Blicke auf die Bildung unserer Zeit und auf Wissenschaft und Kunst der Bildung [Reprint 2021 ed.] 9783112399200, 9783112399194


221 43 15MB

German Pages 244 [260] Year 1835

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Blicke auf die Bildung unserer Zeit und auf Wissenschaft und Kunst der Bildung [Reprint 2021 ed.]
 9783112399200, 9783112399194

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Blicke auf die

Gildung unserer Zeil und auf

Wissenschaft und Kunst der Bildung.

Von

Friedrich Wilhelm Tittmann.

Leipzig, bei

G.

Reimer.

1 8 3 5.

Inhalt

1.

Von dem Wesen der Bildung.......................................

.

.

Seite 1

2.

Von dem Begriffe der Bildung unserer Zeit .....

3.

Ueber Nationalbildung und Weltbildung.......................................... 18

4.

Von der Richtung auf das Höhere................................

5.

Ernst, Strenge, Gewissen

6.

Scharfe, Nichtigkeit, Bestimmtheit, Tiefe, Klarheit

7.

Geist........................................................................................ .......

69

8.

Ausbildung der Rede..................................................

78

9.

Bildung für Kunst und Schönheit........................................

13

28

...........

.

.

55

10.

Bildung an klassischen Werken.......................................

11.

Philosophie...............................................................................114

12.

Sittliche Bildung.............................................................

13.

Von unserem öffentlichen Leben.................................

14.

Religiöse Bildung

15.

Wissenschaft und Kunst der Bildung in unserer Aeit

16.

Ergebniß............................................

.

46

86

101

136 155

.............................................................. .

164

.

174

207

1.

Von dem Wesen der Bildung. Qfin Volk, welches nur einen kleinen Theil der Erde kannte, eine höchst dürftige

Geschichte

unabsehbarem Abstande gegen

hatte,

in

unsere Zeit

Naturforschung

war,

zurück

in

von

der Welt so wenig wußte, daß es glaubte, der Himmel drehe sich um die Erde, welches von den zahllosen

Leben

erfolgreichen

Entdeckungen

Zeiten keine Ahnung hatte,

einer Stufe der

und

und

Erfindungen

dieses Volk stand

Bildung, von

welcher

die

für

das

späterer

dennoch

auf

folgenden zwei

Jahrtausende fern geblieben sind und die Zukunft, wie mich dünkt,

fern bleiben wird.

Wie groß auch der Gewinn seyn möchte von

dem, was wir vor den Griechen voraus haben, — obschon

die Bekanntschaft mit mehr Erdtheilen und mit mehr Plane­ ten uns nicht so viel höher stellt in der Bildung, wie man

glaubt, — Alles was wir besitzen, wird weit von der Gei­ stesbildung der Griechen überwogen.

Alle die Kenntnisse also, welche das gebildetste Volk der

Erde nicht hatte, und die wir vor ihm voraus

haben, kön­

nen nicht das Wesen der Bildung ausmachen. Der Grad des

Besitzthums an Kenntnissen ist nicht Maßstab der Bildung weder die Ausdehnung des Kreises, noch die Vollständigkeit der Kenntniß l

2 von einem Gegenstände.

Zeder sieht,

daß

man im Besitze

solcher Kenntniß sehr wenig gebildet sein kann; ja es wird Pedantismus und Ungeschick

als

solchem Wissen

nahe liegend

um

von uns die

betrachtet. Allein wir können nicht genug thun,

Täuschung abzuwehren, welche aus der Convenienz der Zei­

ten

und

aus

Glänzenden

der Vordringlichkeit

des

Aeußern

Ausführlicher

wird

hierüber

fließt.

Abschnitte dieser Schrift zu

sprechen

sein,

und

des

im letzten

nach

wir

wenn

der Quelle der Täuschungen unserer Zeit in der Ansicht von Jede Zeit hat ihre Convenienz,

ihrer eignen Bildung forschen.

welche diese oder jene Kenntniß zu einem Merkmal und ei­

ner

Bedingung

der

Bildung

wie etwa eine über das

Ansicht wohl gar Fertigkeit in dung hält.

durchaus

Wesen

der

fremden

erhebt,

willkührlich

ganz irrende

Bildung

Sprachen für Bil­

Civilisation oder Cultur, die doch von Bildung

nicht dem Grade nach, sondern der Art nach verschieden ist,

Verfeinerung und

Bereicherung

des

Lebens

Nahrung,

in

für

Tracht, Wohnung, Geräthe, Vergnügungen wird dung genommen, obgleich

künstlichsten und

alles dieß bis zu dem

erfolgreichsten

Maschinen,

bis

zu Dampf­

maschinen und Eisenbahnen hinauf nicht Bildung ist.

tur und Glanz des äußern Menschen

Bil­

Besitz der

giebt leicht

Poli­

mehr

ein

Ansehn der Bildung, als alle Erhöhung des innern Werthes.

Weder Fertigkeit, noch Kenntniß, auch nicht der Besitz der Wissenschaft, noch irgenh eine Bereicherung des gehört in anderm Sinne zur Bildung, als in

durch die Persönlichkeit vervollkommnet,

veredelt

so

Lebens

fern da­

und verfei­

nert, das Wesen und Vermögen des Menschen erhöht wirk

Besitz selbst philosophischer Wissenschaft, wie tief und ausge­ dehnt er sey, verleiht nicht an , sich Anspruch auf den Titel

der Bildung, sondern nur

in

Betracht der vorausgesetzten.

3 Vervollkommnung des Geistes.

Man wird nicht jeden Pro­

fessor der Philosophie oder der Mathematik oder der Geschichte

auf seine Bildung

in Beziehung

dung anrechnen, in

dem

so fern man in ihm dadurch gewonnene

Die unbedeutendste Uebung

Verfeinerung des Geistes findet.

der Musik,

Sinnes

und

aber

wohl

jede Bekanntschaft mit diesen Wissenschaften für Bil­

Laien

in

preisen,

die

der

weit

so

Schönheit

sie

zur

Musik,

zum

Verständniß

für

Empfänglichkeit

und

führt,

ohne

eigene

des

tiefen

die

Kunst

Ausübung

die Ausbildung des Sinnes für Musik wird als Veredelung,

Verfeinerung und Bereicherung des Geistes zur Bildung ge­

rechnet, nicht aber ohne diese Beziehung die

größte Fertig-

tigkcit des Virtuosen. Der Werth und die Bildung des Menschen ruht in der

Richtung seines

Strebens,

in

seiner

der Erhöhung

Kraft,

in der Bereicherung des Geistes, und in der aus diesem Allem

aber auch

hervorgehenden,

wieder

Veredelung und Verfeinerung alles

an

sich zu

betrachtenden

Seins und Thuns,

al­

ler Züge, aller Gestaltung.

Es liegt in dem Begriffe der Veredelung,

daß sie vor

Allem enthalten ist in der Richtung des Strebens

auf das,

was in dem Menschen das Höhere, was der Charakter des

höheren Lebens, was des Menschen höhere Bestimmung ist. Das Recht

des

Höheren bedarf keiner Nachweisung.

wird mit der Benennung selbst anerkannt. sein Recht darin, daß es das

Hohe

ist,

Das Hohe

In

tung aber hat der Strebende seinen Charakter.

des Strebens

ist

hat

Schöne

das

wie

das seinige darin, daß es das Schöne ist.

strebt, das ist. er.

Es

Rich­

der

Was jeder

Charakter ist nichts Anderes als Richtung

und

Niedrigkeit, nach

Wollens. Hohem,

Streben das Hohe sei,

Nach Adel.

Niedrigem

Was

ist nicht Gegenstand

zu

aber des

1 *

streben

in

dem

Zwessels;

4 jeder weiß, was oben und was unten ist.

Und doch ist

wohl vielen ein Anstoß, wenn die Forderung des

ausgesprochen wird;

nach dem Höheren

es

sich

nicht

gern

klar

macht,

Anstoß

Blicke, der

Hohe

das

daß

ein

ist

dem in bequemer Niedrigkeit sich behagenden

Strebens

es

das

einmal

Hohe ist. Hier wäre der Ort von der Bestimmung des Menschen zu sprechen, wenn nicht der Verfasser schon in

einer

frühe­

ren Schrift, über die Bestimmung des Gelehrten, an welche die gegenwärtige sich überall zu gegenseitiger Ergänzung an­

schließt, seine Ansicht dargelegt hätte, und daher für angemes­ sen finden müßte, früher Gesagtes nicht zu wiederholen, son­

dern

nur

Schrift ist

das

Ergebniß

aus

der

zusammen

Stufenfolge

zu

fassen.

der zwei

Lebens, nach dem Selbst und nach dem Außen, sen worden, daß der Charakter des

In jener

Richtungen

höheren

des

nachgewie-

Lebens in

der

Verläugnung des Selbst, in der Erhebung über die Indivi­

dualität, in der Vereinigung mit dem Leben

eines

höheren

Ganzen und mit dem allgemeinen Gesetze, enthalten ist,— daß schon in dem Leben der organischen

Körper die

höhere

Richtung aus der individuellen Abgeschlossenheit herausstrebt und

dieses Streben immer auf der höheren Stufe zunimmt, und daß, wo Wille ist, die Erhebung über das

ben von der Vernunft geboten wird.

individuelle Le­

Es ist dort die Ver­

läugnung der Individualität und der Eintritt in

Ordnung von

der

zwiefachen

eine höhere

Seite betrachtet worden:

stens daß der Einzelne sein Gefühl und sein Begehren

seinen Willen über das eigene Interesse

hinaus

er­

und

auf fremde

Interessen und auf die allgemeine Ordnung und das Gesetz,

auf daS Gute, das Edle, das Schöne richtet, daß fremdes Interesse und daß das Gute und Schöne sein Interesse ist;

zweitens daß

er,

mit dem

Erkenntnißvermögen,

ganz

aus

5 dem Kreise des äußeren Lebens, wo das Interesse Bortheil liegt, sich herauszieht, und sich

innern Leben, dem Leben in der

und

der

dem

hinwendet zu

Anschauung

und

Erkennt­

niß der Welt und des Gesetzes und des Schönen und Gu­ ten.

Das Höhere des Menschen liegt

Gesetz,

zur Anschließung an das an

Sein

des

Herausgehn

aus

Leben

das

Dieß ist

das

Richtung des

und

die

an

Ordnung,

höhere

an

Ganzen,

das

die

Außen.

und

Individualität

der

welcher

in

Strebens,

der Bestimmung

in

die

Vervollkommnung

des eignen Wesens und jeder Leistung der höchste Zweck ist. Diese Richtung ist Bildung und Sittlichkeit und Güte, mit

welchen Worten man alle rechte Richtung bezeichnen möchte. Diese Richtung ist die Erhöhung des Wesens, und so weit

der Mensch sich von ihr

entfernt,

so

weit

reiht er sich

in

die niedern Kreise des Seins, so weit verfehlt er seine Be­

stimmung.

Denn der

höhern Bestimmung

hinzugeben,

sich

ist die Bestimmung deS Menschen.

So ist also die

Richtung

auf das

Höchste der Bildung des Menschen, aller intellektuellen ist

das

wie

wie

Höhere

das

Streben

nach

nung, Verfeinerung, Veredelung, die einzig

durch

Verläugnung des

das

sie die Grundlage

geistigen Bildung ist; denn

Bildungsstreben,

auf das Selbst,

selbst

in

ihr

Vervollkomm­

rechte Richtung

Selbst und

seine

Ausgebung an das Gesetz und an eine höhere Ordnung ein

vervollkommnetes, höheres Selbst wieder zu gewinnen.

Alle Kraft und Sicherheit dieses höheren Strebens aber,

also die wahre Grundlage aller Bildung und aller Sittlich­ keit, ruht in der Innerlichkeit des Triebes zur Vervollkomm­

nung, welche in Beziehung auf das ganze Thun und Sein des Menschen überhaupt Ernst und

Beziehung

auf

die

Pflicht

Strenge,

Gewissenhaftigkeit

in

besonderer

heißt.

Wie

Gewissenhaftigkeit die Grundlage aller Sittlichkeit, so ist Ernst

6 und Strenge die Grundlage aller Bildung überhaupt/, und

der Leichtsinn ist das Verderben aller Bildung , wie die Ge­ wissenlosigkeit das Verderben aller Sittlichkeit ist. möchte dir

Worte

Ja man

nicht unterscheiden, sondern

Strenge alles Bildungsstrebens auch

mit dem

Ernst

und

Worte Ge­

wissen bezeichnen, weil es nur Ein und derselbe Trieb, und weil es dem Menschen Pflicht ist, zu streben nach Vervollkomm­

nung und Veredelung des ganzen Wesens nicht nur, sondern auch alles einzelnen Thuns, jeder Handlung und jeder Rede,

in Be­

und aller Gattung des Seins und der Erscheinung,

ziehung auf Wahrheit, Richtigkeit, Genauigkeit, Angemessen­ heit,

Schärfe im Denken und Reden nicht minder als im

Wollen und Fühlen.

Das Zweite, worauf die Bildung ruht, ist die Erhöhung und

sowohl in Hinsicht

Gewandtheit der Kraft,

Schärfe,

Klarheit

Bestimmtheit,

und

die Feinheit des

fühl

und der Gesinnung,

in

und Taktes

Urtheils als

auch

auf die

Tiefe des Denkens

und

in

dem

Ge­

Hinsicht auf die

Kraft und Festigkeit des Willens, des Strebens nach dem Guten und Schönen, nach Vervollkommnung, nach Bildung.

Die Ausbildung nun

sowohl

des intellektuellen Vermögens

als auch der Kraft des Willens hat wieder gemeinschaftliche

Grundlage mit der Bildung für die höhere Strebens.

Denn auch ihre

die Strenge.

Da sich

dies

Richtung des

ist

der Emst und

in Beziehung

auf die Kraft

Grundlage

des Willens mehr von selbst vor die Augen

stellen

möchte,

so möge es hier vorzugsweise in Rücksicht auf das

intellek­

tuelle Vermögen betrachtet werden. Man gebraucht das Wort Scharffi'nn, vielleicht weniger das Wort Schärfe, auch in einem Sinne,

keit

des

Denkens

nicht

wesentlich

damit

wo die Richtig­

verknüpft

Ein philosophisches System wird wohl auch dann

wird.

scharffin-

7 nig genannt, wenn man glaubt, daß es von heit weit abirre.

zu dem Wesen der Schärfe, daß die dringens in den

Wahr­

der

Zn einem reineren Sinne hingegen gehört

Gegenstand

Feinheit ihres Ein­

zur Wahrheit führe,

daß sie

wirklich auffinde, was tief liegt, statt daß jener Scharfsinn

mehr nur auffindet, was verborgen liegt.

Jedenfalls kann

der Scharffinn seinen hohen Werth nur dann haben,

er zur Richtigkeit und Klarheit führt.

wenn

was

Sonst ist,

er

leistet, bloß ein Kunststück, oder das mißlungene Werk eines sich auszeichnenden Vermögens, das viel leisten könnte, aber nicht leistet was es kann und soll.

als ein weniger

der

Und wo

sinn irrt, da führt er nur weiter

von der

Scharf­

Richtigkeit ab,

scharfsinniges Denken, eben weil

er wei­

ter führt.

Was aber die Schärfe mit der Wahrheit vereinigt, was

dem Gedanken und der Rede, deren Bildung von der Bil­

dung des Gedankens nicht zu sondem ist, was

allem

Ur­

theile Bestimmtheit und Klarheit, was allem Thun und al­ ler Gestaltung Angemessenheit giebt und in Allem das Rechte finden läßt, das ist wieder die Strenge mit ihrer Genauig­

keit und Gründlichkeit,

zum nnverrückten

welche sich

nicht nachlassenden Strebens setzt,

Ziele

immer bis zur Wahrheit

zu dringen, immer das Rechte zu treffen; es ist der Ernst,

welcher nur von der Auffindung der

Wahrheit, sonst

nicht

von der, wenn auch noch so ungemeinen Leistung eines her­

vorragenden Vermögens befriedigt werden kann. wöhnung zur

Richtigkeit,

Strenge ist

Bestimmtheit

also die Bildung zur

und

Klarheit des

Die

Ge­

Schärfe,

Denkens

und

der Rede und alles Urtheils und Taktes, so wie zur Kraft

und

Tüchtigkeit des Willens

und

des

Charakters.

Und

wiederum ist die Gewöhnung an die Schärfe des Gedankens und der Rede, so wie an Bestimmtheit

und Festigkeit des

8 Bildung zur

Willens

Strenge,

Anwendung

sie

weil

und

Uebung der Strenge ist.

Hieran zunächst schließt sich wieder der Gewinn für Bildung aus der Bereicherung an Wissen und Können.

die

Denn

zunächst erscheint als Vervollkommnung durch Kenntnisse die­

Geistes, , so wie

ses, daß die Kraft und Gewandtheit des

durch die Uebung bei der Erwerbung der Kenntnisse, so auch

durch ihren Besitz erhöht, ferner daß

Beschäftigung zur Richtung Allein

auch

Geistes

mit

an sich

Höhere

allerdings

kann

Kenntniß und

Geist durch jene

der

auf das

Ausstattung des

die

Erkenntniß

Bildung

Kenntniß

keit sei,

welche den

Geist

sein,

so

Der Frage nun,

weit sie Veredelung des Geistes gewährt.

welches der Charakter der

erregt wird.

oder

der Fertig­

auch

veredelt und

Werth

verfeinert,

und Bildung des Menschen erhöht, ist die von Niemand be­

zweifelte Bemerkung vorauszuschicken, dem Maße höheren

alle Kenntniß in

daß

Werth für die

Bildung

hat,

als

sie

mit Erkenntniß verbunden ist.

Die Kenntniß von Thatsäch­

lichem hat zum

gar keinen,

großen

Theil

nie

aber

einen

gleichen Werth wie die Erkenntniß der Gründe, des Gesetzes,

des Wesens, des Geistes , des ihrer Bedeutung für das sen von

Charakters

Ganze.

dem Allgemeinen

der Dinge und

Hiernach hat das Wis­

den Vorzug

vor

der Bekannt­

schaft mit dem Besonderen. Der Werth der Gegenstände des Wissens selbst aber ist

darnach zu

messen,

Bestimmung des

wie

weit sie

Menschen

ten, was für den Menschen

Alle Bildung bezieht

selbst der

Erfüllung der

nahe liegen und solches enthal­

zu

erkennen

sich auf das

das

Höhere

ist.

Ganze der Persönlichkeit.

Zunächst liegt also, was den Menschen unmittelbar und seine Persönlichkeit selbst betrifft, sodann was ihn immer-nach dem

Höheren zuwendet.

Der erste

aller

Gegenstände

der

Bil-

9 die

düng ist

Gesinnung

Erfüllung

wird. sittlichen

das

Sittlichkeit, das, wodurch

und das

Handeln

die

geregelt,

die

Menschen

des

Bestimmung

seiner

Streben,

und

Würde

seiner

gesichert

Allein gerade dieses Wissen und die Ausbildung

pflegt

Gesinnung

wenigsten

am

der

Veranlassung

zu

sein, daß Jemandem Bildung beigemeffen werde, da doch in der That der Mensch keine edlere Bildung haben kann, als

Feinheit des Urtheils und Takts in chen, Zartheit und

Erkenntniß

Sittli­

des

Sittlichkeit des Gefühls, der Gesinnung

und des Handelns. Abgesehn von dem Verhältnisse des

Werth

lichkeit ist der

des

Wissens

Wissens zur

nach

Sitt­

Höhe seines

der

Gegenstandes zu messen.

Erkenntniß ist Aufnahme des Ge­

genstandes in den Geist.

Der Geist wächst durch Erkennt­

niß nach dem Maße der Größe des aufgenommenen Gegen­ standes.

Und wie der Geist als

Kraft

nur

eine

intensive

Größe und keine Ausdehnung hat, so ist auch in dem Be-

sitzthume des

nie

Geistes

Viele

das

als ob es zusammen genommen

wie das Eine Größere. Höhe,

eine

zusammen zu

zählen,

gleiche

ergäbe,

Größe

Nicht solche Größe ist hier, sondern

die von keiner Zahl niedrigerer Dinge

Höheren Werth

für die

nachdem er das Gute

Bildung hat der

oder das

Schöne,

erreicht wird.

Gegenstand,

und

je

je

nachdem

er Tiefe des Verständnisses der Erscheinungen der Welt, ih­ res Charakters und ihrer Bedeutung

enthält,

setze des Lebens und der Welt,

Natur

der

auf die

Ge­

und des

Gei­

stes, der Vollendung und des Göttlichen sich bezieht. Es ist die Bemerkung gemacht worden, ges Leben .vor

andern denen

mit großen Ideen

und

also die Erfüllung der Lebenskraft erhöhe.

daß

zu »Theil werde,

ihrer Ausführung

ein

lan­

welche

sich

beschäftigen,

daß

Seele, von dieser Beschäftigung

die

Wenn die Lebenskraft überhaupt, wenn

10 wird dadurch gewiß auch die Geistes­

körperliche Kraft, so

kraft erhöht und gestärkt. sichtspunkt für die

Hiervon hauptsächlich ist der Ge­

Gegenstände der

Bildung zu

nehmen.

Nicht bloß Uebung und Gewandtheit des Verstandes kömmt

in Betrachtung, welche vielleicht auch an kleinen Gegenstän­

den erreicht werden könnte, weil sie nur Schwierigkeit, nicht Größe der Gegenstände erfodert.

Aber nicht

hierauf allein

ist bei der Wahl der Gegenstände der Bildung und inson­ derheit des Jugendunterrichts, zu sehen, sondem vornehmlich

auf die Erhöhung der Lebenskraft des Geistes und auf die

Erhebung des Sinnes

zum Großartigen und zum Hohen,

zu jener Großartigkeit des forschenden und gestaltenden Blik-

kes wie des sittlichen Sinnes, welche nur durch den Verkehr mit Großem, Edlem, Erhabenem gewonnen wird, durch die Richtung des Sinnes auf das Höhere, auf das Großartige,

durch den Aufenthalt in einer Region höheren, reineren Cha­ rakters und edlerer Behandlung der menschlichen Verhältnisse,

durch die Beschäftigung mir dem, worin das Gesetz der Welt und des menschlichen Thuns, das Gute, das Schöne, das

Erhabene seinen Sitz hat, wie die Werke klassischer Vollen­

dung sind, wie die Werke der Kunst, wie die Philosophie,

die Naturwissenschaft, die Geschichte des Bildungslebens des menschlichen Geschlechts.

Immer das ist am meisten Mittel aller Bildung, was

zugleich selbst höchstes Besitzthum der Bildung ist, die Rich­ tung des Sinnes auf das Höhere

und

namentlich auf die

eigene Vervollkommnung und die Vervollkommnung alles ein­

zelnen

Thuns,

Schärfe, und

der Uebung

die

unter

erhöhte

Kraft des

Geistes mit ihrer

den Gegenständen der Erkenntniß und

vor Allem

das

Studium

und die Uebung der

Wissenschaft und der Kunst der Bildung.

Das

Nachdenken über

das Wesen der Bildung führt

11 uns überall darauf,

daß

alle Bildung etwas Gemeinsames

hat, daß alle Seiten der Bildung sich gegenseitig fördern;

denn

alle

da

Bildung

auf

die

ganze Persönlichkeit des

Menschen sich bezieht, so ist alle Bildung nur Eine.

haben schon betrachtet, wie

Wir

die Strenge und der Ernst die

Grundlage eben so wohl der Bildung für die höhere Rich­ tung des Strebens,

kraft sind,

als

auch der Ausbildung der Geistes­

und zwar der Kraft des Willens nicht minder,

als des intellektuellen Vermögens.

Eben so ist der Einfluß

der Gegenstände, an denen der Geist sich bildet, ein gemein­

schaftlicher in Hinsicht auf die Bildung für die höhere Rich­ tung des Strebens, auf die Ausbildung der Geisteskraft und

auf die Veredlung und Verfeinerung des Geistes durch Aus­ stattung mit Kenntniß und Erkenntniß. Zn allen diesen drei

Beziehungen führt zur Bildung vorzugsweise die Beschäfti­

gung des Geistes mit dem, was selbst dem Ziele der Bil­ dung am nächsten liegt und am meisten das höhere Inter­ esse des Geistes enthält; die Beschäftigung mit dem, was

am meisten die Vollendung, die Schönheit, die Durchbildung,

was am meisten Schärfe, Klarheit und

Tiefe in sich trägt

und deshalb daran zu gewöhnen geeignet ist,

Vollendung sich nähernde,

also alle der

klassische Leistung, namentlich die

Beschäftigung mit der Kunst; die Beschäftigung mit dem, was am meisten Gegenstand tiefen Denkens

ist, vor Allem

mit der Philosophie. Der

gemeinschaftliche Charakter

aller

Bildung ist die

Vervollkommnung der Persönlichkeit, Veredelung und Verfeinerung.

Nur aus diesem Gesichtspunkte ist die Kraft wie

die Ausstattung des Geistes zu beurtheilen.

Nicht die Be­

kanntschaft mit Werken der Kunst, selbst nicht das Ver­

ständniß des Sinnes und der Schönheit dieser Werke an sich

ist das Höchste der Bildung, welche Werke

der Kunst ge-

12 ben, sondern die Veredelung des in das Schöne eingetauch­

ten Sinnes,

insonderheit die Erfüllung der

Schönheit und

ihre

Richtung auf das

Seele von der

Schöne.

Und der

Ruhm der Bildung wird auch nach dem gewöhnlichen Sprach­

gebrauchs so wenig von

der Stärke der geistigen Kraft als

von der Masse der Kenntnisse,

rung des

Geistes zu

Vermögen

einer

sondern

Ein

verliehen.

ausgezeichneten

der

von

Mensch,

dessen

Tüchtigkeit

Verfeine­

geistiges erwachsen

wäre, überhaupt oder in dem Besitze einer Wissenschaft, kann doch ein wenig Gebildeter fein.

Sowohl die Betrachtung des Zusammenhangs aller Bil­ dung,

als

die Zurückführung aller Bildung auf Ver­

auch

edelung der Persönlichkeit leitet uns auf das Verhältniß zwi­ schen innerer

und äußerer Bildung.

Aeußern hat

an sich ihren Werth,

standen und

gemißbraucht,

dorben, das

Unwesentliche an die

gesetzt, das

Werthlose

mit

Glanzes angethan, und

Jede Verfeinerung des

Denn wenn sie mißver­

wenn dadurch das

einem

der

Urtheil ver­

Stelle des Wesentlichen

falschen Scheine äußeren

höhere Werth des Würdigeren

verdunkelt wird, so ist dieß nicht der Verfeinerung selbst als Uebelstand beizumessen,

sondern der irrigen Ansicht.

Verfeinerung, auch des Aeußern,

höht;

Sauberkeit,

Nettigkeit,

Durch

wird stets die Würde er­

Glätte, Anstand, Zierlichkeit,

Eleganz, Feinheit, Adel der Erscheinung giebt Werth. Allein die höhere Bedeutung und die

höhere Würde hat das Aeu-

ßere in seinem Zusammenhänge mit dem Innern, als dessen Schöpfung und Ausdruck, wie die höhere Schönheit des Kör­

pers in dem Ausdrucke der Seele, wie die wahre Schönheit der Rede

nur

in dem

Geffchles

liegt.

Das

Ausdrucke

des

Gedankens

und des

Aeüßere verhält sich zu dem Innern,

wie der Körper zur Seele, wie die Rede zu dem Gedanken.

Durch

die

Gestaltung

kommt die Trefflichkeit

des Wesens

13 nicht allein zur Erscheinung,

sondern oft selbst zum Dasein.

Vieles des Trefflichsten hat sein Wesen nur in diesem Ver­

eine der

Schönheit des

Jnnem und des Aeußem,

wie die

Anmuth der Rede, wie die Schönheit des Kunstwerks,

wie

die Liebenswürdigkeit des Menschen.

Wie als

nun

dadurch

wird,

Einzelne nur in

alles

so weit Bildung ist,

die Persönlichkeit vervollkommnet

so ist auch

das

und veredelt

Wesen der Bildung überhaupt, des

Einzelnen oder eines Volkes oder einer Zeit, daß das Ganze

des Seins, der Erscheinung, des Denkens und Thuns, ver­ vollkommnet,

veredelt,

erhöht worden sei,

das Ganze des Menschen, des Volkes, gen habe und zu Verständigkeit,

daß die Bildung

der Zeit durchdrun­

Vernünstigkeit,

Gediegen­

heit, klassischer Vollendung, Weisheit und Güte und Schön­ heit geworden sei;

denn dieß Alles «st die Bildung.

Richt

in einzelnen Punkten ist die wahre Bildung, sondern in dem Charakter

des

Das Ziel ist

Ganzen.

die Totalbildung,

ein Aggregat

nicht

sondern die Totalität der Bildung oder

partieller Bildung,

(wenn diese

passen,)

Worte

welche gar

nicht in einzelner Fähigkeit oder Ausstattung ist, sondern in der und

Vervollkommnung und

Thuns.

Die

Veredelung

Bildung ist

eine

des ganzen

Einheit,

eint

Seins Tota­

lität.

2.

Von dem Begriffe der Bildung unserer Zeit und der Bildung der Zeit überhaupt. Was wir unsere Zeit nennen, hat einen sehr verschiedenm Umfang Zeit, die

in

nach den

verschiedenen Eigenthümlichkeiten der

Betrachtung

gezogen

werden.

Ohne weitere

13 nicht allein zur Erscheinung,

sondern oft selbst zum Dasein.

Vieles des Trefflichsten hat sein Wesen nur in diesem Ver­

eine der

Schönheit des

Jnnem und des Aeußem,

wie die

Anmuth der Rede, wie die Schönheit des Kunstwerks,

wie

die Liebenswürdigkeit des Menschen.

Wie als

nun

dadurch

wird,

Einzelne nur in

alles

so weit Bildung ist,

die Persönlichkeit vervollkommnet

so ist auch

das

und veredelt

Wesen der Bildung überhaupt, des

Einzelnen oder eines Volkes oder einer Zeit, daß das Ganze

des Seins, der Erscheinung, des Denkens und Thuns, ver­ vollkommnet,

veredelt,

erhöht worden sei,

das Ganze des Menschen, des Volkes, gen habe und zu Verständigkeit,

daß die Bildung

der Zeit durchdrun­

Vernünstigkeit,

Gediegen­

heit, klassischer Vollendung, Weisheit und Güte und Schön­ heit geworden sei;

denn dieß Alles «st die Bildung.

Richt

in einzelnen Punkten ist die wahre Bildung, sondern in dem Charakter

des

Das Ziel ist

Ganzen.

die Totalbildung,

ein Aggregat

nicht

sondern die Totalität der Bildung oder

partieller Bildung,

(wenn diese

passen,)

Worte

welche gar

nicht in einzelner Fähigkeit oder Ausstattung ist, sondern in der und

Vervollkommnung und

Thuns.

Die

Veredelung

Bildung ist

eine

des ganzen

Einheit,

eint

Seins Tota­

lität.

2.

Von dem Begriffe der Bildung unserer Zeit und der Bildung der Zeit überhaupt. Was wir unsere Zeit nennen, hat einen sehr verschiedenm Umfang Zeit, die

in

nach den

verschiedenen Eigenthümlichkeiten der

Betrachtung

gezogen

werden.

Ohne weitere

14

Wenn wir aber von dem

genwart, also gar keine Dauer.

Charakter oder der Bildung wir

von

Charakter

unserer Zeit sprechen,

insofern der

unsere Zeit

ihr

unsere Zeit nur die Ge­

enthält der Begriff:

Bestimmung

Vergangenheit entgegen,

als

verschieden

ist.

Vergangenheit

der

dem

so setzen

Daher geben wir dann dem Begriffe unserer Zeit die Dauer, welche der

Charakter hat,

Und da die

den wir unserer Zeit zuschreiben.

verschiedenen Züge des

verschiedene

Dauer

haben,

so

Charakters

hat auch

der

unserer Zeit

Begriff un­

serer Zeit einen verschiedenen Umfang. Sie kann über Jahr­

hunderte

gerechnet

hinaus

werden,

entgegenstellen.

Menschenalter, welche

werden

wir den Geist

insofern

unserer Zeit dem des Mittelalters oder dem

des Alterthums

In anderer Beziehung ist sie jünger als ein indem ihr

Eigenschaften

beigemeffen werden,

die nächst vergangenen Jahre nicht hatten.

wir unter

unserer

Zeit

nicht

eine

Jahre, etwa ein Menschenalter begreifen;

immer verschiedenen

Zeitraum,

seit

Darum

gewisse

Anzahl

sondem stets den

welchem der

Charakter

dauert, den wir eben als das Eigenthum der Zeit betrachten. Die Bildung der Zeit unterscheidet sich von der Bildung de§ Einzelnen darin, daß sie ein vollständiges, abgeschlossenes

Ganzes ist, da hingegen der Einzelne mit seiner Bildung zu

einem großen Theile seinem Volke und seiner Zeit angehört. Was

hervor.

hier

gemeint ist,

Der Einzelne

tritt am

meisten

an

der

Sprache

kann sich wohl einen eigenthümlichen

Ausdruck, eine Eigenthümlichkeit in dem Gebrauche der Sprache bilden.

Allein das Ganze der Sprache, die immer ein gro­

ßer Theil der Bildung des Menschen ist,

Einzelnen, sondern tion und der

Zeit.

gehört nicht dem

ist gemeinschaftliches Eigenthum der Na­

Der Einzelne kann sich dem Charakter

der-Nation und der Zeit- der in der Sprache enthalten ist,

nicht entwinden, und da in der Sprache Geist und Bildung

15 liegt, so ist, was

der Einzelne

davon annimmt und besitzt, nicht das seinige.

Eigenthum seines Volkes und seiner Zeit,

Nicht anders ist es mit den Gewohnheiten des Lebens, nicht

anders mit der Weise des Denkens und des Sinnes, soweit Charakter durch das Ganze eines Vol­

allgemeiner

sich ein

kes und einer Zeit zieht.

weit

So

das Bildungsleben

ist

nicht Einzelleben, sondern gleich dem Jnstinktleben der Zug­ vögel oder kunstfleißiger Insekten, wo das obgleich besondere Thun

organischer

Wesen dennoch

und zum tellurischen greift

in

das

Leben

zu

gehört,

der

Sonderleben

die Zeit besitzt, ist durchaus

ihr

in die Breite ein

vielleicht weit ein­

das

Was hingegen

Einzelnen.

abgeschlossenes

nicht einem größer» Ganzen angehörig. der Zeit ist

einem Gesammtleben

Vollständiges,

außerhalb deren Anderes läge.

Eigenthum,

Denn der Moment ohne Grenze,

Nur in die Länge, nicht in

die Breite gehört die Zeit einem größer» Ganzen, und giebt es Abschnitte der Zeit.

In dem

Vorstehenden

kam

bloß

in

was gar

Frage,

nicht als Bildung des Einzelnen, sondern nur als Gesammt-

bildung der

Zeit

betrachtet werden kann, wie die Sprache,

nicht aber in wie weit ein Unterschied sei in der Anrechnung der Bildung,

je nachdem die Zeit,

sie sich selbst gegeben hierin

gleicht

die

oder

oder auch der Einzelne,

bloß ausgenommen hat.

Bildung der

Denn

Zeit mehr der Bildung des

Einzelnen; jeder Zeitabschnitt hat seinen vorhergehenden, von

welchem

er

Bildung

anzurechnen,

empfängt.

Es

anzurechnen,

aber

der Zeit

dennoch als

bloß was sie erzeugt hat,

nicht

dern Ayes, was sie besitzt. als Bildung

ist

son­

Ja es ist schon dem Einzelnen was nach dem Vorstehende» nur

als Bildung seiner Zeit betrachtet werden kann.

Wenn der

Deutschedes neunzehnten Jahrhunderts eine verfeinerter« Sprache spricht

als

der Deutsche des

neunten Jahrhunderts, so ist

16 zwar die Sprache, die

er

zunächst nicht seine Bil­

spricht,

dung, sondern Bildung seiner Zeit,

aber

so weit er eine feinere Sprache spricht.

Antheil an der Bildung

der Zeit ist Bildung.

Anrechnung von

gebildeter,

Noch weniger kann überhaupt in der

der Bildung

anderwärts

er ist

einen Unterschied

bestimmt

worden

ist.

Lehre, die Methode, das Beispiel,

der

machen,

daß sie

Wie sehr auch die

Geist unserer Erzie­

her unsere Bildung und selbst unsere individuelle Entwicklung

bestimmt haben mag, so ist doch die Bildung, die wir uns erworben oder von außen empfangen haben, nichts desto we-

niger unser.

So gehört also zur Bildung unserer Zeit, zur Bezeich­ nung ihres Charakters nicht bloß, was aus ihr hervorgegan­ gen ist, sondern Alles, was sie hat. Nur ist nicht zu über­

sehn, daß wir in dieser Beziehung nur das haben, was in

unfern Geist eindringt. wo

aber

d'e

edelsten Werke

Es hat viele Jahrhunderte gegeben,

des

Alterthums vorhanden

nicht gelesen wurden.

Jemand für Bildung jener

Diesen

Besitz wird

so

waren,

wenig

Zeiten rechnen wollen, als den

Einzelnen wegen des Besitzes einer unbenutzten Büchersamm­ lung für gelehrt halten.

Und nicht bloß, was wir gar nicht

gebrauchen, ist nicht Bildung für uns,

sondern wir- können

namentlich Literatur und Kunst nur so weit unsere Bildung nennen, als

ihr

Verständniß

uns

eröffnet ist.

Daß

wir

jetzt Göthe's und Mozart's Werke, daß wir Erzeugnisse des griechischen Volkes besitzen, erhöht unsere Bildung nur in so weit, als wir den Geist dieser Werke, ihre Tiefe, ihre Voll­ endung in

uns

aufzunehmen, als wir ihre

verstehn und zu fühlen

vermögen.

Darum

Bedeutung

zu

ist Vermehrung

und der

Wissenschaft nicht durchaus

Vermehrung der Bildung, als

ob der alte Besitzest) weit

der Werke der Kunst

die Werke bleiben, nicht verloren

gehen könne,

und immer

17 neuer hinzukomme.

Allerdings verlieren wir, was wir zu ge­

brauchen oder zu verstehen aufhören, was nicht bloß, obwohl

am meisten, mit Werken geistvoller Auffassung, namentlich der Kunst, sondern auch mit Werken der Wissenschaft, inson­

derheit der Philosophie, geschieht.

Deshalb darf keine Zeit sich

schlechthin ihrer Vorräthe als ihrer Bildung rühmen.

Dieß

gehört wesentlich zur Erklärung, wie die Zeiten in der Bil­ dung zurückgehn können.

Jene byzantinischen Jahrhunderte,

obgleich im Besitze der herrlichsten ererbten Mittel der Bildung,

waren unendlich tief in der Bildung zurückgesunken, und was sie aus der Vorzeit erhalten hatten, war für sie kaum weniger verloren, als was sie nicht mehr hatten.

Es verliert aber

auch an Einzelnem jede Zeit sogar durch die Vermehmng

des Besitzes, weil das Neue, da es am Meisten gesucht wird,

mehr oder weniger das Vorhandene verdrängt.

Die Zeit ver­

liert also das Vorhandene, so weit es verdrängt wird, und

sie verliert überhaupt an Bildung, so weit der Ersatz dem Ver­

lorenen nicht gleich kommen sollte.

Daher nun, weil die Zeit

nie behält, was sie hat, kommt es, daß sie zurückschreitet,

wenn sie nicht vorwärts geht.

Obgleich aber die Zeit ihre Bildung nicht bloß in dem hat, was sie selbst hervorbringt, sondem auch in dem, was sie von der Vorzeit ererbt hat, so ist doch zwischen ihrer Her­ vorbringung und ihrem Besitzthum ein wesentlicher Unterschied in Hinsicht auf die Beurtheilung ihres Verdienstes und ihres

Geistes und in Hinsicht auf die Erwartung, die wir aus der Gegenwart für die Zukunft zu nehmen haben.

Der Geist der

Zeit.und ihr Verdienst liegt nur in dem, was sie schafft. Was sie aus früherer Zeit aufnimmt, ist ihr bloß insofern zu­

zurechnen, als die Empfänglichkeit selbst Thätigkeit ist, insofern wir ihrer Stimmung das Aufleimen und Gedeihen der Saat der Vorzeit beizumessen haben.

Nun ist es aber ferner jeder

18 Zeit mehr zuzurechnen,

wenn sie die thörichten Einfälle der

Vorfahren zur Geltung bringt,

als wenn in ihr sich weiter

verbreitet und sein Recht erlangt, was die frühere Zeit Wahres und Rechtes gefunden und in die Welt gebracht hat. Die von Andern uns mitgetheilte Wahrheit anzuerkennen und festzuhal-

ten ist nicht so Verdienst, wie es eigner Mangel ist, den Irr­ thum Anderer zu theilen; die Thorheit und die Sünde Anderer

pflegen und fortpflanzen und verbreiten ist eigene Schuld. Das

Verdienst der Wahrheit gehört mehr der Zeit, die sie gefunden hat, als der, die sie aufnimmt; wie der Besitz eines Vermö­ gens nur dem als Verdienst angerechnet werden kann, der es

erworben, nicht dem, der es ererbt hat.

Hingegen der Irr­

thum und der Fehler ist der Zeit, welche ihn hegt, verbreitet und befestigt, nicht nur nicht weniger zuzurechnen,

als der,

die ihn erzeugte, sondern sogar mehr, well die Verbreitung

des Irrigen und Schlechten unter eine größere Zahl mehr von dem Geiste der Zeit zeugt, als die Entstehung bei Einzelnen.

Und wie nur an dem, was die Zeit schafft und Pflegt,

ihr Geist zu erkennen ist, nicht an dem Besitze, so ist auch

nur aus jenem die Erwartung ffc die Zukunft zu nehmen.

Nur in dem Geiste der Zeit, nur in dem, was aus ihr selbst hervorgeht, ist ihre Richtung enthalten, und aus der Richtung der Gegenwart erzeugt sich die Zukunft.

Ein Besitzthum, das

nicht von warmer Seele beftuchtet wird, enthält keinen Keim künftigen Wuchses.

3.

Ueber Nationalbildung und Weltbildnng. Wenn man die Nationalbildung preist und damit, wie es wohl geschieht,

geflissentliche Ausbildung nationaler Eigen­

thümlichkeit empfehlen will, so ist dieß ein großer Irrthum,

18 Zeit mehr zuzurechnen,

wenn sie die thörichten Einfälle der

Vorfahren zur Geltung bringt,

als wenn in ihr sich weiter

verbreitet und sein Recht erlangt, was die frühere Zeit Wahres und Rechtes gefunden und in die Welt gebracht hat. Die von Andern uns mitgetheilte Wahrheit anzuerkennen und festzuhal-

ten ist nicht so Verdienst, wie es eigner Mangel ist, den Irr­ thum Anderer zu theilen; die Thorheit und die Sünde Anderer

pflegen und fortpflanzen und verbreiten ist eigene Schuld. Das

Verdienst der Wahrheit gehört mehr der Zeit, die sie gefunden hat, als der, die sie aufnimmt; wie der Besitz eines Vermö­ gens nur dem als Verdienst angerechnet werden kann, der es

erworben, nicht dem, der es ererbt hat.

Hingegen der Irr­

thum und der Fehler ist der Zeit, welche ihn hegt, verbreitet und befestigt, nicht nur nicht weniger zuzurechnen,

als der,

die ihn erzeugte, sondern sogar mehr, well die Verbreitung

des Irrigen und Schlechten unter eine größere Zahl mehr von dem Geiste der Zeit zeugt, als die Entstehung bei Einzelnen.

Und wie nur an dem, was die Zeit schafft und Pflegt,

ihr Geist zu erkennen ist, nicht an dem Besitze, so ist auch

nur aus jenem die Erwartung ffc die Zukunft zu nehmen.

Nur in dem Geiste der Zeit, nur in dem, was aus ihr selbst hervorgeht, ist ihre Richtung enthalten, und aus der Richtung der Gegenwart erzeugt sich die Zukunft.

Ein Besitzthum, das

nicht von warmer Seele beftuchtet wird, enthält keinen Keim künftigen Wuchses.

3.

Ueber Nationalbildung und Weltbildnng. Wenn man die Nationalbildung preist und damit, wie es wohl geschieht,

geflissentliche Ausbildung nationaler Eigen­

thümlichkeit empfehlen will, so ist dieß ein großer Irrthum,

19 dessen nähere Betrachtung zur Feststellung des Wesens und

AlleS Nationale ist, so wie alles

Zieles der Bildung gehört. Individuelle,

Beschränktheit,

Unvollkommenheit,

Entfernung

von der reinen Idee, welche darzustellen das Ziel des Strebens sein soll.

Eine Nationalität ausbilden wollen wäre geflissent­

lich zur Unvollkommenheit bilden.

Das Ziel des Bildungs­

strebens kann nur in der Vernunft liegen. Verständige und Vernünftige,

Nur auf das rein

auf das Schöne, auf das An­

gemessene an sich kann das Streben gerichtet sein, nur auf

die Vollendung, wie wenig auch wir sie erreichen.

Alle Ab­

weichung von diesem Ziel ist Unvollkommenheit, Mangelhaf­

tigkeit, nach welcher nicht geflissentlich zu streben ist.

Es giebt

nur Ein, nur ein allgemeines Ziel des Bildungsstrebens, wie es nur Eine Vernunft giebt. Man denkt sich bei jenem Verlangen nach Nationalbildung

wohl dieses, daß in jeder Nation eine eigenthümliche Gattung der Anlage sei, welche entwickelt werden solle,

wie das Ziel

und die Laufbahn des Einzelnen nach seinen besonderen An­

lagen bestimmt wird.

wie

Allein es ist mit den Rationen nicht

mit dm Einzelnen.

Jedes Volk muß das Ganze der

Bildung zu erstreben suchen.

Soll eine ganze Nation, wie

freilich der Einzelne kann, Verzicht thun auf Pflege der Kunst,

oder irgend eines Zweiges der Wissenschaft,

oder auf irgend

eine Seite geistiger Ausbildung? Und welchen andern Stoff

oder welche andere Richtung der Bildung möchte man dem leichten Wesen und der Beweglichkeit der Franzosen und dem

Emste der Spanier geben wollen? Oder' man denkt sich, daß die Tugmd und gute Art, welche eine Nation vorzugsweise besitze, geflissentlich von ihren

Individuen vorzugsweise zu pflegen sei. an eine volksthümliche, in

Ja man glaubt wohl

dem Volksthum gegründete,

Tu­

gend, wie wir uns insbesondere noch der unlängst gehegten

2*

20 Vorstellungen von Deutschthum erinnern.

Allein die Nation

kann keine eigenthümliche Tugend und gute Sitte haben, die

nicht zu der Tugend und guten Sitte überhaupt

gehörte.

Alles Sitte und Rechte ist nicht als Nationalität, sondern als

Forderung der Vernunft, nicht von diesem Volke, sondern

von jedem Menschen zu erstreben. Ja was man sich wohl zu­ weilen als löbliche Volksthümlichkeit gedacht hat, ist allemal Carricatur, Verzerrung, denn die reine Sitte kann nicht anders

als für Alle sein.

Endlich ist auch nicht etwa nationale Entwickelung in dem

Sinne zu begünstigen, in welchem allerdings individuelle Ent­ wickelung zu wünschen ist.

Die Individualität ist der Aus­

druck eigener Entwickelung des Geistes, selbstständigen Denkens, eigenthümlicher Kraft.

Ausbildung des Denkvermögens zur

Selbstständigkeit ist daher so weit Ausbildung der Individuali­

tät.

Hingegen ist die Nationalität, im Gegensatze gegen die

Individualität, nicht eigenthümliche Entwickelung, sondern ein

Gemeinschaftliches, also Gewöhnung, Verwöhnung nach fremdem Beispiel, also das Gegentheil der Entwickelung eigener

Kraft. In keiner Beziehung also ist Nationalität Gegenstand des

Strebens. Ganz ein Anderes aber ist es, daß bei der Bildung die Nationalität so weit berücksichtigt werden soll, als die An­

gemessenheit zur Nationalität Bedingung des Gelingens ist, als der Zustand der Nation die Ausführbarkeit und das Be-

dürfniß bedingt.

Die Mittel und Wege der Bildung sind

allerdings nach den besonderen Umständen zu wählen, welche

zum Theil in der Nation, nicht bloß in der Nationalität, zum

Theil in der Zeit, zum Theil in einzelnen Verhältnissen liegen. Die Bildung soll aus diesem Gesichtspunkte der Nationalität gemäß sein, nicht aber auf Volksthümlichkeit gerichtet.

Die

Verschiedenheit liegt nicht in dem, wonach gestrebt werden soll,

21 nicht in dem Geiste, der zu wecken und zur Herrschaft zu bringen ist, sondern in den Mitteln und Wegen, in den Ein­ richtungen, welche freilich auf Ausführbarkeit und Erfolg zu

berechnen sind.

Allein auch hier ist den Forderungen der Ver­

hältnisse nur zu weichen und nur so weit, als sie sich unab­ weisbar aufvrängen;

das Oberste ist,

daß auch bei Einrich­

tungen und Mitteln die Natur der Sache, die Zweckmäßigkeit an sich vorherrsche; die Zweckmäßigkeit soll die Verhältnisse besiegen.

In dem Ziele des Bildungsstrebens hingegen kann

keine Nationalität, noch eine Zeit Verschiedenheit bringen.

Es

ist nur das Eine, die Veredelung der Persönlichkeit, welche unter allen Völkern und zu allen Zeiten dieselbe ist.

So ist

es auch recht zu verstehn, was in unserer Zeit so oft wieder­

holt und mißverstanden wird,

daß jede Erscheinung nach ihrer

Stelle, nach Volk und Zeit, beurtheilt werden müsse.

Wenn

wir auch jedes nach seiner Zeit und seinem Volke zu erklären

haben, so bleibt doch immer das Schlechte schlecht.

Und ob­

gleich, was sittlich sei, zum Theil von Convenienz der Völker

und Zeiten bestimmt wird, Sittlichkeit.

Die Schönheit

so bleibt doch eine unveränderliche

aber ist ewig dieselbe, wie die

Wahrheit. Mit dem Vorstehenden soll aber nicht bestritten werden,

daß die Nationalität als Bedingung der Bildung von

Wichtigkeit ist, ja daß sie zur Bildung gehört; ist eine große Individualität.

stimmtheit der Züge.

hoher

Nationalität

Das Besondere enthält die Be­

Das Allgemeine, die Idee, kann nur

an dem Besonderen ausgeprägt werden;

es bedarf des Be­

sonderen zu seiner Erscheinung, nur in dem Besonderen ist es

da.

So ist in der Liebenswürdigkeit immer Individualität.

Aber nicht in der Besonderheit selbst liegt das Schöne und

das Treffliche, sondern in dem Allgemeinen, der Idee, Ideal, das an dem Besonderen erscheint.

dem

22 Nun ist es aber doch auch hier wieder mit den Nationen nicht, wie mit den Einzelnen.

In der Rationalität sind die

zahllosen Individualitäten wieder zu einem Ganzen zusammen­ gefaßt, das sich dem Allgemeinen nähert.

Daß das Indivi­

duelle Besonderheit in sich hält, liegt als nothwendig in der

Sache, in dem Begriffe, nicht so eine gemeinschaftliche Beson­ derheit der Jndividum einer Ration.

Denn die Nationalität

unterscheidet sich darin von der Individualität, daß sie eine

Gemeinschaft des Individuellen enthält, zugleich-Verschiedenheit

von anderen Nationen und wieder Uebereinstimmung der Ge­ sammtheit der Individuen der Nation in diesem Besonderen,

da hingegen in dem Individuellen nur Besonderheit ist. §emer ist die Besonderheit Bedingung der Entwickelung. Das Schaffen des Geistes erfordert eine» Boden, auf welchem er heimisch sei, wie nur in der Muttersprache das Vollkom­ menste geleistet werden kann.

Damit der Geist sich mit aller

Freiheit bewege, muß er sich wie in der Heimath fühlen. Nur in dem Kreise, worin

Schwung.

er bekannt ist, nimmt er kräftigeren

Dieß ist nun für Jeden das Nationale, nächst der

Gewöhnung seines engsten Kreises.

Insbesondere ist die Mut­

tersprache der rechte Boden, auf welchem die Bildung erwächst. Darum

ist also die Nationalität Bedingung

freier, kräftiger Entwickelung und Schöpfung.

selbstständiger, Der Vortheil,

das Studium der Literatur, insbesondere der Poesie, des eig­ nen Volkes liegt in dem Eingänge, welchen sie durch die Ver­

wandtschaft und Vorbildung des

Sinnes

findet,

und daß

leichter die nationale Bildung fortschreitet, weil jeder sich leich­ ter an dm andern anschließen und das sich aneignen und fort-

blldm kann, was seiner Art nahe ist.

Allein immer würde es

Verderben sein, vorzugsweise auf das Geringere, minder Wür­ dige wegen der Befteundung und Gewöhnung dm Sinn zu

richtm und ihn von der reinen Schönheit und Vollkommmheit

23 Dann wäre die Anschließung

und dem Besseren abzuziehn.

an das Nationale Ursache der Beschränktheit und der Unvoll­ kommenheit, wie es denn wirklich nichts giebt, was die Em­

pfänglichkeit für Edleres und Höheres mehr erstickte,

als die

Befangenheit in der Gewöhnung an die Werke und das Thun der Nation, der Zeit,

Verkehr haben.

alles dessen, womit wir den engsten

Jeder ist mehr oder weniger in den Kreis

seiner Zeit, seines Volkes, seiner Umgebungen gebannt.

Also die eigenthümliche Entwickelung des Individuums und der Nation ist von nicht zu bestreitender Wichtigkeit, aber

auch in der Entwickelung der Bildung ist das allgemeine Ge­ setz das Höchste,

wie in der

Entwickelung des organischen

Lebens. Da nun aber die Ausprägung verschiedmer Volksthümlichkeit von mtscheidendem Einflüsse auf die Bildung ist,

so

haben wir auf die Eigenthümlichkeit unserer Zeit in dieser Be­ ziehung zu achten.

Die Vermehrung des Verkehrs, der Be­

rührungen, der Mittheilung und Aufnahme der Leistungm der Völker unter einander macht unsere Bildung immer mehr zu

einer gemeinsamen.

Es ist eine Bemerkung Göthe'ö, daß sich

jetzt eine Weltliteratur bilde.

Ohne dieß weiter auszuführen,

spricht er nur von der allgemeineren Verbreitung der Werke jeder Nationen unter den anderen Nationen, Theilnahme, Auf­

nahme, Nachahmung.

schaftlichen

Dieß führt aber weiter, zur gemein­

Fortbildung, zu einem Gesammtgeiste,

zu Ver­

mischung der Nationalität, zur Austilgung der Volksthüm-

lichkeit.

Darin ist nun für's erste nicht der Gewinn zu sehn, den

man wohl darin zu finden meint.

Da alle Besonderheit Un­

vollkommenheit ist, so möchte man es für Gewinn betrachten, erstens daß durch Abstreifung der Besonderheiten des Nationa­

len die Weltbildung sich mehr dem Allgemeinen, also den reineren

24 Formen der Vernunft, des Verständigen und des Schönen,

nähere, und zweitens daß die Fortschritte in der Bildung we­

niger auf einzelne Nationen beschränkt bleiben, sondern

das

Bessere und die Vervollkommnung mehr über das Ganze des

menschlichen Geschlechts sich verbreite, und so durch gegenseitige Mittheilung der Vervollkommnung eine höhere Vollkommenheit

gemeinschaftlich erstrebt werde. Was nun zuvörderst diese Mittheilung der Bildung be­ trifft, so möchte wohl eine noch größere Steigerung nur rohe­

ren Völkem von Vortheil

sein können.

Unter den fortge­

schrittenen Völkern kann das wahrhaft Werthvolle, was wirk­ lich das eine Volk an Erweiterung der Wissenschaft oder hohem

Besitzthum

Bildung

der

Kunst

erstrebt,

oder

überhaupt

an

Erhöhung

der

nicht für die übrigen Völker verschlossen

bleiben; schon im Mittelalter zog sich die Philosophie und der

Geist der Poesie als Gemeingut durch die ganze gebildete Welt. Sehn wir nun aber auf das, waS jetzt der größere Verkehr

allgemeiner verbreitet, und schließen wir daraus auf die Zu­ kunft, so zeigt sich uns kein Gewinn.

In der Ueberzeugung,

daß unsere deutsche Philosophie hauptsächlich durch Befangen­

heit in einseitiger Richtung von dem Gedeihn zu größerer Klar­ heit zurückgehalten

werde,

möchte man wünschen,

daß die

deutsche Nation ihre Philosophie mit der Philosophie der Fran­ zosen und Engländer vergliche, wie sehr man auch hierin den Deutschen den Vorzug beimessen möchte; allein dieß geschieht

nicht, bei allem Verkehr und aller Verbreitung der Sprache. Und eben so wenig findet die deutsche Philosophie in England

oder Frankreich irgend festen Boden.

Denn hier ist nicht bloß

von Bekanntschaft Einzelner mit dem Fremden und nicht bloß von Bekanntschaft mit dem Fremden die Rede, sondern davon,

daß die eine Philosophie an der andern sich schärfe.

Das ist

aber wieder eine Eigenthümlichkeit unserer starren Zeit,

daß

25 fremder Geist nicht leicht zum Wetzstein wird, daß nicht mit einander zu sprechen versteht, Schon deshalb

ist die

was verschiedenen Geistes ist.

größere Verbreitung

ohne rechte Frucht für die Bildung. —

der Erzeugnisse

Daß wir aber von

den Engländem ihre Romane und von den Franzosen ihre

Dramen erhalten und aufnehmen, können wir uns doch nicht

für Gewinn

zurechnen.

Dazu kommt, daß ja keineswegs,

wie Manche wohl rechnen mögen, nur das Bessere vorzugs-

weift von einem Volke auf das andere verpflanzt wird. Wollen wir auch in Beziehung auf bessere Zeiten des Bildungslebens

der Völker hierin ein Siegen des Besseren im Allgemeinen an­ erkennen, so gilt dieß doch nicht eben so von Zeiten der Ver­

bildung und des Leichtsinns.

Dann wenigstens ist es wohl

mit den Völkern wie mit den Kindern,

welche schneller und

bleibender Unarten

auffassen,

und gemeine Worte

Weise der guten Sitte.

als eine

Die Gemeinheit, der Leichtsinn und

die Richtung auf das Niedrige und Bequeme hat immer viel Einschmeichelndes.

Ferner würde in der Welt nicht weniger Besonderheit und Entfernung von dem allgemein Gültigen sein, wenn auch alles Nationale ausgetilgt würde.

Die Besonderheit liegt nicht so

sehr in dem Nationalen, als in dem Individuellen.

gensatze

gegen individuelle Bildung ist

Im Ge­

Nationalbildung Ge­

meinsamkeit; von der Weltbildung unterscheidet sie sich dadurch,

daß sie die einzelnen Charaktere der Besonderheit auf einzelne Völker zusammendrängt, und es erzeugt sich eine von dem In­ dividuellen verschiedene, größere und großartigere Besonderheit,

die nationale.

In der Weltbildung würde wohl weniger Be­

sonderheit und Abirrung von dem allgemein Gültigen, von dem

rein Verständigen sein, als in der Nationalbildung. Sie würde

sogar nicht bloß eben so viel individuelle Besonderheit, sondern auch, wie die Nationalität, einen Charakter herrschender Züge

26 der Besonderheit haben,

nur nicht auf ein Volk beschränkt,

sondern über die ganze gebildete Welt auSged.'lmt.

Der Cha­

rakter wäre ein allgemeiner, nur nach ter Zeit verschiedener, nicht in verschiedenen Geprägen der Nationalität erscheinend.

Wenn man die Nationalbildung als einseitig betrachtet,

so

würde eine Weltbildung nicht weniger Einseitigkeit haben, und nur Eine Richtung, statt daß aus der Verschiedenheit verschie­

dener Nationalität eine Vielseitigkeit in der Bildung der Ge­

sammtheit der Völker hervorgeht.

Und hier zeigt sich zum zweiten, daß sogar Verlust von einer Weltbildung, von der Auflösung aller Nationalität, zu

fürchten wäre. Der Reichthum der Formen in der Erscheinung des Le­

bens der Welt ist an sich, also überall, Gewinn.

auch die Ausbildung der nationalen Charaktere.

So ist es Wir haben

uns zunächst und vorzüglich an die Verschiedenheit der Spra­ chen zu

erinnern.

Niemand wird bezweifeln,

daß in den

Sprachen eine unendliche Bedeutsamkeit, unendlich viel Geist

liegt, und daß es ein unermeßlicher Verlust sein würde, wenn die Welt nur Eine Sprache hätte.

Nicht anders ist es mit

aller nationalen Bildung. Femer liegt zu Tage, daß die Nationalität durch die Ge­ walt ihrer Massen eine Bestimmtheit, Festigkeit und Kraft des Charakters und Seins enthält, jene Weltbildung aber Ver­

flachung und Unkräftigkeit erzeugen würde. Endlich ist noch die Verschiedenheit der Nationalbildung

und der Weltbildung in Beziehung auf die Bildung und die Macht des Zeitgeistes zu betrachten, was sich an die oben ge­ machte Bemerkung über die vermehrte Mittheilung der Bildung anschließt.

Je weniger abgeschlossen die Nationen sind, je mehr

die Zeit nur ein Ganzes, Vereintes umfaßt, je mehr Gemein­ schaftlichkeit des Ganges der Bildung, desto mächtiger ist der

27 Zeitgeist, aber weil nichts der Zeit entgegensteht, nichts ihre Macht bricht, wie die nationale Verschiedenheit und die Tren­

nung der Völker es thut.

Darum ist in unserer Zeit die Macht

des Zeitgeistes so groß geworden.

Demnach stellt sich die Er­

wartung so, daß durch den allgemeinen Gang einer Weltbil­

dung, da er die Macht des Zeitgeistes erhöht, die Bildung der Welt, wenn der Zeitgeist ein guter ist, gefördert werden, wenn er nicht gut ist, zurückgehen müsse.

Ob nun aber der Geist

unserer Zeit ein guter sei, oder nicht, darüber kann nur das

Ganze dieser Blätter zu einem Urtheile führen. Es folgt, daß für die Bildung Dampfschiffahrt und Ei­

senbahnen und alle die Steigerung des Verkehrs, deren unsere Zeit sich rühmt, kein so sicherer Gewinn find und auch Ver­ lust fein können.

Fragen wir aber, was zu thun fei, so möchte sich dieß darauf beschränken, daß dem Einheimischen,

dem Nächsten,

dem Verwandten sein Recht gegeben werde, einheimische Lite­

ratur gepflegt, Fremdes, Literatur und Kunst oder Sitte, nicht

um des bloßen Reizes des Fremden willen, sondern nur nach ihrem Werthe ausgenommen, am wenigsten vorzugsweise be­

günstigt werde.

Allein nach der Ausbildung nationaler Züge

trachten, wäre vergeblich und Affectation, wie es auch Abwen­ dung von dem Rechten ist.

Das Nationale drängt sich von

selbst in die Bildung ein, am meisten durch die Sprache.

Wir

können uns immer nur das allgemein Gültige, an sich Rechte

und Verständige zum Ziele unserer Bildung fetzen. Die Natur ist es, welche der Bildung eine historische Grundlage giebt und das Besondere bestimmt, das nie gesucht, sondern nur gefun­

den werden muß.

28 4.

Von der Richtung auf das Höhere. Wir haben bereits eben in der Richtung auf das höhere

Leben, in der Richtung auf Erreichung der wesentlichen, der eigentlichen Bestimmung des Menschen das Höchste der Ver­

edlung des Geistes, der Persönlichkeit, das Höchste der Bildung

erkannt.

In

dieser Richtung

seine Freiheit, seine Würde.

ist das

Edle des

Menschen,

Sie ist das Prinzip des höheren

Lebens und des Bildungslebens, das Erste und Letzte der Bildung, Grund und Spitze, der Kern, aus dem die Bildung

erwächst, und selbst wieder die Blüthe der Bildung.

Es giebt

kein entscheidenderes Merkmal eines edleren Menschen, als daß mehr oder weniger bei ihm das Streben nach dem Höheren

zur beständigen Richtung, zum Triebe geworden ist.

In der

Richtung auf das Höhere ist die Sittlichkeit und die Religio­

sität, denn die durchgängige Richtung auf das Höhere allein kann zur Hinneigung zu dem Höchsten, zu dem Göttlichen

führen; weil das Höchste das Göttliche ist, so ist alles Stre­ ben nach dem Höheren Annäherung an das Göttliche.

Die

Richtung auf das Höhere, auf die Vervollkommnung, auf die

Erreichung der höheren Bestimmung des Menschen, auf die

Erfüllung des Gesetzes, auf die Anschließung an eine höhere

Ordnung,

entspringt

aus

einem

besonderen Vermögen des

Geistes, dem Vermögen, welches die höhere Natur des Men­ schen enthält, wovon weiter zu sprechen wir auf den Abschnitt

von der Bildung

zur Sittlichkeit,

seine

eigentliche Stelle

»ersparen müssen.

In dem Streben nach dem Höheren ist das Bildungs­ streben begriffen.

Die höhere Bestimmung des Menschen ist

theils eine höhere Thätigkeit des Geistes, theils Vervollkomm­

nung.

Die Entwickelung des Bildungsstrebens ist also von

28 4.

Von der Richtung auf das Höhere. Wir haben bereits eben in der Richtung auf das höhere

Leben, in der Richtung auf Erreichung der wesentlichen, der eigentlichen Bestimmung des Menschen das Höchste der Ver­

edlung des Geistes, der Persönlichkeit, das Höchste der Bildung

erkannt.

In

dieser Richtung

seine Freiheit, seine Würde.

ist das

Edle des

Menschen,

Sie ist das Prinzip des höheren

Lebens und des Bildungslebens, das Erste und Letzte der Bildung, Grund und Spitze, der Kern, aus dem die Bildung

erwächst, und selbst wieder die Blüthe der Bildung.

Es giebt

kein entscheidenderes Merkmal eines edleren Menschen, als daß mehr oder weniger bei ihm das Streben nach dem Höheren

zur beständigen Richtung, zum Triebe geworden ist.

In der

Richtung auf das Höhere ist die Sittlichkeit und die Religio­

sität, denn die durchgängige Richtung auf das Höhere allein kann zur Hinneigung zu dem Höchsten, zu dem Göttlichen

führen; weil das Höchste das Göttliche ist, so ist alles Stre­ ben nach dem Höheren Annäherung an das Göttliche.

Die

Richtung auf das Höhere, auf die Vervollkommnung, auf die

Erreichung der höheren Bestimmung des Menschen, auf die

Erfüllung des Gesetzes, auf die Anschließung an eine höhere

Ordnung,

entspringt

aus

einem

besonderen Vermögen des

Geistes, dem Vermögen, welches die höhere Natur des Men­ schen enthält, wovon weiter zu sprechen wir auf den Abschnitt

von der Bildung

zur Sittlichkeit,

seine

eigentliche Stelle

»ersparen müssen.

In dem Streben nach dem Höheren ist das Bildungs­ streben begriffen.

Die höhere Bestimmung des Menschen ist

theils eine höhere Thätigkeit des Geistes, theils Vervollkomm­

nung.

Die Entwickelung des Bildungsstrebens ist also von

29 der Ausbildung der Richtung auf das Höhere überhaupt ab­

hängig, folglich hangt auch die Erreichung der Bildung da­

von ab. Es bedarf nicht der Ableitung, daß die Richtung des Strebens auf die Bildung, so wie selbst das Edelste der Bil.

düng, so auch der Grund der Erreichung jeder Bildung ist.

Alle Erreichung beruht auf der Kraft und dem Willen.

Die höchste Aufgabe der Bildung, der Erziehung ist da­ her das Sweben nach dem Höheren, und namentlich nach der

Vervollkommnung der Persönlichkeit und jeglichen Thuns zu wecken und zum Triebe zu erhöhen. Die Grundlage aller Bildung

ist die Richtung auf die Bildung und die Erkenntniß von dem We­ sen der Bildung. In nichts so sehr liegt die Bildungsfähigkeit, als

in der Ungenügsamkeit der Begierde nach Vervollkommnung. Der ist bildungsfähig, der keine Trefflichkeit sehen kann, ohne nach ih­

rem Besitz zu verlangen und, wenn sie ihm irgend zugänglich ist, darnach zu trachten.

Keine bildendere Maxime oder Ge-

wöhnung giebt es, als mit jeder erreichbaren Bildung in Kampf zu treten und nicht eher zu ruhn, als bis sie besiegt ist.

Keine größere Hemmung der Bildungsfähigkeit, als die

Gewöhnung sich bei der Entbehrung einer Trefflichkeit leicht

zu beruhigen; entweder weil man sie weniger für einen Gegen­ stand der Erstrebung, als für eine angeborne Gabe, eine von selbst sich findende Eigenschaft hält, oder weil man die ent­

behrte

Eigenschaft

durch

den

Besitz

anderer

auszugleichen

meint und wohl gar sich nicht für berufen hält, jede Treff­

lichkeit sich anzueignen, da doch jeder Trefflichkeit Entbehrung Unvollkommenheit ist und die Vernunft uns die unerläßliche

Aufgabe stellt, nach jeder Vervollkommnung zu streben; oder

weil man nicht zu erstreben sich entschließen will, was man besitzen möchte, wie Göthe sagt: Die Höhe reizt uns, nicht

30 die Stufen;

den Gipfel im Auge wandeln wir gern auf der

Ebme.

In diesem ersten und obersten Punkte nun, der über die Bildung einer Zeit und ihren Gang, also auch über die Er­

wartung von der Zukunft entscheidet, giebt der Blick auf un­ sere Zeit eine unselige Ansicht und Aussicht.

Wille und Noth

vereinigt ziehn unsere Zeit ab von der Richtung auf das Höhere

und michin auch von dem reinen Biltungsstreben: der Wille,

welcher einer falschen Ansicht von dem Wesen und Ziele der Bildung und der Bestimmung des Menschen folgt; die Noth, welche die Menschen in die Sklaverei der Arbeit zur Befrie­

digung der vermehrten Bedürfnisse des Lebens zwingt, dahin ihren Sinn richtet, und unter diesem Joche den freieren Schwung

des Geistes

unterdrückt.

Ueberall

wendet

dem höheren Ziele der Bildung sich ab.

unsere

Zeit

von

Die Interessen und

Bedürfnisse des niederen Lebens drangen sich mit so ungeheu­

rer Gewalt hervor, ihr Anspruch, daß selbst das Streben und die Ausstattung des Geistes auf ihre Förderung berechnet wer­

den soll, wird so laut ausgesprochen und so willig anerkannt, daß es wohl Fortschritt der Zeit heißt, die Bildung des Gei­

stes vorzugsweise auf Gewinn für das äußere Leben zu rich­ ten.

Denn nichts Anderes will das Prinzip' der Nützlichkeit

in der Lehre von der Erziehung und dem Unterrichte.

Es

gilt für Verdienst, in der Erziehung und dem Unterrichte das

zu suchen, was man, oft sehr irrend, als nützlich für die Zwecke des äußern Lebens betrachtet.

Fürs erste ist das Bedürfniß der Arbeit für die Erfor-

dernisse des Lebens bis zu einem hohen Punkt gesteigert worden, und es scheint immer mehr gesteigert zu werden.

Daß

zahlreiche Klassen, wie Fabrikarbeiter, bei diesen mit dem Kin­

desalter beginnenden Uebermaße der Arbeit, am Geiste wie an

dem Körper verkümmern müssen, liegt vor Augen.

Dieß ist

31 am ärgsten in dem Kreise der Gegenstände, in welchem die

Hervorbringung durch

gefördert wird.

die Erfindungen

unserer Zeit so sehr

Die Arbeit wird um so wohlfeiler, je mehr

die Leistungen der Hände, mit denen der Maschinen und todter Kräfte concurriren.

So viel fehlt, daß diese bewunderten und

in der That anzustaunenden Fortschritte unserer Zeit Gewinn

für die Bildung wären. Klaffen so.

Aber es ist nicht allein mit diesen

Es ist namentlich auch da häufig so, wo die Ar­

beit geistige Kraft erfordert und deshalb die Anstrengung engere

Grenzen hat.

Die Vermehrung unserer Bedürfnisse und die

aus der Concurrenz sich erzeugende verhältnißmäßige Niedrigkeit des Preises der Arbeit sind Ursachen, daß einer großen

Zahl die Beschäftigung mit dem Erwerb der nöthigen Mittel für die Bedürfnisse nicht Zeit zur Bildung übrig läßt.

dieß muß sich immer mehr verschlimmern.

Und

Denn je mehr jeder

arbeitet, desto größer ist die Concurrenz der Arbeit, desto nie­

driger ihr Preis, und dadurch wird wieder jeder zu desto mehr Arbeit genöthigt.

Aber nicht blos

die Zeit der Menschen wird durch die

Nöthigung zu vermehrter Arbeit zu sehr erfüllt, sondern auch

der Sinn der Menschen richtet sich vorzugsweise auf das, wo­ hin die Noth am fühlbarsten drängt.

Hiermit vereinigt sich,

was sonst gerade in der Welt geschieht.

Die Erfüllung der

Seelen von dem öffentlichen Leben läßt nicht Raum für das

reine Interesse des inneren Lebens, und

die Bewegung der

Zeit gestattet dem menschlichen Geschlechte nicht die Ruhe, ohne welche das innere Leben nicht gedeiht. Und wie das Bedürfniß unsere Zeit zu übermäßiger Rich­

tung auf die Angelegenheiten des äußeren Lebens nöthigt und von der höheren Richtung die Seelen zurückhält, so nimmt

auch die Ansicht und das Streben denselben Gang.

Die An-

32 sicht sowohl als das Streben geht dahin, in der Erziehung und dem Unterrichte, in der Bildung, in aller Thätigkeit die

Erreichung der Zwecke des

äußern Lebens zu suchen.

Daß

man dieß thue, dazu bekennt man sich nicht nur, sondern un­ sere Zeit rühmt sich dessen als eines Verdienstes.

Freilich daß

dadurch die höhere, die wahre Bildung zurückgesetzt werde, ge­ steht man sich nicht.

Man glaubt, dasselbe, worin man, auch

darin nur zu kurzsichtig, Nutzen für die Angelegenheiten deS

äußern Lebens sucht, sei ja

als Geistesübung nicht weniger

geeignet, für das innere Leben zu bilden.

thum.

Dieß ist aber Irr­

Allerdings ist die allgemeine Geistesbildung die beste

Bildung für das Geschäft.

Allein die Berechnung der Bil­

dung für das Geschäft kann am wenigsten bei denen der rechte

Weg zur Geistesbildung sein, welche nicht den Werth der Bil­ dung an sich, überhaupt und für das Geschäft erkennen; dieß

sind aber alle die, welche dem Prinzip der Nützlichkeit in der Bildung, in Erziehung und Unterricht folgen und die Bildung

auf das Geschäft berechnen,

denn sie könnten es sonst nicht

thun. Ferner wird stets durch ein überwiegendes Interesse das an­

dere zurückgedrängt, und die Welt kann nicht zwei entgegen­ gesetzten Züchtungen zugleich folgen, nach dem höheren und

niederen Leben.

Darum können leicht die gepriesensten Fort­

schritte unserer Zeit, unsere zahllosen und erfolgreichen Erfin­

dungen, zur Hemmung der Bildung werden, indem sie als

Bildung erscheinen, die Aufmerksamkeit auf die Mittel des

äußeren Lebens vorzugsweise lenken, und das Streben von dem

geistigen Leben

Bildung

abwenden. —

nach dem Princip

Endlich

der Nützlichkeit

kann bei

den

einer

Zöglingen

wohl nicht verborgen bleiben, daß dieses Prinzip zum Grunde liegt.

Mithin werden sie auf dieses Prinzip, nicht aber dahin

gewiesen, nach der Bildung, nach der Wissenschaft um ihrcr

selbst willen zu streben, dem Zweck der Beschäftigung mit der

33 Wissenschaft in dieser Beschäftigung selbst zu suchen.

Und so

entgeht ihnen, was das erste der Bildung ist. Auf diese Weise wird nun in unserer Zeit die reinere

Richtung auf Bildung unterdrückt-

Namentlich die Richtung

auf gelehrte Bildung, an deren Stelle die bloße Geschäftsbil­ dung gesetzt wird.

Die Umwandelung der Universitäten aus

freieren Körperschaften in Staatsanstalten würde ein ungeheu­ rer Nachtheil sein, wenn damit die Idee von der Bestimmung der Universitäten für gelehrte Bildung an sich verloren ginge

und künftig nur die Bestimmung zur Geschäftsbildung, zur Bildung für die nächsten Zwecke des Staates in beschränkte­ rem Sinne noch darin gesehn werden sollte, womit sich dann

ein Mißverständniß über die Beschränkung der Zwecke vereini­

gen würde, welche allein die Regierungen und die Volksver­

treter erstreben und bezahlen sollen.

Wir würden dem Mittel­

alter hierin weit nachstehn, wenn die Universitäten aus Verei­ nen für wissenschaftliche Bildung um ihrer selbst willen in An­ stalten zur nothdürftigen Abrichtung für das Geschäft sich um­ gestalten sollten.

So ist also die Abwendung von dem Höheren des Lebens und die Richtung auf das Niedere der Character unserer Zeit.

Fürs erste hat sie durch die Erschaffung unmäßiger Be­ dürfnisse sich mit Arbeit überhäuft.

Es liegt aber in der

Sache selbst, daß es das größte Hinderniß der Bildung ist,

wenn die Zeit und die Kraft der Menschen in der Herbei­

schaffung der Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse des ge­ meinen Lebens aufgeht.

Schon von den Griechen bemerkte

Anachärsis, daß sie alle vor Beschäftigung sich nicht zur Weis­ heit Zeit nähmen, mit Ausnahme der Lacedämonier, mit denen

allein man ein verständiges Wort wechseln könne.

Und wie

weit stehen wir den Griechen nach!

Dabei ist der Einfluß der Arbeit auf die Bildung der 3

34 Menschen überhaupt zu betrachten.

Da der Müßiggang in der

That der Laster Anfang ist, so mag man mit Recht aus die­ sem Gesichtspunkte die Beschäftigung preisen.

Allein das Ge­

schäft muß nicht für die Bildung, für das Leben des Geistes Zeit

und Kraft

cntziehn.

Und

gemeine Arbeit verunedelt.

Aus der Beschäftigung wird der Mensch; sie bemächtigt sich

des Geistes und der ganzen Erscheinung des Menschen.

Auf

den Gesichtern der Beschäftigten lesen wir ganz unverkennbar,

wie wenig sie gerade in Bildung begriffen sind.

Wenn wir

einen Tagelöhner eine schwere Last tragen oder einen belade­

nen Karrm fahren sehen, so ist an der Miene deutlich zu erkennen, wie wenig unter solcher Arbeit Raum für ein feineres

Denken bleibt, so wie der Einfluß sichtbar ist, welchen solche Be­

schäftigung auf Gemeinheit der ganzen Erscheinung, auf Un­

gleichheit und Geistlosigkeit der Gesichtszüge und Unzierlichkeit deS ganzen Wesens hat.

An der Haltung des Fuhrmanns

ist offenbar, welche Unbeholfenheit sein Geschäft über sein gan­

zes Wesen ausgießt, welche Steifheit davon in die Seele wie

in den Körper kömmt.

Die Gemeinheit der niederen Stände

entspringt wohl kaum so sehr aus dem Mangel an Mitteln der Bildung, als aus der Gemeinheit ihrer Arbeit.

Es ist

aber mit den Geschäften nicht anders, welche nicht mit Hand­ arbeit und körperlicher Anstrengung vollbracht werden, aber auf

eine trockne, todte, ideelose Weise den Geist in Anspruch neh­ men.

Das Alltagsgeschäft der Verwaltung, mit der Anwen­

dung der Wissenschaft, mit höherem Blicke auf di« Verhält­ nisse und auf die Idee verbunden, wird die Bildung des Gei­

stes fördern.

Ohne diese Verbindung aber,

auf den todten

Buchstaben beschränkt und die Thätigkeit des Geistes aufzehrmd, ist es nur zu sehr geeignet, den freieren Schwung des Geistes niederzudrücken, nicht nur für andere Bildung oder Bildung überhaupt, sondern auch zu diesem Geschäft.

Statt

35 daß nach einer gemeinen Ansicht Geschäftsbildung, das

heißt

Uebung im Alltagsgeschäft, als wesentliche Vorbereitung für alle, auch die höchsten, Angelegenheiten der Staatsverwaltung

betrachtet wird, sollte man sorgfältig die Geschäftsmänner be­ obachten, ob vielleicht ihr Geist, wie nur gar zu nahe liegt,

durch das gemeine

Geschäft verkümmert worden sei, damit

ihnen nicht zufalle, was am Meisten Geist und Idee erfordert.

Zweitens kann unsere Zeit vor Arbeit nicht zur Richtung des Sinnes auf das Höhere des Lebens kommen.

hiermit ist das Verderben der Zeit entschieden.

Und schon

Es giebt keinen

entscheidenderen Punkt in der Bildung der Menschen, als ob

sie der höheren Bestimmung sich zuwenden, oder der gemeine­

ren.

Solche, die sich für Verbesserer unseres öffentlichen Un­

terrichts halten, indem sie die Vorbereitung für die Geschäfte des Lebens als ausschließenden Zweck der Bildung aufstellen,

werden durch die Abwendung der Seelen von der höheren Be­

stimmung des Menschen zu Gründern einer kommenden Bar­ barei, zu Erniedrigern des menschlichen Geschlechts.

Denn wir haben uns aus dem Obigen zu erinnern, daß die Richtung

auf Erfüllung

der höheren Bestimmung

des

Menschen nicht nur selbst das Höchste der Bildung ist, sondern

auch die Quelle aller Bildung, die Richtung auf die höhere

Bestimmung, die Richtung auf die Vervollkommnung, auf die Bildung enthält.

also

Wegen der Thatsache aber, daß un­

sere Zeit des Strebens nach wahrer Vervollkommnung erman­

gelt, ist theils darauf zu weisen, daß unsere Zeit offen zu dem

Prinzip der Richtung auf die materiellen Interessen, nament­

lich auch in Erziehung und Unterricht $11 dem Prinzip des Nutzens für das äußere Leben sich bekennt, theils ist hier im

Voraus Beziehung zu nehmen auf die folgenden Betrachtun­ gen. Denn wenn wir finden, daß unsere Zeit nicht Ernst und

Strenge hat, daß sie nicht nach Schärfe des Gedankens und

3*

36 der Rede und nach Genauigkeit und Angemessenheit alles Thuns

strebt, daß sie ein Verdienst darin sucht, sich abzuwenden von

der Klassizität, deren Wesen doch die Abgemessenheit, die Ver­ ständigkeit, das Streben nach Vollendung ist, und unter dem

Namen einer romantischen Schule oder Weise einer Richtung sich hinzugeben, welche des Maßes, der Strenge des Gedan­

kens, der Reinheit, Ausglättung und Vollendung des Werkesich überhebt,



wenn wir dieses finden, so haben wir auch

zugleich gefunden, daß unsere Zeit von dem rechten Streben nach Vervollkommnung sich abwendet, denn in dem, was wir

dann vermissen, ist die Vervollkommnung. Mit der Richtung auf das Höhere des Lebens entschwin­ det auch der Sinn für das Schöne und das Edle, der nur

auf der Höhe des geistigen Strebens sich bilden kann; es ent­

schwindet das Schöne und das Edle selbst, das bei dem Voll-

kommnen, dem Reinen, dem Durchbildeten liegt. Es entschwindet damit die Begeisterung, der Enthusias­

Denn von dem Geiste getrieben werden, das geistige

mus.

geben habm ist eben Begeisterung.

Die Erfüllung von dem

höheren geistigen Interesse ist das Göttliche, das in sich

zu

haben Enthusiasmus ist. Damit geht Schwung des Geistes und Wärme der Seele, Wärme des sittlichen Gefühls unter, die ohne Erfüllung von dem höheren, reineren Streben, ohne dm Sinn für das Schöne und Edle, ohne Begeisterung, ohne Enthusiasmus nicht sein können. Es entschwindet damit, und es mangelt unserer Zeit die Innerlichkeit, zu deren Erklärung einige Worte vergönnt sein

mögen.

Wie wir mit richtiger Betonung lesen können, wenn

wir auch in der Zerstreuung das Ausgesprochene nicht deutlich

oder auch gar nicht denken, was bei dem Vorlesen Jedem be­ gegnet,

wie der Eonkünstler in den Vortrag einm Ausdruck

37 legen kann, den er gerade jetzt nicht fühlt, so können wir auch mit Gedanken wie mit Gefühlen

verkehren,

Innerste der Seele davon berührt wird.

ohne daß das

Selbst Freude und

Schmerz kann ohne Innerlichkeit sein, ohne Tiefe, denn In­ nerlichkeit des Gefühls ist Tiefe.

So scheint, was unsere Zeit

schafft, den Schaffenden selbst äußerlich zu sein. Das Innerste des Bewußtseins ist nicht dabei; denn auch in dem Einzelnen

hat das Bewußtsein unendliche Abstufungen,

das Meiste thun

wir mit so wenig Bewußtsein wie der Nachtwandler, oder wie

der Schlafende, dessen Seele doch auch wiederum nicht ganz ohne Bewußtsein der Wirklichkeit ist, was daraus erhellt, daß

wir zu einer vorgesetzten Zeit erwachen.

Diese Verschiedenheit

des Bewußtseins, in welcher vielleicht der größte Unterschied zwischen dem Menschen und dem Thiere liegt,

unter den Menschen überall.

zeigt sich auch

Wenn wir bei dem Gebrauche

einer uns geläufigen Sprache, bei dem Vortrage einer Musik

lins der Gesetze, die wir beobachten, nicht bewußt werden, wenn wir bei dem Schreiben die rechten Buchstaben zeichnen, ohne im Mindesten die Aufmerksamkeit dabei zu haben, so geschieht das Geschäft doch nicht, wie man es wohl zuweilen nennt, auf

mechanische Weise. Geschäft, zu

Die Thätigkeit det Seele, die zu dem

Anwendung des Gesetzes erforderlich ist, wird

vollzogen, nur kommt sie nicht in das Bewußtsein.

Vielleicht

ist die auffallendste Erscheinung dieser Art, wenn wir über dem

Lesen oder Hören uns des Vorhandenseins einer Widerlegung durch eine vielleicht nicht ganz einfache Schlußfolge, allein nicht der Schlußfolge selbst bewußt werden, da wir nicht bei diesem Gedanken verweilen,

sondern dem Schriftsteller oder Sprecher

ohne Unterlaß weiter folgen. Haben wir dann doch die Schluß­ folge gezogen, ohne sie in das Bewußtsein zu bringen?

Es

scheint, als habe die Seele zuweilen schon in bewußtloser Thä­ tigkeit einen Satz gefaßt, wenn uns doch die Anstrengung,- ihn

38 mit Bewußtsein klar zu denken, mißlingt und wir selbst die

Aufmerksamkeit nicht darauf festzuhalten vermögen.

Vielleicht

hängt von der Verschiedenheit des Verhältnisses zwsschen dem

bewußtlosen und dem bewußten Denken Verschiedenheit Geistesvermögens ab.

des

Vielleicht ist gerade eine schnellere und

deshalb weniger mit Bewußtsein stets verbundene Geistesthä­ tigkeit ein Hinderniß der Aufmerksamkeit und der Geistesgegen-

wart, Grund der Zerstreutheit und mithin Grund des geringe­ ren Gedächtnisses, da das Gedächtniß von der Aufmerksamkeit

abhängt.

Ist vielleicht darum ein Gegensatz zwischen Gedächt­

niß und Lebhaftigkeit des Geistes? Und ist diese Erscheinung, daß die Seele Thätigkeiten und ganze Reihen von Thätigkeiten

vollzieht, aber nicht in das Bewußtsein bringt, aus einer un­

serer Wahrnehmung verschlossenen Theilbarkeit der Zeit zu er­ klären, welche mit ihrem Inhalte wahrzunehmen wir keine In­

strumente haben, wie für die Theilbarkeit des Raumes und seinen Inhalt das Vergrößerungsglas?

So ist der Mangel an Innerlichkeit zu erklären, der sich namentlich in dem Mangel an Besonnenheit und in der Hastig­

keit und Schnelligkeit der Bewegung zeigt, und zugleich Man­

gel an Innigkeit ist.

Darum nun,

weil es unserer Zeit an

Innerlichkeit mangelt, findet man auch in der Welk nicht, was

vielleicht noch in Büchern steht.

Man findet in dem Dichter

nicht, was in seinem Werke steht, oder vielleicht wäre es noch

richtiger, zu sagen, man findet in dem Gedichte nicht, was in den Worten steht.

Und die Rede und selbst der Gedanke ist

so weit nicht mit Sicherheit als Bezeichnung des Charakters der

Zeit zu nehmen, weil sie nicht aus dem Jnnem der Zeit her­ vorgehn.

Hier ist lyrische und alle Poesie Lösung einer will-

kührlich gesetzten Aufgabe, nicht Ausdruck dessen, was gefühlt und gelobt worden

ist.

Der Vortrag eines poetischen oder

musikalischen Kunstwerkes gleicht auch in dem, was sich für

39 Ausdruck giebt, mehr einer Einübung des Gebrauchs der Töne

zum Ausdruck, als einer Verkündung der Seele.

Darum ist

mehr der Dichter ein Commentar über die Leerheit seines Ge­ dichts, als daß das Gedicht den Reichthum des Geistes des

Dichters im Gesang enthalten sollte. Und da unserer Zeit und ihrem Streben nach dem Höheren

selbst die Innerlichkeit fehlt, so entbehrt

sie auch der Stim­

mung, welche für das Leben, wie für das Schaffen und die Aufnahme der Geisteswerke das Wesentlichste ist. Wir vermissen

in unserer Zeit die Stinnnung und finden nur Verstimmung.

Mit allem diesem entschwindet die Seele aus den Seelen. Seele ist Innerlichkeit und Tiefe.

Seelcnvoll ist die Leistung,

in welcher das Innerste, das Gemüth, die Seele zur Erschei­

nung kömmt.

Kein Uebel ist weniger heilbar, als das in einem Hange der Zeit liegt.

Hier ist die Heilung nicht von den Menschen

zu vollbringen, sondem von der Zeit zu erwarten, Zeit ist mächtiger als der Mensch.

denn die

Also ist jeder Fehler der

Zeit selbst Grund des Mangels an Mitteln gegen diesen Fehler. Aber nichts desto weniger haben wir den Blick darauf zu rich­ ten, was geschehen müßte, damit die Welt auf die rechte Rich­

tung des Bildungsstrebens geführt würde.

Nicht allein erfor­

dert es der Werth des Gegenstandes, sondern es ist auch nicht

ohne Aussicht auf Erfolg.

Denn zwar kann nur die Natur

heilen, aber das Streben der Menschen ist wieder das Mittel,

dessen sich die Natur zur Heilung bedient, und das Streben

hängt von der Richtigkeit und Klarheit der Ansichten von dem Ziele ab.

Sodann wird das Urtheil über unsere Zeit durch die

Bettachtung dessen, was von ihr zu fordern wäre, herbeigcführt.

Denn überall ist es schwierig zu sagen, welchen Sinn

eine Zeit habe oder nicht.

Allein indem wir betrachten, was

40 die Zeit haben solle, fragt und antwortet ein Jeder bei sich

selbst, ob sie es habe oder nicht.

Das

Nächste ist,

daß

die Jugend

darauf hingewiesen

werde, in dem Leben die höhere Bestimmung des Menschen,

das reine Interesse an der Thätigkeit des Geistes, die Vervoll­ kommnung, die Bildung, die Wissenschaft um ihrer selbst willen

zu

suchen.

Dieß muß zuvörderst durch Belehrung über die

Bestimmung des Menschen und das Wesen der Bildung ge­ schehn, für's

wenn auch nicht mit tieferer Begründung, sondern

erste mehr in Hinweisung auf das Rechte und in Er­

munterung.

Ferner ist es das Beispiel, das Vorbild, was

den entscheidenden Einfluß auf die Jugend übt.

Die

Welt

selbst, der Geist der Zeit, der überall vernehmbar wird, müßte

der Jugend die rechte Richtung geben.

Insbesondere müßte

Alles, was zur Erziehung gehört, jenes reinere, höhere Stre­ ben athmen.

An den Lehrern ist keine Eigenschaft mehr zu

suchen, als das Gepräge ächten Bildungsstrebens und wissen­

schaftlichen Sinnes,

das,

in

ihrem ganzen Wesen und in

«Ihrem Unterrichte ausgedrückt,

die Zöglinge erkennend

fühlend in sich aufnehmen werben.

und

Dieß ist das Beste und

Wesentlichste, was der Lehrer in seinem Zöglinge wirken kann.

Die Jünglinge müssen ferner überall die Anerkennung und Achtung allgemeiner

wissenschaftlicher Bildung,

Geistesbildung erblicken.

allgemeiner

Sie müssen die Besitzer solcher Bil­

dung in angemessener Achtung und Stellung des bürgerlichen Lebens und der Gesellschaft sehn.

Wenn die Jugend bemerkt,

daß der Besitz nicht bloß der zu bestimmten Geschäften zunächst gehörigen Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern auch der um

ihrer selbst willen, zur Bereicherung des Geistes und zur Er­

höhung seiner Fähigkeit erworbenen Wissenschaft und Bildung in seinem Werthe anerkannt, und bei der Verwendung der dem

Staate sich zum Dienste darbietenden Kräfte beachtet wird, so

41 wird der junge Mann nicht bloß seinen zukünftigen Vortheil

in der Ausstattung mit diesem Besitzthum suchen, sondern dieses wird ihm auch als würdiger und zum Ziel zu setzender, sich

an

begehrungswerther Gegenstand seiner Anstrengung erschei­

nen; denn Allen flößt Ehrfurcht ein, was sie von der Welt anerkannt sehn. Wird aber die nicht zu berechnende hohe Wich­ tigkeit übersehn, welche höhere allgemeine Geistesbildung auch

für das Geschäftsleben hat, und wird in der Geltung für das

öffentliche Leben nur die gemeine Vorbereitung für die Ge­

schäfte berücksichtigt, sieht man die Stellen, welche am meisten den Besitz der Ideen erfordern, der höheren Einsicht von dem

Leben des Staats und den Mitteln das Gedeihn des öffentli­

chen Lebens, des Bildungslebens, des äußern Lebens zu fördern, sieht man diese Stellen ausgefüllt von solchen,

welche

der höheren Geistesbildung entbehren, und nur jene gemeine Geschäftsbildung haben, so wird die Jugend verleitet, sich an dieser beschränkten Vorbildung zum Geschäft genügen zu lassen,

da der Werth dessen, was von der Welt vernachlässigt wird, nicht in die Augen springt. Vielleicht nirgends so sehr wie in der Lehre von der Er­

ziehung und der Bildung überhaupt ist neben dem, was ge­

than werden soll, die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was unterlassen werden muß.

Hier vor andem wird leicht Unheil

gestiftet, wo der beste Wille zu nützen glaubt.

Daß vermie­

den werden muß, was geradehin von dem rechten Ziele ab­

wendet, indem es eine entgegengesetzte Richtung giebt, daß der Zögling m'cht darauf gewiesen werden muß, als den wesent-

lichm Zweck seines Strebens nur sein Fortkommen in der Welt

zu suchen, folgt von selbst.

Es kann aber auch durch ent­

ferntere Folge vieles, das die Bildung zu fördem bestimmt ist,

von dem rechten Ziele und namentlich von dem rechten Streben

abführen.

Insbesondere kömmt es darauf an, daß dem Zög-

42 ll'nge die rechte Aufgabe gestellt werde.

Zunächst daß der Un­

terricht fasse, was am meisten das reine Interesse am Wissen zu wecken geeignet ist,

und daß die Wahl der Gegenstände die

Anerkennung dieses Zieles als des eigentlichen Zweckes des Un­

terrichts und überhaupt der Bildung an sich trage.

Daher ist

für's erste zu vermeiden, daß nicht in den Unterricht sich ein­

schleiche und wohl gar vorherrschend werde eine nicht hiernach berechnete Wahl der Gegenstände.

Hiernächst ist die auch fast

höchst verde-bliche Ueberhäufung mit Lehrgegmständen zu ver­ meiden, in welcher immer enthalten oder mit welcher verbunden ist der Vorzug des Lemens vor dem Begreifen, der Kenntniß

vor der Erkenntniß, der Masse vor der Tiefe und Höhe, der Gediegenheit des Wissens.

vor

Die hieraus hervorgehende Ge­

fahr wird gesteigert durch die Einrichtung der Maturitätsprü­ fungen, welche entscheidenden Einfluß auf die Richtung des Strebens der Zöglinge habm.

Alle

Prüfungen, welche am

Schlüsse einer Bildungsbahn zur Nachweisung des Erfolgs der

Studien liegen, haben dieses, daß sie den Lemenden gewöhnen,

zunächst mehr das Bestehn in der Prüfung als die Bildung

des G.istes selbst sich zum Ziele des Lernens zu setzen, und vorzugsweise das zu suchen, was in der Prüfung sich geltend

macht.

Dieß kann nun aber nicht gerade das Wesentliche und

das Höchste der Bildung sein.

Wollen wir jedoch damit nicht

über die Einrichtung der Prüfungen selbst und über die noch

von andern Rücksichten abhängige Frage entscheiden,

ob Ma­

turitätsprüfungen zweckmäßig und sicherer als Zeugnisse der Lchrer, ob überhaupt andere Prüfungen außer denen für die

Zulassung zu öffentlichen Geschäften zweckmäßig seien, so kön­ nen wir doch an dieser Stelle nicht dieses unerwogen lassen,

daß Prüfungen um so mehr ausschließend dem Streben des

Jünglings die Richtung geben, je größer die Zahl und Aus­ dehnung der Gegenstände ist, deren Kenntniß in der Prüfung

43 verlangt wird.

Nach diesem Maße wird der Jüngling von

Allem, was nicht dem Ziele der Prüfung zunächst liegt, ab­

gezogen,

und namenllich bleibt nicht Raum für vorzügliche

Pflege dessen,

worauf individuelle Neigung und Anlage ihn

Weil er in zu vielem gut oder, richtiger, mittelmäßig

weist.

werden

soll, wird

er abgehalten, in irgend

einem Punkte

trefflich zu werden, was doch das Wesentlichere für die Bildung

ist.

Und indem er abgehalten wird, individueller Neigung und

Anlage zu folgen,

geht nicht allein das verloren, woran

am

meisten der Fortschritt hängt, sondern auch woran am meisten das reine Interesse an der Wissenschaft und der wissenschaft­

lichen Beschäftigung

und

mit dem

wissenschaftlichen

Triebe

ächtes Streben nach dem Höheren überhaupt sich entwickelt.

So kann die gute Absicht der Prüfungen zum Unhell für die Bildung der Welt ausschlagen. Ein Anderes, das vermieden werden sollte, weil es das

Bildungsleben stört oder zerstört, ist die Ueberhäufung der Welt mit Arbeit. Diese aber geht hauptsächlich aus dem Luxus her­

vor, aus der Vermehrung der Bedürfnisse des Lebens durch das Streben nach Eitlem und Leerem und durch die ganze Ge­ staltung der Zeit,

insbesondere der öffentlichen Verhältnisse.

Diese unselige Richtung der Zeit bringt nicht nur dadurch das

Elend über die Welt, daß Armuth und Dürftigkeit oder doch Mangel an Wohlhabenheit ihr stets folgt, weil der arm ist, dessen Mittel nicht dem einmal ihm nöthig gewordenen, wenn

auch an sich unnöthigen, Bedürfnisse entsprechen.

Sie hindert

auch das Bildungsleben, indem sie alle Thätigkeit für die Befriedigung

der Bedürfnisse des äußern Lebens

in Anspruch

nimmt, und die gemeine Arbeit nach unserer obigen Bemerkung

den Geist verunedelt.

Hiergegen nun im Allgemeinen giebt es

kein Mittel außer der Bekehrung der Welt.

Sie müßte dem

Streben nach Eitlem und Leerem entsagen.

Sie müßte ihre

44 Einrichtungen,

Gewohnheiten, Verhältnisse,

namentlich des

öffentlichen Lebens, umgestalten, daß sie weniger den Aufwand

ihrer Kraft ulld ihrer Thätigkeit aufzehrten.

Nur bei Einem

Punkte hat hier unsere Aufmerksamkeit zu verweilen, wo der Geist der Zeit nicht solche Gewalt hat, daß nicht jede einzelne Staatsverwaltung der besseren Ansicht folgen könnte.

Die Ue-

berhäufung der Staatsbeamten mit Geschäften ist um so ver­

derblicher, je wichtiger die Stelle ist, welche sie nicht nur in dem öffentlichen Leben,

haben.

sondern auch in der gebildeten Welt

Wir stoßen hier auf den unheilvollsten Irrthum der

Zeit, welcher die Lehrjahre von den Jahren der Arbeit zu sehr trennt, als ob mit dem Ablauf der Lehrjahre die Bildung

vollendet sein müßte.

Die Bildung muß aber vielmehr durch

das ganze Leben gehn; die Geschäftsjahre müssen zugleich Lehr­

jahre sein; ja das Höchste der Bildung kann erst in den spä­ tem Jahren erreicht werden, mit der Reife des Alters und mit der Belehrung, welche das Leben und das Geschäft giebt.

Denn es ist hierin mit der Geschäftsbildung nichts Anderes als

mit der allgemeinen Bildung des Menschen.

Auch

für das

Geschäft ist die Bildung nicht möglich, wenn der Beamten ganze Thätigkeit vom Geschäfte aufgezehrt wird.

Die allge­

meine Bildung, welcher er entzogen wird, ist die wesentliche

Grundlage der Geschäftsbildung.

keine höhere Geschäftsbildung

Und die Ideen, ohne welche

ist, die in dem Geschäftskreis

selbst liegenden Ideen sind keineswegs in den eigentlichen Lehr­ jahren genügend auszubilden und für die praktische Anwendung

zur Reife zu bringen, sondern sie erhalten die rechte Reife und Ausbildung während des Geschäfts und mit der Uebung des Geschäfts, doch nicht durch das Geschäft allein ohne Verbin­

dung mit höherem, wissenschaftlichem Studium, mit dem Stu­

dium der Idee.

Doch wir haben hier nicht die Geschäftsbil­

dung, sondern die Bilvung des Menschen vor Augen. Werden

45 die Staatsbeamten so sehr mit Arbeit überhäuft, daß ihnen

nicht Zeit und Kraft für ihre Ausbildung bleibt,

so geht der

Welt die Möglichkeit höherer Bildung einer für die Bildung

der Welt bedeutenden Klasse von Menschen verloren.

Es ist

nicht etwa einzuwenden, daß bei der Seltenheit der Empfänglich­

keit für höheres Bildungsleben an der Zeit der Mehrzahl nicht

viel verloren sei, daß den Meisten

die Muße nicht Gewinn

für die Bildung des Geistes sein würde.

Denn immer ist

doch, was verloren wird, von unendlich hohem, nicht zu be­

rechnendem Werthe, und der Staat soll nicht dem Einen, was für ihn und die Welt hoher Gewinn sein würde, darum abschnciden, weil der Andere es nicht nutzen kann. Er darf nicht

seine Maßregeln auf die Unfähigen berechnen; denn unfähig zu höherer Staatsverwaltung sind doch eigentlich

höhere

Bildung,

alle,

die für

die für Ideen unempfänglich sind.

Wäre

wirklich die Aussicht auf höhere Bildung der Staatsbeamten

so gering, daß cs für unnütz zu achten wäre, ihnen dazu Zeit zu lassen, so wäre an der Bildung der Zeit, wo nicht an der Bildung der Welt, zu verzweifeln.

der Geschäftsmänner,

Aber die Ueberhäufung

Staatsbeamten und Anderer mit Arbeit

ist eben ein Hauptgrund ihrer Unempfänglichkeit für Bildung. Daher erzeugt sich ein Sinn und Ton, welcher von dem Bil­

dungsstreben abzieht, das nicht für die Aufgabe dessen betrach­

tet wird,

dessen Bestimmung man nur in die Arbeit des Ge­

schäfts setzt.

Und der Einfluß der Ueberhäufung der Staats­

beamten mit Arbeit auf ihre Abwendung von weiterer Aus­

bildung des Geistes ist nicht bloß darin gegründet, daß Zeit und Kraft entzogen wird,

sondern der Staat verkündet auch

dadurch, daß er nicht den Werth des geistigen Lebens mit seiner Bildung, sondern nur einen Werth der Geschäftsthätigkeit für

das äußere Leben anerkennt, und so wird sein Beispiel,

seine

Ansicht, die Ansicht und die Richtung der Einzelnen bestimmen.

46 Wodurch man die Bildung der jungen Männer zum Staats­ dienste zu fördern sucht, daß man sie als AcceWen und As­ sessoren in Verwaltungsstellen mit Arbeiten überhäufend zuläßt,

mag nothdürftige Abrichtung sein, aber es ist eben so sehr das

größte Hinderniß höherer Ausbildung auch für das Geschäft, abgesehen von anderen üblen Folgen, von der Gefährdung der

durch Unerfahrene bearbeiteten Geschäfte, von der Erleichterung des

Eindringms

Stellen, von

abgerichteter Mittelmäßigkeit

in wichtigere

dem Mißbrauche zu unwürdiger Ersparung an

Besoldungen.

5. Ernst, Strenge, Gewissen. Die Bedeutung des Ernstes und der Strenge hat schon

in dem ersten Abschnitte dieser Schrift eine Stelle gefunden.

In Ernst und Strenge,

als in der Innerlichkeit des Triebes

zur Vervollkommnung, haben wir dort die Grundlage aller Bildung erkannt.

Ernst und Strenge des Strebens nach der

Tüchtigkeit und Gediegenheit, nach Erreichung des Besten und Höchstem in allem einzelnen Thun wie in der Gestaltung des

ganzen Wesens, also nach Vervollkommnung, ist der Bildung, was der Sittlichkeit die Gewissenhaftigkeit ist.

Ja man möchte

immer alles Streben nach Vervollkommnung Gewissenhaftigkeit

nennen; nicht bloß in dem Sinne, daß die Vervollkommnung des eignen Seins und Thuns Pflicht ist, und der Pflicht zu

folgen das Gewissen treibt, wodurch wir wieder in das Gebiet der Sittlichkeit übergehn; sondem es ist nur Ein Trieb, der uns zur sittlichen Vollkommenheit und zu jeder andern Voll­ kommenheit, zur schärfsten Ausbildung des Gedankens und

46 Wodurch man die Bildung der jungen Männer zum Staats­ dienste zu fördern sucht, daß man sie als AcceWen und As­ sessoren in Verwaltungsstellen mit Arbeiten überhäufend zuläßt,

mag nothdürftige Abrichtung sein, aber es ist eben so sehr das

größte Hinderniß höherer Ausbildung auch für das Geschäft, abgesehen von anderen üblen Folgen, von der Gefährdung der

durch Unerfahrene bearbeiteten Geschäfte, von der Erleichterung des

Eindringms

Stellen, von

abgerichteter Mittelmäßigkeit

in wichtigere

dem Mißbrauche zu unwürdiger Ersparung an

Besoldungen.

5. Ernst, Strenge, Gewissen. Die Bedeutung des Ernstes und der Strenge hat schon

in dem ersten Abschnitte dieser Schrift eine Stelle gefunden.

In Ernst und Strenge,

als in der Innerlichkeit des Triebes

zur Vervollkommnung, haben wir dort die Grundlage aller Bildung erkannt.

Ernst und Strenge des Strebens nach der

Tüchtigkeit und Gediegenheit, nach Erreichung des Besten und Höchstem in allem einzelnen Thun wie in der Gestaltung des

ganzen Wesens, also nach Vervollkommnung, ist der Bildung, was der Sittlichkeit die Gewissenhaftigkeit ist.

Ja man möchte

immer alles Streben nach Vervollkommnung Gewissenhaftigkeit

nennen; nicht bloß in dem Sinne, daß die Vervollkommnung des eignen Seins und Thuns Pflicht ist, und der Pflicht zu

folgen das Gewissen treibt, wodurch wir wieder in das Gebiet der Sittlichkeit übergehn; sondem es ist nur Ein Trieb, der uns zur sittlichen Vollkommenheit und zu jeder andern Voll­ kommenheit, zur schärfsten Ausbildung des Gedankens und

deK Ausdrucks

wie zu

47 —

der größten sittlichen Reinheit treibt.

Oder wir sonnen sagen, daß das sittliche Streben in Allem Streben nach Vervollkommnung ist, daß in dem Streben un­ sere Gedanken sicher zu begründen und mit Schärfe auszubil­

den und unserer Rede so wie unserem ganzen Thun Vollendung zu geben, unsere Würde ruht, daß das Soll, worauf wir das Gewissen beziehn, nicht bloß aus dem Sittengesetz, son.

dcrn aus jedem Gesetz der Vernunft und des Verstandes her­

vorgeht, daß Gewissen Trieb zu Erfüllung jedes Gesetzes ist, nicht bloß des Sittengesetzes.

Schärfe des Denkens, Klarheit, Tiefe, Gründlichkeit, die Richtung auf das Höhere, die Innerlichkeit des Strebens nach

Vervollkommnung, die Gewissenhaftigkeit in dem Denken wie

in dem Handeln und Sprechen und in der Ausbildung der ganzen Persönlichkeit, die wahre Verfeinerung, die Veredelung,

alle Bildung ruht auf dem Ernste und der Strenge. Aus dem Mangel an Strenge geht alle Untüchtigkeit einer Zeit hervor, im Handeln und im Denken, in Wissenschaft und

in Kunst.

Nicht so wie bei den Einzelnen ist bei der Zeit die

Untüchtigkeit dem Unvermögen zuzuschreiben.

Die Zeit hat

immer ihre Kraft, und der Mangel an Vermögen ist bei ihr

wieder daher zu leiten, daß sie nicht die Richtung auf das Rechte nimmt, nicht für das Rechte sich anstrengt. Der Mangel an Strenge, das heißt der Leichtsinn, ist die

Quelle der Täuschung und des Irrthums. sinn findet das Unächte Eingang.

Durch den Leicht­

Aus ihm fließt die Bereit-

willigkett, die Neigung, nichtswürdige, eitle Dinge für Treff­

liches und Schönes, Schein für Wahcheit zu nehmen, welche Bereitwilligkeit den Unwillen leicht mehr erregen kann als die

Hervorbringung des Nichtswürdigen.

was

Der Leichtsinn ist es,

das Schlechte, entstehn und in Aufnahme kommen läßt.

48 Es ist der Leichtsinn,

was die Bequemlichkeit nährt, aus

welcher die Menschen sich oft mit Falschem und Geringem be­ helfen, und absichtlich dem Besseren sich verschließen und sogar

den Gipfel im Auge gern auf der Ebene wandeln,

noch lieber

aber mit zur Erde gerichtetem Haupte den Gipfel gar nicht schauen mögen.

Insbesondere in der Kunst ist diese Bequem­

lichkeit die Ursache der Entfernung vom Höheren.

Sie wollen

(ins dem leichtesten und bequemsten Wege das Ziel erreichen. Darum nehmen sie nicht den Weg, der zum Würdigsten führt,

sondern sie erklären das für das würdigste Ziel, zu welch, m

der ihnen behaglichste Weg führt.

auch das Rechte sein.

Was ihnen gefällt,

soll

Was ihnen Vergnügen gewährt, darin

finden sie auch die Kunst und die Schönheit.

Was ihren Lei­

stungen erreichbar ist, scheint ihnen würdiges Ziel, und was

sie geltend machen können, oder was sie geltend macht,

das

verschmähen sie nicht, da fühlen sie nicht, was leerer Schein und unwürdiger Glanz sei;

das Glänzendste soll auch das

Höchste sein, weil es am leichtesten glänzen läßt.

Am wenig­

sten geben sie ein Prinzip auf, dem sie früher gefolgt sind, am wenigsten verwerfen sie eine Manier, in der sie früher gearbeitet

haben; sie müßten ja ihre frühere Leistung verdammen.

Dieß

ist die Bequemlichkeit und die Selbstsucht des Leichtsinns. Emst und Strenge hat nicht bloß in der Erfüllung der Pflicht, sondem in allem Streben Selbstverläugnung in sich, und so ver­

dient alle Strenge den schwer sein zu sagen,

Namen des Gewissens.

Es möchte

ob die Verirrung mehr aus der Be­

schränktheit der Intelligenz der Menschen fließe, oder aus jener zum Theil geflissentlichen Befangenheit, jenem Interesse,

das

uns der Irrthum bringt, jener Bequemlichkeit da zu bleiben, wo wir so gemächlich ruhn, oder dem Mangel an Muth, un­

bekümmert um das Urtheil

und Vorurtheil der Welt,

Wahrheit und die Schönheit zu suchen und zu bekennen.

die

49

Wo der Ernst und die Strenge fehlt, da ist die'Weichlichkeit ohne Weichheit, da ist selbst die Härte ohne Strenge. Sollen wir nun die Frage beantworten, ob unsere Zeit

Ernst und Strenge besitze, so kann das Ergebniß dieser Blätter

nur dieses sein, daß es Charakter unserer Zeit sei, des Ernstes

und der Strenge zu ermangeln, daß der Leichtsinn das Zeichen unserer Zeit sei.

Es ist im wissenschaftlichen und künstlerischen

Streben unserer Zeit derselbe Mangel an Ernst und Strenge, der über das

ganze Leben sich verbreitet hat.

Schrift ist die Ausführung dieses Urtheils.

Diese ganze

Hier ist nur hin«

zuweisen auf das Ergebniß unserer Untersuchungen in Beziehung auf die Seiten der Bildung, in welchen mit nothwendiger Folge Ernst und Sttenge enthalten und zu erkennen sind, und in Be­

ziehung auf die Zustände und Eigenschaften der Zeit, von denen

die Bildung des Ernstes und der Strenge abhängt. Wir haben uns zu erinnern, daß unsere Zeit ihr Streben nicht auf das Höhere des Lebens richtet, sondern sich dem Ge­

meinen und Niedrigen, dem äußem Leben, ja dem Eitlen und Unwürdigen zuwendet.

Schon dieß ist die Frivolität.

Wir

werden ferner als Eigenthümlichkeiten unserer Zeit betrachten, daß sie der Schärfe des Denkens und der Rede ermangelt, daß

sie das falsche Geistreiche ohne Scharfe und Wahrheit, Glanz ohne Gediegenheit mit entschiedenem Verlust an wahrhaft Geist­

reichem und an Tüchtigkeit sucht, daß sie in der Kunst und in aller Leistung von der Klassizität,

deren Wesen eben die

Sttenge ist, sich abwendet und einer Weise sich ergiebt,

in

welcher die Frivolität und die Maßlosigkeit für Verdienst gilt, gemeiner Reiz an die Stelle des Kunstinteresse tritt, daß ohne

Prüfung eine ungeheure Masse Schlechtes erzeugt und mit der leichtesten Bereitwilligkeit ausgenommen, daß das Neuere und

Modischere dem Trefflicheren vorgezogen wird, daß unsere Zeit mit einer Hastigkeit, die keine Grenzen kennt, die Verhältnisse

4

50 des Leben- umgestaltet und der Bildung einen neuen Charakter zu geben bestrebt ist, der glänzendstm Fortschritte sich sicher

haltend, ohne sich über das wahre Wesen der Bildung Klarheit zu geben, ohne Wissenschaft und Kunst der Bildung auf

dieser

Erkenntniß von

ihrem

Wesen

Mangel an Emst und Strenge.

zu gründen.

Dieß ist

Dieß ist der Charakter deS

Leichtsinns.

Ein eigenthümliches Zeichen von dem Mangel unserer Zeit an Emst und Strenge des Thuns ist dieses, daß ausgezeich. nete Fähigkeiten zurückgehn, daß den Hoffnungen, welche die ersten Proben eines Mannes zeigten, seine späteren Leistungen

nicht entsprechen.

Man wird finden, daß hervorragende Geister,

deren Bildung einer

ftüheren Zeit angehört, nach früheren

trefflichen Leistungen später nicht Gleiches geleistet haben. Und

eben so ist von solchen, die wir als Zöglinge der neuesten Zeit, unserer Zeit, betrachten mögen, zu bemerken, daß ihr Früheres,

aus der Zeit, da sie doch noch mehr strebten, ihr Besseres ist, daß sie nicht vorwärts, sondern rückwärts gehn.

aus Erschlaffung des Strebens,

Dieß ist nur

aus Mangel an Ernst und

Sttenge zu erklären, denn sonst würde ihre Kraft, ihre Fähig­

keit mehr gewachsen sein.

Und wenn die Einzelnen, und so

allgemein, sich nicht zur Sttenge getrieben fühlen,

so ist es,

weil die Welt, selbst der Sttenge ermangelnd, sie nicht dazu

treibt.

Denn in nichts entscheidet die Weise der Umgebung

mehr, als in den Anforderungen, die jeder an sich selbst macht.

Indem wir bettachtm,

woraus der Leichtsinn erwächst,

finden wir zugleich den Beweis seines Daseins, wo wir seine Wurzeln entdecken.

So eng sind die Momente des Bildungslebens durchfloch­

ten, daß man immer nicht leicht sagen kann, welches Ursache oder Folge sei, denn jedes ist zugleich des andern Ursache und Folge.

So ist es insonderheit mit allen Beziehungen des Ernstes

51 und der Strenge auf die andern Momente der Bildung.

Jeder

Moment der Bildung geht aus diesen Eigenschaften hervor, und jede wahre Bildung muß den Emst und die Strenge erzeugen.

Jede wahre Bildung ist Zeichen von Ernst und Strenge.

Die Richtung auf das Höhere des Lebens, nach Bervollkommnung, nach Bildung ist die Wurzel und wieder die Frucht des Ernstes und der Strenge.

Daß aber unsere Zeit diese

Richtung nicht hat, haben wir gesehen. Scharfe, Bestimmtheit und Klarheit des Gedankens und der Rede ist Folge des Ernstes und der Strenge.

Die Gewöh­

nung aber an Scharfe, Bestimmtheit und Klarheit ist wiederum

Gewöhnung an Ernst und Strenge, ohne welche jene Eigen­ schaften nicht erworben werden können.

Und welche Zeit der

Scharfe, Bestimmtheit und Klarheit des Gedankens und der

Rede ermangelt, diese kann nicht Ernst und Strenge haben. Wir werden aber sehn, daß es unserer Zeit an Schärfe fehlt. Daß Dünkel zugleich Ursache und Folge des Leichtsinns in der Bildung ist, ergiebt sich von selbst.

Es ist aber Charakter

unserer Zeit, sich eines beispiellos mächtigen Fortschreitens in

der Bildung wie in allem Leben zu vermessen, worauf wir auch

noch zurückkehren werden.

Eben so brauchen wir unserer Zeit nicht nachzuweisen, daß sie in ungeheurer Bewegung begriffen ist, daß sie die Bewegung zu ihrem Prinzipe gemacht hat.

ja, worin sie sich groß dünkt.

Denn dieß vor Allem ist es

Aber das Prinzip der Bewegung,

und die Bewegung,- die unsere Zeit beherrscht, entzieht der Zeit die Ruhe und die Besonnenheit, womit wieder Ernst und Strenge

und Gewissenhaftigkeit entzogen werden.

Die Bewegung und

die Unruhe und die hastige Thätigkeit gestattet der Zeit nicht,

immer das höchste Ziel zu setzen, immer das Höchste vorzugs­ weise vor Augen zu haben.

Zur Besonnenheit kann die Welt

nicht kommen in solchem Gedränge des Lebens, wie es aus

4*

52 unserer Bewegung undHast, aus unserem Uebermaß an Geschäft

und Arbeit, und aus unserer Weise der Geselligkeit hervorgeht.

Da, wo einmal Leichtsinn ist, wird ein hohes Maß des Verkehrs, wie es unserer Zeit eigen ist, immer einer strengeren Bildung feindlich seyn.

Es wird ein Uebermaß des Einflusses

der Außenwelt entstehn, nicht bloß der Eindrücke, die jeder von außen empfängt, sondern auch der Verwöhnung, durch die

Außenwelt und durch bestimmen zu lassen.

die Rücksicht auf die Außenwelt sich Die Eindrücke, die wir empfangen, sind

nicht an sich das Uebel; es kömmt nur darauf an, der Bildung,

die wir durch sie empfangen, unseren eigenthümlichen Charakter zu geben, und ihnen nicht unbegrenzte, sondem unserer eigenen

Erkenntniß von dem Vemünftigen die höhere Gewalt zu gestatten.

Denn des äußern Einflusses kann unsere Bildung nicht entbehren; das Maß zwischen eigener Entwickelung und Aufnahme des

Fremden ist wesentlich Aufgabe des Bildungsstrebens und Bedin-

gung des Gelingens. Das Uebel ist dabei der aus dem Leichtsinn entspringende Mangel an Assimllation der aufgenommenen Ein­ drücke, an Ueberwältigung der empfangenen Eindrücke durch

unseren Geist. Statt daß wir das empfangene Fremde in unsere Art verwandeln sollten, lassen wir unseren Charakter zu fremder Art werden.

Dieser Leichtsinn erhält Gewalt und übt seine

Gewalt, wenn die Menschen zu viel mit andem, zu wenig in sich leben.

Der viele gesellige Verkehr in unserem Stadtleben,

mit seiner Flüchtigkeit und Flachheit, mit seinem Leichtsinn und seiner Leichtfertigkeit, worin der Salon wenig vor der Bier­ gesellschaft voraus haben möchte, und die vielfachen Verhältnisse,

welche das Geschäft herbeiführt, haben eine große Macht über den Menschen.

Der gesellige Verkehr ist der höchste Gewinn

für die Vervollkommnung, wenn in ihm eine gemeinschaftliche

ernste Fortbildung und Durchbildung der Ideen und der Sitte

herrscht.

Er ist Verderben, wenn er nur auf Zeitvertreib, leere

53 Unterhaltung, nichtswürdiges Vergnügen sich bezieht und eine Sucht nach diesem Zeitvertreibe erzeugt.

Vielleicht wird die

Welt durch nichts so fade als durch sades geselliges Leben. Was

aber das gesellige Leben fade macht, ist hauptsächlich die Gewöh­ nung an zahlreiche Gesellschaft, die sich andere Interessen seht

als das vernünftige Wort.

Und unsere Zeit sucht den Strudel

zahlreicher Gesellschaft, nicht das bildende gemeinschaftliche Denken eines Kreises, dessen Zahl zwischen der der Grazien und der der

Musen wäre.

Die vielfache Berührung menschlicher Verhältnisse und der vermehrte gesellige Verkehr hat die Gefahr einer doppelten Ver­

wöhnung in sich, welche Gefahr für eine Zeit, die einmal vom Leichtsinn beherrscht wird,

gewisses Verderben ist.

gewöhnt man sich, weniger selbst zu urtheilen,

Erstens

sondern das

Urtheil der Andern zum eigenen Urtheil zu machen, theils weil

man die Masse des Eindringenden nicht zu bezwingen vermag, theils weil eine Feigheit oder eine falsche gesellige Tugend und

vom ernsten Widerstreben zurückhält.' Das Urtheil, mit welchem das Vorgetragene eingeführt wird, findet gewöhnlich auch Auf­

nahme bei den Hörenden und Lesenden.

So wird unser Urtheil

verdrängt von dem Urtheil Anderer, das uns bloß den Weg für das eigne Urtheil, Bestätigung und Unterstützung des eignen

Urtheils seyn sollte.

Zweitens gewöhnt man sich, das eigne

Thun nach dem Urtheile der Welt zn bestimmen, das man an

die Stelle des Gewissens treten läßt.

Man bestimmt sich, seyn

zu wollen, was die Welt will daß man sey, nicht was die

Vernunft will.

Dadurch wird uns zur Norm, zum Gesetz,

was bloß als Unterstützung unseres Gewissens und aus frei­

williger, abgemessener Nachgiebigkeit gegen das Verlangen der

Welt berücksichtigt werden sollte. Das Uebermaß geselligen Ver­ kehrs und geselliger Rücksichtnahme nebst der Zerstreuung durch Arbeit läßt uns nicht Zeit, allein zu seyn, in uns zu seyn;

54 es laßt unserem Gewissen keine Zeit, und damit für Ernst und

Strenge keinen Raum.

So erlangt bei unserem Verkehr das Urtheil der Welt eine

unangemessene Macht, und ihr zu widerstreben verliert sich der

Muth der Einzelnen.

Und das Uebermaß geselligen Lebens hat

zur Folge, daß mehr nach dem, was am allgemeinsten gilt — und dieß ist nicht auch das Beste — als nach dem- Besten gestrebt wird.

Daher insonderheit auch der Vorzug äußerer

Politur, die am meisten erscheint und gilt, vor der wesentlichen Bildung.

Diese Macht der äußern Einwirkung nun ist Entwöhnung von selbstständiger Entwickelung, ohne welche doch keine höhere

Bildung seyn kann; sie ist zugleich Ursache der Macht des Zeit­ geistes, die jetzt gewaltiger als je zu seyn scheint.

Hiernächst aber, und hiermit zugleich, ist diese Macht der

äußern Einwirkung, diese Richtung auf das was die Welt will, Entwöhnung von der Gewissenhaftigkeit, von Ernst und Strenge

der Prüfung und des Nachdenkens, eine Zerstreutheit, die uns

nicht läßt uns mit uns selbst beschäftigen.

Dadurch steigert

sich immer mehr der Leichtsinn, der selbst auch Quelle des Uebels

ist.

Immer größer wird die Entfernung von der Strenge und

der Gewissenhaftigkeit, worin Schärfe und Richtigkeit des Den­

kens, wie Reinheit des Charakters ihren Sitz haben. Es ist auffallend, daß der Leichtsinn der Geister sich mit der Schwere der Zeit zu verbinden liebt; vielleicht ist es, weil die Schwere der Zeit hauptsächlich aus dem Leichtsinn sich erzeugt.

55

6. Schärfe, Richtigkeit, Bestimmtheit, Tiefe, Klarheit. Ich weiß eö nicht anders mit Einem Worte als Schärfe zu nennen, was den Gedanken, die Rede, das Gefühl, den

Willen, den Charakter, alles Thun, durch die höchste Genauigkeit

zur Vollendung ausbildet. Hier verstehn wir unter dem Worte Scharfe nicht sowohl die Eigenschaft des Gedankens, der Rede, des Thuns, sondern vorzugsweise die Gewöhnung an jene höchste Genauigkeit im

Streben, und das dadurch ausgebildete Vermögen mit dieser Genauigkeit zu denken, zu sprechen, zu fühlen, zu wollen, zu

handeln.

Aus der Schärfe fließt Richtigkeit, Bestimmtheit, Gründ­

lichkeit, Tiefe, Klarheit, Vollendung.

Ausglättung,

Feinheit,

Reinheit,

Oder die Schärfe begreift alle diese Eigenschaften.

Wir werden hier immer alles dieß darunter denken, wenn wir

von Schärfe sprechen.

Daß die ächte Schärfe nicht ohne die

Richtigkeit und die Wahrheit ist, haben wir schon früher bemerkt. Es ergiebt sich von selbst, daß die Schärfe, als Gewöh­

nung und Streben, ganz zusammenfließt mit Ernst und Strenge,

mit dem Streben nach Vervollkommnung und Bildung.

Man

kann die Schärfe, wie Ernst und Strenge oder das Bildungs­ streben, oder die Richtung auf das Höhere, vorzugsweise Bil­

dung nennen. Irgend einem Vermögen, namentlich dem Denkvermögen,

ohne diese Schärfe höheren Werth beizulegen, weil es Außer­ ordentliches leistet, ist höchst irrig.

Alles blendende Vermögen

und Leisten ohne Schärfe ist leere Gaukelei um so mehr, je höhere Kraft entwickelt wird.

So wenig die Kunst des Denkens

56 als die Kunst der Rede ist eine Art leeren Glanzes.

Wie die

Rede nur als Ausdmck des Gedankens, so hat der Gedanke nur in der Uebereinstimmung mit der Wahrheit Werth.

Die

Untersuchung namentlich des Denkvermögens ist also in der Untersuchung der Schärfe enthalten.

In der Schärfe ist die

Höhe des Denkvermögens, der Kunst des Denkens. Die Schärfe mit ihrer Richtigkeit und Angemessenheit ist

das wahre Wesen jeder Bildung und jeder Kraft, namentlich

des Denkvermögens, daher das rechte Ziel aller Bildung und

aller Erziehung, der gelehrten Schulen und der Elementarbildung. Das Höchste, was im Bildungsleben, namentlich in der

Erziehung, zur Förderung richtigeren Denkens und zur Erhöhung

des Denkvermögens geschehen kann, ist die Gewöhnung an Strenge und Schärfe des Denkens, die Gewöhnung nie anders als mit

Schärfe zu denken, nichts gelten zu lassen, nichts aufzunehmen ohne hinreichendes Bewußtsein von der Wahrheit und ihren

Gründen.

Wie Ernst und Strenge, so hat auch die Schärfe

ihr Wesen darin, daß sie nie nachläßt.

So ist die Schärfe,

man kann auch sagen die Bildung, wesentlich der Gegensatz gegen die Welt der Vorurtheile; das Vorurtheil ist das Erzeugniß

der Gedankenlosigkeit, eine Annahme ohne Urtheil.

Unsere Zeit scheint dem gewandteren, schnelleren, kühneren, über das Nächste hinausgehenden Denker einen unverdienten Vorzug unbedingt, ohne Rücksicht auf die Nichtigkeit des Den­

kens, zuzugestehn vor einem einfacheren, weniger weit dringen­

den, aber das Rechte mehr treffenden Denken. gesunden Menschenverstand,

Allein was man

jetzt nicht immer mit Achtung,

nennt, verdient hoch geschätzt zu werden als Richtigkeit im

Denken, als die Gabe das Rechte zu treffen, nicht bloß in der Behandlung der Gegenstände des gemeinen Lebens, sondern

oft höherer Aufgaben.

Oft sehen wir geübte Denker in der

Wissenschaft wie sonst in die größten Ungereimtheiten fallen,

57 wie nicht selten die im feineren geselligen Leben gewandtesten Menschen die größten Verstöße gegen die Schicklichkeit machen.

Die Leichtigkeit und Gewandtheit des D.nkvermögens ohne ver­

doppelte Sttenge erzeugt darum größeren Irrthum, weil sie theils durch Selbstvertrauen zum Nachlassen in der Schärfe

verleitet, theils zur Ausdehnung und Steigerung des Denkens und in Regionen führt, wo es der Verdoppelung der Strenge

bedarf.

Der Leichtigkeit ohne Ernst liegt Flüchtigkeit und Ober­

flächlichkeit nahe. Also Leichtigkeit und Gewandtheit des Denkens

kann nicht ohne Richtigkeit Werth haben; die Richtigkeit aber

liegt in der Gründlichkeit, die Gründlichkeit in der Schärfe, die Schärfe in der Strenge, und die Strenge im Ernste.

Gewandt­

heit ohne Schärfe ist der Charakter jener Virtuosität ohne Tiefe, welche die Art der ganzen Bildung unserer Zeit bezeichnet.

Gleich Anfangs in der Bezeichnung des Wesens der Schärfe ist berührt worden, daß sie alle Bildung ergreift, nicht bloß den Gedanken und die Rede, sondern auch das Gefühl, den

Willen, den Charakter, alles Thun, nicht bloß die Intelligenz,

sondem auch die Sittlichkeit, die äußere wie die innere Bildung. Die Schärfe im Allgemeinen bezieht sich auf alle Annäherung

an Vollendung, auf alle Uebereinstimmung mit dem, was seyn

soll, was das Rechte ist.

Ueberall stoßen wir auf den Zusammen­

hang aller Bildung und auf die Förderung aller Seiten der

Bildung durch den Fortschritt in der Einen.

Die Gewöhnung

des Geistes an die Genauigkeit in der Erstrebung dessen, was

seyn soll, was das Rechte ist, in dem einen Kreise wirkt auch auf die Richtung des Strebens nach dem Rechten in allen Kreisen, der Sittlichkeit wie der Intelligenz, des Schönen wie des Guten und des Wahren.

Und die Uebung in dem einen

Kreise ist Bildung des Vermögens auch für die anderen Kreise. Schärfe des Gedankens und der Rede ist nichts Anderes, als was der Tact, der 'Geschmack, das Zartgefühl in dem Kreise

58 des Guten und des Schönen ist.

Es ist gemeinschaftlich Ver­

feinerung und Veredelung, denn diese ist darin enthalten, daß

alles auf das genaueste so gestaltet werde, wie es gestaltet seyn soll.

Hier ist der Verein der Verstandesschärfe und der Ver­

edelung, so wie das Verhältniß der äußern und der innern Bildung zu erkennen.

Namentlich in der Sprache.

Die Ge­

nauigkeit der Sprache gehört theils der Richtigkeit des Gedankens

an, theils der Feinheit und dem Adel der Gestaltung.

Die

Zierlichkeit in der Wahl der Worte, die Eleganz des Ausdrucks, die Reinheit und Angemessenheit der Aussprache, eng an den

Inhalt der Rede sich anschließend, ist zugleich Schärfe des Thuns und Veredelung des Wesens.

Die Schärfe mit ihrer Klarheit, ihrer Gründlichkeit, ihrer Subtilität, ist zugleich der ächte Grund der Verständlichkeit des Gedachten in der Mittheilung und größerer Zugänglichkeit höherer

Wahrheit.

Sie ist der achte Grund der rechten Popularität,

also das wahre Mittel der Verbreitung höherer Bildung und der allgemeineren Verbreitung der Bildung.

Das rechte Streben

nach Verständlichkeit wissenschaftlicher Darstellung verschmilzt mit

dem Streben nach der schärfsten Ergründung der Tiefe des Gegen­ standes.

Denn in der Schärfe, in der Gründlichkeit, in der

Tiefe ist die Klarheit, und in der Klarheit ist die Verständlichkeit. Alle, auch die höchste, Wissenschaft wird in dem Maße verständ­ licher, in welchem sie bis zum Höchsten der Wahrheit dringt; die Unklarheit und mit ihr die Unverständlichkeit liegt in dem Mangel

an scharfer Ergründung. Es giebt eine Popularität der Wissenschaft, welche nur als ein Verderben für die rechte Bildung so wie für die Wissenschaft

betrachtet werden kann, weil sie nur irre führt.

Nicht nur nie­

drigeren Ständen und ganz in der Wissenschaft ungebildeten Menschen ist Höheres unzugänglich und die Beschäftigung damit

irr« leitend, sondern für jeden ist zu hoch, worin er nicht bis zur

59 Klarheit und zu umsichtigem Urtheil dringen kann. Wir stehn hier bei dem wesentlichsten Puncte für die Unterscheidung ächter und

falscher Bildung.

Es ist oft besser, über einen Gegenstand gar

nicht, als unklar und unrichtig zu denken. als Unwissenheit.

Irrthum ist schlimmer

Das Ideal der Bildung des menschlichen

Geschlechts liegt weniger in der allgemeineren Verbreitung aus­

gedehnteren Wissens der Einzelnen, als darin, daß der — größere oder kleinere — Kreis des Wissens eines Jeden bis zur Klarheit der Ansicht und Vollständigkeit des Urtheils durchbildet sey.

Ein

Hauptmangel der Bildung ist es, wenn unser Denken und Streben auf Gegenstände geführt wird, deren wir nicht mächtig

werden können, und in denen wir die Beschränkung unserer

Urtheilsfähigkeit nicht abzumessen vermögen.

So wird die Welt

zum Nachdenken und Urtheilen über das öffentliche Leben un­

widerstehlich hingezogen.

Und diese Richtung der Welt können

wir nicht entbehren wollen für die Ausbildung des Urtheils, weil es dem Menschen nicht ziemt über die Angelegenheiten des

öffentlichen Lebens nicht zu denken, und zugleich wegen der

Macht, welche in dieser Richtung enthalten ist.

Aber eine un­

versiegbare Quelle des Irrthums ist diese allgemeine Hinneigung zum Urtheil über die öffentlichen Angelegenheiten, weil der Gegen­ stand jenseits der Grenzen der Urtheilsfähigkeit der Meisten liegt.

Also ist verderblich diejenige Popularität der Wissenschaft, welche zu dem, was Einsicht in die Tiefe erfodert, für Viele

den Zugang zur Oberfläche, nicht aber das Verständniß der Tiefe eröffnet. Nur dadurch soll die Wissenschaft für Viele zugänglich

gemacht werden, daß ihr Tieferes allen ihren Freunden ver­

ständlich gemacht wird.

Es kommt zur allgemeineren Verbreitung höherer wissen­

schaftlicher Bildung nicht bloß darauf an, daß die Menschen

mehr für das Höhere empfänglich gemacht werden, sondern auch

60





darauf, daß das Höhere für die Menschen zugänglich gemacht werde. Schärfe und Klarheit ist ferner die wahre Befähigung der

Lehrer, von welcher aller Erfolg der Lehre abhängt.

Durch

sie wird der Stand der Lehrer nicht nur selbst empfänglich gemacht zur eigenen Einweihung in das Wissen, sondern auch

fähig, dem Lernenden die Weihe mitzutheilen. Klarheit,

Genauigkeit,

Bestimmtheit,

In Schärfe,

Gründlichkeit,

Tiefe,

Fenheit, Subtilität ist die einzige wesentliche Methode des

Unterrichts.

Der Lehrer, der sie besitzt, ist gewiß ein guter,

der sie nicht besitzt, gewiß ein schlechter Lehrer. So liegt also das Mittel der Verbreitung der Bildung und höherer Bildung hauptsächlich in Schärfe und Klarheit.

Sie sind der Weg zur Volksbildung, wie zu den Höhen der wissenschaftlichen Bildung.

Und ohne sie muß Volksbildung

und wissenschaftliche Bildung nothwendig zurückgehn. In ihrem

Besitz ruht wesentlich die Hoffnung für die kommende Zeit. Auf die Frage nun, wie es um die Schärfe, insonderheit des Denkens, in unserer Zeit stehe, muß der ganze Inhalt dieser

Schrift antworten.

Denn es ist Scharfe, was wir an jeder

einzelnen Seite der Bildung als ihr Höchstes finden oder vermiffcn.

Hier können wir bloß auf die folgmden Betrachtungen

und ihre Ergebnisse Hinweisen.

Wir werden zunächst in dem

folgenden Abschnitte, der auch als Ergänzung des gegenwär­ tigen angesehen werden kann, betrachten, wie unsere Zeit durch ein Irrlicht, das sie für Geist hält, von der Schärfe und sogar

von der Richtung auf die Schärfe weggeleitet wird, so daß sie

glaubt sich der Schärfe überheben zu können.

In dem Abschnitt«

von der Kunst der Rede in unserer Zeit werden wir Mangel an Schärfe und Verderbung der Sprachen finden.

Abwendung von

der Klassizität wird sich als ein Charakterzug und als ein Zeichen

der Zeit, und zugleich als Verzichtleistung auf Schärfe erweisen.

61 Die Philosophie unserer Zeit werden wir auf einem Puncte finden, auf welchem sich der entschiedenste Mangel an Schärfe und der

Untergang der Schärfe durch einen falschen Scharfsinn kund thut. Wir werden uns an die Unbestimmtheit der theologischen Lehren

unserer Zeit zu erinnern haben, welche nichts Anderes als Mangel an Schärfe ist. Wo immer wir Schwächen unserer Zeit entdecken

werden, da ist es Mangel an Schärfe, was zum Grunde liegt.

Wenn wir uns erinnern, wie in unserer Zeit Worte für Gedanken gelten, wie hohle Worte und Reden, leere Sätze und schiefe Ansichten günstige Aufnahme finden können, so ist dieß eben der Mangel an Schärfe.

Die Aufnahme des Unwürdigen ist es

hauptsächlich, wodurch eine Zeit ihren Mangel an Schärfe zeigt. Ein Punct findet also hier seine besondere Stelle, weil er

eben nichts Anderes als Mangel an Schärfe ist, die Erzeugung und Aufnahme des Geringen und des Schlechten in unserer

Zeit, also der Mangel an Kritik.

Kritik in diesem Sinne ist

Schärfe des Urtheils.

Daß unsere Zeit überströmt von Geringem und Schlechtem,

namentlich in der Literatur und Kunst, welche hier die Bildung überhaupt vertreten mögen, wird vielleicht von Niemand bestritten. Nun ist aber hierin der unzweideutigste Beweis von Mangel

einer Zeit an Schärfe des Denkens wie des Geschmacks.

Jene

Durchbildung des ganzen Geistes, die wir Totalbildung oder

auch in engerem Sinne vorzugsweise Bildung nennen können, die Veredelung des ganzen Wesens und insonderheit wieder die

Schärfe- wird mehr daran erkannt, daß nichts Schlechtes als daß Gutes hervorgebracht werde.

Eine Zeit, der man Schärfe

des Denkens zuschreiben soll, kann nicht so Schlechtes und so viel Schlechtes hervorbringen, dulden, aufnehmen.

In- einer

Zeit ächter Bildung könnten nicht diese Zeitblätter und Romane geschrieben und so viel gelesen werden.

Dieß ist ein Zeichen

von Stumpfheit gleich wie es abstumpfen muß.

Dieses Ueber-

62 maß des Schlechten, das unsere Zelt erzeugt, diese Ueberfüllung

der Welt mit Schlechtem, diese Aufnahme und Geltung des Schlechten, diese Erhebung des Mittelmäßigen und Geringm kann nur bei hohem Mangel an Schärfe und Gründlichkeit des Denkens wie an Ausbildung des Geschmacks sich finden.

Denn nicht etwa ist dieß bloß ungebildeteren Klaffen zu­ zuschreiben, deren Unbildung nicht als Merkmal des Charakters

des Ganzen betrachtet werden könnte.

Das Schlechte uno daS

Geringe dringt zu weit ein in unsere Bildung, in die Welt, als daß es nicht das Ganze bezeichnen sollte.

Es ist nicht

bloß daS Schlechteste und Nichtswürdigste hier in Betrachtung

zu ziehn, sondern alles Geringe und Gemeine, wie in der Kunst

jene Niedrigkeit, welche, von reiner und tiefer Schönheit fern bleibend, an gemeinerem Elemente, an Spannung und niederem

Reize sich genügen läßt.

Fürs erste findet das Schlechte und das Geringe zu viel Aufnahme und Geltung, als daß es nicht den Mangel der Zeit

an Schärfe, an Urtheil, beweisen und herbeiführen sollte.

Man

muß sich namentlich die Nichtswürdigkeit vor Augen stellen,

die in unsern Zeitblättern vorherrscht, wie darin mit dem gewissen­ losesten Leichtsinn solche das Wort führen, welchen alle Einsicht

abgeht, die nicht bloß der Urtheilsfähigkeit überhaupt ermangeln, sondem oft auch irgend genügender Bekanntschaft mit dem

Gegenstände.

Und dann muß man die Verbreitung, die Gel­

tung, dm Einfluß dieses Nichtswürdigen erwägen.

Unsere

Unterhaltungsblätter, unsere Romane beschränken ihren Kreis

nicht auf den Pöbel, denn nicht bloß von den pöbelhaftesten dieser Blätter sprechen wir.

in der Bildung unserer Zeit.

Sie sind ein bedeutender Moment Es ist schon sehr Geringes, was

auch in den gebildetstm Kreisen unserer Zeit gelesen wird. Dürftiges herrscht auf unserm Bühnen.

Sehr

Die seelmloseste, aller

Tiefe entbehrende Musik ist allgemeine Ergötzung derer, deren

63 Geschmack doch die Bildung der Zeit bezeichnet.

Daß aber die

Begünstigung des Geringen und des Schlechten in unserer Zeit gesteigert worden ist und gesteigert wird, daß sie demnach als

ein charakteristischer Zug unserer Zeit zu betrachten ist, setzen wir als anerkannt voraus und es wird noch an andern Stellen

dieser Schrift sich zeigen. Ferner ist nicht etwa die Hervorbringung und Aufnahme des Schlechten ein Uebel, das für sich, in eigenen, den un­

gebildetsten, Kreisen gesondert bestände, der Erzeugung und Auf­

nahme des Guten keinen Eintrag thäte, und durch das Gute

ausgeglichen, von dem Guten bei der Abwägung der Bildung unserer Zeit wohl überwogen würde.

So ist es nicht.

Man

kann sich nicht denken, daß Griechenland solches erzeugt hätte, wie unsere Zeit erzeugt, ohne daß nicht sogleich Griechenland

herabgesetzt erschiene.

Das Verwerfliche ist nicht etwa nur kein

Gewinn und kein Ruhm, nicht gleichgültig, es ist Verlust und

Schmach.

Die Entwöhnung von Schärfe, von Strenge und

Gründlichkeit bleibt nicht innerhalb der niedrigsten Kreise. Unsere

Zeit schreibt und liest zu viel, als daß nicht das Schlechte sich

immer weiter und weiter eindrängcn sollte. Sie giebt dem Neuen

zu sehr den Vorzug, als daß das Bessere sein Recht behalten sollte.

In einer so viel schreibenden Zeit, wo die Masse des

Schlechten so sehr überwiegt, wird immer die Trefflichkeit des Besten weniger auf die Bildung des Geringeren, als die Schlecht­

heit des Geringen auf die Verbildung des Besseren wirken. Dieß schon wegen der Sprache.

Denn die Sprache wird un­

fehlbar von der Masse des schlechten Geschreibes verdorben.

Und

es wird nicht nur dem Besten sein Mittel des Ausdruckes ver-

dorben, sondern eine vernachlässigte Sprache bringt auch Un­ genauigkeit des Denkens mit sich.

Die Geltung des Schlechten

und die Erhebung des Gemeinen ist eine Fäulniß der Zeit, welche nicht nur das Thun der Gegenwart verdirbt, sondern auch, als

64 die an» schwersten und nur durch kaustische Mittel zu heilende

Krankheit, als die Zerstörung der Schärfe, des eigentlichen Lebcnsprinzips der Bildung, die Hoffnung zum Gesunden der

Zukunft verkümmert. Wo aus Mangel an Schärfe, aus Mangel an Ernst »mb Strenge das Geringe Aufnahme, Ueberschätzung und Gunst findet, wo die Mittelmäßigkeit des Mittelmäßigen und die Schlechtheit des Schlechten nicht erkannt wird, da ist

auch der Sinn für die Trefflichkeit des Trefflichen nicht offen; denn es ist derselbe Mangel an Urtheil, an Schärfe.

Wo Falsches gilt und herrscht, da findet sich für das bessere

Streben nicht nur nicht Aufnahme, sondern auch kein Ausdruck,

keine Sprache.

Denn dafür giebt es keine Sprache, keine Dar­

stellung, was die Zeit nicht hat.

Lessing könnte jetzt nicht die

Schärfe und Klarheit des Gedankens und der Rede erreichen,

die er erreicht hat.

Durchaus wird, wie das Publicum, so auch

der Geist der Hervorbringenden durch die Masse des Schlechten

und Geringen verdorben, von der Schärfe abgeführt.

Was

man immer an unserer Zeit zu loben geneigt seyn mag, die

Schlechtheit erwächst nicht nur in übermächtiger Masse neben dem Guten, sondern sie drängt sich auch in das Beste selbst ein.

Wie sehr unsere Literatur verunsaubert, wie Schlechtes geleistet,

wie günstig Werthloses ausgenommen, wie wenig das Unwürdige

durch geziemenden Unwillen aus der Welt gestoßen, wie gewissenlos geschrieben, wie gedankenlos gelesen wird, kurz wie wenig unsere Zeit Schärfe hat, dieß ist nicht bloß an dem Schlechtesten, das

sie erzeugt und pflegt, zu betrachten, sondern cs ist zu beobachten, wie sehr auch an dem, was unsere Zeit Trefflichstes hat, Mangel an Schärfe und darum an Vollendung sich findet.

Und dieser

Mangel an Schärfe fällt um so mehr auf, je mehr die Zeit

allerdings in der Gewandtheit durch Uebung vorgeschritten ist.

Neben die Virtuosität und die Fortschritte unserer Zeit ist ihr

Mangel an Schärfe, Richtigkeit und Ausglättung zu stellen,

65 damit er in seiner ganzen Größe erscheine.

Der Mangel an

Schärfe aber ist bei dem Geübteren und Gewandteren eine grö­

ßere Sünde und ein schlimmeres Zeichen als bei dem Ungeübt» ren. Da mit dem Vorstehenden die Art unserer Kritik bezeichnet worden ist, so ist hier der Ort, einer Eigenthümlichkeit unserer

Kritik zu gedenken, welche wieder für unsere ganze Bildung bezeichnend ist, nämlich daß, statt der Erfassung des eigentlichen Wesens der ganzen Erscheinung, eine einzelne Seite, ein ein­

zelner Punkt oder eine einzelne Beziehung herausgestellt und

mit dem Ansprüche entwickelt wird, als ob damit die Beur­ theilung des Wesens und des Werthes selbst geleistet sey. Es soll unserer Zeit nicht abgesprochen werden, daß sie

nicht nur, da Kenntnisse und Wahrheiten doch sich aufsammeln, ungemeine Reichthümer im Vorzug vor den Vorfahren besitzt, sondern auch in der Genauigkeit der Erforschung des Einzelnen

fortgeschritten ist, wie es die lange fortgesetzte Betrachtung des

Gegenstandes mit sich bringt.

Doch kann uns auch nicht ent­

gehen, daß diese genaue Durcharbeitung des Gegenstandes und

seine wiederholte, vielseitige Betrachtung ohne die rechte Schärfe sein, und so nicht zur Wahrheit, nicht zum Gewinn führen kann, wie wir vor Allem an der Wissenschaft der Wissenschaften, die am meisten über wissenschaftliche Bildung und Geistesbildung

entscheidet, wie wir an der Philosophie finden werden.

Ueber-

haupt ist es unserer Zeit eigenthümlich, wie selbst die ausgezeich­

netsten Fähigkeiten, ja vielleicht sie vor andern, in die größten Verirrungen fallen und das Ziel verfehlen. Allein hier kömmt nicht einzelnes Wissen in Betrachtung,

sondern das allgemeine, allen Leistungen und Erscheinungen einer

Zeit, namentlich der Literatur und der Kunst, Gepräge der Vollendung, der Schärfe.

aufgedrückte

In dieser Beziehung

nun kann das Urtheil über die Bildung unserer Zeit von der

Verwöhnung an die Mangelhaftigkeit des Besten, was die neueste

5

66 Zeit bringt, nur durch die Zusammenhaltung mit dem Vollen­ detsten, mit dem Klassischen, vor Allem, mit den Werken der klassischen Völker, sich losmachen.

Die neuere Zeit hat Leistun­

gen, welchen Klassizität beigemessen werden mag, und an wel­

chen gebildet das Urtheil den Mangel der neuesten Zeit an Klassizität und die von klassischer Vollendung abgewendete Rich­

tung unserer Zeit erkennt.

Wer aber von der Herrlichkeit der

griechischen Welt erfüllt ist, an deren klassische Vollendung das Vollendetste der neuem Zeit doch nicht reicht, wie hoch es auch in Geist und Gedanken sich erheben möge, der wird in unserer

Zeit einen für ihre gegenwärtige Bildung, ihre Richtung und

die Aussicht für die Zukunft höchst ungünstig sprechenden Mangel an Schärfe erblicken.

Nicht bloß die Höhe des Höchsten ist in

das Auge zu fassen, des Pindar oder des Plato, sondern dieses vornehmlich, daß bei den Griechen durchaus nicht, am wenig­

sten in ihrer besten Zeit, so Verfehltes sich findet, wie in un­ serer Zeit sogar an Werken, die nicht unter das Geringe und

Verwersiiche, sondem vielleicht sogar unter das Gute gerechnet werden.

Bei ihnen findet sich eben so wenig Entstellung des

Trefflichen durch Mangel an Schärfe in Einzelnem, als Spur, daß je so ganz Verwerfliches oder auch nur Aehnliches, wie

bei uns in so großer Masse, sich erzeugt hätte.

Dort ist überall

Reinheit der Leistung, überall Schärfe und Klarheit.

Bei uns

sind überall Schlacken, von denen auch der Sorgfältigste sein

Metall nicht ganz rein halten kann, wie auch der Aufmerksamste seine Rede nicht frei zu erhalten vermag von den Mängeln der

Sprache seines Volkes und seiner Zeit.

Wer, durchdrungen von

der Reinheit und Schärfe, klassischer Werke, die Leistung unserer

Zeit betrachtet, wie das Unkraut über dem Waizen erstickend emporwächst, und wie selbst das Bessere mit einer Mangelhaftig­ keit, einem Ungeschick, einem Mangel an Schärfe behaftet ist,

wovon auch das Geringste des klassischen Alterthums frei blieb,



67



dem kann die jetzige Welt nicht anders erscheinen, als der Scharfe, der Klassizität, der Verständigkeit entbehrend.

Und

es wird ihm nicht bloß in Beziehung auf Literatur und Kunst so erscheinen.

Es ist Charakter der Bildung überhaupt.

In diesem Mangel an Schärfe liegt auch eine Hauptqlielle des Reichthums unserer Zeit, ihres Reichthums an dem, was

von ihr Ideen genannt wird, aber vielmehr Einfälle heißen sollte, ihres Reichthums an Verbesserungen und Hervorbringungen aller

Art.

Es ist oft nur, weil die Zeit sich keinen strengen Gebrauch

eines scharfen Verstandes dabei zumuthet, weil Verfehltes und

Unbedeutendes seine Aufnahme und eine dem Werthe nicht ent­

sprechende Geltung findet. Der Reichthum unserer Zeit an Hervorbringungen aber ist

wieder hauptsächliche Ursache ihres Verderbens.

Unsere Zeit

schreibt viel zu viel, als daß sie gut schreiben könnte.

Sie liest

viel zu viel, als daß sie mit Verstand lesen könnte.

Und der

Vortheil, welchen der Bildung der Welt die Erleichterung der Verbreitung der Erzeugnisse und der Ansichten bringt, hat seine Grenze, welche nur so weit geht, als die Fähigkeit zur Kritik,

zur Schärfe des Urtheils.

Ueber diese Grenze hinaus wird von

der allgemeineren Mittheilung immer das Unverständige und Unvernünftige den Vortheil haben, weil es das Faßlichere und das mehr Begünstigte ist.

In dem vielen Lesen und Schreiben

aber, das mehr Verderben der Bildung ist, sieht unsere Zeit

ihre Bildung.

Die mehr schreibende und lesende Nation sieht

darum wie die gebildetere aus, ein Vorurtheil, welches so tief eindringt, daß wir vielleicht alle, was wir uns auch sagen

mögen, von einem falschen Scheine, der in uns entsteht, uns

nicht ganz befreien können.

Ein anderer Grund des Mangels unserer Zeit an Schärfe liegt in ihrem Verlangen nach dem Neuen, das wiederum nicht

ohne Zusanunenhang mit dem sie beherrschenden Prinzip der

5*

68 Bewegung ist.

Wo man lieber nach dem Neuen als nach dem

vorzüglicheren Alten greifen mag, da kann Schärfe weder vor­ handen seyn , noch sich bilden.

Wovon nun die Heilung dieser Verdorbenheit unserer Zeit,

die Heilung von der Ueberfullung mit Schlechtem, von der Unempfänglichkeit für das Rechte und für Schärfe des Urtheils und Reinheit des Geschmacks zu hoffen wäre, das ist ohne Zweifel der Ekel vor dem Schlechten, vor Allem, was nicht mit

dem Gepräge der Schärfe und des Strebens nach Vollendung

Allein dazu ist keine Hoffnung.

versehn ist.

Die Krankheit

gehört unter die am wenigsten zu heilenden, wie alle Fehler der Neigung.

Und das Mittel, wodurch sie zu heilen wäre, ist gerade

was fehlt.

Denn die Schärfe und Klarheit selbst, die uns man­

gelt, ist eben das Mittel, wodurch allein das Schlechte aus­ gemerzt werden kann. Der Hoffnung, daß die Welt aus Ueber» druß das Verdorbene und Verderbende von sich stoßen werde,

ist nicht Raum zu geben.

Wer sich verwöhnt hat, den Gau­

men mehr reizende, aber minder gesunde Speisen einer einfacheren

aber gesünderm Nahrung vorzuziehn, dem wird wohl der Ueber» druß aus Ueberfüllung kommm, aber in diesem Zustande wird

er darum nicht zum Geschmack an der einfacheren Nahrung

zurückkehren.

So zeigt es auch die Erfahrung an der Auf­

nahme der Erzeugnisse der neuesten Zeit.

Es war sonst un­

erhört, wie schnell und allgemein jetzt Schriftsteller zu Lieblings­ schriftstellern werden oder doch sich einen Namen machen.

Eben

so schnell hört man auf, an ihnen Geschmack zu finden, was

übrigens die Welt schon irre machen sollte an dem Werthe dieser Gattung der Hervorbringungen.

Allein darum greift man nicht

nach Vorzüglicherem, sondern doch wieder nur nach Neuem und Neuerem, das immer wieder nicht besser, oft noch werthloser ist. Es sey gestattet, eine Vergleichung fortzusetzen, welche nicht

durch den Gegenstand, aber durch die Gleichmäßigkeit der Erschei-

69 nung und darum durch Verbreitung der Klarheit über die vor­

liegende Frage sich empfiehlt.

Der verdorbene Magen ist nicht

geeignet, gesunde Nahrung aufzunehmen, der Gaumen aber

wird in diesem Falle eher noch Pikantes und Pikanteres zulassen, als das Einfachere.

Das wahre Mittel ist, einige Zeit dem

Magen gar nichts zu geben, damit er sich erholen, Gesundheit und Kraft Herstellen könne.

Diesen Vortheil des Magens aber

hat der Geist der schreibenden und lesenden Welt nicht.

Wohl

wäre Hoffnung, daß sie gesundete, wenn sie einige Zeit hin­

durch nicht schriebe und nicht läse.

Wenn ein Menschenalter

hindurch nicht gedichtet würde, so wäre Rückkehr zum Geschmack

an dem Besseren zu hoffen, da die Neuheit keine Gewalt hätte.

Da aber solche Enthaltsamkeit der Welt nicht zu erwarten ist,

da sie

immer wieder nach Anderem und nach Verderbendem

greift, so sieht man nicht, wie die Gesundheit hergestellt wer­

den soll.

7.

Geist. Es giebt einen Reichthum und eine Gewalt des Geistes,

welche man von dem Vermögen der Schärfe, Wahrheit und

Tiefe zu sondern und vorzugsweise mit den Worten Geist und

Geistreich zu bezeichnen pflegt. Was wir Geist nennen, unterscheidet sich allerdings von

Schärfe, Wahrheit und Tiefe darin, daß von diesen die Erfor­ schung der Wahrheit schlechthin auf dem nächsten Wege der

Erkenntniß gesucht, aus dem Wesen und Verhältnissm der Gegenstände und aus Gründen gesucht wird, Geist aber immer

etwas außerhalb des einfachen die Ergründung des Gegenstandes

verfolgenden Jdeenganges Liegendes hinzufügt.

Daher-wird

hiervon vorzugsweise das Wort Geist gebraucht, weil sich hier-

69 nung und darum durch Verbreitung der Klarheit über die vor­

liegende Frage sich empfiehlt.

Der verdorbene Magen ist nicht

geeignet, gesunde Nahrung aufzunehmen, der Gaumen aber

wird in diesem Falle eher noch Pikantes und Pikanteres zulassen, als das Einfachere.

Das wahre Mittel ist, einige Zeit dem

Magen gar nichts zu geben, damit er sich erholen, Gesundheit und Kraft Herstellen könne.

Diesen Vortheil des Magens aber

hat der Geist der schreibenden und lesenden Welt nicht.

Wohl

wäre Hoffnung, daß sie gesundete, wenn sie einige Zeit hin­

durch nicht schriebe und nicht läse.

Wenn ein Menschenalter

hindurch nicht gedichtet würde, so wäre Rückkehr zum Geschmack

an dem Besseren zu hoffen, da die Neuheit keine Gewalt hätte.

Da aber solche Enthaltsamkeit der Welt nicht zu erwarten ist,

da sie

immer wieder nach Anderem und nach Verderbendem

greift, so sieht man nicht, wie die Gesundheit hergestellt wer­

den soll.

7.

Geist. Es giebt einen Reichthum und eine Gewalt des Geistes,

welche man von dem Vermögen der Schärfe, Wahrheit und

Tiefe zu sondern und vorzugsweise mit den Worten Geist und

Geistreich zu bezeichnen pflegt. Was wir Geist nennen, unterscheidet sich allerdings von

Schärfe, Wahrheit und Tiefe darin, daß von diesen die Erfor­ schung der Wahrheit schlechthin auf dem nächsten Wege der

Erkenntniß gesucht, aus dem Wesen und Verhältnissm der Gegenstände und aus Gründen gesucht wird, Geist aber immer

etwas außerhalb des einfachen die Ergründung des Gegenstandes

verfolgenden Jdeenganges Liegendes hinzufügt.

Daher-wird

hiervon vorzugsweise das Wort Geist gebraucht, weil sich hier-

— 70 — durch Reichthum des Genius verkündet.

Dor Allem bezeichnen

wir mit dem Worte Geist die Verknüpfung des entfernt Lie­ genden, welche am meisten geeignet ist, die Lebhaftigkeit und

die Gewalt des Geistes, seine Freiheit und seinen Schwung, hervortreten zu lassen.

Er ist hierin dem Witze auf das nächste

verwandt, ja damit zusammenfallend, und mit gutem Grunde

wird beides in der französischen Sprache und in einem ftüheren

Gebrauche der deutschen Sprache mit demselben Worte bezeichnet. Aber auch nur darin unterscheidet sich Geist von der Schärfe und Tiefe des Gedankens und des Ausdrucks, daß er nicht,

wie diese, bei der Begründung des Gedankens und seinem ein­

fachen Ausdmcke stehen bleibt, sondern darüber hinausgeht.

In

der Ergründung des Gegenstandes selbst aber schließt er sich

an Schärfe und Tiefe an.

Es ist hoher Irrthum zu glauben,

daß Geist von der Strenge des Verstandes sich trennen, ihren

Forderungen sich entziehen könne.

Vielmehr hat er nur in der

Wahrheit und in der Tiefe seine Seele, und die tiefste Auf­

fassung des Gegenstandes ist sein Höchstes, ja seine Eigenthüm­ lichkeit.

Er hat seinen Werth nur darin, daß er, was die

Schärfe stets auf dem nächsten Wege sucht, die Ergründung

eines Gegenstandes, gleichsam auf Umwegen erstrebt und durch Herbeiziehung entfernt liegender Gesetze und Erscheinungen, durch Ausdehnung des Blickes auf mehr verborgen liegende Seiten

und Beziehungen des Gegenstandes, mit freierem Schwünge, das Innerste und Tiefste der Sache vor den Blick zu führen

und in erhöhter Deutlichkeit und Lebendigkeit darzustellm vermag. Zn Beziehung auf das Geistreiche herrscht ein ähnlicher Irrthum, wie in Beziehung auf die Kunst der Rede.

Wie

man gewöhnlich glaubt, daß es eine Redekunst gebe, welche verschieden

sey

von der Kunst angemessenen Ausdrucks der

Wahrheit und nicht so durchaus verwachsen mit dem Gedanken,

sondern eine von Stoff und Gedanken zu sondemde Zierde der

71 Rede, so glaubt nwn auch, das Geistreiche sey etwas für sich, ohne strengen Zusammenhang mit der Wahrheit und mit einem

Stoffe.

Aber so unzertrennlich wie die achte Kunst der Rede

von dem Gedanken ist, so unzertrennlich ist auch das Geistreiche

der Werke von der Wahrheit und von der Tiefe des Gedankens. Wie alle Trefflichkeit der Rede, so muß auch jener Reichthum und Glanz der Darstellung, den wir mit dem Worte Geist

bezeichnen, aus der Tiefe des Gedankens selbst hervorbrechen;

er ist nicht der Ergründung und wahrhaften Darstellung des Gegenstandes ftemdartig, sondern daraus erzeugt.

In dem

Geistreichen muß die größte Gediegenheit der Anschauung, die

größte Tiefe der Wahrheit seyn, nicht daß es die Darstellung als ein zur Wahrheit nicht gehöriger flüchtiger Schmuck und

Reiz umspielte.

Wenn wir verschiedenartige Gesetze des Lebens

der Welt oder Gesetze verschiedener Gattung vergleichen oder zu unserem Gegenstände verwandte Erscheinungen herbeiziehn, um

das eine durch das andere zu erläutem und daraus ein höheres

Gesetz zu erschließen, einen tieferen Blick in das Leben des Ganzen zu gewinnen, so liegt der Werth in diesem tieferen Blick, in der Erleuchtung, die aus dem Vergleiche hervorgeht,

und dieser Werth ist durch die Wahrheit bedingt.

Jedes Bild,

das wir brauchen, hat seinen Werth nur darin, daß es ein

wahres Bild der Sache, eine gelungene Bezeichnung des Gedan­ kens oder Gefühls ist und das Wesen der Sache vollständiger

ausdrückt als das bloße Wort es kann.

So ist in dem Geist­

reichen selbst Schärfe und Tiefe und Verdeutlichung enthalten.

Und so hat die Bildung nichts Höheres als das Geistreiche. Allein ohne diesen Werth der Beziehung auf die Tiefe des

Gegenstandes und die Schärfe des Gedankens, ohne Wahrheit ist das, was man Geist zu nennen pflegt, nur leer, ja matt und fade.

Jede Combination ist werthlos, welche nicht die Ein­

sicht in die Wahrheit bereichert.

Alle Gleichnisse, alle Bilder,

72 alle Gegensätze sind leer und verfehlt, die nicht zur Anschau­

lichkeit und zum Verständniß etwas hinzuthun.

Aller Witz ist

nichtig und gehaltlos, der nicht mehr Klarheit oder Lebendig­

keit, wenigstens dem Worte mehr Eingänglichkeit giebt. Ohne strenge Anschließung an den Gedanken, an das Ziel der Darstellung eines Gegenstandes, an die Wahrheit, sinkt

das, was man wohl auch, aber dann mit Unrecht, als Geist

und geistreich zu bezeichnen pflegt, zu weit niedrigeren Eigen­ schaften herunter, für die am meisten ausländische Worte passen. Es ist dann bloß pikant, frappant, amüsant, es imponirt, durch Kühnheit und Lebhaftigkeit, durch das Ungewöhnliche, durch das Schroffe selbst.

Nur Bombast und geschraubter Styl, nur

bizarr und barock ist ost, was man für Geist und gewählten

Ausdruck nimmt.

Es verliert sich wenigstens in gemeinen und

unwürdigen Reiz, ähnlich dem Geschmack der Kinder, denen das Bunteste das Liebste ist, und dem Geschmack unserer Zeit,

welche des schärfsten Stachels bedarf, um gereizt zu werden.

Wollen wir solches Geistreich nennen, so ist das Geistreiche nicht auch vom Geiste erfüllt, ja es kann aus. einem dürftigen Geiste

kommen.

Man möchte aber lieber ein Wort bilden, das zu dem

Ausdrucke Geist sich verhielte, wie Witzelei zu Witz. Aber nicht bloß ohne Werth ist das, was sich als geist­

reich geltend macht, wenn ihm Schärfe und Tiefe und selbst

die Wahrheit fehlt; sondern es ist dann auch Verderben der Bildung, weil es sich selbst in seinem Unwerthe an die Stelle

des Würdigen drängt, die Richtung von dem wahren Ziele des Strebens ablenkt, für Schärfe und Richtigkeit des Denkens nicht Raum läßt, wohl gar der Wahrheit gerade entgegen tritt.

Der

Wahrheit tritt aber Alles entgegen, was sich nicht die Wahrheit zum Ziele setzt und zur unerläßlichen Bedingung. für die Wahrheit ist, ist gegen sie.

Was nicht

Die Annahme, daß etwas

Werth haben könne ohne die Wahrheit und selbst wider die

73 Wahrheit, widerspricht nicht bloß, wie anderer Irrthum, der

Wahrheit, sondern sie hebt das Recht selbst der Wahrheit auf.. Und nie kann Unächtes sich geltend machen, ohne die Geltung

des Aechten zu verkümmern, wie dem niederen Reize nur auf Kosten des höheren Raum gegeben wird.

Das Verderbliche der

Begünstigung des Geringen und Unächten wird aber gesteigert,

je mehr es über sein Wesen und seinen Werth täuscht und für ein anderes als es ist ausgenommen wird.

Denn darin liegt

der Grund der Verkennung des Rechten, dadurch wird die Welt unempfänglich für das Rechte; wo das Unächte für ächt genom­ men wird, da kann das Aechte nicht verstanden werden.

In gleicher Weise wie die Wahrheit wird durch das Vor­ drängen dessen, was sich fälschlich für Geist ausgiebt, auch die Schönheit verfehlt.

Denn auch an die Stelle des Schönen zu

treten maßt es sich an.

Alle Nachgiebigkeit gegen niederen Reiz

ist wesentlich Abwendung von der Schönheit, Verderben des Schönheitssinnes. Durch alles vorstehende wird aber der Werth der Laune

nicht aufgehoben, welche in ihrer Flüchtigkeit und Leichtigkeit, mit ihrem leichten Sinn, Tiefe und Schärfe des Gedankens

zu verschmähen scheint.

Zuerst giebt die rechte Laune sich nie

für etwas aus, was sie nicht ist, und darum kann sie nicht

zu Irrthum führen, außer wenn sie mißverstanden'wird, was

aber nicht ihr selbst zuzurechnen ist. That verwerflich seyn.

Sonst würde sie in der

Auch im Komischen ist unwürdig, was

gegen Wahrheit und Richtigkeit ist.

Die Laune muß bei aller

Schärfe des Denkens bestehn können.

Ferner aber hat die Laune

nicht allein ungeachtet, sondern auch in ihrer Leichtigkeit und Flüchtigkeit ihre Tiefe und ihre Schärfe, und hierin ruht der höhere Werth der Laune und ihrer Werke.

Ihr Werth ist darin,

daß sie aus dem Innersten, aus der Tiefe einer reichen und reinen Quelle hervorbricht.

Man muß bei einem Werke der

74 Laune immer in eine Tiefe zu sehen glauben.

In der Strenge,

mit welcher dieser Charakter der ächten Laune bewahrt wird,

liegt die Schärfe, welche überhaupt auf keine Weise dem Wesen

der Laune fehlt.

Es liegt darin die Klassizität der Laune.

Je mehr der Gedanke, um welchen die Laune spielt, mit Scharfe gedacht und ausgebildet ist, desto höher ist das Komische.

Unsere Zeit nun zeigt überall, in dem Verlangen des Publicum, wie in dem Streben der Schriftsteller und der

Künstler, eine Richtung auf das, was sie für Geist nehmen. Sie setzt ihr Verdienst darein.

Die Richtung auf das, was

romantisch genannt und dem Klassischm entgegengesetzt wird,

gehört hierher.

Und daß dieß nicht ohne Erfolg bleibt in Bezie­

hung auf jene niederen Kreise des Verdienstes und des Interesse, daß unsere Zeit es nicht an Würze fehlen läßt, im Allgemeinen

nicht an Lebhaftigkeit und am Pikanten, nicht an Reichthum der Ausstattung, nicht am Sprühen von Geistesfunken, soll

hier nicht bestritten werden. Aber worin wir den höheren Werth

des Geistreichen oder das höhere Geistreiche erkannt haben, ver­ missen wir, und die Gefahr, die wir an dem »nächten Geist­

reichen gefunden haben, sehen wir in unserer Zeit in Erfüllung

gehen.

Dieß ist schon damit nachgewiesen, daß Schärfe und

Tiefe der wesentliche Werth und die unerläßliche Bedingung des Geistreichen ist, unsere Zeit aber der Schärfe ermangelt.

Und es bestätigt sich durch jede Betrachtung dessen, was unsere Zeit sich als Geist anrechnet.

Ueberall finden wir dabei und

darüber die Gründlichkeit, die Tiefe und die Schärfe, die Schön-

heit selbst zurückgesctzt.

Ich gebe es nicht für mein Urtheil,

daß sich dieß an der Literatur, namentlich der Kritik und Poesie,

dem historischen und politischen und philosophischen Blicke des

Volkes findet, welches doch auch jetzt noch, oder gerade jetzt wieder, den ersten Rang in dem einnehmen möchte, was man

für geistreich zu nehmen pflegt.

Man findet in der neuesten

75 Literatur der Franzosen, aber nicht der Franzosen allein, nicht bloß Geist, sondem auch tiefe Blicke, aber nicht Tiefe des

Blickes.

Denn diese Tiefe ist nur in einzelnen Blicken, nicht

in der Art zu sehen.

Es ist ähnlich, wie wenn ein Blitzes­

strahlen, für Momente leuchtend, nur einzelne Blicke gestattet, nicht daß bei dauerndem Lichte ein ruhender Blick den Zusam­

menhang des Ganzen erschauen könnte. ist stets einseitig.

Solche Art des Blickes

Man weiß nicht, ob es mit Bewußtseyn

oder unbewußt geschieht, wenn die fähigsten Köpfe unserer Zeit irgend eine, am liebsten eine gerade jetzt weniger bemerkte und hervorgehobene Seite des Gegenstandes, irgend eine, am lieb­

sten eine weniger beachtete und eine befremdende, Ansicht zu

suchen und sich anzustellen Pflegen, als ob mit dieser Fackel nun das volle Licht über den Gegenstand gegossen würde.

Und

wenn der Gegenstand und die Ansicht irgend in das Ganze eingrcifen kann, so soll es das Ansehn erhalten, als ob hier

die Angel der Bewegung der Welt, die Seele des Lebens der Welt wäre.

Auf solchem Wege muß aber gerade der Gesichts­

punct verrückt, die Wahrheit verfehlt, Einseitigkeit in die An­ sicht gebracht werden.

Es fehlt die Gründlichkeit, welche mit

gleicher unermüdlich strenger Forschung den Gegenstand, den

Gedanken nach allen Richtungen, von allen Seiten und im

Zusammenhang« mit allen seinen Berührungen erfaßt.

Mithin

fehlt die Wahrheit, welche nicht ohne diese Gründlichkeit und

Schärfe des Gedattkms gefunden werden kann.

An das, was man für Geist giebt und nimmt, knüpft sich insbesondere die reichere Ausstattung, die Eleganz der Ma­

nier, die Lebhaftigkeit des Geistes. viel Falsches.

Auch hierin hat unsere Zeit

Jene Eleganz ist häufig nicht Wahl des Besten,

nicht sorgfältige Wahl nach dem wahren Werthe, sondern Gebrauch

des Ungewöhnlichen und des Frappanten.

Gemein heißt, was

jeder braucht, matt und gering das Einfache.

Indem sie aber

76 gewähltere Ausdrücke brauchen wollen, fallen sie in Unan­ gemessenheit und Verworrenheit.

In der Sprache immer nur

das Gewöhnlichste zu brauchen hat die Gefahr der Mattigkeit und Gedankenlosigkeit, welche dem täglichen Gebrauche eigen ist.

Der Gebrauch des

Ungewöhnlichen und die Bildung neuen

Gebrauchs hingegen erfodert viel Schärfe, wenn nicht Fehler und Unangemessenheiten daraus folgen sollen.

Und das Stre­

ben nach Reichthum der Ausstattung, ohne Schärfe, führt vom

Ziele ab.

Indem sie geistreich seyn wollen und die Art des

Geistreichen nachahmen, welches nicht auf die einfache Darstellung

des Gegenstandes sich beschränkt, sondem Verwandtes und Aehnliches anknüpst, verlieren sie das Ziel und den Gegenstand aus den Augen, und scheinen oft nicht zu wissen, wo sie sind.

Vor Allem gehört in diese Betrachtung die Sucht unserer

Zeit witzig zu seyn und Witz zu finden.

Denn auf Witz, oder

vielmehr Witzeln, kömmt das meiste hinaus, was als geistreich

immer mehr die Literatur überschwemmt, wie wir denn schon

bemerkt haben, daß Witz und Geist in einander läuft und selbst

in dem Namen.

Vielleicht scheint nicht der Erwähnung wür­

dig die niedrige Witzelei gemeiner deutscher Tagesblätter, oder

die ungeheuerste Verirrung der Kunst, welche die für edleren

Reiz unempfindlich gewordene Welt mit Stacheln und Brenn­ nesseln reizt und so durch Verwöhnung immer unempfänglicher

macht.

Aber nicht nur nimmt diese Art einen nicht unbeträcht­

lichen Raum ein, sondem sie kann selbst in den härteren Zügen ihres Aeußersten doch zur Bezeichnung und deutlicheren An­

schauung dessen dienen, was allgemeiner Zug der neuesten Zeit

ist, obschon es anderwärts wmiger scharf hervortritt.

Ja das

Niedrigste dieser Art ist doch wieder Ursache des Verderbens des Besseren, denn hier geht das Verderben mehr von unten

aufwärts, und diesem Anfänge folgend werden wir bis in die

höchsten Regionen unserer Kritik, unserer Kunstleistung, unserer

77 Philosophie geführt.

Nicht bloß in Zeitblattern hat die Sucht

Auch in das Bessere ist

nach Witz die Herrschaft errungen.

diese Sucht übergegangen, und dieß vielleicht weniger durch die

Schuld der Schriftsteller, als des Publicum, welches, an diese Art der Ausstellung, an dieses Gewürz gewöhnt, mit seinem

dadurch abgestumpften Geschmack das Reinere und Einfachere matt, alltäglich, fade und unschmackhaft findet.

Das Streben

und Verlangen nach Witz, nach dem Geistreichen, ist allgemeiner

Zug unserer Zeit geworden.

Oder am besten ist es vielleicht

das Streben nach dem, was nicht einfach ist, zu nennen.

Nun

haben wir in dem ächten Geistreichen das Höchste aller Bildung

gefunden.

Allein daß unsere Zeit nicht dieses ächte hat, müßte

dem, den der Blick auf unsere Literatur und Kunst nicht über­ zeugte, und der es nicht aus dem Mangel unserer Zeit an

Schärfe überhaupt erschlösse, schon aus der allgemeinen Ver­

breitung dieser Art deutlich werden.

Denn das ächte Geistreiche

liegt so hoch, daß es kaum in der begabtesten Zeit so allgemein

seyn kann. Was aber aus der Natur der Sache folgt, das zeigt auch

die Erfahrung in unserer Zeit, daß ^Schärfe und reine Ver­ ständigkeit erstickt wird durch das unächte Geistreiche und den

unächtm Witz, durch die Pflege und Geltung dessen, was man für Geist oder auch wohl Scharfsinn nimmt, was aber nur

leeres Witzspiel und falscher Schein ist.

Wo

der leere und

wohlfeile Witz gelten kann, wo das Interesse am Pikanten vor­ herrscht, da geht der Gedanke nicht in die Tiefe, und wenn

auch mit dem Witz tiefere Bedeutung sich verbindet, so geht doch durch sein Vorherrschen die Strenge in der Richtigkeit des Denkens und der Darstellung unter.

Von den Blitzen schla­

gender aber nicht treffender Worte geblendet werden die Blicke

unempfänglich für das reine Sonnenlicht strenger Wahrheit und Bestimmtheit des Gedankens.

Sogar in Werken, die voll

78 Funken des Geistes, die mit tiefen Blicken und eigenthümlichen Wahrheiten ausgestattet sind,

wird von der Ueppigkeit des

Witzes die Wahrheit entweder wie ein zarteres Gewächs von

zu üppig wuchernder Pflanzenart erstickt, oder doch unscheinbar gemacht.

Und da das wahrhaft Geistreiche selbst auf Scharfe und

Tiefe ruht, so geht, was wirklich Geist ist, verloren über dem

Streben nach dem, was man für Geist halt. bewegende Prinzip des Geistes ist Seele.

unserer Zeit mangelt,

weil sie

Streben nicht Tiefe hat,

Endlich das

Daß aber Seele

nicht Innerlichkeit, weil ihr

haben

wir im

vierten Abschnitte

bemerkt.

Vielleicht tritt die Untüchtigkeit des Strebens und Leistens

unserer Zeit an nichts so deutlich hervor, als an der Verflachung dessen, was man Geist nennt, an der Niedrigkeit der Vor­

stellungen von Geist, wovon man oft höchst dürftiges, gehalt­ leeres, ja unbeholfenes Witzspiel nicht unterscheidet.

Und viel­

leicht hat die Zeit nichts Verderblicheres für die Bildung als diese Richtung.

abgestumpft.

Dadurch wird der Sinn für das Reinere

Dadurch muß der Sinn für das Schöne und

Erhabene verloren gehn, der Sinn für das Liebliche und das Unmuthige, das nur für frische Seelen ist.

benheit aller Bildung.

Daher Verschro­

Daher die geistige Kränklichkeit und

Schwächlichkeit unserer Zeit.

8. Ausbildung -er Rede. In dem Abschnitte von der Schärfe haben wir die Spitze der Geistesbildung, die Ausbildung des Denkvermögens oder vielmehr der Kunst des Denkens betrachtet.

Neben dem Denk«

78 Funken des Geistes, die mit tiefen Blicken und eigenthümlichen Wahrheiten ausgestattet sind,

wird von der Ueppigkeit des

Witzes die Wahrheit entweder wie ein zarteres Gewächs von

zu üppig wuchernder Pflanzenart erstickt, oder doch unscheinbar gemacht.

Und da das wahrhaft Geistreiche selbst auf Scharfe und

Tiefe ruht, so geht, was wirklich Geist ist, verloren über dem

Streben nach dem, was man für Geist halt. bewegende Prinzip des Geistes ist Seele.

unserer Zeit mangelt,

weil sie

Streben nicht Tiefe hat,

Endlich das

Daß aber Seele

nicht Innerlichkeit, weil ihr

haben

wir im

vierten Abschnitte

bemerkt.

Vielleicht tritt die Untüchtigkeit des Strebens und Leistens

unserer Zeit an nichts so deutlich hervor, als an der Verflachung dessen, was man Geist nennt, an der Niedrigkeit der Vor­

stellungen von Geist, wovon man oft höchst dürftiges, gehalt­ leeres, ja unbeholfenes Witzspiel nicht unterscheidet.

Und viel­

leicht hat die Zeit nichts Verderblicheres für die Bildung als diese Richtung.

abgestumpft.

Dadurch wird der Sinn für das Reinere

Dadurch muß der Sinn für das Schöne und

Erhabene verloren gehn, der Sinn für das Liebliche und das Unmuthige, das nur für frische Seelen ist.

benheit aller Bildung.

Daher Verschro­

Daher die geistige Kränklichkeit und

Schwächlichkeit unserer Zeit.

8. Ausbildung -er Rede. In dem Abschnitte von der Schärfe haben wir die Spitze der Geistesbildung, die Ausbildung des Denkvermögens oder vielmehr der Kunst des Denkens betrachtet.

Neben dem Denk«

79 vermögen, und unzertrennlich von ihm,

Rede.

steht die Kunst der

Der Gedanke und die Rede sind in einander.

Die

Rede ist die Verkörperung und Erscheinung des Gedankens, sie ist ein lautes Denken.

An der Kunst der Rede ist das Denk­

vermögen einer Zeit zu erkennen.

Das sicherste Merkmal der Bildung eines Volkes und noch mehr einer Zeit ist die Ausbildung der Rede und der Sprache,

so fern man in der Sprache nicht bloß gleichgültige Zeichen, sondern auch Sinn und Bedeutung findet.

Der Griechen hohe

Bildung erkennen wir an nichts mehr als an der Rede und

an der Sprache der Nation.

Von den Römern ist als das

Höchste ihrer Bildung ihre Sprache zu betrachten; sie ist die

Größe der Literatur der Römer. Es ist schon ausgesprochen worden, daß der Styl des

Menschen der Mensch ist.

Noch weit mehr aber gilt dieß von

den Zeiten und von den Völkern.

Denn die Rede des Ein­

zelnen ist nur zum Theil seine Rede, der andere Theil, nament­ lich die Sprache, ist die Sprache seiner Nation und seiner Zeit.

Die Befangenheit des Einzelnen in der Art seines Volkes und seiner Zeit ist bei der andem Bildung nicht so hervortretend

wie in der Bildung der Rede.

Denn nicht bloß liegt es in

der Sache, daß der Einzelne gerade in dem, was Mittheilung ist, was jeder nur durch Mittheilung sich aneignet, am meisten

durch seine Umgebungen bestimmt wird:

sondern die wesend

liche Grundlage der Rede, die Sprache, ist ja im Allgemeinen gar nicht des Einzelnen, sondern des Volkes und der Zeit.

Zwar kann der Meister der Rede auch sein Zeichen dem Gepräge

seiner Sprache beifügen, wie auf den Münzen das Zeichen des Meisters sich findet, aber der ganze Stempel ist der Stempel

seines Volkes und seiner Zeit.

Von seinem Volke und seiner

Zeit empfängt der Redende die Sprache, ein Material, das

nur sinnig zurechtgelegt, nicht in eine andere Masse verwandelt

80 werden kann.

In allem Anderen kann der Einzelne eher aus

Zeit und Nation herausgehn, als in der Sprache.

Wer seine

Ansicht und sein Urtheil ganz über die Ansicht und das Urtheil seiner Zeit zu erheben vermöchte, der kann doch nicht umhin,

in seines Volkes und seiner Zeit Sprache zu sprechen.

Zwar

ist im Denken wie im Sprech.'« der Einzelne beides', selbstständig

und wieder Erzeugniß seiner Umgebung.

Aber in dem Denken

ist die größere Selbstständigkeit, in der Sprache die größere

Abhängigkeit von Zeit und Volk.

Femer können wir uns schon

darum von der Sprache weniger als von anderem Gepräge

der Zeit los machen, weil der Gebrauch der Sprache mehr als der Gebrauch des Verstandes, ein unbewußter wird, in welcher

wir das Gewohnte unwillkührlich wiederholen. mit der Sprache der Zeit und des Volkes.

Anders ist es

Was die Zeit nicht

in der Sprache hat, hat sie gar nicht, hat sie nicht in der Bildung.

Denn darum eben ist es nicht in der Sprache, weil

es nicht in dem Gedanken, in der Bildung, in dem Volke oder

der Zeit ist.

Die Zeit bildet ihre Sprache nach dem was sie

denkt, und sie nimmt in die Sprache Alles auf, was sie denkt. Ueber die hohe Bedeutung der Kunst der Rede für die Bildung des Menschen, für die Veredelung des ganzen Wesens

müssen wir das gebildetste Volk der Erde fragen.

Bei den

Griechen war Denken, Sprechen, Deklamation, Rhythmus,

Poesie, Gesang, Musik in einem Zusammenhänge, welcher ihrer Bildung wesentlich war; Alles Theile Einer Kunst, welche den

höchsten Flug des Gedankens und die Vollendung der Rede, ohne Zweifel bis zur größten Reinheit und Verfeinerung der

Aussprache und des Tonfalls, umfaßte.

Sprache und Rede­

kunst, Gedanke und Sprache und Kunst stossen in einander,

zur gegenseitigen Veredelung,

zur tüchtigen Begründung der

Kunst, wie zu Erhebung des Gedankens und der Sprache in das Reich der Schönheit.

Die Trefflichkeit ihrer Rede und

81 Sprache ist die Scharfe des Gedankens, die Feinheit des Tactes,

die Reinheit des Geschmacks, die Eleganz aller Form.

Durch

nichts mehr, als durch diese Harmonie aller Bildung, durch diese Vereinigung aller Bildung in einen Kreis, welcher in

der Scharfe des Denkens und der Rede seinen Mittelpunct hat,

ist das Leben der Griechen veredelt, durch nichts mehr ist es zu einem Kunstwerke geworden.

Hierin scheint die Musik der Griechen ihr Wesen und ihre

gerühmte Gewalt gehabt zu haben.

Bei den Griechen hatte,

wie es scheint, die Musik einen ganz andern Sinn als bei uns.

Sie ermangelte dort ohne Zweifel des Reichthums, der Fülle, der Macht, vielleicht auch des Tiefsinns, der den Messen, Symfonien und Opern der neuen, wenn auch nicht der neuesten Zeit, eigen ist.

Aber sie mag bei den Griechen eine von uns nicht

mehr zu verstehende Würde und Bedeutung gehabt haben, in

ihrer engen Verbindung mit der Rede und ihrem Rhythmus und mit der Poesie.

Sie gehörte zu der edlen Gestaltung,

welche der Rede, so wie aller Bewegung, der Griechen eigen­

thümlich war, und in welcher alle Kunst sich vereinigte, an die Poesie selbst die Kunst sich anschloß, die bei uns als Tanz­

kunst von so hoher Bedeutung sich weit entfernt hält.

Darum

war auch bei den Griechen die Musik allgemeiner und wesent­ licher Gegenstand der Bildung und namentlich der Erziehung.

Um nun den Standpunct für die Kunst der Rede unserer Zeit zu nehmen, müssen wir zunächst davon ausgehn, daß die Trefflichkeit der Rede auf der Schärfe des Denkens und aller

Bildung ruht.

Wir haben dann schon den Grundzug des

Charakters der Redekunst unserer Zeit gefunden, wenn wir auf das zurückgehn, was wir über den Mangel unserer Zeit

an Schärfe und Richtigkeit des Denkens, über ihre Entfemung

von der Klassizität, über die Erfüllung der Welt von dem Schlechten und Geringen, und über den Einfluß des Ueber-

6

82 maßes am Schlechten und Geringen auf den Ton der ganzen Bildung gefunden haben.

Wie von der Ausbildung des Denk­

vermögens, so ist die Schärfe auch von der Ausbildung der

Rede das Wesen.

Auf der Schärfe ruht alle Eleganz, Fein­

heit, Bestimmtheit, Klarheit, Reinheit, Schönheit und Tiefe der Sprache.

Wenn wir im Vergleich nicht bloß mit den trefflichsten der Griechen und Römer, sondern mit den griechischen und römi­

schen Schriftstellern der guten Zeit überhaupt unsere Rede und

unsere Sprache dürftig, unbeholfen, ungeglättet, unrein finden,

so ist zwar dieser Vorwurf nicht der neuesten Zeit eigenthümlich, allein er gehört dennoch zur Beurtheilung des Standpunctes,

den unsere Bildung in der Geschichte der Bildung des mensch­

lichen Geschlechts cinnimmt, und er ist von uns nicht zu über­ gehn, weil er zur Beantwortung der Frage wesentlich ist, ob denn wirklich, wie unsere Zeit meint, ihre Bildung so weit über alle ftühere Bildung hervorrage, worüber kein Punct mehr ent­

scheidet, als der, bei welchem wir stehn, da die Geistesbildung nichts Wesentlicheres hat, als die Kunst der Rede und die mit

ihr zusammenlaufende Kunst des Denkens.

Wollen wir aber

den Vergleich mit jenem Trefflichsten bei Seite setzen, und nur den Charakter her neuesten Zeit in Vergleich mit der näher

liegenden, namentlich mit der zunächst vergangenen, also die Richtung und den Gang unserer Zeit in Beziehung auf die

Kunst der Rede betrachten, so muß uns Mangel an Schärfe, an Richtigkeit, an Reinheit, an Bestimmtheit, an Angemessen­

heit und an Klqrheit um so mehr auffallen, je mehr die Lite­ ratur bereichert worden und je größer die Uebung ist; denn wo weniger Uebung ist, da ist Mangel an Vollendung der Rede

weniger Zeichen von Mangel an Verstand und Geist, und darum

eher nachzusehn.

Es muß jedem auffallen, wie die Sprache

in unserer Zeit neue Unangemessenheit, Unbehülflichkeit, Steif-

83 Helt und Unrichtigkeit aufnimmt, in der nicht von Einsicht unter» stützten Vermessenheit alles zu verbessern viel, doch mit Ungeschick,

neuernd.

Nicht immer hat die Einsuhrung eines neuen Sprach­

fehlers einen so tief liegenden Grund, wie etwa dieses, daß man im Deutschen, mit Uebertragung einer französischen Wen­

dung, den Gedanken, daß uns etwas gefalle, mit den Worten ausdrückt, daß wir uns da oder darin gefallen.

In der That

pflegt unsere Zeit nur zu sehr sich in dem zu gefallen, was

ihr gefällt; ihr gefallt nicht nur das Falsche, sondern sie gefallt

sich auch in seiner Aufnahme und Pflege.

Immer ist in den

neuen Verunreinigungen der Sprache ein zwiefacher Zug unserer Zeit zu erkennen, Mangel an Scharfe und an Prüfung, und die Vermessenheit des Klugdünkens.

Vor allem ist die Veränderung des Prinzips der Sprach, bildung bei den Franzosen charakteristisch, welche jetzt der frü­ heren strengen Sprachgesetzgebung, ohne Zweifel einer Quelle

der an den Franzosen gerühmten Klarheit, aus Grundsatz den

Gehorsam verweigert.

Aber die französische Nation, der Gesetz­

gebung einer Akademie sich unterwerfend, was sie jetzt so ver»

schmäht, war in so weit von dem rechten Grundsätze ausgegangen,

als der Gebrauch der Worte der genauesten Bestimmtheit bedarf,

als auf dem Streben nach Gesetzmäßigkeit und strenger Richtig­ keit in der Sprache, dem Spiegel der Wahrheit und Schärfe des Denkens, die Kunst der Rede beruht.

Hat je Willkühr,

sey es einer Akademie oder eines Volkes, dem Sprachgebrauche zu enge oder unangemessene Schranken gezogen, so ist so wenig wegen dieses Irrthums aus der Sprache das Prinzip der streng­

sten Gesetzmäßigkeit zu bannen, als man aus dem Staate,

weil je unangemessene Gesetze gegeben worden, wird Gesetz­ gebung und strenge Vollziehung der Gesetze verweisen wollen. Bereicherung der Sprache und der Rede in größerer Willkühr

zu finden, ist ein großer Irrthum.

Vielmehr ist wahre Berei-

6*

84 cherung in den feineren Unterscheidungen zu finden, zu welchen Schärfe und Bestimmtheit führt, und die sich durch Vernach­

lässigung der strengen Bestimmtheit verlieren.

Bereicherung

aber könnte nicht Gewinn, sondern nur Verlust seyn, wenn sie mit Hintansetzung der Schärfe und der Klarheit erreicht werden sollte, welche nicht ohne Strenge des Gebrauchs der

Sprache seyn können.

Gern wollen wir jedoch annehmen, daß

die Sprachen in unserer Zeit Bereicherungen erhalten.

Allein

wenn sie zugleich an Reinheit, Gesetzmäßigkeit, Bestimmtheit

und Genauigkeit des Gebrauchs verlieren sollten, so wäre dieß ein durch nichts zu ersetzender Verlust.

Es wäre der schlimmste

Verlust, wenn bei der Bereicherung der Sprachen die Rede zurückginge, wenn etwa die Franzosen über der Bereicherung ihrer Sprache jene Klarheit der Rede verlören, ohne welche

das Sprüchwort sagt daß nichts französisch seyn könne. Was wir vom Verfall der Sprach« bemerken gilt stets zugleich von der Kunst der Rede.

Die Rede ist nur höhere

Potenz der Sprache., Wie vor allem in Sprache und Rede die Höhe der Bil­ dung einer Zeit sich verkündet, so ist es vor allem Rede und

Sprache, worin der Rückschritt der Zeit, die Entweichung des

Geistes sich offenbart, wie einst bei den Griechen und den Rö­ mern geschah.

Tiefe und Reichthum der Bedeutung schwindet

in dem Maße, in welchem der Geist und die Intelligenz weicht.

Von Sprache und Rede vornehmlich gilt es, daß kein Still­ stand seyn kann, sondern nur Fortschritt oder Rückschritt, weil hier alles durch die Zeit und durch den Gebrauch herabgezogen

und verunedelt wird, wenn nicht ein neuer Geist neue und

höhere Veredelung bringt.

Wörter,

Redeweisen,

Ausdrücke

und Bllder, oft und lange gebraucht, werden gemein, und da

sie ohne das Bewußtseyn des eigentlichen vollen Sinnes an. gewendet werden, verlieren sie die ursprüngliche Bedeutung,

85 wie insbesondere die zusammengesetzten Worte eine ganz andere

Bedeutung erhalten, als die einzelnen getrennten Worte haben. Die Ausbildung der Kunst der Rede beruht auf dem Ver­

kehr mit edler Rede, mit solcher, wo Strenge und Schärfe

herrscht; ihr Verderben liegt im Verkehr mit gemeiner, verdor­ So kann es denn nur ein verderblicher Gang

bener Rede.

seyn, den die Rede unserer Zeit nimmt, weil sie sich so sehr mit Schlechtem und Geringem erfüllt, weil sie so viel schreibt

und so viel liest, weil das Streben und Verlangen nach dem Besseren durch das Begehren nach dem Neueren erstickt wird, weil unserer Zeit die Schärfe und die Strenge und der Ernst fehlt.

Wenn man zugesteht, daß unserer Zeit höhere Poesie man­ gele, so ist damit auch ein Urtheil über die Kunst der Rede

unserer Zeit ausgesprochen.

der Poesie.

Denn diese hangt wesentlich an

Wo keine hohe Poesie, da ist nicht die höchste

Bildung der Rede noch der Sprache.

Bei den Römern möchte

wohl die Sprache höher stehn als nach dem Verhältniß ihrer Poesie.

Allein erstens ist zu fragen, ob nicht doch, wenn wir

namentlich ihre Sprache mit der der Griechen vergleichen, auch an der Sprache zu erkennen sey, was die Römer an Poesie

weniger hatten.

Zweitens hatten sie nicht bloß die eigene^ son­

dern auch die griechische Poesie,- die sie doch wohl in das In­

nere ihres Geistes aufnahmen.

Die Poesie ist das Höchste der

Kunst der Rede, welcher Satz keinem Mißverständnisse über das tiefe Wesen der Poesie unterliegen kann nach unserer Ansicht

von dem tiefen Inhalt der Rede und der Sprache.

Die Poesie

vor allem ist es, was Rede und Sprache veredelt.

Darin

schon verkündet sich der hohe Werth der Poesie, wie aller Kunst, für die Bildung, in dem Zusammenhänge mit der Bildung der

Rede und des Gedankens, des Urtheils, des Geschmacks.

86

9.

Bildung für Kunst und Schönheit. Die hohe Stelle, welche die Kunst in der Bildung ein­

nimmt, ist sogleich daran zu erkennen, daß an die Bildung für die Kunst die Bildung für die Schönheit und die Bildung

für die Klassizität, für die Vollendung sich anschließt.

Die

letztere werben wir in einem besonderen Abschnitte betrachten.

Die Bildung für die Schönheit aber fassen wir füglich mit der

Bildung für die Kunst zusammen, obgleich auch die Schönheit nicht minder als die Vollendung in dem ganzen Kreise der

Bildung liegt.

Nicht bloß in dem Kunstwerke, sondem in

allem geistigen Wesen, in dem Gedanken und der Rede über­ haupt, wie in der Handlung und dem sittlichen Charakter ist Schönheit.

Es liegt wesentlich in dem Begriffe der Schönheit, daß, wo auch immer sie sich finde, nichts höher und herrlicher seyn

könne als sie.

Um der Schönheit etwas vorzuziehn, müßte

man annehmen, daß es etwas Schöneres gebe, als die Schön­ heit.

Es kann dem Sittlichen kein größeres Lob werden, als

daß eS schön sey.

Jede schöne Handlung ist sittlich, aber nicht

jede, sondem nur die sittliche Handlung nennen wir schön,

von der wir das Höchste aussagen wollen.

Das Ziel der Tugend

ist, wie Aristoteles sagt, die Schönheit.

Darum gehört die Bildung für die Schönheit zum höch­ sten Ziel aller Bildung.

Die Bildung für die Schönheit ist aber eine zwiefache:

Bildung zum Verständniß des Schönen, und Blldung zur Hinneigung des Sinnes nach dem Schönen. Denn nicht allgemein ist die Hinneigung des Sinnes nach

dem Schönen, wiewohl sie aus dem Wesen des Schönen nicht

86

9.

Bildung für Kunst und Schönheit. Die hohe Stelle, welche die Kunst in der Bildung ein­

nimmt, ist sogleich daran zu erkennen, daß an die Bildung für die Kunst die Bildung für die Schönheit und die Bildung

für die Klassizität, für die Vollendung sich anschließt.

Die

letztere werben wir in einem besonderen Abschnitte betrachten.

Die Bildung für die Schönheit aber fassen wir füglich mit der

Bildung für die Kunst zusammen, obgleich auch die Schönheit nicht minder als die Vollendung in dem ganzen Kreise der

Bildung liegt.

Nicht bloß in dem Kunstwerke, sondem in

allem geistigen Wesen, in dem Gedanken und der Rede über­ haupt, wie in der Handlung und dem sittlichen Charakter ist Schönheit.

Es liegt wesentlich in dem Begriffe der Schönheit, daß, wo auch immer sie sich finde, nichts höher und herrlicher seyn

könne als sie.

Um der Schönheit etwas vorzuziehn, müßte

man annehmen, daß es etwas Schöneres gebe, als die Schön­ heit.

Es kann dem Sittlichen kein größeres Lob werden, als

daß eS schön sey.

Jede schöne Handlung ist sittlich, aber nicht

jede, sondem nur die sittliche Handlung nennen wir schön,

von der wir das Höchste aussagen wollen.

Das Ziel der Tugend

ist, wie Aristoteles sagt, die Schönheit.

Darum gehört die Bildung für die Schönheit zum höch­ sten Ziel aller Bildung.

Die Bildung für die Schönheit ist aber eine zwiefache:

Bildung zum Verständniß des Schönen, und Blldung zur Hinneigung des Sinnes nach dem Schönen. Denn nicht allgemein ist die Hinneigung des Sinnes nach

dem Schönen, wiewohl sie aus dem Wesen des Schönen nicht

bloß nach der Federung der Vernunft, sondern auch nach dem eigenthümlichen Reize des Schönen hervorgeht.

Zwar hat das

Schöne Reiz, aber nicht das Schöne allein hat Reiz.

Daher

hat die Schönheit mit andern Reizen zu kämpfen, insbesondere

in der Kunst, von deren höherem und niederem Elemente und Reize wir nachher zu sprechen haben.

So hat auch das Sitt­

liche für die edle Natur den höchsten Reiz, allein diesem treten

andere, niedere aber für die Gemeinheit eindringlichere Reize entgegen.

Der Kampf der Schönheit und der Sittlichkeit mit

den gemeinen, niedrigen Reizen ist der allgemeinste und furcht­

barste Kampf, den die Welt hat. Beide Arten der Bildung für die Schönheit nun, sowohl zur Hinneigung des Sinnes als zum Verständniß, gehn zu­ sammen mit aller Bildung überhaupt.

Denn die Hinneigung

des Sinnes nach der Schönheit gehört zur Richtung auf das

Höhere überhaupt; und auch sie ruht in der Strenge und dem

Ernste des Strebens.

Eben so ist sowohl die Schärfung des

Urtheiles, des Geschmackes, des Tactes, als auch die Gewöh­

nung an Schärfe nur eine, gemeinschaftlich für die Schönheit und für alle andere Gegenstände des Urtheils.

So ist also

Ausbildung für die Schönheit Ausbildung der Persönlichkeit

überhaupt, Erhöhung der ganzen Bildung des Menschen, weil jene nicht vollbracht werden kann ohne Ausbildung dessen, was

auch Grundlage aller Bildung ist; und die Bedeutung der Bildung des Schönheitssinnes für die ganze Bildung erscheint

als eine um so höhere, wenn man erwägt, daß vor allem gerade in dem ästhetischen Urtheile, welchen Ausdruck der Sprach­ gebrauch wohl gestattet, Feinheit des Verständnisses liegt.

Insbesondere werden wir bei Betrachtung der sittlichen Bildung den engsten Zusammenhang dieser mit der Ausbildung des Schönheitssinnes finden, was der letzteren die höchste Em-

88





pfehlung seyn würde, wenn sie einer andem Empfehlung als durch sich selbst bedürfte.

Diese Höhe des Charakters und der Bedeutung für die Bildung nun theilt mit der Schönheit die Kunst, so weit sie

selbst die Schönheit und die Vollendung zum Charakter hat, waS aus sich selbst klar ist.

Nichts kann den Menschen mehr

veredeln, als die Beschäftigung mit dem, die Erfüllung von

dem, was in der Durchdringung von der Schönheit und in

der Erstrebung der Vollendung seinen Charakter hat.

Es giebt

nichts Geistigeres und nichts Geistbildenderes als die Kunst.

Bei der Betrachtung der sittlichm Bildung wird sich erst die volle Bedeutung der Schönheit und der Kunst für die Bildung ergeben.

Nur das möge hier besonders berücksichtigt werden,

daß in der Kunst die engste Vereinigung der Intelligenz mit dem Gemüthe, die größte Innerlichkeit des Seyns und nament­

lich des Bildungslebens ist.

Aber mit der Schönheit und der Vollendung ist nicht das ganze Wesen der Kunst ausgefüllt.

Sie sind die Seele aller

wahren Kunst, aber nur die Seele, die eines Stoffes, einer

Materie zum Körper bedarf.

Denn wenn auch das, was

gemeint ist, nicht Raum erfüllt, so können wir es doch passend den Körper der Kunst nennen, so wie Schönheit und Vollen­

dung ihren Geist.

Schönheit und Vollendung sind nicht für

sich, sondern an einem Stoffe, der ihr Körper ist.

Der Körper

aber hat auch seinen Reiz, sein Interesse, und, wie ungern

wir es auch gestehn mögen, auch er ist Zweck der Kunst, ob­ gleich die Kunst nur so weit, als sie Schönheit und Vollendung

in sich trägt, höhere Kunst ist, und nur so weit in höherem Sinne vorzugsweise Kunst genannt werden kann.

Dieser Reiz

des Körpers der Kunst ist am allgemeinsten als Spannung des Geistes zu bezeichnen, die erregt wird durch Beschäftigung der Phantasie, durch Erregung des Gefühls, durch einen Glanz

89 der Gedanken, durch den Zauber der Worte und der Bilder, durch die Macht der Töne, durch die treue Darstellung der Natur, durch das Bewundernswert^ der Künstlichkeit- selbst durch den gewaltigen Eindruck der Massen.

Nur zu sehr pflegt

dieser, wenn wir so sagen dürfen, körperliche, niedere Reiz der Kunst sich das Ansehn zu geben, als ob er aus der Schönheit

stamme.

Nicht bloß die Künstler, sondern auch die Kunst,

liebhaber gefallen sich nur zu sehr darin, das, woran sie sich

ergötzen und was sie leisten, durch Ableitung von der Schön­ heit zu adeln, und in das Reich der Schönheit das zu ver­

setzen, was ost von der Schönheit am weitesten entfernt ist. Mir haben die Betrachtung der Schönheit an die der Kunst

angeknüpft, weil in der That die Schönheit die Seele der Kunst ist, und die Bildung für die Schönheit und für die Kunst ganz

zusammen geht.

Es ist aber ein ungeheurer Irrthum, zu

glauben, daß die ganze Kunst, mit allen den Reizen, die sie in sich faßt, und nach allen ihren Erscheinungen, durchgängig

der Schönheit angehöre. Die Kunst hat also zwei Naturen, zwei Arten des Reizes und des Interesse, zwei Elemente: ein höheres, geistiges, und

ein niederes, körperliches oder irdisches.

dieses die niedere Kunst.

Jenes ist die höhere,

Nur die höhere Kunst aber ist es,

welcher wir die hohe Würde und die hohe Bedeutung für die Bildung zugeschrieben haben.

Denn nur in dem Zusammen­

hänge mit der Schönheit und der Vollendung liegt diese Würde

und diese Bedeutung der Kunst.

Auf keine Weise wollen wir

den nichtigsten aller Ansprüche begünstigen, den Anspruch einer

in gemeinem Reize sich verlierenden Kunst auf eine hohe Stelle

in der Bildung der Menschheit.

Dieser niedrigen Kunst, die

sich vorzugsweise für die Bildung

ausgeben

möchte, dieser

schöngeistischen Literatur, die sich wohl auch vorzugsweise die Literatur nennt, aller Kunst, welche von der Schönheit und

90 — der Vollendung, sollte sie auch damach streben, doch fern bleibt,

dieser Kunst gebührt so wenig die hohe Stelle in der Bildung, auf welche sie Anspruch macht, daß sie vielmehr nur darum ein wichtiger Punct für die Bildung ist, weil durch sie wahre

Kunst und wahre Bildung verdrängt wird.

Denn es ist damit,

wie wir oben von dem Einflüsse der Erzeugung und Aufnahme

des Schlechten und Gemeinen überhaupt auf das Verderben der Bildung gesehen haben.

Das Gemeine mit seiner Bequem­

lichkeit, mit seinem eindringlichm, überall Zugang findenden Reize drängt sich vor, läßt für das Höhere keinen Raum, und

wendet das Streben selbst von dem Höheren ab, indem es die Neigung für sich gewinnt.

Dieß ist in der Kunst um so erfolg­

reicher und verderblicher, je mehr es der gemeinen Kunst, vor­

nehmlich durch ihre vorgebliche Verwandtschaft mit der Schön­ heit, gelingt, auch für sich den Schein edlerer Natur anzuneh­

men und dadurch die Unterscheidung des wahren Wesens der höheren Kunst aufzuheben, und je wichtigerer Moment für die

Bildung die Erkenntniß und Pflege der höheren Kunst ist, welche durch jene niedere verdrängt wird. Der hohe und allgemeine Einfluß der Kunst auf die Bil­

dung ist insbesondere darin gegründet, daß die Kunst so tief

in das Leben der Völker eindringt, hauptsächlich durch das, was den Völkern Vergnügung ist.

Wenn überhaupt kaum

etwas mehr von der Bildung eines Volkes und einer Zeit zeugen,

kaum etwas mehr auf die Bildung des Volkes und der Zeit wirken kann, als die Beschäftigung mit der Kunst, so gilt

dieß vor allem von den Hervorbringungen der Kunst, die am allgemeinsten Theilnahme zu erregen, die Seele zu erfüllen ver­

mögen.

Der Mensch und die Zeit und das Volk hat in seinen

Vergnügungen einen sehr bedeutenden Theil

seiner Bildung

und seines Werthes. Einer wahrhaft gebildeten Zeit ist die Kunst ein Ergötzen.

91 In Verbildung begriffen ist die Zeit, welcher umgekehrt das als Kunst erscheinen und an der Stelle der Kunst seyn kann, woran

sie nur sich ergötzt.

Kaum kann es etwas Unheilvolleres geben,

als die unselige Vermählung der Kunst mit dem gemeinen Ver­ gnügen, in welcher barbarischen Verbindung die Kunst immer

zur Dienerschaft herabgewürdigt und nicht in ihrer eigenthüm­

lichen Hoheit erkannt wird. Die Griechen sind schon darum das höchst gebildete Volk

der Welt, weil die Dramen des Aeschylus und des Sophokles, die Hymnen des Pindar, wie in früherer Zeit die homerischen Gesänge, nicht bloß unter ihnen entstanden, sondern auch zum

Leben des Volkes gehörten, Ergötzen des Volkes waren. Insonderheit das Theater hat eine hohe Bedeutung für die Bildung der Zeiten und der Völker.

Wie verschieden muß

die Zeit seyn, wo eine Antigone in religiöser Feier und Fest­ lichkeit dem Volke dargeboten und von dem Volke ausgenommen und in ihrer Herrlichkeit verstanden und gefühlt wird, und die

Zeit, wo man sich an dem ergötzt, was unsere Zeit darbietet.

Wie verschieden die Zeit, wo das Theater ein seltenes Fest des

Wettstreits der Kunst, eine hohe und religiöse Feier des ernsteften Kunststrebens war, und wo es zum alltäglichen Zeit­ vertreib wird.

Daß dort Ernst und Strenge, hier Leichtsinn

und Herabsteckung des Zieles sich zeigt, findet darin allein schon

Erklärung, daß hier Vergnügen jedes Abends seyn soll, was dort seltene Festlichkeit war.

Daher hauptsächlich kömmt es,

daß unsere Zeit zur Zerstreuung und gemeinem Ergötzen viel

zu sehr im Theater nach äußerem Glanz, Mannigfaltigkeit und Reichthum in Beschäftigung des Auges, des Ohres und der

Phantasie trachtet, als daß sie Kunstgenuß, Kunstwerth der Dichtung und der die Dichtung von neuem wieder schaffenden

Schauspielkunst suchen könnte.

Bei unserem Theater ist es

nicht genug, daß man statt der Tiefe der Kunst nur die Vir-

92 tuosität sucht, sondem ganz Aeußerliches hat den Vorzug und zehrt Interesse und Mittel auf, die Kunst selbst zurückdrängend.

Aufnahme und Pflege wahrer Kunst ist nicht mit dem Trachten nach unächtem Flitter für Vergnügen und Mode zu vereinigen. Und daß nun auch wirklich die Schauspielkunst und die dra­

matische Poesie in der neuesten Zeit in Vergleich mit der zunächst vergangenen Zeit zurückgegangen sey und zurückgehe, darüber

beziehe ich mich bloß auf das Urtheil der Einsichtsvollen.

Hieran knüpft sich die ähnliche Erscheinung, die wir an

der Aufnahme der Romane sehen.

Das letzte Menschenalter

hatte auch seine Romane, die bloß Spannung der Phantasie und des Gemüths zum Ziele hatten.

Aber statt daß jetzt solche

Erzeugnisse sich in die Reihen der Kunstwerke drängen, für

bedeutende Leistungen gelten, wurde ihnen damals kein anderer Anspruch eingeräumt, als gerade zur Unterhaltung zu dienen.

Zur Kunst rechnete man nur Werke wie Wilhelm Meisters Lehrjahre, Heinrich von Ofterdingen, Titan, Franz Sternbalds

Wanderungen.

Der Vergleich dieser und mancher anderer Her­

vorbringungen jener Zeit mit den am höchsten gestellten Roma­ nen der neuestm Zeit könnte allein schon den Stand unserer

Kunst bezeichnen.

Nicht das Urtheil eines Einzelnen ist auszusprechen, son­ dern es ist Beziehung auf das allgemeine Urtheil zu nehmen zu Beantwortung der Frage, welches der Standpunct der Kunst

im Allgemeinen in unserer Zeit sey, ob die Zeit sich mehr nach der höheren oder der niederen Kunst neige.

Die in unserer

Zeit Trefflichkeit auch der Kunstleistung, vielleicht gar Fort­ schritt sehen, mögen die großen Namen nennen, die sie den

hohen Genien der letzten Menschenalter entgegenstellen wollen. Ich will bloß dm Charakter unserer Kunst zu bezeichnen suchen,

in welchem Stand und Gang, Art unfr Ursache eines mir als

93 ungeheuer erscheinenden Verderbnisse?, gänzliche Abwendung von

hoher Kunst, zu erkennen ist.

Als eine Thatsache, die niemand läugnen wird, können

wir aufstellen, daß in der Kunst unserer Zeit das Streben von dem Klassischen sich abwendet und auf das gerichtet ist, was Vielleicht ist es möglich, so verschieden

man romantisch nennt.

auch die Ansicht von dem Romantischen seyn mag, doch einen

Begriff festzustellen, der von allen anerkannt werden kann. Zuerst ist damit die Art des Mittelalters bezeichnet worden.

Die Charakterzüge waren Christenthum, Ritterthum, Ehre, Liebe,

Galanterie.

Den Gegensatz bildete die Art der Griechen und

Römer, die man die klassische nannte.

Es war also Ursprung,

lich keine Unterscheidung, welche das ganze Reich der Kunst in

zwei Theile getheilt hätte, sondem es war nur Gegensatz zwei Nachher ist aber durch die Veranlassung

besonderer Arten.

dieses Gegensatzes der Begriff des Romantischen verändert und ausgedehnt worden.

Man sieht in dem Romantischen nicht

mehr eine bestimmte Art, sondern bloß den Gegensatz seines

Gegensatzes, des Klassischen; das Romantische ist das Nicht­ klassische.

Und unter dem Klassischen begreift man nicht mehr

bloß das Griechische und Römische, sondern das, worin man

den Charakter der Griechen und Römer erkennt, das, was sein Wesen in dem Streben nach Ausglättung und Vollendung hat.

In diesem Sinne ist jetzt der Begriff des Romantischen und des Klassischen zu fassen.

Dieses Romantische hat nichts gemein

mit der Romantik des Mittelalters als den Gegensatz gegen die

klassische Kunst.

Vielmehr liegt der neuesten, zur romantischen

Schule gerechneten Poesie jene Innerlichkeit und Wärme des

von Christenthum, Ritterthum, Ehre, Liebe erfüllten Gefühles meistens sehr fern. Nun ist zunächst zu fragen, was denn die Gegner des

Klassischen, denn das sind zugleich die Freunde des Roman-

94 tischen, an der Klassizität tadeln, da sie doch als ihren Cha­

rakter das «Streben nach Vollendung und Schönheit anerkennen,

worin die Höhe der Kunst liegt.

Sie glauben: die Strenge

der Klassizität sey dem freieren Schwünge des Geistes entgegen; die Regel, der sie sich unterwirft, verkümmere den Reichthum der Kunst; in diesem Reichthum aber und in dem Funkensprühen des Geistes sey der wahre Werth wie das Interesse der Kunst­

leistung enthalten; und so sey das Maß, die Zurückhaltung der klassischen Kunst nicht bloß

unwesentlich, sondern sogar

verwerflich.

Fürs erste aber ist es eine irrige Vorstellung, daß die Klassizität, das Streben nach Vollendung und reiner Schönheit, die Kunst durch ihre Regeln beenge, sie in eine zu enge Welt

einschließe.

Dieß liegt auf keine Weise in dem Streben nach

Vollendung und reiner Schönheit.

Vielmehr ist das Reich der

Schönheit so weit wie das der Kunst.

Es kömmt nur daraus

an, überall die Schönheit zu suchen und zu finden.

Und eben

so wenig hat das Streben nach Vollendung Regeln, welche

die Bewegung der Kunst zu sehr einengten, so daß der Geist sich nicht frei genug entfalten, nicht reich genug seine Funken

aussprühen könnte.

Nie ist in der Gesetzmäßigkeit der Schön­

heit und Vollendung, nie in der Strenge der Regelmäßigkeit eine zu enge Schranke für den Geist, sondern nur in einer falschen Regel könnte dieß seyn.

Also in dem Wesen der

Klaisizität liegt die zu enge Beschränkung nicht.

Es ist nur

Irrthum, wenn man sie darin zu finden geglaubt hat.

Die

Klassizität will nicht, daß in irgend einem Kreise nicht die Kunst, sie will bloß, daß überall die Vollendung gesucht werde.

Auffallend ist es, daß man je hat in der griechischen Kunst zu enge Regel sehen können.

Dieß widerlegt jeder Blick auf das

griechische Theater, nicht bloß die alte Komödie, das Muster

der Kühnheit theatralischer Vorstellung, sondern auch auf die



95

Tragödie, welcher ja unser Anspruch auf Illusion ganz fremd

war, auf die handelnden Götter und personisicirten Begriffe in des Aeschylüs Prometheus, und die Eumeniden, wo auch das

Drama an verschiedenen Orten spielt, auf die Erscheinungen der Götter und Abgeschiedenen bei Euripides.

Das Phantastische

ist der Klassizität nicht weniger fähig als ein anderer Gegenstand.

Die Klassizität ist das Streben nach Vollendung und

Sie ist das Maß, die Reinigung, die Ausglättung,

Schönheit.

die Verfeinerung, die Veredelung, die Schärfe.

Sie ist das

Ergebniß des Ernstes, der Strenge, der Reinheit des Kunst­

sinnes, der künstlerischen Keuschheit und Gewissenhaftigkeit, des

Strebens nach dem Höheren.

Sie ist in der Kunst, was über­

haupt in dem Leben der strenge Gebrauch der Vernunft ist. Sie ist Verständigkeit und Vemünftigkeit. der Schönheit und der Klarheit.

Sie ist die Quelle

Nur in der Klassizität ist

Schönheit der Kunst, in jener romantischen Weise sind bloß

Schönheiten.

Die Klassizität aufgeben heißt also, dem Maß,

der Reinigung, der Ausglättung der Schärfe, der Vollendung,

der Schönheit entsagen; es heißt, der Verfeinerung, der Ver­ edelung, der Durchbildung, der Strenge, der Wahrheit, der Gewissenhaftigkeit, der Verständigkeit und Vernünftigkeit wenig­ stens Grenzen setzen.

Wirklich ist es auch charakteristischer Zug

unserer romantischen Kunst, daß sie meint, der höchsten Strenge

in Ausglättung und Reinigung ihrer Werke sich überheben, alles durch Geist vergüten zu tonnen.

Sie überhebt sich der

Regel des Maßes und der inneren Wahrheit, wodurch sie in dem freiesten Spielraum sich bewegend auch der Kritik über»

hoben ist.

Ein Blick auf die Werke der romantischen Schule,

namentlich Frankreichs, ist hinreichend die vorstehende Ansicht zu bestätigen.

Und es sind nicht einzelne Verirrungen; der

Vorwurf beseitigt sich nicht durch die wenn auch noch so häufig

96

und so stark ausgesprochene Mißbilligung, man kehrt doch immer wieder zu gleichem Irrweg zurück. Der Irrthum, in der Klassizität eine Beschränktheit oder

Armuth, in der romantischen Weise Reichthum und Ausdehnung des Gebietes zu sehen, ist derselbe wie jener, welcher an Geist und Geistreiches glaubt, das der Schärfe entbehren könne, dem

die Schärfe des Denkens und der Rede wohl gar entgegen sey.

Denn die Klassizität ist die Schärfe, und worin die romantische

Schule ihren Werth setzt, ist jener falsche Schein, der für Geist genommen wird.

Wie überhaupt die Schärfe keineswegs dein

Geistreichen entgegen ist, sondern vielmehr das Geistreiche seine Höhe und sein wahres Wesen in der Schärfe hat, so hat auch aller Reichthum und aller Geist der Kunstwerke in der Klassi­ zität nicht nur keine beengende Schranke, sondern auch die

nothwendige Sicherung seines Werthes.

Aller Reichthum, aller

Glanz der Kunst, welcher der Klassizität widerstrebt, ist ein

unwürdiger.

Nicht bloß in dem Sweben nach dem Reize dessen, was sie für geistreich hält, sondern überhaupt in dem Streben nach dem Reize unterscheidet sich die klassischen.

romantische Kunst von

der

Die romantische Kunst, oder die Kunst unserer

Zeit, neigt sich zu dem was reizt, und sucht ihren Werth in dem Reize, ohne die strenge Unterscheidung der Klassizität zwi­ schen höherem und niederem Reize.

Die klassische Kunst ver­

schmäht nicht den Reiz an sich, nicht den niedern Reiz.

Allein

sie hat erstens die Voraussetzung, daß der Reiz nicht der Schön­

heit und der Vollendung, nicht dem höheren Ziele der Kunst entgegen sey, und zweitens betrachtet sie den Reiz nie als

Wesen und Ziel der Kunst, sondern sie sieht nur in der Schön­ heit und der Vollendung das Ziel der höheren Kunst, und nur in der höheren Kunst das Wesen der Kunst.

Die romantische

Kunst hingegen sucht und betrachtet als wesentlich für die Kunst

97 den Reiz dessen, was den Trieb des Geistes nach Beschäftigung,

hauptsächlich nach Neuem und Anregendem befriedigen, was

Phantasie oder Gemüth beschäftigen und spannen kann, den Reiz des Frappanten, des Pikanten, des Interessanten.

Die

Ungebundenheit der Phantasie an sich, die Maßlosigkeit in der

Wahl des Stoffes und in dem Gebrauch der Mittel ist der Charakter dieser romantischen Kunst.

Hierin nun ist der Reichthum der romantischen Kunst, hierin ist die Verschiedenheit zwischen ihr und der klassischen

Kunst enthalten.

Die wesentliche Verschiedenheit ist diese, daß

die niederen, äußeren, außerhalb der Schönheit und Schärfe

und Reinheit und Vollendung liegenden Reize von der roman­ tischen Kunst gesucht, von der klassischen, so weit sie nicht selbst

in dem reinigenden Strome der Schönheit veredelt und gehei­

ligt worden sind, verschmäht werden.

Nun liegt aber in der

Neigung zur reinen Schönheit und zur Vollendung, in der keuschen Enthaltsamkeit von niederem Reize der Unterschied der

höheren Kunst von der niederen.

Was also die romantische

Kunst für ihren Reichthum hält, giebt ihr den Stempel der niederen Kunst.

Femer, wenn in jenen niederen Reizen das Interesse nicht

nur, sondern auch das Wesen der Kunst gesucht wird, so folgt,

daß die Reizmittel immer gesteigert werden müssen.

Denn für

jeden anderen Reiz als den der Schönheit und der Wahrheit, für jeden niederen Reiz stumpft der Sinn sich ab.

Darum

muß er immer verstärkt werden, wenn er wirken soll.

Daraus

fließt es, daß unsere Zeit, je länger je mehr, eines immer schärfern Stachels bedarf, damit die Kunst Eingang sich ver­ schaffe, daß sie ihre Werke mit Gräuel und Scheusal, und Abscheulichem und Widerlichem, wie mit Assa fötida für die verwöhnten Gaumm, würzt, und dadurch den Sinn immer

mehr abstumpft.

98 Und weil diese Verwöhnung mit dem Sinne für allen

Reiz auch den Sinn für die Schönheit abstumpft, so ist nicht zu dmken,

daß neben der so sich

verirrenden

romantischen

Kunst die klassische Kunst bestehn und gedeihn, daß dieselbe

Zeit öder derselbe Geist für klassische und für diese romantische

Kunst zugleich empfänglich seyn und sie pflegen könne.

So ist also die Richtung unserer Zeit auf die romantische Kunst Abwendung von der höheren Kunst und von dem Höheren

der Kunst, Untergang der Kunst. Jene Erhöhung des Reizes und die Steigerung der tech­ nischen Ausbildung ist es aber doch, worin man einen Vorzug

der Kunst unserer Zeit sehen möchte; denn diese Eigenschaften

wollen wir unserer Zeit nicht absprechen.

Das Wesen und der

Werth unseres Fortschrittes in der technischen Ausbildung laßt sich am besten an der Musik darstellen, weil in der Musik, in

welcher auch die technische Vervollkommnung zu unserer Zeit

mehr als in irgend einer andem Klmst im Vergleich zu früheren Zeiten gesteigert worden ist, am wenigsten Streit seyn möchte

unter denen, die Einsicht besitzen.

Es ist allgemein anerkannt,

daß unsere Zeit die Virtuosität in der Musik bis zu einer über

das Frühere weit hervorragenden Stufe gesteigert, in gleichem,

vielleicht noch höherem, Maße aber das Wesen und die Tiefe dieser Kunst, die Empfänglichkeit für ihren tieferen Sinn ver­ loren hat, daß sie keine edle, keine große Musik erzeugt, daß

die Kunst der Musik in unserer Zeit auf eine weit niedrigere Stufe herunter gegangen ist, daß ihr Geist, daß ihr noch weit mehr Seele mangelt, daß der Zeit tiefer begeisterter Kunstsinn fehlt.

Die Virtuosität ist nicht nur gleichzeitig neben dem Ver­

fall der Musik, sondern sie ist selbst Ursache des Verfalls der

Musik, indem sie das Streben auf sich zieht, durch den falschen

Schein des Werthes, den man ihr beimißt, Veranlassung zu Verkennung des Wesens der Musik und dessen, worin ihr

99 wahrer Werth liegt, veranlaßt, und dem Höheren in der Musik

die Pflege und die Nahmng raubt.

Ich weiß nicht, ob di«

Musik je wieder den Charakter der Virtuosität, der die Musik unserer Zeit bezeichnet, ablegen wird; gewiß aber kann sie nicht anders wieder zur Tiefsinnigkeit gelangen, als wenn sie den

Charakter der Virtuosität abwirft. Doch dieß gilt aber nur von der Virtuosität unserer Zeit, die aber nicht als die ächte anzuerkennen ist.

Denn es ist nur

eine falsche Virtuosität, die sich von dem Geistigen der Musik Auch das Höhere der Musik hat seine Virtuosität, die

löst.

mit dem tieferen Sinne der Musik zusammenfällt, die selbst

der Ausdruck des tieferen und tiefsten Sinnes der Musik ist. Auch diese Virtuosität ist verloren gegangen, eben weil der

Sinn für das Tiefe der Musik sich verloren hat.

Noch erzählt

man von dem Wunder des Spieles Mozart's, und wie durch sein Spiel seine Musik erst ihre volle Bedeutung erhalten habe. Und wenn es nicht erzählt würde, so läßt die unendliche Tiefe des Sinnes in den Noten auf eine gewiß entsprechende Tiefe des Ausdrucks in dem Spiele schließen.

Wer diese Musik dich­

tete, wußte gewiß auch ihren Sinn im Vortrage wieder zu

geben.

Tondichtung und Vortrag

gehn immer zusammen.

Unsere Virtuosen vermögen nicht, die Seele Mozart'scher Musik in den Tönen auszusprechen, so wenig Schwierigkeit sie auch bei der Ausführung seiner Klaviermusik oder seiner Arien sehen

mögen.

Unsere Zeit ahnet nicht, daß zum Ausdrucke tieferen

Sinnes der Musik nicht nur Gefühl und Verständniß dieser Tiefe erfodert wird, sondern auch nicht weniger Uebung, Fer­ tigkeit, Virtuosität, als zu den Schnellläufen und Künstlich­

keiten unserer Zeit. Virtuosität wird zunächst auf den Vortrag der Musik

bezogen.

Aber in aller Musik, auch in der Tonsetzung ist

etwas der Virtuosität Analoges, das man wohl auch Virtuosität

7*

100 nennen kann.

Auch hier rühmt sich unsere Zeit des Vorzugs

größerer Spannung, Lebhaftigkeit, Gewandtheit, Mannigfal­

tigkeit, Künstlichkeit, größeren Reichthums, größeren Reizes. Das Hohe und Hebre älterer Musik anerkennend sieht unsere

Zeit doch im Allgemeinen in der Musik älterer Zeit, in der Einfachheit ihrer Weise Einförmigkeit, Armuth, ja Schwäche,

Mattigkeit, Leere, eine Weise, welche in neuerer Zeit nicht dargeboten werden kann, weil die neuere Zeit lebhaftere Auf­ reizung federt, Einförmigkeit wie Einfachheit nicht verträgt.

Diese Verschiedenheit des Charakters früherer und jetziger Musik

wollen wir zugeben, nicht aber die Bedeutung, die man ihr giebt, nicht den Vorzug, den man deshalb unserer Zeit zu­ schreiben möchte.

Wer mit der Empfänglichkeit für Altes, die

bei der Musik wegen der Verwöhnung an das Gangbare, an

das Modische so beschränkt ist, ohne die Täuschung der Ver­

schiedenheit in der Erscheinung des Nahen und des Fernen, ohne die Befangenheit, von welcher die Betrachtung der eigenen

Zeit so wenig als die des eignen Selbst sich je ganz losmachen kann, die ältere Musik mit der neueren zu vergleichen ver­

möchte, der würde wohl nicht so sehr jene Einförmigkeit und Armuth der ftüheren Musik gegen den größeren Reichthum und die größere Künstlichkeit der neueren zurückstellen.

Er würde

in der Tonsetzkunst der neueren Zeit eine Art der Virtuosität finden, von nicht höherem Werthe als die Virtuosität der neueren

Zeit im musikalischen Vortrage, einen größeren Reiz und Schmuck, von nicht höherem Werthe als die Fingerfertigkeit der neueren Virtuosität, oder wohl gar als der Reichthum im Gebrauche

vieler und verschiedener Instrumente, tiefen musikalischen Gedan­

kens und Gefühls entblößt, unter dem Reichthum an Schmuck und Mitteln Armuth an Seele verbergend.

In jener älteren

einförmigen und an Mitteln armen Musik würde er mehr Natur, mehr Innerlichkeit, mehr Stimmung, mehr Ausdruck der Heiter-

101

feit wie des Ernstes, mehr Seele entdecken. Er würde int Allgemeinen das Verhältniß der ältern und der neuern Musik als dasselbe finden, wie es wohl an den Häuptern und den an der Spitze stehenden Leistungen anerkannt wird, da es doch nicht verkannt wird, wie unendlich höher Gluck steht als Rossini, wie unendlich Pergolese höher als die Urheber der neuesten Kirchenmusik. Wie alles, so hat am meisten die Musik einen gewissen Ton der Zeit, in welchem wir befangen sind, so daß unter dem Schutze dieses Tones das Seelenlose weniger als fade, ohne diesen Ton das Seelenvolle nicht als reizend erscheint. Was nun hier von der Musik gesagt worden ist, das gilt von aller Kunst, von der gesteigerten technischen Ausbildung, von der höheren Spannung und Künstlichkeit unserer Zeit. Der Charakter aller Kunst unserer Zeit ist damit so bezeichnet, daß nichts hinzuzusetzen ist, als eben die Bemerkung der An­ wendbarkeit des Gesagten auf alle Kunst. Ja, nicht bloß die Kunst, sondern alle Bildung unserer Zeit hat den gleichen Charakter, und ich glaube, daß die Art unserer Bildung, unseres Fortschreitens, durch nichts mehr bezeichnet wird, als durch den Charakter der Virtuosität. Deshalb werden wir darauf zurückkommen, wenn wir das Ergebniß aller unserer Betrachtungen über die Bildung unserer Zeit zusammenfassen.

10. Bildung an klassischen Werken. Damit nun der Geist zu Strenge, Emst, Schärfe, Ver­ ständigkeit, Reinheit und Ausglättung der Leistung, zur Klassi­ zität und Vollendung gebildet und zur Richtung des Strebens darauf gewöhnt werde, ist der nächste uyd sicherste Weg die

101

feit wie des Ernstes, mehr Seele entdecken. Er würde int Allgemeinen das Verhältniß der ältern und der neuern Musik als dasselbe finden, wie es wohl an den Häuptern und den an der Spitze stehenden Leistungen anerkannt wird, da es doch nicht verkannt wird, wie unendlich höher Gluck steht als Rossini, wie unendlich Pergolese höher als die Urheber der neuesten Kirchenmusik. Wie alles, so hat am meisten die Musik einen gewissen Ton der Zeit, in welchem wir befangen sind, so daß unter dem Schutze dieses Tones das Seelenlose weniger als fade, ohne diesen Ton das Seelenvolle nicht als reizend erscheint. Was nun hier von der Musik gesagt worden ist, das gilt von aller Kunst, von der gesteigerten technischen Ausbildung, von der höheren Spannung und Künstlichkeit unserer Zeit. Der Charakter aller Kunst unserer Zeit ist damit so bezeichnet, daß nichts hinzuzusetzen ist, als eben die Bemerkung der An­ wendbarkeit des Gesagten auf alle Kunst. Ja, nicht bloß die Kunst, sondern alle Bildung unserer Zeit hat den gleichen Charakter, und ich glaube, daß die Art unserer Bildung, unseres Fortschreitens, durch nichts mehr bezeichnet wird, als durch den Charakter der Virtuosität. Deshalb werden wir darauf zurückkommen, wenn wir das Ergebniß aller unserer Betrachtungen über die Bildung unserer Zeit zusammenfassen.

10. Bildung an klassischen Werken. Damit nun der Geist zu Strenge, Emst, Schärfe, Ver­ ständigkeit, Reinheit und Ausglättung der Leistung, zur Klassi­ zität und Vollendung gebildet und zur Richtung des Strebens darauf gewöhnt werde, ist der nächste uyd sicherste Weg die

102 Beschäftigung mit solchem, worin das ist, waS der Geist sich

einbilden soll, die Beschäftigung mit Klassischem.

In dem

Umgänge mit dem Trefflichen ist das Verständniß der Treff­

lichkeit und die Neigung zur Trefflichkeit zu gewinnen. Die Kunst, deren Wesen auf die Erreichung der Voll­

endung, auf Reinheit und Ausglättung der Werke gerichtet ist, hat den Vorzug, daß ihre Werke immer ein Haupttheil

des Vollendeteren sind, das eine Zeit oder ein Volk hat, und daß auf sie vorzüglich das Wort Klassisch bezogen wird.

Hier

ist aber unter der klassischen Literatur, in welcher die Bildung gesucht werden soll, weder vorzugsweise noch ausschließend die

Poesie gemeint.

Vielmehr ist hier alles Vollendetere der Lite­

ratur verstanden, — denn das Klassische ist das Vollendete — in welchem Gegenstände allgemeiner Bildung es sey.

Der Gegen­

stand kömmt hier nicht in Betrachtung.

Die Vollendung der

Behandlung, die Schärfe und Macht

des Gedankens, die

gelungene Ausführung, die Kunst der Rede, die Feinheit des

Sinnes, das Edle, das Große, das Hochstrebende ist zu suchen,

damit daraus die Kraft und die Veredelung und die vollkomm-

nere Art eingesaugt werde.

Wie zur Bildung der Werth des

Lehrers nicht in dem ruht, was er lehrt, sondern in dem Geiste,

den er dem Zögling einzuhauchen vermag, so ist auch in dem stummen Lehrer, dem Buche, das Wesentliche für die Bildung

der Geist, welcher darin ergossen ist und daraus sich in den

Lesenden ergießt.

Wenn zur Bildung des Geistes zwischen

zwei Werken gewählt werden soll, von denen wir nur eines

lesen sollten, so ist weder das naturwissenschaftliche noch das geschichtliche als solches vorzuziehn, sondern das, welches am meisten Geist enthält.

Vorzugsweise sprechen wir jedoch hier

von jener Gattung der Literatur, welche nicht Kenntnisse und Gelehrsamkeit im gewöhnlichen Sinne, sondem rein die Bildung

und das Spiel des Geistes zum Gegenstände und Ziele hat,

103





vor andern den Geist erscheinen zu lassen und hervorzurufen geeignet ist, und in engerem Sinne vorzugsweise Literatur

genannt wird. Es ist eine der wichtigsten Pflichten insonderheit der Schu­

len, zu dem Verkehr mit dem Trefflichsten als dem Bildend­ sten hinzuführen, zur klassischen Literatur und zur Kunst.

Zunächst liegt die Beschäftigung mit dem Nächsten, mit dem Klassischen der Muttersprache und dann anderer neuer Literatur.

Und da es in dieser Literatur vorzüglich sich findet,

daß das Unächte, verdorbener Geschmack, der Reiz des Neuen

und Modischen sich geltend macht, daß das Edlere und Höhere, das Klassische

von

der Vordringlichkeit des

Niedrigen

und

Gemeinen zurückgedrängt wird, so ist vor allem hier durch

strenge Unterscheidung des Würdigen und des Unwürdigen die

Reinheit der Bildung zu bewahren.

Auf Schulen kann zwar

die neuere klassische Literatur nur in sehr beschränkter Weise

Gegenstand des Unterrichts seyn, wiewohl die Einweihung in das Herrlichste vaterländischer Literatur durch geistreiche Lehrer

der bildendste Unterricht seyn würde.

Allein wenn auch die

Schule die nähere Bekanntschaft mit der neueren klassischen, namentlich der poetischen,

Literatur dem Zöglinge überlassen

will, so ist es doch bei der hohen Wichtigkeit des Gegenstandes für die Bildung Aufgabe der Schule, die Richtung des Zög­

lings zu leiten, damit er das Würdige von dem Unwürdigen unterscheiden lerne und nur dem Würdigen, nur dem Klaffischen

nachzustreben sich gewöhne.

Von nichts so sehr wäre Reinigung

des Geschmacks der Welt und Veredelung zu erwarten, als wenn die Erziehung es sich zur Aufgabe machte, die Verehrung

des Klassischen und den Ekel vor dem Gemeinen durch Schär­ fung des Urtheils zu wecken.

Die Frage nun, welches in dieser Beziehung der Geist

unserer Zeit sey, ist schon durch das beantwortet, was über



104



den Mangel unserer Zeit an Strenge und Schärfe, über das

Gedeihn des Schlechten, über den Abfall unserer Zeit von der Wir finden in diesem für die

Klassizität bemerkt worden ist.

Bildung hochwichtigen Puncte unsere Zeit auf einem weit irre führenden Wege. Insonderheit aber ist der Blick auf das Studium dessen zu richten, worin die größte Schärfe, die strengste Verständig­

keit, die größte Reinheit und Vollendung, die Klassizität ist.

Und dieß ist die Welt, die allgemein und selbst von denen, welche für ihre Herrlichkeit unempfänglich sind, durch den Namen

der klafsischm als das Vollendetste anerkannt wird, was in dem

menschlichen Geschlechte sich erzeugt hat.

Die Oeffnung der

Seelen für diese Trefflichkeit, di« Zurückführung dieser Herr­

lichkeit in das Leben, in den Geist der Welt würde es vor

Allem seyn, woraus eine höhere Bildung zu gewinnen wäre. Daß die griechische Literatur und Kunst und Bildung das

Vollendetste ist, was die Geschichte des menschlichen Geschlechts kennt, ist hier bloß vorauszusetzen und kann nicht dem nach­

gewiesen werden, der es nicht schon gefunden hätte.

In dieser

Voraussetzung aber ist das Studium dieser Welt, der Verkehr mit dieser Welt von entscheidender Bedeutung für die Bildung eines Volkes und einer Zeit.

Wollte man entgegnen, daß ja

so viele, denen die griechische Welt verschlossen ist, gebildeter sind als andere, die sie kennen, so würde damit auch der Werth des Studium der Wissenschaft und der Kunst für die Bildung zweifelhaft zu machen seyn, denn vieler mit Wissenschaft und

Kunst nicht vertrauter Menschen Bildung verdient den Vorzug

vor der Bildung vieler Gelehrten und Künstler.

Auch daß die

Bekanntschaft mit der griechischen Literatur nicht durchaus Ver­ ständniß ihrer Herrlichkeit ist, hat sie mit dem Studium aller

Wissenschaft und Kunst gemein.

Die vollendetste Bildung zu

kennen ist immer das höchste Mittel der Bildung, eine höhere

105 Stufe der Bildung.

Darum gehn wir in der Bildung zurück,

wenn wir im Verständniß des klassischen Alterthums, seiner

Schönheit und seiner Größe, und in der Pflege seines Stu­ dium zurückgehn.

Ein Zeitalter soll sich nicht viel dünken mit

seiner Bildung, das die Herrlichkeit der griechischen Welt und den Werth ihres Studium zweifelhaft macht.

Und hinter der

griechischen weit zurückstehend ist doch an dieser Stelle neben ihr die römische wegen der Ausbildung ihrer Sprache und ihrer

Werke zu nennen.

Es wäre ein ungeheurer Rückschritt, wenn

die Welt an Erkenntniß und Gefühl von der Herrlichkeit der

alten klassischen Welt, an Durchdringung der Bildung von dem Studium, das einst an der Befreiung des Geistes den ent­

scheidendsten Antheil gehabt hat und vier Jahrhunderte hindurch, in Zeiten trefflicher Fortschritte und Leistungen, die hauptsäch­

lichste Grundlage der Bildung gewesen ist, verloren haben oder zu verlieren im Begriff stehen sollte.

Nicht bloß der Verlust

an unmittelbarer Bildung derer, welche selbst diese Welt kennen

lernten, kömmt in Frage, sondern auch der Verlust an dem,

was mittelbar durch ihre von dem Einathmen des klassischen

Geistes veredelten Werke auf die übrige Welt überginge. Wir haben aber solchen Verlust vorauszusetzen.

Wir sehen,

daß unsere Dichter wie unsere Philosophen den Geist der klassi­

schen Alten in sich und ihre Werke aufzunehmen, die Kunst

der Griechen zu studiren nicht für nöthig finden, daß der herr­ schende Geschmack von der klassischen Kunst, und insonderheit

der alten, sich völlig abwendet, ja in der Verachtung der klassi­

schen Kunst seinen Charakter hat, daß nicht angemessene Schätzung und also Verehrung der griechischen Kunst in der Welt sich

ausdrückt.

Ja es geht die allgemeine Richtung jetzt entschieden

auf Verdrängung des klassischen Studium namentlich in den

Schulen, wie die allgemeine Ansicht immer mehr sich von der rechten Würdigung seines Werthes zu entfernen scheint.

Freilich

166

hat die Welt darüber sich nicht deutlich gemacht, weder waS sie will, noch was sie thut.

Daß die klassischen Studien ohne

Werth seyen, will man noch so wenig denken als sagen, obschon eine Ansicht von ihrem Werthe und von ihrer Bedeutung für

die Bildung gangbar ist, nach welcher ich selbst für ihre Be­

seitigung als Grundlage der Bildung stimmen würde.

Eben

so wenig will man denken oder aussprechen oder gar in Antrag

und zur Ausführung bringen, daß das klassische Studium aus

dem Unterrichte verbannt werden solle.

Wenn aber unsere Zeit

sich ihre Ansicht mit ihren Folgen klar machte, und wenn sie

den Muth hätte, sich ganz nach ihrer Neigung zu entschließen,

so würde sie aufhören, die klassischen Alten ihrer gelehrten Bil­ dung zum Grunde zu legen.

Was die klassischen Studien als

Grundlage der Gelehrsamkeit jetzt noch erhält, ist vielleicht nur der alte Besitz, den man nicht zu beseitigen weiß, und den

man hier als Vorurtheil betrachten kann, weil die Anerkennung seines Rechts nicht auf der Einsicht in die Gründe seines Rechts

beruht.

Die so oft der Vernunft entgegen tretende Macht des

hergebrachten Besitzes und des Vorurtheils ist zuwellen auch

die Ursache der Erhaltung des Besten, wo Einsicht nicht aus­ reicht.

Vieles erhält sich nicht darum, weil seine Trefflichkeit

erkannt würde,

sondern durch

die Gewalt seines Namens.

Darin liegt die vortheilhafte Seite der Trägheit der Welt, darin die Gefahr des Uebermaßes der Bewegung.

Allein wie wenig die Welt geflissentlich, wie wenig sie wissentlich sich die Verdrängung des Studium deS Klassischen

aus der Bildung und namentlich aus den gelehrten Schulen zum Ziele setzen mag, unsere Zeit ist auf dem Wege es zu thun, und es ist, insonderheit bei dem Vorherrschen des Prinzips der

Bewegung, zu fürchten, daß sie dahin gelangen werde.

Zuerst, wenn der wahre Werth der klassischen Welt nicht erkannt, wenn das klassische Studium nur nach einer sehr un-

107 würdigen Ansicht geduldet wird, so kann es nicht in seinem

Werthe, nicht in seiner Bedeutung für die Bildung bestehn,

und dann würde zweifelhaft seyn, ob das, dessen Werth nicht erkannt wird und das darum nicht seinen rechten Einfluß auf

die Bildung behaupten könnte, fortbestehn würde und sollte. Sodann wird das klassische Studium namentlich in den

Schulen verdrängt durch das Verlangen nach Ausdehnung der Gegenstände des Unterrichts und durch die Folge, daß an dem

Studium der klassischen Sprachen und Werke abgebrochen wird,

was

man

für andere Unterrichtsgegenstände gewinnen will.

Ueber diese entschiedene Richtung der Zeit auf Vermehrung der

Gegenstände der Bildung wird an einer andem Stelle zu sprechen seyn.

Hier haben wir nur dieses in das Auge zu fassen, daß

es die den klassischen Sprachen und Werken bisher bestimmte Zeit ist, welche zum Gewinn für andere Lehren beschränkt wird. Nun meine ich zwar, daß durch zweckmäßige Einrichtung und

Methode, insbesondere durch bestimmte und scharfe Richtung aller Lehre auf das Wesentliche, möglich zu machen wäre, daß

die Zöglinge der Gelehrsamkeit zugleich in einen ausgedehnteren Kreis der Bildung und wieder in ein tieferes Verständniß der

klassischen Welt als bisher eingeführt würden.

Allein wie ich

sehe daß zu Werke gegangen wird, ist vielmehr vorauszusetzen,

daß die klassischen Studien verkümmert werden ohne Gewinn der Bildung

durch die Ausdehnung des Kreises der Lehr­

gegenstände. Wenn man an die Stelle deS Studium der Alten etwas Anderes setzen wollte, so müßten es Werke seyn, die man in

Klassizität ihnen gleich setzen könnte, nicht irgend ein anderes

Studium, welches es auch sey.

Denn die Beschäftigung des

Geistes mit dem Vortrefflichsten und Durchbildetsten, die Ge­

wöhnung an die Trefflichkeit, ist durch nichts zu ersetzen und

doch das Wesentlichste der Bildung, daher Horaz sagt, daß

108 der erste Lehrer der Jugend ein Dichter seyn solle.

Hier liegt

die Antwort auf den Einwand, daß ja die Griechen, die wir

so hoch stellen, sich nicht an fremder, nicht an alter Sprache und Literatur gebildet haben.

Sie haben sich an der hohen

Vollendung, an der Klassizität der eigenen Sprache, Literatur

und Kunst, an der Herrschaft des Verstandes und der Zier­

lichkeit in allem Leben gebildet. —

Aber nicht durch anderes

Klassische will unsere Zeit, oder kann sie, das Alte ersetzen.

Unsere Zurücksetzung der alten Literatur hängt mit der Nicht­ achtung und Verkennung der Klassizität zusammen.

Und es

ist nicht anderes Klassisches, woran man Geist und Gemüth,

mehr als durch die Alten, zu erhöhen, zu veredeln, zu ver­ vollkommnen sucht.

Mit Kenntnissen sucht man die Jugend

zu bereichern, in denen man mit Unrecht größere Anwendbarkeit für das Leben sucht, die ihren Werth für die Bildung haben,

aber auf keine Weise die unersetzliche Bildung an Klassischem, an Vollendetem, ersetzen können, und an sich gerade als Gegen­ stand des Schulunterrichts, und wie wir sie behandelt sehen,

zur Veredelung des Geistes weniger geeignet sind.

Aus diesem

Gesichtspuncte sind alle die Unterrichtsgegenstände ungenügend, die übrigens hoch zu achten sind.

In der Mathematik, welche

vorzugsweise zu erheben nun einmal in dem Sinne der Zeit liegt, ist weder das Schöne, noch das Gute, noch das Gesetz

des Lebens der Welt, noch Wesen, Charakter und Geist der Dinge, bloß das Zählbare und Meßbare.

Darum kann sie

weniger als jede andere Wissenschaft gleiche Veredelung des

Geistes gewähren, wie die Beschäftigung mit dem Klassischen. Die Menschengeschichte ist noch weit davon entfernt, und ich sehe keine Aussicht, daß sie weniger davon entfernt seyn werde,

die Bildung und den Werth des menschlichen Geschlechtes in

den verschiedenen Zeiten und unter den verschiedenen Völkem kennen zu lehren, einen tieferen Blick in das Wesen des mensch-

109 lichen Geschlechts zu öffnen.

Ohne dieses aber hat sie keinen

höheren Werth für die Bildung; die bloße Kenntniß von Be­ gebenheiten an sich ist werthlos.

Der Naturwissenschaft lege ich

hohen Werth bei, und ich verübele es der Welt sehr, daß sie Geschichte und Geographie und Mathematik strenger fodert als

Naturwissenschaft.

Allein höheren Werth, als Wissenschaft und

als Bildungsmittel, hat die Naturwissenschaft doch nur in dem, was die Schulzeit theils nicht geben kann, theils nicht giebt, in dem tieferen Blicke in das Leben der Natur und seine Gesetze.

Bloße Kenntniß von Steinen, Pflanzen und Thieren, oder von Erscheinungen in den Verhältnissen der Körperwelt gleicht an Werth der Kenntniß von den Begebenheiten der Geschichte. Die Philosophie aber kömmt, in dem gegenwärtigen Zustande der Wissenschaft und der Lehre, als Unterrichtsgegenstand auf

Schulen kaum in Betrachtung, obgleich ein Anfang zur Aus­

bildung philosophischer Ideen auf Schulen nicht außer der Mög­ lichkeit, sondern vielmehr im Ideale der Bildung, insonderheit

der gelehrten Bildung, liegt.

So ist also alles, was man an

die Stelle der Beschäftigung mit den Alten auf Schulen setzen

möchte, nicht nur nicht geeignet, für die Bildung das zu seyn, was nur der Verkehr mit Werken der trefflichsten Ausbildung,

mit klassischen Werken seyn kann, sondern es kann auch des­ halb keinen Ersatz für jene gewähren, weil das, was in ihnen höhere Bildung gewährt, für das jugendliche Alter nicht so

zugänglich ist, wie die Bildung aus den klassischen Alten, deren höchstes Verständniß zwar nur für die Reife des Geistes ist, von denen aber dennoch auch der Zögling gelehrter Schulen so viel fassen kann, daß er daraus edlere Art einsaugt.

Das ist

das Unvergleichliche der Bildung durch das Klassische, daß es jedem nach dem Maße seiner Fassungskraft sich darbietet.

Es

ist ein völlig grundloser Einwand gegen die Gründung der

gelehrten Bildung auf das klassische Studium, daß doch höheres

110 Verständniß der Alten nur wenigen zugänglich, für die andem

aber dieses Studium unfruchtbar sey.

Die Meisterschaft wird

in keinem Gegenstände auf Gymnasien erreicht werden.

Es

giebt aber keinen Gegenstand, dessen Studium auf jeder Stufe

dem Lehrling schon so viel Gewinn brachte, wie die alte klassische

Welt.

Auch

die ersten Anfänge der Bekanntschaft mit ihr

werden jedem Empfänglichen eine bildende Ahnung dieser Gedie­ genheit der Sprache, der Rede und des Gedankens geben, sie

werden ihn durch Großartigkeit, Kraft und Tüchtigkeit dieser

Geister und Charaktere erwärmen.

mehr zurück, als wir merken.

Gewiß läßt dieß Studium

Wie man auch über den reinen

Werth der Römertugend denken möge, so bleibt doch, daß der sehr wenig bildungsfähig seyn müßte, dem nicht das Anschaun

dieser aufopfernden Strenge der Römertugend, wie er es aus den Werken der Römer Wesens würde.

selbst

gewinnt,

Kräftigung

seines

Mit jenen Sprachen, in denen sich die zarteste

Regung der Seele nicht weniger als die höchste Feinheit des Gedankens ausdrückt, wird kein Empfänglicher ohne Frucht für

seine Bildung sich beschäftigen.

Welchem Empfänglichen wären,

nicht die Gestalten der griechischen und römischen Welt, wie er

sie bei seiner Jugendbeschäftigung mit den römischen und grie­ chischen Schriften in sich ausgenommen, zu Bildern der Tüch­

tigkeit, der Erhabenheit und der Großartigkeit geworden! Man hat schon die Vermuthung ausgesprochen, daß einst

die Sanskrit-Literatur werde neben der klassischen als allgemei­

nes Bildungsmittel ausgenommen werden, namentlich als all­ gemeiner Gegenstand der Gelehrtenbildung.

Nun wollen wir

dabei die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit der Vermehrung

der allgemeinen Gegenstände der Bildung oder der gelehrten Bildung außer Frage lassen, bei deren zu großer Ueberhäufung

nichts von allem gedeihen kann.

Es würde aber nur dann die

Aufnahme der Sanskrit-Literatur, wie überhaupt irgend einer

111 Literatur, unter die Bildungsmittel Gewinn seyn, wenn man in ihr wirklich, und zwar in Vergleich mit dem was wir in anderer Literatur haben, hohe Durchbildung und Vollendung,

Klassizität, Schärfe und Klarheit des Gedankens und der Rede,

eine edle Poesie, eine gründliche Philosophie fände.

Eine philo­

sophische Mythologie etwa kann ihr solchen Werth nicht geben.

Man schreibt der Sanskrit-Sprache große Vollkommenheit zu,

und dann wäre ihre Kenntniß allerdings Gewinn für die Bil­ dung.

So viel aber darf darüber wohl auch ein Unkundiger

urtheilen, daß in dem von dieser Sprache gerühmten Reichthum an Formen und Buchstaben, wenn nicht die Formen Reichthum der Bedeutung und Erleichterung des Ausdrucks enthalten, kein

Zeichen von hoher Bildung einer Sprache enthalten ist.

Und

cs ist höhere Ausbildung der Sprache nur bei dem Volke zu

suchen, das sich eine durch Schärfe und Klarheit des Gedan­

kens, durch Klassizität ausgezeichnete Literatur geschaffen hat.

Also diejenigen, welche meinen, daß in den gelehrten Schulen

das Studium der klassischen Sprachen und ihrer Literatur mehr

beschränkt werden könne und solle, damit für Ausdehnung des Gebietes anderer Kenntnisse Raum gewonnen werde, sind auf dem geraden Wege,

die trefflichste Grundlage der Bildung,

nicht bloß der Gelehrtenbildung, sondern der Menschenbildung, zu untergraben, und den herrlichsten alten Tempel zu zerstören,

um auf seinen Trümmem ein Gebäude neuer Barbarei auf­ zuführen.

So viel fehlt, daß der Foderung größerer Beschrän­

kung des Studium der klassischen Sprachen und ihrer Literatur

Raum zu geben wäre, daß vielmehr zu verlangen ist, es solle sich in die gebildete Welt aus der unendlich reichen Quelle der

klassischen Literatur mehr als bisher Verständigkeit und Ver­

edelung und Schönheit ergießen, und die klassische Literatur Gegenstand höherer Studien als bisher werden.

Daraus folgt

aber keineswegs, daß darum für diesen Zweck die Zeit der

112 Zöglinge gelehrter Schulen mehr als bisher und so weit in Anspruch genommen werden müßte,

daß andern Lehrgegen-

standen ungebührlicher Eintrag geschähe.

Es folgt nicht, daß

darum nicht auch die Bildung an andern Studien erhöht wer­

den könnte.

Das Hauptsächlichste, das nöthig

ist, ist die

Hinleitung des klassischen Studium auf das, was ihnen ihren höchsten, ihren wahren Werth giebt, das tiefere Eindringen in

das Verständniß der Werke und ihrer Schönheit; die Beschäf­

tigung mit den Alten muß eine solche seyn, daß dadurch ihr

Geist erfaßt und aus ihnen Bildung geschöpft werde.

Dazu

nun muß die Hoffnung von denen ausgehn, welche berufen

sind, die Tiefe der klassischen Welt zu ergründen und andern zu eröffnen, andere hinein zu führen, von den Philologen.

Von ihnen muß die Durchdringung der Welt von dem klassi­ schen Leben, die Veredelung der Welt durch die Erkenntniß

der klassischen Trefflichkeit ausgehn. Diesen hohen Beruf können

sie aber nur dann erfüllen, wenn ihnen selbst der Geist, nicht bloß der Buchstabe, der Literatur und Kunst, der gesammten Geistesbildung und Art der Griechen und Römer aufgeschlossen ist.

Kleinigkeitsgeist der Philologen ist nicht, wenn sie sich mit

dem Kleinsten beschäftigen; denn auch das Kleinste ist wichtig

und unentbehrlich, das zur Vollkommenheit des Verständnisses oder gar der Herstellung der Integrität jener Werke der vollen­

detsten Bildung gehört.

Der Kleinigkeitsgeist der Philologen

ist, bei den Kleinigkeiten stehn zu bleiben, und nicht zu dem Wesen, zu der tieferen Bedeutung, zur Erkenntniß der Schön­

heit und Vollendung der alten Welt zu dringen, nicht diese unvergleichliche Schönheit, den bewundernswürdigen Verstand, die nicht wieder erreichte Schärfe der griechischen und lateinischen

Literatur und Sprache zum eigentlichen, für die Würdigkeit des

Strebens unerläßlichen, Ziele der klassischen Studien sich und ihren Schülern und der Welt zu setzen.

113 Durch die richtige Stellung der Aufgabe wird ohne grö­ ßeren Zeitaufwand die Erreichung dessen gewonnen, was wir

Und bewachten wir, was jetzt geschieht, so ergiebt sich,

suchen. daß

zur Erstrebung

unseres Zweckes

keineswegs

mehr Zeit

erfoderlich ist, als schon jetzt diesen Studien gewidmet wird.

So viel Kenntniß der lateinischen Sprache als dazu nöthig ist, wird auch jetzt zum Ziele gesetzt.

Nicht ganz so viel wird in

der griechischen Sprache erreicht.

Allein das was man zu

erreichen sucht, und was von einer nicht geringen Zahl erreicht werden mag, ist doch wohl ziemlich so viel, daß auch jener

Zweck damit erstrebt werden könnte.

Denn das ist nicht gemeint,

daß die Schule schon das volle Verständniß der klassischen Lite­

ratur eröffnen sollte, wovon ja jedenfalls auch nur ein nicht beträchtlicher Theil in dem Schulunterrichte durchgegangen wer­

den kann.

Daher ist auch unter der auf Schulen zu gebenden

Anleitung zum tieferen Verständniß der Herrlichkeit der Alten keineswegs eine in die Tiefe selbst eindringende Belehrung, son­

dern nur leichte Hindeutung gemeint.

Die Schule soll nicht

dahin führen, daß das Höchste der klassischen Literatur ver­

standen worden sey, sondern nur dahin, daß der Zögling darin

das Verständniß des Höchsten zu suchen und zu finden gelernt

habe.

Wir treffen hier wieder auf den Punct, auf welchen die

Bildungslehre überall stößt, daß das Lernen sich nicht auf die Lehrjahre beschränken muß.

Je weiter die Schule selbst in den

klassischen Studien fthren kann, desto besser.

Aber das Beste

ist von dem fortgesetzten Streben der folgenden Jahre zu erwarten,

und damit die Welt aus dem klassischen Alterthum die Bildung

schöpfe, die daraus zu schöpfen ist, kömmt Alles darauf an, daß diese Studien nicht mit der Schule aufhören, sondern mit allem Ernst fortgesetzt werden, nicht bloß aus alter Anhäng­

lichkeit, wenn es sonst gerade nichts zu thun giebt, sondern als

das

nun

erst recht zu beginnende Werk der Bildung.

8

114 Wird nun in gleicher Weise auch das andere Studium auf

Schulen betrieben, wird mit strenger Wahl das Unentbehrlichere,

zur wesentlichen Erleichterung des Lernens, bis zur Sicherheit eingeübt, wird, was nicht minder wesentlich zur Erleichterung des Lernens und also zur Zeitersparniß ist, nicht jeder Abschnitt

der Schulzeit unter zu viele gleichzeitig betriebene, durch die ganze Schulzeit hindurchgezogene Gegenstände versplittert, son­

dern, wo es anwendbar ist, auf einzelne Gegenstände nur in einzelnen Zeitabschnitten der Schule aber desto größere Kraft

verwendet, wird überall der Unterricht auf die Hinleitung des Zöglings zu dem, was in der Lehre das eigentliche Mittel der

Bildung ist, hingeleitet, und wird durchaus davon ausgegangen,

daß der Zögling in der Schule nicht mit seiner Bildung aus diesen Lehren fertig werden, sondern mehr nur die Bildung in

dem Höheren der Wissenschaft suchen und finden lernen und das Bildungsstreben aus der Schule in das ganze Leben mit

hinüber nehmen solle, dann wird es nicht an Zeit fthlen, daß

zugleich die Bildung, welche die Welt aus jenen klassischen Werken, und die, welche sie

aus andern Studien schöpft,

erhöht werde.

11. Philosophie. Das Höchste des Wissens, die Spitze der Wissenschaft ist das Wissen vom Wissen und von dem Wesen der Welt, die

Wissenschaft, deren Aufgabe eben ist, den letzten Punct aller Erkenntniß, die höchste Erkenntniß von der Welt und dem

Geiste zu suchen, die Wissenschaft, in welcher alle Wissenschaft

ihre Wurzel hat und in welche wiederum alle Wissenschaft auf ihrem höchsten Puncte zurückkehrt.

Und wie der Geist kein

114 Wird nun in gleicher Weise auch das andere Studium auf

Schulen betrieben, wird mit strenger Wahl das Unentbehrlichere,

zur wesentlichen Erleichterung des Lernens, bis zur Sicherheit eingeübt, wird, was nicht minder wesentlich zur Erleichterung des Lernens und also zur Zeitersparniß ist, nicht jeder Abschnitt

der Schulzeit unter zu viele gleichzeitig betriebene, durch die ganze Schulzeit hindurchgezogene Gegenstände versplittert, son­

dern, wo es anwendbar ist, auf einzelne Gegenstände nur in einzelnen Zeitabschnitten der Schule aber desto größere Kraft

verwendet, wird überall der Unterricht auf die Hinleitung des Zöglings zu dem, was in der Lehre das eigentliche Mittel der

Bildung ist, hingeleitet, und wird durchaus davon ausgegangen,

daß der Zögling in der Schule nicht mit seiner Bildung aus diesen Lehren fertig werden, sondern mehr nur die Bildung in

dem Höheren der Wissenschaft suchen und finden lernen und das Bildungsstreben aus der Schule in das ganze Leben mit

hinüber nehmen solle, dann wird es nicht an Zeit fthlen, daß

zugleich die Bildung, welche die Welt aus jenen klassischen Werken, und die, welche sie

aus andern Studien schöpft,

erhöht werde.

11. Philosophie. Das Höchste des Wissens, die Spitze der Wissenschaft ist das Wissen vom Wissen und von dem Wesen der Welt, die

Wissenschaft, deren Aufgabe eben ist, den letzten Punct aller Erkenntniß, die höchste Erkenntniß von der Welt und dem

Geiste zu suchen, die Wissenschaft, in welcher alle Wissenschaft

ihre Wurzel hat und in welche wiederum alle Wissenschaft auf ihrem höchsten Puncte zurückkehrt.

Und wie der Geist kein

115 höheres Besitztum hat als die Philosophie, so kann keine Uebung

die Kraft und die Fähigkeit des Geistes mehr erhöhen, als die

Beschäftigung mit der Wissenschaft, welche sich in den höchsten Regionen des Denkens, in der Vermittelung der höchsten Gege,^ sätze bewegt.

Nicht nur jede Wissenschaft kehrt in ihrer Spitze zur Philosophie zurück, als dem tiefsten Grunde alles Wissens, sondern auch alle Bildung hat ihren höchsten Punct in der

Philosophie, und dieß nicht bloß als in dem höchsten Gipfel

der Wissenschaft, welchen doch niedere Bildung nicht berührte und nicht brauchte, sondern als in dem Puncte, in welchem

alle Bildung ihre Quelle hat.

Die Philosophie grenzt mit aller

Bildung, mit Religion wie mit Poesie, mit der Bildung die wir in der Naturwissenschaft wie in der Geschichte suchen, mit der Kunst wie mit der Sittlichkeit und der Weisheit des Lebens;

oder vielmehr die Philosophie grenzt nicht bloß damit, sondem

sie erfaßt es.

Wie könnte nicht die Wissenschaft an der Spitze

aller Bildung stehn, aus welcher wir die Mee von Gott zu schöpfen haben, in

welcher das Prinzip der Sittlichkeit zu

begründen ist, und welche alle Tiefe der Erkenntniß von der

Welt und vom Geiste enthält? Es ist eine ganz richtige Ver­ bindung, daß man das Wort Philosophie und Philosophiren nicht bloß von jener besonderen Wissenschaft, sondem auch von

allem dem Innersten

Denkens braucht.

und Tiefsten aller Wissenschaft, alles

Ein philosophisch gebildeter Geist ist es, der

in die Tiefen aller Wissenschaft und alles Leben dringt.

Das ist nicht gemeint, daß des.Einzelnen Bildung ihr

Maß gerade immer in seinem philosophischen Wissen habe, ob­ schon alle Bildung auf philosophische Fragen und Philosophiren stößt, wenn auch ohne systematische Form und Uebersicht.

Die

Erweckung des Geistes, welche allein alle Aufgaben des Lebens

zu lösen vermag, ist so sehr vorherrschendes Wesen der Bildung, 8*

116 daß gegen sie kein einzelnes, vorhandenes oder fehlendes, Moment der Bildung entscheiden kann.

Aber eine Zeit oder ein Volk

kann weniger als der Einzelne überhaupt einzelne Momente der Bildung entbehren, am wenigsten ein Moment, das von so

hohem Einfluß auf die Bildung der Zeiten und der Völker

und dadurch auch der Einzelnen ist, wie die Philosophie und das Philosophiren der Zeiten und der Völker.

Zn dem Zeit­

alter und dem Volke muß wurzeln und erwachsen, wovon ter

Einzelne eher sich an Blüthe und Frucht genügen lassen kann. Darum ist die Beschaffenheit der Philosophie hauptsächliches

Merkmal, sv wie Hinderniß oder Förderniß der Bildung der

Zeit, wenn auch nicht eben so der Einzelnen. Nun ist es eine schwierige Aufgabe, aus der Beschaffen­

heit der Philosophie unserer Zeit nachzuweisen, daß ungeachtet der ausgezeichneten Fähigkeiten, welche in der neuesten Zeit die

Philosophie bearbeitet haben und bearbeiten, und ungeachtet in der That der Bau unserer Philosophie ein gewaltiger und mit bewundernswürdiger Kühnheit durchgeführt ist, dennoch in der heutigen Philosophie keine Förderung der Bildung des mensch­

lichen Geschlechts sey.

Denn diese Ansicht kann nur bei denen

Eingang finden, welche aus dem heutigen Charakter der Phi­

losophie herausgehu können und wollen.

Dieß aber ist von

jedem um so weniger zu hoffen, je mehr er sich in die neuere Philosophie hinein gedacht hat, vor allen nicht von denen, welche über Philosophie das Wort führen.

Und am schwierig­

sten ist für eine Schrift, welche nicht die Philosophie zu ihrem

eigentlichen Gegenstande hat, die Aufgabe, in engem Raume die Verirrung der Philosophie einer ganzen, mit dieser Wissen­

schaft sich so viel beschäftigenden, Zeit zu zeigen, was über­ haupt schon nicht ohne Schüchternheit - untemommen werden kann.

Gleichwohl ist von dem Nachdenken über die Bildung

unserer Zeit die Betrachtung der heutigen Philosophie und ihres

117 Einflusses auf die Bildung unzertrennlich.

Doch wird das

Vorhaben dadurch erleichtert, daß es nicht bloß auf der mitzutheilenden Ansicht von dem Charakter der neueren Philosophie

beruht.

Denn unser wesentlicher Gegenstand ist der Einfluß

b.r Philosophie auf die Bildung der Zeit.

Darüber aber ist

nicht bloß der Charakter unserer Philosophie, sondern auch die Thatsache des wirklichen Einflusses der Philosophie auf unsere

Bildung zu befragen, worauf wir spater zurückkommen werden. Die höchsten Puncte unserer Erkenntniß von dem Wesen

der Dinge und der Erkenntniß sind durchaus nur Gegensatze

oder Beziehungen, nicht etwas für sich.

So ist zum Beispiel

die Materie nur im Gegensatze oder in einer Bezieh»«^ zu einem Entgegengesetzten zu fassen.

Setzen wir als den Begriff

der Materie, daß sie den Raum erfüllt, so ist in ihr nichts als die Erfüllung des Raumes, die Beziehung auf den Raum.

Was aber die Materie an sich sey, was ihr Wesen sey, erkennen wir nicht, wir haben nichts als jene Beziehung.

Oder bezeich­

nen wir die Materie, wie mich dünkt richtiger, als das, woran die Eigenschaft ist, so erkennen wir von der Materie nichts als

die Beziehung zur Eigenschaft die an oder in ihr ist.

Nehmen

wir das Jnwohnen der Eigenschaft von der Materie hinweg, so bleibt nichts zurück, obgleich die Eigenschaft der Gegensatz der Materie, das immer von der Materie Unterschiedene ist.

Also nur in ihrem Gegensatze erkennen wir die Materie, nicht in ihrem Wesen. Wenn uns, um das Höchste zum Beispiel zu nehmen, die Betrachtung der Welt auf den Begriff Gottes führt, als

dessen, in dem die Welt ihren Anfang, ihren Grund und ihr

Gesetz hat, so erkennen wir nur, daß etwas da ist, worin die

Welt Anfang, Grund und Gesetz hat, und das wir Gott nennen, nicht aber erkennen wir, was dieses Etwas für sich sey, nicht das Wesen Gottes.

Wir erkennen darum auch nicht,

118 wie Gott Grund und Gesetz der Welt ist, denn dieß kann nur

in dem Wesen, in dem was das Etwas an sich ist, enthalten seyn.

In unserem Begriffe von Gott liegt durchaus nichts

außer der Beziehung zur Welt, weil dieser Begriff lediglich aus dem Wirken Gottes, also aus der Beziehung zur Welt

hervorgeht.

Darum ist es auch vergeblich, Gott vor Erschaffung

der Welt denken zu wollen; womit nicht gesagt ist, daß Gott

nicht ohne die Welt seyn könne, was wir nicht wissen, son­

dern nur daß unser Denken nicht so weit reichen kann, um zu sagen, ob Gott ohne die Welt seyn könne. Es ist mit unserem Denken der höchsten Gegenstände der

Erkenntniß im Gegensatze wie mit der Polarität, die auch nur

im Gegensatze besteht, im Zndifferenzpuncte nicht mehr ist, nicht positiv noch negativ, sondern nichts ist, nicht ist. Daß nun alle höchsten Dinge oder ersten Dinge oder alle

Anfänge nicht für sich, sondern nur nach ihren Beziehungen, in dem Gegensatze, erkannt werden tonnen, liegt in der Natur

der ersten Dinge, wie wir sie nennen wollen, und unserer Erkenntniß.

Denn alle Erkenntniß ist entweder unmittelbare

erste Wahrnehmung einer Gattung der Dinge, wie etwa die

rothe Färbe, was wir Urerkenntniß nennen mögen, oder sie ist Beziehung auf ein anderes schon Bekanntes.

Unmittelbare

erste Wahrnehmung, Urerkenntniß, kann aber in der Philosophie ihrem Wesen nach und nach dem Wesen ihrer Gegenstände nicht

seyn, weil diese nur durch Beziehung in das Denken kommen, da dieß eben mehr als Wahrnehmung ist.

Eben so wenig

können aber die ersten Dinge, die Anfänge der Erkenntniß auf ein schon Erkanntes bezogen werden, denn dann wären sie nicht

mehr die höchsten Dinge, nicht die Anfänge, da ja der Anfang

nur das seyn kann, dem kein anderes vorausgeht.

Indem

wir den Grund der Dinge, ihr Wesen, betrachten, werden wir

immer aufsteigend zu einem höheren Wesen, dem Wesen der

119 Wesen oder des Wesens geführt.

Aber das höchste Wesen, das

Urwesen erkenüen wir nicht als solches und als das, was es

für sich ist, eben weil es das höchste Wesen ist.

Denn an­

schauen können wir es nicht, weil die Anschauung unmittelbar ist,

zu

jenen Gegenständen

aber nur durch die Beziehung

gelangt wird, wie zu Gott nur durch die Welt; durch Denken aber es erreichen können wir auch nicht, weil dieß nur durch Beziehung auf ein höheres Wesen geschehn könnte und dann

jenes nicht das höchste Wesen, das Urwescn, seyn würde.

Es

ist durchaus mit dem Denken des Wesens wie mit dem Denken

der Ewigkeit oder der Unendlichkeit; wir können keinen Punct

finden, über welchen hinaus nichts läge. Da nun die menschliche Erkenntniß nicht über die Bezie­

hungen in den höchsten Puncten hinaus kann, so kann sie nicht bis zum Wesen der Dinge an sich, bis zum Absoluten dringen.

Denn das Wesen liegt außerhalb der Beziehungen; es ist das, was die Dinge für sich sind, ohne Beziehung auf anderes; cs ist das, was der letzte innere Grund der Eigenschaften des

Dinges ist, nicht die Aeußerung der Eigenschaften.

In diesem Sinne ist zu sagen, daß das Ding-an-sich außerhalb unserer Erkenntniß liegt, nicht in dem anderen, in

welchem man unter dem Ding-an-sich das Vorgestellte außer­ halb der Vorstellung versteht und nun meint, da die Vor­

stellung nicht das enthalten könne, was außerhalb der Vor­ stellung liege, so könne in ihr nicht Erkenntniß jenes Dinges­

an-sich seyn, als eines immer außerhalb der Vorstellung liegenden Gegenstandes.

Dieser Zweifel löst sich dadurch, daß im Denken

Alles nur als außer der Vorstellung seyend vorgestellt wird,

und alle Vorstellung nothwendig die Beziehung auf einen außer

ihr liegenden Gegenstand enthält, durch den eben die Vorstellung erzeugt wird.. Daher ist die Vorstellung selbst entweder Erkennt­ niß eines außer ihr liegenden Gegenstandes, des Dinges-an-sich

120 in diesem Sinne, oder sie ist Täuschung und ihr Gegenstand nichts.

Die Vorstellung ist gar nichts anderes, als die Wahr­

nehmung einer Bestimmung des Denkens durch etwas, das

außer dem Denken ist.

Sie müßte also leer seyn, wenn ihr

nicht ein außer ihr liegender Gegenstand als Ursache des Be­ stimmtwerdens des Denkens entspräche.

niß des Dinges-an-sich. lung der Welt.

Dieß aber ist Erkennt­

Das Denken ist nichts als Abspiege­

Die in der Seele abgespiegelten Gegenstände

müssen so gewiß außerhalb der Seele seyn, als die im Spiegel

sich zeigenden Gegenstände außerhalb des Spiegels sind.

Die

Erkenntniß geschieht durch den Schluß von der Abspiegelung

auf daS Daseyn des Abgespiegeltm, und die Grundlage des Schlusses liegt in dem Wesen der Vorstellung, das eben die

Beziehung auf ein außer ihr Vorhandenes, die Bestimmung

durch ein Aeußeres ist.

Es ist mit der Erkenntniß »priori nicht

anders als mit der Erkenntniß aposteriori.

Die Erkenntniß

«priori ruht in der Nothwendigkeit, also in dem Gesetze.

Diese

Nothwendigkeit, dieses Gesetz, wird aber von dem Denken nicht gegeben, sondem als etwas außer ihm gefunden, erkannt, an­

erkannt, befolgt. Weil wir nun nicht das Wesen der Dinge, nicht das Wesen des Wesens, nicht das höchste Wesen, in der Philosophie

erkennm, sondem nur Gegmsätze und Beziehungen,

welche

nicht das Wesen der Dinge-an-sich enthalten, so bleibt der

Gegmstand der Philosophie, in so fern diese das Höchste sucht, immer ein Räthsel, das nie gelöst, sondern immer nur zum

Gegenstände gemacht, immer anders gestaltet werden soll, und Verirrung der Philosophie ist es, wenn sie das Räthsel zu

lösen glaubt.

Die Verirrung unserer Philosophie ist, daß sie

durch Aufhebung der Gegensätze sich zur Erkenntniß des Ab­ soluten

zu

erheben

meint, der irrthumsreichste Versuch der

Erklärung des höchsten Wesens der Dinge.

121 Das Absolute als Gegensatzloses ist durchaus leer.

Das

Subject ist durchaus nur in Beziehung auf das Object, und das Object durchaus nur im Gegensatze gegen das Subject. Nehmen wir d'ese Beziehung hinweg, so haben wir weder

Subject noch Object,

sondern Nichts.

Ein Absolutes,

in

welchem Subject und Object nicht außer einander lägen, ein

Subject-Object, ist schlechthin ein Unding.

Denn der Begriff

des Subjects und des Objects ist nur dieser, daß sie außer

einander, daß sie einander gegenüber liegen.

Wohl sagt man,

der Satz, welcher die Identität der Bestimmungen ausspreche, zum Beispiel daß Seyn und Nichts dasselbe sey, enthalte in

der That eben so sie beide als unterschieden; worauf nun die­ ses folgt, daß durch diesen Widerspruch der Satz sich selbst

auflöse und so die Bewegung habe durch sich selbst zu ver­

schwinden , daß aber eben hierdurch an ihm das Werden geschehe.

Allein eS ist offenbar, daß, wenn in demselben Satze zwei Bestimmungen zugleich als unterschieden und als nicht unter­ schieden gesetzt werden sollen, dieses nichts anderes heißen kann, als

daß sie als unterschieden eine andere Bedeutung haben,

und als nicht unterschieden eine andere, daher keine Identität des Unterschiedenen darin liegt, sondern von ganz verschiedenen

Bestimmungen die Rede ist, welche als unterschieden und welche als nicht unterschieden gesetzt werden.

Man kann es vergleichen mit dem Wesen alles dessen, was Pole oder Positivität und Negativität hat.

In der Pola­

rität des Magnets ist allerdings der Nordpol und der Südpol

zugleich enthalten, aber nicht so, daß in der Polarität oder in dem Magnete Indifferenz wäre, sondern gerade nur in der

Differenz besteht die Polarität, und Aufhebung der Differenz wäre Aufhebung der Polarität und ergäbe Nichts.

Eben so

ist in der Elektrizität das Negative und das Positive enthalten,

allein nicht als zur Indifferenz vereinigt, sondern so, daß die

122 Elektrizität nur in dem Gegensatze deZ Positiven und Negativen

besteht.

Nicht so denkt man sich das Absolute, zu welchem

man durch Aufhebung des Gegensatzes zu gelangen glaubt.

In der Indifferenz der Entgegengesetzten werden die Entgegen­ gesetzten selbst aufgehoben und der Indifferenzpunct ist allemal

Null, wie bei der Polarität.

Das angebliche Absolute, die

Identität des Entgegengesetzten, ist ein völlig leerer Begriff,

Null, Nichts.

Zwar behauptet die neueste Philosophie, das

sich Widersprechende löse sich nicht in Null, in das abstracte

Nichts auf,

sondern wesentlich nur in

die Negation seines

besonderen Inhalts, so daß im Resultate wesentlich das ent­

halten sey, woraus es resultire.

Allein so ist es doch nur

Negation, was darin enthalten ist, also Nichts, und wie das,

was aufgehoben worden, doch in dem, worin es aufgehoben worden, noch enthalten seyn könne, wird nicht gezeigt.

Indem

man die wesentliche Identität von der abstractm zu unter­ scheiden sucht, neben welcher noch der Unterschied als außer ihr seyend gelassen werde, giebt man doch zu, daß die wesentliche

Identität das Wesen selbst, aber noch keine Bestimmung ist,

folglich leer, denn ohne Bestimmung ist nur Leerheit. Vielleicht möchte man meinen, das gelte bloß von Sub­

ject und Object, daß es mit der Aufhebung des Gegensatzes in Nichts zerfalle , weil die Begriffe Subject und Object nicht Wesen an sich bezeichnen, sondern nur eine bestimmte Bezie­ hung zweier Dinge auf einander, nämlich daß das eine als das andere vorstellend, das andere als von jenem vorgestellt

gedacht wird; anders sey es mit den Gegensätzen, deren jeder

etwas auch für sich zu denkendes bezeichnet, wie Ich imb

Nicht-Ich.

Allein um nichts weniger wird nicht nur jeder

Gegensatz durch die Aufhebung der Differenz, durch das Setzen

der Identität zu Nichts, sondern auch die Entgegengesetzten

werden dadurch vernichtet.

Ich und Nicht-Ich kann eben so

123 wenig ohne Differenz seyn, als Subject und Object.

Und so

geht es hinauf durch alle Gegensätze der höchsten Dinge.

Für

Geist und Natur, Begriff und Ding, Seyn und Erscheinung,

Allgemeines und Besonderes, ist Aufhebung der Differenz Ver­

nichtung.

So führt auch der Versuch Gott und die Welt als

Eins, die Welt als die Erscheinung oder Entwickelung Gottes zu denken nur zum Nicht-Daseyn Gottes.

hebt die Gottheit und das Göttliche auf.

Der Pantheismus Der Begriff Gottes

enthält, daß er außerhalb der Welt sey, der Begriff der Welt, daß sie Gott nicht in sich habe. Dieses nun, daß man da, wo die menschliche Erkenntniß

nicht über die Beziehungen und Gegensätze hinausgehn kann, durch Aufhebung des Gegensatzes in der Identität das Absolute

zu finden meint, hat zur Folge, daß man in diesem Absoluten das Mesen sucht, daß man das Wesen des Wesens zu erkennen, das unauflösliche Räthsel zu lösen glaubt und so ein System der Welt und des Geistes aus lauter Irrthum aufbaut.

Es

ist nicht ein einzeln stehender Irrthum, sondern durch die ganze

Philosophie zieht sich der Irrthum, der die Gegenstände der

höchsten Erkenntniß für das nimmt, was sie nicht sind, Bezie­ hung für Wesen.

Das Absolute durch Aufhebung des Gegensatzes zu suchen

ist unsere Philosophie durch die Untersuchung des Verhältnisses zwischen den Dingen und der Erkenntniß veranlaßt worden. Es ist sonderbar, daß diese Untersuchung, deren Zweck eben

dieser ist, die Bestimmungen über das Ding an sich und über das Denken streng aus einander zu halten, vielmehr zur Ver­

mischung dieser Bestimmungen geführt hat, weil man über den Gegenstand der Frage hinausgegangen ist, welche bloß das Wesen der Erkenntniß begreift.

Das Wesen der Erkenntniß, das Verhältniß zwischen der Vorstellung und dem An-sich der Dinge ist, wie schon berührt

124 worden, eine Abspiegelung der Dinge an sich in der Vorstellung, und der Beweis, daß das An-sich der Dinge der Gegenstand

der Erkenntniß ist, liegt darin, daß der Vorstellung Wesen

dieses ist, das Vorgestellte als außerhalb der Vorstellung und des Vorstellenden liegend zu denken, die Vorstellung als bestimmt

durch das Vorgestellte durch das Ding an sich, durch das außer der Vorstellung und dem Vorstellenden Liegende,

als außer

dem Ich Realität habend, wonach die Vorstellung entweder

Erkenntniß des Dinges-an-sich oder durchaus leer seyn muß. Indem man nun aber dieses nicht erkannte und vielmehr zu

finden glaubte, daß die Vorstellung nicht durch das Ding-an-sich

bestimmt werden könne, und da gleichwohl ein Causalitatsverhältniß zwischen der Vorstellung und dem Vorgestellten Statt

finden mußte, so setzte man umgekehrt die Ursache des Dinges, als Gegenstandes der Vorstellung, in die Vorstellung.

Statt

daß jene Ansicht, welche die Vorstellung durch das Ding bestimmt werden läßt, das Seyn und das Wesen von der Vorstellung streng gesondert hält, wird durch die Ableitung des Vorgestelltcn

aus der Vorstellung beides vermischt, das Seyn in die Vor­

stellung gelegt.

Dieses Verhältniß kann schon daran klar wer­

den, daß Seyn, Daseyn, Werden, Ding, Substanz, Causalität, Leben zu Gegenständen der Logik der neuern Philosophie

geworden sind, daß die Metaphysik in der Logik aufgeht, von welcher man erklärt, daß sie sich durch die ganze Philosophie ziehe.

Es liegt aber zu Tage, daß so das Ding-an-sich ver­

nichtet wird, denn Ding-an-sich kann nicht seyn, was sein« Ursache in der Vorstellung hat.

Kant blieb dabei stehn, daß

das Ding an sich nicht Gegenstand der Erkenntniß sey; eine spätere Philosophie hebt die Möglichkeit eines Dinges an sich auf. Auf diesem Wege ist man dahin gekommen, daß man die beiden Theile der Philosophie in einander fließen läßt, welche

streng aus einander zu halten, oder erst aus einander zu setzen,

125 die eigentliche Aufgabe ist, die Untersuchung der Erkenntniß und die Erforschung des Wesens der Dinge.

Die Untersuchung hat ihren Anfang in dem Verhältnisse zwischen der Vorstellung des Einzelnen und dem, was darin

vorgestellt wird.

Diese Vorstellung des Einzelnen verliert sich

aber aus der Philosophie, ohne daß man recht sieht, was aus ihr wird.

Da doch die Vorstellung jedes Einzelnen nicht die

Causalität der Welt seyn kann, so findet nur unsere Philosophie

nicht sie, sondern den Geist überhaupt, die Vernunft, die Idee,

Und dieß müssen

den Begriff als die Ursache der Wirklichkeit.

wir, als neu ausgebildet, für den Charakter der Philosophie unserer Zeit nehmen, wie diese selbst es dafür nimmt, obgleich

cs in früherer Zeit, namentlich in Spinoza, wurzelt. Das Wesen der Dinge und die Wirklichkeit wird aus einer

Thätigkeit des Begriffs oder der Idee abgeleitet.

Darum heißt

auch die Idee Substanz und Subject, wiewohl wieder Prozeß,

welcher Widerspruch, daß dasselbe Substanz und Prozeß genannt

wird, hinreichend zeigen könnte, wie sehr dieser Lehre der Boden

mangelt.

Es kann aber die Idee weder Substanz noch thätig

seyn, also nicht Ursache, sondern nur Grund. Wie wir auch das Ideelle und das Reale fassen mögen,

immer bleibt der Gegensatz

zwischen Idee

und Wirklichkeit.

Die Idee ist nicht für sich wirklich, sondem dadurch, daß sie

an oder in dem Wirklichen ist.

In dem Ideellen liegt das

Verhältniß des Grundes; das der Ursachlichkeit liegt nur in

dem Realen.

Nicht allein hat nur das Reale eine Ursache,

sondern es kann auch nur das Reale Ursache seyn. ist in der Thätigkeit.

dem Wirklichen; das Wirkliche ist das Wirkende.

des Wirklichen ist die Substanz. Wirken, die Thätigkeit.

Causalitat

Causalität und Thätigkeit ist nur in

Das Wesen

Nicht ohne Substanz ist das

Die Eigenschaft oder Art der Sub­

stanz ist nicht an sich Ursache der Wirkung, nicht als Ideelles,

126 was die Art an sich ist, sondern dadurch daß sie an der Sub­

stanz ist, verwirklicht ist.

Die elektrische Erscheinung hat ihren

Grund in der Elektrizität, aber ihre Ursache in dem elektrischen Dinge, in dem Wirklichen; sagen wir, daß die Elektrizität die Ursache sey, so verstehn wir darunter nicht die Elektrizität an

sich, als Abstractum, sondern das Vorhandenseyn der Elektri­

zität in

dem

elektrischen Gegenstände.

Die Handlung des

Menschen hat ihren Grund in der Idee, aber die Thätigkeit ist nicht der Idee, sondern des Menschen.

Es ist nicht als Einwand zu entgegnen, daß auch die Substanz nicht für sich Ursache seyn kann, weil die Substanz

nichts für sich, sondern nur der Träger des Accidens ist.

Uns

kömmt es bloß darauf an, daß Ursächlichkeit nicht ohne Sub­ stanz seyn kann, weil sie nur in dem Wirklichen liegt, die

Wirklichkeit aber nicht ohne Substanz ist. Die Idee ist immer in oder an einem Andern, in oder

an einem wirklich Seymden.

Darum ist die Idee nicht Sub­

stanz, da die Substanz eben das ist, was nicht an einem Andem ist, sondem woran das Accidens ist.

Denken wir uns die Idee

als das Erzeugniß und Besitzthum der Intelligenz, in der

höchsten Stelle als die Idee Gottes, so kann sie doch nicht anders als in einem intelligenten Wesen gedacht werden.

Eine

absolute Idee giebt es nicht in dem Sinne, daß sie für sich sey, sondern sie ist in Gott; dann ist also immer nicht die

Idee die Ursache der Welt, sondern das Wesen, dem sie in-

wohnt, Gott.

Denken wir uns aber unter Idee etwas, das

in dem Objecte ist, in dem Objecte gleichsam seinen Leib hat,

wie es in der That ist, wenn wir die Welt als Entwickelung der Idee, die Natur als die Idee in ihrem Andersseyn betrachten, so ist offenbar, daß dieses dem Wirklichen Anhängende nicht eher

als das Wirkliche, nicht die Ursache des Wirklichen seyn kann;

es ist selbst nur mit dem Wirklichen.

127 Allerdings hat die neuere Philosophie den Zweifel nicht ganz unbemerkt gelassen, welcher ihre Lehre von der Idee als dem Subject-Object und als der Einheit des Ideellen und des Realen als sich selbst widersprechend treffe. Die Antwort, welche sie darauf giebt, ist nun der wesentliche Punct, wo ihre Wahrheit zu erkennen seyn muß. Sie betrachtet diesen Wider­ spruch als bloße Ansicht des Verstandes und als aufgehoben durch die concrete Einheit, die in der Idee fty. In dieser sollen Subject und Object einen ganz andern Sinn haben, als in der Abstraction des Verstandes. Worauf es nun aber ankäme, das bleibt die neuere Philosophie uns schuldig, zu zeigen, wel­ ches dieser andere Sinn sey, was das Subject anderes sey, als von welchem das Object gedacht wird, das Object anderes, als was von dem Subjecte gedacht wird. Es wäre zu zeigen, was denn der Inhalt, das Product der Einheit des Ideellen

und des Realen sey. Auch hierauf ist die Antwort in der neueren Philosophie zu vermissen. Man sieht kein anderes Ergebniß dieser Einheit, als entweder die bloße Verneinung beider Entgegengesetzten, das Nichts (wie denn wirklich das Seyn der neuesten Philosophie gleich Nichts ist), oder als Rea­ lität eben die Welt, in welchem letztem Falle wir zur Erklä­ rung der Welt zuletzt wieder auf die Welt gewiesen wären, und so nach langem Wege wieder auf die Stelle kämen, von welcher wir ausgegangen waren, und nur wieder sähen, was wir vorher auch sahen. Die jetzige Philosophie verwirft die von ihr so genannte Verstandesphilosophie, weil der Verstand die Gegensätze nur in der Abstraction auffasse und nicht bis zur Identität des Sub­ jectes und Objectes, des Geistes und der Welt, und nicht bis zur concreten Einheit vordringe, welche in der Idee sey. Vielmehr aber ist die Abstraction, welche man dem Verstände

vorwirft, das Wesen.alles Denkens, der Weg zu dm höchsten

128 uns zugänglichen Ideen, das, worin unser ganzes Wissen liegt,

nach dessen Aufhebung nichts bleibt.

Die Verkennung dieses

Wesens der Abstraction ist die Quelle aller Verirrung der Phi-

losophie.

Jene Gegensätze gehn nicht aus der Abstraktion des

Verstandes hervor, sie werden von dem Verstände gefunden und

sind die Grenze unserer Erkenntniß, welche gar nicht ein von dem Verstände zu sonderndes Vermögen hat.

Es giebt nur

Eine Intelligenz, und wir werden durch nichts berechtigt, nicht

alle Intelligenz unter dem Worte Verstand zu begreifen.

Nicht

dem Verstände ist ihre Abstraction vorzuwerfen, sondern der Philosophie,

welche die Differenz des Verschiedenen aufhebt,

ist ihre Abstraction vorzuwerfen, da sie von den Begriffen des

Unterschiedenen abstrahirt, und dadurch zur Inhaltslosigkeit führt. Durch die gesuchte Jdmtität des Entgegengesetzten, durch die Erklärung der Welt und des Gedankens aus einem objec­

tiven Denken, ist unsere Philosophie zu einem Gedankenspiele

von unabsehbarer Verwirrung und endloser Breite geworden, indem sie, was auf zwei ganz verschiedenen, durch eine nie

aufzuhebende Linie getrennten Seiten liegt, die Vorstellung oder

Erkenntniß und das Wesen der Dinge, in beide Seiten legt und immer von der einen Seite auf die andere springt.

Jenes

unabsehbare Gewebe des Irrthums in dem unendlich weiten

Gedankenspiele der Aufhebung der Differenz des Unterschiedenen geht von dem Puncte aus, daß das an und für sich Seyende

gewußter Begriff sey.

So hat man den Satz, daß Seyn und

Nichts dasselbe sey, darauf gegründet, daß das Nichts sey, und dieses darauf, daß es gedacht werde, welche Folgerung

schon darum ungültig ist, weil nicht das Nichts als ein Seyendes, sondern dieses gedacht wird, daß ein Seyendes nicht sey.

Diese Verwirrung, diese Vermischung des zu Trennenden,

diese endlose Breite erzeugt mit der Unklarheit der Lehre zugleich

129

eine Verwöhnung im Mangel an der Schärfe, welche doch das Ziel aller Bildung und vor allem der philosophischen Bildung ist. Nun hängt aber ferner von der Schärfe des Vortrags die Verständlichkeit der Lehre ab.

Denn nicht das Tiefsinnige

ist wahrhaft schwer zu begreifen, sondern das, was unklar und nicht scharf gedacht ist.

Und da wiederum von der Ver­

ständlichkeit der Lehre ihr Eingang und ihre Verbreitung ab­ hängt, so

ist mit der Schärfe und der Verständlichkeit der

Philosophie die Verbreitung

philosophischer Einsicht und

ihr

Einfluß auf die Bildung der Welt durch die Art der neueren Philosophie abgeschnitten.

Ja die Gewalt der Unverständlichkeit

neuerer Philosophie und die Gewalt der Verwöhnung an ihre Weise und ihren Ausdruck hindert auch wieder das Verständniß des Verständlichen und der Philosophie überhaupt.

Wir wür­

den Aristoteles mehr verstehn, wenn nicht unsere jetzige Philo­ sophie wäre.

Die Deutschen doch vor andem, wenn auch nicht

sie allein, besitzen, wie Göthe sagt, die Gabe die Wissenschaften unzugänglich zu machen.

Darüber wird es gut seyn, hier an

die Worte zu erinnern, welche neuerlich der berühmteste der lebenden Philosophen in seiner an Cousin's Schrift über fran­ zösische und deutsche Philosophie geknüpften Erklärung über die

neueste Philosophie ausgesprochen hat, daß die Deutschen sich immer mehr in Gedanken und Worten von dem allgemein Verständlichen entfernt haben, daß ihre Philosophie nur zur Noth in Deutschland verständlich sey, daß der Grad der Ent­

fernung von der Verständlichkeit zuletzt beinahe zum Maßstabe philosophischer Meisterschaft geworden sey, — nicht weniger, als was hier gesagt worden ist. Allein es könnte geftagt werden, ob denn der so kunstvoll gegliederte, gewaltige, riesenmäßige, hoch über das Denken des

gewöhnlichen Verstandes emporschwebende Bau unserer Philo­

sophie nicht jedenfalls als außerordentliche, anstaunenswerth« 9

130 Leistung ein Ruhm unserer Zeit sey.

Denkfertigkeit und Ge­

wandtheit unserer Philosophie im Gebrauche der von ihr ein­

mal angenommenen Formeln, und das Ungemeine ihrer Leistung will ich gern anerkennen, eine ausgezeichnete Virtuosität der Spekulation.

Aber eben auch nur Virtuosität kann ich darin

sehn, jene Virtuosität, mit welcher wir als dem Charakter aber

keineswegs einem Ruhme unserer Zeit die heutige Kunst bezeichnet haben, und die ganze heutige Bildung bezeichnen werden.

In solchem Zustande kann die Philosophie nicht jene Stär­ kung der Lebmskraft deS Geistes, nicht jene Großartigkeit des wissenschaftlichen Blickes und alles Denkens sowohl als des

sittlichen Sinnes gewähren, in welcher wir das Höchste der wissenschaftlichen Bildung gesehn haben, und zu welcher vor

allem das Studium der tiefsten Wissenschaft führen sollte.

In

solchem Zustande kann sie nicht Eingang in die allgemeine Bildung der Zeit haben. Und daß sse ihn nicht hat, das ist die allein schon für

unsere Frage entscheidende Thatsache, auf welche mich beziehend

ich das Einverständniß auch derer zu erwarten habe, welche meiner Ansicht von dem Wesen unserer Philosophie sonst nicht beistimmen möchten.

Bei uns ist die Philosophie nicht, wie

es seyn soll und bei den Griechen war, allgemein als Grund­

lage aller höheren wissenschaftlichen Bildung und damit über­ haupt aller höheren Bildung anerkannt und gepflegt.

Statt

daß sie bei den Griechen allgemeiner Gegenstand der höheren Bildung, die Spitze der Bildung, die wir gelehrte Bildung nennen würden, aber zugleich allen Gebildeten und sich Bil­

denden zugänglich, Gymnastik, ja Athletik deS Dmkvermögens war, ist sie bei uns ein Gegmstand für Wenige.

Selten werden

solche, die nicht auf einer Universität studirt haben, mit der Philosophie irgend vertraut seyn.

Verhaltnißmäßig sehr klein

scheint die Zahl derer zu seyn, welche über eine oberflächliche,

131 in Universitätsvorlesungen gemachte Bekanntschaft mit einem

System der Philosophie hinausgingen, durch tieferes Studium in das Innere, bis zu wahrer Erkenntniß zu dringen suchten,

durch eigenes Denken sich eine eigene Ansicht bildeten.

Die

große Mehrzahl läßt entweder die Philosophie ganz bei Seite liegen, oder sie macht sich doch damit nur so weit bekannt,

daß sie von keinem Einfluß auf das Ganze der geistigen Bil­

dung, am wenigsten Grundlage der ganzen und insonderheit der wissenschaftlichen Bildung seyn könnte.

Und wie die Phi­

losophie beschaffen ist, kann sie auch ihren Jüngern nicht zur Wurzel ihrer gesammten Bildung werden, nicht die Quelle

klarer Ansicht von dm höchsten Puncten der Erkenntniß, am

wenigsten eine Gewöhnung an Scharfe, Klarheit und vollen­

detere Durchbildung alles Leistens, was das Ziel aller Bildung ist.

Da nun ferner die Philosophie unserer Zeit einen überaus

großen Zeitaufwand und ein beträchtliches Denkvermögen erfo-

dert, um bis zu einem Puncte begriffen zu werden, wo sie erst anfängt, wirklich höhere Geistesbildung zu enthalten, und

da unterhalb dieses Punctes aller Nutzen des philosophischen Studium höchst zweifelhaft ist, so ist in der That nur die Wahl,

entweder die Philosophie ganz bei Seite liegen zu lassen, oder

durch

einen langen, unerquicklichen, dürren Weg, mit Auf­

opferung eines hohen Maßes von Kraft und Zeit nach einem

Ziele höchst zweifelhaften Gewinns zu streben.

Nicht mit Un­

recht wählt die Mehrzahl das Erstere, obschon das nicht die

rechte höhere Bildung ist, welche der Philosophie entbehren zu

können glaubt, so wie das nicht die rechte Philosophie, die sich nicht allen Gebildeten zugänglich und begehrenswerth machen kann.

Doch vielleicht ist es noch als ein Glück zu betrachtm, daß die Philosophie unserer Zeit keinen Einfluß auf die all­

gemeine Bildung gewinnen kann.

Und vielleicht hat die neueste 9*

132 Zeit, wenigstens in Deutschland, keinen erfreulicheren Fortschritt,

als wenn wirklich etwa dieft Philosophie nicht fortschreiten sollte. Fragen wir nun, was zu wünschen und was zu thun

sey, auf welchem Wege ein anderer Gang der Philosophie und

Begründung der Bildung in der Philosophie erreicht werden könne und solle, so ergiebt sich fürs erste aus dem Vorher­

gehenden, daß der an sich zu wünschenden und zum Ziel zu

setzenden allgemeineren Vorbereitung des philosophischen Stu­ dium und seinem Eingänge in die allgemeine Bildung eine

Umgestaltung der Wissenschaft voraus gehn muß, wobei die Frage dahingestellt bleiben kann , ob nicht Einsicht und Ver­

langen der übrigen gebildeten Welt beitragen könne, die Phi­

losophen zu einer anderen Richtung zu bestimmen.

Damit aber die Philosophie auf dm rechten Weg komme, ist das Nächste dieses, daß die Zeit ihre Philosophie richtig beurtheilen lerne.

Dazu ist wiederum erfoderlich, daß die Welt

auf eine andere Philosophie und

ein anderes Philosophiren,

außerhalb nicht nur der neuesten, sondem selbst der neuen Phi­ losophie geleitet werde.

Zum richtigen Urtheilen gehört vor­

nehmlich, daß der Urtheilende außerhalb des zu Beurtheilenden stebe.

Dieß ist die Stelle zum Stehn, die der Bewegende

außerhalb des zu bewegenden Gegenstandes

Stelle außerhalb ist durch eine

braucht.

Diese

wissenschaftliche Bildung zu

gewinnen, welche jenseits der jetzigen Philosophie liegt, nament­ lich durch die Vergleichung mit einer andern philosophischen Lehre.

Das Urtheil, das nur an Einer Lehre gebildet ist, bleibt ein­ seitig, und die Einseitigkeit ist um so mehr irre leitend, je mehr

die Lehre in einem das Ganze umschließendm streng gegliederten Systeme befangen ist.

Ferner lernen wir wohl ein einzelnes

neueres philosophisches System an einem anderen neueren phi­

losophischen Systeme prüfen.

Allein es bedarf nicht bloß der

Prüfung dieses oder jenes einzelnen Systemes, sondern der

t33 Untersuchung und Beurtheilung der heutigen, und nicht bloß

der neuesten, sondern auch der neueren Philosophie überhaupt. Damm ist zur größerm Freiheit des Standpunctes und Un­

befangenheit des Urtheils so weit möglich zurückzugehn, zunächst auf Kant, zuletzt bis zu den Griechen.

Die Erfahrung lehrt

hinreichend, daß die neuere Philosophie, wenn sie bloß in dem

einmal genommenen Gange bleibt, nicht leicht sich von der

Befangenheit in ihren Grundirrthümern wird lösen

können.

Sieht man auch, daß etwas fehle, so wird doch dieser Weg

für den rechten und nut noch Ein Schritt zum Gipfel für nöthig gehalten; und schon seit einer langen Reihe von Jahren und Systemen glaubt man so eben diesen letzten Schritt zu thun.

Wenn für ersprießlich betrachtet wird, daß die Philosophie

auf die Griechen MÜckgehn möchte, so ist damit nicht gemeint, daß bei der Lehre der Griechen stehn geblieben, die griechische

Philosophie als etwas Abgeschlossenes und Vollendetes

aus­

genommen und nach dem Buchstaben, den Sätzen, die wir dort finden, die Philosophie als beendigt betrachtet werden solle, sondern es soll, wie vor allem wissenschaftlichen Studium das philosophische es erheischt, die Philosophie immer neu sich bilden und gestalten, wobei, was die griechische Philosophie Vorzüg­

liches gehabt und geleistet hat, mitwirken soll.

Die ältere Phi­

losophie soll nicht das letzte Ziel seyn, aber eine wahre Philosophie kann nicht etwa auf der jetzigen fortgebaut werden, sondern sie ist nur dadurch zu gewinnen, daß die jetzige wieder weggelegt

wird.

Zum Alten ist zurückzukehren, well, wenn man auf dem

Abwege weiter geht, man sich nur weiter vom Ziele entfernt. Mit vielfachem Mißverständnisse wird in unserer Zeit so

häufig ausgesprochen, daß das Alte nie wieder zurückkehren

könne und es zurückzuführen vergebliches und irriges Streben sey.

Von

dem Geiste

und der Richtung des menschlichen

Strebens ist dieß in jedem Falle nicht zu sagen, nicht von dem

134 Wesen des Charakters der Zeiten.

Wäre dieß, so müßte, wenn

die Zeit in der Tugend zurückgebt, keine Hoffnung für die

Zukunft bleiben, da es nur Eine Tugend giebt, also der Ver­ lust der Tugend ein unwiederbringlicher wäre.

Nur von For­

men kann jener Satz gelten; doch auch hier wird nur nicht

gerade dasselbe, weil die Bedingungen fehlen, wohl aber oft der Charakter der Formen und vielleicht auch Aehnlichkeit der

Gestaltung wieder kommen.

Und noch ist jener Satz mehr nur

auf Einrichtungen des Lebens anzuwenden, auf Sitte und Gewöhnung und Formen des öffentlichen Lebens.

Wissenschaft

und Kunst, obgleich nicht ohne Abhängigkeit von Zeit und

Raum, soll doch das Streben nicht nach Zeit und Raum begren­

zen; hier soll keine andere Richtung seyn als auf daS Beste.

Darum kann und soll in Wissenschaft und Kunst auf das Alte zurückgegangen werden.

Die Antike

und die Malerei des

sechszehnten Jahrhunderts sind das höchste Studium ftr den

Jünger dieser Kunst, und die Richtung auf die klassische Welt

hat

feit einigen Jahrhunderten

über die Bildung

Europa-

entschieden. So sind Plato und Aristoteles nicht zu verabsäumende, reiche und herrliche Quellen für den, der Philosophie schöpfen

will; beide die wahre Grenze und Richtung des Philosophirens erkennend; Plato der philosophischen Darstellung mit dem tief­

sten Blick und der geistreichsten Bchandlung eine unerreichbare

Vollendung gebend, und die philosophische Lehre zu einem Kunst­

werke gestaltend, das um so weniger leer ist, je mehr es dem

Spiele gleicht; Aristoteles in unmdlicher Fülle und mit hoher Schärfe die Bedeutung der ersten Dinge und der Formen der

Erkenntniß ergründend.

Plato's Werke sind zu betrachten und

zu studiren nicht etwa bloß als eine geistreiche die Philosophie

betreffend Rede, sondern als in sich fassend tiefe philosophische

Lehre und Weisheit, als Meisterwerke der Philosophie. Aristoteles

135 ist nicht bloß vor allen andem geeignet, zur Ausbildung der

Schärfe

und Bestimmtheit und Richtigkeit

in

dem Denken

überhaupt und insonderheit in der Philosophie zu führen; er ist auch eine unerschöpflich reiche Quelle philosophischer Lehre,

und es ist großer Irrthum zu glauben, daß, was in ihm zu brauchen seyn möchte, in der neueren Philosophie verwendet,

ausgenommen und weiter ausgebildet worden, also abgethan und jetzt besonders zu studiren nicht mehr oder höchstens für den,

der das ganze Gebiet der Phildsophie ermessen will, der Mühe werth sey.

Zunächst aber ist für den Standpunct, welcher uns

auf sie geführt hat, der hohe Werth beider, daß sie sich weni­ ger von der Wahrheit entfernen als unsere Philosophie.

Des­

halb ist das Studium der Werke des Aristoteles und des Plato vorzüglich geeignet, die feste Stelle zu geben, von welcher aus

wir zu einem unbefangenen Urtheile über die neuere Philosophie gelangen können.

Keineswegs ist das Verhältniß dieser Philo­

sophie zu der unsrigen ein solches, daß diese nicht nöthig hätte, sich mit jener weiter zu beschäftigen.

Es ist so viel in den

Griechen, daß wir entweder sie Niederkämpfen, oder ihnen Gewalt

über uns einräumen müssen.

Ob die Philosophen sich ihres

Studium entbrechen können, ist nicht in Frage zu ziehn.

Aber

auch ein allgemeineres Studium des Plato und des Aristoteles wäre zu wünschen.

Freilich möchten des letzteren metaphysische

und logische Schriften aus mehreren Gründen und schon wegen

des Umfangs bei dem gegenwärtigen Stande unserer griechischen und philosophischen Studien Wenigen zugänglich seyn, und

wir wollen uns ja überall enthalten zu viel zu fodern, damit nicht nichts geschehe.

Ich scheue mich deshalb nicht, aus­

zusprechen, was vielleicht manchen wunderlich scheint, daß ein

Auszug aus Aristoteles, eine Zusammenstellung einer Ueber­ sicht seiner Philosophie mit seinen eigenen Worten nicht zu ver­ schmähen seyn möchte; und es ist zu behaupten, daß der Gebrauch

136 einer solchen Auswahl, als Ersatz des sonst ganz Unzugäng­ lichen, bei keinem Schriftsteller zweckmäßiger seyn möchte als

bei Aristoteles, so wie bei keinem unthunlicher als bei Plato.

12. Sittliche Bilduttg. Die Bildung zur Sittlichkeit ist eine zwiefache,

erstens

zur Wahrnehmung und Anerkennung des Sittlichen durch Ver­ stand und Gefühl, und zweitens zur Bestimmung des Willens

für das Sittliche.

Denn die Erkenntniß des Sittlichen und die Anerkennung des Rechtes des Vernunftgesetzes genügt nicht.

Es bedarf noch

besonders der Bestimmung zur Befolgung des Gesetzes.

Wenn wir auch das Prinzip der Tugmd gefunden und

aus diesem wieder, was gut oder böse sey, gezeigt habm,

wenn es uns auch fest steht, daß der Mensch soll, was das Gesetz vorschreibt, so bleibt doch noch der letzte Grund der

Bestimmung zur Beobachtung des Gesetzes übrig, der Gründ,

aus welchem der Mensch

nicht, obgleich die Foderung des

Sittengesetzes anerkennmd, dennoch lieber einem widerstrebenden

Triebe, dem Reize des Vortheils und der Lust folgen will. Wie vielleicht niemand so gut ist, daß er nicht zuweilen im einzelnen Falle sich entschlösse, dem Sittmgesetze nicht zu folgen, das er anerkannt hat, nicht bloß aus Schwäche des

Widerstandes der Vemunft gegen den Trieb, sondem weil ihm die Verpflichtung zur Befolgung der anerkannten Verpflichtung nicht deutlich genug ist; so ist auch vielleicht niemand so böse,

daß er durchaus nicht in der Erkenntniß und Anerkennung des

Sittmgesetzes eine Nöchigung zu seiner ^Befolgung fände, daß er sich entschlösse, das Sittengesetz überhaupt nicht zu hören,

136 einer solchen Auswahl, als Ersatz des sonst ganz Unzugäng­ lichen, bei keinem Schriftsteller zweckmäßiger seyn möchte als

bei Aristoteles, so wie bei keinem unthunlicher als bei Plato.

12. Sittliche Bilduttg. Die Bildung zur Sittlichkeit ist eine zwiefache,

erstens

zur Wahrnehmung und Anerkennung des Sittlichen durch Ver­ stand und Gefühl, und zweitens zur Bestimmung des Willens

für das Sittliche.

Denn die Erkenntniß des Sittlichen und die Anerkennung des Rechtes des Vernunftgesetzes genügt nicht.

Es bedarf noch

besonders der Bestimmung zur Befolgung des Gesetzes.

Wenn wir auch das Prinzip der Tugmd gefunden und

aus diesem wieder, was gut oder böse sey, gezeigt habm,

wenn es uns auch fest steht, daß der Mensch soll, was das Gesetz vorschreibt, so bleibt doch noch der letzte Grund der

Bestimmung zur Beobachtung des Gesetzes übrig, der Gründ,

aus welchem der Mensch

nicht, obgleich die Foderung des

Sittengesetzes anerkennmd, dennoch lieber einem widerstrebenden

Triebe, dem Reize des Vortheils und der Lust folgen will. Wie vielleicht niemand so gut ist, daß er nicht zuweilen im einzelnen Falle sich entschlösse, dem Sittmgesetze nicht zu folgen, das er anerkannt hat, nicht bloß aus Schwäche des

Widerstandes der Vemunft gegen den Trieb, sondem weil ihm die Verpflichtung zur Befolgung der anerkannten Verpflichtung nicht deutlich genug ist; so ist auch vielleicht niemand so böse,

daß er durchaus nicht in der Erkenntniß und Anerkennung des

Sittmgesetzes eine Nöchigung zu seiner ^Befolgung fände, daß er sich entschlösse, das Sittengesetz überhaupt nicht zu hören,

137 sondern böse seyn zu wollen.

Und den Meisten mag wohl in

der Anerkennung des Sittengesetzes auch die Anerkennung seiner

nöthigenden Gewalt, die Bestimmung zu seiner Befolgung zu liegen, Anerkennung der Pflicht und Anerkennung der un­ erläßlichen Nothwendigkeit der Erfüllung der Pflicht eins zu

seyn scheinen.

Allein es ist in der That nicht eins.

Es könnte

jemand anerkennen, daß er dieses soll, und er könnte dennoch nichts sehn oder nichts in sich haben, was ihn bestimmte, zu

thun was er soll; eben so wie man wohl die Nöthigung zur

Erfüllung der Rechtspflicht nicht in dieser selbst, sondern höch­ stens in der moralischen Pflicht, sonst auch nur in der äußeren

Nothwendigkeit sieht, wie es nur Wenige giebt, die nicht den

Abgaben an den Staat, wo sie es bequem können, sich entziehn, obgleich sie

ihre Verbindlichkeit dazu

nicht läugnen.

Wie nun der Mensch im einzelnen Falle sich des Gesetzes über­

heben zu können glaubt, so könnte er auch alles Gesetzes sich

überheben wollen.

Und wollte man auch diesen Fall bei Seite

liegen lassen, in der Voraussetzung, daß er nicht vorkomme, so ist doch darum nicht minder zu Erforschung des Grundes

der sittlichen Bildung und zur Begründung des Uttheils über die sittliche Bildung einer Zeit und über den zu erwartenden

weiteren Gang der Bildung zu untersuchen, was das sey, das überhaupt den Menschen zur Beobachtung des Gesetzes bestimmt,

sey es eines einzelnen oder alles Gesetzes. Die Bestimmung des Willens kann nicht ihren höchsten

Punct in einer Erkmntniß haben.

Das Höchste der Erkenntniß

vom Sittlichen ist dieses, daß es eine Foderung der Vernunft

sey, daß es seyn solle, und daß in der Erfüllung dessen was

seyn soll, in der Befolgung des Gesetzes die Vemünftigkeit liege.

Aber die Wahl zwischen der Vernünftigkeit und der Un-

vernünftigkeit bleibt zurück.

Ganz gleich wie mit der Bestimmung für das Sittliche

138 ist es mit der Bestimmung für das Schöne und für alles Gesetz, Es kann jemand, und es geschieht nur zu oft, das Eine für

das Schönere anerkennen und doch das Andere wählen, das

für ihn einen größeren Reiz hat. Das Vermögm, sich für die Beobachtung des Gesetzes

zu bestimmen, nach dem zu streben, was das Gesetz will, — sey es das Gesetz der Schönheit, oder der Sittlichkeit, oder

überhaupt irgend ein Gesetz, — ist nicht das Vermögen des

Willens oder Begehrms an sich, sondern ein Vermögen der Bestimmung des Willens und des Begehrens nach dem Gesetz. Es ist höher als das Willensvermögen.

Die Richtung auf die

Erfüllung des Gesetzes gehört zusammen, oder kann als gleich-

bedeutmd betrachtet werden, mit der Richtung auf die Anschlie­

ßung an eine höhere Ordnung, auf die Erstrebung der höheren Bestimmung des Menschen; es ist überhaupt die Richtung auf das Höhere.

Dieß ist das höhere Vermögm des Geistes, wek-

ches die höhere Natur des Menschen enthält.

Dieß ist das

Vermögen, welches das Gewissen als Trieb in sich hat.

Es

ist ein Vermögm, durch welches das geistige Leben des Men­ schen dem Weltgeiste angehört,

das Vermögen der Richtung

auf das Göttliche, der Religiosität wie der Sittlichkeit.

Es würde angemessen seyn, dieses Vermögen des Menschen, das Vermögen der Bestimmung der Richtung auf das Höhere

und namentlich auf das Gesetz, in Beziehung auf Sittlichkeit wie auf Schönheit, Vernunft zu nennen, die Vernunft also

durchaus auf den Willm zu beziehm, die Erkenntniß aber des

Gesetzes und alles Höheren dem Verstände, der Intelligenz zuzutheilen.

Will man aber, wie man thut, daS Vermögm

der Erkenntniß des Gesetzes ohne Rücksicht auf seine Befolgung,

Vernunft nennen, so könnte das Vermögen der Bestimmung

nach dem Vernunftgesetze werden.

Vernunft

der Bemnnft

genannt

139 Also ruht die eigene Bestimmung des Menschen zur Be­ folgung des Sittengesetzes in nichts Anderem, als in dem, was

wir als das Prinzip der Bildung erkannt haben, in der Rich­ tung auf das Höhere, auf die Erfüllung der höheren, der

wahren Bestimmung des Menschen, welche Richtung nicht bloß als Grundlage der Bildung und der Sittlichkeit, sondern auch als das Wesen der Bildung und der Sittlichkeit betrachtet werden

kann.

Das Wesen der Sittlichkeit ist, daß der Mensch strebe,

Handlung, Wille, Gesinnung in Einklang mit dem Sitten­ gesetz zu bringen, wie das Wesen der Bildung überhaupt ist,

daß der Mensch strebe, seine Bestimmung und immer seine

höchste Bestimmung zu erfüllen, daß er nach dem Höheren strebe.

Und wie überhaupt der Bildung Höchstes ist, daß das Stre­

ben nach dem Höheren Trieb sey, so ist auch das Höchste der Sittlichkeit, daß das Gesetz aus Trieb, nicht bloß aus An­ erkennung befolgt werde. So hat nun Sittlichkeit und Bildung überhaupt nur ein gemeinschaftliches Wesen in der Richtung auf Erfüllung der Bestimmung, in der Richtung auf das Höhere überhaupt und

auf das Sittengesetz insonderheit.

Betrachten wir das Ver­

hältniß zwischen Sittlichkeit und Bildung, so ist das Nächste, daß uns die Sittlichkeit als in der Bildung, dem Allgemeine­

ren, enthalten erscheint.

Man kann aber auch alle Richtung

auf das Höhere Sittlichkeit nennen, und in diesem Sinne ist

wiederum die Sittlichkeit die Gmndlage und das Wesen der Bildung selbst.

Denn in der Erfüllung seiner Bestimmung, in

der Erreichung des Höchsten, das erreichbar ist, in seiner Bil­ dung sieht der Sittliche und der Gebildete seine Aufgabe und

sein Gesetz, und die Lösung seiner Aufgabe und die Erfüllung

seines Gesetzes ist ihm Pflicht.

Sittlichkeit also ist dir Spitze der Bildung, das Aiel und das Höchste der Bildung und die Grundlage aller Bildung.

140 DaS ist die Hoheit der Sittlichkeit, daß sie Grundlage der Bildung, daß in ihr die wahre Wurzel der Bildung ist.

Das

ist chr höchstes Recht, daß in der Lehre von der sittlichen Bil­ dung vorzugsweise zu zeigen ist, wie der Geist dazu komme, sich zur Richtung auf das Höhere, zur Bildung zu bestimmen..

Bei diesem Verhältnisse nun zwischen Sittlichkeit und aller Bildung ist auch die Erstrebung der Sittlichkeit und der Bil­ dung überhaupt eine gemeinsame.

Es ist dieselbe Richtung und

dasselbe Streben, deshalb ist Ausbildung der einen Seite zu­ gleich Ausbildung der andern.

Die Gewöhnung zur Richtung

auf das Höhere, auf das höhere Leben, ist Gewöhnung zur Richtung eben so wohl auf das Schöne und auf das reine

Interesse an der Thätigkeit des Geistes und namentlich der Wissenschaft, als auch auf die Sittlichkeit.

Daher ist die Aus­

bildung jenes Vermögens der Bestimmung für das Höhere die gemeinsame Grundlage aller Bildung überhaupt und der Sitt­

lichkeit insbesondere, und da jede Art wahrer Bildung Aus­ bildung jenes Vermögens ist, so ist sie Ausbildung der Grund­

lage der Sittlichkeit. Das Gewissen selbst ist nichts anderes als der auf Errei­

chung des Guten, des Rechten überhaupt, auf Reinigung, Veredelung und Vervollkommnung alles Thuns und alles Seyns

gerichtete Trieb, und wir brauchen das Wort GewissenhaftiAkeit selbst nicht einmal auf das Sittliche zu beschranken, weil

jede Art der Vervollkommnung und der Vollkommenheit doch Pflicht ist.

Die Strenge aber ist die gemeinschaftliche Spitze,

die gemeinschafüiche Kraft des Bildungsstrebens und der Gewissen­

haftigkeit. Also ist das Bildungsstreben und die Strmge, welche der Mensch durch das Bildungsstreben sich aneignet, welche

allein der Bildung Gediegenheit giebt, zugleich als Gewissen­

haftigkeit der Grund aller Tugend, oder das Wesen der Tugend, wenn wir sie nicht vorzugsweise die Tugmd nmnen wollen.

141 Folglich ist die Befestigung der Strenge in aller Bildung über­ haupt zugleich Bildung zur Sittlichkeit.

Dieß wird besonders klar, wenn wir als die höchste Auf­ gabe aller Bildung das Erheben des Menschen über seine In­ dividualität, das Erheben zur Aufopferung seines Seyns und

Lebens an das Leben der Außenwelt und an das Gesetz in das Auge fassen und die Natur der einzelnen Tugenden betrachten,

welche alle in dem Triebe zu Erfüllung des Gesetzes und, so viel das Verhältniß zur Außenwelt betrifft, in der Aneignung

des fremden Interesse als des eignen beruht.

So ist die höchste

der Tugenden, die Liebe, so ist die Uneigennützigkeit, die Wohl-

thatigkeit, die Gerechtigkeit, die Milde, die Demuth. Aller Bildung und allem Bildungsstreben, zur Schön­

heit und zur Wissenschaft wie zur Sittlichkeit sind alle Züge des Charakters gemeinschaftlich, der Ernst, die Strenge, die

Tiefe, die Gewöhnung an den Vorzug des höherm Interesse

vor dem niederen, die Selbstverleugnung, so wie in der Bil­ dung und dem Bildungsstreben überhaupt die Ehre, die Würde, der Adel, die Tugend des Menschen liegt.

Am meisten ist der Zusammmhang zwischen der Bildung

für die Schönheit und der Bildung zur Sittlichkeit in der Aus­

bildung jenes Vermögens zur Bestimmung für daö Höhere klar.

Richt nur nimmt die Spitze jeder Tugend den Charakter der

Schönheit an, sondern alle Tugend und überhaupt die Tugend erscheint selbst als Schönheit.

Tugend.

Die Schönheit ist das Ziel der

Und die Gewöhnung des Geistes an die Richtung

auf das Schöne ist Gewöhnung an die Richtung auf das Höhere

überhaupt, Gewöhnung an Streben nach dem Edlen, also an Sittlichkeit des Willens.

Auch der Schönheitssinn ist ein dop­

pelter und die Bildung für die Schönheit eine zwiefache, theils das Schöne zu empfinden und zu verstehn, theils nach dem

142 Schönen zu streben, es als das Höhere allem anderen, jedem

Reize und jedem Interesse vorzuziehn.

Ferner ist

aber wiederum die Bildung zur Sittlichkeit

nicht bloß Bildung des Willens; sie begreift auch die Erkennt­

niß des Sittlichen.

So ist die sittliche Bildung von der in­

tellektuellen nicht geschieden, und in der intellectuellen Bildung ist Gedanke und Gefühl nicht auseinander liegend.

Denn das

Finden des Sittlichen geschieht gemeinschaftlich durch Gedanke und Gefühl.

Allerdings ist nicht ein durchgängig gleichmäßiges Ver­

hältniß beider Seiten der sittlichen Bildung.

Es kann die eine

Seite mehr als die andere, mithin so weit ohne die andere,

ausgebildet oder vernachlässigt seyn.

Der in der Erkenntniß

des Sittlichen wie überhaupt zum Urtheilen feiner gebildete

Geist kann weniger fest in dem sittlichen Willen seyn.

Und

da so häufig schärfere Erkenntniß fehlt, so ist es erfreulich, daß

die Sittlichkeit nicht durchaus von der intellectuellen Bildung abhängt, daß der rechte Wille mit dem den rechten Willen gern

begleitenden richtigen Gefühle, durch einen Jnstinct, leicht das

Rechte finden kann.

Allein nichts desto weniger erheischt die

höhere sittliche Bildung Md die Sicherheit der Sittlichkeit Ver­ einigung der klaren Erkenntniß und zarten Gefühles für die

Sittlichkeit mit dem sittlichen Willen.

Wie nun in Hinsicht auf die Richtung des Willens, eben so wird auch in Hinsicht auf die Erkenntniß des Rechten die

BlldMg zur Sittlichkeit mit der allgemeinen Bildung gemein­ sam vollbracht.

Dieß scheint in so weit nicht der Erwähnung

zu bedürfen, als daS Erkenntnißvermögen im Menschen nur eines ist.

Doch haben wir uns dabei der besonderen Natur

der sittlichen Erkenntniß zu erinnern, welche gleich der Erkennt­ niß

oder Wahrnehmung

des

Schönen,

der aufmerksamsten

Beobachtung und der feinsten Unterjcheidung bedarf, woraus

143 sich wieder die Bedeutung der Schärfe des Denkens als über­ haupt der wesentlichen Grundlage aller Bildung ergiebt.

Es

ist klar, daß die Bildung zur Schärfe des Erkenntnißvermögens die Feinheit und Zartheit des Gedankens und des Gefühles ausbildet, wodurch das Sittllche,

wird.

wie alles Rechte gefunden

Insbesondere ist hier das Verhältniß zwischen dem Ge­

fühle und dem Gedanken, in Hinsicht auf die Sittlichkeit wie

auf die Schönheit zu erwähnen.

Gedanke und Gefühl sind im

Sittlichen unzertrennlich und auf keine Weise gegen einander

abzugrenzen.

Die Läuterung des Gefühls ist Erkenntniß, und

gewiß wird das Vermögen der Erkenntniß im Sittlichen durch daS Gefühl erhöht.

Gefühl hat zwei Bedeutungen, deren keine von unserer

Betrachtung ausgeschlossen ist.

Zunächst liegt uns, was man

auch Tact nennen mag oder Geschmack, ein Urtheil, das nicht

auf deutlichem Denken, nicht auf klarem Bewußtseyn der Gründe

ruht, sey es, daß es gar nicht auf Erkenntniß aus Gründen zurückgeführt werden könne, oder daß es nur jetzt nicht daraus hervorgegangen sey; wie wir oft urtheilen ohne uns vor der

Hand den Grund angeben zu können, nicht bloß wo rein der

Geschmack entscheidet, sondern auch wo wir Gründe haben kön­

nen, und in der Sittlichkeit wie in der Kunst läuft Urtheil

des Geschmacks und aus Gründen meistens in einander.

Daß

nun diese Art des Gefühles immer zur Erkenntniß gehört, ist nicht zweifelhaft.

Aber auch jene Gefühle, welche einem eigen­

thümlichen Seelenvermögen gehören, jene Gefühle, welche das

Gemüth ausmachen, sind keineswegs ohne Zusammenhang mit der Erkenntniß.

Sie ruhen nicht bloß auf Vorstellungen, son­

dern auch auf Urtheilen; und nicht nur wird dieses Gefühl

durch die Erkenntniß gebildet, sondern theils geht es dem Ur­ theile ost voraus, weil daS Gemüth eine noch lebhaftere und leichtere oder eine eigenthümliche Bewegung hat, theils wird

144 die Seele durch das Fühlen des Gemüths zum urtheilenden Gefühl erregt.

Und so wird auch das Gefühl im letztem Sinne,

das Gefühl des Gemüths, Quelle oder Führer der sittlichen

Erkenntniß. Also auch Bildung des Gemüthes, Bildung zu Wärme

und Lebhaftigkeit des Gefühls ist durch die Bildung des Geistes überhaupt, in der Erkenntniß wie in der Gewöhnung zur Rich­ tung auf das Höhere zu suchen.

Der Bildung des Gemüthes

ist keine besondere Stelle anzuweisen.

Sie wird mit der Bil­

dung zur Sittlichkeit, zum Zartgefühl, zur Scharfe des Auf­

fassens und Unterscheidens, mit der Ausbildung deS Schön­

heitssinnes vollbracht.

Außer dem Leben selbst giebt es keine

andere Bildung als diese zur Erregbarkeit des Gefühls, die

wir Gemüth nennen. Wiederum tritt bei dem Verhältnisse der Ausbildung des

Erkenntnißvermögens überhaupt zu der Ausbildung des Ver­ mögens, das Sittliche durch Denken und Fühlen zu finden, vornehmlich das Gemeinsame der Bildung zum Schönen und zum Sittlichen hervor.

Das Sittliche und das Schöne ver­

hält sich wie zwei Sprachen.

Wer seinen Ausdruck in der

einen Sprache reinigt und veredelt, dessen Rede wird auch in der andem Sprache reiner und edler.

In Beziehung auf das

Sittliche und auf das Schöne ist mehr als anderwärts Gefühl

und Urtheil, Gemüth und Erkenntnißvermögen in unzertrenn­ lichem Verein.

Die Feinheit des Tactes, welche zum Finden

des Sittlichen erfodert wird, ist nur noch dem Schönheitssinne in gleicher Weise eigen. Die Werke des Geschmacks haben gleiche Regel und gleichen Charakter wie die Sittlichkeit: das Maß,

die Feinheit, die Zartheit, die Besonnenheit, den Anstand, die Ausglättung, die Veredelung.

Folglich ist die Bildung des

Sinnes für die Schönheit zugleich Bildung zur Sitüichkeit,

in der Richtung auf beides, in der Erwärmung für beides,



145



in zartsinnigem Verständniß, welches für beides zugleich aus­ gebildet wird. In diesem Zusammenhang« der Ausbildung des Schön­

heitssinnes und des Geschmacks mit der sittlichen Bildung, sowohl was das Streben als was die Erkenntniß betrifft, liegt nun der hohe Werth der Kunst für die Sittlichkeit.

Freilich

eine Kunst, welche sich von der Schönheit, von der Klassizität, von der Strenge entfernt, kann nicht Sittlichkeit erzeugen.

Ihre Frivolität wird vielmehr in die sittliche Richtung verder­ bend übergehn.

Eine Kunst, welche dem Vergnügen in dem

gewöhnlichen Sinne und gemeiner Unterhaltung und Ergötzung

dient, kann nicht zur Sittlichkeit führen, wie sie aber auch nicht

zur Schönheit führt.

Beimischung sittlicher Ansicht, wohl gar

sittlicher Lehren in Kunstwerke ist der Kunst fremd und ihrer

so wenig als der Sittlichkeit würdig. Aus diesem Zusammenhänge der Sittlichkeit mit der Schön­ heit und der Kunst folgt nun auch, daß die ästhetische Bildung

keinem Stande zu verschließen ist.

klar,

daß

Es ist wohl durch sich selbst

hiermit nicht nur nicht etwa das Lesen unserer

gewöhnlichen Romane, sondern auch nicht das Hinaufschrauben

derer, welche nur eine sehr beschränkte Bildung empfangen können, zu solchen Dingen empfohlen werden soll, wo sie weder

die rechte Wahl treffen, noch, wenn sie sie getroffen hätten, doch das Bildende aufzunehmen vermögen würden.

Es ist aber

zu erinnern, daß ästhetische Bildung überall liegt, in allem

Seyn und Thun, daß sie mit Sauberkeit und Nettigkeit und

Zierlichkeit alles Gestaltens anfängt, daß sie an alle Ausbildung der Rede und zu Unterst der Aussprache sich anschließt, daß

allezeit mit Richtigkeit, Genauigkeit und Schärfe des Ausdrucks

Wahl und Geschmack sich verbindet.

Wahl und Geschmack sollte

nirgends fehlen und bei allem berücksichtigt werden, was vor

die Seelen der Zöglinge gebracht wird.

Darin freilich könnte

10

146 leicht gefehlt werden, wenn man ohne die feinste Unterscheidung,

ohne die Gabe den Geschmack überall anzuwenden, nach Gegen­ ständen ästhetischer Bildung suchen wollte; und es könnte leicht zu Mißverständniß und zu Mißgriffen Anlaß geben, wenn die Berücksichtigung ästhetischer Blldung bei der Erziehung allgemein

Allein nichts desto weniger bleibt

vorgeschrieben werden sollte.

es gewiß, daß in richtigem Sinne ästhetische Bildung ein we­

sentlicher Bestandtheil aller Bildung und insonderheit der sitt­ lichen ist.

Fassen wir nun in das Auge, worauf nach dem Vor­ stehenden die Bildung zur Sittlichkeit beruht, und betrachten

wir aus diesem Gesichtspuncte die Art und das Streben unserer

Zeit, so finden wir, daß unsere Zeit die Elemente der sittlichen Bildung nicht fördert noch in sich trägt, sondern zu zerstören

im Begriff und sogar beflissen ist, daß sie einen Charakter an­ genommen

hat,

welcher nur immer tieferes Verderben der

Zukunft vorzubereiten droht.

Hier kann der Stand unserer

sittlichen Bildung nicht vollständig betrachtet werden, sondern

nur in entscheidenden Puncten, und in denen vorzüglich unsere

Zeit ihre Eigenthümlichkeit und ihre Neigung hat und ihre

Zukunft verkündet.

Zm Einzelnen ist sittliche Bildung schwer

aufzufassen, zu beschreiben und zu beurtheilen.

Hier muß doch

jeder selbst gesehn und gefühlt haben; Beweis läßt sich dem Läugnenden nicht geben,

da

einzelne Züge nicht der ganze

Charakter sind und selbst der einzelne Zug einer Zeit die All­

gemeinheit bezeichnen soll; und der wahre innere Werth oder

Unwerth entspricht oft so wenig der äußeren Erscheinung.

Die

Züge, die ich erwähnen werde, kann ich als allgemein an­ erkannt und beklagt voraussetzen; nur das Ergebniß in Bezie­

hung auf das Ganze der sittlichen Bildung unserer Zeit und auf die Erwartungen für die Zukunft habe ich zu verantworten.

Unsere Zeit ermangelt der Richtung auf das Höhere, worin

147 doch die Tugend liegt.

Sie richtet ihr Streben auf das äußere

Leben, auf die materiellen Interessen, wie fle eS nennt, auf das Nützliche und die Bildung für das Nützliche, worunter

sie den Nutzen für das äußere Leben versteht, und diese Rich­ tung in der Erziehung halt sie sogar für ihren Fortschritt.

An die Richtung auf Erstrebung dessen, was man für Bedürfniß

hält, knüpft sich, bei immer weiterer Ausdehnung der Vor­

stellung von dem Bedürfnisse, das Verlangen und Trachten nach solchem, was nur Luxus und Tand ist, nach Eitlem,

Leerem, nach gemeinem Vergnügen und Genuß.

Indem diese

Richtung von dem Streben nach der höheren Bestimmung, nach dem reineren Interesse des Geistes abzieht, zerstört sie mit

dem Streben nach dem Höheren die erste Gmndlage der Sitt­ lichkeit, das Wesen der Sittlichkeit.

Unserer Zeit fehlt die Strenge in der Richtung auf die

Bildung, welche in dem Sittlichen die Gewissenhaftigkeit ist.

Ihr fehlt der Emst.

In ihrem Leichtsinn der Abwendung von

dem Höheren, in der Frivolität ihres Trachtens, in der Ent­ wöhnung von Schärfe des Denkens, von Reinheit des Ge­ schmacks, von Klassizität kann sie nicht zu Emst und Strenge

kommen. Durch Abwendung von dem Edlen in der Kunst entzieht sie sich der Richtung auf das Edle im Leben, auf die Sitt­

lichkeit.

Indem sie die Kunst nicht auf die Schönheit richtet,

verliert sie das trefflichste Mittel der Erregung des Triebes zu

aller Schönheit, welche auch der Tugend Gipfel ist.

Ohne

Schärfe des Urtheils, ohne Strenge kann sie die Zartheit deS Sinnes und Gefühls nicht ausbilden, durch welche wir das Sittliche finden.

Die Zeit, welche alles Alte und Bestehende geringschatzt und wegwerfen möchte, welche die hastige Umgestaltung des

Bestehenden zu ihrem Geschäfte macht, wirft mit der Achtung

10*

148 für das Bestehende und das Alte zugleich den Sinn für Ach­ Unsere Zeit ist arm am

tung, für Ehrfurcht überhaupt ab.

Gefühl der Achtung, sie kennt kaum mehr das Gefühl der Ehrfurcht.

Das Gefühl der Achtung aber ist die Wurzel alles

taffen, was die Vernunft als Pflicht gegen Andere gebietet,

die Wurzel des Gefühls für Andere.

Ohne das Gefühl der

Achtung ist der Sinn für reinere Liebe nicht auszubilden, in welcher die höchste Schönheit der Sittlichkeit ist.

In dem Ge­

fühle der Ehrfurcht, das unserer Zeit mangelt, ist nicht bloß der Adel des Sinnes in Beziehung auf das Verhältniß mit

den Menschen enthalten.

Die Ehrfurcht für den Menschen

kann nicht weggetilgt werden, ohne daß die Ehrfurcht für ehr­ würdige Verhältnisse, für das Gesetz, auch das der Vernunft, und für das Göttliche verloren ginge.

Aus der Ehrfurcht deS

Kindes für dm Vater entwickelt sich seine Ehrfurcht für das

Ehrwürdige, für das Gebot, für die Pflicht, für das Recht und für Gott.

Es ist Gewinn, worin unsere Zeit eine Eigenthümlichkeit hat und ein Verdienst sucht, wenn den Mmschen der unan­

gemessene Nimbus der Verhältnisse abgestreift wird, welcher den wahren Werth der Dinge zu sehn verhindert.

Allein es ist der

größte Verlust, wenn ohne Grenze den Verhältnissen die Ach­ tung entzogen wird, möge nun die Ursache in dem Unwerthe

derer, von welchen die Verhältnisse zu vertreten sind, oder in

dem Leichtsinne der andern liegen.

Nicht bloß der Werth der

Menschen, sondern auch die Bedeutsamkeit ihres Wirkens und ihrer Bestimmung für das Leben des Staates und des Volkes

erheischt Ehrfurcht.

Und nie geht Ehrfurcht und Achtung bloß

für den einzelnen Gegenstand verloren, der sie fodert, sondern es ist stets zugleich Verlust an der Fähigkeit für Ehrfurcht und

Achtung.

An Ehrfurcht und Achtung knüpft sich die Scheu, welche

149 nicht bloß

bei der Jugend und überhaupt so weit die Ver-

nünftigkeit nicht ausgebildet ist, die Stelle der Gewissenhaftig­

keit ersetzen mi'ß, sondern auch selbst der Kern ist, aus dem die Gewissenhaftigkeit erwachsen muß.

Die Scheu vor dem Denn beides hat

Ehrwürdigen wird zur Gewissenhaftigkeit.

einen gemeinschaftlichen Charakter, das Streben dem zu genü­

gen was gefodert wird, was seyn soll.

Die rechte Gesetzgebung

für das Soll liegt in dem Gewissen.

Da dieses aber Ausbil­

dung, der Vernunft, des eignen Urtheils erfodert, so muß bei

Kindern, und nicht bloß bei ihnen, die Scheu vor andern das Gewissen, das fremde Urtheil die Stelle des eignen vertreten.

Bei Kindern, welche für die Vernunftgründe nicht empfänglich sind, kömmt es nur darauf an, daß sie das Soll erkennen

und anerkennen; was sie aber sollen, liegt für sie nicht in ihrer

Vemunft, sondem in dem fremden Gebote.

Es ist aber all­

gemeine Bemerkung, daß unserer Jugend das Gefühl der Hoch­ achtung, der Ehrfurcht und der Scheu so wie der Gehorsam mangelt, also die Wurzel der Erziehung zur Sittlichkeit.

Nicht bloß der Jugend fehlt der Gehorsam in unserer Zeit. Und der Gehorsam ist nicht bloß als Befolgung menschlichen Gebotes zu fassen, sondem sein Wesen fällt zusammen mit der

Gewöhnung an die Unterwerfung unter das, was seyn soll, überhaupt.

Der Gehorsam bildet ferner zur Bescheidenheit und

zur Demuth, wie er aus Bescheidenheit und Demuth fließt, welche wiedemm Quelle der Tugendhaftigkeit ist, die vorzüg­

lichste Wurzel

Erscheinung

reineren

sittlichen Sinnes,

die unmittelbarste

der Selbstverläugnung, der Echebung über die

Individualität.

Ueber bett Mangel unserer Zeit an Demuth aber

ist kaum die Zeit selbst zweifelhaft; sie will nicht demüthig seyn. Unsere Zeit schleift gewiß manche Untugend ab, insbeson­

dere die als roher, als barbarisch sich darstellt.

Vielleicht wäre

mancher Zweifel gegen dieses Verdienst unserer Zeit zu erheben.

150 Es wäre zu bemerken, daß die Abstreifung der Rohheit früherer Jahrhunderte doch nicht das Werk unserer Zeit, sondern das

des achtzehnten Jahrhunderts ist, dessen hohem Werthe nicht

Gerechtigkeit widerfahren zu lassen unserer Zeit Vorwurf ist. Man könnte auch sogar an dem Ruhme unserer Zeit weniger

barbarisch zu seyn, zweifelhaft werden, wenn man etwa auf den jetzigen Kampf in Spanien blickt.

Doch wir wollen Ver-

dienst unserer Zeit in diesem Puncte voraussetzen, und nur

durch zwei Bemerkungen den wahren Werth dieses Verdienstes klar zu machen suchen.

Fürs erste, wie hoch immer der Gewinn

von der Abschleifung der Rohheit angeschlagen werden möge, und obwohl die Rohheit immer das roheste bleibt, so hat man sich doch bei dem Vergleiche verschiedenartiger Untugenden sehr

vor Irrthum zu hüten, wenn rohere Untugend abgeschliffmer Sündhaftigkeit entgegensteht.

In dem Urtheile über Sittlich,

feit und Unsittlichkeit lassen wir uns gar zu sehr tauschen, das für bedeutender zu halten, was

mehr in die Augen springt,

als anderes, was mehr das Wesen von Gut oder Böse in sich hält.

Zweitens ist die Tugend nicht bloß etwas Vernei-

nendes, nicht bloß nicht vorhandene Untugend, gleichwie die

Schönheit nicht bloß Verneinung der Häßlichkeit ist.

Tugend­

haft ist nicht, was nicht böse, sondem was gut ist.

Die Tu­

gend ist eine Trefflichkeit, eine Schönheit des Charakters, ein

Werk der Richtung

auf das Höhere, der Anschließung des

WillmS an die höhere Ordnung und das Gesetz, der Ueber­

windung der Individualität, was in strengerem Sinne vor­ zugsweise die Tugendhaftigkeit jist, woraus das Wesm jeder einzelnen Tugend fließt, der Gewissenhaftigkeit, des Zartsinns,

der Wahrhaftigkeit, der Redlichkeit, der Offenheit, der Festig­ keit, der Selbstachtung, der Achtung des Andern, der Gerech.

tigkeit, der Güte, der Müde, der Liebe.

Diese positive Tugend

ist das Höhere der Sittlichkeit, höher als das, was bloß nicht

151 Untugmd, nicht Unsittlichkeit und oft nur Abschleifung des

Betragens und Gewohnheit, mehr von außen angenommene

Gewohnheit ist, nicht, wie die wahre Tugend, dem inneren, eigenen Wesen entquillt.

Nun springt es allerdings mehr in

die Augen, mit einer Untugend behaftet zu seyn, als eine

Tugend oder vielmehr als Tugend zu haben, und Untugmden

zu meiden scheint dringender und über Sittlichkeit oder Unsitt­ lichkeit entscheidender zu seyn als sich zu Tugenden zu gewöhnen.

Allein dieß letztere ist Täuschung.

Wollte man Reinheit von

Untugendm und Besitz von Tugenden vergleichen, so könnte man ja nach jener Stufenfolge auch entgegnen, so gut wie man sagen könne, daß der Unwerth dessen größer sey, der

Untugend an sich trage als dessen, der nicht Tugend habe, so gut könne man auch sagen, daß der Werth dessen der größere sey, der Tugend habe, als dessen, der bloß nicht mit Untu­

gmd behaftet sey.

Allein vielmehr ist beides nicht gegen ein­

ander zu vergleichen.

Las rechte Uttheil über die Sittlichkeit

eines Menschen oder einer Zeit ist nicht aus der Abzählung

und Abwägung von Tugendm und Untugmden zu nehmen. Die Sittllchkeit liegt nur in Einem, in der Einen Tugend, dem sittlichen Sinne, der Richtung aus das Sittliche und Edle,

der Kraft und Zartheit in der Sittlichkeit, dem sittlichen Triebe.

Diese Tugend zu besitzen oder zu entbehren ist Sittlichkeit oder Unsittlichkeit.

Die Tugmdm und die Untugenden kommen in

das Urtheil über die Sittlichkeit nur als Merkmale des Daseyns

oder Mangels jener Einen Tugend.

Also was hier hat erinnert

werden sollen, ist dieses, daß man sich bei Vergleichung der Sittlichkeit verschiedener Zeiten gegen Täuschung aus der Ab­

schleifung von Untugmden, namentlich roherer Sitte, zu wahren und nicht aus dm Augen zu laffm hat, daß über den sittlichen

Werth nur jene eine Tugmd entscheidet. Eine eigenthümliche und die am meisten hervorragende

152 Seite der Sittlichkeit unserer Zeit ist noch besonders zu betrachten. Es ist mit Freudigkeit unserer Zeit nachzurühmen, daß sie von lebhaftem Streben nach dem Rechte erfüllt ist, daß sie nicht

nur in einer dem Rechte angemesseneren Gestaltung der Ver­ hältnisse, sondern auch in dem allgemeinen Verlangen nach dem

Rechte gewaltig fortgeschritten ist und, wie wir hoffen dürfen, fortschreitet.

Vielleicht sollten wir hier, wo wir diese Erschei­

nung als sittlichen Zug betrachten, zu unterscheiden suchen, wie weit dieses Streben nach dem Rechte darauf ausgehe, daß dm Andern ihr Recht zu Theil werde, oder wie viel jeder in dem

allgemeinen Rechte, in der Rechtsverfassung oder dem Prin­ zipe, wonach er verlangt, vielleicht ihm selbst unbewußt, nur sein Recht oder sein Interesse suche, um zu geschweigen, daß

mancher in der Aufhebung der Bevorzugung des Andern wohl

nicht so sehr die Ausgleichung des Rechtes, sondern die Begrün­ dung eigener Bevorzugung suchen möchte.

Sittlichen Werth

kann freilich das Sweben nach Gleichmachung des Rechtes nicht

haben, deren Absicht nicht auf die Gelangung aller zu ihrem

Rechte, sondern auf die Gelangung des Strebenden zu seinem

Rechte, wo nicht zu einem Vortheil, gerichtet ist.

Doch wir

wollen bei Seite liegen lassen, was hieran unrein seyn könnte,

und wir wollen uns der Erscheinung eines achten Sinnes für das Recht erfreuen, die doch wohl nach Ausscheidung

Schlacken zurückbleiben möchte.

der

Allein es ist doch der wahre

Werth des erhöhten Rechtssinnes unserer Zeit näher zu betrachten. Fürs erste wird wohl nicht leicht von jemand angenommm wer­

den, unsere Zeit zeichne sich darin aus, daß jeder dem andern sein Recht geben, niemanden bevortheilen wolle.

Was man

von unserer Zeit als Rechtssinn rühmen mag, ist das Begeh­ ren nach einem angemessenen Rechtszustande, in öffentlichen

und bürgerlichen Verhältnissen.

Die Tugend des Rechtssinnes

aber liegt in der Gewissenhaftigkeit, in der strengen Wachsam-

153 feit über dem eignen Thun, Wollen und Urtheilen.

Nicht das

ist die rechte Tugend, zu begehren, daß das Recht geschehe,

sondern das, vor dem eigenen Unrecht Schau zu tragen.

zeigt sich von neuem Zweideutigkeit des Charakters

So

unseres

Was aber auch immer als ächter Rechtssinn

Rechtssinnes.

gerühmt werden möchte, bedarf noch weiterer Prüfung.

Der

Rechtssinn vor andern Tugenden erheischt Zartheit und Inner­

lichkeit und Trieb, damit er wahren Werth habe.

Alle Tugend,

welche weniger aus dem Innersten des Herzens als aus einer

Gewöhnung der Vorstellung hervorgeht, welche nicht zum Triebe geworden ist, welche mehr dem Buchstaben der Pflicht als dem

Geiste des Gewissens folgt, hat leicht eine eigenthümliche Härte

und Starrheit.

Am meisten findet sich nun an dem Rechtssinn

solche Härte und Starrheit, so wie die Beschränkung auf den Buchstaben.

Es ist dem Rechte eigenthümlich, an den Buch­

staben gewiesen zu seyn.

Daher geschieht es leicht, daß auch

der rechtliche Wille mehr den Charakter buchstäblicher Befolgung

des Gesetzes, nach einem Gefühle der Nothwendigkeit oder einer

Gewöhnung, als den Geist freier Bestimmung nach innerem Triebe annimmt.

Es geschieht leicht, daß der Rechtssinn nur

aus Anerkennung der Macht des Rechtes, mehr als einer äu­ ßeren Macht, verlangt, daß das Recht geschehe, nicht weil ihn

seine Seele triebe zu begehren, daß immer das Rechte geschehe.

An den Buchstaben der Pflicht gewöhnt ermangelt der Rechts­ sinn leicht der Beweglichkeit des Sinnes und der Feinheit des

Tactes für die zahllosen und durch keinen Buchstaben unter

ein Gesetz zu bringenden Collisionen der Bestimmungen des Willens und Begehrens.

Es ist nicht einmal wahr, daß das

Recht das höchste Gesetz und unbedingt zu befolgen sey.

Jeder

würde sich dazu verstehn, so fern er es könnte, das Recht zu

beugen, wenn daraus dem Berechtigten ein höchst unbedeutender oder kein Nachthell, anderen aber ein hoher Vortheil erwüchse.

154 Und da des Rechtes Wesen ist hart zu seyn, und da nament­ lich bei der Richtung Unserer Zeit das Ziel des Rechtssinnes ist den Besitz zu entsetzen, so kann leicht der Rechtssinn ein

Hinderniß seyn, daß nicht gleichmäßig Weichheit, Güte, Milde

und Liebe und die Demuth sich ausbilden.

Wir sehn oft die

Menschen an dem Buchstaben des Rechtes in solcher Weise hängen, daß wir kein Zutrauen zu ihrer Empfänglichkeit für

den Geist und die Schönheit aller Tugend fassen können.

Sich

selbst scheinen sie mit dem Gesetz durch Erfüllung des Buch­ stabens absinden zu wollen, und in ihren Urtheilen über andere ist es, als ob sie gern einen lieblosen, harten Sinn durch will­

kommene Gelegenheit der Anwendung eines verdammenden Ge­ setzes befriedigten.

So ist es nicht unbedenklich, wenn eine

Zeit vorzugsweise an das Recht sich hängt, das man wieder

den Buchstaben der Sittlichkeit nennen könnte.

Der Rechtssinn

selbst bedarf der Heiligung durch die Bereinigung mit Güte, Wärme, Selbstverläugnung und Aufopferung.

Wie nun nach diesen Gesichtspunctm der Rechtssinn unserer

Zeit beschaffen sey, darüber möchte ich nicht urtheilen.

Nur

daran war hier zu erinnern, aus welchen Gesichtspuncten der

Werth des Rechtssinnes zu beurtheilm ist, und daß das Prinzip

der Bewegung, wozu unsere Zeit sich bekennt ohne sich das Maß klar zu machen, daß das Geschäft der Auflösung des

Bestehendm und die Hastigkeit des Thuns nicht günstig seyn kann für die Bildung zur Liebe und zur Milde und zur De­

muth , daß es die Ruhe nicht entstehn läßt, ohne welche Jnner-

üchkeit und sittliche Tiefe nicht "seyn kann. Bor allem ist bei Beurtheüung der Sittlichkeit nie zu

vergessen, daß hohe Tugmd nur da ist, wo die Richtung des

Willens auf Befolgung des Sittmgesetzes nicht bloß in dem Grundsätze sondem auch in dem Triebe ruht, und daß es auch eine seelenlose Tugmd giebt.

155

13.

Von unserem öffentlichen Leben. Die Bildung einer Zeit, so wie eines Volkes, hat einen

Theil ihres Charakters in den Einrichtungen, Gebrauchen und Gewohnheiten des Lebens, in den Formen, in der Gestaltung

der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse, der Verhältnisse in der Familie, der Verhältnisse des geselligen Lebens, der

Verhältnisse zwischen den verschiedenen Ständm, zwischen der Regierung und dem Volke.

Die Gestaltung dieser Verhältnisse,

die Form, enthalt die Ansicht der Welt vom Recht und von menschlichen Verhältnissen überhaupt, den Geist und Sinn der

Zeit, den Charakter des gesellschaftlichen Lebens des Menschen» geschlechts, das menschliche Leben. lichkeit.

In den Sitten liegt Sitt­

Diese Formen sind nicht nur das Gepräge, sondern

auch die Erscheinung des Geistes; an ihnen ist nicht nur die Bildung zu erkennen, sondern sie werden auch Ursache der Bil­

dung, denn diese Formen und Gewohnheiten werden durch die

Ansicht und Behandlung menschlicher Verhältnisse, die sie ent­ halten, der eindringlichste Unterricht über das Wesen der Ver­ hältnisse.

Der Eindruck der Formen, Gebräuche, Sitten und

Gewohnheiten ist mächtiger als alle Belehrung. Allein auch nur so weit sind Formen ein Moment für die Bildung, als sie dm Geist, die Ansicht von den Verhältnissen und die Behandlung der Verhältnisse erkmnen lassen und die

Bildung derer bestimmen, welche in dem Anblicke dieser Formm erzogen werden.

Nun kann aber nicht durchaus aus dm For­

men auf den jetzigen Geist, noch auf den zu erwartenden Gang der Bildung geschlossen werden; sie.sind daher nicht durchaus Merkmal noch Ursache der Bildung. Zn den Formen vor allem tritt die Macht der Unvemunst

und der Unbeholfenheit in den menschlichen und vomehmlich den

156 — öffentlichen

Mächte.

Angelegenheiten

hervor,

diese

furchtbarste

aller

Erstens vertragen die Formen und Einrichtungen des

Lebens durchaus nicht reine Vernünftigkeit, das heißt die Ge­ staltung, welche die Natur der Sache an sich erfodert, ist nicht

ausführbar oder nicht zuträglich.

So ist die Ungleichheit der

Stände und sogar ihres Rechts und ihrer Ansprüche wie ihrer Verhältnisse unvermeidlich und Bedingung einer reicheren Ent­ wickelung des Lebens und der Bildung.

Ohne die Noth un­

serer niederen Stände und ohne die Sklaverei der Alten, die ich doch deshalb so wenig preisen will als den vielleicht noch weit beklagenswercheren Druck unserer niederen Stände, würde

die Welt im Reichthum des Lebens und selbst in der Bildung nicht geworden seyn was sie ist.

Niemand will jetzt eine Wer--

fassung, in welcher alle Bürger, oder alle Einwohner, gleiches

Stimmrecht hätten.

Niemand will jetzt eine Wahlmonarchie

einer erblichen vorgezogen wissen-.

Zweitens stehn die Formen oft mit dem Geiste nicht inUebereinstimmung, schon darum, weil die unbehülflicheren For­

men nicht so schnell in der Umgestaltung folgen können, wenn der beweglichere Geist sich verändert.

Die Beschleunigung oder

Verzögerung der Umgestaltung der Formm hängt auch keines­

wegs bloß von der Vernünftigkeit der Zeit ab, welche unan­

gemessene Formen nicht tragen möchte, sondern auch von zu­ fälligen Verhältnissen, insonderheit von dem natürlichen Wechsel der Bewegung und des Stillstandes im öffentlichen Leben, und

es fehlt viel, daß die mehr neuernde Zeit darum auch immer die vernünftigere wäre; die eine Zeit ändert nicht, wo selbst die minder Einsichtigen die Zweckmäßigkeit der Aenderung ein­

sehn, die andere ändert auch da, wo die Einsichtigen an der Zweckmäßigkeit der Aenderung zweifeln.

Daher ist oft unter Formen, die wir weniger bMgen können, das Verhältniß selbst nach seinem Geiste ein besseres, und wie-

157 dermn unter angemesseneren Formen das Verhältniß selbst doch weniger der Vernunft und der Sittlichkeit entsprechend.

So

weit sind dann die Formen nicht, oder nur mit großer Be­

schränkung Merkmale der Bildung der Zeit, denn sie sind es nur so weit, als sie den Geist in sich tragen.

Keineswegs ist

namentlich von den Formen des öffentlichen Lebens unbeschränkt auf höheren oder tieferen Stand der Bildung der Zeit zu schließen. Unter unangemesseneren Formen ist in dem öffentlichen wie im

Privatleben leicht nicht nur mehr Gedeihn, mehr Wohlseyn, sondern auch besserer Sinn. Vielleicht rühmt sich unsere Zeit keines Gewinnes für das

Leben und die Bildung mehr, als des Fortschrittes in Hinsicht auf die Verhältnisse des öffentlichen Lebens.

Es kömmt dabei

dreierlei in Betrachtung, die politischen Ideen, die politische Tugend und die Gestaltung der öffentlichen Verhältnisse.

Die Ausbildung

und Ausbreitung

reinerer,

gemäßer Ansichten von den Angelegenheiten

des

vernunft­ öffentlichen

Lebens, insbesondere von Recht und Formen im öffentlichen

Leben, ist an sich ein hoher Gewinn für die Bildung, ohne Rücksicht auf den Eingang, den sie in der Gestaltung der Wirk­

lichkeit finden.

Run wird zwar niemand behaupten wollen,

daß in dem Zeitraume, welchen wir unsere Zeit nennen mögen,

die Wissenschaft des Staatsrechts und der Staatskunst eine

neue Grundlage erhalten, eine wesentliche neue Ansicht von dem Rechtsverhältnisse zwischen der Regierung und dem Volke sich erzeugt habe, gleichwie in der Kühnheit der Anfoderung an das

wirkliche Leben der vierte August des Jahres 1789 von der

neuesten Zeit nicht übertroffen worden ist. Die politischen Ideen, welche jetzt die neuen heißen, sind der Vergangenheit entkeimt.

Allein unserer Zeit eigenthümlich, und mit Recht ihr Ruhm, ist die weitere vielfache Ausbildung dieser Ideen, ihre allgemeine

Verbreitung, allgemeine und rege Beschäftigung der Welt mit

158 diesen Ideen, Schritte zu ihrer Verwirklichung in den Staaten. Dieß ist das Hervorragendste, was unsere Zeit hat.

Doch ist

nicht aus den Augen zu verlieren, daß auch hierin Werth und Verdienst der Zeit an Bedingungen, Voraussetzungen, Beschrän­

kungen geknüpft ist.

Wenn wir den Gewinn aus der Ver­

breitung politischer Ideen nicht als unbedingt bewachten, so bedarf es nicht erst der Verwahrung gegen eine Verwechselung

mit der Meinung derer, welche einen Vortheil darin sehn, daß das Volk in Dummheit erhalten werde.

Dieß kann insbeson­

dere an dieser Stelle nicht gemeint seyn, da wir bloß den Gesichtspunct der Bildung fassen.

Die Verbreitung jeder wah­

ren Einsicht ist Gewinn, ist Bildung.

Allein die Beschränkung

ist diese, daß die allgemeinere Verbreitung politischer Ideen und der lebhafteren Beschäftigung mit ihnen nur so weit Gewinn

seyn kann, als wirklich ein richtigeres Verständniß der Ideen sich verbreitet, und als sie mit Einsicht auf die Erscheinungen des wirklichen Lebens angewendet werden, welche Anwendung

der Hauptgegenstand jener allgemeinen Beschäftigung mit der

Politik ist. bildung.

Denn sonst ist es nicht Bildung, sondern Ver­

Nun ist aber die Verirrung nirgends näher und un­

heilbringender, nirgends verbildender, als in der Politik. Kein Urtheil kann schwieriger seyn, als über die Angele­ genheiten des öffentlichen Lebens.

Jede Frage der Verwaltung

erfodert gründliche Kenntniß der Verhältnisse sowohl als den Besitz ausgebildeter Ideen, Uebung der Umsicht und des Tactes

in Behandlung der Collision der zahllosen entgegengesetzten Rück­ sichten , und nicht minder die in den öffentlichen Angelegenheiten so sehr gefährdete Unbefangenheit des Blickes.

Der höchste

Gegenstand aber der Politik und unseres Politisirens, die Lehre

von den Formen der Verfassung und der Verwaltung, ruht

wesentlich

in der Ausgleichung

entgegenstehender Rücksichten,

für welche es keinen höheren Standpunct zur sicheren Lösung,

159 worin die entgegenstehmden Rücksichten aufgingen, sondem zuletzt nur einen Tact giebt das Rechte zu treffen.

So ist nament­

lich die Frage, welche vorzugsweise der politische Gegenstand

unserer Zeit und auch der Hauptpunct der Politik ist, die Frage von den Garantien, wo die Aufgabe ist, die Staatsgewalt, welche doch nur Eine seyn kann, so zu gestalten, daß sie so

viel möglich Macht habe das Rechte auszuführen, und doch

wieder so wenig als möglich Macht das Unrecht auszuführen,

und wo es darauf ankömmt, daß das Recht der Vertretung des allgemeinen Willens keinem an sich verschlossen, der Zugang

selbst aber doch nur dem eröffnet sey, der die meiste Intelligenz und den reinsten Willen besitzt.

Theorie,

Die schon an sich, in der

vorhandene Schwierigkeit jeder politischen Aufgabe

wächst aber in der Anwendung auf bestimmte Fälle der Wirk­ lichkeit, weil diese wieder die Zahl der sich kreuzenden Rück­

sichten vermehrt.

Neben

der philosophischen und historischm

Grundlage des politischen Urtheils, neben dem Besitz Heller und

das Ganze umfassender politischer Ideen, so wie gründlicher Kenntniß der Verhältnisse, ist noch Uebung des Tactes im

Urtheil für die politische Bildung wesentlich.

Unserer Zeit

Eigenthümlichkeit ist aber, nicht von solcher Grundlage aus­ zugehn, sondern ohne alle Vorbereitung, ohne Ahnung, welche

Grundlage erfoderlich sey, sich an der Beurtheilung der ein­ zelnen vorliegenden Fragen zu versuchen. so wenig unterrichtet,

Niemand fühlt sich

niemand so beschränkt, daß er nicht

glaubte, die Regierungen in allem meistern zu können, überall zu sehn, worauf im Allgemeinen und in vorliegenden Fällen das Wohl der Staaten und der Welt beruhe.

Wo kaum das

gründlichste Studium ausreichen kann, um das Rechte zu finden,

da glaubt ohne alle Vorbildung, ohne alle philosophische und

historische Grundlage, und in der so allgemeinen Befangenheit von Parteiung, Interesse, Vorurtheil, Leidenschaftlichkeit, doch

160 ein jeder urtheilen zu können, in unserer Zeit, wo man selbst um für den Druck zu schreiben, nicht für nothwendig hält,

sich auch nur von seiner Kenntniß des Thatsächlichen, viel weniger von seiner Vorbildung, Rechenschaft zu geben.

Un­

gründlichkeit des Urtheilens ist überall und wird leicht herrschend, wo das allgemeine Interesse zu allgemeinem Urtheilen veranlaßt.

Am schlimmsten aber ist es mit der Politik, wo so sehr die

Interessen des Lebens eingreifen, und durch Befangenheit nicht bloß das Urtheil, sondern auch der Sinn verdorbm wird, Härte

und Anmaßlichkeit und Schroffheit und Bitterkeit hervortreten.

So wird also die allgemeine Beschäftigung mit der Politik zur Ursache ungründlichen allgemeinen Urcheils, zur Geltung gelan­

genden Irrthums.

Vielleicht geht es zum Theil gerade von

der allgemeinen Beschäftigung unserer Zeit mit der Politik aus,

wenn sie zu ungründlichem, unbefugtem, unüberlegtem Urthei­ len überhaupt und zu der Anmaßlichkeit sich verwöhnt, welche

bei dem nie fehlt, der zu urtheilen pflegt ohne zu ahnen, daß

zum Urtheile eine andere Begründung erfoderlich seyn könnte, als die bei ihm ist.

Nun ist aber aller Irrthum in der Politik vor anderem

unheilvoll, obgleich immer jeder Theil nur den Irrthum als gefährlich betrachtet, den er zu sehr glaubt und bekämpft.

So

sieht die Partei des Stillstandes im öffentlichm Leben nicht,

daß ihr System zuverlässig Fäulniß, dadurch Gährung und hierdurch wieder das Hervortreten des Uebermaßes der Bewe­

gung erzeugt.

Und die Partei der Bewegung erkennt nicht die

Gefahr des Uebermaßes der Bewegung und jedes Fehlgriffs in der Umwälzung.

Aller Irrthum in der Politik, er liege auf

welcher Seite es auch sey, gefährdet nicht bloß das öffentliche

Leben mit Störung seines Ganges, mit Einfühmng des Un­ rechten, mit Verderbniß des politischen Geistes, mit Erschüt­

terungen.

Er stört eben so wohl das Leben der Einzelnen,

161 aus welchem er Ruhe und Stille und Behaglichkeit und Zu­ friedenheit hinwegnimmt.

Wir werden in dem letzten Abschnitte

dieser Schrift auf Vortheil und Nachtheil der heftigerm Bewe­ gung unserer Zeit zurückkommen.

Hiernach ist nun zu urtheilen, wie weit die allgemeine Verbreitung politischer Ideen und die allgemeine Beschäftigung unserer Zeit mit den öffentlichen Angelegenheiten Gewinn f6c

die Bildung sey, wie weit aus ihr Läuterung der politischen

Ansicht hervorgegangen, wie weit sie politische Tugend sey.

Doch auch hier können wir bloß den Gesichtspunct für das

Urtheil uns klar machen.

Gewinn und Verlust gegen einander

abwägen und die Summe zieh«, ist kaum möglich, am wenig­ sten in der Zeit, die beurtheilt werden soll. Gewiß hat unsere Zeit bei allen Verirrungm dennoch große

Fortschritte in der politischen Ansicht gemacht.

Aber wer möchte

Gewinn aus Berichtigung und Verlust aus Verfälschung der

Ansicht vergleichen? Wer möchte das Gewicht auch nur des einen Irrthums oder der einen Verirrung bestimmen, wenn die Zeit es für eine leichte Sache hält über die öffentlichen Angelegen­ heiten zu urtheilen und sie umzugestalten? Daß die allgemeine

Beschäftigung unserer Zeit mit der Politik entscheidenden Ein­ fluß auf das öffentliche Leben hat, ist gewiß.

Allein wie weit

dieser Einfluß wirklich ein wohlthätiger sey, ist immer erst zu untersuchen.

Und wenn die Zeit Gutes hervorgebracht hat, so

bleibt doch zu fragen, ob das Verdimst dem Uebermaße der Bewegung der Zeit und der allgemeinen Beschäftigung mit der Politik zuzuschreiben sey, ob nicht ohne dieses Trefflicheres sich

entwickelt haben würde, wie etwa, ob nicht einst die ruhigere

Entwickelung der heutigen Verfassung Englands Tüchtigeres erzeugt habe, als die Hastigkeit unserer Zeit erzeugen wird.

Die lebhafte Beschäftigung unserer Zeit mit den öffent­

lichen Angelegenheiten ist nur so weit Gewinn und Verdienst,

11

162 als mit ihr wirklich Reinigung der politischen Ansicht und wie­

der politische Tugend sich vereint.

Ueber sie ist also bloß aus

dem zu urtheilen, was wir in den letzteren Beziehungen unserer

Zeit zuschreiben. Es ist in Betreff der politischen Tugend zu wiederholen,

daß unserer Zeit in der That in Folge ihrer politischen Rich­

tung eine Lebhaftigkeit des Verlangens, daß das Recht geltend

gemacht werde, beigemessen werden könne.

Dieß ist nun eben

so wohl Gewinn für die sittliche Bildung, als Grundlage der Einführung guter Verfassung und Verwaltung in die Wirk­

lichkeit.

Allein es ist doch damit so wenig die politische Tugmd

vollendet, als die Güte der Gestaltung der öffentlichen Ver­ hältnisse vollbracht. Bereits ist bemerkt worden, daß der Rechts­

sinn sein Wesen mehr in der Gewissenhaftigkeit, nicht selbst Unrecht zu thun, als in dem Verlangen habe, dem Unrecht

gewehrt zu sehn, und daß in jenem unserer Zeit noch nicht Fortschritt zugeschrieben worden ist.

Zum Wesen der politischen

Tugend aber gehört Selbstverläugnung und Aufopferung, ver­

bunden mit Mäßigung des Sinnes und mit Besonnenheit, wie mit Klarheit der Erkenntniß.

Und auch diese Eigenschaften

werden unserer Zeit nicht nachgerühmt. Ferner ist die Güte der Verfassung und Verwaltung eben­

falls noch nicht gesichert durch jene Erweckung des Sinnes für das Recht, so weit er nicht vom Gefühl des Unwillens über das Unrecht Anderer oder der Verhältnisse aufsteigend geläutert ist bis zur wahren, von aller egoistischer Rücksicht befreiten

Politischen Tugend, so weit er nicht mit gründlicher Einsicht

in das Recht und die Angemessenheit der Formen verbunden ist, so weit sich nicht damit ein feiner Tact das Rechte zu

finden vereint.

Die neue Gestaltung der Staatsformen, das constitutio-

nelle Leben, kann zwar, wohin es dringt, nicht ohne Gewinn

163 bleiben, selbst dann, wenn es in der Gegenwart nicht so von

politischer Einsicht und Tugend unterstützt werden sollte, wie

nöchig ist, wenn es zum rechten Gedeihn des öffentlichen Lebens führen soll.

So weit wir den neuen Formen Angemessenheit

beilegen, ist davon auszugehn, daß, wenn auch das Beste nur

von der Vereinigung der rechten Form und des rechten Geistes zu erwarten ist, doch auch die rechte Form, ungeachtet man­

gelhafter Ausbildung der Einsicht und des Willens, für sich ihr Gutes schafft, gleichwie Einsicht und guter Wille auch ohne

angemessene Form.

Auch ist der Gewinn sicher, daß auch ohne

Voraussetzung höherer Weisheit unserer Zeit doch ihre Bewe­ gung und ihr Umgestalten, als eine Revision der bestehenden Verhältnisse, wenigstens auf die Oberfläche herauf gekommene und

jedem sichtbar gewordene Gebrechen mit hinwegnimmt.

Als Revision des Bestehenden haben meistens die Umgestaltun­

gen den größten und sichersten Werth.

Eine minder einsichtige

Zeit wird auf diesem Wege leicht verbessern, was eine einsichts­

vollere geschaffen hat. Doch die wesentlichste Erwartung von dem konstitutionellen

Leben, die wir für die Zukunft bilden mögen, ist diese, daß

es geeignet sey, jene Bedingungen wachsenden Gedeihns des öffentlichen Lebens, Einsicht, Tact, Geschick, politischen Sinn und politische Tugend auszubilden.

Daß in dem Wesen der

constitutionesten Verfassungen Grund zu dieser Hoffnung liegt,

ist klar.

Ob sie aber wirklich in Erfüllung gehn werde, ist

doch noch eine Frage an die Zukunft.

Bis jetzt ist die Ant­

wort der Erfahrung nicht nur nicht sichernd, sondern auch nicht viel versprechend.

Za man könnte fürchten, daß in der nächsten

Zeit noch nicht der Zweifel sich lösen werde, oh die Völker, die Menschen, je die Mündigkeit zu einem konstitutionellen Leben,

ob sie je die Mündigkeit zu einem vernunftgemäßen öffentlichen

Leben überhaupt erreichen werden, — welcher Zweifel jedoch 11»

164 nicht abhalten muß, nach dem Ziele zu strebm, das man für

das rechte, für das vernunftgemäße erkannt.

Der Blick fällt,

wenn wir die Erfahrung über die Ausbildung der Welt zum konstitutionellen Leben in der neuesten Zeit fragen wollen, zu­

nächst auf Frankreich.

Wer aber dahin sieht, möchte kaum

Hoffnungen für das constitutionelle Leben fassen und in andem wecken zu könnm meinen.

Möchte man doch fast glauben, daß

jetzt auch England den ftüher so ruhig und trefflich angebildeten Tact verloren habe oder verlieren werde, daß es vielleicht in

der Fähigkeit zu einem constitutionellen Leben, die es hatte,

zurückgehn könne.

Und wenn wir betrachten, daß überhaupt

die Spannung der Welt und die Unverträglichkeit der Stre-

bungen immer mehr zunimmt, so werden sich unsere Hoffnungen immer mehr vermindem.

Damit Verständiges und Vernünf­

tiges sich bllde, bedarf es der Ruhe und Mäßigung.

So hat

die Verfassung und der politische Geist der Engländer sich gebildet.

Uebrigens folgen wir nur der Meinung der Zeit selbst, wenn wir die Entwickelung eines constitutionellen Staatslebms als Charakter und festen Gewinn unserer Zeit voraussetzen, und

von dieser Voraussetzung aus das öffentliche Leben der Zeit betrachten.

Freilich könnte noch die Frage aufgeworfen werden,

ob denn wirklich das constitutionelle Leben so weit sich verbreite und verbreiten werde, daß es mit Recht als Charakter unserer Zeit betrachtet werben könne, und ob auch gewiß dauern werde,

was sich jetzt eingerichtet hat.

14. Religiöse Bildung. Mangel unserer Zeit an religiöser Bildung wird ziemlich allgemein von den einen bekannt, von den andem den Zeit-

164 nicht abhalten muß, nach dem Ziele zu strebm, das man für

das rechte, für das vernunftgemäße erkannt.

Der Blick fällt,

wenn wir die Erfahrung über die Ausbildung der Welt zum konstitutionellen Leben in der neuesten Zeit fragen wollen, zu­

nächst auf Frankreich.

Wer aber dahin sieht, möchte kaum

Hoffnungen für das constitutionelle Leben fassen und in andem wecken zu könnm meinen.

Möchte man doch fast glauben, daß

jetzt auch England den ftüher so ruhig und trefflich angebildeten Tact verloren habe oder verlieren werde, daß es vielleicht in

der Fähigkeit zu einem constitutionellen Leben, die es hatte,

zurückgehn könne.

Und wenn wir betrachten, daß überhaupt

die Spannung der Welt und die Unverträglichkeit der Stre-

bungen immer mehr zunimmt, so werden sich unsere Hoffnungen immer mehr vermindem.

Damit Verständiges und Vernünf­

tiges sich bllde, bedarf es der Ruhe und Mäßigung.

So hat

die Verfassung und der politische Geist der Engländer sich gebildet.

Uebrigens folgen wir nur der Meinung der Zeit selbst, wenn wir die Entwickelung eines constitutionellen Staatslebms als Charakter und festen Gewinn unserer Zeit voraussetzen, und

von dieser Voraussetzung aus das öffentliche Leben der Zeit betrachten.

Freilich könnte noch die Frage aufgeworfen werden,

ob denn wirklich das constitutionelle Leben so weit sich verbreite und verbreiten werde, daß es mit Recht als Charakter unserer Zeit betrachtet werben könne, und ob auch gewiß dauern werde,

was sich jetzt eingerichtet hat.

14. Religiöse Bildung. Mangel unserer Zeit an religiöser Bildung wird ziemlich allgemein von den einen bekannt, von den andem den Zeit-

165 genossen vorgeworfen.

Da bei dem nicht zu verweilen ist, wo

ziemlich allgemeine Uebereinstimmung vorausgesetzt werden kann, hätten wir es nur mit der Zukunst zu thun.

Allein die Er­

wartungen von der Zukunft sind auf die Beantwortung der Fragen zu gründen, wovon die religiöse Bildung abhänge, und

ob die Gegenwart, die Bedingungen religiöser Bildung in sich erzeugend, uns die Gewähr einer religiösen und namentlich

einer christlichen Zukunft gebe.

So wird für uns die Betrach­

tung der Gegenwart und der Zukunft der religiösen Bildung

zusammen gehn.

Die Frage nach der Zukunft der religiösen Bildung dringt tief ein in unsere Erwartungen von dem Gange unserer ganzen Bildung.

Denn es ist hier die Ansicht zu untersuchen, daß

eine bessere Bildung der Zukunft von christlicher Erziehung zu

erwarten sey.

Vielmehr kann aber weder aus dem gegenwär-

tigen Stande unserer Bildung und namentlich unserer religiösen

Bildung die Erwartung einer christlichen Erziehung sich ergeben, welche die Gmndlage künftiger besserer Bildung wäre, noch

kann überhaupt der Gang der Bildung dieser seyn, daß er von christlicher Erziehung ausginge, weil umgekehrt christliche Erzie­ hung von besserer Bildung erwartet werden muß.

Könnte je

Klarheit der Sache und der Darlegung Sicherheit gegen Miß­ verständniß geben, so würde hier keine Verwahrung gegen die

Mißdeutung nöthig seyn, als ob der Bildung zur Religiosität und namentlich zum Christenthum weniger Werth und Einfluß auf die ganze Bildung zugeschrieben werden sollte.

Der Werth

der Beschäftigung und Erfüllung des. Geistes mit dem Höch­ sten, was die Erde und der Himmel hat, mit dem Göttlichen, das zugleich die herrlichste Grundlage der Sittenlehre und der

Sittlichkeit ist, mit dem, worin eben so wohl die Wissenschaft als die Sittlichkeit ihren Gipfel hat, kann nicht nur nicht in

Zweifel, sondem auch nicht in Frage gestellt werden.

Nur

166 — dieses

soll ausgeführt werden, daß vielmehr Bildung

zum

Christenthums durch die allgemeine Bildung oder wenigstens zugleich mit ihr zu erstreben, als die Erreichung allgemeiner Bildung durch Erziehung zum Christenthum zu erwarten, und

daß die allgemeine und die christliche Bildung unserer Zeit nicht geeignet ist, Hoffnungen für die Bildung des menschlichen Ge­ schlechts auf die zu erwartende christliche Erziehung zu gründen.

Zuerst ist klar zu machen, welche höhere Bildung eigent­ lich man von der christlichen Erziehung erwartet.

Es scheint,

daß man nicht bloß sittliche Bildung, deren Zusammenhang mit der christlichen vor aller Augen liegt, sondern überhaupt

Bildung des Menschen meine. verstehn, weiß ich nicht genau.

gegebenen Darstellung

Was nun andere hierunter

Nach der in diesen Blättern

aber von dem Zusammenhänge aller

Bildung kann an der Bedeutung der religiösen Bildung für die ganze Bildung kein Zweifel seyn.

Sodann ist zu fragen, was man unter der christlichen

Erziehung verstehe, die man jetzt vermißt, von der Zukunft aber verlangt und erwartet.

Man muß doch etwas meinen/

das jetzt nicht ist und früher nicht gewesen ist; denn wäre es früher gewesen, so müßte die Bildung, die man davon für die

Zukunft erwartet, schon vorhanden seyn oder gewesen seyn. Im Allgemeinen die Richtung der Erziehung und des Unter­

richts auf das Christenthum kann man in der That in unserer Zeit nicht vermissen; was etwa auf den tiefsten Stufen ver­

nachlässigten Unterrichts fehlt, kömmt hier nicht in Betrach-

tung, denn keineswegs bloß dieser Klassen, sondern des ganzen christlichen Menschengeschlechts bessere Bildung will man auf

die christliche Erziehung gründen.

Also kann man nicht dieses

meinen, daß bisher nicht genug geschehn sey, sondern daß nicht

das Rechte geschehn sey.

Was nun dieses sey , ist zu frage«.

Wir haben dabei die zwei Seiten der religiösen Bildung 4«

167 unterscheiden, die Erkenntniß von religiösen Dingen und die

Erfüllung der Gemüther von religiösem Sinn und Bestimmung

des Charakters durch Religiosität. Die Erwartung gründlicherer religiöser Erkenntniß und namentlich reinerer und hellerer Ansicht vom Christenthume hängt von zwei Puncten ab, von der Ausbildung des Denkvermögens

und von dem gegenwärtigen Stande und Gange unserer reli­

giösen Erkenntniß.

In Rücksicht auf das erste ist an sich klar,

daß die allgemeine Bildung des Geistes, namentlich des Denk­ vermögens, Grundlage der christlichen Bildung seyn muß, nicht umgekehrt; die Geistesbildung muß zum Christenthum führen,

nicht das Christenthum zur Geistesbildung.

Fehlt es nun, wie

wir gesehn haben, unserer Zeit an Schärfe des Denkens, so haben wir hier den ersten Punct, wo die Art der Mangelhaf­

tigkeit unserer religiösen Bildung kenntlich wird, und wo sich erweist, daß der Stand unserer jetzigen Bildung nicht den

Keim besserer religiöser Bildung in sich trägt. Dasselbe ergiebt sich aus dem Blicke auf unsere philoso­

phische und christliche Religionslehre, worin auch wiederum das,

was oben über den Mangel unserer Zeit an Schärfe, Gründ­

lichkeit und Klarheit des Denkens angenommen wird, Beispiel und Bestätigung und Erläuterung findet.

Daß in unserer Zeit

die religiöse und christliche Lehre eifrigst fortgebildet wird, weiß

jeder.

Allein jeder kann auch vor Allem an diesem Beispiele

sehn, daß Fortschritte ohne die größte Bestimmtheit und Klar­ heit der Schärfe nur abwärts führen, daß es besser ist, bei

einer einfachen irrigen Vorstellung stehn zu bleiben als dm Irrthum weiter zu spinnen und in der Zerlegung des Irrigen sich zu verwirren.

Wir bedürfen hier gar nicht des Urcheils,

ob und wie weit unsere Religionslehre Wahrheit oder Irrthum enthalte.

Vielmehr haben wir ja wohl, so viel ich weiß, keine

so allgemein angenommene Religionslehre, die wir als Eigen-

168

Hum und Charakterzug unserer Zeit betrachten könnten. Und eben daS ist es, was unserer Zeit fehlt, worin zuerst ihr Mangel an religiöser und namentlich christlicher Bildung ruht, und weshalb wir in unserer Zeit keinen Gmnd finden. Besseres von der Zukunft zu hoffen. Der Mangel unserer Zeit an Einheit der Religionslehre ist ja wohl als allgemein anerkannte Thatsache anzunehmen. Nur Kundigen zu beantworten aber will ich die Frage geben, ob die Unbestimmtheit unserer Reli­ gionslehre darüber, daß die Einzelnen nicht mit einander über­ einstimmen, hinaus und so weit gehe, daß der Einzelne in sich selbst nicht klar sey; ob es nicht berühmt gewordene theo­ logische Schriften gebe, aus deren Aeußerungm über die Natur Jesu und über die Offenbarung man vergeblich auszufinden sucht, ob der Verfasser eine göttliche Natur Jesu und göttliche Offenbarung annehme oder nicht. In der Theologie ist grö­ ßere Veranlassung zur Unbestimmtheit darin, daß man Gründe findet, seine Anficht und die volle Consequenz der Lehre nicht deutlich darzulegen; ja mancher mag wohl Scheu tragen, fich selbst die vollständige Folge seiner Lehre klar zu machen. Und die neuere Philosophie erhöht auch in der religiösen Anficht der Zeit die Verwirmng, indem sie die Worte der Religionslehre von ganz Verschiedenartigem brauchen und so daS Ansehn neh­ men, als sprächen sie von demselben und übereinstimmend, wovon die christliche Theologie lehrt, da sie doch von ganz Verschiedenem sprechen. Solche, denen Gott nur innerhalb der Natur, nur das der Welt selbst inwohnende Lebensprinzip ist, eine Idee, ohne Persönlichkeit, nur in und mit der Welt, sprechen von diesem ihrem Gott, als wäre es dasselbe Wesen, das von andem als persönlicher, außerhalb der Welt seyender Gott gedacht wird. Den absoluten Geist, der in der Welt ewig sich manifestirt, der ohne Welt nicht Gott ist, geben sie für eins mit dem Gotte, der die Welt geschaffen hat. Sie

169 geben es für Lehre von geoffenbarter Religion, wenn sie von der Manifestation des Ewigen und Allgemeinen in dem End­

lichen und Erzeugten, von der Bermittelung und ihrer Auf­ hebung sprechen, dabei von diesen Verhältnissen die Ausdrücke

Schöpfer, Sohn und Geist brauchend, als ob sie damit dasselbe setzten, was von der christlichen Religionslehre angenommen,

von ihnen aber durch diese Anwendung derselben Worte viel­ mehr aufgehoben wird.

Manche scheinen sich selbst nicht klar

zu werden, andere mögen wohl wissen, wohin in der christli­

chen Lehre nicht nur, sondern überhaupt in der Religion ihre Lehre oder vielmehr jene Weise führt.

Dem Mangel an der nur der Schärfe eigenen Bestimmtheit und Klarheit in der Wissenschaft muß Ungründlichkeit in den

Ansichten der christlichen Gemeinde entsprechen.

Wenn nicht

nur der größte Widerspruch in den verschiedenen Lehren herrscht, sondem auch in der Lehre des Einzelnen Klarheit und Bestimmt­

heit fehlt, so ist natürlich bei den Bekennern des Christenthums eine solche Unsicherheit der Ansicht, daß wohl eine große Anzahl

sich nicht einmal entscheiden mag, sondem immer im Schwan­ ken bleibt, oder auch wohl nicht einmal schwankt, sondern die

Fragen ganz bei Seite liegen läßt. Bei

dieser Unbestimmtheit, Unsicherheit und Unklarheit

unserer religiösm Erkenntniß, welche in dem Mangel an Schärfe

ihren Grund hat, läßt unsere Zeit so wenig eine in der Reli­

gion einsichtsvollere Zukunft hoffen, als sie in sich den Grund künftiger Ausbildung der Schärfe des Denkens wägt.

Der religiöse Sinn aber, die Durchdringung der Seelen von Religiosität und die Bestimmung des Charakters durch die

Religiosität, ruht erstens wieder auf dem Wesen der religiösen Erkenntniß und Ansicht, und zweitens auf der Richtung der

Seelen nach dem Höherm.

Dhne Bestimmtheit und Festigkeit eines christlichen Glaubens



170

oder einer christlichen Lehre kann das Christenthum nicht /die

Gewalt über die Gemüther erlangen und nicht die Bestimmung der Charaktere zur Sittlichkeit bewirken, die man erwartet.

Niemand kann ja von dem durchdrungen werden, wovon er nicht klare Ansicht und bestimmten Glauben hat.

Von Kirch­

lichkeit wird viel gesprochen; aber der Erfolg der Theilnahme an der Kirche und diese Theilnahme selbst hängt von religiösem

Sinn, Glauben und Erkenntniß ab. mehr Festes.

Die Vorzeit hatte doch

Eine sinnliche und das Göttliche vermenschlichende,

aber doch bestimmte und wahrhaft, wenn auch nach mensch­

lichem Begriff, Verehrung Gottes enthaltende Ansicht ist mehr

geeignet in die Gemüther einzudringen, als eine unsichere, der Klarheit ermangelnde, so wenig bestimmte Begriffe als bestimmte

Gestalten darbietende Lehre.

Wie auch immer die Vorstellung

von Gott sonst war, Verehrung seiner Weisheit, Scheu vor

seiner Macht und Gerechtigkeit, festes, beruhigendes Vertrauen auf dieselbe Gerechtigkeit und die Güte Gottes, Erfülltseyn

von der Hoheit Gottes war wohl mehr in den Gemüthern der

Vorfahren als die fortgeschrittene Ansicht unserer Zeit hervor­ bringt. — Wenn man eine Lehre, welche vielleicht mehr Irr­ thum und Beschränktheit der Ansicht enthält, doch einer andern vorzieht, welche diesen Irrthum abgelegt hat und über jene

Beschränktheit hinaus gegangen■ ist, so ist damit nicht gemeint, daß man irgend dem Irrthume an sich den Vorzug gebe, son­

dern es ist, weil jene Lehre mit ihrem Irrthum und ihrer Be­ schränktheit doch weniger von der Wahrheit sich entfernt, und

weil sie Wahres und Treffliches in sich hat, das von dieser,

über die Beschränktheit der ersteren sich erhebenden, Lehre zu­ gleich mit abgeworfen und nicht durch Wahreres und Treffli­

cheres ersetzt worden ist.

In der That ist auch, wie die Stimme

unserer Zeit selbst einräumt, die Vorzeit m'ehr von religiösem Gefühl und Sinne erfüllt gewesen, als die Gegenwart.

Und

171 es ist kein Grund vorhanden, anzunehmen, daß in der Gegen­

wart ein religiöserer Sinn für die Zukunft sich vorbereite.

Besitzen vielleicht jetzt noch die Klassen, zu welchen die alles untergrabende Art der Zeit noch nicht oder weniger gedrungen ist, in der Religion mehr Festes, mehr, was ihre Gemüther ergreifen und auf ihre Sittlichkeit wirken kann, so ist zu erwar­

ten, daß auch zu diesen der Zeitgeist mehr hindurchdringen

werde.

Sittliche und religiöse Art verbreitet sich weiter von

den Ständen aus, in welchen die größere Ausbildung überhaupt ist, eben weil auf dieser Ausbildung sittliche und religiöse Art

und Ansicht ruht. Ihr eigentliches Wesen aber hat die Religiosität in jener

Richtung der Seele auf das Höhere, worin wir das Wesen und die Grundlage aller Bildung erkannt haben.

Religiosität

ist Ersülltseyn von dem Göttlichen, von der Anschauung, der Erkenntniß und dem Gefühl der Hoheit und der Verehrungs­

würdigkeit des Göttlichen, von der Hingebung an das Gött­ liche im Gefühle der Abhängigkeit von dem Göttlichen und in

dem Vertrauen, der willigen Unterwerfung unter die Welt­

regierung.

Sie ist eine Gesinnung und eine Neigung der

Seele, welche sowohl in der Beschäftigung mit Gott, in dem

Anschaun Gottes Interesse und Zweck der Thätigkeit des Gei­

stes und höchste Bestimmung des Menschen setzt, als auch in der Beziehung auf Gott und seinen Willen das Gesetz und

die Bestimmung des Gefühls, des Willens und des Handelns

findet.

Die Religion unterscheidet von dem Gesetze der Ver­

nunft das göttliche Gesetz, obgleich in seinem Gebote durchaus übereinstimmend mit jenem, doch als Wille Gottes davon unter­

schieden.

Die Sittlichkeit folgt dem Gesetze als von der Ver­

nunft ausgehend, die Religiosität folgt ihm als von Gott ausgehend; sie wird durch die Verehrung Gottes und durch die

Hingebung an den Willen GotteS bestimmt dem Gesetze zu



172 —

folgen, gleichwie in der Erziehung Kinder lernen sollen dem Gebote zu folgen, nicht bloß weil sie seinen Grund einsehn,

sondem auch weil es Gebot des Vaters, weil es Gebot ist.

Diese Bedeutung der Religiosität gilt gleichmäßig bei einer jeden Ansicht von dem Wesen Gottes und von göttlichen Din­

gen, auch bei der Ansicht dessen, dem Gott nicht ein persön­ licher Gott wäre, sondern das Prinzip der Weltordnung, die

Weltseele, von dem Leben der Welt nicht gesondert zu denken. Auch für diesen giebt es entweder keine Religion und keine

Religiosität, oder sie liegt in dieser Hinwendung zu der Welt­ ordnung, die ihm Gott ist, in dem Durchdrungenseyn von der

Verehrung der Weltordnung und ihrer Herrlichkeit,

in der

Hingebung des Willens an die Weltordnung, in dem Bestimmt­

werden seiner Gesinnung, seines Willens, seines Gefühls und

seines Handelns durch die Verehrung der Weltordnung.

Der religiöse Sinn hat also ein gemeinschaftliches Wesen

mit dem sittlichm Sinne wie mit dem Sinne für das Schöne.

Er ist Richtung auf das Höhere, Herausgehn aus der Indi­ vidualität, Anschlicßung an eine höhere Ordnung.

Die Sehn­

sucht nach dem Göttlichen, nach dem Ewigen, ist Sehnsucht

nach dem Höheren.

Von Gott erfüllt seyn gehört zur Erfül­

lung der Seele von dem Höheren.

Dem göttlichen Gebote

folgen ist Anschließung an die höhere Ordnung. Darum, wie wir oben gesehn haben, daß des sittlichen

Sinnes Ausbildung in der Ausbildung des Sinns für das Höhere überhaupt wurzelt und darin begriffen ist, so hat auch

die Bildung zur Religiosität ihr Wesen und ihre Grundlage in der Ausbildung des Sinnes für das Höhere; es kann keine

Religiosität seyn, wo überhaupt das Streben nach dem Höheren fehlt.

Der Seele die Richtung auf das Höhere zu geben ist

das tiefste Wesen der Erziehung zur Religiosität, zu christlichem Sinne.

Nun haben wir aber gesehn, daß unsere Zeit von der

173 Richtung auf das Höhere sich abwendet, daß Bildung und

Erziehung vorzugsweise auf das gerichtet wird, wovon man

Nutzen für das gemeine Leben erwartet, daß das reine Interesse des Geistes an seiner Thätigkeit und an seiner Bildung hint­

angesetzt wird.

Hierin ist demnach der tiefste Grund des Man­

gels unserer Zeit, an religiösem Sinne, und hiernach ist nicht eine religiösere Zukunst zu erwarten, da der Gang unserer Bil­

dung immer mehr auf Abwendung von dem Höheren hinweist.

Also, was die Religiosität am meisten untergräbt, ist das

Nützlichkeitsprinzip des Lebens und der Erziehung.

Solche,

die selbst christliche Erziehung verlangen, ahnen nicht, daß sie selbst durch Beförderung des Nützlichkeitsprinzips, durch Beför­

derung der Richtung der Seelen auf das int gemeinen Sinne

Nützliche,

den wesentlichen Grund der christlichen und aller

religiösen Bildung zerstören. So ist klar, daß vielmehr bessere Erziehung zum Christen­

thum durch eine edlere und strengere Geistesbildung zu erstrebm wäre, als daß eine aus christlicher Erziehung hervorgehende Veredelung der Bildung erwartet werden könnte.

Einer christ­

lichen Erziehung müßte vorhergehn Richtung auf das Höhere

des Lebens und Abwendung des Strebens von dem gemeinen Trachten, Gewöhnung an Schärfe des Denkens, und was der Richtung auf das Höhere und der Gewöhnung an Schärfe des

Dmkens

gemeinschaftlich

Gewissenhaftigkeit.

ist, Bildung zu Ernst, Strenge,

174 15. Wissenschaft und Kunst der Bildung in unserer Zeit. Die Wissenschaft von der Bildung ist die höchste der

Wissenschaften; denn ihr Gegenstand ist die höchste Aufgabe des Menschen, seine höchste, seine wesentliche Bestimmung und ihre

Erreichung.

Der Besitz der Wissenschaft von der Bildung ist

selbst die höchste Bildung und der Grund aller Bildung, weil

sie die Einsicht in die Bildung und ihr Wesen ist. Die höchste der Künste ist die Lebenskunst.

Die Kunst

der Bildung aber ist die Spitze der Lebenskunst des mensch­

lichen Geschlechts wie des Einzelnen. Weil Wissenschaft und Kunst der Bildung doch wieder

besondere Seiten der Bildung sind, so ist nöthig, daß wir

besonders betrachten, wie es damit in unserer Zeit stehe.

Allein

das Wesentlichste, woraus die Beschaffenheit der Wissenschaft und der Kunst der Bildung in unserer Zeit zu erkennen ist, geht aus den übrigen Theilen unserer Untersuchung hervor.

Dabei kömmt in Betracht jede Richtung, welche die Zeit ge­ flissentlich und in der Vorstellung nimmt, daß dieß die rechte

Bildung sey, jede Richtung, die sie absichtlich zu fördern sucht. Nun haben wir gesehn, daß unsere Zeit nicht das Höhere des

Lebens,

nicht

die höhere Thätigkeit des Geistes noch seine

Bildung an sich, sondern die Fertigkeit in dem, worin man

Nutzen für das gemeine, äußere Leben zu sehn glaubt, wo­

durch jeder sich durch die Welt helfen soll, für das Ziel der

Bildung und der Erziehung erkennt, und darauf das Streben gerichtet wissen will; ferner daß sie einen falschen Glanz, den

sie Geist nennt, sich anzueignen sucht, wodurch sie Schärfe, Richtigkeit, Klarheit, Bestimmtheit und Tiefe bannt, indem

175 sie glaubt, daß das Geistreiche dieser Eigenschaften entbehren könne; daß sie insbesondere in der Kunst von der Klassizität sich abwendend der Richtung auf das Niedere, der Entfernung von der Schönheit, Reinheit und Vollendung sich befleißigt;

daß sie so das Wesen und die Grundlage aller Bildung, na­ mentlich auch der religiösen und der sittlichen, zerstört.

Es

erweist sich also, daß unsere Zeit das Wesen der Bildung ver­ kennt, und wenn man nicht sagen will, daß sie gar keine Wissenschaft von der Bildung habe, so ist zu sagen, daß ihre

Ansicht davon, in dem Prinzipe irrig, eine verfehlte sey. Hieran knüpft sich nun zunächst der Dünkel und

die

Hastigkeit, womit unsere Zeit, so wie alles, so namentlich auch

das Werk der Bildung umzugestalten pflegt.

Wie überall jeder

über das, was ihm nahe zu liegen scheint, auch urtheilen zu können glaubt, obgleich oft gerade das, was jedem nahe zu

liegen scheint, das Höchste und für das Urtheil Schwierigste

ist, wie Politik oder Kunst, so wird kaum jemand sich für

nicht befähigt und nicht berufen halten, über das, was für die Bildung geschieht oder geschehn sollte, zu urtheilen, oder gar

selbst in das Werk einzugreifen, wo die Gelegenheit sich bietet; die Tiefe der Aufgabe, die Schwierigkeit der Ausführung und

die unabsehbare Gefahr jedes Mißgriffs wird dabei nicht geahnet. Indem sie von der Bildung der Zeiten, der Völker, der Ein­ zelnen sprechen, finden sie schlechthin keinen Zweifel bei der

Bestimmung des Begriffs der Bildung und bei Unterscheidung

der Stufen der Bildung, was doch so tief verborgen liegt, daß es oft kaum erfaßt werden kann, und um so mehr zu ent­

schwinden

pflegt, je genauer wir darauf sehn.

Schaudern

macht es, zu sehn, für wie leicht von unserer Zeit das Werk

der Bildung gehalten, mit wie wenig Bedenken und wie rasch von ihr eingegriffen wird, wie von ihr, während der Grund der

Bildung untergraben wird, Verbesserungen an der Oberfläche,

176 die allein vor dm Augen der Eiftigen liegt , für wesentlichen Fortschritt der Bildung genommen werden.

Wo die Gefahr

so groß ist, da kann der Unwille nicht ausbleiben über den

Leichtsinn und die Pfuscherei der Zeit, welche sich vermißt, mit Keckheit und ohne Bedachtsamkeit in das Werk der Bildung,

als sey es das leichteste, einzugreifen, und ein Verbimst sich

beizulegen, wo vielleicht nur das Verderben gefördert worden ist.

Es ist in die ernsteste und gewissenhafteste Bettachtung

zu nehmen, daß in dem Bildungsleben die Gefahr zu ver­ derben, indem man fördem will, näher liegt als irgendwo. Gleichgültig ist hier nichts. aufwärts oder abwärts.

Jeder Schritt bringt entweder

Jeder Mißgriff in der Leitung deS

Bildungslebens verdirbt das Werk.

Und vor Mißgriffen sichert

kaum die tiefste, begründetste Einsicht.

Am nächsten liegt die

Gefahr zu verderben bei der Vorbereitung für die gelehrte Bil­

dung, aber sie ist auch bei aller Bildung, wobei auch die Bedeutung der gelehrten Bildung für alle Bildung in Betracht

kömmt.

Nun aber, ohne das rechte Ziel in den Augen zu

haben, ohne die Tiefe der Aufgabe zu kennen, ist unsere Zeit

hierin thätig, wie keine andere.

Sie ist höchst geschäftig, in

den Angelegenheiten der Bildung zu sprechm, zu schreiben, zu

thun, zu gestalten, eine neue Richtung zu geben.

Sie freut

und rühmt sich ihrer Thätigkeit in Förderung der Bildung.

Allein hierin ist das Thun nicht selten mehr zu fürchtm als

das Nicht thun.

Weit besser ist es, daß die Bildung der

eigenen Entwickelung überlassen

geschäftig sind.

bleibe,

als

wenn

Pfuscher

Es ist zwar die Aufgabe aller, die für die

Bildung zu wirken haben, immer auf Verbesserung der Weise zu denken, und nur zu leicht geht zurück, was nicht vorwärts

geht, aber die Natur wird dennoch sich besser selbst entwickeln, eher sich selbst helftn, wenn nichts geschieht, als wenn nicht

das Rechte geschieht; besser ist keine Leitung, als Leitung auf

— ein falsches Ziel.

177



Das Hauptübel ist, daß die, welche in den

Angelegenheiten der Bildung wirken, nur in ihrer Zeit, auf

dem Standpuncte ihrer Zeit stehn, also nur den Zeitgeist för­ dern.

sey.

Das heißt jetzt der größte Ruhm, daß etwas zeitgemäß

Die Aufgabe ist aber nicht bloß zu fördern, was die Zeit

Gutes hat; ja dieß ist das minder Nöthige, weil der Zeitgeist sich sein Recht selbst schafft.

Es ist eben so wohl Aufgabe,

und die dringendere, der Zeit entgegen zu wirken, wenn sie Fehlerhaftes hat.

Dazu muß man aber außerhalb der Zeit

stehn, da man sonst nicht urtheilen kann, was an der Zeit gut oder böse sey. Obgleich das, wovon sich abzuwenden die Sünde unserer

Zeit ist, auf dem Gipfel der Bildung liegt, die Richtung auf das Höhere, auf Klassizität, Schönheit und Vollendung, die Gewöhnung an Schärfe des Denkens und Sprechens, so trifft doch darum nicht etwa dieser Mangel bloß die höheren Kreise

der Bildung.

Alle Bildung einer Zeit, auf den höchsten und

niedrigsten Stufen, ist in so engem Zusammenhänge, daß sie

ein Ganzes ausmacht, in welchem die höhere Bildung nicht nur als das Edelste die gesammte Bildung vertritt und bezeich­ net, sondern auch immer in die niederen Kreise der Bildung einfließt und ihre Weise bestimmt.

Die Ausbildung der An­

sichten der Zeit muß von da ausgehn, wo die höhere Bildung ist, und von der Schärfe der Gedanken hängt ihre Verständ­

lichkeit und ihre allgemeinere Verbreitung ab.

Das Verderben

der Bildung der Gebildetsten verdirbt gewiß auch die Volks­

bildung.

Und an sich ist das Streben nach dem Besseren, nach

Vervollkommnung alles dessen, was wir sind und thun, nach dem Höheren, doch die Grundlage einer jeden Bildung, wie wenig ähnlich auch es hier dem seyn mag, was es auf dem

höchsten Gipfel der Bildung ist. Allerdings hat unsere Zeit in der Pflege und Weise der

12

178 Erziehung und des Unterrichts, insbesondere in dem Volks,

unterrichte, viel voraus vor früheren Zeiten.

Es ist sehr irrig,

wie unsere Zeit selbst thut, zu sagen, daß unser Unterrichts, wesen und namentlich der Volksunterricht hinter den sonstigen

Fortschritten der Zeit zurückstehe, da doch vielmehr die Zeit,

wie großer Fortschritte sie sich auch rühmen mag, doch kaum in einem andern Puncte seit den letzten Geschlechtern mehr

fortgeschritten seyn möchte als hierin, wenigstens in Deutsch­ land, wenn ich nach dem Lande urtheilm darf, daS ich am genauesten kenne, und da, was wir am meisten vermissen

möchten, nicht des Schulwesens, sondern der Zeit Gebrechen

ist.

Vor Allem ist das Wesentlichste dadurch geschehn, daß der

Schullehrerstand durch alle Klassen, vom Landschullehrer an bis zum Gymnasiallehrer, sich gehoben hat, wie kein anderer. Es sind Schullehrerseminare gegründet worden, auf denen ein

großer Theil der Landschullehrer gebildet wird.

Vereine zu

Verbesserung deS Schulwesens, und in den Ephorien Schullehrerconferenzen und Lehrervereine sind entstanden, und der Sinn für Fortbildung ist vielleicht in keinem Stande so leben­

dig und thätig, wie in dem Lehrerstande. wesen ist durch Gesetze geordnet.

man vorzubeugen gesucht.

Das Volksschul­

Den Schulversäumnissen hat

Die Beaufsichtigung der Volks­

schulen ist geregelt und strmger eingerichtet worden.

zur Bildung für den Gewerbstand,

Anstalten

technische Lehranstalten,

Bürgerschulen sind gegründet worden.

Für Erhöhung

der

Einkünfte der Lehrer, und für Verbesserung der Schullocale ist viel geschehn. Wenn wir nun aber diese Fortschritte, Deutschlands we­

nigstens, und den zu erwartendm Erfolg für die Bildung näher betrachten, bemerken wir zuvörderst, daß hierin zwar in der That unserer Zeit eine günstige Ausstattung zu Theil geworden

ist, die Ehre des Verdienstes aber weniger der Gegenwart als

179 einer Zeit gebührt, welche von unserer Zeit schon als die alte

Zeit und alS unthätig und laß in der Volkserziehung betrachtet

wird, und bei deren Beurtheilung übersehn zu werden pflegt, daß in Beziehung auf Erziehung und Unterricht ihr entkeimt ist, worein unsere Zeit ihre Vorzüge und ihre Hoffnungen für

die Zukunft setzt.

Jedenfalls können wir die Zeit, welche jene

rühmenswerthen Fortschritte begonnen hat, nicht zu der unsrigen rechnen, namentlich aber auch schon darum nicht, weil

unsere Zeit sich selbst von ihr lossagt, indem sie, bloß mit den» zufrieden, was sie selbst thut und thun will, einer sehr nahen

Vergangenheit Vernachlässigung und Bewegungslosigkeit und

Verwahrlosung des

gegenwärtigen

Zustande- Mit Ungestüm

vorwirft, uneingedenk, daß eine Zeit nach dem zu beurtheilen ist, was sie gethan hat, nicht nach dem, was sie zu thun

übrig gelassen hat,

weil

sonst keine Zeit vor dem Urtheile

bestände. Hiernächst ist der Erfolg selbst zu bewachten, welchen für

die Bildung, Veredelung und Verfeinerung, das, was geschehn

ist, gehabt hat, und das, was geschehn soll, verspricht.

Man

suche die Schule, in welcher die Einrichtung am meisten schon

dem entspricht, was man als das Wesentlichste im Volksschulwesen betrachtet, die Schule mit den besten Lehrern, mit der

nach jetziger Ansicht besten Lehrart, mit den fleißigsten Schü-

lern, und nun zeige man an der Bildung der Zöglinge den

Erfolg jener Vorzüge und man wäge ab dm Abstand des Erfolgs

des Bessern und Bestm gegen den des Schlechten sowohl in der Ausstattung mit Kenntnissen, als in der Erhöhung des

Denkvermögens und in der Veredelung des Geistes.

Welcher

Lehrer immer es sey, der am meisten die Lehrmethodm der

anderen verwirft, er möge uns sagen, welche höhere Bildung er denn mit seiner Methode feinen Zöglingen gebe.

Man wird

finden, daß der wesentliche Erfolg der bisherigen Verbesserungen

12*

180 und Fortschritte doch nicht eben ein so außerordentlich großer

ist.

Nun sieht man aber doch auch nicht, was die neueste

Zeit Besseres als das bisherige Beste zu leisten verspräche.

Sie

kann mehr nur die Verbesserungen allgemeiner einzuführen sich getrauen, als sie so weit zu steigern, daß davon die Leistung in noch größerem Abstande von dem wäre, was jetzt von dem

Besten geleistet wird, als jetzt die Leistung des Besten von der des Schlechteren absteht.

Folglich ist nicht abzusehn, wor­

auf die Hoffnung gegründet werden könnte^ daß, wenn einst

alles das allgemeiner ausgeführt seyn werde, wodurch man jetzt die Verbesserung der Volksschulen und die Erhöhung der

Volksbildung erreichen zu können glaubt, wirklich der Gewinn für Bildung und Veredelung und Vervollkommnung ein so

weit überwiegender seyn möchte, namentlich in Betracht der von andern Seiten her sich erhebenden Zweifel über die Fort­

bildung des menschlichen Geschlechts. Der Grund, warum wir den Volksunterricht nicht zu

höherer Bildung führen sehn, liegt tiefer, als die Verbesserung,

die bereits bewerkstelligt worden ist und die beabsichtigt wird. Kaum bedarf es der Erwähnung, daß alles das nicht ent­

scheiden kann, was nur entfernteres Mittel ist, wie die Ver­ mehrung der Einkünfte der Lehrer, Einrichtung besserer Schul­

locale, und ähnliches, so löblich und dringend nöthig es an

sich seyn mag.

Selbst die Abstellung der Schulversäumniffe,

wenn sie auch strenger ausgeführt werden könnte, als der Fall

seyn möchte, kann nicht so entscheidenden Erfolg haben als man meint.

Denn es erweist sich ja, daß jetzt die Kinder, die

am fleißigstm zur Schule gehn, doch auch keine Fortschritte machen, welche der Menge ihrer Unterrichtsstunden irgend ent-

sprächen, und die auffallende Erscheinung ist nicht unbeachtet zu lassen, daß die fleißigsten Kinder der Landleute doch im

fünfzehnten Lebensjahre immer nicht mehr gelernt hgben, als

181 wohl von andern leicht im Laufe eines Jahres bei Einer Un­ terrichtsstunde gelernt werden kann.

Doch zweierlei wird jetzt

begonnen und verbreitet, was in der That großen Fortschritt verspricht und noch weit größerer Aufmerksamkeit und Beför­

derung werth wäre, als es erhält.

Eines der wesentlichsten Hindernisse der Fortschritte in den Volksschulen ist die zu große Zahl der Schüler, welche eben

so sehr die Angemessenheit des Unterrichts hindert, als den An­ theil der Einzelnen an dem Unterrichte vermindert.

Der Gang

des Unterrichts muß ein unbehülflicherer seyn, und kann nicht

für den fähigeren und weiter vorgeschrittenen Zögling abge­

messen werden, der immer bei den Unfähigeren zurückbleiben muß.

Der Schüler aber ist nicht nur nicht durchaus zweck­

mäßig beschäftigt, sondern er verliert auch die Gabe der Auf­

merksamkeit, und verwöhnt sich zu Zerstreutheit und Schlaff­ heit.

Dieses Uebermaß der Schülerzahl aber ist in den niede­

ren Schulen nicht zu beseitigen, weil der Aufwand der Unter­ haltung eines Lehrers für eine so kleine Zahl in den niedrig­

sten Ständen zu groß seyn würde, denn sehr klein sollte am

meisten bei dem Elementarunterrichte die Zahl seyn.

Ein Mit­

tel nun, wodurch die Folgen dieses Uebels zu vermindem sind, liegt in den Grundsätzen des Systems des wechselseitigen Un­ terrichts.

Ueber die Methoden dieses Unterrichts vermag ich

nicht zu urtheilen.

Aber wenn man auch Alles mißbilligen

wollte, was bis jetzt eingerichtet ist, gewiß muß in einer auf

diesem Princip gegründeten Einrichtung das beste Mittel ent­ halten seyn, wie für viele Kinder Ein Lehrer ausreichen kann,

und es ist eben so wünschenswerth als wahrscheinlich, daß in kürzerer oder längerer Zeit eine, wie auch immer gestaltete doch,

auf diesem Grundsätze ruhende,

Einrichtung astgemein werde

eingeführt werden.

Zweitens, nicht bloß als Vermehrung des Unterrichts ist

182 seine Ausdehnung auf spätere Jahre in Erwägung zu ziehn,

sondern auch die größere Zweckmäßigkeit weist uns darauf hin. Ja es brauchte vielleicht

nicht einmal Vermehrung zu seyn.

Vielleicht könnte an der Unterrichtszeit und der Zahl der Un­ terrichtsstunden in früheren Jahren das, was in späteren Jah­

ren hinzugesetzt würde, abgebrochen werden, um zugleich Auf­ wand zu ersparen und die Ueberfüllung der Schulen zu ver­ meiden und dadurch zweckmäßigeren, in weniger Stunden mehr leistenden Unterricht zu gewinnen; denn in den niedrigen Volks-

schulen müßte bei zweckmäßigerem Unterrichte in weniger Un­

terrichtsstunden mehr gelehrt werden können, als jetzt bei mehr Unterrichtsstunden gelehrt wird, da das, was jetzt die Kinder

der Landleute bis zum vierzehnten Lebensjahre lernen, von Kin­

dern anderer Stände in einer ohne Vergleich kürzeren Zeit ge­

lernt wird.

Unterricht in späteren Jahren aber würde größere

Ausdehnung, Befestigung und Gründlichkeit des Lemens zur

Folge

haben.

In dem Alter,

wo die Kinder der niederen

Stände gewöhnlich aufhören zu lernen, tritt erst die rechte Fä­ higkeit zu einem gründlicheren Lernen, zum Denken, ein. Nun

ist zwar nicht Alles durch Unterricht und Schule zu lernen. Allein nicht nur pflegt einmal gerade in den niedrigsten Stän­

den am wenigsten zur Fortbildung durch eigenes Streben zu geschehn,

sondern auch der Volksunterricht bis zum vierzehn­

ten Lebensjahre führt nicht so weit, daß darauf eigenes weite­ res Fortschreiten gegründet werden könnte.

und nöthig,

Darum ist es gut

daß wenigstens nicht schon mit dem Alter von

vierzehn Jahren der Unterricht ganz abgebrochen, sondern noch

zum mindesten einige Jahre durch Fortsetzung des Unterrichts,

wenn

auch nur in

einigen Stunden wöchentlich, nicht nur

Kenntniß mitgetheilt, sondern auch das Bildungsstrehen ge­

weckt werde.

Die Sonntagsschulen sind dazu ein Anfang, der

schon hier und da auf die Wochentage sich ausdehnt.

Es giebt

183 nichts Wesentlicheres für die Bildung als die Erregung

des

Strebens nach einer durch das ganze Leben fortgehenden Fort­ bildung.

Und es ist nichts augenfälliger, als daß ein Unter­

richt, der damit schließt,

Austritte aus stehn,

den

wo Knaben und Mädchen bei dem

Volksschulen

im

vierzehnten Lebensjahre

nur von sehr geringer Frucht seyn kann.

Die Förde­

rung der Nachschulen,, nicht etwa bloß für den Fall der Ver-

säumniß, sondern überhaupt zur Erweiterung des Unterrichts,

halte ich für den wesentlichsten Gegenstand der Aufmerksamkeit für Förderung der Volksbildung.

Ferner bleibt immer die Frage zurück, wie weit das, was

doch gelernt wird, auch wirklich Bildung sey.

Kenntnisse sind

Die allgemeine Verbrei­

noch nicht das Wesen der Bildung.

tung der Kunst zu lesen und zu schreiben pflegt nächst der Religionskenntniß als der allgemeinste Maßstab der Bildung betrachtet zu werden.

Kunst nicht an sich,

Dabei bedenkt man nicht,

daß diese

sondern nur als Mittel etwas für die

Bildung ist, daß aber die meisten aus dem Volke keine oder so gut wie keine Anwendung von der Schreibekunst und nur

eine geringe von dem Lesen machen.

Was würden wohl die

meisten Landleute entbehren, wenn sie nicht schreiben könnten? Oder man möge auch fragen, wie wenig wohl für Viele selbst

das Lesen seyn mag.

Es ist derselbe Irrthum wie in höheren

Ständen bei der Erlernung fremder Sprachen.

So weit da­

durch , durch das Erlernen der Sprache und die genauere Be­

kanntschaft mit fremder Literatur,

der Geist wirklich ausgebil­

det wird, ist ihr hoher Werth nicht zweifelhaft zu machen. Ir­ rig aber ist die gewöhnliche Ansicht, welche in dem Besitz ei­ ner Bekanntschaft mit fremden Sprachen an sich Erziehung

und Bildung erblickt, der doch keinen Werth hat, als den ein­

gebildeten der Convenienz.

Die sonstigen Kenntnisse aber, wie

sie in den Volksschulen mitgetheilt werden, sind wohl sehr zu

184 ehren, aber kann man sie als Erhöhung des Denkvermögens und als Veredelung und Verfeinerung des Geistes, kann man

sie als wahre Bildung des Menschen betrachten? Damit möge

man ja nicht den Zweifel Anderer verwechseln, ob es gut sey, daß die niedrigsten Stände gescheid gemacht werden.

bin ich weit entfernt zu bezweifeln.

Dieß

Die Frage ist diese,

ob

die niedrigen Stande wirklich durch jene Gegenstände des Un­

terrichts gescheid werden.

Die Kunst zu lesen kann ja nicht

den gescheid machen, der doch nicht liest.

Und der Zweifel

kann keinen Anstoß geben, ob der, der gar nicht lesen kann,

für seine Bildung mehr verliere, als der, der mit dem Blicke

der niederen Stände oder vielmehr der Ungebildeten, unsere Zeitblätter und Romane und nichts anderes liest.

Wie aber auch, immer unsere Unterrichtsanstalten vervollkommnet werden möchten, so ist doch damit noch nicht in glei­ chem Verhältnisse die Erhöhung der Bildung gesichert.

Lehrer in den Schulen sind nicht allein die Bildner.

Die

Das Le­

ben ist die große Bildungsschule, und alle Umgebung erzieht. Weniger wie die Schulen sind, als wie die Welt ist, wird die kommende Zeit erzogen.

Nicht nur für die Sittlichkeit und

für das Betragen, sondern auch für die Bildung des Geistes,

für die Gewöhnung an einen richtigen Gang des Denkens ist der Verkehr mit den Umgebungen entscheidend, und im allge­

meinen wohl entscheidender,

kann.

als Schule und Lehrer es seyn

Das Aufwachsen unter geistlosen, ungebildeten, unver­

ständigen, stumpfsinnigem, verkehrt denkenden und ungeschickt brechenden Menschen hat einen mtscheidenden, die Kraft des Geistes ertödtenden Einfluß, welchen nicht leicht je die Schule ganz austilgen wird.

Hierbei kommt nun nicht bloß in Betrachtung, daß die

Schule und der Lehrer, von der Erziehung durch das Leben

nicht unterstützt, nicht dem Zöglinge die

Bildung gewähren

185 kann, die gesucht wird, sondern auch dieses, daß der Lehrer — der Lehrer aber ist die Schule — selbst nicht von den Anstal­

ten , durch welche er die Weihe erhalten soll, die Bildung em­ pfangen kann,

die in ihm seyn müßte,

dung mittheilen könnte.

damit er wahre Bil­

Keine Seminare noch Methoden kön­

nen dem Lehrer geben, was er von dem Zeitgeiste, von dem

Leben zu empfangen hat.

Was die Welt, was die Zeit selbst

nicht hat, das kann auch der Lehrerstand nicht haben, und dar­

über ist den Anstalten kein Vorwurf zu machen, durch welche

die Lehrer gebildet werden.

Künstlichere, planmäßigere Lehrweise, Uebung der künfti­

gen Lehrer und ihre reichere Ausstattung mit Kenntnissen ist noch nicht volle Sicherheit wahrer Vervollkommnung der Leh­

rer und der von

ihnen ausgehenden Bildung.

Die wahre

Grundlage der Trefflichkeit des Lehrers und der Lehrweise ist, daß der Lehrer, den rechten Sinn in sich und an sich tragend,

ihn in aller Lehre und aller Erscheinung in den Zögling hin­ über fließen lasse,

daß er das wahre Ziel der Bildung und

den wahren Zweck des Unterrichts in der Vervollkommnung der Persönlichkeit, in der Richtung auf das Höhere des Lebens,

in der Reinheit und Schönheit der Sitte wie in der Kräfti­ gung und Verfeinerung des Geistes,

Schärfe und Klarheit des

in der Gewöhnung an

Denkens und Sprechens erkannt

habe und in diesem Sinne seine Zöglinge bilde und insbeson­ dere diese Richtung auf das Wahre der Bildung ihnen gebe, daß er, die rechten Gesetze des Geistes und des Denkens er­

kennend, nach Verschiedenheit der Anlagen des Schülers, des Alters und der Lehrgegenstände immer das Rechte zur Erleich­

terung und Befruchtung der Lehre zu finden wisse.

Wenn

nun die Zeit von der Erkenntniß und der Aneignung der wah,

ren Bildung entfernt ist, so kann der Lehrerstand sie sich nicht aneignen, nicht sie aus seinen Bildungsanstalten empfangen.

186 Und ohne diese Bildung deS Lehrerstandes kann aller Unter­ richt nicht zu der Bildung gedeihen, die wir suchen.

Wir ha­

ben aber gefundm, daß unsere Zeit nicht für das innere Leben, sondern für die äußeren Zustände zu bilden sucht, nicht das Edle

und Schöne, nicht das Höhere, nicht das reine Interesse des Geistes an seiner Thätigkeit, sondern das Nützliche zum Ziele

ihrer Bildung macht, daß sie von der Strenge und dem Ernste

des Strebens, daß sie von der Tüchtigkeit, Klarheit und Schärfe

des Denkens und von der Bestimmtheit, Angegemessenheit und Eleganz des Wortes fern ist.

Folglich kann von unserer Zeit

weder die Jugend unmittelbar die rechte Bildung empfangen, noch

der Lehrerstand, welcher sie wieder der Jugend mitzutheilen hätte. Die Fortschritte, welche unserer Zeit wirklich macht, sind in diesen Blättern schon wiederholt durch den Charakter der Virtuosität unserer Musik bezeichnet worden, und wir werden

auf diesen Vergleich zurückkommen, um den ganzen Charakter unserer Bildung uns zu verdeutlichen.

Auch das Verdienst

unserer Zeit in Wissenschaft und Kunst der Bildung trägt diesen Charakter.

Denn Fortschritte hat in der That unsere

Zeit gemacht in den Anstalten und der Weise des Unterrichts,

wie in Durcharbeitung der Lehre von Erziehung und Unterricht. Allein auch hier hat sich nur jene Virtuosität ergeben,

welche

nicht die Tiefe des Geistes und des inneren Wesens in sich hat.

Man möchte fast eine Bedeutung darein legen, daß im­

mer von Erziehung und Unterricht die Rede ist, nicht von der Gründung einer Wissenschaft und Kunst der Bildung.

Der Geist der Kunst der Bildung ist, immer nur das Wesen, die Seele der Bildung vor Augen zu haben und die Erstrebung auf dem einfachsten Wege zu suchen.

Das Wesen

der Bildung ist die Erregung des Bilduogsstrebens und die

Gewöhnung an Schärfe des Gedankens und der Rede, beides

die Gmudlage aller Bildung, ohne Unterscheidung der niede-

187 rett Kreise der Bildung.

Das Mittel der Erreichung ist nur das

Eine, nach diesem Ziele hin jeden Schritt zu thun.

Wenn die

Richtung auf das rechte Ziel genommen ist, geschieht immer das Rechte.

Das Prinzip der Weise ist die Einfachheit. Kün­

stelei kann nur verderben, nur die Einfachheit leistet das Beste. Das gebildetste Volk der Welt hatte keine künstlich berechneten

Unterrichtsmethoden, keine ängstliche Beaufsichtigung der Er­ ziehung, keine öffentlichen Unterrichtsanstalten.

2n der Erzie­

hung und dem Unterrichte, wie überall, ruht der Erfolg in der Fähigkeit immer das Rechte zu treffen.

Diese Fähigkeit aber,

das Rechte zu treffen, ist die Gabe eines richtigen und feinen

Blickes und Taktes, welcher nur dadurch gewonnen wird, daß

wir das rechte Ziel erkennen und immer vor Augen haben, und daß wir dazu nur immer den nächsten, unmittelbar dahin füh­ renden, also den einfachsten Weg suchen, keine Umwege neh­ men.

Nicht aber fühtt zu der Fähigkeit immer das Rechte zu

treffesi ängstliche Vorzeichnung

Erziehung und des Unterrichts,

eines künstlichen Ganges der nicht die Vervielfachung der

Absichten und Mittel, wodurch das Werk nur veckünstelt und, wie jetzt die Welt überhaupt, mechanisirt wird.

Bei der Ein­

fachheit, bei dem geraden Blicke auf das Ziel ist die wenigste

Gefahr vor der Verirrung; aber bei dem starr künstlichen Wege bringt der Irrthum die größte Gefahr, wie überhaupt Verbil­

dung schlimmer ist, als ein Mangel in der Bildung.

Die Ein­

fachheit läßt der Natur ihren Gang, die Künstelei hemmt ihn. Nur in dem Einfachen ist die Beweglichkeit des Geistes; je we­

niger einfach, desto mehr Starrheit und Unbehülflichkeit.

Und

hie Gabe immer das Rechte zu treffen kann nicht gelehrt wer­

den, sondem jeder muß es selbst suchen und finden, und dazu führt theils die Gewöhnung immer das Rechte selbst zu suchen, theils die Einfachheit des immer auf die Ergreifung des We­ sentlichen gerichteten Blicks.

Verwöhnung an erlernte Methode

188 führt nur zu leicht irre.

Daher mag sehr leicht, wer wenig

unterrichtet und geübt ist, es mag sehr leicht eine Mutter, wel­

cher Pädagogik und Didaktik fern liegt,

eher das Rechte tref­

fen, als ein methodisch geübter Schulmann.

Keine Methode

kann die rechte seyn, welche nicht in der Richtung auf jenen

wesentlichen Zweck alles Unterrichts und in dem Princip der Ein­ fachheit der Mittel ihre Wurzel hat; und wen auch nur richtiges

Gefühl,

selbst ohne klare Erkenntniß,

führt und einiges Geschick begünstigt,

nach dem rechten Ziele dessen Lehrart wird er­

sprießlicher seyn, als die Methode eines nach Regeln geübten,

vielfach vorbereiteten, aber dem höchsten Zwecke der Bildung und den Gesetzen des Ganges des Geistes minder treuen, mit na­

türlichem Geschick minder ausgestatteten Lehrers.

Aus diesem

Gestchtspuncte ist das Jetzige und Zukünftige mit der Vergan­ genheit zu vergleichen.

Die wesentliche Bedingung der Bildung liegt Machst in

der Richtung, der Kraft, dem Geschick, also in dem Geiste der Bildner, der Lehrer, der Erzieher, der Umgebungen, der Zeit, des Volkes.

Mittel.

tel.

Einrichtungen wie Methoden sind nur entferntere

So ist daS Wirken des Staates nur entfernteres Mit­

Der Staat kann nur mittelbar wirken, durch Einrichtun­

gen und durch Förderung sowohl der rechten Richtung so wie der Wirksamkeit der zum Bilden geeignetm Fähigkeiten, indem

er jeder Fähigkeit den ihr angemessensten Kreis zum bildendm

Wirken zu geben, jedes an die rechte Stelle zu bringen weiß. Nur fördem, erwecken, leiten kann er, oder auch die Entwik-

küung des Rechten zurückhalten.

Er kann das Rechte nur

zur Entwickelung bringen; es erzeugen kann nur der Geist der Bildendm.

Das Geschäft des Staates in der Bildung ist ein

hoch wichtiges.

Allein bei der Ansicht von dem Wirken des

Staates wie der Lehrer muß man sorgfältig den Irrthum ver­

meiden, welcher in Formen, Einrichtungen, Methoden mehr

189 als Mittel sieht und darein die Vollkommenheit des Bildungs­

des Bildungslebens

geschäfts setzt,

das Wesen und Princip

nicht kennend.

In diesem Mißverständnisse über das Wesen

der Bildung ist selbst die Sage für die Verbesserung der Einrichtungen, für Regelung der Lehranstalten, für Feststellung ihres Thuns durch den Buchstaben der Vorschrift und durch

Beaufsichtigung schon darum nicht ohne Gefahr, weil je mehr man in dieser das Gedeihn zu finden glaubt,

desto mehr es

dabei zu bewenden pflegt und das Innere des Bildungslebens, das

Wesen des Bildungsgeschäfts zurücksteht und nicht erkannt wird, weil das in der Richtung auf Unwesentliches zu sehr befangene Streben von dem Wesentlicheren abgewandt wird, wobei wir noch hier den schon ftüher berührten Fall übergehn, daß die Maßregeln selbst zum Schaden sind, in einem Geschäft, wo

jeder Fehltritt schadet.

Zn der Sorge für Erziehung und für Unterricht, wie in

Allem, setzt unsere Zeit ihr Verdienst vorzugsweise, so weit nicht ausschließend, in Einrichten und Ordnen.

Es mag auch seyn,

daß sie des Einrichtens und Ordnens bedarf. ist schlimm.

Allein eben dieß

Man könnte sagen, daß eine Zeit desto lebenslo­

ser und seelenloser sey,

je mehr Je künstlich und streng und

vollständig geordnet und eingerichtet zu seyn bedürfe.

Wo je­

der Schritt des Bürgers unter der Regel und dem Auge der

Polizei wäre, das wäre gewiß nicht die trefflichste Zeit, wenn

auch die geordnetste Verwaltung.

Und aus statistischen Ueber­

sichten und Rechnungen wird nie organisches Wachschum noch Seelenleben hervorgehn, aus Zahlen nicht Wärme.

Auch in

Hinsicht auf Erziehung oder wenigstens Unterricht zeigt sich

unsere Zeit allerdings als eine viel strebmde.

Allein das rechte

Ziel kann sie nicht erreichen, weil sie dieses Ziel selbst nicht er­ kennt, über die Mittel sich täuscht, und umsomehr inVerkünstelung fällt, je mehr sie strebt und uwgestaltend verbeffem will.

190 Für die Ausbildung

der Intelligenz

hat der Unterricht

zweierlei zu thun, erstens an eigene Anstrengung, an Strenge,

an das Dmken zu gewöhnen,

Dmkens zu üben.

und zweitens die Scharfe des

Zu erreichen ist dieses Ziel dadurch, daß

jeder Schritt in dem Unterrichte darauf berechnet, daß aller Un­ terricht zur Uebung in der Anstrengung, so wie in der Schärfe

des Denkens gemacht werde.

Zeder Moment des Unterrichts,

so weit nicht gerade nur auswendig gelernt werden muß, soll Denkübung seyn, und zwar nicht bloß, daß der Schüler, in

dieser Stunde, in dem Denken geübt werde, sondern auch, daß er in der Gewöhnung an das Denken und an die Strenge unh

Schärfe des Denkens geübt werde.

ken,

kann

Uebung in der Schärfe

also richtig zu denken und überhaupt zu den­

des Denkens,

aber

nur der

Unterricht

gewährm,

der selbst

Schärfe, Richtigkeit, Bestimmtheit und Klarheit des Denkens Es ist dazu erforderlich, daß der

und der Rede in sich trägt.

Gegenstand von dem Lehrer streng durchdacht sey und nach sei­

ner Bedeutung und seinem Grunde scharf und klar entwickelt werde, und daß in der Beschäftigung mit dem Gegenstände jeder Schritt ein wirkliches Fortschreiten des Denkens sey, wei­ ter in die Erkenntniß der Bedeutung und der Gründe hinein

führe.

Dieß ist die allgemein anzuwendende und einzig rich­

tige Methode des Unterrichts.

Ohne diese ist der Unterricht

nicht bloß erfolglos für die Erhöhung

des Denkvermögms,

sondern auch durch Gedankenlosigkeit und Gewöhnung an Ge­ dankenlosigkeit abstumpfend.

Auch hier ist nicht bloß Gewinn,

sondem auch Nachtheil möglich, wobei wir noch gar nicht den Fall der Einpflanzung des Irrthums zu berücksichtigen brauchen.

Durch das Leere, Lahme und Verstandeslose des Un­

terrichts muß

der Geist zurückgebracht werden.

Aus

einem

Unterrichte, der nicht Schärfe und Klarheit der Lehre in sich

hat, muß auch im Schüler Mangel an Schärfe und Klarheit,

191 und meistens auch Verwöhnung dazu sich erzeugen; aus einem

Unterrichte, der nicht immer in Ergründung und Entwickelung des Gegenstandes fortschreitet, wo zur Erklärung der Satz in Fragen zerlegt wird, auf welche die Antworten wörtlich in dem

Satze selbst liegen, muß

Stumpfsinnigkeit erwachsen.

Nicht

einmal zur Einprägung in das Gedächtniß kann diese Unter­

richtsweise zweckmäßig scheinen, weil bei solchem leeren Thun

die Aufmerksamkeit nicht genug

festgehalten werden kann. —

Ob nun in der Annäherung an jene einzig richtige und einzig

gute Methode des Unterrichtes unsere Zeit fortschreite, will ich jedem sich selbst zu beantworten überlassen, indem ich, was

mir scheint, nicht vollständig nachzuweisen wüßte.

Das aber

ist klar, daß hier die Stelle ist, wo der Werth der Weise des Unterrichts für die Ausbildung der Intelligenz sich entscheidet. Doch ist Einzelnes näher zu betrachten. Daß unsere Zeit in dem Unterrichte besondere Denkübun­

gen eingeführt hat, könnte erfreuen als Zeichen, daß die Ue­

bung des Denkvermögens als der wesentliche Zweck des Unter­ richts anerkannt werde.

Es ist aber unerfreulich, daß dabei

der rechte Weg zur Uebung des Denkvermögens durch den Un­ terricht verkannt und verfehlt wird.

Fürs erste wird dabei verkannt, daß schlechthin aller Un­

terricht Denkübung seyn soll.

In dem besonderen Unterricht

zur Denkübung kann kein dazu angemessenerer Gegenstand ge­ wählt werden, als die Religionslehre, oder auch Geschichte,

und was man zu Gegenständen besonderer Denkübung etwa zu wählen pflegt, kann jedenfalls glücklicher und zweckmäßiger

jedem anderen Unterrichte gelegentlich eingestreut werden.

Und

nicht bloß als überflüssig erweisen sich demnach die Denkübun­ gen in besonderen Stunden, sondern auch, wenn wir mit Recht

daraus abnehmen, daß Denkübung nicht als nothwendige un-

192 mittelbare Aufgabe eines jeden Unterrichts sey, so finden wir darin zugleich auch eben so wohl ein Zeichen als eine Verlei-

tung, daß wirklich nicht bei allem Unterricht das Streben dar­ auf gerichtet und daß am wenigsten begriffen wird.

die dahin führende Weise

Dann aber ist der Unterricht nicht zur Ue­

bung und Förderung des Denkvermögens geeignet, mithin ein

schlechter. Die besonderen Denkübungen habm aber auch an sich ihre Gefahr.

Denn daß der Unterricht auch sogar nachtheilig seyn

kann, ist schon oben erwähnt worden: ein ohne Schärfe und Klarheit ertheilter Unterricht muß zu Mangel an Schärfe und

Klarheit verwöhnen; und so kann wohl geschehn, daß die Kin­ der über dm Denkübungen verlernen zu denken.

Zunächst zeigt

sich diese Verschiedenheit der besondem Denkübungen von an­ derem Unterrichte, daß hier, wo der Lehrer den Inhalt aus

feiner eignen Fähigkeit nehmen muß, mehr als bei der Unter­ weisung in bestimmten Kenntnissen, welche immer reichen Stoff

dem Lehrer und dem Schüler zur Uebung des Denkens dar­ bietet, Geistesarmuth des Lehrers ein leeres, schlaffes und un­

geschicktes Gerede erzeugen wird. Hiernächst knüpft sich an die Absicht einer methodischen Uebung des Denkens in besonderen, vom anderen Unterrichte

getrennten Denkübungen eine fatsche Ansicht von der Zweck­ mäßigkeit und Nothwendigkeit der methodischen Einübung dessen,

was doch hinreichend und besser das Lebm einübt, und davon,

wie der Gang des Unterrichts den Gang der Natur nachahmen müsse, welche sich stufenweise und ohne Lücken entwickelt.

Ein

in der Erziehungskunst hoch stehender Mann hat in diesem Puncte auf einen falschen Weg geführt.

Pestalozzi's Weise

vollständiger und dem Mechanischen sich nähemder Einübung

dessen, was sich von selbst gelegenüich begreift und einübt, ist gewiß nicht die rechte, gewiß dem Schwünge des Geistes nicht

193 förderlich, wenn auch er selbst noch so Außerordentliches damit

geleistet haben sollte, was seiner besondem Gabe zuzurechnen ist.

Ich kann nicht übersehn, wie weit im Einzelnen seine

Methode Eingang in unsern Schulen gefunden habe, aber in dieser Weise sucht doch unsere Zeit ihre Verbesserung des Unter­

richts.

Daher würden die folgenden Beispiele selbst dann zur

Bezeichnung und Würdigung der neuen Weise geeignet seyn,

wenn gerade diese Formen jetzt nicht mehr gebraucht werden

sollten.

Es ist schlechthin nichts mit Uebungen folgender Art

zu gewinnen:

Der Unterschied zwischen 7mal 1 und 16mal 1

ist 3mal 3, wo die Zerlegung der 9 in 3mal 3 ohne alle

Bedeutung ist, oder: 4mal 1 ist 3mal 1 und Imal der dritte Theil von 3; der Unterschied von 5 und 9 ist 4mal der 5te

Theil der ersten und 4mal der 9te Theil der zweiten Zahl.

Das schwerfällige 3mal 1 und 2mal 1 ist 5mal 1, enthält genau nur so viel als 3 und 2 ist 5.

Nicht bloß unnütz sind

solche Uebungen, sondern auch stumpf machend, wie alles Leere, Mechanische, sich zu weit fort Dehnende, wodurch die Auf­

merksamkeit nie gereizt, höchstens nur erzwungen werden kann, wobei nicht die ganze Kraft der Seele bis zum vollen Bewußt­

seyn angewandt, sondern nur eine halbe, beschränkte Aufmerk­ samkeit verwendet wird, wo kein volles Denken eintritt.

Das

Nachsprechen von einer größeren Zahl Schüler vermehrt die Gedankenlosigkeit.

Darüber ist wirklich das Denken zu ver­

lernen. — Die Gewöhnung der Aufmerksamkeit ferner verdient gewiß die größte Sorgfalt der Lehrer und Erzieher.

Allein die

Aufmerksamkeit kann und soll nur auf das gerichtet werden,

was der Aufmerksamkeit werth ist und dem Geiste Interesse

gewähren kann.

Nur geisttödtend können Uebungen in der

Beobachtung der verschiedenen Verhältnisse und Umstände nach

den zehn Kategorien Pestalozzi's seyn, oder wenn die Kinder lernen sollen zu beobachten und in das Bewußtseyn zu rufen,

13

194 um davon Rechenschaft zu geben: 1) daß es der Bohnen 10 sind, 2) daß sie gleich weit von einander liegen, 3) daß sie

in gerader Richtung liegen, 4) daß ihre Lange gegen die Thüre

und 5) ihre Breite nach dem Fenster gerichtet ist, 6) daß die Keime auf der linken Seite sind.

Die Uebung solcher Beob­

achtungen kann den Geist nur schwerfällig machen.

Denken

verlangt wesentlich einen Zweck, ein Interesse, einen Werth des Gegenstandes.

losigkeit.

Aufmerksamkeit ohne Zweck ist Gedanken­

Wenn wir ein Buch lesen, soll unsere ganze Auf­

merksamkeit nur auf den Inhalt des Buches gerichtet seyn,

Und wir werden unser Verdienst nicht darein setzen, daß wir genau beobachtet haben, wie das Buch gedruckt und wie es

eingebunden sey, wie viel Druckfehler sich finden, was auf

einer rechten und was auf einer linken Seite stehe.

Oder wenn

wir eine Blume im Gewächshause besehn, so haben wir ihre

Art und ihre Eigenschaften zu betrachten, nicht aber zu beob­ achten, in welcher Gegend des Gewächshauses sie steht, und ob die Blume oder die Knospe nach dem Fenster oder nach der Thüre zu hängt.

Die Schule aber darf nicht lehren, die

Aufmerksamkeit mit Werthlosem zu zerstreuen.

Eben so folgt man auch einer falschen Ansicht darüber, daß der Unterricht und das Denken in regelmäßiger Stufen­

folge gehn und ohne Lücke bleiben müsse.

Der Gedanke soll

bis zur Klarheit und Bestimmtheit vollständig seyn, und dahin

zu gelangen muß der geradeste Weg gesucht werden.

Allein

nicht langsame, stetige Bewegung ist des Geistes Natur, son­ dern in Sprüngen auf den rechten Punct zu gelangen, ohne daß die Mittelglieder alle immer zum Bewußtseyn kommen.

Der Geist ist darin von der Natur verschieden, daß sein Gang

nicht so strenger Folge der Entwickelung unterworfen ist; er

wird nur gestört, gehemmt und niedergedrückt, wenn sein Flug aufgehalten wird; die Nöthigung zur Aufmerksamkeit auf das,



195



was nicht dazu geeignet ist, kann nur Schwerfälligkeit und

Starrheit zur Folge haben. Weil es nicht genug erwogen werden kann, daß der Un­

terricht etwas ist, wobei nicht bloß zu gewinnen, sondern auch zu verlieren ist, und weil gleich der Kunst des Denkens die

mit ihr zusammen gehende Kunst der Rede und der Sprache

Grundlage aller Bildung ist, so haben wir nun nächst der

Unterrichtswelse unserer Zeit in der Denkübung auch ihre Art der Redeübung zu betrachten. Wenn unsere Untersuchung immer

tiefer eingeht in die Unterrichtsmethode der Zeit, so verlieren

wir uns nicht in einen geringen Gegenstand.

Es ist hier ein

Hauptpunct des Anspruchs unserer Zeit auf Fortschritt in der Bildung.

In der That ist die Kunst der Rede, unzertrennlich mit der Kunst zu denken zusammenhängend, neben dem Denken der höchste Gegenstand der geistigen Bildung, Hauptgegenstand der Erziehung und des Unterrichts, und das Darstellungsver­

mögen ist immer neben dem Denkvermögen zu üben.

Aber

auch eben in ihrer Beziehung zur Kunst des Denkens ist die Kunst der Rede zu bilden.

Darin liegt zweierlei.

Erstens ist

die Rede zugleich, ungetrennt, mit dem Denken auszubilden.

Zweitens muß die Bildung der Rede, wie des Denkens, durch allen Unterricht und durch das ganze Leben hindurchgehn. Die Redekunst ist nichts anderes als die Kunst den Ge­ danken und das Gefühl in Worten auszudrücken.

Der Aus­

druck liegt in dem Inhalte und der Inhalt in dem Ausdrucke. Die scharfe Ausbildung des Gedankens ist also zugleich Aus­

bildung der Rede, welche dem Gedanken von selbst folgt.

Aber

zugleich ist die Ausbildung der Rede Ausbildung des Gedankens;

man kann das angemessene Wort nicht suchen, ohne den Ge­

danken zu Klarheit und Bestimmtheit zu bringen, und wir können nicht einer vernachlässigten Rede uns hingeben, ohne 13*

196 den Gedanken mangelhaft und in Unklarheit zu lassen.

Es

ist nicht zu zweifeln, daß bei den Griechen die Unterweisung in der Redekunst, die Bildung der Rede diesem Gesichtspuncte

gefolgt ist.

Dieß kann nicht fehlen bei einem Volke, welches

in der reinen Verstandesmäßigkeit der Rede so

hervorragt.

Dieß ist die Bedeutung der Unterweisung, welche bei

den

Spartanern in der ihnen so eigen gewordenen Kunst des kurzen

Nicht die Kürze an sich

Ausdrucks ertheilt worden seyn soll.

konnte der Zweck seyn, und es ist ein Mangel, wenn die Spartaner weniger die Kunst einer längeren, zusammenhän­ genden Darstellung umfassenderer

Gegenstände geübt haben.

Ihre Kunst aber, in wenig Worte den Ausdruck tiefer Gedan­ ken zu fassen, geht hervor aus dem Streben nach dem wahren

Ziele der Redekunst, der Einheit der Rede und des Gedankens,

der Angemessenheit der Rede zu der Schärfe des Gedankens; es ist eben so wohl Ausbildung der Schärfe des Denkens, nicht

bloß Eigenthümlichkeit der Rede. Das zweite ist, daß die Bildung der Rede, wie die Bil­ dung des Denkvermögens, durch allen Unterricht, durch das ganze Leben sich hindurch ziehn muß.

Der rechte Weg ist die

Gewöhnung und Uebung, durchaus zu Allem, was wir erkennen, denken und fühlen, zu Allem, was wir auszusprechen haben,

den angemessensten, bestimmtesten, reinsten und edelstm Aus­ druck zu suchen und zu finden, und kein Wort zu brauchen

ohne Abwägung der Angemessenheit zur Sache und zum Ge­ danken, so viel nur immer im Sprechen zur Abwägung Zeit

bleibt.

Es ist die Gewöhnung, jedem Momente der Rede die

mögliche Vollendung zu geben.

Nach diesen Gesichtspunkten sind nun die Fortschritte un­ serer Zeit in der Bildung zur Redekunst zu beurthellen.

Es

ist aber hier bloß Beziehung auf das zu nehmen, was bereits gesagt worden ist.

Jeder möge selbst urtheilen.

Nur ein Blick

197 ist zu werfen auf zwei Mittel, worin unsere Zeit vor der ftü-

heren Zeit sich auszuzeichnen sich rühmen möchte, die besonderen mündlichen und schriftlichen Uebungen, und der Unterricht in

der Muttersprache.

Wie nach jenem Zusammenhangs zwischen dem Gedanken und der Rede, die Trefflichkeit der Rede nur aus der Schärfe des Denkens und der Klarheit des Gefühls erwachsen kann,

so ist wesentlich Quelle der Nichtswürdigkeit der Rede die Ent­ fernung von dem Zwecke angemessenen Ausdrucks eines scharf

und klar gefaßten Gedankens, die Sonderung der Rede von

dem Gedanken, von dem Inhalte.

Der Ausdruck muß immer

nur mit der Erkenntniß geübt werden, aus welcher er kommen muß.

Denken und Reden kann nicht mehr verdorben werden,

als durch das, was man sich gewöhnlich als Redekunst denkt,

die Kunst einer von ihrem Stoffe sich mehr oder minder lösen­

den, mit vermeintem, außerhalb des Inhalts herzunehmendcn, Schmucke angethanen Rede.

Hieraus kann nur Hohles, Ge­

dankenloses und Falsches in der Rede wie im Denken hervor­

gehn.

Uebung

in

solcher

falschen

Kunst

ist

Verbildung,

Abziehung von Schärfe und Gediegenheit des Denkens und Sprechens.

Solchen Charakter aber muß die Uebung der Rede

annehmen, welcher kein gediegenes Durchdenken eines Gegen­ standes zum Grunde liegt, wo nicht der Ausdruck des Gedan­

kens zum Ziel der Rede gesetzt, sondem her Gedanke erst um der Rede willen gesucht wird.

Und so sind doch die mündlichen

und schriftlichen besondern Redeübungen.

Man möchte ent­

gegnen, daß die Aufgabe eben zur Aufsuchung des Stoffes, zum Durchdenken des Gegenstandes veranlassen soll.

Allein

erstens, wenn der Gedanke nicht gefunden wird, so folgt doch leere und unverständige Rede; und wie weit dieß in der Wirk­ lichkeit der Fall sey und nach der Stellung der Aufgabe seyn müsse, möge jeder selbst urtheilen.

Zweitens sieht sich hier der

198



Zögling jedenfalls hauptsächlich auf das Schreiben und Spre-'

chen, nicht auf die scharfe Ergründung des Gegenstandes hin­

gewiesen, so wie ihm auch, wenn überhaupt, mehr in jener als in dieser Beziehung das Fehlerhafte seiner Leistung gezeigt

wird.

Dadurch gewöhnt er sich an die Sonderung des Spre­

chens und Schreibens von dem Denken.

Auch die Aufgaben

also, bei welchen es hauptsächlich auf die Uebung der Rede

abgesehn ist, sollten so gestellt seyn, daß die Durchdenkung und

Darstellung des Gegenstandes zum wesentlichen Zwecke gemacht würde, welchem der Ausdruck folgen muß.

Hierzu kömmt,

daß bei unserer Häufung der schriftlichen Ausarbeitungen nicht

Zeit gewonnen werden kann zu dem, was doch unerläßliche Bedingung der Nützlichkeit ist, daß den Schülern genau, streng und vollständig gezeigt werde, was in ihren Ausarbeitungen

nichts taugt.

Wenn der Schüler gewöhnt wird, zu schreiben,

damit nur etwas geschrieben sey, Leeres zu schreiben, weil er keinen Inhalt findet, die Rede von dem Inhalte zu sondern,

weil nicht auch auf diesen die Absicht gleichmäßig gerichtet wird, flüchtig und ohne Scheu vor Fehlern zu schreiben, weil ihm das Schreiben zu alltäglich und er gegen die Mangelhaftigkeit unempfindlich wird, fehlerhaft zu schreiben, ohne die Fehler kennen zu lernen, dann wird die Uebung nicht zur Bildung

sondern zur Verbildung der Rede führen.

Leicht wird er sich

gewöhnen, mit Leerem und Schlechtem, das er leistet, wohl gar zuftieden zu seyn, zu glauben, das sey etwas, was doch

vielleicht weniger als nichts ist; das Fehlerhafte wird sich bei

ihm festsehen, er wird das Schülerhafte mit sich fortschleppen. Jedenfalls wird Strenge und Schärfe und Gründung der Rede

auf den Gedanken verloren gehn. Es wäre zu fragen, ob nicht die vielen schriftlichen Aus-

»rbeitungen unserer Schulen, worin unsere Zeit eine Eigen­ thümlichkeit hat, eine Ursache des Mangels unserer Zeit an

199 Strenge und ihrer Fruchtdarkeit an schlechten Hervorbringungen

seyen.

Das zweite, worin unsere Zeit einen Fortschritt in der

Ausbildung der Rede sieht, besonderer grammatischer Unter­ richt in der Muttersprache, ist theils nur der kleinste und un­ bedeutendste Theil der Erlernung der Muttersprache, theils nur unter der Voraussetzung behutsamer Beschränkung für ersprießlich

zu achten. Die Hauptsache ist auch hier, daß bei jedem Gebrauch der Muttersprache durch den ganzen Unterricht und das ganze

Leben hindurch unablässig die Reinheit der Sprache und ins­

besondere der streng richtige Gebrauch der Worte berücksichtigt werde.

Der Geist der Sprache, welchen richtig zu fassen das

Wesen der Bildung durch Sprachstudium ist, liegt am meisten

in der Bedeutung der Worte, deren strenge Angemessenheit zum Gedanken selbst gehört.

Aber auch in der feinen Unterscheidung

der grammatischen Formen ist das Beste nur von dieser nie

nachlassenden Aufmerksamkeit im Gebrauche zu erwarten.

Be­

sonderer grammatischer Unterricht in der Muttersprache ist nur

aus eine kurze zusammenhängende Uebersicht von dem Ganzen des Baues der Muttersprache und ihrer Formen und Regeln zu

beschränken.

Längeres Verweilen eines systematisch zusammen­

hängenden Unterrichts bei dem, was durch den Gebrauch und

insonderheit bei der Erlernung anderer Sprachen am besten und leichtesten sich lernt, ist nicht nur unnütz, sondern auch

für den Schüler, als Beschäftigung mit dem, was ihm nicht

unbekannt ist, langweilig und für den Trieb zu lernen ungünstig. Um die Kunst der Rede zu bilden, ist nächst der Erweckung zur Strenge im Gebrauch des Wortes das beste Mittel die Beschäftigung mit den Mustern angemessenen, strengen, rei­

nen, hoch ausgebildeten, geglätteten, verfeinerten, veredelten Ausdrucks, in welcher Sprache es immer sey, und mit beson­

derem Vortheil in ftemden Sprachen, und unter diesen wieder

200 vor Allem in den alten Sprachen, theils wegen ihrer größeren

Verschiedenheit von unseren Sprachen, theils wegen ihrer hohen Ausbildung und weil sie die herrlichsten, unvergleichlichen Muster der Rede darbieten.

Man sollte immer von Zeit zu Zeit den

Versuch machen, aus Plato oder Pindar zu übersetzen, um zu fühlen, was Hoheit, Reichthum, Vollendung der Rede ist,

was unserer Rede und unseren Sprachen fehlt und anzubilden

Das größte Verderben aber für die Kunst der Rede ist

wäre.

der Verkehr mit gemeiner, verdorbener Rede.

Von diesem

Standpuncte aus ist nun zu urtheilen, ob unsere Zeit in der

Kunst der Anleitung zur Rede fortschreite, und ob sie eine Erhöhung der Redekunst erwarten lasse, wenn sie der Strenge und der Schärfe entsagt, der Richtigkeit und Schärfe und

Klarheit eitlen Glanz verzieht, nicht nur das Studium der klassischen Alten verkümmert, sondern selbst von der Klassizität überhaupt die Richtung abwendet und so auf die Bildung an

der Schlechtheit der schon

wegen der Neuheit vorgezogenen

neuesten Literatur verweist.

Eines Fortschrittes in der Unterrichtsweise rühmt sich unsere

Zeit mit so großer Selbsterhebung und Verachtung des Alten, daß hier die Erwähnung ihres wunderlichen Irrthums nicht

übergangen werden mag, ob es gleich nichts Höheres als die

Unterweisung im Lesen betrifft.

In diesen Blättern würde

Lautiren und Buchstabiren nicht zu erwähnen seyn, wenn nicht darum die Zeit sich auf einer höheren Stufe der Unterrichts­

kunst dünkte.

schritte.

So charakterisirt dieß das Wesen unserer Fort­

Eine verständige Lautmethode und eine verständige

Buchstabirmethode können im Wesentlichen gar nicht einander fern liegen, oder gar nicht verschieden seyn, indem auch die

Lautmethode für den Laut ein Zeichen und einen Namen braucht,

die Buchstabirmethode aber den Buchstaben doch nur als das Zeichen und den Namen des Lautes betrachten kann; wie das

201 Zeichen genannt wird, ist einerlei.

Bei dem Buchstabiren ist

genau dasselbe Geschäft wie bei dem Lautiren: das Kind setzt aus den Lauten, als deren Zeichen es die Buchstaben hat ken­

nen lernen, ein Ganzes zusammen.

Für das Kind, dem es

bei zweckmäßigem Unterrichte schwer würde, zu begreifen, daß

der Buchstabe und sein Name nur Name und Zeichen, nicht aber Laut sey, würde es nicht leicht die Mühe lohnen, daß es lesen lerne.

Bei der Verwerfung des Buchstabirens liegt zum

Grunde, daß man die Bedeutung und den Gebrauch des Zei­

chens verkennt; die Gewöhnung an den Gebrauch des Zeichens

aber ist die Grundlage des Sprechens und Denkens.

Was

man der Buchstabirmethode vorwirft, trifft nicht diese Methode, sondern es ist bei ihrem Gebrauche gefehlt worden, wenn man

das Zeichen nicht deutlich genug in seiner Bedeutung als Zei­ chen und nach seinem Gebrauche erklärt, das Geschäft zu me­ chanisch getrieben, oder der Nichtigkeit und Reinheit der Aus­

sprache nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet hat.

Es ist ein

Vorzug der Anhänger der Lautmethvde, wenn sie es mit der

Aussprache genauer nehmen, nicht aber ist es ein Vorzug dieser Methode vor der Buchstabirmethode; durchaus kein Grund ist vorhandm, warum nicht bei dem Buchstabiren so streng auf

Reinheit der Aussprache gehalten werden sollte, wie bei dem Lautiren.

Wir wollen gerechter seyn, und nicht der Laut­

methode selbst vorwerfen, was ihre Anhänger versehn, wie wenn

sie zum Lesen die Kenntniß von der Mundstellung bei dem

Sprechen, das Bewußtseyn von der Art, wie die verschiedenen

Laute hervorgebracht werden, für nöthig finden, und damit die Kinder plagen, welche doch zur Hervorbringung der rechten

Laute diese Kenntniß so wenig brauchen, als die Lerche zum Singen.

Uebrigens ist hier absichtlich die Ueberhebung der Laut­

methode über die Buchstabirmethode zunächst aus dem Gesichts­

puncte betrachtet worden, von welchem aus am meisten die

202 Ungründlichkeit der Ansicht unserer Zeit von der Weise des Unterrichts und der Ungrund der Vorstellung unserer Zeit von

ihren Fortschritten hervortritt.

Nur zum Schluffe möge noch

hinzugefügt werden, daß dem Lautiren die Verschiedenheit der

Aussprache desselben Buchstabens insbesondere in anderen Spra­ chen als der deutschen eine Schwierigkeit entgegensetzt, welche wenigstens die gewöhnliche Meinung von der vorzüglichen Zweck­

mäßigkeit dieser Methode aufhebt. Daß unsere Zeit die Gegenstände des Unterrichts vermehrt und die Ansprüche in Hinsicht auf die in jedem Gegenstände

zu erreichende Stufe steigert, verkündigt sie selbst als Anfoderung und eigenen Ruhm so laut, daß es keines Beweises

Wir können als unbezweifelt annehmen, daß unsere

bedarf.

Zeit von den zwei Hauptrichtungen der Bildung, auf Tüchtig­

keit und auf Vielseitigkeit, der letzteren bei weitem den Vorzug giebt.

Zn der That ist Ueberhaufung mit Unterrichtsgegcn-

ständen nicht zu verkennen.

Beide Richtungen sind immer so

zu berücksichtigen, daß genau gegen einander abzuwagen ist,

wie viel jede fodert.

Der Werth der Vielseitigkeit der Kennt­

nisse ist an sich klar, und bei dem Unterrichte ist dahin zu sehn, daß nicht durch Einseitigkeit und Einförmigkeit der Beschäf­

tigung der Geist ermüde.

Allein der Werth der Tüchtigkeit ist

weit überwiegend, und die Regel ist so zu stellen, daß Viel­

seitigkeit so weit zu erstreben ist, als das Streben nach Tüch­ tigkeit es gestattet, nicht aber daß umgekehrt zuerst gesetzt würde,

was Alles zu lernen sey, woraus erst folgen müßte, wie weit

in dem Einzelnen und in dem Ganzen die Tüchtigkeit zu errei­ chen sey.

Denn die Tüchtigkeit ist nichts anderes als im All­

gemeinen das Vermögen des Geistes und in Beziehung auf ein besonderes Studium die Gediegenheit und Gründlichkeit und

Tiefe.

Daß nun in dem Einzelnen mehr Tüchtigkeit erreicht

werden kann, mit je wenigeren Gegenständen der sich bildende

203 Geist sich beschäftigt, ist leicht zu sehn.

Aber es ist auch nicht

zu verkennen, daß die Tüchtigkeit der Geisteskraft überhaupt mehr dadurch erstrebt wird, daß Wenigeres tüchtig, als daß

mehr aber minder tüchtig gelernt werde.

Denn die Tüchtigkeit

des einzelnen Wissens erzeugt die Tüchtigkeit des Geistes und

diese, auf Einem Puncte erreicht, ist zugleich Tüchtigkeit für jeden andern Punct.

Darum hat die Erstrebung der höchsten

erreichbaren Tüchtigkeit in Einem Puncte vor der Vielseitigkeit

der Kenntnisse so sehr den Vorzug, als Geisteskraft und Er­ kenntniß wor der bloßen Kenntniß; denn nicht diese an sich,

sondern jene ist Bildung.

In der Bildung zur Tüchtigkeit in

Einem Puncte ruht die Erhöhung des Denkvermögens, die Bildung zur Schärfe, Klarheit und Tiefe der Einsicht, nicht bloß in diesem Gegenstände, sondern überhaupt, die Ausbildung

der Urtheilskraft, die Befestigung des Gedächtnisses, die Energie

des Triebes.

Daher muß durch Ein vorzugsweise gepflegtes

Studium die Erhöhung der Geisteskraft erstrebt werden, durch

welche dann in andern Studien schneller fortgeschritten werden kann.

Um in Vielem etwas Gründliches zu lernen, ist der

geradeste Weg in Einem viel zu lernen.

Und wie mit dem

tieferen Eindringen in eine Wissenschaft ein immer höheres Ver­

mögen des Geistes sich entwickelt, so ist auch die Erkenntniß, je tiefer sie in eine Wissenschaft eindringt, eine um so höhere und von so höherem Werthe für die Bildung; in jeder Wissen­

schaft ist die zweite Stufe von höherem Werthe als die erste, folglich muß es größerer Gewinn für die Bildung seyn, in

Einer Lehre bis zur zweiten Stufe zu dringen, als in zwei

Lehren auf der ersten stehn zu bleiben. So ist also die, unserer Zeit allerdings eigenthümliche,

Ueberhäufung mit Lehrgegenständen, die Vielwisserei, das ent­

scheidendste Verderben der Bildung.

Sie ruht aber auch in

ihrem Grunde auf einem Irrthume, der schon berührten falschen

204 Sonderung der Lehrjahre von den Arbeitsjahren oder dem übri­ gen Leben.

Wie sehr wir auch den Kreis unserer Bildung

uuszudehnen wünschen mögen, so folgt daraus nicht, daß Alles in den Jahren geschehn müsse, welche wir vorzugsweise für die

Alle Jahre des Lebens müssen

Lehrjahre zu betrachten pflegen.

neben dem Geschäfte zugleich der Fortbildung bestimmt seyn;

und damit nicht Ueberhäufung entstehe, welche die Tüchtigkeit nicht gedeihen läßt, muß nicht Alles, was im Laufe des Lebens

in den Kreis der Bildung. gezogen werden soll, gleichzeitig,

und am wenigsten muß es gleichmäßig, schon in den Jahren der Lehre getrieben werden.

Sollte jemand entgegnen, daß

doch nicht jedem nach den Lehrjahren noch Zeit zum Lernen

bliebe, so wäre zu erwiedern, daß dieser dann auch vergeblich

in den Lehrjahren sich mit so vielerlei beschäftigt haben würde, da der in Allem doch immer nur geringe Anfang nur als Grund

zu künftiger Fortsetzung Werth haben könnte; er hätte immer

besser gethan, da seiner Bildung engere Schranken gezogen seyn sollen, es an der Zahl der Gegenstände und der Masse der Kenntnisse, als an der Tüchtigkeit fehlen zu lassen, in

welcher die Erhöhung der Geisteskraft, die Veredelung und die

wahre Bildung des Geistes ruht.

Nicht hier zuerst wird ausgesprochen, daß die Uebung unserer Zeit im Denken mehr eine Uebung sey, ftemden Ge­ danken zu folgen, als selbst zu denken, selbst das Wesm der Dinge und die Gründe der Wahrheit zu durchforschen.

Wenn

man dieß aber annimmt, so wird dadurch unserer Zeit Kunst der Bildung zum Denken sehr tief herabgesetzt.

Denn nur in

dem Selbstdenkm ist der rechte Werth des Denkens enthalten.

Auch die Gründe können wir gleich Thatsachen von außen in uns aufnehmen; aber die rechte Erhöhung der Geisteskraft und

die rechte Durchdringung deS Gegenstandes geschieht nur durch ein Denken, welches das Wesen und die Gründe der Dinge

205 völlig erfaßt und so das Wissen davon zu vollem Eigenthume, nicht bloß zum Besitzthum des Gedächtnisses macht.

ses Denken ist mit klarem Bewußtseyn verknüpft.

Nur die­

Was aber

unserer Zeit daran fehlen möchte, haben wir vor anderen der Ueberhaufung mit Gegenständen des Unterrichts und der Bil­

dung, der Ueberhäufung mit Unterricht zuzuschreiben,

welche

zum eignen Denken nicht die Zeit lassen und fremder Leitung zu folgen gewöhnen. Endlich ist noch ein Blick auf die Gegenstände zu werfen, womit unsere Zeit den Unterricht erfüllen will. hier auf einen Punkt zurück,

Wir kommen

der uns schon ftüher beschäftigt

hat, in dem Abschnitte von der Bildung an klassischen Werken, in welcher unsere Zeit zurückgeht, den Werth der Beschäftigung

mit der griechischen und römischen Literatur verkennend, dieses

Studium daher geflissentlich zurückstellend, was

und doch in dem,

es an die Stelle setzen möchte, keinen Ersatz findend.

Es ist wenig hinzuzufügen.

Von dem Verluste der Bildung

an einer Literatur, welche seit Jahrhunderten die Grundlage der europäischen Bildung gewesen ist, welche als das höchste

Erzeugniß

menschlicher Bildung auch das höchste Mittel der

Bildung seyn muß, und

deren Vernachlässigung entscheidend

für die Herbeiführung der Barbarei seyn

würde oder seyn

wird, ist schon gesprochen worden. Von den sogenannten Rea.

lien, auf deren Pflege unsere Zeit dringt, haben wir dort eben­

falls gesehn, warum sie für die Ausbildung des Geistes kein Ersatz der Bildung an klassischm Werken seyn können.

Hier-

zu möge bloß dieses noch bemerkt werden, daß man die Pflege

dieser sogenannten Realwissenschaften um ihrer Nützlichkeit und Anwendbarkeit im Geschäft und im Leben willen verlangt, haß

man daher das wahre Ziel des Unterrichts, Geistesbildung, sich dabei nicht vorsetzt, und daß die Vorstellung von der Nützlich­

keit und Anwendbarkeit der Sachkenntnisse im Leben und im

206 Geschäft eine sehr irrige, und die Anwendung keineswegs so bedeutend ist, daß sie deshalb zum allgemeinen Gegenstände des Unterrichts zu machen wären, worüber ich nicht wiederho­

len will, was ich in der schon angeführten Schrift über die Bestimmung des Gelehrten

gesagt habe.

Ferner von dem

Studium der Mathematik, welches allerdings nicht weniger um der Ausbildung des Geistes willen als wegen der Anwendbar­

keit empfohlen wird, ist schon in jener Stelle bemerkt worden, daß die Mathematik, da sie weder das Schöne noch das Gute,

noch das Gesetz des Lebens der Welt, noch Wesen, Charakter

und Geist der Dinge, sondem bloß Größenverhältniffe, bloß das

Zählbare und Meßbare in sich hat,

weniger als andere Wis­

senschaften geeignet ist, Veredelung des Geistes zu gewähren; und in der angeführten Schrift ist dargelegt worden, daß die

Mathematik mit ihrer Beweisführung, welche nicht auf Be­

griffen

und aus dem Wesen

der

Verhältnisse genommenen

Gründen, sondern auf der Erfahrung braucht, nicht vor an­ dern Wissenschaften zur Schärfung des wissenschaftlichen Den­

kens geeignet seyn kann,

obschon der Werth ihres Studium

namentlich in Gewöhnung an strenge Folgerichtigkeit, an Auf­ merksamkeit und an eigene Auffindung der Auflösungen und

Beweise nicht verkannt worden ist.

Welchen Vortheil aber im­

mer das Studium der Mathematik für die Bildung deS Gei­

stes gewähren möge, er ist jedmfalls in ihren Elementarlehren

zu erreichen, und auf die Elementarlehren der Mathematik ist ihr Unterricht auf Schulen zu beschränken.

Die höheren Lehren

der Mathematik sind darum nicht zum allgemeinen Gegenstände wissenschaftlicher Bildung oder der Bildung zum Geschästslebm zu machen.

Die mathematische Wissenschaft ist hoch zu

ehren und zu bewundern.

Allein die Frage,

was allgemein

Gegenstand des Unterichts seyn solle, kann nur nach dem Ein­ flüsse auf die Geistesbildung beantwortet werden, und bei der

Begünstigung eines jeden Studium ist zu erwägen, daß dem einen entzogen wird, was man dem anderm zusetzt.

Die fal­

sche Ansicht aber unserer nach der Mathematik gewaltig ver­ langenden und ihre Foderung immer höher steigernden Zeit von dem Werthe der Mathematik ist zugleich ein Beweis von der

Verkennung des Wesens der Bildung und des Werthes ande­ rer Bildungsmittel und vorherrschende Richtung auf die Ma­

thematik wird, wie aller Irrthum über das Wesen der Bil­ dung und den Werth der Bildungsmittel von dem rechten We­

ge zur Bildung abführen.

Vielleicht wird hierüber mehr als

meine Stimme die neuerlich öffentlich gewordene, mit Voltaire's und Franklin's Urtheil verstärkte Stimme Göthes in ei­ nem Briefe an Zelter über den der Erfahrung zufolge nicht

günstigen Einfluß der mathematischen Studien auf die Bil­ dung gehört werden.

Doch unbekümmert im Erfolg und Auf­

nahme will ich meine Ueberzeugung aussprechen,

daß unsere

Zeit, wenn sie wirklich ausführt, was sie will, durch Verküm­ merung des Studium der griechischen und römischen Literatur mit der Verkennung ihres Werthes durch Ueberhäufung der hö­

heren Bildungsanstalten mit vielfachem Unterricht und durch

die Richtung auf die Mathematik als

allgemeines Bildungs­

mittel einen ungeheurm Rückschritt in der Bildung herbeiführt.

16. Ergebniß. Wir haben gefunden: daß unsere Zeit, die höhere Bestim­

mung des Menschen verkennmd und durch Ansicht wie durch

die Noth der

drängenden Bedürfnisse des äußern Lebens ge­

trieben, sich abwendet von der Richtung auf das Höhere, also

Begünstigung eines jeden Studium ist zu erwägen, daß dem einen entzogen wird, was man dem anderm zusetzt.

Die fal­

sche Ansicht aber unserer nach der Mathematik gewaltig ver­ langenden und ihre Foderung immer höher steigernden Zeit von dem Werthe der Mathematik ist zugleich ein Beweis von der

Verkennung des Wesens der Bildung und des Werthes ande­ rer Bildungsmittel und vorherrschende Richtung auf die Ma­

thematik wird, wie aller Irrthum über das Wesen der Bil­ dung und den Werth der Bildungsmittel von dem rechten We­

ge zur Bildung abführen.

Vielleicht wird hierüber mehr als

meine Stimme die neuerlich öffentlich gewordene, mit Voltaire's und Franklin's Urtheil verstärkte Stimme Göthes in ei­ nem Briefe an Zelter über den der Erfahrung zufolge nicht

günstigen Einfluß der mathematischen Studien auf die Bil­ dung gehört werden.

Doch unbekümmert im Erfolg und Auf­

nahme will ich meine Ueberzeugung aussprechen,

daß unsere

Zeit, wenn sie wirklich ausführt, was sie will, durch Verküm­ merung des Studium der griechischen und römischen Literatur mit der Verkennung ihres Werthes durch Ueberhäufung der hö­

heren Bildungsanstalten mit vielfachem Unterricht und durch

die Richtung auf die Mathematik als

allgemeines Bildungs­

mittel einen ungeheurm Rückschritt in der Bildung herbeiführt.

16. Ergebniß. Wir haben gefunden: daß unsere Zeit, die höhere Bestim­

mung des Menschen verkennmd und durch Ansicht wie durch

die Noth der

drängenden Bedürfnisse des äußern Lebens ge­

trieben, sich abwendet von der Richtung auf das Höhere, also

208 von der Richtung auf die Bildung, welche Richtung das Höchste

der Bildung und die Grundlage aller Bildung und die erste

Bedingung der Bildungsfähigkeit ist; Daß mit der Richtung auf das

Höhere zugleich Sinn

für das Schöne und Edle, daß ihr damit Begeisterung, En­

thusiasmus, Schwung des Geistes und Wärme der Seele, In­ nerlichkeit, daß die Seele aus den Seelen verloren geht; Daß unserer Zeit Ernst und Strenge mangeln, in welchen

die Innerlichkeit des Triebes zur Vervollkommnung, also der wahre Sinn für Bildung ist, ohne welche keine höhere Bil­

dung erworben werden kann, nicht Scharfe des Gedankens und

der Rede, nicht Tugend, weil ja die Gewissenhaftigkeit in dem Ernst und der Strenge ruht;

Daß unsere Zeit jener Schärfe sich entwöhnt, welche den

Gedanken, die Rede, das Gefühl, den Willen, den Charakter, alles Thun durch die höchste Genauigkeit zur Vollendung aus­ bildet, und mit welcher unsere Zeit Nichtigkeit, Bestimmtheit,

Gründlichkeit,

Gediegenheit,

Tiefe,

Klarheit,

Ausglättung,

Feinheit, Reinheit,, Vollendung und Verständlichkeit entbehrt; Daß dieser Mangel an Schärfe mindere Stufe des Denk­ vermögens ist;

Daß aus diesem Mangel an Schärfe

eine verheerende

Ueberströmung unserer Zeit mit Schlechtem und Unverständi­ gem hervorbricht, in welcher das Bessere nicht gedeih»,

nicht

bleiben kann; daß unsere Zeit zu -viel schreibt, als daß sie gut

schreiben könnte; Daß unsere Zeit, nach Geistesreichem strebend, dieses aber

von der Schärfe und Wahrheit sondernd, bloß das Pikante, Frappante, in falschem Schimmer Hervorstehende ergreift, das wahrhaft Geistreiche hingegen, Schärfe hervorgeht,

das nur aus der Tiefe und

gerade dadurch verfehlt, überhaupt aber

durch das Hervordrängen des unächten, nur vermeinten Geist-

209 reichen der Schärfe, der Tiefe, der Wahrheit, dem Schön­

heitssinn ,

der Gediegenheit und der Verständigkeit selbst Ab­

bruch thut; Daß unsere Zeit, wie in den Gedanken, so auch in der

Rede nicht Schärfe, Richtigkeit, Reinheit, Bestimmtheit, An­ gemessenheit, Klarheit, Veredelung, Schönheit erstrebt;

Daß in der Kunst unsere Zeit, indem sie sich von der

Klassizität entfernt, von dem Streben

nach Schönheit und

Vollendung selbst, von hoher und edler Kunst sich abwendet, an die Stelle des tieferen Sinnes der Kunst die Virtuosität setzt, statt Kunstgenusses gemeinen Reiz sucht; Daß unsere Zeit auf dem Wege ist, sich der Bildung an klassischen Werken,

an der Beschäftigung mit dem Vortreff­

lichsten und Durchbildetsten, was die Welt hat, insbesondere

mit der alten klassischen Literatur, immer mehr zu entwöhnen, und so einen nicht zu ersetzenden Weg zur Durchbildung und

Vervollkommnung zu verlassen; Daß die heutige Philosophie indem sie das, was nicht zu

finden ist, sucht und gefunden zu

haben glaubt,

und indem

sie über die Beziehungen, welche das Höchste und die Grund­

lage unserer Erkenntniß sind, hinausgehn will, durch Aufhe-

bung des Gegensatzes,

in welchem das Wesen alles Seyns

und aller Erkenntniß ruht, in die Leere der Unbestimmtheit,

in die Vermischung des Entgegengesetzten,

des Seyns und

Denkens, in ein unendlich breites und doch das Ziel nicht er­ reichendes Gedankenspiel sich verliert, und, vor Spitzfindigkeit

nicht zur Schärfe und Richtigkeit gelangend, durch Unverständ­

lichkeit unzugänglich,

immer mehr dm Eingang in die allge­

meine Bildung sich verschließt, deren Grundlage doch die Phi­

losophie seyn muß; Daß eine Zeit, welche des Strebens nach dem Höheren,

des Ernstes und der Strenge, der Innerlichkeit des Triebes

14

210 nach der höheren Bestimmung und der Vollendung, welche der Ausbildung zur Scharfe ermangelt, eben damit die wesentliche

Tugend und wahre Grundlage der Sittlichkeit, der Bildung

des Willens zur Sittlichkeit wie der

Erkenntniß und des Ge­

fühls des Sittlichen, und daß sie eben so damit die Grundlage

der Religiosität entbehrt;

Daß in unserer Zeit die Folgen des Mangels an Rich­

tung auf das Höhere, auf Herausgehn aus der Individualität auf Anschließung an die höhere Ordnung sich Mangel an Gehorsam, an Scheu,

namentlich

an Demuth,

in

an Beschei­

denheit verkünden;

Daß bei allen Fortschritten des

öffentlichen Lebens und

der politischen Ansicht in unserer Zeit dennoch

Gewinn und

Verdienst zweifelhaft bleibt, wenn wir nach den zwei Bedin­ gungen, politischer Tugend und Schärfe und Gründlichkeit des

Urtheils, fragen, wenn wir von dem Gewinn politischer Auf­ klärung und Erregung den Nachtheil der neuen Irrthümer und

der Erfüllung der Gemüther

unberufenen

von

anmaßlichen

Urtheilen und von Leidenschaftlichkeit abziehn, wenn wir erwä­

gen, wie wenig Fähigkeit, Maß, Takt, Ausbildung, Weisheit gerade jetzt in dem öffentlichen Leben zu Tage gelegt wird, wie namentlich in Frankreich und England die Angelegenheiten

immer mehr sich verwirren und das Gedeihn des constitutionel-

len Lebens immer zweifelhafter wird,

wie wenig gesichert das

neue Leben ist, wie theuer die Bewegung der Zeit bezahlt wird, worauf wir unten zurückkommen; Daß, so wie in der Abwendung von dem Höheren,

von

Ernst und Strenge, von Schärfe, so wie in der ganzen Rich­

tung der Geistesbüdung, so auch in dem gegenwärtigen Zustande der philosophischen und christlichen

Religionslehre unsere Zeit

nicht auf dem Wege der Förderung religiöser Bildung ist; Daß, wie zunächst aus dem Vorstehenden folgt, in Wis-

211 senschaft und Kunst der Bildung unsere Zeit, das rechte Ziel überall nicht sieht und nicht verfolgt; daß sie statt der höheren

Bestimmung des Menschen die Zwecke des äußeren Lebens zum Ziele setzt;

giebt,

daß

sie damit dem Willen

die falsche Richtung

so wie sie in der Ausbildung des Denkvermögens das

Streben auf einen falschen Glanz richtet statt auf Schärfe, Wahrheit und Bestimmtheit;

Schauder

daß sie voll Verblendung,

erregender Hastigkeit,

ohne Ahnung

mit

einer Gesichr

oder der Schwierigkeit, nach ihrer irrigen Ansicht das Werk der Bildung umgestaltet und dem

Gange der Bildung eine neue

Bahn giebt; daß die Gegenwart und die Zukunft an dem Sinne,

dem Geiste der Welt, welche die Hochschule der Bildung ist und

seyn muß, nicht eine gute Schule hat;

daß unsere Zeit mehr

zur Virtuosität und zur Verkünstelung, nicht zu dem tiefen,

durch Einfachheit das Rechte treffenden Blicke erzieht;

daß sie

zu viel lehren will; daß sie mehr fremden Gedanken zu folgen

als zu denken gewöhnt; daß sie durch Verkümmerung das Stu.

dium der griechischen und römischen Literatur, durch krasttödtende Ueberhäufung mit Sachkenntnissen, und vielleicht ist auch hinzuzusetzen dnrch unangemessene Begünstigung des mathema­

tischen Studium als allgemeinen Bildungsmittels,

einen ent­

scheidenden Rückschritt in der Bildung zu thun im Begriffe ist.

Fassen wir nun diese Züge in Ein Bild zusammen, und verbinden wir damit die Bemerkung,

wie wenig Großes

und

Edles, in Vergleich mit dem, was namentlich unser Deutsch­ land in der zunächst vergangenen Zeit erzeugte, unsere Zeit in

dem leistet, worin doch am meisten der Geist sich offenbart,

insonderheit in der Poesie gleichwie in der Musik, so gelangen

wir zu einem höchst ungünstigen Ergebniß über den Stand­

punkt, die Richtung und den Gang der Bildung unserer Zeit. Ganz anders ist aber die Ansicht, welche im Perkehr mit un­

serer Zeit selbst sich uns aufdringt,

und von welcher wir alle

14»

212 uns mehr oder weniger nicht losmachen können.

Denn ein Irr­

thum, den wir urtheilend erkennen, behält doch oft noch seine

Gewalt in dem Eindrücke der Erscheinung.

Der Schein, der

einmal in unserer Vorstellung sich erzeugt hat, weicht nicht im­

mer vor der richtigeren Einsicht, die wir wirklich fassen mögen; er ist nie von dem Urtheile zum Theil unabhängiger Eindruck;

und wissend, daß es nur Schein, nicht Wahrheit sey, können wir uns doch nicht von seiner Täuschung losmachen.

Wenige mögen freilich sich die Hoheit der Bildung des

Volkes deutlich und lebhaft vorgestellt haben, dem schon in den

Träumen der Kindheit die Kunst und die Wissenschaft und die

Anmuth als Gottheiten erschienen waren,

welchen es immer

opferte; das in weit zurückliegender Zeit der ersten Jugend Ge­ sänge sang und als Volksbildung aufnahm,

die Bewunderung der Welt sind;

welche noch

jetzt

unter welchem Kunst und

Wissenschaft entkeimten und hoch aufwuchsen, Kunst, Sprache,

Rede, Gedanke zu nicht wieder erreichter Höhe sich erhoben; dessen Bildung auf Gymnastik

des Denkens und der Rede,

auf Kunst und Philosophie, auf dem Streben nach der Schön­ heit,

der Geniessenheit, der Zierlichkeit und

der

Vollendung

ruhte; bei welchem die treffende Kürze der spartanischen Rede kaum weniger Bewunderung verdienen möchte, als die Be-

redtsamkeit der Athener; unter welchem die Hymnen des Pin-

dar und die Dramm des Aeschylus und des Sophokles nicht bloß entstanden, sondern auch zum Leben und zur Bildung des Volkes gehörten, bei welchem die Kunst der Rede sich bis zur

Verschmelzung mit der Musik verschönte, Tanzkunst wie Mu­

sik, durch Vereinigung mit der Poesie zu ernster Kunst ver­ edelt, nicht zu unwürdigen Kunststücken oder leerem Treiben herabgesetzt wurden; unter welchem der gesellige Kreis durch

Spende und Gesang dem weihte;

edleren

Streben des Geistes sich

wo in einem Zeitalter der enge Raum Einer Stadt

213 Sophokles, Euripides, Aristophanes,

Anaxagoras, Sokrates,

Plato, Was, Herodot, Thucydides, Xenophon, Phidias, Polygnot, Zeuxis, Aspasia und Diotima und zahlreiche ihnen na­ he stehende Genossen in sich schloß; in welchem nicht bloß So­

krates, Plato und Aristoteles in der Richtung auf das innere Leben des Geistes und in dem Durchdrungenseyn von dem Wer­

the dieses höheren Lebens groß waren.

Wenige mögen mit

jener das Innerste des geistigen Wesens

ergreifenden Bildung

der Griechen die todte Ausstattung unserer Zeit mit Kenntnissen,

wenige mögen etwa mit einem Symposion zu Athen, wie doch nicht bloß Plato und Tenophon sie gedichtet haben, sondern die Wirklichkeit sie gehabt hat, mit seinen Weihungen und Gesän­ gen vor und nach der Malzeit und mit seinen philosophischen Gesprächen und seinen Tänzen ein Gastmal der heutigen Welt,

oder mit einer öffentlichen Verhandlung, wie wir sie bei Thu­ cydides lesen, eine diplomatische Note unserer Zeit, oder ande­ res aus beiden Zeiten streng und scharf verglichen haben.

Al­

lein selbst wer die griechische Welt kennt und schätzt, der wird doch, unabhängig von seinem Urtheile, eines Bildes sich kaum

erwehren können, in welchem hinter unserer Aufklärung,

seren Erfindungen,

un­

unseren Fortschritten der Civilisation die

Bildung der Griechen und Römer weit zurücksteht.

Wie nun

das Ausgezeichnetste der Vorzeit nicht zu seinem Rechte in un­ seren Vorstellungen gelangen kann, so

erscheint vollends im

Vergleiche mit andem weniger hoch stehenden Völkern und Zei­

ten der Vergangenheit die Gegenwart in einem Glanze, wel­

cher dem oben zusammen gestellten Ergebnisse genauerer Be­ trachtung der Bildung unserer Zeit keineswegs angemessen ist. Sieht uns nicht die Gegenwart aus, als erblühe erst in ihr

eine Kraft und Ausbildung des Geistes, eine Verfeinerung des Lebens, der Art und der Erscheinung des menschlichen Geschlechts,

von welcher alle Vorzeit weit, weit entfernt gewesen sey?

als

214 entwickele sich erst seit gestern das menschliche Geschlecht zu ei­

nem solchen, welchem wir uns näher verwandt fühlen können ?

Vergebens sagen wir uns, daß in allen dm Leistungen des

Geistes, wo die schöpferische Kraft des Genius vorzugsweise sich kund thut,

haben,

andere Zeiten ohne Vergleich Höheres erzeugt

als die unsrige.

Niemand

verkennt es,

daß un­

sere Zeit nichts hat, was auch nur von fern den Schöpfungen des Homer, Pindar, Sophokles, Dante, Ariosto,-Cervantes,

Shakespeare, Göthe, oder den Werken des Plato, Demosthe­

nes, Cicero,

oder des Phidias,

oder des Raphael und seiner

Zeitgenossen, oder Pergolese's und Mozart's gleich käme. Nie­

mand vermag es zu läugnen, daß unsere Zeit nichts Aehnliches

hat, wie jene hehre Schöpfung der Griechen an Gedanken und Kunst, wie jener Schwung der Geister in Erregung für das

Bildungsstreben im fünfzehnten Jahrhunderte, selbst nicht ein­

mal wie jene Verfeinerung der Bildung in der Zeit Ludwig des Vierzehnten.

Und dessen ungeachtet scheint uns über die

Zeiten, in welchen der Geist so hohe Stufen erreichte, in Bil­ dung weit emporzuragen die Zeit, welche nichts Aehnliches er­

zeugt und seit einem Menschenalter namentlich in Poesie und

Musik und durch Hervorbringung und Aufnahme einer ver­

worfenen

Literatur einen ungeheuren Verfall zeigt.

Immer

erhebt sich unsre Zeit weit über die letztm Menschenalter, diese

Zeit reich an hohen Namen, denen unsere Zeit nichts zur Ver­ gleichung entgegen zu stellen hat, über die Zeit, in welcher die Ideen erzeugt und ausgebildet worden sind, auf deren Ver­

breitung und Geltendmachung unserer Zeit stolz ist.

Und je

weiter zurück, desto dunkler erscheint uns die Welt in Ver­ gleich mit der Helle der Gegenwart.

Das Mittelalter erscheint

Ich will es nicht preisen,

aber diese

unbeschränkte Bezeichnung als schlechthin barbarisch,

diese tiefe

uns nur als Barbarei.

Stellung in Vergleich mit unserer Zeit sollten wir ihm doch

215 nicht geben, wenn wir etwa auf die poetischen Bestrebungen des Abendlandes und den einzigen Dante, oder auf die herr­

lichen Werke der Baukunst, Zeit,

oder auf die Philosophie Mer

die mir nun hinter der neuesten Philosophie doch nicht

so unermeßlich weit, als diese glaubt, abzustehn scheint,

oder

auf Wissenschaft und Kunst und den Glanz des Lebens in den Landern,

wo

Blick werfen.

arabische

Herrschaft

hingekommen war,

den

Eben so möchte aus der alten Zeit ein Indier

oder Perser oder Phönizier,

oder Aegypter oder Karthager,

nach einer richtigen Abschätzung seiner Bildung und der unsri-

gen, höher zu stellen seyn als es uns jetzt scheint.

Die Be­

hauptung aber, daß irgend eine Bildung der unsrigen gleich,

wohl gar über ihr gestanden habe, würde den Meisten Thor-

heit und Frevel dünken.

Rein Thorheit,

scheint ihnen nur

die Frage, ob jetzt wirklich größere Schärfe des Denkens, ein gediegeneres Urtheil gefunden werde, als in der Zeit des Dante

oder im fünfzehnten Jahrhunderte

Um unsere Ansichten von dem Werthe unserer Bildung an sich und in Vergleich mit der Bildung früherer Zeiten zu

läutern, haben wir außer der genaueren Betrachtung dessen, was denn nun als Fortschritt und Fortschreiten unserer Zeit

in der Bildung zu rühmen seyn möchte, uns die Ursachen der

Täuschungen klar zu machen, welche sich in die Vergleichung der Bildung der Gegenwart und der Vergangenheit einzudrän­

gen pflegen.

Täuschung hierin müssen wir schon voraussetzen, weil wir

wissen, daß das Nahe stets größer erscheint als das Ferne, und hier nicht Gewöhnung erworben werden kann wie bei dem

Sehen.

Insbesondere aber wollm wir uns erinnern, daß na­

mentlich Erfindungen nicht mehr groß erscheinen, sobald es un­

serem Gedächtnisse nicht mehr lebhaft vorschwebt, wie es war, da wir sie nicht hatten.

Daher imponiren uns die neuesten

216 Erfindungen,

nicht die deS Lumpenpapiers,

der Vergrößerungsgläser und Fernröhre,

des Kompasses,

des Schießpulvers,

der Buchdruckerkunst. Vielleicht ist nie eine Zeit ohne die Vorstellung von dem

Verfall der Zeit gewesen.

Fürs erste, weil das größer erscheint

was naher ist, müssen den Tadlern die Mängel der eignen Zeit als die größten erscheinen, wie von der andern Seite denen,

die einmal mit ihrer Zeit zufrieden sind, der eignen Zeit sich größer darstellen;

scheinen

auch die Verdienste

oder auch denselben er­

sowohl die Mängel und Sünden als auch die Ver­

dienste und Tugenden der Gegenwart größer als die der Ver­ gangenheit.

Ferner bildet sich gegen die eigene Zeit leicht ein

Widerstreben und ein befangenes, nicht gerechtes Urtheil bei de­ nen, welche mit ihrer Bildung vergangenen Jahren angehören,

und welchen an Neues sich zu

gewöhnm unbequem und

das

Neue schon darum nicht willkommen ist, weil die Jüngeren

sich damit über sie zu erheben scheinen, und weil sie das Alte, das verdrängt wird, als ihre Sache ansehn.

Aus gleichem

Grunde aber läßt wiedemm die neue Zeit gewiß nie der alten ihr Recht widerfahren; sie erhebt sich allemal über das Sonst.

Die der neuen Zeit angehören, die selbst die neue Zeit Hervor­

gemsen haben und sie bewegen, müssen das Neue für das Rechte halten, denn darum haben sie selbst das Neue so und nicht

anders gestaltet; sie müssen das Neue lieben, denn es ist ihr Werk und ihnen gehörig; und wenn sie dem Alten in Ver­ gleichung mit dem Neuen nicht sein Recht widerfahren lassen,

so ist es nicht anders, als wie immer die Menschen in Ver­

gleichung fremder Eigenschaften mit den eigenen nicht unpar­ teiisch sind.

Die Zeit kann so wenig wie der einzelne Mensch

mit Unbefangenheit über sich selbst urthellen.

In dem Urtheile

der Zeit über sich selbst überhaupt aber ist von jenen zwei entgegengesetzten Befangenheiten, der Mißbilligenden und der

217 Billigenden,

die der letztem die vorherrschende und das gün­

stige Vorurtheil das überwiegende,

kommende

Charakter nur darum

weil er vorherrscht.

da ja eben der in Frage

Charakter

unserer Zeit ist,

Es kömmt hinzu, daß, bei der verschie­

denen Ausdehnung des Begriffes unserer Zeit,

in den Zügen,

welche einen früheren Ursprung haben, die Aelteren selbst zu unserer Zeit gehören und darum

sich zur Ueberschätzung der

Zeit mit den Jüngeren vereinigen. lige des Neuen und Jungen

Ohnedieß hat das Gefäl­

seine Gewalt

auch über die

Aelteren. Die Begünstigung des Neuen ruht zunächst auf der Un­

gunst des Alten.

Die Mängel des Alten sind eben darum,

weil es alt ist, erkannt und gefühlt worden.

Ein Verlangen

nach Beseitigung dieser Mängel kömmt daher allem Neuen

begünstigend entgegen.

Nun hat auch das Neue leicht eine

Seite, von welcher es wirklich das Bessere ist; und da natür­ lich die Beseitigung der längst gefühlten Mängel mebr heraus­

tritt, als die Behaftung mit einer noch nicht gefühlten Man­

gelhaftigkeit, so wird das Neue leicht von dieser besseren Seite

angesehn und darum scheint es überhaupt das Bessere zu seyn. Ferner hat die Neuheit an sich ihren Reiz im Gegensatze gegen

das Alte, wie das Modische als Modisches reizt und selbst als das Schöne erscheint.

Die Empfänglichkeit für den Eindruck

wird durch die Gewohnheit des Eindrucks abgestumpft, und bedarf neuer Weise der Erscheinung, um gereizt zu werden.

Aber auch schlechthin, selbst wenn es uns nicht reizte, hat das Neue als Neues den Vorzug.

Die Neuheit ist einmal dem

Menschen lieb und giebt einen Schein der Trefflichkeit.

An die Gewalt der Neuheit schließt sich die Gewalt der Mode; denn ein anderes allgemeines Wort für diesen Begriff

hat die Sprache nicht.

Das Modische hat selbst wieder seine

Gewalt zum Theil von dem Reize der Neuheit; aber das

218 Wesen der Mode ist, daß sie als Federung der Zeit oder durch

die Gunst der Zeit imponirt.

Das Modische ist zugleich das

Neue und auch das, was im Besitz der Anerkennung ist, schon eine Gewohnheit, aber die neue Gewohnheit.

begünstigt

oder

was

fodert,

allgemein gilt,

Was die Zeit imponirt uns.

Durch die Mode erhalten die Gegenstände selbst in den Augen der Tadelnden doch ein Ansehn der Zierlichkeit, des Geschmacks,

der Schönheit,

der Verfeinerung,

der Bildung.

Niemand

kann sich der Gewalt zu blenden dessen entziehn, was der Sitte

und Gewohnheit des Tages, dem Geiste der Zeit angehört.

Auch wer die Nichtigkeit des Modischen einsieht, dem macht es

doch einen Eindruck, als ob es ein Recht hätte.

Und vielleicht

hat zu keiner Zeit die Mode so große Gewalt gehabt als jetzt, in Folge des Uebermaßes der Bewegung, der Geringschätzung des Alten, der Begierde nach Neuem und nach Aenderung, wie

auch die Mode in den Kleidern vielleicht nie so schnell gewech­ selt hat als jetzt.

Diese Gewalt der Mode über unser Urtheil

nun beschränkt sich nicht auf das, wo nur Geschmack herrscht,

sondern sie dehnt sich auf alles Urtheil aus.

Auch in der Lite­

ratur wie im Leben giebt es eine Herrschaft der jetzt gewöhn­

lichen Art, welche eben so sehr für das Trefflichere unempfänglich macht und dem Geringeren, Nichtswürdigen Eingang verschafft,

als es die Leistung selbst von dem Trefflicheren abzieht und

nach Werthlosem wendet.

So herrscht auch Geschmack, Styl,

Mode in dem, was uns als Bildung erscheint.

Weiter geht nicht bloß aus dem Reize der Neuheit und dem Jmponirenden der Mode Täuschung über den

wahren

Werth der Dinge hervor, sondern schon Nähe und Ferne der

Gegenstände, ferner Gewöhnung und Verwöhnung entscheidet über unser Urtheil.

In das, was uns fern liegt, was unserer

Gewöhnung ftemd ist, können wir uns nicht hinein fühlen, nicht hinein denken.

Unsere Bildung ist die Form unseres

219 Denkens, die wir nicht verlassen können.

Unsere eigene Bil­

dung ist für uns das Licht, mit welchem wir die Außenwelt

beleuchten.

Und hierbei muß man sich erinnern, wie sehr die

äußere Erscheinung, die mehr in der Mode ihre volle Geltung hat, über die Anerkennung des wesentlichen Werthes entscheidet, die weniger abhängig von der Mode zu seyn scheint.

So wie

wir uns mit dem Bilde des größten Geistes in einer Allongen­ perücke nicht befreunden, diesen Mann nicht als unserer Art,

nicht als unseres Gleichen betrachten können, welche hohe Vor­

stellung wir auch von seiner Bildung haben mögen, und wie des schönsten und li-benswürdigsten Weibes eines vergangenen

Jahrhunderts Anmuth und Schönheit in ihrem Bilde zu sehn

und zu fühlen der hohe steife Haarputz und die ungewohnte Kleidung uns hindert, so übt auch Verschiedenheit der Weise

und der Sprache eine Gewalt, welche unsere Empfänglichkeit

für den Gedanken aufheot.

Noch mehr als in Dünkel und Selbstsucht liegt der Grund, warum immer jedes Volk, schon das griechische, den fremden

Völkern in Vergleichung ihrer Bildung mit der eigenen Unrecht gethan hat, in der Unempfänglichkeit für Erscheinungen und Eindrücke, für welche unser Gefühl, unser Blick, unsere Bil­

dung nicht vorbereitet ist.

Neues wird begehrt, aber die Auf­

nahme der Erscheinung, der Eindruck muß vorbereitet seyn.

Wir müssen mit dem Geiste und der Art dessen durch Umgang

vertraut worden seyn, was wir recht verstehn sollen.

Es ist

nöthig, in fremden Geist, fremde Weise sich hinein zu denken

und zu fühlen.

Am klarsten wird dieß jedem bei der Sprache

seyn, deren Worte und Wendungen

und Beugungen

einen

Charakter und einen Ausdruck haben, welcher nur bei Vertraut­

heit mit ihrem Gebrauche in einer bestimmten Zeit recht gefaßt werden kann.

Schon deshalb gehört auch die Poesie hierher,

und alle Literatur, so weit sie in der Sprache ihren Geist und

220 ihren Charakter hat.

Es gehört aber überhaupt alles hierher,

worin der Geist sich ausspricht.

Wer am meisten von der

Herrlichkeit einer Pindarischen Hymne oder einer Tragödie des

Aeschylus ergriffen wird, hat doch gewiß noch lange nicht das

volle Verständniß ihrer Bedeutung und ihrer Schönheit.

Nie­

mand fühlt die griechische Sprache wie seine Muttersprache, wie die Griechen sie fühlten, gleichwie wohl niemand das grie­

chische Metrum fühlt, niemand

griechische Musik so fühlen

würde, wie die Griechen sie fühlten.

Der Geist der Musik ist

schon dem nächsten Menschenalter schwer zu fühlen, ja dasselbe

Geschlecht wird unempfänglich für das, wovon es früher gereizt wurde.

Der Grund ist zunächst, weil wir nur durch vertraute

Bekanntschaft das Verständniß empfangen, also Sinn und

Charakter des Ungewohnten weniger vernehmen.

Hierzu kömmt

aber noch, daß die Verwöhnung an eine bestimmte Weise, an einen bestimmten Geschmack und Styl uns unempfänglich für

andere Weise macht, insbesondere die Verwöhnung an das Verkünstelte und an Unnatur unempfänglich für das Einfache, Natürliche, Reine. Am meisten tritt freilich diese Unempfänglichkeit für das Fernliegende hervor bei dem, wo theils mehr Geschmack als

bestimmtes Urtheil nach Gründen entscheidet, theils erfoderlich ist, sich in die Weise fremder Zeiten hinein zu fühlen, wo über-

Haupt das Gefühl entscheidet.

Aber fürs erste beschränkt dieß

sich nicht etwa bloß auf das, wo Willkühr volles Recht hat. Der Abhängigkeit des Kunsturtheils und des Kunsteindrucks

haben wir schon gedacht.

Und nicht minder hängt in Bezie­

hung auf das Sittliche unsere Vorstellung und unser Urtheil von dem Herkommen und von der Gewöhnung ab.

Denn

nur die Formel des Sittengesetzes, nur die Vorschrift sittlich zu seyn ist durchaus in der Vernunft gegründet.

Die Frage,

was sittlich sey, ist kaum weniger abhängig von der Convenienz,

221 als die Bestimmung, was Rechtens sey, von der Willkühr des Herkommens und der Gesetzgebung abhängig ist.

Es er-

innett uns daran, daß auch im Physischen der Ekel von un­

serer Vorstellung und die Vorstellung von Gewöhnung abhangt. Daß in Kleidung und Rede der Anstand und selbst die Scham­

haftigkeit nach der Convenienz der Völker und der Zeiten zu

beurtheilen ist, fallt in die Augen.

Allein auch die Güte und

die Pflicht gegen Andre ist nicht minder abhängig von her­ kömmlicher Vorstellung. ders aus als uns.

So sah Feigheit den Alten ganz an­

Dem Vaterlande die Selbstaufopferung

verweigern ist in unseren Zeiten nicht solche Entwürdigung wie in alten Zeiten.

Die Tugenden selbst haben verschiedenen Werth

zu verschiedenen Zeiten. Was dieser Zeit natürlich und menschlich

scheint, ist jener roh und grausam; die Handlung des älteren Brutus wäre jetzt eine ganz andere als im alten Rom.

Was

der einen Zeit einfach scheint, ist der andem einfältig.

Ferner in Hinsicht auf geistige Bildung können wir noch

weniger als in Hinsicht auf Sittlichkeit aus der uns eigenthümlichen Art herausgehn.

Was wir hierin haben, erscheint

uns so sehr als das Wesentliche der Bildung, als so unerläßlich, daß Besitz oder Mangel hierin unser Urtheil über ftemde Bil­ dung entscheidet, wogegen das, was uns fehlt, nie als so

dringend nöthig erscheint.

Das Vorurtheil gegen das, das uns

fern steht, ist weit größer in Beziehung auf die geistige Bildung als auf die Sittlichkeit.

Wir setzen bei dem, was uns fern

liegt, weit eher einen Vorzug in der Tugend, als eine der

unsrigen gleich kommende geistige Bildung voraus.

Wo auch

bloß der Verstand in Anwendung kömmt, nicht eigentlich Ge­ schmack und Gefühl, da können wir doch nur dem Jdeengange recht folgen, für welchen wir vorbereitet sind.

Dieß ist vor

Allem an der Wissenschaft aller Wissenschaft sichtbar. dringen schwerer in die Philosophie älterer Zeiten ein.

Wir

Und je

222 mehr unsere Philosophie das Räthsel der Welt zu lösen glaubt und die Erkenntniß des Wesens der Dinge im tiefsten Grunde

und im Zusammenhänge

erfassen will, desto

unzugänglicher

wird für den, dessen philosophische Bildung auf einem solchen Systeme sich gründet, alles was die frühere Welt außerhalb

dieses Systemes philosophirt hat.

Je mehr die Philosophie als

Uebersicht eines wissenschaftlichen Ganzen erlernt wird, desto mehr verliert sich das Verständniß der Schöpfungen früheren

Philosophirens.

Wenn man nicht sagen will, daß Plato und

Aristoteles uns schwerer verständlich seyen, als neuere unendlich

weniger klare Systeme, so muß man doch einräumen, daß wir

bei ihrem Vergleiche mit diesen schwerlich ihnen ihr Recht wi­ derfahren lassen können, schwerlich schon in der Beurtheilung der Lehren und des Scharfsinns, wobei wir immer nach unserer

philosophischen Ansicht messen, noch schwerer in Beurtheilung des Werthes und des Verhältnisses zur Geistesbildung.

So

sehr wir auch in aller Vergleichung unserer Bildung mit der Bildung entfernter Zeiten irren, so doch vielleicht auf keiner

Seite so sehr, als in der Vergleichung unserer Philosophie mit älterer Philosophie.

Vielleicht möchte keine Frage, um nicht

an eine Behauptung zu denken, größeren Anstoß geben, als diese, ob man etwa sagen könne, daß die neueste Philosophie nicht weniger des Irrthums habe als die frühere, und nicht

mehr Schärfe des Philosophirens, daß seit Kant die Philosophie nur zurückgeschritten sey, und daß ein tiefer Stand der Bildung in nichts so sehr sich offenbare als in unserer Philosophie.

Und wie wir Werth und Verdienst der Vorzeit schwer

erkennen,

so werden wir auch durch Verwöhnung unfähig,

Fehler und Unwerth der Gegenwart zu sehn.

Fehler, die zu

allen Zeiten wiederkehren, sehn wir doch nur an dem Alten,

nicht an dem Neuen.

In der Gewöhnung oder Verwöhnung

des Geschmacks erscheint uns nur an der Vorzeit Unnatur,

223 Ungeschicktheit, Rohheit als unnatürlich, ungeschickt und roh, nicht aber an der Gegenwart, an die wir gewöhnt sind.

So

sehn wir Steifheit und Unnatur bloß an Trachten und Sitten

So finden wir Pedantismus nur an dem

der Vergangenheit.

Geiste der vergangenen Zeit, und insbesondere an dem, was aus dieser Zeit bis auf uns herüber gekommen ist.

überall, wo Einseitigkeit ist,

Er ist aber

entweder in Verfolgung eines

Zweckes, worin das wahre Verhältniß des Werthes verkannt

und der minder wesentliche Zweck dem wesentlicheren vorgezogen wird, oder in der strengen Befolgung des Buchstabens einer

für allein gültig gehaltenen Methode.

In der Betreibung aller­

anderen Unterrichtsgegenstände kann so viel Pedantismus seyn, wie in der philologischen, und in der jüngsten Methode so viel

wie in der alten.

Und da Pedantismus vorzüglich in Unnatur

und Verkünstelung liegt, so scheint es, daß er in der neuen

Zeit, welche doch in allem Alten Pedantismus sieht, nur wachse und wachsen werde.

Nichts ist pedantischer, als die Ansicht,

daß alles in der Schule und schulmäßig gelehrt, daß alles regelmäßig eingeübt werden solle, nichts pedantischer als die

Uebcrhäufung

der

Schulen

mit Unterrichtsgegenständen,

die

Erfodcrung zu vieler Kenntnisse auf Kosten der Erkenntniß. Das Bild, das wir uns von dem Ganzen der Bildungs­

geschichte des menschlichen Geschlechts entwerfen, wird ferner

durch die Täuschung besonders entstellt, welche uns die Erzeug­

nisse und Spuren der Bildung ferner Zeiten immer als einzeln stehend, als einzelne Lichtpuncte auf dunklem Grunde erscheinen

läßt, die Gegenwart hingegen wie durchaus erleuchtet.

Aber

alles Werk der Bildung ist nicht wie ein erleuchteter Punct,

der die Dunkelheit der Umgebung nur desto greller erscheinen läßt, sondcm es ist gleich einem leuchtenden Puncte, der nicht ohne Erleuchtung der Umgebung gedacht werden kann.

Und

dieß in doppelter Hinsicht: nicht bloß daß dieses Punctes Licht

224 auch wieder die Umgebung erleuchtet, sondern auch keine Bil­

dung entsteht einzeln, ihr Licht muß sich an anderem Lichte entzündet haben; ja es zeugt jedes Werk auch darum schon von seiner Zeit, weil es nicht entstanden seyn würde, wenn

seine Aufnahme nicht vorbereitet gewesen wäre, denn alle Leistung wird durch die Empfänglichkeit der Zeit bestimmt.

Und

so ist jedes einzelne Werk sicherer Beweis von der Bildung des Volkes und der Zeit, in so weit nicht ein einzelner Geist

mit seiner Bildung ganz der Vorzeit oder dem fremden Volke

angehören könnte.

Aber in dem meisten, und namentlich in

dem, was Zeugniß vom Geiste giebt, gehört jeder seiner Zeit

und seinem Volke an, vor allem in der Sprache.

An einem

Dante oder einem Cervantes kann man ihre Zeiten messen, und wie ganz anders erscheinen dann diese Zeiten! Andere Quellen der Täuschung bei Beurtheilung entfernter Zeiten und bei ihrer Vergleichung mit der Gegenwart sind in dem zweiten Abschnitte dieser Blätter schon erwähnt worden.

Mit dem Verdienste der Zeit ist ihr Besitz nicht zu vermischen. Das Verdienst der Zeit beruht nicht auf dem, was sie besitzt,

sondem auf dem, was sie selbst erzeugt.

Und wieder im Besitz

ist der Reichthum, der ungenutzt, unverstanden und ungefühlt da liegt, zu unterscheiden von dem, was in uns lebt und wirkt; was nicht in unseren Geist eindringt und nicht lebendig in uns

wirkt; womit wir uns vielleicht gar nicht einmal beschäftigen,

das haben wir nicht, das ist nicht für uns da.

Insbesondere

ist die Aussicht für die Zukunft nicht nach dem zu fassen, was

in der Zeit vorhanden ist, sondem bloß nach dem, was von der Zeit erzeugt wird, oder doch in ihr wirklich lebt.

Denn

nur hierin hat die Zeit ihre Richtung, und nur dieß bildet sich fort; was bloß vorhanden ist, wird leicht verloren gehn.

Endlich der Irrthum, welchen falsche Schätzung des Wer­ thes der einzelnen Erscheinungen der Bildung über alle Beur-

225 Heilung der Bildung einer Zeit verbreitet, dringt vorzugsweise

in die Vergleichung der Gegenwart mit der Vergangenheit.

Denn mit dem, was durch Glanz, obgleich werthloser, das Werthvollere überstrahlt, blendet die Gegenwart mehr als die

Vergangenheit; die Fortschritte der Gegenwart fallen mehr in die Augen, der Schimmer des Nahen strahlt mehr.

Und von

diesem Standpuncte aus zunächst sind die Fortschritte unserer Zeit zu betrachten.

Niemand wird zugeben, daß er in seinem Urtheile das

Wesentliche dem Unwesentlichen,

das Innere dem Aeußeren,

den Werth dem Glanze nachsetze.

Und doch ist jeder, selbst in

Widerspruch mit seinem eigenen Urtheile, der Macht eines Ein­ drucks unterworfen, welcher mit dem wesentlichm Werthe der

Dinge nicht in Verhältniß steht.

Von dem Eindrücke der

günstigeren oder ungünstigeren Erscheinung kann niemand sich losmachen, und die Erscheinung entspricht in Glanz und Ein­ druck keineswegs immer dem Wesen und dem Werthe.

Es ist

in der Rangordnung, nach welcher die Bildung geschätzt zu

werdcn pflegt, vielleicht nicht weniger Vorzug des Unwürdige­ ren vor dem Würdigeren, als in unseren Hofrangordnungen;

und der Rang, den die allgemeine Meinung jedem anweist, findet überall seine Anerkennung.

Abgeschliffenheit und Politur

haben immer den Vortheil der Erscheinung.

Politur, Gewandt­

heit, Weltton, vornehmer Ton, aller Glanz der äußeren Er­ scheinung imponirt uns allen.

Das Aeußere hat schon darum

den Vorzug, weil es am meisten erscheint und daher leicht

erkennbar ist.

Civilisation und Cultur der Völker ist leichter

zu erkennen als die Stufe ihrer Bildung.

So weit tritt die

äußere Bildung vor der inneren vor, daß sie wohl vorzugs­ weise Bildung genannt wird.

Wer auch dem mit Wissenschaft

so reich ausgestatteten wie in Sittlichkeit durch Zaetsinn und Gefühl und Urtheil ausgezeichneten Manne den Preis höheren 15

226 Werthes ertheilt, wird doch daS Lob der Bildung nicht um dieser Eigenschaftm willen aussprechen, wohl aber es dem Manne

von ausgeglätteter Erscheinung zutheilen, wäre er auch minder

ausgestattet mit Wissen, Kunst, sittlichem Urtheil und Sinne.

Dieser Mißstand wird um so auffallender, wenn man bemerkt, daß, was für Bildung in diesem Sinne gilt, großentheils nur

Erfoderniß der Convenienz, nur willkührliche Manier ist, daß es nur darum gilt, weil es gerade jetzt und gerade hier als

Ton ausgenommen ist, daß der Gewandtheit und Abgeschliffen­ heit der Weltleute oft der Verstoß gegen die wahre gute Sitte,

auch des Betragens, recht nahe liegt.

Ja was gar nicht zur Bildung, nicht zur Vervollkomm­ nung der Persönlichkeit, sondern nur zu Cultur und Civilisa­

tion, zur Verfeinerung

und Erhöhung des

äußeren Lebens

gehört, dringt sich mit überwiegender Gewalt in das Bild ein, das wir uns von der Bildung der Zeit machen.

Eine Zeit,

die in der Verfeinerung des äußeren Lebens weit fortgeschritten ist, die gar Dampfmaschinen und Dampfschifffahrt und-Eisen­ bahnen und Dampfwagen hat, scheint uns höher in Bildung

zu stehn, als eine Zeit, die dieß nicht hatte, wäre sie auch die geistreichste und sittlichste gewesen. Gewiß wird niemand urtheilen, daß die sittliche Bildung

weniger hoch zu stellen sey, als die Ausbildung der Intelligenz. Und doch ist die Ansicht der Welt hierüber so verkehrt, und

der Eindruck überwiegenden geistigen Vermögens so viel stärker als der Eindruck der Tugend und Sittenreinhcit, daß vor der

Gewalt dieses Eindrucks auf jeden Einzelnen und bei der Ab­ hängigkeit der Ansicht jedes Einzelnen von der Ansicht der Welt kaum jemand frei von Täuschung bleiben möchte.

Ein gemeiner

Sprachgebrauch übersieht ganz die sittliche Bildung und bezeich­

net mit dem Worte Bildung ausschließend nur die der Intelli­ genz und der äußeren Erscheinung, des Betragens.

Wessen

sittliche Grundsätze und Gefühle in der vollkommensten Ueber­ einstimmung mit der Vernunft stünden, und wer mit zartestem

Tacte immer das Rechte in der Sittlichkeit zu finden wüßte,

dem würde darum doch nicht hohe Bildung beigemessen werden, und dem, dessen Geist reich ausgestattet und gebildet ist, wird

der Ruhm der Bildung überhaupt nicht darum verkümmert

werden, daß seine Sittlichkeit vernachlässigt ist.

Ferner ist es nur zu allgemein, daß man bei Beurtheilung der Bildung der Intelligenz auf die Bereicherung in Kennt­

nissen an sich zu hohen Werth setzt, das Mittel für den Zweck nimmt und davon geblendet zu untersuchen vergißt, was die Bedingung des Werthes des Reichthums an Kenntnissen ist, den Erfolg für die Veredelung der Persönlichkeit, für die Kräf­

tigung und Verfeinerung des Geistes, die Tiefe und Wahrheit der Erkenntniß, die höhere Bedeutung des Gegenstandes.

Die

Unerläßlichkeit der Schärfe und Richtigkeit für den Werth des

Wissens und der Wissenschaft selbst wird aus den Augen gesetzt. Man glaubt an eine Schärfe ohne Wahrheit, an Geist ohne

Schärfe und Tiefe.

So erlangt falscher Schimmer, Spitz­

findigkeit, Kühnheit, unächtes Ansehn geistreicher Darstellung

den Vorzug vor geradem, richtigem, verständigem Blicke, Vir­ tuosität und Gewandtheit vor dem tieferen Eindringen in das Innere, Leichtigkeit vor Gediegenheit.

Und den Kenntnissen

wird der Vorzug vor der Ausbildung der Urtheilskrast gegeben. Da nun die Eigenschaften unserer Zeit solche sind, welche sich vordrängen, und da aller falscher Schein der Gegenwart

mehr blendet als der der Vergangenheit, so erscheint immer die

Gegenwart in hellerem Lichte als die Vergangenheit. Wir haben oben in dem Abschnitte von der Kunst unserer

Zeit als ihren Charakter die Virtuosität gefunden, welche ins­ besondere in der Musik hervortritt.

Es ist dott bemerkt wor­

den, daß technische Ausbildung und Virtuosität in der Musik

228 auf einen hohen Punct gesteigert worden ist, daß aber in glei-,

chem Maße das Wesen und die Tiefe dieser Kunst, die Kraft der Erzeugung großer und edler Musik und die Empfänglichkeit

für ihren tieferen Sinn sich verloren hat; daß also die Musik ungeachtet der Virtuosität tief herunter gegangen ist; daß in der Virtuosität selbst die wesentliche Ursache des Verfalles der Musik liegt; daß diese Virtuosität auch nicht die ächte ist, für

welche nur der Ausdruck eben des tiefen und tiefsten Sinnes

der Musik anerkannt werden muß und welche ganz mit der

tiefen Musik zusammenfällt; daß diese unächte Virtuosität den

Geist nicht nur des Vortrags der Musik sondern auch der Ton­ setzung unserer Zeit bezeichnet; endlich daß dieß der Charakter

nicht bloß der Musik, sondern überhaupt der Kunst unserer Zeit ist.

An diese Bezeichnung des Charakters unserer Musik

und aller unserer Kunst haben wir uns hier wieder zu erinnern,

weil sich keine treffendere Bezeichnung der Fortschritte unserer Zeit in der Bildung überhaupt finden möchte, in dem Ganzen

der Bildung wie in ihren einzelnen Seiten, in Philosophie und

Erziehung nicht minder als in der Kunst.

Dieser Charakter

herrscht in dem ganzen Leben und Wesen der Zeit, in der ganzen Richtung des Geistes und der Sittlichkeit, in unseren Einrich­

tungen und aller Gestaltung der Verhältnisse, insbesondere in der Weise, wie man die Bildung zu fördern sucht, und in der Ansicht von der Bildung. der Beweis davon durchgeführt.

In dieser ganzen Schrift ist Die Virtuosität mit ihrer

Verderblichkeit ist ein Hauptzug in dem Charakter unserer Zeit, eine Hauptursache, warum in den Fortschritten unserer Zeit

mehr Verlust als Gewinn ist.

Wie jetzt die Musik von der

Virtuosität erstickt wird, so giebt es auch eine Virtuosität im Wissen, welche die Wissenschaft und die Erkenntniß tobtet.

Zn dem Fortschreiten unserer Zeit ist der Fortschritt selbst Verlust. Und es ist auch in der Bildung unserer Zeit eine falsche Vir-

229 tuosität, welcher die Fertigkeit im Höchsten der Bildung fehlt,

die Schärfe

und Klarheit des Denkens wie der Rede, die

Gründlichkeit, die

Gediegenheit, die Tiefe.

Zeit, wenn sie sich dieser Virtuosität freut.

Also irrt unsere

Das Bildungs­

streben sollte sich zur Aufgabe machen, diesen Charakter der

Virtuosität wieder abzustreifen, um wieder zur Tiefe, zum

Wesentlichen der Bildung zu gelangen.

Denn es ist mit unserer

ganzen Bildung, wie mit der Musik, welche über der Virtuo­ sität vergessen wird, well man die Virtuosität für die Musik

selbst, das Mittel für das Ziel hält.

Unterricht in der Musik

ist nur darin Geistesbildung, daß er Musik, die trefflichsten

Werke, die wir haben, kennen, verstehn und fühlen lehre und daß er auf den Weg zu diesem Ziele führe, so weit er nicht

zur Erreichung selbst führt.

Aber bei uns ist Musik lernen ein

Instrument spielen lernen, dessen Uebung den Unterricht aus­ füllt, ohne zur Musik zu führen.

Die Bildung unserer Zeit

ist Geschick zu vielerlei, nicht Höhe noch Tiefe des Geistes.

Ein

anderer,

der Virtuosität gleich stehender Zug des

Charakters der Fortschritte unserer Zeit in Bildung ist das, was unsere Zeit für Geist hält, was aber, da es von der Schärfe und der Tiefe gefodert wird, ebenfalls nicht wahrhaft

Geist, sondern nur etwas Nichtiges, ein falscher Glanz und

für das Gedeihn des wahrhaft Geistreichen und wahrer Bildung zu Schärfe und Tiefe das größte Hinderniß ist.

Dieß ist schon

der Gegenstand eines besondern Abschnitts dieser Blätter gewesen.

Allerdings besitzt unsere Zeit Reichthum des Lebens, der

Bewegung und alles Thuns, Lebendigkeit, Fertigkeit, Gewandt­

heit, Virtuosität; sie besitzt Eleganz und Reiz und Zmponirendes und Glanz der Erscheinung; sie besitzt vor Allem eine

Raschheit der Bewegung, welche in diesem Grade ihr eigen­

thümlich ist und ihr ganzes Wesen bestimmt.

Aber nicht bloß

gleichzeitig, sondern als Folge jener Virtuosität und dessen was

230 fftr Geist gilt, ist sie von der Tiefe, von dem Wesentlichen der Bildung, von Emst und Strenge des Strebens, von der Richtung auf das Höhere, von der Sehnsucht nach Reinheit und Vollendung des Seyns und des Thuns zurückgekommen;

sie hat sich dem Leichtsinn, dem Blendmden, dem Unächten,

dem niederen und gemeinen Reize, der Gewalt der Mode, der

Ueberreizung ergeben;

sie ist in Oberflächlichkeit, Unklarheit,

Verworrenheit, in Erniedrigung gefallen.

So ermangelt sie

der Schärfe, der Klarheit, der Tiefe, der Gründlichkeit, der Gediegenheit; bei allem erscheinenden Geschick ermangelt sie des einfachen natürlichen Sinnes und Blickes, welcher das Rechte

trifft und ergreift; sie ermangelt des Aechten, des Edlen, des Großartigen, des Schönen, der Genialität, der Innerlichkeit, der Seele. Wir wollen noch einmal das Mittel der Bezeichnung

von der Musik hemehmen.

Wenn jemand die neueste Zeit in

ihrer Bildung für geistreicher halten wollte

als

die letzten

Menschenalter, so wäre dieß nicht anders als wenn jemand

sagte, Rossini sey geistreicher als Gluck.

In der That ist unsere Zeit frei geworden von Rohheiten, Befangenheiten, Vomrtheilen und Verwöhnungen ftüherer Zei­ ten.

Wir wollen hierin einen Vorzug unserer Zeit gem an­

erkennen, ohne der Barbarei früherer Geschlechter entgegen zu stellen, was die neueste Zeit, etwa auf der pyrenäischen Halb­ insel, vielleicht ähnliches haben möchte.

Allein fürs erste ist

es wohl mehr ein ererbtes Glück als ein Verdienst unserer Zeit, daß sie von jenen Uebeln der Vorzeit frei ist.

Die Befteiung

gehört nicht der neuesten, sondern einer Zeit, mit welcher die neueste Zeit sich nicht zu dem Begriffe unserer Zeit vereinigen

möchte.

Unsere Zeit hat weder Tortur noch Hexenprozesse ab-

zuschaffen gehabt.

Nicht mit Unrecht ist dem achtzehnten Jahr­

hundert der Beiname des aufgeklärten gegeben worden.

Wenn

man sich der kühnen Auflehnung des vorigen Jahrhunderts

231 gegen herrschende Vorurtheile und Befangenheiten erinnert, so wird man der Gegenwart nicht höhere Freisinnigkeit zuschreiben. Namentlich in der Erziehung, die uns am nächsten liegt, findet

sich in Rousseau und einer deutschen Partei, wie man auch sonst über sie urtheilen möge, doch gewiß eine Losreißung von

alter Befangenheit, über welche die neueste Zeit sich

nicht

erheben kann.

Ferner aber kann die Welt ohne Befangenheit nicht seyn.

An die Stelle der abgelegten tritt eine neue. Unsere Zeit erzeugt und befestigt Befangenheiten und Vorurtheile, welche zweifel­

haft machen könnten, ob in dieser Beziehung gewonnen oder verloren worden sey, wovon in den vorstehenden Blättern

gehandelt worden ist: wie die alle Bildung zerstörende Richtung des Strebens auf einen Nutzen für das äußere Leben; die Befangenheit in der Verkünstelung aller Mittel, Einrichtungen

und Methoden, welche den Geist durch Formen, und Formen

von sehr zweifelhafter Angemessenheit, zu verdrängen sucht; die Befangenheit im Zuvielregieren, wie im Zuviellehren; die Ueberschätzung der Wichtigkeit der Staatsformm, vorzugsweise vor dem Geiste; wunderliche Mißverständnisse, wie über die Verantwortlichkeit der Minister und ähnliches, wodurch alle Ansicht verfälscht wird.

Die vorige Zeit hat der früheren Ver­

wöhnung an Stillstand und Macht des Herkommens ein Ende gemacht, die jetzige gründet eine neue Verwöhnung, an das Uebermaß der Bewegung.

Es ist die zunächstvergangene Zeit,

welcher die Zerstörung der Vorurtheile gehört, die jetzige Zeit gründet neue und höchst verderbliche.

Sodann, wenn wir unserer Zeit Abstreifung von Mängeln der Vorzeit, aber wieder nie Zurückgehn in der Bildungskraft

zuschreiben, ist nicht zu vergessen, daß Bildung etwas anderes ist, als Abstreifung von Mängeln, wie die Tugend etwas

anderes ist als Freiheit von Untugenden, die Schönheit etwas

232 anderes als Verneinung der Häßlichkeit.

Der höchste Werth

ist nicht gerade, wo die wenigsten Mängel sind. Hierauf beruht wieder em anderes Moment in dem Urtheil über die Bildung unserer Zeit, daß nämlich das, was unserer

Zeit als Forschritt in der Bildung angerechnet werden möchte, den Werth der Bildung der Einzelnen weniger erhöht.

Denn

das Freiseyn von Mängeln ist nicht so sehr Werth des Ein­ zelnen, wenn er es mit seiner Zeit theilt, weil es nicht aus

seiner veredelten Seele, seinem Charakter und seinem Triebe hervorgeht, sondern mehr eine Gewöhnung ist, die er von außen empfängt.

Anders ist es mit jeder Tugend und mit jeder

Geisteskraft, die immer doch des Einzelnen Verdienst und Werth ist, wenn gleich es der Geist seiner Zeit seyn sollte, der in ihn sich ergossen hätte.

Denn immer ist es sein Trieb, seine Geistes­

kraft, seine Tugend geworden.

Von den Griechen ist nichts

höher zu rühmen, als daß ihr Herrlichstes, ihre Rede, ihre Kunst, ihre Weisheit, die Vollendung der Ausbildung in ihren

Werken, nicht so sehr das Erzeugniß und Eigenthum Einzel­ ner, als vielmehr Erzeugniß und Eigenthum des Volkes war, daß mehr das Volk genial war als der Einzelne, daß in dem

einzelnen Werke

weniger seines Schöpfers als feiner Nation

Genialität hervortritt.

Hier hat aber der Einzelne die Bildung

und Genialität seines Volkes in sich ausgenommen. ist ein Theil der Genialität seines Volkes.

Sein Geist

Seine Bildung ist

zugleich seines Volkes Bildung und feine eigene, und sein Erzeugniß ist das Werk seines Geistes.

Und das Gepräge

seines Werkes ist zu dem Inhalte des Werkes gehörig, nicht

von außen aufgenommene Manier. Hingegen unser Fortschreiten in verfeinerter Manier wird nicht zu einem Verdienste des Ein­ zelnen, wie das, worin man guten, bestimmter etwa vorneh­

men, Ton anerkennt, wie weit immer es gefallen möge, doch

nur als Ton, nicht als das Verdienst des Einzelnen gepriesen

233 wird,

der es nur als fremdes Gepräge ausgenommen, nicht

in seinem Geiste erzeugt hat.

Wir sehn darin mehr Bildung

So möchte man auch von den

der Zeit als des Einzelnen.

wissenschaftlichen Fortschritten unserer Zeit sagen, daß sie mehr

das Werk der Thätigkeit der Gesammtheit seyen, als der Grö­

ße einzelner Geister.

Aehnlich ist es mit der Bildung unserer

Zeit überhaupt. Auf ähnliche Weise unterscheidet sich auch Styl und Ma­ nier.

Nur der gute Styl veredelt den Einzelnen und seine

Werke, nicht die Manier.

Der Styl ist in innerem Zusam­

menhänge mit dem Inhalte

des Werkes.

Er veredelt das

Werk, denn obgleich vom Gedanken ausgehend wirkt er doch

wieder auf den

Gedanken zurück,

wie

alle Ausbildung des

Ausdrucks und der Darstellung.

Die Manier aber gehört mit

dem Gedanken nicht zusammen,

sondern bleibt dem wesentli­

chen Inhalte des Werkes äußerlich.

Darum ist alle Manier

schlecht, weil auch das Aeußere nicht ein schlechthin Aeußerliches seyn darf, sondern von dem Inneren bestimmt werden muß.

Nur ist die bessere Manier weniger schlecht.

Manier der Zeit ist nicht am Einzelnen als

preisen, weil sie nur von der Zeit ihm mitgetheilt, Eigenthum ist.

Allein die

sein Verdienst zu nicht sein

Dieß bezeichnet nun ebenfalls den Charakter

der Bildung unserer Zeit.

Unsere Zeit hat nur Manier, denn

die Virtuosität kann nur Manier haben, weil sie nicht in die

Tiefe geht. Allerdings hat unsere Zeit mehr Bewegung als die ver­ gangene Zeit.

Die nicht bloß lebhaftere, sondern heftigere und

unruhigere Bewegung ist leicht der eigenthümlichste und auch

entscheidendste Zug unserer Zeit.

Sie ist ein Moment, auf

welches vorzüglich unsere Zeit stolz ist, als auf die Quelle ge­

waltigeren Fortschreitens überhaupt Bildung.

und insbesondere auch der

Nun bedarf die Bewegung, als Gegensatz der Träg-

234 heit und der Schlaffheit, nicht erst des Lobes , der Fortschritt ausgehe.

Dieß liegt im Begriffe.

daß von ihr Allein auch

die Bewegung hat ihr Maß, und es ist Irrthum, die Bewe­ gung als löblich und heilbringend ohne Beschränkung zu be­ trachten.

Wie der Stillstand, so ist auch das Uebermaaß der

Bewegung Verderben. Die Bewegung unserer Zeit ist nicht bloß eine lebhafte

Beschäftigung mit Ideen.

Sie ist zu einem schwindlich unru­

higen Treiben geworden, aufzulösen und umzubilden, in der Vermessenheit des Leichtsinns und der Kurzsichtigkeit. Es ist hier, wie überall in diesen Blättern, zu bedenken, daß nicht von dem Streben der Einzelnen, sondern von dem Thun der

Zeit, also nicht von Absicht und bewußtem Willen die Rede ist. Man könnte fragen, ob wohl diese fieberhafte Bewegung unserer Zeit aus dem öffentlichen Leben in das übrige Leben übergegangen sey, oder ob sie,

in dem Leben überhaupt als

allgemeiner Zug entstanden, nur in dem öffentlichen Leben vor allem sich geäußert habe.

Gewiß ist aber, daß diese Hastig­

keit des Thuns über unser ganzes Leben sich verbreitet hat. Die Hastigkeit der Bewegung hindert die Besonnenheit und damit Ernst und Strenge des Wesens, Schärfe und Klar­ heit des Denkens, Ruhe und Umsicht des Blickes.

Insonder­

heit zu klarer und richtiger Ansicht von der eigenen Bildung und

ihrem Gange kann

Zeit nicht gelangen. überhaupt,

die in solcher Bewegung begriffene

Und wie des Ernstes und der Strenge

wie der Schärfe und der Klarheit, so ist die ha­

stige Bewegung auch der Mäßigung und der Gewissenhaftig­ keit Feindin.

Die Ueberströmung der Zeit mit wilder Bewe­

gung und fieberhafter Hitze, die Erweckung der Parteiung und

des Interesse, mit ihrer vorurtheilsvollen Einseitigkeit und Ha­ stigkeit, mit ihrem Dünkel und ihrer Anmaßlichkeit, läßt nicht Raum für Besonnenheit, Selbstprüfung,

Gewissenhaftigkeit.

Vor dem Reden, Schreiben, Lesen und Verlangen kann un­

sere Zeit nicht zur Besinnung kommen. Daß der Krieg keine Sitte kenne, ist sprüchwörtlich. Jene Bewegung aber unseres

öffentlichen Lebens und alles unseres Lebens ist nichts anderes als der Krieg.

So ist die Bewegung des öffentlichen Lebms,

235 aus welcher vielleicht die Bewegung unserer Zeit hervorgegan­ gen ist, keineswegs ein Gewinn für unsere Bildung. Und es

wird bei uns — bei den Griechen war es anders — in dem Interesse für die Angelegenheiten des öffentlichen Lebens, nebst

den ebenfalls die Bewegung der Zeit erregenden Interessen des äußern Lebens mit seinen gesteigerten Bedürfnissen zu sehr das Streben und Trachten der Zeit aufgczehrt, die Gemüther sind zu sehr von diesem Verlangen und von der Wichtigkeit dieser Seite des Strebens erfüllt, als daß nicht andere Ge­

genstände zurückstehn sollten,

als daß nicht die Strenge der

ganzen Bildung, die Gewissenhaftigkeit, die Innerlichkeit in dem Streben nach dem Höheren des Lebens dadurch verkürzt

werden sollte. Im Uebermaße der Bewegung, in der Hastig­ keit des Thuns, in der Unruhe der Gemüther, in der Ge­

wohnheit des Ungestüms des Verlangens kann die Welt nicht geeignet seyn, das Rechte zu finden, das Urtheilsvermögen und

den Willen auszubilden.

Es giebt zwei entgegengesetzte Quellen des Irrthums, der

Befangenheit, des Vorurtheils oder des Mangels an Urtheil: das Alte ohne eigene Prüfung und Begründung anzunehmen, gut zu heißen und fortzusetzen, weil es das Alte und von der Welt Angenommene ist; und ohne Klarheit und Sicherheit des

Grundes das Alte zu verwerfen und das Neue aufzunehmen, weil jenes das Alte, dieses das Neue ist. Wie die Bewe­ gung selbst, so ist unserer Zeit eigenthümlich, was zugleich wie­

der Erhöhung der Bewegung ist,

die Vorstellung

von der

Trefflichkeit dieser Bewegung und von der Nothwendigkeit der

Neuerung.

Es ist Meinung der Zeit, daß jetzt ein neues Licht

aufgegangen sey, von welchem neu beleuchtet Alles umgestaltet werden müsse. Alles umzugestalten sieht die Zeit für chre Auf­ gabe,

für ihre Verpflichtung an.

das Neue zu suchen.

So geht man davon aus,

Aber es muß nicht Neues als solches

gesucht, sondem nur stets das Wahre und das Rechte muß

gesucht und darüber wird Neues ungesucht gefunden werden. Wenn Neues gesucht wird, wird das Wahre und das Rechte

nicht gefunden. Es kann nicht fehlen, daß eine Zeit übermäßiger Bewe-

236 gung, indem sie den Boden aufwühlt, damit neue Saat auf­

keimen könne, nicht die alten Pflanzen und ihre Wurzeln schont. Wir werden hier zurückgewiesen auf den schon in dem zehnten Abschnitte dieser Schrift in Beziehung auf die Erhaltung der klassischen Studien als Bildungsmittel erwähnten Bortheil, den

die Trägheit selbst hat, daß sie durch die Gewalt, die sie dem hergebrachten Besitze und dem Vorurtheile giebt, oft doch auch

das Gute erhält, das nicht mehr in der Anerkennung seines Werthes Schutz gegen die Gewalt der Zeit finden würde.

Zn der Bemerkung, daß

durch die Bewegung unserer möchte

Zeit die Behaglichkeit des Lebens entschwunden sey,

mancher einen sündhaften Charakter der früheren Zeit zu er­ kennen glauben, indem er meint, daß eben an die Behaglich­ keit das Widerstreben gegen die Einführung des Besseren, die

Beschützung eines verwerflichen Zustandes und Besitzes gegen

die Geltung des Rechtes und der Vernunft sich knüpfe, daß die Behaglichkeit das Princip der Trägheit und der Selbst­

sucht nähre.

Aber dieß ist nur Verirrung, nicht Wesen der

Behaglichkeit. Dieser Vorwurf ist nichts anderes, als wenn man die Lust als die Quelle aller Sünde betrachten wollte. Die Behaglichkeit ist ein großes Gut des Lebens,

mand kann ohne sie leben wollen. Glück, das Gut des Lebens.

und Nie­

Sie ist vorzugsweise das

Wenn aber Verwandtes und

zum Theil Gleichbedeutendes so ausgedrückt wird, daß durch

die Bewegung unserer Zeit die Zufriedenheit aus den Gemü­ thern gewichen sey, so wird Niemand Anstoß an der Bemer­ kung nehmen, und es wird darin neben dem Verluste für das Glück zugleich ein Verlust für die Bildung erkannt werden.

Durch die Unzufriedenheit wird die Schärfe

des Charakters

vermehrt, die Liebe und Güte und Milde und Weichheit da­

durch, wie durch die Hastigkeit der Bewegung überhaupt, ge­

fährdet, Unbefangenheit und Schärfe des Urtheils vermindert,

und so der Grund der sittlichen und geistigen Bildung unter­

graben.

Und nun ist zuletzt noch die Leistung unserer Zeit als Zeugniß von ihrer Bildung zu überblicken. Von ihrer Kunst, ihrer Philosophie, ihrer Theologie und ihrer Wissenschaft und

237 Kunst der Bildung ist schon gesprochen worden.

Wir haben

zunächst zu betrachten, worin sie in der That die ausgezeichnetsten Fortschritte macht, Geschichte und Naturwissenschaft. Daß unsere Zeit viel für die Geschichte thut,

viel Ver­

grabenes hervorzieht, manchen Irrthum ausstößt, viel durch kritische Untersuchung leistet, können wir als ein entschiedems

Verdienst unserer Zeit annehmen, ohne daß es einer Verglei­ chung mit dem, was frühere Zeiten denn doch auch geleistet haben, bedürfte.

Allein, was nicht allein für uns der Ge­

sichtspunct ist, sondem worauf aller Werth historischen Wissens ruht, oder strenger worin allein historisches Wissen ist, dahin, daß der Inhalt der Geschichte auf den Punct der Erkenntniß ihres wesentlichen Gegenstandes, auf einen Punct geführt wer­

de, wo das historische Studium wirklich Geistesbildung ist, darin

hat unsere Zeit keinen Vorzug, weder in Fortschritt, noch in der Richtung. Wir können ihr keinen Vorzug zusprechen in der Lösung der eigentlichen Aufgabe der Geschichte, zu erken­

nen, wie sich immer der Charakter der Zeiten und der Völker

zu der Foderung der Vernunft an den Menschen verhalten habe, welches der eigenthümliche Charakter jeder Zeit und jedes Volkes, welches der Standpunkt ihrer Bildung gewesen sey,

welchen Gang die Entwickelung der Bildung des ganzen Ge­ schlechts genommen habe,

wie die Idee des menschlichen Ge­

schlechts in der Erscheinung der Zeiten und der Völker sich aus­ präge.

Auch nicht in der Richtung auf diesen einzig wesent­

lichen Inhalt der Geschichte, ohne welchen sie nichts für unsere Bildung ist,

kann unsere Zeit sich einen Vorzug beimessen.

Noch lange sind wir nicht dahin, daß die Bildungsgeschichte, als einzig würdiger Zweck der Geschichte, zum nächsten Gegen­ stände, noch weniger daß sie zum Faden des historischen Stu­

dium und Unterrichts gemacht würde.

Vielleicht nirgends so

sehr wie in der Betreibung der Geschichte zeigt es sich, wie we­ nig gesichert das Fortschreiten ist. Was ein früheres Geschlechts­ alter als Geschichte der Menschheit suckte und begehrte, wie wenig ist es in die historischen Bestrebungen und Ansichten un­ serer Zeit eingedrungen! Wenn auch allerdings Einzelne einzel­

ne Seiten zu ihrem Gegenstände nehmen, wie weit ist es doch

16

238 entfernt davon, daß eS ansinge zu werden, was eS seyn sollte,

Grundlage alles historischen Strebens, aller historischen Lehre.— Ob unsere Zeit auch im Einzelnen des wie der Vermehrung der Kenntniß,

des Urtheils sich rühmen könne,

vermöchte ich nicht nur nicht

in dem Raume dieser Blatter auszuführen, haupt nicht zu übersehn.

historischen Wissens,

so auch der Schärfung

sondern auch über­

Aber zu erinnern ist, daß doch hierin

aller Werth und aller wesentliche Fortschritt beruht.

Wenn

vielleicht unsere Zeit in dem Verständniß der alten Kunstwerke und in dem Vermögen diese Herrlichkeit zu

schätzen

und

zu

fühlen nicht höher stehn sollte als Winkelmann, so ist bei al­ len, übrigens gewiß hoch zu schätzenden späteren Bereicherun­

gen der Archäologie durch werthvolle Auffindungen und durch die Bemühungen der scharfsinnigsten und gelehrtesten Männer

unsere Zeit doch nicht berechtigt,

darum höherer Bildung

sich

zu vermessen. Für nichts hat man vielleicht unserer Zeit mehr zu dan­

ken, als für ihre Bereicherung und Pflege der Naturwissen­

schaft, welche ein so hochwürdiger Gegenstand des Strebens des

menschlichen Geistes ist. Sollte die Naturwissenschaft sich auch nicht an eine solide Philosophie knüpfen können, so braucht sie dieß doch auch nicht,

um uns einen tieferen Blick in das Le­

ben der Welt und ihre Gesetze thun zu lassen, der herrlichste

Gegenstand des Wissens.

Allein fürs erste ist die Naturwis­

senschaft auch nur so weit Bildung, als sie Erkenntniß

und

Anschauung von dem Leben der Natur und ihrer Gesetze ent­

hält.

Ohne diese höhere Beziehung haben die Kenntnisse von

den Reichen der Natur durchgängig keinen höheren Werth als

die Bekanntschaft mit einer Schmetterlingssammlung.

Am we­

nigsten hat man es als Gewinn für die Bildung zu bewach­

ten, wenn etwa die bereicherte Kenntniß der Stoffe und des Prozesses ihrer Veränderungen nützliche oder unnütze Erfindun­

gen für unsere Bedürfnisse darbietet.

Keineswegs ist alles,

was uns Chemie jetzt lehrt, Erhöhung der Bildung.

Ferner

aber, wenn unsere Zeit in Vergleich mit der Vergangenheit in den Fortschritten der Naturwissenschaft sich rühmt, so ist doch erst noch zu fragen,

ob sie nicht zu schnell und unbedachtsam

239

in der Erhebung

ihres Berdiensteö über das der Vorzeit sey.

Kundigere mögen zu Beantwortung dieser Frage die Leistun­

gen der neuesten Zeit mit den ungeheuren Entdeckungen der drei letzten Jahrhunderte in den Gesetzen des Lebens der Weltkör-

per, wie der Elektrizität und des Magnetismus, mit den Na­ men Kopernikus und Keppler und Laplace vergleichen. Diese

letzte Frage ist auch bei der Mathematik zu thun.

Können sich wohl die Fortschritte der neuesten Zeit über die

Erfindungen der letzten Jahrhunderte erheben? Was kann un­ sere Zeit etwa der Erfindung der Analysis

des Unmdlichen

Aehnliches entgegenstellen?

Wenn man meint, daß unsere Zeit in der Bildung über die nächste Vergangenheit, um entfernter Jahrhunderte nicht zu

erwähnen, so weit sich erhebe, als man wirklich immer anzu-

nehmen Pflegt, und wenn man insbesondere unsere Zeit für eine geistreichere hält, so möge man erklären, warum unsere Zeit nichts Großes hervorbringe in dem, worin am meisten der Geist sich verkündet, namentlich in der Kunst, warum sie we­

der einen Cervantes oder Shakespeare oder Göthe, noch einen

Mozart oder Pergolese, noch einen Raphael oder Michael An­

gelo, noch einen Phidias, noch einen Pindar oder Sophokles, noch einen Plato hat, noch viel weniger, was größer ist als Pindar und Plato, ein Volk, aus welchem selbst, nicht aus einzelnen Genien, die Größe seiner Werke erwächst, so daß

man nicht die Kunst des Pindar,

oder des Sophokles oder

des Phidias, oder des Plato, nicht die Rede dieses oder jenes

Griechen, sondern die Rede der Griechen zu bewundern hat. Man möge erklären, warum in unserer Zeit, verglichen mit den

letzten Geschlechtern, Poesie und Musik von ihrer Höhe so tief hinabgesunken sind, warum aus ihnen das Edle, das Tiefe,

die Seele entwichen ist.

Man möge erklären, warum unsere

geistreiche Zeit so arm an großen Geistern ist.

Denn wenn

man irgend etwas in unserer Zeit groß nennen möchte, so geht es nicht aus der Größe der Geister hervor.

Und so möge nun unsere Zeit uns nennen, was sie, um sich über die Bildung der vergangenen Jahrhunderte zu erhe-

heben, habe und erzeuge, daS größer sey,

als die Leistungen

16*

240 und die Geister der letzten Jahrhunderte, worauf sich gründend sie sich rühmen könne, höher zu stehn und mehr Geist zu be­ sitzen, als die Zeit der Reformation, der Belebung der Geister

durch die junge Buchdruckerkunst, und der Erweckung eines

neuen Studium der klassischen Literatur, die Zeit des Luther, Zwingli, Melanchthon, Erasmus, Copernikus, Raphael, Mi­

chael Angelo, Macchiavelli, Ariosto und Rabelais, oder die Zeit des Tycho Brahe, Cervantes, Lope de Vega, Tasso, Montaigne, Shakspeare, Camoens, Titian, Holbein, Pale-

strina, oder die Zeit des Kepler, Galilei, Descartes,

Calde-

ron, Corneille, Allegri, oder die Zeit Ludwig des XIV. und

seines Hofes, die Zeit des Spinoza, Leibnitz, Newton, Ra­ oder die Zeit des Voltaire, Montesquieu, Büffon, Linn«, Swift, Sterne, Pergolese, Jo-

cine, Mokiere, Milton, Lully,

melli, Bach, Händel, oder die Zeit, aus welcher, außer Gö­

the und Mozart, kein Name zu nennen ist, weil jeder Name

wieder die Nennung zu vieler anderer, auf gleicher Stufe ste­ hender, Namen erfordern würde. Es möge unsere Zeit nen­ nen, was sie Großes erzeuge, Gmialität gründen könnte.

worauf sie einen Anspruch auf

Aber vielleicht möchte man sagen, der Fortschritt unserer Zeit bestehe doch wenigstens in der größeren Verbreitung, wenn auch nicht in der höheren Steigerung, des Wissens und der Bildung.

Darauf ist fürs erste zu fragen, ob es wirklich Ge­

winn an Bildung sey, wenn die Menschen einige geschichtliche

und geographische Kenntnisse mehr erlangen, ohne dm Charak­ ter des Menschengeschlechts und seiner Geschichte und der ein­

zelnen Zeiten und Völker zu erkennen.

Es ist bei allen Kennt­

nissen erst zu fragen, wie weit sie wirklich Einsicht gewährm.

Bei aller Ausstattung mit Kmntnissen ist zu fragen, ob ihre Besitzer dadurch schärfer zu denken, reiner zu sprechen, edler zu fühlen und zu wollen gelernt haben. Sodann ist zu erwä-

gen, daß bei einer Zeit, nicht so bei dem Einzelnen, das Ver­ mögen der Hervorbringung und die Hervorbringung selbst mit

der Empfänglichkeit in Verhältniß steht, daß eine Zeit, welche

nicht Geniales, nicht wahrhaft Geistreiches, nicht höhere Werke der Kunst erzeugt, gewiß auch das Geniale und wahrhaft Geist-

241 reiche zu verstehn und zu fühlen nicht fähig ist, schon weil sie

doch am meisten mit den neuen Hervorbringungen sich erfüllt; und unsere Zeit vor anderen trachtet nach dem Neuen.

bloß,

ob unsere Zeit Fortschritte,

Nicht

sondern auch ob sie Rück­

schritte mache, ist zu fragen. Antwort hierauf ist der Inhalt dieser ganzen Schrift und zunächst die Zusammenstellung ihrer

Ergebnisse am Anfänge dieses letzten Abschnittes.

Wenn aber

das Gesagte sich mehr auf das geistige Vermögen,

die Rich­

tung, die Bildung überhaupt bezieht, so möge noch ein Blick geworfen werden auf die auch schon berührte Frage, ob unsere

Zeit vielleicht auch an Besitz und Gebrauch vorhandener Reich­ thümer verliere. Zwei sich entsprechende Eigenthümlichkeiten hat

unsere Zeit, die Verworfenheit einer unübersehbaren Menge ih­

rer Erzeugnisse,

und die Zurücksetzung,

wo nicht zum Theil

Verwerfung und Beschmutzung des Trefflichen, das eine frü­

here Zeit geschaffen hat. Ich mag nicht entscheiden, welches von beiden mächtiger sey, Achtung und Gefühl des Trefflichen auszutilgen und der Welt ihr edelstes Besitzthum zu rauben; denn wofür die Empfänglichkeit und wovon das Verständniß

der Welt entzogen wird, das wird selbst der Welt entrissen; es

wird da.

für uns vertilgt,

das Unverstandene ist für uns nicht

Beides ist aber unzertrennlich: wo der Irrthum herrschen

soll, muß die Wahrheit zerstört werden; wo das Niedrige gel­

ten soll, muß der Sinn für das Höhere verloren gegangen

seyn; wo der Götze angebetet wird, kann der wahre Gott nicht erkannt und verehrt werden.

Wir wollen die Erscheinung nicht

bloß nach ihren Folgen, sondern auch nach dem Standpuncte

der Bildung betrachten, auf den sie schließen läßt. Die That­

sache, daß unsere Zeit das Große zu verkleinern strebt, möchte

Niemand läugnen.

Große Namen der früheren Zeit haben

ihre Größe, oder doch diese Größe, nur noch in den Namen, nicht in der Schätzung der Welt.

Die neuere Schule, die sich

als eine romantische bezeichnet, kann ohne Geringschätzung und

Bekämpfung neuerer wie älterer Klassizität nicht seyn, denn dieß ist für sie Lebensfrage.

Einer Zeit aber, in welcher dieß

geschehen kann, in welcher diejenigen, die es thun, doch irgend

gelten können, muß der Sinn für das Höhere entschwinden

242 und schon entschwunden seyn. Nichts wirkt gewaltiger fort, als eine Richtung, welche von dem Höheren abführt, das Hö­ here dem Sinn verschließt. Es giebt nur Einen Weg der Bil­ dung und Einen Weg der Verbildung oder des Rückschritts in der Bildung: nach dem Vollendeten, Großen, Tiefen und Ed­

len, oder nach dem Niedrigen sich neigen.

In der Bildung

einer Zeit thut der Wille alles. Die Zeit die Edles will, schafft Edles, die Gemeines will, Gemeines. Die schlimmste Aussicht für die Zukunft ist also darin, daß der Fehler unserer Zeit in der Richtung liegt, die über den

weiteren Gang entscheidet, sodann daß unsere Zeit nicht unge­ bildet, sondern verbildet ist. Die Verbildung oder die Ver­ wöhnung an das Falsche und das Verkünstelte, macht unem­ pfänglich für das Bessere, weil sie mit dem Irrthum verbun­

den ist, daß dieses Falsche das Rechte sey, und weil alle Ge­ wöhnung unempfänglich für das Ungewohnte macht. Wer nichts kennt, kann das Rechte leichter finden, als wer das Falsche für das Rechte hält. Von der Unbildung ist Uebergang zum richtigen Urtheil und zum Verständniß der wahren

Schönheit, nicht von der Verbildung. Insonderheit verkümmert und verdirbt der Geist durch die Verkünstelung, durch die Entfernung von der Einfachheit, durch die Kleinlichkeit der Mittel. Dieß wäre unserer Zeit in

allem Thun und Gestalten, in Beziehung auf das öffentliche Leben wie auf die Wissenschaft nachzuweisen, vor allem deutlich aber in Beziehung auf die Weise der Bildung. Die Gewalt der Kraft, die ungetheilt und ohne Umwege nur nach dem Wesentlichen geht, in einfacher, tüchtiger, großartiger Thätig­ keit sich selbst nur stärkt, muß sich verlieren. Die Seele muß entweichen. Das Beste, was unserer Zeit geblieben ist, ist aus der Bildung früherer Zeit geflossen. Unter das Beste, was unsere Zeit hat, gehört vielleicht eine Sehnsucht nach Bildung und nach einem vollkommneren Zustande des menschlichen Geschlechts. Diese Sehnsucht mit der Ahnung des höheren Zieles ist aber

nicht das Eigenthum derer, welche den Charakter unserer Zeit bezeichnen. Und es ist diese Sehnsucht ein Unbefriedigtseyn,

243 welches vom Verfalle der Zeit zeugt, wie der edle Ausdruck der Unzufriedenheit und des Unwillens in der römischen Satyr«

zugleich Zeugniß von der Versunkenheit jener Zeit ist.

Man pflegt das Leben des menschlichen Geschlechts mit dem Leben des Einzelnen zu vergleichen.

Nun wäre es aber

ein Irrthum, anzunehmen, wie man es von dem Menschen­

geschlechte vorauszusetzen pflegt, daß der Einzelne sein Leben

hindurch nur fortschreiten könne in der Geistesbildung.

Alle

Bereicherung an Erfahrung und Uebung sichert nicht das Fort­

schreiten des Einzelnen; wir sehn ihn nur zu oft zurückgehn. Uebung im Geschäft und in der Regelmäßigkeit des Betragens

ersetzt ihm nicht, was er an Schwung des Geistes, an Em­

pfänglichkeit für Ideen verliert.

Könnte nicht, wie bei dem

Einzelnen in zunehmenden Jahren, so auch bei dem Geschlechte

eine Abnahme der Kräfte eintreten?

Könnte nicht auch das

Menschengeschlecht einer Geisteskrankheit unterworfen seyn? Ich

kann die Frage nicht von mir abwehren, ob eine Zeit, ob das

menschliche Geschlecht in eine Unregelmäßigkeit des Geistes fallen könne, welche bei Einzelnen fixe Idee heißt.

Nicht bloß die

Verirrung einzelner Ansichten kömmt hier in Betrachtung, etwa die Verworrenheit der Ansicht, in welche unsere Zeit verfallen ist, indem sie die Erkenntniß dessen, was in die Vorstellung fällt, sich zweifelhaft macht, den gesunden Menschenverstand,

den Verstand überhaupt verwirft, und dagegen wieder zu einer über dem Verstände, jenseits der Gegensätze und Beziehungen,

durch welche der Verstand erkennt, liegenden Erkenntniß des Absoluten durch Speculation sich erheben zu können wähnt.

Es ist doch zu hoffen, daß der hier mit Recht sogenannte gesunde

Menschenverstand nicht werde aus der allgemeinen Bildung weg­ getilgt werden können, wie es auch wohl dem Einzelnen nicht

gelingt, sich der einfachen, ihn fest haltenden Ansicht zu ent­ winden, daß die Vorstellung von den Dingen nichts als Bild dessen sey, was unabhängig von seiner Vorstellung existirt.

Allein neben der Verdrehung der Ansicht, die dann doch von solchen Verirrungen zurückbleibt, ist in Erwägung zu ziehn, ob

nicht in unserer Zeit das sey, was in Einzelnen der gewöhn­ liche Grund der Störung des Geistes ist.

Und hier kömmt

244 denn in Betrachtung die fieberhafte Heftigkeit der Bewegung, das Uebermaß starrer Richtung auf gewisse Gegmstände, die

Zerfallenheit und Verworrenheit des öffentlichen Lebens, die Leidenschaftlichkeit, die Neigung zum Herausschreiten aus der

gewohnten Bahn, der Dünkel.

Hier aber zeigt sich das Gift

unserer Zeit zugleich als Gegengift, das vielleicht vor jener

Störung schützen könnte.

Wie dem, der nahe daran ist, durch

falsche Richtung und Heftigkeit der Agitation in Störung zu verfallen, vorzüglich heilsam seyn möchte, sich in die Alltäg­ lichkeiten des Lebens zu zerstreuen und dadurch von jener Rich­ tung abzuziehn, so möchte vielleicht das Nützlichkeitsprinzip

unserer Tage, die Richtung auf das Materielle, einen Schutz gegen jene Folge der Agitation unserer Zeit gewähren. So

lassen wir auch dem Schlechtesten sein Recht wiederfahren, in­ dem wir es als Gegengift betrachten, aber nur als Gegengift.

Wenn man aus der Bestimmung des Menschen zur Ver­ vollkommnung schon die Folgerung gezogen hat, daß des ein­

zelnen Menschen Seele nach seinem Tode fortlebe, so kann

man nicht noch die zweite darauf gründen, daß das Menschen, geschlecht sich schon in diesem Leben immer fortschreitend ver­ vollkommnen müsse.

Die Foderung ist schon durch die erste

Folgerung erfüllt. Die Naturwissenschaft setzt die Möglichkeit, daß die Ver­

änderung der Erdoberfläche einst den Untergang des jetzigen Menschengeschlechts und die Erzeugung eines neuen, wahr­

scheinlich vollkommneren, Geschlechtes herbeiführen könnte. Damit

fällt auch die Grundlage der Voraussetzung hinweg, daß es

Bestimmung des menschlichen Geschlechts sey, eine immer höhere Vervollkommnung zu erreichen.

Die Bestimmung des Men­

schengeschlechts zur Vervollkommnung und seine Bestimmung zum Untergange, damit ein vollkommneres Geschlecht Raum gewinne, ist nicht zu vereinigen.