeiten der Vier- bis Fünfjährigen innerlich zusammenhängen, dass ihnen allen ein prinzipiell neues Verständnis des Mentalen zugrunde liegt. Es wird auch versucht, diese neue Verständnisart vereinheitlichend zu charakterisieren, z. B. als Verstehen des Unterschiedes von Wirklichkeit und Repräsentation der Wirklichkeit (J. H. Flavell), als Verstehen der kausalen Ursprünge des Wissens (H. Wimmer) oder als die Fähigkeit der Metapräsentation, d. h. als die Fähigkeit, Repräsentation als solche zu repräsentieren (J. Perner). Im achten (letzten) Kapitel dieser Studie werde ich darstellen, dass ich die Fähigkeit, auf die Subjektivität der eigenen und fremden Erfahrung zu reflektieren, als dasjenige betrachte, was die soeben erwähnten neuen Fähigkeiten der Vierbis Fünfjährigen und das ihnen zugrunde liegende neue Verständnis des Mentalen ermöglicht.
1. Kapitel
Als Drittes möchte ich in diesem einleitenden Kapitel hervorheben, dass schon vor dem Reflektieren die reflektierten intentionalen Akte, z. B. die intentionalen Akte im Betrachten einer Landschaft, bewusst sein müssen, wenn diese Akte auch nicht vergegenständlicht (objektiviert) bewusst sein können. Denn wenn die intentionalen Akte nicht schon vor dem Reflektieren auf sie und damit Vergegenständlichen von ihnen ungegenständlich bewusst wären, wäre für das Reflektieren auf sie nichts vorhanden oder vorgegeben, worauf es seine Aufmerksamkeit und sein Interesse richten könnte. Das Betrachten einer Landschaft muss also schon in diesem Betrachten selbst bewusst sein, bevor es durch ein Reflektieren (einen intentionalen Akt höherer Ordnung) zum Gegenstand seines Interesses gemacht werden kann. Dieses vorreflexive Bewusstsein der intentionalen Akte ist notwendig ein unselbstständiges Bewusstsein, weil es immer nur in Einheit mit den intentionalen Akten ist, durch die etwas erscheint (z. B. eine Landschaft) oder vorgestellt wird (z. B. eine erinnerte Landschaft). Dieses vorreflexive Bewusstsein wird auch «conscience préréflexive» (Sartre), «Urbewusstsein» (Husserl) oder «Komponente der Selbstbezeugung, 自證分 zi zheng fen) (Xuanzang, ca. 600–664) genannt (siehe oben erste Studie, viertes Kapitel). Doch muss ich Folgendes ergänzen: Nicht alle intentionalen Akte, z. B. nicht alles Sehen von etwas, ist bewusst («urbewusst», «selbstbezeugt»). Z. B. ist ein Sehen von etwas innerhalb von bloss habituellen, gewohnheitsmässigen Verhaltensweisen nicht bewusst; nur aufmerksame intentionale Akte, z. B. ein aufmerksames Anschauen von etwas, sind bewusst (siehe oben das fünfte Kapitel der ersten Studie). Und deshalb können nur aufmerksame intentionale Akte reflektiert werden. Je aufmerksamer ich etwas erlebe, z. B. je aufmerksamer ich eine Landschaft betrachte, umso bewusster («urbewusster», umso besser «selbstbezeugt») ist mir dieses intentionale Erleben und umso klarer kann es werden, wenn ich nachträglich darauf reflektiere. Im Folgenden möchte ich zu vier Aspekten der Reflexion etwas sagen: Reflektieren auf das Bewusstsein von etwas ist kein inneres Wahrnehmen gegenwärtiger intentionaler Erlebnisse und in diesem Sinne keine Introspektion, und zwar aus zwei Gründen. (2. Kapitel) Reflektieren ist nur aufgrund von Vergegenwärtigen von etwas nicht Gegenwärtigem möglich. (5. Kapitel) Nicht nur eigene intentionale Erlebnisse von etwas können reflektiert werden, sondern aufgrund der vergegenwärtigenden Einfühlung in andere
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Dritte Studie: Reflexion und Intersubjektivität
erfahrende Wesen können wir auch deren intentionale Erlebnisse reflektieren. (7. Kapitel) Erst durch Reflektieren auf eigene und fremde Erlebnisse gewinnen wir die Erkenntnis, dass unser Erfahren von irgendwelchen Gegenständen subjektiv ist. Diese Erkenntnis liegt den neuen kognitiven Fähigkeiten zugrunde, die normale Kinder im Alter zwischen vier und fünf Jahren erwerben und von denen wir oben in diesem ersten Kapitel sprachen. Und durch diese Erkenntnis der Subjektivität des eigenen und fremden Erfahrens erreicht auch die Intersubjektivität eine neue Dimension. (8. Kapitel)
2. Kapitel. Reflektieren ist kein inneres Wahrnehmen gegenwärtiger intentionaler Erlebnisse und in diesem Sinne keine Introspektion. Zwei Gründe, warum Reflektieren kein inneres Wahrnehmen sein kann In der Philosophiegeschichte von Locke bis Husserl ist die Idee weit verbreitet, dass das Reflektieren auf intentionale Akte oder intentionale Erlebnisse so etwas wie ein inneres Wahrnehmen der aktuell verlaufenden intentionalen Akte oder intentionalen Erlebnisse von etwas sei: Während wir z. B. einen äusseren Gegenstand, z. B. einen Tisch, durch unsere äusseren Sinne wahrnehmen, könnten wir auch noch gleichzeitig durch einen «inneren Sinn» (durch ein «inneres Auge») dieses Wahrnehmen von etwas Äusserem, das sich «in unserem Inneren» abspielt, innerlich wahrnehmen. Ich möchte nicht infrage stellen, was ich im einleitenden ersten Kapitel schrieb, nämlich dass wir im aktuellen Vollzug eines aufmerksamen intentionalen Aktes, z. B. wenn wir einen Gegenstand im Raume vor uns aufmerksam wahrnehmen, uns dieses Wahrnehmen bewusst ist; wir können auch sagen: dass wir uns dieses Wahrnehmens bewusst oder inne sind. Aber, wie gesagt, dieses Bewusstsein oder Inne-sein ist kein eigener intentionaler Akt, z. B. kein Akt des Wahrnehmens, sondern eine Komponente, die notwendig zu einem aufmerksamen intentionalen Akt gehört, z. B. zu einem Wahrnehmen eines Gegenstandes im gegenwärtigen äusseren Raum oder auch zum Denken über einen solchen Gegenstand. Es ist analog, wie das Wahrgenommene (der wahrgenommene Gegenstand so wie er wahrgenommen ist) eines Wahrnehmens zu diesem Wahrnehmen oder das Gedachte eines Denkens zu
2. Kapitel
diesem Denken gehört. Es gibt kein Wahrnehmen ohne sein durch es Wahrgenommenes und kein Denken ohne sein durch es Gedachtes. Aber ein intentionaler Akt des Reflektierens auf einen intentionalen Akt ist nicht dasselbe wie das Bewusstsein oder das Innesein dieses Aktes, er ist nicht dasselbe wie das vorreflexive Bewusstsein Sartres, das Moment der Selbstbezeugung Xuanzangs, das Moment des Durchlebens Ingardens, das notwendig zu einem aufmerksamen intentionalen Akt gehört. a) Erster Grund, warum Reflektieren kein inneres Wahrnehmen gegenwärtiger intentionaler Akte sein kann
Wahrnehmen ist Wahrnehmen von etwas Gegenwärtigem. Wenn das Reflektieren ein inneres Wahrnehmen von etwas Gegenwärtigem aufgrund eines «inneren Sinnes» wäre, müsste es auf inneren, sinnlichen gegenwärtigen Affektionen oder auf inneren gegenwärtigen sinnlichen Daten, «sense data», beruhen. Beim äusseren Wahrnehmen gibt es die sinnlichen Daten des Hörens, des Sehens, Tastens, Riechens. Doch innerlich sinnlich wahrgenommen in einem verständlichen Sinn sind nicht intentionale Akte, wie Wahrnehmen von etwas, Denken von etwas, Sich-Erinnern an etwas, sondern z. B. Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Zahnschmerzen oder Lustempfindungen des Gaumens, sexuelle Lustempfindungen des eigenen Leibes. Innerlich wahrgenommen sind auch Juckempfindungen in der eigenen Nase oder auf der eigenen Haut, von denen man sich eventuell durch Niessen oder durch SichKratzen befreien kann; ebenso sind innerlich wahrgenommen die wechselnden Positionen der eigenen Leibesglieder beim Sich-Bewegen wie beim SichBücken oder eigenen Gehen. Alle diese inneren sinnlichen Wahrnehmungen in einem guten Sinn sind Wahrnehmungen von unserem eigenen gegenwärtigen inneren Leib; sie haben die Innerlichkeit unseres eigenen gegenwärtigen Leibes zu ihrem Gegenstand und sie beruhen auf gegenwärtigen sinnlichen Daten in unserem eigenen Leib. Aber das Reflektieren auf unser eigenes Denken, das Reflektieren auf unser Erinnern an die eigene Vergangenheit, das Reflektieren auf unser Vergegenwärtigen des Erlebens anderer Menschen und auch das Reflektieren darauf, dass wir und wie wir etwas vor uns im Raume sehen, hören oder ertasten, und das Reflektieren auf unser Vorstellen von Dingen vor uns im Raume, dieses Reflektieren ist etwas ganz anderes als
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Dritte Studie: Reflexion und Intersubjektivität
das innere sinnliche Wahrnehmen von Affektionen oder Zuständen des eigenen Leibes, die mit diesem Wahrnehmen von äusseren Dingen gleichzeitig sind. Und es beruht nicht auf innerleiblichen, gegenwärtigen sense data; es interpretiert nicht wie das innere Wahrnehmen innerleibliche Affektionen, z. B. als Zahnschmerzen oder als Gaumengenüsse. b) Zweiter Grund, warum Reflektieren kein inneres Wahrnehmen gegenwärtiger intentionaler Akte sein kann. Selbst wenn das Reflektieren ein inneres sinnliches Wahrnehmen der eigenen intentionalen Akte des Wahrnehmens von etwas, Denkens von etwas, Sich-Erinnerns von etwas, des Phantasierens von etwas usw. wäre, könnten wir nicht gleichzeitig z. B. etwas Äusseres vor uns im Raum aufmerksam wahrnehmen und auch noch dieses intentionale Wahrnehmen innerlich aufmerksam wahrnehmen
Jeder weiss aus eigenen Erfahrungen, dass so etwas nicht möglich ist. Wenn ich z. B. aufmerksam die in einem Bild an der Wand dargestellte menschliche Person betrachte, in ihren Gesichtszügen, in ihrem Blick, in ihrem Charakter, in ihrer Kleidung, kann ich nicht gleichzeitig auch noch mein eigenes Betrachten dieser dargestellten Person aufmerksam «wahrnehmen». Wenn ich dabei mein eigenes Betrachten dieser dargestellten Person gegenständlich «wahrnähme», würde ich vom Betrachten der im Bild dargestellten Person völlig abgelenkt. Sartre schrieb in einem ähnlichen Zusammenhang, dass, wenn wir eine demnächst abfahrende Strassenbahn erreichen wollen und wir gleichzeitig unsere intentionalen Akte des Sehens und Hörens der Strassenbahn, des Sie-erreichen-Wollens, des Hoffens reflektierten, wir dann sicher die Strassenbahn verfehlen würden. Denn wir würden dann nicht mehr unsere ganze Aufmerksamkeit auf das Erreichen der Strassenbahn richten; wir würden davon abgelenkt.
3. Kapitel
3. Kapitel. Ist die Frage nach dem Grund der Unmöglichkeit, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen, z. B. Wahrnehmen von etwas, und auf diesen Akt zu reflektieren, ein Problem der Aufmerksamkeit? An das soeben im vorangehenden zweiten Kapitel Geschriebene anschliessend könnte man sagen: Dass wir nicht gleichzeitig etwas wahrnehmen und auf dieses Wahrnehmen von etwas reflektieren können, ist ein Problem der Aufmerksamkeit. Wie wir nicht gleichzeitig aufmerksam auf ein wahrgenommenes Ding hier und ein Ding dort im Raum vor uns sein können, so können wir nicht gleichzeitig auf ein gesehenes Ding und auf unser Sehen dieses Dinges achten. Anstatt von Aufmerksamkeit kann man in diesem Zusammenhang auch von Interesse sprechen. «Interesse» kann nur eine Disposition meinen, aber man kann es auch im Sinne eines aktuellen Interesses an etwas verstehen. Von Aufmerksamkeit spricht man wohl meistens hinsichtlich von etwas sinnlich Wahrgenommenem, während man beim Denken eher das Wort Interesse gebraucht. Aber die Unverträglichkeit zwischen dem Vollzug eines intentionalen Aktes, z. B. des Sehens von etwas, und einem gleichzeitigen Reflektieren auf diesen intentionalen Akt, z. B. auf das Sehen von etwas, kann nicht hinreichend durch eine allgemeine Unverträglichkeit zwischen verschiedenen Richtungen der aktuellen Aufmerksamkeit oder des aktuellen Interesses charakterisiert werden. Denn im Allgemeinen besteht nur eine relative Unverträglichkeit zwischen aufmerkendem Zuwenden zu verschiedenen Gegenständen. Z. B. kann ich den vor mir liegenden marmornen Briefbeschwerer genau betrachten, seine Form, seine Farbe, die Maserung des Marmors, und mich dann davon abwendend dem chinesischen marmornen Pinselhalter (für mich jetzt Bleistifthalter) auf der anderen Seite des Schreibpultes anschauend zuwenden. Das aufmerkende Betrachten des einen Gegenstandes löst dasjenige des anderen ab, verdrängt es. Aber ich kann doch auch beide aufmerksamen sinnlichen Wahrnehmungen zur Einheit bringen, indem ich z. B. aus grösserer Distanz beide wahrgenommenen Gegenstände zusammen anschaue und sie in ihrer Grösse, Form, ihrem Material etc. aufmerksam vergleiche, und dies auch, wenn ich dabei meinen Kopf hin und her bewegen oder mich ganz hin und her wenden oder sonstwie bewegen muss.
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Dritte Studie: Reflexion und Intersubjektivität
Nicht nur beim Wahrnehmen von etwas Gegenwärtigem, sondern auch bei anderen Arten intentionaler Akte lassen sich zunächst einander verdrängende Richtungen aufmerksamen Tuns oder des Interesses zu einer Einheit bringen: Z. B. kann ich mich zunächst an diese Episode meines Lebens erinnern und dann an eine andere, und anschliessend kann ich beide erinnerten Episoden zueinander in Beziehung setzen, indem ich sie miteinander vergleiche, nach ihrem zeitlichen Verhältnis frage und zwischen der späteren und der früheren eine motivierende Beziehung feststelle. So kann ich verschiedene erinnerte Episoden meines Lebens gleichzeitig überschauen. Auch verschiedenartige intentionale Akte kann ich vereinigen, z. B. ein Wahrnehmen von etwas mir Gegenwärtigem und ein Mich-Erinnern an ein vergangenes Wahrnehmen von etwas mir damals Gegenwärtigem, indem ich z. B. ein vor mir stehendes Gebäude aufmerksam wahrnehme und mich dabei auch erinnere, wie anders es aussah, als ich es vor 20 Jahren zum letzten Mal wahrnahm. Doch kann ich dieses Gebäude nicht gleichzeitig anschaulich in seiner jetzigen Gestalt sinnlich wahrnehmen und mir in der Erinnerung anschaulich vorstellen, wie es damals aussah. Die beiden Anschauungen verdecken oder überdecken einander teilweise. Wenn sich an diesem Gebäude nichts verändert hätte und wenn ich mich an es sehr anschaulich erinnere, kämen die beiden Anschauungen in meiner Wahrnehmung und in meiner Erinnerung vollständig zur Deckung, d. h. ich würde sehen, dass sich an ihm nichts verändert hat.
4. Kapitel. Ist die Frage nach dem Grund der Unmöglichkeit, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen, z. B. Wahrnehmen von etwas, und auf diesen Akt zu reflektieren, ein Problem verschiedener Ebenen oder Dimensionen unseres gegenständlichen Verstehens? Ich möchte in diesem Kapitel folgende drei Fragen stellen: a) Ist die Frage nach dem Grund der Unmöglichkeit, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren analog zum Verhältnis bei der Tatsache, dass wir uns nicht gleichzeitig für ein sprachliches Ausdrücken von etwas und für die Bedeutung dieses Ausdrückens interessieren können? b) Ist die Frage nach dem Grund, warum es nicht möglich ist, gleichzeitig einen
4. Kapitel
intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren analog zum Verhältnis bei der Tatsache, dass wir uns nicht gleichzeitig für die physischen Eigenschaften eines rechteckigen Ölgemäldes auf Leinwand, das an einer meiner Zimmerwände hängt, und für das in diesem Bild Dargestellte interessieren können? c) Ist die Frage nach dem Grund, warum es nicht möglich ist, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren analog zum Verhältnis bei der Tatsache, dass wir uns nicht gleichzeitig dem Anschauen der vom Maler im Bild dargestellten Landschaft widmen und uns aufmerksam an dieselbe Landschaft erinnern können, wie wir sie vor einigen Jahren selbst gesehen haben? a) Ist die Frage nach dem Grund, warum es nicht möglich ist, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren analog zum Verhältnis bei der Tatsache, dass wir uns nicht gleichzeitig für einen sprachlichen Ausdruck und für die Bedeutung dieses Ausdrucks interessieren können?
Wenn wir verstehen wollen, was uns jemand sagt, wenn unser Interesse also auf die nicht sinnlich wahrnehmbare Bedeutung seiner Sätze gerichtet ist, dürfen wir unsere Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf die Besonderheiten seiner hörbaren stimmlichen und sichtbaren Ausdrucksweise, seine besondere Gestik, seinen lispelnden S-Laut, evtl. auf seine auffallenden «Ticks» richten, sonst können wir mit dem Gedankengang seiner Rede nicht mithalten, wir verstehen nicht, was er uns sagen will. Oder wenn unsere Aufmerksamkeit ganz von seinem Gedankengang absorbiert ist, überhören und übersehen wir jene Besonderheiten seiner Ausdrucksweise, obschon wir sie sehen und hören. Wir haben es hier mit zwei Ebenen zu tun: einerseits mit der Ebene oder Dimension des sinnlich wahrnehmbaren Ausdrucks, andererseits mit der Ebene oder Dimension der nicht sinnlich wahrnehmbaren, sondern denkend zu verstehenden Bedeutung des Ausdrucks. Ist die Frage, warum es unmöglich ist, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren ein Problem verschiedener Ebenen (Dimensionen), auf die wir uns in unserem Interesse nicht gleichzeitig richten können?
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b) Ist die Frage nach dem Grund, warum es nicht möglich ist, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren, analog zur Tatsache, dass ich mich nicht gleichzeitig interessieren kann für die physischen Eigenschaften eines Bildes, beispielsweise für die Eigenschaften der Leinwand eines Ölbildes, des Holzgestells, auf das die Leinwand gespannt ist usw. einerseits und andererseits für das in diesem Bild Dargestellte?
Während wir uns in das auf einem Bild vom Künstler Dargestellte anschauend vertiefen, z. B. in das dargestellte Lauterbrunnental mit den es überragenden Breithorn und Tschingelhorn und dem zwischen diesen Berghörnern liegenden Pass der Wetterlücke, so wie der Künstler dieses Tal in der Morgensonne gemalt hat, währenddessen können wir nicht gleichzeitig auf die physischen Eigenschaften des Materials des rechteckigen Bildes an der Wand achten, wie die Dicke, Sprödigkeit, Unebenheit der aufgetragenen Ölfarben, Eigenheiten der sichtbaren Pinselstriche, der Leinwand oder des Holzgerüstes, auf das diese gespannt ist, und auf die Art und Weise, wie diese darauf gespannt ist. Das Bildmaterial wird sinnlich wahrgenommen; doch die im Bild dargestellte Landschaft wird nicht einfach so wie das Bildmaterial sinnlich wahrgenommen, sondern ich muss, um die dargestellte Landschaft zu «sehen», das sinnlich Wahrgenommene phantasierend interpretieren. Die dargestellte Landschaft ist nicht im selben Raum, in dem sich das Bild an der Wand befindet. Das sinnlich wahrgenommene Bild an der Wand und das in ihm vom Künstler Dargestellte gehören also zwei verschiedenen Ebenen (Dimensionen) unseres Auffassens an, auf die wir uns in unserem Interesse nicht gleichzeitig richten können. Ist dies analog wie beim Problem, warum es nicht möglich ist, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren?
4. Kapitel
c) Ist die Frage nach dem Grund, warum es nicht möglich ist, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren analog zur Tatsache, dass wir uns nicht gleichzeitig dem Anschauen der vom Maler im Bild dargestellten Frühlingslandschaft widmen und uns aufmerksam an dieselbe Landschaft zur selben Jahreszeit erinnern können, so wie wir sie vor einigen Jahren selbst gesehen haben, als wir uns selbst im Frühling oder in einer anderen Jahreszeit in ihr aufhielten, so wie wir sie selbst auch später wieder sehen können und so wie der Künstler sie gesehen hat, als er sich in ihr aufgehalten hat, als er sein Ölbild malte oder einen Entwurf dafür skizzierte?
Die phantasierend gesehene Landschaft im Bild ist visuell sehr klein, ihre Grösse hängt von der Grösse des Bildes ab und ist deshalb nicht dasselbe wie die wirkliche Landschaft; im Beispiel nicht dasselbe wie das wirkliche, sehr grosse Lauterbrunnental, das der Künstler sinnlich sah, als er es vor seiner Staffelei sitzend gemalt oder vielleicht auf einem Stein sitzend kurz skizziert hat, um es später in Ruhe zu Hause in allen Nuancen darstellen zu können. Die gesehene kleine Landschaft im Bild ist auch nicht dasselbe wie die Landschaft (das Lauterbrunnental), das ich sinnlich wahrnehmen kann, wenn ich in es hineingehe und in das ich, wie ich mich anschaulich erinnere, früher hineingegangen bin. Die phantasierend gesehene Landschaft im Bild und die wirkliche Landschaft, die der Künstler wahrgenommen hat und die auch ich wahrnehmen kann, gehören also zwei verschiedenen Ebenen (Dimensionen) unseres Auffassens an, auf die wir uns in unserem Interesse nicht gleichzeitig richten können. Ist dies analog wie beim Problem, warum es nicht möglich ist, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren? d) Antwort auf die in den drei obigen Abschnitten a), b) und c) gestellten Fragen
Man könnte vielleicht das Gemeinsame dieser in a) bis c) dargestellten Interessenkonflikte darin sehen, dass es sich immer um den Konflikt zwischen dem Interesse am Repräsentierenden: dem intentionalen Erlebnis von etwas, dem sprachlichen Ausdruck, dem physischen Bild, dem vom Maler male-
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Dritte Studie: Reflexion und Intersubjektivität
risch Dargestellten einerseits, und andererseits dem Interesse am Repräsentierten handelt; entsprechend den obigen vier Repräsentierenden: dem Interesse am repräsentierten intentionalen Gegenstand des intentionalen Erlebnisses, dem Interesse an der repräsentierten Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks, dem vom Maler im Bild repräsentierten Dargestellten, dem Interesse an dem vom Maler gesehenen Sujet seiner malerischen Darstellung (z. B. am wirklichen Lauterbrunnental). Und man könnte als allgemeines Gesetz formulieren wollen, dass wir nicht gleichzeitig unser Interesse dem Repräsentierenden und dem Repräsentierten zuwenden und daher auch nicht gleichzeitig einen intentionalen Akt vollziehen können (z. B. ein Wahrnehmen eines wahrgenommenen Gegenstands, ein Denken von etwas Gedachtem etc.) und gleichzeitig auf diesen Akt reflektieren, d. h. ihn zu unserem Gegenstand des Interesses machen können. Eine solche These würde gut mit gewissen Vorstellungen der cognitive sciences über mental representations übereinstimmen, als welche erkennende intentionale Akte gekennzeichnet werden. Aber bei genauerer Überlegung ist diese Analogisierung zwischen der Unmöglichkeit, gleichzeitig einen intentionalen Akt zu vollziehen und auf diesen Akt zu reflektieren einerseits, und andererseits dem Konflikt gleichzeitiger Interessen an den oben erörterten verschiedenen Ebenen oder Dimensionen unseres gegenständlichen Verstehens nicht richtig. Denn z. B. die auditiven oder visuellen Ausdrücke des Sprechenden bleiben im Interesse an der Bedeutung dieser sprachlichen Ausdrücke immer Gegenstände der auditiven und visuellen Wahrnehmung, wenn auch in ihrer Bedeutung verstanden und daher nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das physische Bild ist im Interesse am bildlich in ihm malerisch Dargestellten immer Gegenstand des Sehens, auch wenn seine auf ihm aufgetragenen physischen Farben im phantasierenden Sehen des im Bild Dargestellten interpretiert werden und nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Das im Bild vom Künstler mit seinem Pinsel und seinen Farben Dargestellte bleibt Gegenstand des phantasierenden Sehens, auch wenn wir uns während dieses phantasierenden Sehens an das wirkliche Lauterbrunnental erinnern, in dem wir vor einiger Zeit gewandert sind. Doch wenn wir auf intentionale Akte reflektieren, d. h. sie zum Gegenstand unseres reflektierenden Denkens machen, können die intentionalen Gegenstände unseres Reflektierens nicht mehr in derjenigen Weise gegenständlich
5. Kapitel
sein, wie sie es vor dem Reflektieren auf sie waren. Im Reflektieren, im «uns Zurückbiegen» auf die intentionalen Akte von etwas kommen wir in einen völlig neuartigen Gegenstandsbereich.
5. Kapitel. Reflexion auf intentionale Erlebnisse ist nur aufgrund von Vergegenwärtigungen möglich, z. B. aufgrund von Erinnerungen an Vergangenes, Vorstellen von Künftigem, Phantasieren von Möglichem, Einfühlen in andere erlebende Wesen Dass Reflexion nur aufgrund von Vergegenwärtigungen möglich ist, kann natürlich nicht heissen, dass wir nur auf unser Erinnern, Phantasieren etc. und nicht auf unser Wahrnehmen reflektieren können. Vielmehr können wir ebenso wenig auf unser aktuelles Erinnern, Phantasieren etc. reflektieren, wie es unmöglich ist, das aktuelle Wahrnehmen zum Gegenstand der Reflexion zu haben, und natürlich können wir auch auf unser Wahrnehmen reflektieren, nur nicht auf unser aktuelles. Aber wir können nur im Uns-Erinnern, Phantasieren etc. darauf reflektieren. Wenn wir uns z. B. an etwas erinnern, was wir gestern mit einer gewissen Aufmerksamkeit wahrgenommen oder verstanden haben, z. B. an einen gestrigen Besuch von Freunden, an gewisse Aussagen von ihnen, an die zusammen gegessenen Speisen und den getrunkenen Wein, dann erinnern wir uns an diese Freunde, an ihre Aussagen, an die gegessenen guten Speisen und den köstlichen Wein. Aber wir sind uns in diesem Uns-Erinnern auch implizit bewusst, dass wir die Aussagen dieser Personen gehört und verstanden und die guten Speisen und den köstlichen Wein geniessend gegessen und getrunken haben. Im Allgemeinen sind wir in solchem Uns-Erinnern nicht an unseren vergangenen intentionalen Erlebnissen des Sehens, Hörens, Verstehens, Geniessens interessiert, nicht solches ist im Allgemeinen Gegenstand unseres Uns-Erinnerns. Doch sind in diesem Uns-Erinnern diese intentionalen Erlebnisse ungegenständlich (unreflektiert) bewusst, sie sind im Uns-Erinnern impliziert, und wir können sie zum Gegenstand unseres Interessens machen, d. h. auf sie reflektieren. Nach diesem Modell scheint mir das Reflektieren auf intentionale Erlebnisse von etwas zustande zu kommen. Auch wenn wir uns eine künftige oder eine mögliche Situation vergegenwärtigend vorstellen oder phantasieren, ist in unserem
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Dritte Studie: Reflexion und Intersubjektivität
aktuellen Vorstellen oder Phantasieren intentionales Erleben und Tun enthalten (ungegenständlich bewusst), nämlich unser künftiges oder mögliches Sehen, Hören, Lieben oder Verabscheuen etc. der vorgestellten künftigen Situation, unser Bedenken, Abwägen, Bewerten der vergegenwärtigten möglichen Situation, unser Handeln in ihr. Es sind diese nicht aktuellen intentionalen Akte oder intentionalen Erlebnisse, auf die wir reflektieren können. Ich habe soeben hervorgehoben, dass Reflektieren auf intentionale Erlebnisse nur aufgrund von Vergegenwärtigen von etwas möglich ist. Das Reflektieren («Zurückbiegen») auf sie ist auch selbst ein Vergegenwärtigen, hat aber gegenüber dem geraden, direkten Vergegenwärtigen irgendeiner Situation (vergangenen, möglichen, künftigen, bloss phantasierten etc.) zwei ganz besondere Eigenschaften: Erstens: Als eine Rückwendung oder Rückbiegung (was Reflexion als ein aus dem Lateinischen stammendes Wort bedeutet) auf vor der Reflexion implizit und ungegenständlich vergegenwärtigte intentionale Erlebnisse von etwas (z. B. als Rückwendung auf mein vergangenes Sehen von etwas, Hören von etwas, Verstehen von etwas etc.) ist das Reflektieren gegenüber dem nichtreflektierenden (geraden, direkten) Vergegenwärtigen notwendigerweise sekundär, es kommt gegenüber diesem zeitlich im Nachhinein, es ist gegenüber diesem ein zweiter intentionaler Akt. Ich kann z. B. in meinem Mich-Erinnern nur auf mein vergangenes Wahrnehmen einer Situation reflektieren (mich «zurückbiegen»), wenn ich mich zuvor an diese in meiner Vergangenheit wahrgenommene Situation geradehin, direkt erinnert habe. Dieses gerade, direkte Mich-Erinnern ist gegenüber dem reflektierenden Erinnern zeitlich im Vorhinein, es ist primär, es ist der erste intentionale Akt. Diese der erinnerten wahrgenommenen Situation zugewandte Einstellung der Erinnerung wie überhaupt alle der primären Gegenstandswelt zugewandte Einstellung kann man auch als die naive Einstellung bezeichnen. Zweitens: Das Reflektieren auf die intentionalen Erlebnisse und Akte ist gegenüber aller Hinwendung auf die primäre Gegenstandwelt ein Unterbruch, ein Innehalten, eine Umdrehung («Revolution»). Unser Reflektieren auf die intentionalen Erlebnisse und Akte unterbricht und durchbricht unser Wahrnehmen, Denken, Vorausplanen von etwas, Uns-Erinnern an etwas und Tun von etwas, das natürlicherweise intentional geradehin, naiv auf die Personen und Dinge in der Welt gerichtet ist. In diesem Sinne konnte JeanJacques Rousseau in seinem Discours sur l’origine et le fondement de l’égalité
5. Kapitel
parmi les hommes aus dem Jahre 1775 schreiben: «La reflexion est contre nature.» Und in diesem Sinne schrieb auch Heinrich von Kleist (1777–1811) in seiner Schrift Über das Marionettentheater, dass die Seele während ihres Umganges mit den Dingen nicht überlegen (reflektieren) dürfe, da sie sich sonst «in irgendeinem anderen Punkte befindet als in dem Schwerpunkt ihrer Bewegung [Tätigkeit]». Auch Husserl bemerkte im § 77 seiner Ideen I (Husserliana III): «Die Freiheit des Gedankenlaufs leidet durch die Reflexion.» Genetisch gesprochen gewinnen wir Menschen im Alter von vier bis fünf Jahren durch Reflexion Einsicht in die Subjektivität unseres Erfahrens und Denkens. Darauf werde ich im achten, letzten Kapitel («Erst durch Reflexion auf eigene und fremde Erlebnisse gewinnen wir die Erkenntnis, dass unser Erfahren von Gegenständen subjektiv ist») dieser dritten Studie genauer eingehen. Charlotte Bühler schrieb in ihrem Werk Kindheit und Jugend von 1928, dass wir im Alter von vier bis fünf Jahren ins «Alter der Vernunft» kommen, aber dadurch die «goldene» kindliche Naivität und Unbefangenheit verlieren. Ich denke, dass wir schon «ins Alter der Vernunft kommen», wenn wir fähig werden, zu vergegenwärtigen, d. h. uns an eigenes Vergangenes zu erinnern oder an für uns Künftiges zu denken und darüber zu sprechen, d. h. ungefähr mit zwei bis drei Jahren. Aber erst mit vier bis fünf Jahren kommen wir ins Alter der reflektierenden Vernunft und verlieren dadurch die «goldene» kindliche Naivität und Unbefangenheit. Nach dem Erreichen des «Alters der reflektierenden Vernunft» können die Kinder mit sechs Jahren auch in die Schule geschickt werden, und damit beginnt das harte, disziplinierte Leben, in dem man reflektierend mit seiner eigenen Subjektivität in Auseinandersetzung mit der Subjektivität seiner Mitmenschen umgehen muss. Ich betonte unter dem obigen zweiten Punkt nur, was ich am Ende des vorangehenden vierten Kapitels schrieb gegen die Analogisierung zwischen der Unmöglichkeit, unser Interesse zugleich auf die gegenständliche Welt und unser subjektives Erfahren dieser Welt (die intentionalen Erlebnisse dieser Welt) zu richten, und der Unmöglichkeit, unser Interesse zugleich auf das Repräsentierende, z. B. auf einen sprachlichen Ausdruck, und auf das von diesem Repräsentierte, die Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks, zu richten, oder auf das physische Bild an der Wand und auf das auf diesem Dargestellte. Ich schrieb: Im Reflektieren, im «Sich-Zurückbiegen» auf die intentionalen Akte kommen wir in einen völlig neuartigen Gegenstandsbereich,
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was beim Übergang vom Repräsentierenden zum Repräsentierten im Sinne von Ausdruck und Bedeutung usw. oder umgekehrt nicht der Fall ist. Ich schrieb oben in diesem Kapitel, dass Reflektieren nur aufgrund von Vergegenwärtigen möglich ist. Reflektieren wir aber tatsächlich nicht doch z. B. auf unser aktuelles, gegenwärtiges Wahrnehmen? Ich will jetzt auf mein jetziges Wahrnehmen dieses Schreibtisches reflektieren, an dem ich sitze, z. B. darauf, wie mir im Sehen seine objektiv homogene helle Holzfarbe in verschiedenen Lichtabschattungen gegeben ist, wie seine rechteckige, meinem Gesichtspunkt nahe Oberfläche erst im darüber laufenden intentionalen Akt des Sehens vollständig erscheint, und zwar nicht in rechteckigen visuellen Erscheinungsformen, sondern in spitz- und stumpfwinkligen mit einem jeweils unscharfen Rand. In meinem Sehen ist die ungesehene Hinter- und Unterseite des Tisches auch mit gemeint, aber nicht anschaulich vorgestellt usw. War das nicht ein Reflektieren auf ein im Reflektieren aktuelles visuelles Wahrnehmen? In einem Reflektieren zweiter Stufe, d. h. indem ich auf das Reflektieren des Wahrnehmens des Tisches reflektiere, merke ich, dass, während ich auf das visuelle Wahrnehmen des Tisches reflektierte, ich den Tisch gar nicht mehr als objektives unverändertes Ding mit seinen unveränderten physischen Eigenschaften wahrnahm, sondern eingestellt war auf jene subjektiven Abläufe der Wahrnehmungserlebnisse vom Tisch und seiner darin kontinuierlich hervortretenden und sich verändernden subjektiven Erscheinungsweisen. Nur indem ich im Nachhinein auf die soeben abgelaufenen visuellen Wahrnehmungen des Tisches erinnernd (vergegenwärtigend) zurückging, konnte ich auf sie reflektieren. Dabei können die reflektierten intentionalen visuellen Erlebnisse und die in ihnen enthaltenen visuellen Erscheinungsweisen gerade erst abgelaufen sein, sodass wir sie in einem alltäglichen, ungenauen Sinn als noch gegenwärtig bezeichnen. Aber entscheidend sind hier nicht die mehr oder weniger grossen Zeitdistanzen des Vergangenen, sondern die verschiedenen Arten des intentionalen Bewusstseins von etwas. Das sich Zurückwenden der Reflexion setzt ein Innehalten in einem Tätigkeitsverlauf voraus. Es ist ein nachträgliches «sich Zurückbiegen» auf diesen nun nicht mehr aktuellen intentionalen Erlebnisverlauf, den ich mir vergegenwärtigen muss, um auf ihn reflektieren zu können. Wir können auch abwechselnd die Dinge in der Welt (z. B. den Tisch, an dem ich sitze) geradehin wahrnehmen und dann auf die intentionalen Erlebnis- und Erscheinungsabläufe der Dinge reflektieren und umgekehrt, sodass wir alles zusam-
6. Kapitel
men, zur gleichen Zeit, zu tun vermeinen. Aber, wenn wir darauf reflektieren, erkennen wir, dass jenes Wahrnehmen und jenes Reflektieren auf dieses Wahrnehmen nicht gleichzeitig (nicht «synchron»), nicht in derselben Aktualität, sein können. Das Reflektieren kann den reflektierten intentionalen Akten von etwas nur zeitlich nachfolgen und muss sie, um sie reflektieren zu können, vergegenwärtigen. Ein erlebendes Wesen, das nur Gegenwärtiges wahrzunehmen und nicht Abwesendes zu vergegenwärtigen vermag (nicht sich zu erinnern, zu phantasieren, sich etwas als künftig oder als möglich vorzustellen vermag), kann auch nicht auf seine intentionalen Bewusstseinserlebnisse reflektieren. Ich kann leider meinem lieben Hund das Philosophieren nicht beibringen, auch wenn ich ihn jetzt wirklich besässe und mir nicht bloss phantasierte.
6. Kapitel. Einwand: Es gibt Reflexion auf gegenwärtige intentionale Erlebnisse, denn das Wissen um nur Scheinbares im gesehenen Gegenwärtigen enthält Reflexion auf unser gegenwärtiges Sehen. Antwort auf diesen Einwand Gegen die Ausführungen im voran stehenden fünften Kapitel, dass Reflexion nur aufgrund von Vergegenwärtigung möglich ist, wurde eingewendet: Folgende Beobachtung spricht für die Möglichkeit einer Reflexion, die mit dem von ihr reflektierten intentionalen Erlebnis gleichzeitig ist: Wenn wir im fahrenden Zug zum Fenster hinausschauen, scheinen sich uns die als gegenwärtig wahrgenommenen nahen Dinge, wie Leitungsmaste, nahe Häuser oder nahe Bäume etc., in Gegenrichtung zu bewegen, während die als gegenwärtig gesehene fernere Landschaft sich für uns nicht bewegt. Wir halten jene visuell wahrgenommenen Bewegungen für Scheinbewegungen. Durchschauen wir diesen Schein nicht aufgrund einer Reflexion auf unser gegenwärtiges Sehen der sich für uns bewegenden Gegenstände? Antwort auf diesen Einwand: Man kann zur Verdeutlichung dieses Problems auch an weitere Beispiele denken, in denen dasselbe Wissen um den blossen Schein oder die Unwirklichkeit von Eigenschaften des Gesehenen auftritt. Wenn wir von einem hohen Turm hinunterschauen, sehen wir die Leute und die Autos in der Tie-
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fe als sehr klein, wissen aber gleichzeitig mit diesem Sehen, dass es sich um Leute und Autos normaler Grösse handelt, oder genauer gesagt, wir fassen in diesem Sehen die als klein gesehenen Leute und Autos als Leute und Autos normaler Grösse auf. Auch die visuelle Wahrnehmung des scheinbar geknickten, schräg ins Wasser gehaltenen Stabes oder das Sehen des scheinbaren Raumes im Spiegel und der in diesem Spiegelraum gesehenen Dinge können zur Illustration der korrigierenden Auffassung des bloss Scheinbaren im visuell Gegenwärtigen dienen. Doch dieses Wissen um das Wirkliche im visuell Scheinbaren oder diese korrigierende Auffassung des visuell Scheinbaren setzt keine Reflexion auf das Sehen solcher Dinge voraus. Das Wissen um die Scheinbarkeit des im Spiegel gesehenen Raumes und der in diesem Spiegelraum gesehenen Dinge ist komplexerer Natur als das korrigierende Auffassen der vom fahrenden Zug aus gesehenen sich bewegenden nahen Dinge, komplexer als das korrigierende Auffassen der visuell als klein erscheinenden Leute und Autos und des visuell gebrochen gesehenen Stabes. Deshalb begründe ich zuerst meine These, dass in diesen Fällen keine Reflexionen auf die intentionalen Erlebnisse von solchen Dinge im Spiele sein müssen, zuerst an den einfacheren Beispielen. Grundlegend für das richtige Verständnis der drei einfacheren Beispiele ist zu wissen, dass wir das Sehen der Dinge durch Erfahrung gelernt haben. Ein neugeborenes menschliches Kind sieht keine Dinge im Raum, sondern hat nur Lichtempfindungen. Es lernt den wirklichen Raum und die wirklichen ruhenden und sich bewegenden Dinge im Raum erst allmählich, durch Betasten mit seinem Mund und seinen Fingerchen, kennen, durch sein leibliches Sich-Bewegen, durch sein Sich-Fortbewegen, Den-Dingen-Nachkriechen und sein Erhaschen sich ihm nähernder Dinge. So lernt es durch seine Erfahrungen das Wissen, dass z. B. ein Ball, den es wegwirft und den seine Mutter ihm wieder zurollt, oder seine Mutter, die sich im Garten von ihm entfernt und dann wieder zu ihm kommt, nicht kleiner werden, wenn sie sich von ihm entfernen, und auch nicht grösser werden, wenn sie sich ihm wieder nähern, obschon perspektivisch rein visuell dies der Fall ist. Ja unser Erfahrungswissen vereinigt sich im Lernen so sehr mit unserem Sehen, dass wir in Folge gar nicht das sehen, was wir rein visuell sehen. Das ist sicher keine Sache der Reflexion auf unser intentionales Uns-Bewegen im Raum und unsere intentionalen Akte des Sehens und Greifens; auch ein Hund weiss dies, wenn er analoge Erfahrungen mit Bällen oder mit anderen Hun-
6. Kapitel
den oder mit Menschen gemacht hat. Aber wenn jemand den Begriff des Reflektierens auf etwas so versteht, wie ich ihn in dieser Studie zu klären versuche, wird er wahrscheinlich nicht annehmen, dass Hunde zu reflektieren vermögen. Obschon wir einen ins Wasser gehaltenen geraden Stab rein visuell gebrochen sehen, wissen wir aufgrund unserer Erfahrung, dass er gerade ist. Wir wissen aufgrund unserer Erfahrung, dass er gerade ist, denn wir haben gesehen, dass er gerade ist, wenn er aus dem Wasser herausgenommen wird und bevor er ins Wasser gehalten wurde, und wir wissen auch, dass er gerade ist, wenn wir ihn, ins Wasser gehalten, betasten. Auch dazu ist keine Reflexion auf unsere intentionalen Akte des Sehens und Betastens und auf unser intentionales Bewegen von Stäben notwendig, sondern nur Lernen durch Erfahrung. Ebensowenig ist Reflexion notwendig im Beispiel des Einwandes gegen unsere These, dass Reflexion Vergegenwärtigung voraussetzt, nämlich im Beispiel von den visuell scheinbar sich bewegenden, aber in Wirklichkeit ruhenden nahen Dingen, wenn wir selbst schnell bewegt werden. Wir haben von Kindheit an oft die Erfahrung gemacht, dass, wenn wir in einem fahrenden Auto oder im fahrenden Zug sassen und auch wenn wir selbst möglichst schnell auf unserem Fahrrad herumsausten, die an uns visuell vorbeiflitzenden nahen Dinge oder Personen entweder ruhen oder sich nur langsamer bewegen (z. B. dahinschreitende Menschen oder Kühe) oder nur langsamer bewegt werden (z. B. ein gestossener Karren), als wir selbst bewegt wurden oder auf unserem Fahrrad radelnd uns selbst bewegten. Wie schon bemerkt ist das vierte Beispiel, dasjenige des Wissens um die Scheinbarkeit des im Spiegel gesehenen Raumes und der in diesem Spiegelraum gesehenen Dinge komplexer als die drei soeben besprochenen. Dies zeigt sich schon darin, dass Hunde und wohl fast alle Tiere (bei Schimpansen ist dies umstritten) nicht wissen, was das von ihnen im Spiegel Gesehene in Wirklichkeit ist, und allmählich jegliches Interesse daran verlieren. Denn um das Spiegelbild zu verstehen, ist Vergegenwärtigung notwendig, Lernen im blossen sinnlichen Wahrnehmen genügt nicht: Man muss sich, um das Spiegelbild zu verstehen, das Wirkliche vergegenwärtigen, das der vor einem hängende Spiegel widerspiegelt. Kinder werden im Alter um zwei Jahre zu diesem vergegenwärtigenden Verständnis fähig. Aber dieses Verständnis ent-
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hält auch keine Reflexion auf die intentionalen Akte des Verstehens des Spiegelbildes. Damit glaube ich den Einwand widerlegt zu haben, dass das Wissen um nur Scheinbares im gesehenen Gegenwärtigen ein Reflektieren auf unser gegenwärtiges Sehen davon enthält und es daher Reflexion auf gegenwärtige intentionale Erlebnisse gibt.
7. Kapitel. Nicht nur auf eigene intentionale Erlebnisse können wir reflektieren, sondern in der vergegenwärtigenden Einfühlung in andere erlebende Wesen auch auf deren intentionale Erlebnisse. Diese Reflexion ist «Vergegenwärtigung» in einem doppelten Sinn. Obschon man sagen kann, dass wir immer «in der ersten Person» auf das intentionale Erleben reflektieren, reflektieren wir auch auf die intentionalen Erlebnisse anderer. Auch deshalb kann das Reflektierte nichts innerlich Wahrgenommenes sein (vgl. oben das zweite Kapitel). Voraussetzung des einfühlenden Vergegenwärtigens der intentionalen Erlebnisse von anderen erlebenden Wesen ist das sinnliche Wahrnehmen des gegenwärtigen leiblichen Verhaltens dieser Lebewesen in seinem Zusammenspiel mit dem eigenen leiblichen Verhalten und den wahrnehmbaren gegenwärtigen Beziehungen dieses Verhaltens zur von mir wahrgenommenen gegenwärtigen räumlichen Umwelt. Auf diese Ebene gehört auch das sinnliche Wahrnehmen der affektiven gegenwärtigen leiblichen Ausdrucksbewegungen und Gesichtsausdrücke und stimmlichen Verlautbarungen der Freude, der Furcht, der Trauer, des Zornes im Zusammenspiel mit dem Wahrnehmen des eigenen gegenwärtigen affektiven leiblichen Gebarens. Dies ist Voraussetzung des einfühlenden Vergegenwärtigens von fremdem Erleben von etwas, aber selbst kein einfühlendes Vergegenwärtigen. Auf der Ebene des Einfühlens verstehen wir andere erlebende Wesen, indem wir uns vergegenwärtigend auf ihre Gesichts- und Interessenstandpunkte versetzen, und, in Analogie mit unseren eigenen intentionalen Erlebnissen und Interessen, zu verstehen versuchen, was sie erleben oder erfahren und wofür sie sich interessieren. Wir verstehen sie mehr oder weniger erfolg-
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reich als von ihren Gesichts- oder Standpunkten aus fühlend, perspektivisch wahrnehmend, erlebend, erkennend, strebend, agierend oder als handelnd intentional auf ihre eigenen Umwelten gerichtete Wesen. Menschen verstehen wir einfühlend als Wesen, die von ihren Gesichts- und Interessenstandpunkten aus unsere gemeinsame menschliche gegenwärtige Welt erfahren, die sich aber auch an ihre eigene Vergangenheit erinnern und an ihre eigene Zukunft oder an verschiedene Möglichkeiten denken. Wenn wir uns in andere Menschen einfühlen (von der Einfühlung in Tiere möchte ich im jetzigen Zusammenhang absehen),34 dann sind wir notwendig zunächst vergegenwärtigend intentional auf das gerichtet, was diese anderen Menschen wahrnehmen, denken, wollen, wofür sie sich interessieren etc., und zwar so, wie sie es von ihren Gesichtspunkten und Standpunkten her denken, wollen etc. Primär sind wir einfühlend wie sie auf ihre intentionalen Gegenstände gerichtet, aber so, wie sie diese wahrnehmen, bewerten usw. Erst im Nachhinein, in einem zweiten Akt, können wir auf ihre intentionalen Erlebnisse von diesen Gegenständen, auf ihre Erfahrungen mit diesen Gegenständen reflektieren. Wie die Reflexion auf die eigenen intentionalen Erlebnisse oder intentionalen Akte, so ist auch die Reflexion auf die intentionalen Erlebnisse anderer ein nachfolgender, zweiter intentionaler Akt. Husserl unterscheidet in einem im September 1918 geschriebenen Text zwischen «gerader» und «obliquer, reflektiver Einfühlung» «analog mit gerader und obliquer Wiedererinnerung»: «Gerade Einfühlung ist […] die natürliche und notwendig immer erste. Das gesamte Erlebnis, das ‹Einfühlung› heisst, ist von einer Art, dass es eine Vergegenwärtigung umspannt, durch welche die, und zwar ursprünglich gerade, doxische [setzende] Intention auf das vom fremden Subjekt Erfahrene geht. Die oblique, reflektive Einfüh-
Zur Einfühlung in Tiere vgl. in meiner (bislang erst in chinesischer Sprache publizierten) Studie Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität und seine phänomenologische Philosophie. Eine kurze Darstellung und einige weiterführende Gedanken das 33. Kapitel: «Die Einfühlung in Kinder und Tiere und in ihre Welten durch Interpretation aufgrund von ‹Abbau› der Genesis der Naturerfahrung. Der Unterschied zwischen der Erfahrung der Natur und dem interpretierenden Verstehen der Naturerfahrung anderer Subjekte. Das Problem der Kommunikation mit Tieren und der Interpretation der Kommunikation zwischen Tieren». 34
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lung ist nun eine solche, die entweder auf das Erfahrungsphänomen geht, auf die Aspekte, Empfindungsdaten, Auffassungen, oder auf das Subjekt, das erfahrendes ist usw.»35
Wie wir nur auf unsere intentionalen Erlebnisse reflektieren können, wenn uns diese Erlebnisse schon vor der Reflexion irgendwie «gegeben», d. h. bewusst waren oder, wie Husserl sagt «urbewusst», oder wie Sartre sagt, vorreflexiv bewusst (conscience préréflexive) (siehe oben das erste Kapitel dieser Studie), so müssen uns in der «geraden» Einfühlung auch die intentionalen Erlebnisse der anderen vor der Reflexion auf diese Erlebnisse vorreflexiv bewusst sein. Aber sie können uns doch nicht in gleicher Weise vorreflexiv bewusst sein, wie es uns die eigenen aufmerksamen intentionalen Erlebnisse sind. Denn diese eigenen intentionalen Erlebnisse sind im «Original» bewusste, selbst «durchlebte» Erlebnisse (dazu siehe oben die zweite Studie), während uns in der vergegenwärtigenden Einfühlung die intentionalen Erlebnisse der anderen nur vorreflexiv bewusst sein können in der vergegenwärtigenden Modifikation «intentionale Erlebnisse, so wie sie den anderen ‹urbewusst› sind» oder «so wie sie von den anderen durchlebt werden».
Hua XIII, Text Nr. 15, S. 401/402. Vgl. die in der voranstehenden Fussnote erwähnte Studie Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität und seine phänomenologische Philosophie. Eine kurze Darstellung und einige weiterführende Gedanken, zwölftes Kapitel: «Gerade, schlicht vergegenwärtigende Einfühlung und (dritte Stufe der Einfühlung) oblique, in der Vergegenwärtigung reflektierende Einfühlung». 35
8. Kapitel
8. Kapitel. Was motiviert uns, auf die eigenen und die fremden intentionalen Erlebnisse zu reflektieren? Erst durch die Reflexion auf eigene und auf fremde Erlebnisse gewinnen wir die Erkenntnis des subjektiv bedingten Charakters unserer Erfahrung und erst durch die Reflexion in der Einfühlung gewinnen wir die volle Intersubjektivität Wir werden motiviert, auf die eigenen intentionalen Erlebnisse und Taten und auf diejenigen anderer zu reflektieren, wenn wir uns unter anderem fragen, warum wir selbst oder andere sich täuschen (eine falsche Meinung haben) können oder warum wir selbst oder andere gewisse Dinge nicht wissen. Oder wir werden zu diesem Reflektieren motiviert, wenn wir uns fragen, warum wir und die anderen Menschen die Dinge im Raum unterschiedlich wahrnehmen, z. B. warum sie im Gespräch mein Gesicht sehen, während ich es nicht sehe, und ich ihr Gesicht sehe, während sie es nicht sehen, warum wir und die anderen von den Dingen Verschiedenes wissen und sich dann zu ihnen entsprechend auch verschieden verhalten. Oder wir werden motiviert, auf die eigenen intentionalen Erlebnisse und diejenigen anderer zu reflektieren, wenn wir uns fragen, warum etwas nicht so ist, wie es uns oder anderen zu sein scheint. Oder wir werden zu dieser Reflexion motiviert, wenn wir uns fragen, wie wir andere manipulieren können, d. h. sie irreführen, sie etwas glauben machen können, was nicht der Fall ist, respektive, wie andere uns gegenüber solches machen können. Damit bin ich zu einer Thematik des obigen ersten Kapitels dieser dritten Studie zurückgekehrt: nämlich zu mentalen Vorkommnissen bei anderen Menschen und bei sich selbst, die nach den Feststellungen der genetischen Psychologie und der kognitiven Wissenschaften normale Kinder erst ungefähr mit vier bis fünf Jahren zu verstehen vermögen. Ich habe in diesem ersten Kapitel auch geschrieben, dass manche Psychologen, die sich mit dieser Entwicklung der vier- bis fünfjährigen Kinder befassen, der Meinung sind, dass die erwähnten neuen Fähigkeiten innerlich zusammenhängen, dass ihnen allen ein prinzipiell neues Verständnis des Mentalen zugrunde liegt und dass bei ihnen auch versucht werde, diese neue Verständnisart vereinheitlichend zu charakterisieren, z. B. als Verstehen des Unterschiedes von Wirklichkeit und Repräsentation der Wirklichkeit (J. H. Flavell), als Verstehen der
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kausalen Ursprünge des Wissens (H. Wimmer) oder als die Fähigkeit der Metapräsentation, d. h. als die Fähigkeit, Repräsentation als solche zu repräsentieren (J. Perner). Im voran stehenden siebenten Kapitel dieser Studie habe ich die Begründung dazu vorzulegen versucht, dass dieses neue Verständnis des Mentalen bei den Vier- bis Fünfjährigen auf der in diesem Alter auftretenden Fähigkeit beruhen muss, auf die eigenen und fremden intentionalen Erlebnisse zu reflektieren.36 Doch sind die von der genetischen Psychologie und den kognitiven Wissenschaften bei normalen Kindern von ungefähr vier bis fünf Jahren untersuchten, zum ersten Mal in ihrem Leben auftretenden Fälle des Verständnisses vom Mentalem bei Weitem nicht die einzigen Fälle, in denen wir erwachsenen Menschen motiviert sind, auf eigene und auf fremde Erlebnisse zu reflektieren. Wir können auch motiviert sein darauf zu reflektieren, wie es in unserem gewöhnlichen intentionalen Leben und Denken zu den Unterschieden zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft kommt, wie es zu den Unterschieden der zeitlichen Distanz des erinnerten Vergangenen kommt, und wie wir dazu kommen, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit zu unterscheiden. Wir können auch motiviert sein, darauf zu reflektieren, in welchen intentionalen Tätigkeiten wir das exakte Gewicht oder die genaue Temperatur von festen oder flüssigen Körpern erkennen, die wir in unserem gewöhnlichen Leben nur als mehr oder weniger schwer oder leicht oder als mehr oder weniger warm oder kalt wahrnehmen, durch welche Methoden mathematische Naturwissenschaftler die physischen Dinge mit Begriffen wie Atomen, Protonen, Neutronen, elektromagnetischen Wellen etc. mathematisch konstruieren, in welchen geistigen intentionalen Tätigkeiten Zahlen, mathematische Gesetze, logische Gesetze, reine geometrische Gebilde zustande kommen usw. Auch im praktischen Leben kommen wir immer wieder dazu und sollen auch dazu kommen, darauf zu reflektieren, wie andere Menschen (verschiedener Gesellschaftsschichten, verschiedener kultureller Tradi-
Eduard Marbach und ich haben im Jahre 2001 in einem gemeinsamen Aufsatz vorgeschlagen, dass das erwähnte neue Verständnis des Mentalen bei den Vier- bis Fünfjährigen auf der Fähigkeit beruht, auf die eigenen und fremden intentionalen Erlebnisse zu reflektieren: «Understanding the Representational Mind. A Prerequisite for Intersubjectivity proper» in Journal of Consciousness Studies, Volume 8, No. 5–7 (2001), pp. 69–82. 36
8. Kapitel
tionen, verschiedenen Alters, verschiedenen Geschlechts usw.) und wir selbst in unserem Erfahren und Denken zu verschiedenen Meinungen über dieselben Dinge und dieselben praktischen Probleme und ihre anzustrebenden Lösungen kommen. Und vor allem sollen wir uns fragen und darauf reflektieren, ob wir ethisch gut oder schlecht handeln. Erst durch die Reflexion auf die eigenen und fremden intentionalen Erlebnisse und Tätigkeiten gewinnen wir die Erkenntnis des subjektiv bedingten Charakters des Erfahrenen, des Gedachten, Gewollten und Getanen und erst damit gewinnen wir die eigentliche Erkenntnis unserer Subjektivität und derjenigen unserer Mitmenschen. Erst wenn wir in der vergegenwärtigenden Einfühlung «oblique», wie Husserl sagt, auf die intentionalen Erlebnisse der anderen reflektieren, erst dann zeigen sich die anderen in ihrer vollen Subjektivität, erst dann verstehen wir sie in ihrer vollen Subjektivität und erst dann werden wir fähig, mit ihnen in volle intersubjektive Beziehungen zu treten, also mit ihnen volle Intersubjektivität zu erreichen. «Subjektivität» meint hier ein Doppeltes: einerseits die subjektive Bedingtheit oder «Unterworfenheit»37 der von uns erfahrenen oder gedachten oder wissenschaftlich konstruierten Gegenstände und gewollten und vollzogenen Handlungen (Taten) einerseits und andererseits die subjektive Bedingtheit unserer subjektiven intentionalen Akte des Erfahrens, Denkens, Konstruierens und Wollens und Handelns (Tuns). Die Bewusstseinsanalyse im Sinne Husserls besteht in nichts anderem als in der konsequenten und systematischen Reflexion auf die eigenen und fremden intentionalen Erlebnisse des Erkennens, Wollens und Tuns von etwas und auf die Subjekte dieser Erlebnisse des Erkennen, Wollens und Tuns. Im Prinzip ist also ein fünfjähriges Kind fähig, bewusstseinsanalytisch zu denken und entsprechende Aussagen zu verstehen, sofern man in solchen Aussagen eine seinem Alter entsprechende Sprache spricht und ihm seinem Alter entsprechende Beispiele vorlegt. Es hat nach seinen Fähigkeiten im Prinzip das Niveau der reflektierenden Vernunft erreicht, aber dadurch auch seine «goldene» kindliche Naivität und Unbefangenheit verloren.
Subjektivität entspricht dem spätlateinischen subjectivitas; subjectum heisst: das «Darunter-geworfene, Unterworfene», vom Verb subicio: darunterwerfen, unterwerfen.
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Zitierte Schriften
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Zitierte Schriften
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Das Signet des Schwabe Verlags ist die Druckermarke der 1488 in Basel gegründeten Offizin Petri, des Ursprungs des heutigen Verlagshauses. Das Signet verweist auf die Anfänge des Buchdrucks und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeisst?»