Drei Studien über Materialismus. Schopenhauer, Horkheimer, Glücksproblem 3548350178


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German Pages 196 [98] Year 1977

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Drei Studien über Materialismus. Schopenhauer, Horkheimer, Glücksproblem
 3548350178

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Ullstein Materialien Ullstein Buch Nr. 35017 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin - Wien Ungekürzte Ausgabe Umschlagentwurf: Kurt Weidemann Alle Rechte vorbehalten Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlag München, Wien © 1977 Carl Hanser Verlag München, Wien Printed in Germany 1979 Druck und Verarbeitung: Mohndruck Graphische Betriebe, GmbH Gütersloh ISBN 3548350178

Alfred Schmidt Drei Studien über Materialismus Schopenhauer Horkheimer Glücksproblem

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schmidt, Alfred: [Sammlung]

Drei Studien über Materialismus: Schopenhauer, Horkheimer, Glücksproblem/Alfred Schmidt. Ungekürzte Ausg. - Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1979. ([Ullstein-Bücher] Ullstein-Buch; Nr. 35017: Ullstein-Materialien) ISBN 3-548-35017-8

Ullstein Materialien

Inhalt Einleitung

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Schopenhauer und der Materialismus

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Die geistige Physiognomie Max Horkheimers

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Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie

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Einleitung Schopenhauer, Hegels so entschiedener Gegner, werde in nicht zu billigender Weise meist sehr oberflächlich von vielen verurteilt, die oft seine Schriften nie gelesen hätten. Manche seiner Zeitgenossen ... bezeichneten ihn als Menschenhasser, während er in den Grundgedanken der Ethik das Gebot ausspricht, in der Wesenseinheit alles Organischen die Pflicht zu erkennen, weder Mensch noch Tier Leiden zu verursachen. Keinem lebendigen Wesen Unrecht zu tun, bezeichnet er bei der Hilfsbedürftigkeit alles Bestehenden als einfaches Gebot der Gerechtigkeit, die zum Mitleid führt, zu dem Satz: ,Hilf allen, soviel du kannst.< Tiefer ethisch sozial hätte keine sentimentale Regung das Gebot der Nächstenliebe verkündet. Franziska Kugelmann zu Marxens Urteil iiber Schopenhauer

Die hier vereinigten Studien sind 1974-1977 entstanden. Sie gehören in den größeren Kontext einer langjährigen, noch unabgeschlossenen Beschäftigung des Verfassers mit der Geschichte des Materialismus, die von dessen politischen Verfechtern, zumal in der Bundesrepublik, kaum gebührend beachtet wird. - Der den Band eröffnende Versuch über Schopenhauer möchte beitragen zur neuerlichen, im besten Sinn zeitgemäßen Rezeption eines Werks, dessen luzide Sprach gestalt und geistige Unabhängigkeit unbestritten sind. Schopenhauers Modernität - davon läßt die Untersuchung sich leiten - besteht nicht zuletzt in der sachlichen Relevanz seines Denkens für eine materialistische, den geschichtlichen Interessen der Gegenwart verpflichtete Philosophie, die erkenntniskritisch reflektiert und frei ist von mechanistischen Scheuklappen. Der Autor der Welt als Wille und Vorstellung bildet, ähnlich übrigens wie Kant, den Schulfall eines Philosophen, der es gestattet, den in marxistischer Literatur vielberufenen »Kampf« von Idealismus und Materialismus einmal nicht sub specie des Konflikts zweier »Lager«, sondern innerhalb ein und desselben Denkzusammenhangs zu studieren. Der Verfasser versucht 7

- indirekt zumindest - nachzuweisen, daß die namentlich von Lukacs verfochtene These, Schopenhauers Denken sei durchweg reaktionär, weil idealistisch, insgeheim unterstellt, daß sich die Alternative Idealismus/Materialismus ausschließlich auf abstrakt-erkenntnistheoretische "Standpunkte« erstreckt.! Werden jedoch, was historisch wie sachlich angemessener ist, auch metaphysische, moralphilosophische und anthropologische Gesichtspunkte in die Diskussion der in Schopenhauer wirksamen, gegensätzlichen Tendenzen eingebracht, so ergibt sich ein wesentlich reicheres Bild seiner Philosophie. Die zweite Studie, ursprünglich zur Einführung in Horkheimers aphoristisches Werk geschrieben, versucht die Etappen der intellektuellen Entwicklung des Begründers der Kritischen Theorie nachzuzeichnen. Sie behandelt deren Spätphase als spannungsvollen (in manchem an die Anfänge erinnernden) Prozeß, worin Schopenhauersche und Marxsche Denkmotive sich aneinander abarbeiten. 2 In dem Maße freilich, wie der letzte Horkheimer sich genötigt sieht, der ehernen Logik des Gangs der Geschichte zu mißtrauen, wie er noch in Marx unaufgehellte Idealismen entdeckt, verringert sich für ihn der Gegensatz zwischen den analytisch richtigen, haltbaren Momenten der Marxschen Lehre und Schopenhauers Absage an den Weltlauf. Die' "Seele« der Willensmetaphysik, betont Horkheimer, ist "Widerstand".3 Vermag der "nüchterne, auf das Einzelne und Nächste gerichtete Blick .. " hinter der Oberfläche der sich bekämpfenden. Einzelwillen, in dem stets wiederkehI

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Cf, Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1953, S,176ff. - Ernst Bloch dagegen läßt sich von Schopenhauers subjektivem Idealismus weniger beeindrucken; er zeigt, daß gerade die (vom pauschalen .Irrationalismus.-Verdikt nicht zu treffende) Willensmetaphysik materialistisch erhebliche, über die Erkenntnistheorie hinausführende Gehalte aufweist. Cf. Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt am Main 1972, S. 273ff, -Die beiden Philosophen., sagt Horkheimer, »welche die Anfänge der Kritischen Theorie entscheidend beeinflußt haben, waren Schopenhauer und Marx. (Kritische Theorie gestern und heute, in: Gesellschaft im Obergang, herausgegeben von Wemer Brede, Frankfurt am Main 1972, S. 162). Max Horkheimer, Schopenhauer und die Gesellschaft, in: Sozialphilosophische Studien, herausgegeben von Wemer Brede, Frankfurt am Main 1972, S. 76.

renden Mangel, in der Schmach des Alltags und dem Schrekken der Geschichte«4 keine List der zum Besseren treibenden Vernunft mehr zu erkennen, so bedarf es einer Philosophie, die eben diese Erfahrung ausspricht. Die den Band beschließende Abhandlung exponiert einige (oft weniger zugängliche) Materialien zum Begriff des Glücks, die markanten Stufen der Geschichte des Materialismus entstammen. Angesichts der zeitgenössischen Tendenz, letzteren auf den trivialisierten, weil nur noch »erkenntnistheoretisch« verstandenen Primat des körperlichen oder gesellschaftlichen Seins vor dem Bewußtsein zu reduzieren, erschien es dem Autor wichtig, die ebenso hedonistische wie pessimistische Dimension dieses Verhältnisses herauszuarbeiten. 5 Mit ihr geht auch die Schwierigkeit einher, "Moralisches« auf "Physischem« zu begründen, sich von Natur belehren zu lassen über das sittlich Erstrebenswerte. . Erörtern wir noch kurz diejenigen Aspekte materialistischen Denkens, von denen der Verfasser meint, daß sie, bei aller Vielfalt der behandelten Themen, die innere Einheit des vorliegenden Buches stiften. »Ich habe«, schreibt Sartre in einem berühmten Text der Nachkriegszeit, »schon Bekehrungen zum Materialismus gesehen: man tritt in ihn ein wie in eine Religion.«6 Ein festes Gehäuse empfängt den bisher von Zweifeln und Skrupeln Geplagten; er weiß sich fortan als Glied einer unverbrüchlichen Logik der Dinge: breitet sich doch die Natur, wie Engels schreibt, "als ein ... in den großen Grundzügen erklärtes und begriffenes System von Zusammenhängen und Vorgängen vor • Max Harkheimer, Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie, ibid., S. 37. 5 Einer der wenigen linken Autoren, die sich der lediglich abstrakt-erkennmistheoretischen Fassung des Materialismus widersetzt haben, ist Brecht, der in den Flüchtlingsgesprächen schreibt: -Die Deutschen haben eine schwache Begabung für den Materialismus. Wo sie ihn haben, machen sie sofort eine Idee draus, ein Materialist ist dann einer, der glaubt"daß die Ideen von den materiellen Zuständen kommen und nicht umgekehrt, und weiter kommt die Materie nicht mehr vor- (Frankfurt am Main 1967, S. 20f.). 6 Jean-Paul SarIre, Materialismus und Revolution, Sruttgart 1950>, S. 38.

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uns«7 aus. Materialismus, fügt Engels hinzu, ist »einfache Auffassung der Natur so, wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat«.8 Es gilt, wie er anderswo sagt, »jede idealistische Schrulle unbarmherzig zum Opfer zu bringen, die sich mit den in ihrem eignen Zusammenhang, und in keinem phantastischen, aufgefaßten Tatsachen nicht in Einklang bringen«9 läßt. - Eine folgenreiche Reduktion des Materialismus auf wissenschaftliche Objektivität; begünstigt freilich auch dadurch, daß Engels bestrebt ist, »dem von der langjährigen Pfaffenverlästerung her überkommenen Philistervorurteil gegen den Namen Materialismus« 10 keinerlei Zugeständnis zu machen. So berechtigt Engels' Absicht ist, terminologische Klarheit zu schaffen - sie hat auch dazu beigetragen, die im Sinn jeweils herrschender Ideologie moralisch anstößige, »sensualistische« Komponente materialistischen Denkens, zu der sich seine großen Vertreter bis hin zu Feuerbach freimütig bekannten, aus dem Begnff des marxistischen Materialismus zu eliminieren. Was nun die der Natur »fremde« - tunlichst zu beseitigende - »Zutat« betrifft, so denkt Engels hierbei zunächst an »Ufzuständlichen Blödsinn«; Religion und Philosophie, überhaupt die »in der Luft schwebenden ideologischen Gebiete ... haben ... einen vorgeschichtlichen, von der geschichtlichen Periode vorgefundnen und übernommnen Bestand von ... falschen Vorstellungen von der Natur, von der Beschaffenheit des Menschen selbst, von Geistern, Zauberkräften etc«.l1 Engels spricht hier die aufklärerische Sprache der evolutionistischen Soziologie und Ethnologie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Subjektives ist per se vorwissenschaftlich; es.geht um "einfache Auffassung der Natur so, wie sie sich gibt«. Andererseits ist sich gerade Engels, als Mitbegründer des histo7

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Engels, Dialektik der Natur, in: Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S.469. Ibid. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Marx/Engels, Werke, Band 21, Beflin 1962, S. 292. Ibid., S. 282. Engels an C. Schmidt, Brief vom 27.10.1890, in: Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 509.

rischen Materialismus, darüber im klaren, daß sich der Mensch in einer weithin von ihm selbst hervorgebrachten, humanisierten Dingwelt bewegt. »Naturwissenschaft wie Philosophie«, heißt es in der Dialektik der Natur, »haben den Einfluß der Tätigkeit des Menschen auf sein Denken bisher ganz vernachlässigt, sie kennen nur Natur einerseits, Gedanken andrerseits. Aber grade die Veränderung der Natur durch den Menschen, nicht die Natur als solche allein, ist die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Verhältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem Verhältnis wuchs seine Intelligenz. Die naturalistische Auffassung der Geschichte, ... als ob die Natur ausschließlich auf den Menschen wirke, die Naturbedingungen überall seine geschichtliche Entwicklung ausschließlich bedingten, ist daher einseitig und vergißt, daß der Mensch auch auf die Natur zurückwirkt, sie verändert, sich neue Existenzbedingungen schafft. Von der ,Natur< Deutschlands zur Zeit, als die Germanen einwanderten, ist verdammt wenig übrig.« 12 Engels' Erwägungen implizieren mehr, als in die seiner Tradition verpflichtete Erkenntnistheorie eingegangen ist. Verflüssigen, relativieren sie die starre Grenze zwischen »Natur« und "Gedanke«, gegenständlicher Welt und »menschlichem« (hier positiv aufgenommenem) »Zutun«,B so bleibt jene Grenze in der auf Engels sich berufenden, noch immer verbindlichen, abbildrealistischen Lehre erhalten, deren Begriff von »Praxis« nicht heranreicht an die weit tragfähigeren, gemeinsam mit Marx erarbeiteten Formulierungen etwa der Deutschen I deologie. Auch Lenins philosophisches Hauptwerk verharrt auf dieser Linie. Es bestimmt den Gegensatz von Idealismus und Materialismus durch die »Grundfrage der Erkenntnistheorie: Sind unsere Empfindungen Abbilder der Körper und Dinge, oder sind die Körper Komplexe unserer Empfindungen?«14 Lenin Engels, Dialektik der Natur, I. c., S. 498 (Hervorhebungen von Engels); cf. dazu auch S. 466. J3 Cf. ibid., S. 499. ,. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1967, S. 175. 12

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betont, daß der philosophische Materialismus, wie er ihn versteht, lediglich eine »Eigenschaft« der Materie anzuerkennen genötigt ist: »die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu existieren«.15 Sowenig es sich hier darum handeln kann, die Verdienste des Leninschen Buches zu schmälern, so wichtig scheint doch der Hinweis darauf, wie sehr sein gedanklicher Duktus vorgezeichnet ist durch die Art der von ihm bekämpften Schriftsteller. Das schon ,in Engels, vollends aber in Lenin anzutreffende Pathos wissenschaftlicher Objektivität impliziert, gewollt oder ungewollt, den Verzicht auf wesentliche Resultate nicht nur der Geschichte des Marxismus, sondern des Materialismus insgesamt. Mit scharfem Blick hat Sartre, als politischer Existentialist, die Mängel eines Denkens wahrgenommen, das »die Lehre von der Objektivität« 16 vorzuführen verspricht. Der Materialist, sagt Sartre, bildet sich' ein, »seine Subjektivität ... zum Verschwinden« zu bringen, indem er sich zum »Gegenstand«, das heißt "Stoff der Wissenschaft«17 erklärt. "Hat er nun aber einmal die Subjektivität zugunsten des Gegenstandes unterdrückt, so nimmt er für sich - anstatt sich als Ding unter Dingen zu sehen, hin und her geworfen durch den Wellengang des Alls der Natur - eine objektive Sicht in Anspruch und behauptet, die Natur, wie sie an sich ist, zu betrachten. Es gibt einen Doppelsinn von >Objektivität< - welche bald die Passivität des betrachteten Objektes bedeutet und bald den absoluten Wert eines erkennenden Blickes, der aller Schwächen des Subjektiven ledig ist. So ergeht sich der Materialist, nachdem er ... sich der reinen objektiven Wahrheit angeglichen hat, in einer Welt von Objekten, die bewohnt ist von Menschen-Objekten.«18 Da er mit aller Transzendentalphilosophie auch den Gedanken der Marx/Engelsschen Frühschriften verwirft, daß die physische Welt, wie wir sie hier und jetzt vorfinden, »ErIbid., S. 260 (Hervorhebungen von Lenin); cf. auch S. 124f. " Sartre, Materialismus und Revolution, I. c., S. 38 (Hervorhebung von Sanre). 17 Ibid., S. 13; 14. " Ibid., S. 14. 15

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zeugnis unseres konstituierenden Handelns« 19 ist, und sich hinter der trivialen Tatsache verschanzt, daß wir unsererseits ohne jene Welt nicht wären, muß er dogmatisch deren durchgängige 'Rationalität verkünden. 20 Sehen wir hier davon ab, daß Sartre unterdessen, spätestens seit der Kritik der dialektischen Vernunft, einen angemesseneren Zugang zum Problem der Objektivität gefunden hat. 21 Richtig an Sartres früheren Vorbehalten gegenüber dem Materialismus bleibt jedoch, daß dieser, sofern er in »weltanschaulich« abgerundeter Form auftritt, häufig der Gefahr erliegt, die leibhaftige Menschen unmittelbar betreffende, außerphilosophische Erfahrung von Materialität zu übersehen. »Dem Idealismus gegenüber«, sagt Sartre, »auf die erdrückende Wirklichkeit der materiellen Welt hinzuweisen, heißt noch nicht, notwenigerweise ein Materialist zu sein.«22 Was sich nämlich als Materialismus ausgibt, ist vielfach keine durchdachte Philosophie, sondern »die schlechte Laune derjenigen, die körperlich leiden und die Wirklichkeit des Hungers, der Krankheiten, der Handarbeit und all dessen kennen, was einen Menschen zu untergraben vermag«.23 Wir sind, ohne uns darüber im Alltag Rechenschaft abzulegen, unaufhebbarer Kontingenz ausgeliefert. " Ibid. Cf. ibid., S. 15. 21 So heißt es in der Kritik der dialektischen Vernunft: .Die Materie als reine, nicht menschliche und anorganische Materie, das heißt nicht an sich, sondern in jenem Stadium der Praxis, in dem sie sich dem wissenschaftlichen Experiment erschließt, wird durch Exterioritäts-Gesetze regiert. (Reinbek bei Hamburg 1967, S. 129); cf. auch S. 130, wo Same die Materie als »passiven Motor der Geschichte. bezeichnet. 22 Sartre, Materialismus und Revolution, I. c., S. 38. 23 Ibid. - Sarues Betrachtungsweise taucht schon früh auch in der offiziellen Literatur auf. So heißt es in Theobald Zieglers Buch Die geistigen und sozialen Strömungen des Neunzehnten Jahrhunderts (Berlin 1910, S. 329), der »naturwissenschaftliche Materialismus« lebe -am kräftigsten in den breiten Schichten der Arbeiterwelt fort.; er entspreche -ihrer Beschäftigung, der Bearbeitung des Stoffes durch die Hand, indem er ihnen die Widerstände und die Gesetze der Materie, mit der sie es tagtäglich zu tun haben, klar und deutlich zum Bewußtsein bringt: für den Handarbeiter ist der Materialismus in der Tat die einleuchtendste und nächstliegendste wissenschaftliche Weltanschauung •. 20

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Die objektive, von theoretischen Materialisten immer wieder hervorgehobene »Notwendigkeit« wird als solche von Sartre nicht geleugnet. Allein sie »erscheint im Schoße einer ursprünglichen Zufälligkeit. Existiert das Weltall, so können seine Entwicklung und die Aufeinanderfolge seiner Zustände durch Gesetze geregelt sein. Es ist aber nicht notwendig, daß das Weltall existiert, noch daß es ein Sein überhaupt gibt, und die Zufälligkeit des Weltalls teilt sich allen, sogar den notwendigsten Zusammenhängen, jeder besonderen Tatsache mit.«24 Wenn Sartre ironisch vorschlägt, den scientistischen Materialismus als »die Subjektivität derjenigen« zu betrachten, »die sich ihrer Subjektivität schämen«,25 so deshalb, weil er ihn für untauglich hält, die Idee der Revolution angemessen zu begründen. Zur erkenntnistheoretischen und politischen Unzulänglichkeit gesellt sich eine behavioristische Psychologie, die außerstande ist, etwas über die - erstmals von Freud untersuchte - Natur im Subjekt auszumachen. 26 So bleiben dem materialistischen Objektivismus Erfahrungsgehalte entzogen, die »materialistisch« sind, ohne in seine Kategorien einzugehen. Indem er letztinstanzlich nur die Wissenschaft als verbindliche Erkenntnisform gelten läßt, paktiert er mit dem (sonst von ihm bekämpften) Positivismus. Dabei ist er, was seine grundsätzliche Wahrheit nicht schmälern muß, insofern eine Metaphysik, als er, mit Engels zu reden, »die Natur als das einzig Wirkliche auffaßt«.27 Sie »existiert unabhängig von aller Philosophie«28 - auch von der materialistischen. Damit aber ist eine außerphilosophische Dimension zumal des vormarxschen Materialismus benannt, deren Tragweite kaum zu überschätzen ist. Deutlich wird, daß es nicht angeht, den Gegensatz der Grundrichtungen lediglich philosophisch zu 2. Sanre, I. c., S. 70. 25

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Ibid., S. 38. Ibid., S. 20. - Sanre bezieht sich hier auf Pierre Naville. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, I. c., S. 272. Ibid.

verstehen. Materialistische Kritik am Idealismus ist stets auch Kritik an Philosophie überhaupt. Das zu vergessen, verriete, wie es in Feuerbachs Spätwerk heißt, »einen höchst beschränkten Gesichtskreis«; wir dürfen anläßlich der Frage Idealismus/ Materialismus nicht »innerhalb der Mauern der Philosophie im engeren Sinne stehen bleiben«; denn es handelt sich hier um einen »Streit zwischen verschiedenen Facultäten des Menschen - ein Streit zwischen der medicinischen und philosophischen Facultät«.29 Oft wird verkannt, »dass der Materialismus, welchen beschränkte Schulphilosophen als eine Missgeburt der neu esten Zeit betrachten und bereits >todtgeschlagen< zu haben wähnen, schon so lange auf Erden existirt und existiren wird, als es Patienten und Aerzte gab und geben wird; dass daher, wer die Leiden der Menschheit ins Auge und Herz fasst, nothwendig zum Materialisten wird«.30 Primär also ist für Feuerbach der Materialismus gesetzt mit der physischen Existenz des Menschen - nicht mit einer denkerischen Entscheidung. Materialismus und Philosophie treten auseinander: »Die Medicin, die Pathologie vor Allem ist die ... Quelle des Materialismus. Und diese Quelle kann leider durch philosophische Gründe nicht verstopft werden; denn so lange die Menschen leiden, wenn auch nur Hunger und Durst, und diese Leiden nicht durch idealistische Machtsprüche ... geheilt werden können, so lange werden sie auch, wenn auch wider Wissen und Willen, Materialisten sein.«3! Eine grundlegende, vorphilosophische Einsicht, die es Feuerbach erlaubt, den Materialismus als anthropologisches Prinzip zu verfechten. Die Medizin, auf die er sich dabei vorzugsweise stützt, ist keine »Quelle und Residenz des transcendenten, ... über den Menschen hinausschweifenden, sondern des immanenten, im und beim Menschen stehenbleibenden Materialismus. Aber gerade dieser ist der archimedische Standpunkt in dem Streite zwischen Materialismus und Spiritualismus: denn 2. Ludwig Feuerbach, Sämmtliche Werke, Band X"herausgegeben von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, Stuttgart 1911, S. 159. Ibid. " Ibid., S. 165.

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es handelt sich hier in letzter Instanz nicht um die Theilbarkeit oder Untheilbarkeit der Materie, sondern um die Theilbarkeit oder Untheilbarkeit des Menschen; ... nicht um die Ewigkeit oder Zeitlichkeit der Materie, sondern um die Ewigkeit oder Zeitlichkeit des Menschen; nicht um die ausser dem Menschen . .. zerstreute und ausgedehnte, sondern um die in den menschlichen Hirnschädel zusammengepresste Materie. Kurz: es handelt sich in diesem Streit ... nur um den Kopf des Menschen. Er allein ist, wie der Ursprung, so das Ziel und Ende dieses Streites. Sind wir einmal mit der merkwürdigsten und schwierigsten Materie des Hirns im Reinen, so werden wir es bald auch mit den anderen Materien, mit der Materie überhaupt sein.«32 Der traditionelle, von Feuerbach »transcendent« genannte Materialismus will unmittelbar »materielle Fragen« beantworten, »die nur ... mittelbar, auf Umwegen, approximativ ans Licht eines möglichen Verständnisses gebracht werden können«.33 So ist nur aus den »Erscheinungen des Bewusstseins« selbst zu erschließen, was "hinter« diesem liegt. 34 Auszugehen ist zunächst von der subjektiven Welt und ihren spezifischen Bedingungen. "Wie weit«, fragt Feuerbach, »erstreckt sich das Bewusstsein - Unzähliges vor und hinter, neben und um uns fällt ausser das Bewusstsein, als wäre dasselbe nur eine mathematische Linie ohne Breite und Tiefe - wie weit der Wille? Das sind Fragen, die erst beantwortet sein müssen, ehe man an die organischen ... Processe denkt, die aber die Materialisten sich nicht aufwerfen.«35 Feuerbach erinnert sich hier der kruden Agitationsliteratur der fünfziger Jahre. Aber selbst dort, wo zuvor solche von ihm vermißten Erwägungen angestellt werden, behalten Anatomie und Physiologie nicht das letzte Wort. Sie liefern »nur die todte und eben deswegen nicht die ganze ... Wahrheit«.36 Auch fortgeschrittenste Wissenschaft, betont 32 33 J4 35

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Ibid., S. 165 f. Ibid., S. 307. Ibid. Ibid., S. 307f. Ibid., S. 166.

Feuerbach, "kann nun und nimmer den Standpunkt des Lebens zur Ergänzung entbehren oder ersetzen«.3? Leben, das stets Empfinden, Anschauen und Denken umfaßt, ist für Feuerbach ein nicht Hinterschreitbares, »absolut Originales ... _ ist in Wahrheit das nur durch sich selbst erkennbare, aber nicht mystificirte, nicht travestirte Absolute des speculativen Philosophen und Theologen«.38 Der »Standpunkt des Lebens« wird hier verstanden als dessen konkret-gegenständlicher Vollzug: reale, nicht nur gedachte Einheit des durch Abstraktion Getrennten. "Die Liebe«, sagt daher Feuerbach, »welche keine blosse ... spiritualistische Phrase .,. ist, die ... wahre, menschliche Liebe ist wesentlich pathologische, d. h. von den materiellen, wirklichen Leiden der Menschheit ergriffene Liebe. .., Die wirkliche Liebe weiss nichts von einer von Anatomie und Physiologie getrennten oder gar unabhängigen Psychologie.«39 Der wissenschaftlich-theoretische Materialismus ist, anders gesagt, ebenso unentbehrlich wie der Korrektur bedürftig. Letztlich bestätigen kann ihn nur eine Instanz außerhalb seiner. - »Feuerbach«, hebt Lenin hervor, »legt die Ergebnisse der gesamten menschlichen Praxis der Erkenntnistheorie zugrunde.«40 Es zählt zu den heute fälligen, keineswegs bloß akademischen Aufgaben, sich über das Verhältnis des Marxismus zu älteren Formen materialistischen Denkens neu zu verständigen. Die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden läßt sich nicht länger nach dem orthodoxen Schema beantworten, daß man diese verabsolutiert und jene auf belanglose ABC-Thesen zusammenstreicht. Verläuft Geschichte in antagonistischen Formen, so gilt dies auch für die Geschichte der Philosophie. Weshalb sollte der übergang vom vormarxschen Materialismus zur Kritik der politischen ökonomie (wenn wir von ihren sonstigen Quellen hier einmal absehen) in jedem Betracht ein Ibid. Ibid. 3. Ibid., S. 157. '0 Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, l. c., S. 137.

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Fortschritt sein? Ist wirklich alles am Alten Wertvolle »aufgehoben« im Neuen? Sicher, es gibt dafür Beispiele. Aber auch solche, die weniger überzeugen. Zu ihnen gehört Feuerbach. Wir sind deshalb oben kurz auf ihn eingegangen, weil er, studiert als Gesamterscheinung, die unabweisbare Frage aufwirft, ob seine Themen tatsächlich. großenteils erledigt sind, ob er von Marx und Engels in jeder Hinsicht überboten wurde.41 Wer sich freilich heute vor Feuerbach nicht nur ehrerbietig verbeugt, sondern versucht, einige seiner Resultate einzubringen in aktuelle Debatten, zieht sich sogleich von seiten der Orthodoxie den Vorwurf eines »Rückfalls in den Feuerbachianismus« zu. Die vorliegenden Studien suchen das Interesse für den älteren Materialismus zu beleben, ohne dessen Kenntnis auch die Marxsche Theorie unverstanden bleibt. Dabei ist von vornherein klar, daß es verfehlt wäre, sich an wissenschaftsgeschichtlich Veraltetes zu klammem, an das die vormarxschen Autoren. in Einzelaussagen gebunden sind; muß doch der Materialismus, wie Engels feststellt, mit »jeder epochemachenden Entdeckung schon auf naturwissenschaftlichem Gebiet . . . seine Form ändern«.42 Ohnehin hätte heute eine Rezeption des vormarxschen Materialismus sich mehr zu kümmern um dessen eigenartig theoretisch-atheoretischen Doppelcharakter. Was die philosophische Schwäche vieler materialistischer Ärzte und Naturforscher der Vergangenheit ausmacht: die Unschärfe ihrer (zudem naiv-realistischen) Begriffe, wird häufig dadurch kompensiert, daß sie die Bedingtheit, Bedürftigkeit und Todesverfallenheit des Menschen unverblümt aussprechen. Ihre Schriften halten sich, mit Erich Kästner zu reden, ans »hoffnungslos Konkrete« unserer ExistenzY Die schneidende Erglücklich< ist ... , ist aber nichts anderes als der gesunde, normale Zustand eines Wesens, · . . der Zustand, wo ein Wesen die zu seinem individuellen, charakteristischen Wesen und Leben gehörigen Bedürfnisse oder Triebe ungehindert befriedigen kann und wirklich befriedigt.... Jeder Trieb ist ein Glückseligkeitstrieb, ... auch im Menschen, und kann daher ihn so einnehmen, daß ihm die Befriedigung desselben für die ... ganze Glückseligkeit gilt; denn jeder Gegenstand, ... wonach er einen Trieb empfindet, ist, wiefern er · .. die Begierde nach ihm stillt, ein den Menschen Beglückendes · .. Die allererste Bedingung des Willens ist daher die Empfin-

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Cf. dazu die Marxschen Thesen über Feuerbach, in: Marx/Engels, Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 5-7.

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dung. Wo keine Empfindung, da ist. .. kein U ebel; wo aber kein Uebel, da ist auch ... kein Trieb, ... sich des Uebels zu erwehren, kein Wille .... Widerwille gegen Noth und Pein ... ist ... der Wille, womit ein empfindendes Wesen sein Dasein beginnt und erhält.«16 Glück ist für den Materialisten vormarxschen Typs nur in dem beschlossen, was vom Individuum - im weitesten Sinn -lustvoll empfunden wird, handle es sich dabei, wie im Hedonismus des Aristipp, um einzelne, verschieden intensive Lüste oder, wie bei Epikur, um die Glückseligkeit des ganzen Lebens. Seit dem Altertum reduzieren die materialistischen Denker Ethik auf Physik, worunter sie die Lehre vom körperlichen Sein verstehen. Wie sie dieses aus mechanisch bewegten Atomen ableiten, so erklären sie die Individuen zum Zweck alles Handelns. Unserwie immer vergeistigtes - Gefühl ist der verläßlichste Maßstab, wonach wir Ubel und Güter beurteilen können. Lust wird als unbedingtes Gut von sämtlichen Lebewesen angestrebt, Unlust, Schmerz als unbedingtes Ubel gemieden. 17 - Leibliches Wohlbefinden ist letztlich die Basis des seelischen. Gleichwohl wäre es falsch, den wegen seiner metaphysisch-erkennmistheoretischen Grundannahmen ohnehin verrufenen Materialismus so zu interpretieren, als sei er sogenannter höherer Ziele bar und laufe auf die Praxis gröbsten Genusses hinaus. Ein altes Vorurteil, das noch Engels bekämpfen mußte. »Der Philister«, schreibt er, »versteht unter Materialismus Fressen, Saufen, Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen, Geldgier, Geiz, Habsucht, Profitmacherei und Börsenschwindel, kurz alle die schmierigen Laster, denen er selbst im stillen frönt; und unter Idealismus den Glauben an Tugend, allgemeine Menschenliebe und überhaupt eine >bessere WeltInteresse< unterschieden war.