Bildung und Wissenschaft im Mittelalter [1 ed.] 9783737014854, 9783847114857


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Bildung und Wissenschaft im Mittelalter [1 ed.]
 9783737014854, 9783847114857

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Nova Mediaevalia Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter

Band 23

Begründet von Nikolaus Henkel und Jürgen Sarnowsky Herausgegeben von Martin Baisch, Christoph Dartmann, Philippe Depreux und Jürgen Sarnowsky

Jürgen Sarnowsky

Bildung und Wissenschaft im Mittelalter

Mit 6 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Gregor Reisch, Margarita Philosophica, 1503, Typus Grammaticae. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6231 ISBN 978-3-7370-1485-4

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

2. Die Klosterschulen des frühen und hohen Mittelalters . . . . . . . . .

19

3. Von der Kathedralschule zur Universität . . . . . . . . . . . . . . . .

45

4. Die Ausbildung der Universitäten und ihrer Institutionen . . . . . .

69

5. Das Schulwesen des späteren Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . .

93

6. Lehrpläne und Studienordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

7. Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik . .

143

8. Natur und Welt im frühen und hohen Mittelalter . . . . . . . . . . .

167

9. Physik, Kosmologie und Medizin im späteren Mittelalter . . . . . . .

191

10. Philosophie und Theologie: die großen Systeme . . . . . . . . . . . .

213

11. Geistliches und weltliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

12. Geschichtsbild und Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . .

257

13. Die politischen Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

14. Die mittelalterliche Fachliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

Mittelalterliche Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

Vorwort

Das Thema »Bildung und Wissenschaft im Mittelalter« hat mich schon seit meiner Studienzeit beschäftigt. Ging es zunächst darum, die Untersuchung der spätmittelalterlichen Naturphilosophie in die Geschichte der Universitäten und der weiteren Bildungsinstitutionen einzuordnen sowie den zeitgenössischen philosophischen und theologischen Kontext besser zu verstehen, kam bald aus den Veranstaltungen und Forschungen meines akademischen Lehrers Dietrich Kurze das Interesse an der politischen Theorie hinzu. Noch an der Freien Universität Berlin entstand daraus die Idee einer Gesamtdarstellung der mittelalterlichen Bildung und Wissenschaft anhand der Entwicklung ihrer Institutionen und Lehren. Die dazu gesammelten Materialien (wie das beigefügte Schema) führten schließlich schon in Berlin und dann am Anfang meiner Jahre an der Universität Hamburg zu einer Vorlesung zum Thema, die über die Jahre immer wieder in Details ergänzt und bearbeitet wurde. Ich bin dabei für die vielen Anregungen dankbar, die ich in Berlin wie in Hamburg und im Rahmen vieler Tagungen und Gespräche dazu erhalten habe. Obwohl es immer etwas problematisch ist, den Text einer Vorlesung, der wohl nie wortgetreu vorgetragen, sondern frei angepasst wurde, nach vielen Jahren in eine feste Form zu bringen, habe ich mich in diesem einen Fall – anders als bei den anderen Texten, die ich für die Lehre konzipiert habe – zu einer Veröffentlichung entschlossen. Dafür wurde der bisherige Text durchgängig überarbeitet. Die Breite des Themas hat mich jedoch daran gehindert, die gesamte relevante Literatur heranzuziehen; im Zweifel musste auf allgemeinere Darstellungen zurückgegriffen werden. Auch konnten nicht alle Aspekte behandelt werden, die ich gern noch eingebracht hätte. So sind insbesondere Mathematik und Medizin immer nur in kürzeren Passagen behandelt. Auch an anderen Stellen musste ich mich auf einen Überblick beschränken. Dennoch sollte ein detailreiches Gesamtbild entstanden sein. Hamburg im April 2022

Jürgen Sarnowsky

1.

Einleitung

Die Geschichte von Bildung und Wissenschaft erlaubt tiefe Einblicke in die Grundlagen der jeweiligen Epoche. Dabei ist es kein Zufall, dass Reformen und Veränderungen im Bildungswesen häufig durch politische und gesellschaftliche Entwicklungen ausgelöst wurden. So lässt sich z. B. die Humboldtsche Universitätsreform nur vor dem Hintergrund der Stein-Hardenbergschen Reformen verstehen, und die Umgestaltung der bundesdeutschen Schulen und Universitäten in den 1970er Jahren ging auf den gesellschaftlichen »Aufbruch« der 1960er Jahre zurück. Allerdings beeinflusst nicht nur – im Sinne marxistischer Vorstellungen – das »Sein« das »Bewusstsein«, sondern auch umgekehrt – durchaus im Hegelschen Sinne – das »Bewusstsein« das »Sein«. So ist unsere moderne Sicht der Welt wesentlich durch die Wissenschaft – vor allem durch die Naturwissenschaften, aber auch durch andere Disziplinen wie Psychologie und Soziologie – geprägt, und die auf die naturwissenschaftlichen »Entdeckungen« zurückgehenden technischen Erfindungen haben seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts den Alltag der Menschen immer schneller und immer intensiver verändert. Man braucht sich nur die Entwicklungen im Bereich der Kommunikation und des Verkehrswesens vor Augen führen, vom Telegraphen über das Telefon zum Internet und von der Pferdekutsche über Eisenbahn und Auto zum Flugzeug, zu Hochgeschwindigkeitszügen und E-Autos, um die Bedeutung der Veränderungen zu erfassen. Zu den intendierten technischen Fortschritten kamen dabei immer noch gesellschaftliche und ökologische »Nebenwirkungen«, die heute in vielen Bereichen eine erneute Umorientierung erforderlich machen. Gerade der Blick auf die moderne Naturwissenschaft und Technik könnte allerdings zum Irrtum verleiten, die Wechselwirkung von Bildung, Wissenschaft und Gesellschaft sei vor allem ein modernes Phänomen. Auch wenn das Beharrungsvermögen der Vorstellungen über Welt, Natur und Geschichte und die Beständigkeit der sie vermittelnden Institutionen oftmals größer war als in den beiden letzten Jahrhunderten, gab es in der vormodernen Zeit in Bildung und Wissenschaft doch eine eigene Dynamik, die gesellschaftliche Prozesse spiegelt und ihrerseits auf die Entwicklungen einwirkte. Deutlich wird dies z. B. an der

10

Einleitung

Geschichte der europäischen »Entdeckungen«, die einerseits zwar eine Fortsetzung der Expansion der Christenheit in der spanischen Reconquista und den Kreuzzügen darstellten, andererseits aber auf älteren Grundlagen aufbauten und zugleich das Weltbild der spätmittelalterlichen Menschen nachhaltig veränderten. Dieser Zusammenhang zwischen allgemeiner Geschichte auf der einen und Bildung und Wissenschaft auf der anderen Seite macht es erforderlich, sich Bildungskonzepten und wissenschaftlichen Inhalten im Kontext ihrer Zeit anzunähern. Der von der älteren Geistes- und Wissenschaftsgeschichte bevorzugte Sprung über die Jahrhunderte, mit dem Vorstellungen von Autoren verschiedener Epochen unabhängig von ihren Voraussetzungen und tatsächlichen Einflüssen einander gegenübergestellt wurden, der Vergleich der Riesen des Geistes über das »lärmende Gezwerge« (Schopenhauer nach Nietzsche)1 hinweg, ist somit problematisch. Das gilt insbesondere für die Tendenz, die moderne Wissenschaft mit ihren zweifellos wichtigen antiken »Vorläufern« in Verbindung zu bringen, ohne die ebenso folgenreiche mittelalterliche Vermittlung oder auch die neuen Entwicklungen während des Mittelalters zu berücksichtigen. Der Kontinuität muss vielmehr derselbe Stellenwert zugemessen werden wie den Brüchen und »Revolutionen«, zumal gerade Institutionen über lange Perioden gewirkt haben, wie dies das Beispiel der Universität, einer genuin mittelalterlichen »Erfindung«, verdeutlicht, die – mit einer Formulierung von Joachim Ehlers – das »eigenständigste[…] und dauerhafteste[…] Gebilde [… war], das die mittelalterliche Welt hervorgebracht hat«.2 Daher gilt es, eine Gesamtperspektive auf die mittelalterliche Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte zu entwickeln.

I.

Das »Mittelalter« als Epoche

Der moderne Begriff »Mittelalter« meint als Epochenbezeichnung innerhalb der Geschichtswissenschaft die mehr als 1000 Jahre vom 6. bis zum 16. Jahrhundert, vom Zusammenbruch des Weströmischen Reichs bis zum Zeitalter der Entdeckungen und der Reformation und Kirchenreform. Es handelt sich dabei um die Übersetzung des ursprünglich von den Humanisten, und zwar im negativen Sinne, geprägten Begriffs der media aetas bzw. des medium aevum, mit dem diese sich von ihrer unmittelbaren Vergangenheit abgrenzen und an das glanzvolle Erbe des Altertums anschließen wollten. In gewisse Hinsicht hatte sich jedoch das Mittelalter bereits selbst als mittlere Zeit im linearen Verlauf der Heilsgeschichte

1 Nietzsche, Betrachtungen, 2, S. 317. 2 Ehlers, Geschichte, S. 165.

Das »Mittelalter« als Epoche

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verstanden,3 als Epoche zwischen dem Auftreten Jesu und dem Ende der Geschichte, das sich durch die in der Offenbarung Johannis vorausgesagten Vorzeichen ankündigen würde. Entsprechend hatte z. B. der Abt Joachim von Fiore um 1200 zwischen dem Zeitalter des Vaters (dem des Alten Testaments) und dem des Sohnes (seit Christi Geburt) unterschieden, dem nach seiner Auffassung bald das »dritte Reich« des Heiligen Geistes folgen werde.4 Obwohl sich die Voraussagen Joachims wie die anderer »Propheten« nicht erfüllten, blieb bis zum Ende des Mittelalters (und darüber hinaus) die Erwartung des baldigen Jüngsten Gerichts und damit des Endes der Geschichte lebendig. Der im Mittelalter selbst angelegte und durch die Humanisten negativ verwandte Begriff der media aetas fand schließlich am Ende des 17. Jahrhunderts durch den Hallenser Professor für »Beredsamkeit und Geschichte«, Christoph Cellarius, Eingang in die Geschichtswissenschaft und hat sich seither allgemein durchgesetzt,5 auch wenn Cellarius in seinem universalgeschichtlichen Werk den Fall Konstantinopels 1453 zum Endpunkt des Mittelalters wählte, während in der Forschung seither je nach Region und Ansatz unterschiedliche Epochengrenzen der Zeit um 1500 gewählt wurden. Übergreifende Epochenbildungen – wie mit dem Begriff »Alteuropa« für die Zeit vom 12. bis 18. Jahrhundert – setzten sich dem gegenüber nicht durch. In diesem Sinne müssen auch für die mittelalterliche Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte eigene zeitliche Grenzen bestimmt werden. Wie für alle strukturgeschichtlichen Phänomene lassen sich jedoch dafür kaum feste Daten angeben. So hatte z. B. die Tendenz zu handbuchartigen Überblicksdarstellungen, wie sie im früheren Mittelalter fassbar wird, schon in der Spätantike eingesetzt. Mit der wachsenden Bedeutung der Handbuchliteratur stellte sich zugleich die Frage, welche der »originalen« Texte weiterhin rezipiert und so für die Nachwelt überliefert werden würden, so dass sich auch die frühmittelalterlichen Überlieferungsprobleme im Ansatz bereits in der Spätantike nachweisen lassen. So wurde auch das Lehrprogramm der artes liberales, der »sieben freien Künste«, ohne größere Modifikationen aus der Spätantike übernommen. Wenn somit inhaltlich im Übergang zum frühen Mittelalter keine deutliche Zäsur zu erkennen ist, bleibt für eine Periodisierung nur der Bereich der Institutionen und der Träger von Bildung. Dafür bietet sich ein Datum an, dessen Bedeutung allerdings nicht überschätzt werden darf: das Jahr 529. In diesem Jahr gründete der heilige Benedikt von Nursia – allerdings nach einer problematischen Überlieferung – das Kloster Montecassino,6 wo er um 540 seine Regel 3 4 5 6

Heimann, Einführung, S. 20–21. Vgl. Kap. 12. Heimann, Einführung, S. 19–20. Eher um 530, s. Dartmann, Benediktiner, S. 22.

12

Einleitung

verfasste, die nach und nach zur wichtigsten Grundlage des Klosterlebens wurde; und im selben Jahr unternahm der byzantinische Kaiser Justinian den Versuch, die einst von Plato gegründete, mehrfach erneuerte athenische Akademie aufzuheben.7 Selbst wenn diese Ereignisse nicht so zusammenfallen sollten, machen sie doch einen tiefgreifenden Wandel deutlich. Der schon in der Spätantike einsetzende Verfall des Schulwesens in den Städten schritt im frühen Mittelalter immer schneller fort, während mit den auf das kontemplative Leben und weniger auf weltliche Bildung ausgerichteten Klöstern neue Bildungszentren erwuchsen. Beginnt das Mittelalter somit bildungsgeschichtlich in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, lässt sich für sein Ende kein entsprechend deutlicher Einschnitt finden. So könnte man zwar auf das Aufkommen eines neuen Mediums verweisen, auf die Erfindung des Drucks mit »beweglichen Lettern« durch Johannes Gutenberg in Mainz um 1450, eine Technik, die bis in die Mitte des 20. Jahrhundert kaum verändert werden sollte. Doch setzte sich das Buch als »Massenware« ungeachtet der zuvor schon recht weit entwickelten kommerziellen Methoden für die Verbreitung von Manuskripten nur langsam durch, da die Aufnahmefähigkeit des »Marktes« zwangsläufig begrenzt war. Ein Wandel ist dabei bestenfalls um 1500 festzustellen, als z. B. die Nürnberger Druckerfamilie Koberger 24 Druckerpressen mit rund 100 Beschäftigten unterhielt, neben Nürnberg unter anderem in Lyon, Paris und Toulouse,8 doch spielten Manuskripte weiterhin eine wichtige Rolle. Grundlegender war zweifellos das Aufkommen des Humanismus, doch gehen dessen Anfänge in Italien bereits in das 14. Jahrhundert zurück und lassen sich damit zu Recht noch innerhalb der mittelalterlichen Geschichte abhandeln. Selbst das Vordringen humanistischer Einflüsse an den Universitäten ermöglicht keinen klaren Einschnitt, auch wenn dort am Anfang des 16. Jahrhunderts die alten Studienprogramme eine andere Schwerpunktsetzung erfuhren, durch neue Fächer wie Poetik ergänzt und mit neuen bzw. neu übersetzten Lehrbüchern »gefüllt« wurden. Allerdings markiert die europäische Verbreitung humanistischer Ideen, von Italien nicht nur nach Deutschland, sondern seit der Zeit um 1500 unter anderem auch nach Frankreich und England, zusammen mit den dann fassbaren Änderungen in den curricula doch einen deutlichen Wandel, weniger im grundsätzlichen Wert der Ausbildung als vielmehr im humanistischen Verständnis von Bildung, das jetzt nicht nur im städtisch geprägten Italien, sondern auch in den adligen Führungsschichten West- und Mitteleuropas Anklang fand. Nimmt man die geographischen Entdeckungen, die Folgen der Reformation und die Änderung des Weltbilds hinzu, wie sie die erstmals um 1510 formulierte heliozen7 Mindestens teilweise erfolgreich, Blumenthal, 529, S. 385. 8 McKitterick, Beginning, S. 294.

Bildung und Wissenschaft im mittelalterlichen Verständnis

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trische Hypothese des ermländischen Domherrn Nicolaus Copernicus ankündigt, lässt sich der traditionelle Einschnitt um 1500 aufrechterhalten. Auch für die Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte umfasst somit das durch eine quantitativ eingeschränkte Buchkultur, durch im Wesentlichen spätantike Bildungsideale, durch eine auch in den Bildungsinstitutionen vorherrschende »Romorientierung« und durch das geozentrische Weltbild gekennzeichnete Mittelalter rund 1000 Jahre, etwa die Zeit von 6. bis zum 16. Jahrhundert. Der Aspekt der Romorientierung führt allerdings zu einer räumlichen Einschränkung. Seit dem Schisma von 1054, faktisch aber schon länger, gab es eine grundlegende Trennungslinie zwischen dem Osten und dem Westen der Christenheit, zwischen der dem byzantinischen Kaiser und dem Patriarchen von Konstantinopel unterstehenden griechischen und der auf das Papsttum orientierten römischen Kirche. Diese Grenze, die auch die von Byzanz aus christianisierten Völker, Bulgaren, Serben und Russen, vom lateinischen Westen trennte, war zugleich eine bildungs- und wissenschaftsgeschichtliche »Wasserscheide«. Die Schriften der antiken griechischen Autoren, die im Westen zumeist nur wahrgenommen wurden, wenn sie in lateinischer Übersetzung vorlagen, und so erst mühsam erschlossen werden mussten, waren den Gebildeten des Byzantinischen Reiches trotz der Weiterentwicklung der griechischen Sprache in der Regel ohne Probleme zugänglich. Die nahezu ungebrochene Kontinuität zur spätantiken Bildung und Wissenschaft, die unter anderem auch im Bereich des Römischen Rechts, des Kaiserrechts, fassbar wird, macht eine eigenständige Behandlung der byzantinischen Situation erforderlich, die hier nicht geleistet werden kann. Vielmehr soll der Fokus dieser Darstellung zu Bildung und Wissenschaft im Mittelalter auf der westlichen, durch das Lateinische geprägten Schriftlichkeit liegen.

II.

Bildung und Wissenschaft im mittelalterlichen Verständnis

Das Lateinische war die Sprache der Gebildeten – im Mittelalter wie in der Frühen Neuzeit –, auch wenn die Volkssprachen im späteren Mittelalter mehr und mehr an Bedeutung gewannen. Sucht man also nach mittelalterlichen Begriffen für »Bildung« und »Wissenschaft«, muss man sich zunächst dem Lateinischen zuwenden. Dabei ergibt sich ein umfangreiches Wortfeld, das unter anderem die Begriffe educatio (Erziehung), eruditio (Unterricht, gelehrte Bildung), disciplina (Unterricht, Lehre, Schule, Kenntnis, Wissenschaft), doctrina (Unterweisung, Gelehrsamkeit, Wissenschaft, Belehrung, Lehre), institutio (Unterricht, Anweisung, Methode), ars (Handwerk, Kunst, Wissenschaft, Kunstlehre, wissenschaftliches Fach), scientia (Wissen, Wissenschaft), sapientia (Verstand, Weis-

14

Einleitung

heit) und schließlich peritia (Erfahrung, Kenntnis, Klugheit) enthält.9 Diese Begriffe spiegeln die Nähe von Bildung zur Unterweisung, zum Lernen, aber auch zu Gehorsam und moralischen Aspekten. Beispielhaft lassen sich diese Zusammenhänge an einer Literaturgattung ablesen, die Gegenstand des Kapitels über die politischen Theorien sein wird: an der der Fürstenspiegel. Sie führten den Herrschern anhand umfangreicher antiker und christlicher Vorlagen die moralischen, aber auch die Bildungsanforderungen an ihr Amt vor Augen. In den Titeln dieser Texte, unter anderem De institutione principum (»Über die Fürstenerziehung«), kehren zahlreiche dieser Begriffe wieder. Im volkssprachlichen Bereich findet sich ebenfalls kein zur modernen »Bildung« analoger Begriff. Das althochdeutsche pildunga ist vielmehr eine Lehnübersetzung des lateinischen imaginatio und bedeutet unter anderem auch Schöpfung; noch im Mittelhochdeutschen steht bildunge für »Bildnis«, »Gestalt« und »sinnliche Vorstellung«.10 Der der »Bildung« nahestehendste Begriff ist der der zucht (zuht), der im Mittelhochdeutschen unter anderem »Erziehung«, »Züchtigung«, »Bildung des äußeren und inneren Menschen«, »Wohlerzogenheit«, »Sittsamkeit«, »Höflichkeit«, »Anstand« und »Liebenswürdigkeit« meint,11 also ähnlich wie das lateinische Begriffsfeld eine starke moralische Komponente enthält. Die Differenzen zwischen moderner und mittelalterlicher Begrifflichkeit gehen auf die Entwicklung im Bildungswesen seit der Epoche der Aufklärung zurück. Seit der Zeit Herders und Humboldts wurde Bildung aufgrund der Ideale der Aufklärung mit der Idee der Freiheit und mit den Rechten des Individuums verbunden und entwickelte sich zu einer durch eine bestimmte geistige Haltung geprägten Verhaltensnorm, die sich insbesondere höhere gesellschaftliche Schichten – insbesondere das »Bildungsbürgertum« – zuschrieben. Gleichzeitig wurde der Begriff auf eine »von Lese- und Schreibfähigkeit beherrschte Kultur« verengt.12 In diesem Prozess wurde der mittelalterliche Begriff für den Laien – idiota – zur Bezeichnung für Geisteskranke, und die bis ins 18. Jahrhundert gültige Bedeutung von homo litteratus (im Sinne des Gebildeten oder Gelehrten) verengte sich auf den Literaten, mit dem im 19. Jahrhundert teilweise sogar negative Vorstellungen verbunden wurden. Wenn im Folgenden von »Bildung« im Mittelalter die Rede ist, soll dagegen vor allem die mittelalterliche Bedeutung im Vordergrund stehen. Es soll also vor allem um Erziehung, Ausbildung und Erwerb von Kenntnissen gehen, und zwar 9 Vgl. Boehm, Erziehungswesen, Sp. 2197. 10 Lexer, Taschenwörterbuch, S. 21; ausführlich in der online-Fassung des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs, http://www.mhdwb-online.de/wb.php?linkid=20460000#20460000 (letzte Einsicht 10. 2. 2022). 11 Ebd., S. 339. 12 Boehm, Erziehungswesen, Sp. 2196.

Bildung und Wissenschaft im mittelalterlichen Verständnis

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mit Blick auf die Institutionen und die Lehrinhalte, und weniger um Bildung als »geistigem Habitus«. Das angeführte lateinische Wortfeld enthält gleich mehrere Begriffe, die unter anderem »Wissenschaft« bedeuten können: disciplina, doctrina, ars und scientia. Es ist kein Zufall, dass auch für »Wissenschaft« keine eindeutige Bezeichnung in den Quellen erscheint, unterscheidet sich doch das moderne Verständnis erheblich von dem des Mittelalters. Zentral sind dabei vor allem die Begriffe ars und scientia.13 Der Begriff ars erscheint zunächst in der spätantiken Sammelbezeichnung für die grundlegenden Disziplinen, die ein »für die Wissenschaft freier« Mann beherrschen sollte, die der artes liberales, die schließlich auch namensgebend für die für alle Studenten mittelalterlicher Universitäten verbindliche philosophische Fakultät, die »Artistenfakultät« (facultas artium), wurde und so in der Bezeichnung für den Magisterabschluss bis heute fortwirkt. Der Begriff ars wurde aber auch innerhalb der einzelnen Disziplinen verwandt. So meint Ars vetus im Bereich der Logik den Kern der auf Aristoteles und seine frühen Kommentatoren zurückgehenden logischen Schriften, der am längsten in lateinischer Übersetzung vorlag. Dies spiegelt den elementaren Charakter der artes, der sich bereits im entsprechenden griechischen Wort techne (τɛχηɛ) sowie in weiteren Verbindungen wie in der Sammelbezeichnung der artes mechanicae, der sieben »mechanischen Künste«, oder selbst bei den artes magicae findet. Die artes stehen folglich – als Propädeutik – in gewissem Gegensatz zur Wissenschaft im engeren Sinne, insbesondere nach antiken Vorstellungen zur Philosophie. Philosophie meinte (als »Liebe zur Weisheit«) spätestens seit der Übersetzung und Kommentierung der Texte der Ars vetus ins Lateinische durch Boethius am Anfang des 6. Jahrhunderts auch im Westen die Gesamtheit der Wissenschaften, sowohl Naturerkenntnis wie auch Mathematik, Theologie und Ethik.14 Die grundlegende Methode dieser Disziplinen, der Erwerb wissenschaftlichen Wissens, war bereits von Aristoteles in der »Zweiten Analytik« definiert worden. Danach setzt das nachprüfbare Wissen den Nachweis der eigentlichen, unmittelbaren und angemessenen Ursache voraus; mit geringerer Sicherheit kann allerdings auch aus mittelbaren Ursachen oder unmittelbaren Wirkungen geschlossen werden.15 Das erste, der Nachweis propter quid (auf welcher Grundlage), ist nur selten möglich; auch in den Wissenschaften muss oftmals die zweite Form des Nachweises (quia) genügen. Das wissenschaftliche Wissen wurde vor allem seit der Aristoteles-Rezeption des 12. und 13. Jahrhunderts mit dem Begriff der scientia gefasst, ebenso wie die daraus mit Hilfe der grundlegenden Methoden aufgebauten Wissenschaften. 13 Beispiele in Scientia et ars, hrsg. Craemer-Ruegenberg, Speer. 14 Weisheipl, Nature, S. 470. 15 Ebd., S. 468.

16

Einleitung

Dieser weltliche Wissenschaftsbegriff muss aber – im Gegensatz zu modernen Vorstellungen – durch die Hinordnung aller Dinge auf Gott und damit durch die Beziehung zur Theologie ergänzt werden, wie dies um die Mitte des 13. Jahrhunderts exemplarisch der spätere Ordensgeneral der Franziskaner und Universitätslehrer Bonaventura formuliert hat: »[…] Die Philosophie handelt von den Dingen, so wie sie in der Natur oder in der Seele existieren, gemäß unserem angeborenen oder erworbenen Wissen. Aber die Theologie, als Wissenschaft auf der Grundlage des Glaubens und offenbart durch den Heiligen Geist, handelt auch von den Dingen, die Gnade, Herrlichkeit und selbst ewige Weisheit betreffen. Daher unterwirft sie sich die philosophische Erkenntnis und nimmt sich von der Natur der Dinge so viel, wie sie benötigt, um sich einen Spiegel zu machen, durch den die göttlichen Dinge fassbar werden […]«.16

Eine Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte des Mittelalters muss folglich die ganz andere Stellung der Wissenschaften im Mittelalter berücksichtigen, die sich zwar im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat, aber doch wesentlich durch die kirchlichen Institutionen geprägt blieb. Sie darf zugleich nicht von einem modernen Wissenschaftsbegriff ausgehen, sondern muss der Offenheit des Worts scientia Rechnung tragen. Nur so kann die Vielgestaltigkeit und Tiefe mittelalterlicher Bildung und Wissenschaft deutlich werden, die in der vorliegenden Arbeit ungeachtet der den Grenzen der Darstellung geschuldeten Auslassungen und Verkürzungen herausgearbeitet werden soll. Dies wird immer wieder im chronologischen Durchgang durch die Entwicklungen in verschiedenen Bereichen geschehen, ausgehend von der Ausbildung der Institutionen, von den frühmittelalterlichen Klosterschulen bis hin zum Schulwesen des späteren Mittelalters, über die Lehrpläne bis hin zu den Fächern und Disziplinen der Schulen und Universitäten und zu weiteren Wissensgebieten wie den artes mechanicae und artes magicae. Die chronologische Darstellungsform darf allerdings nicht zur Vorstellung verleiten, damit würde im hegelianischen Sinne ein Prozess der allmählichen Bewusstwerdung des menschlichen Geistes geschildert. Das Denken der spätmittelalterlichen Menschen war zweifellos nicht komplexer als das ihrer antiken oder frühmittelalterlichen Vorgänger. Die wachsende inhaltliche Komplexität ergibt sich vielmehr durch die zunehmende Verfügbarkeit und Zugänglichkeit älterer Vorlagen und gedanklicher Modelle, die ihrerseits neue Ansätze und Sichtweisen ermöglichten. Das geschah im lateinischen Mittelalter nicht zuletzt durch den Austausch mit antiken und arabischen Denkern und Autoren. Die europäische Expansion eröffnete dann seit dem 15. Jahrhundert neue Perspektiven, die sich mit den Anstößen durch die kirchlichen Umwälzungen verbanden

16 Bonaventura, Breviloquium, Prolog, 3, S. 205; übers. vgl. Piltz, Welt, S. 166, 168.

Bildung und Wissenschaft im mittelalterlichen Verständnis

17

und daher hier nicht mehr behandelt werden können. Wachsende Vielfalt in Bildung und Wissenschaft ist somit keine Epochensignatur des Mittelalters, sondern ein bis heute andauernder Prozess, der auch die Komplexität der Gegenwart erklärt. Die Zeit vom 6. bis zum 16. Jahrhundert war gleichwohl ein wichtiger, oft unterschätzter Abschnitt der Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte, der bis heute fortwirkt.

2.

Die Klosterschulen des frühen und hohen Mittelalters

In der Einleitung ging es darum, die zeitlichen Grenzen der mittelalterlichen Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte abzustecken. Es war kein Zufall, dass dabei mit der – vielleicht auch nur fiktiven – Koinzidenz des Jahres 529, mit der Schließung der platonischen Akademie in Athen und der Gründung des Klosters Montecassino durch Benedikt von Nursia, den früh- und hochmittelalterlichen Klosterschulen eine zentrale Bedeutung zugeschrieben wurde. Zwar blieb Bildung im früheren Mittelalter nicht nur auf die Klöster beschränkt, zumal in den Kernzonen des 476 untergegangenen Weströmischen Reiches, im westgotischen Spanien, im südlichen Gallien und in Italien, doch spielten die Klöster in den politisch unruhigen Zeiten der Reichsbildung der Germanen auf dem Boden des Weströmischen Reiches eine immer wichtigere Rolle für die Bewahrung des antiken Erbes. Dies war keine selbstverständliche Entwicklung, hatten sich doch die frühen christlichen Autoren teilweise deutlich gegenüber der weltlichen antiken Tradition abgegrenzt, wobei insbesondere der lateinische Westen im Allgemeinen noch deutlicher als der griechische Osten bildungsfeindlich eingestellt war. Der Eintritt in ein Kloster war in der Spätantike mit einer radikalen Abkehr von der Welt und damit auch von der weltlichen Bildung verbunden, zumal die »Väter« des Mönchtums im dritten Jahrhundert in ihren Gemeinschaften auf dem Sinai und anderswo vor allem Abgeschiedenheit und Askese gesucht hatten. Einen gewissen Wandel brachte dann jedoch das Vordringen des Christentums in die alten politischen Führungsschichten des Römischen Reiches, für die die literarische Bildung eine selbstverständliche Grundlage darstellte. Ein wichtiges Beispiel bietet der Kirchenvater Augustinus, der nach einem Rhetorikstudium in Karthago über die antike Philosophie und den Manichäismus zum Christentum fand; er versuchte im vierten Buch seiner Schrift De doctrina christiana (»Über die christliche Wissenschaft«) den – recht schwierigen – Nachweis, dass auch die Texte der Bibel in den Formen der Rhetorik aufgebaut seien.17 Selbst wenn Au17 Prinz, Kultur, S. 266.

20

Die Klosterschulen des frühen und hohen Mittelalters

gustinus von 396 bis zu seinem Tode 430 Bischof von Hippo Regius (Bône) in Nordafrika war, also in den Lebensformen des Weltklerus’ verblieb, hat er nicht nur durch eine von ihm für eine monastische Gemeinschaft verfasste Regel, das Praeceptum, sondern auch durch seine zahlreichen Schriften entscheidend auf die Klöster und die klösterliche Bildung eingewirkt. Er wurde zu einem wesentlichen Vermittler der lateinisch schreibenden vorchristlichen Autoren, so etwa der Texte Ciceros, Vergils und Ovids, und sein Umgang mit ihnen legitimierte zugleich, dass man sich weiterhin mit der heidnischen Tradition auseinandersetzte. Die Haltung des Mönchtums zur antiken Bildung blieb jedoch »eine zentrale Frage des christlichen Glaubenslebens«,18 auch, als Norm und Wirklichkeit des Klosterlebens der Ausbildung der Mönche einen festen Platz zugewiesen hatten. Sie stellte sich insbesondere immer wieder dann von neuem, wenn äußere Einflüsse oder Reformen eine Neuorientierung erforderlich machten, so etwa, als die irisch-angelsächsische Klosterkultur seit dem späten 6. Jahrhundert auf den Kontinent einwirkte, als in der Karolingerzeit Anfang des 9. Jahrhunderts eine Erneuerung des benediktinischen Mönchtums eingeleitet wurde oder als im 10. Jahrhundert die von Cluny ausgehende Reformbewegung allgemein tiefgreifende Wandlungen herbeiführte. Die Entwicklung des Mönchtums und der Klosterschulen bis ins hohe Mittelalter soll im Mittelpunkt des vorliegenden Kapitels stehen.

I.

Anfänge des Mönchtums im Westen

Das christliche Mönchtum hat seine Wurzeln im Vorderen Orient des 3. Jahrhunderts, bei den »Wüstenvätern« des Sinai, von wo es sich auch in den lateinischen Westen ausbreitete; die ersten Klöster sind in Italien wie in Gallien bereits in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts nachweisbar. Die ältesten monastischen Reformer im griechischen Osten, Pachomius und Basilius der Große, deren Regeln unmittelbar nach ihrer Entstehung ins Lateinische übersetzt wurden,19 suchten den älteren asketischen Individualismus durch eine stärkere Orientierung auf das gemeinschaftliche Leben zu ersetzen. War »the prevailing tone of Pachomian monasticism … that of the army camp«,20 in dem die humilitas, die demütige Haltung der Mönche, durch körperliche Arbeit erzwungen werden sollte, trat bei Basilius der Gedanke einer patriarchalisch orientierten 18 Prinz, Kultur, S. 267, spricht genauer von der kritischen Haltung gegen antike Bildung, die das Glaubensleben bestimmte. 19 Colish, Foundations, S. 52. 20 Ebd., S. 53.

Anfänge des Mönchtums im Westen

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Familie in den Vordergrund. Die Arbeit der Mönche dient für ihn nicht nur dem Aufbau der Gemeinschaft, sondern auch der Finanzierung des Klosterlebens und zugleich der Gesellschaft außerhalb der Klostermauern; für ihn steht nicht die physische Askese, sondern die spirituelle Entwicklung der Mönche im Zentrum. Seine Regel fand im östlichen Christentum weite Verbreitung, wurde 451 auf dem Konzil von Chalkedon ausdrücklich gebilligt und im 6. Jahrhundert sogar in das Römische Recht aufgenommen. Im Westen stieß sie jedoch auf geringe Resonanz, wohl vor allem deshalb, weil sie sehr stark kontemplativ ausgerichtet ist und zudem materielle Vorschriften für die Lebensführung enthält, die sich nicht überall umsetzen ließen. Dazu kam aber auch, dass die Basilius-Regel nichts über die Ausbildung der Mönche oder über kulturelle Aktivitäten der Klöster aussagt, also das Fortbestehen des weltlichen Bildungswesens voraussetzt. Eine Regulierung des monastischen Lebens im Westen musste dagegen von völlig anderen Rahmenbedingungen ausgehen. Zu den ältesten monastischen Gemeinschaften im Westen gehörte der Kreis um den um 400 verstorbenen Bischof von Tours, den heiligen Martin, sowie um das zwischen 400 und 410 vom heiligen Honoratus gegründete Kloster Lérins in der Provence, in dem bald der hohe Klerus des südöstlichen Galliens ausgebildet werden sollte. Seine Gründung erfolgte offenbar durch Vertreter der nordgallischen Führungsschicht, die vor den eindringenden Germanen nach Süden geflohen waren und sich angesichts der Auflösung der weltlichen Ordnung asketischen Idealen zuwandten. Als jedoch den Bischöfen in den gallischen civitates, den als Verwaltungszentren dienenden Städten mit ihrem Umland, mehr und mehr politische Aufgaben zuwuchsen und diese Amtsträger in wachsendem Maße aus den Mönchen von Lérins rekrutiert wurden,21 gewannen die Flüchtlinge wieder an Einfluss. Von Lérins gingen seinerseits weitreichende Impulse für Klostergründungen aus, unter anderem durch die enge Verbindung zu Cassian von Marseille, der selbst zwei Klöster gründete und auf Benedikt von Nursia einwirkte, sowie durch den auf Lérins ausgebildeten Caesarius von Arles, der unter den Merowingern auf die fränkische Kirchenpolitik Einfluss nahm und dessen Predigten und Regeln weite Verbreitung fanden, bis hin zur gelegentlich parallelen Anwendung seiner Regeln mit der Benedikts.22 Während Lérins durch die Herkunft seiner Mönche das bedeutendste Zentrum der christlichen Literatur in Gallien wurde, in dem die antike Bildung weiterhin bekannt und vertraut war, haben sich vom martinianischen Mönchtum kaum eigenständige literarische Zeugnisse erhalten. In beiden monastischen Zentren dürfte jedoch die

21 Wood, Merovingian Kingdoms, S. 22–23. 22 Prinz, Kultur, S. 270.

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Die Klosterschulen des frühen und hohen Mittelalters

zentrale Frage eine wichtige Rolle gespielt haben, welche Haltung zur antiken Bildung im christlichen Leben als Asket angemessen war.23 So hat etwa der Biograph Martins, Sulpitius Severus, selbst ein hochgebildeter Mann, in seiner Einleitung zur Lebensbeschreibung des Tourer Bischofs die antike Bildung heftig kritisiert: »Gar viele Menschen haben sich umsonst dem Studium und weltlicher Ehre hingegeben. Sie hofften, ewiges Angedenken für sich selbst zu finden, indem sie das Leben berühmter Männer mit ihrer Feder verherrlichten. […] Doch zum seligen und ewigen Leben trug derlei Sorge nichts bei. Was sollte ihnen auch das Ansehen nützen, das sie aus ihrem Schreiben gewannen, da es doch mit dieser Welt vergeht? Welcher Gewinn erwächst der Nachwelt daraus, wenn sie vom kämpferischen Hektor und philosophierenden Sokrates lesen kann? Es ist ja nicht nur töricht, sie nachzuahmen. Dumm ist es vielmehr, sie nicht entschieden zu bekämpfen. Sie werten das Menschenleben doch nur nach den gegenwärtigen Taten, setzen ihre Hoffnung auf Fabeleien und stürzen ihre Seele ins Grab«.24

Obwohl Sulpitius Severus seine Konversion zum Christentum also mit einer deutlichen Abkehr vom antiken Bildungsgut verband, zeigen ihn seine Schriften innerhalb der antiken Traditionen, sowohl in literarischer Hinsicht wie auch in der Kenntnis seiner Vorbilder, zu denen – teils sogar ausdrücklich genannt – unter anderem Terenz, Vergil, Horaz, Apuleius und Cicero gehörten. Allerdings sind ihm – wie auch sonst im Westen – die griechischen Autoren wenig vertraut; so schreibt er Sokrates die These von der Sterblichkeit der Seele zu,25 was wohl unter anderem seine abfällige Äußerung in der angeführten Stelle erklärt. Noch stärker als im Umfeld des heiligen Martin »schwingt«, wie es Friedrich Prinz formuliert hat, »bei den führenden Männern von Lérins, vermöge ihrer Herkunft und Bildung, […] ein Unterton antiker ›Aufgeklärtheit‹ mit, den man nicht überhören kann«.26 Einer der in Lérins ausgebildeten Bischöfe, Eucherius von Lyon, hat zwar eine Schrift De contemptu mundi et saecularis philosophiae (»Über die Verachtung der Welt und der weltlichen Philosophie«) verfasst, die an einen Verwandten namens Valerianus gerichtet ist, der für eine Abkehr von der Welt gewonnen werden soll, doch zeigt er darin ähnlich wie Sulpitius Severus eine gute Kenntnis der römischen und der ins Lateinische übersetzten griechischen Philosophen bzw. zumindest der Sammlungen von Auszügen in Sentenzenbüchern, Florilegien und Lexika, wie sie immer mehr in Gebrauch kamen.27 Möglicherweise äußerte sich die »Aufgeklärtheit« der Lériner Schule in ihrer eigenständigen Gnadenlehre, nach der für den Weg zum Seelenheil neben der von 23 24 25 26 27

Ebd., S. 271. Sulpicius, Vita, 1.1–3, S. 94; deutsche Übersetzung nach Frank, Frühes Mönchtum, 2, S. 21–22. Prinz, Kultur, S. 273. Ebd., S. 279. Ebd., S. 281.

Anfänge des Mönchtums im Westen

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Augustinus betonten göttlichen Gnade wesentlich das eigene Bemühen der Menschen erforderlich war. Die Form der Antikenrezeption in den beiden gallischen monastischen Zentren macht jedoch den Wandel deutlich, der sich nun abzeichnete: In dem Maße, wie die antike Bildung nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden konnte, musste ein Kanon für die christliche Ausbildung entwickelt werden, der zentrale Elemente der antiken Überlieferung, von der Sprache bis zur Komputistik, enthalten sollte. Dies sollte zur Fortsetzung der schon in der Spätantike einsetzenden Handbuchtradition führen, wie sie etwa die literarische Tätigkeit des Bischofs Isidor von Sevilla geprägt hat, der um 600 mit seinem Hauptwerk, den Etymologiae oder Origines, ausdrücklich die Absicht hatte, die antiken Autoren zu ersetzen und überflüssig zu machen, indem er das kirchlich relevante antike Bildungsgut in Form eines Lexikons darbot. Diese »Wikipedia« des Mittelalters mit ihren oftmals problematischen Worterklärungen fand dann auch weite Verbreitung. In dieser Situation war – auch angesichts der Probleme der Basilius-Regel – der Versuch der Neuordnung des klösterlichen Lebens in Montecassino durch Benedikt von Nursia ein Schritt »in die richtige Richtung«. Seine Regel unterscheidet sich von den rund 30 anderen erhaltenen Mönchsregeln durch ihre Länge, bei der sie nur von der Basilius-Regel und der älteren, ihr weitgehend als Vorbild dienenden Regula Magistri übertroffen wird.28 Zudem hat Benedikt ältere Traditionen aufgenommen und so verschiedene Linien monastischen Lebens zusammengeführt. Zu den wichtigsten Neuerungen Benedikts gegenüber der Regula Magistri gehörte, dass er einen »monastischen Klerus« vorsah, der aus dem Kloster beigetretenen Geistlichen sowie auf Anweisung des Abtes geweihten Mönchen bestehen sollte. Wenn letztere nach dem Text der Regel für ihre Aufgaben »würdig« sein sollten,29 setzte dies sicher auch eine angemessene Ausbildung voraus. Die klösterliche Bildung aber wurde von Benedikt zumindest indirekt zusammen mit der täglichen Handarbeit der Mönche geregelt. Grundsätzlich heißt es dazu am Anfang des 48. Kapitels: »Müßiggang ist der Feind der Seele. Deshalb sollen sich die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit, zu bestimmten Stunden dagegen mit heiliger Lesung beschäftigen«.30 Im Anschluss daran werden die Zeiten für die Lesungen, aber auch für mögliche Feldarbeit geregelt, und zwar jeweils für Sommer- und Winterzeit. Besonders intensiv sollte die Lesung während der »österlichen Bußzeit« sein, ebenso an Sonntagen. Die Einhaltung der Vorschriften wurde durch ältere Brüder überwacht. Auch wenn nur vermutet 28 Zur Regula Magistri s. de Vogüé, Regula. 29 Benediktsregel, cap. 62,1. 30 Ebd., cap. 48,1.

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Die Klosterschulen des frühen und hohen Mittelalters

werden kann, dass vor allem geistliche bzw. insbesondere biblische Texte gelesen werden sollten, setzt die Regel eindeutig Lesefähigkeit und Lateinkenntnisse voraus; diese mussten aber, wenn auch Knaben aufgenommen werden konnten,31 im Kloster selbst vermittelt werden. Eine neue Funktion in diesem Zusammenhang war die des Novizenmeisters, »eines älteren [Bruders …], der es versteht, die Seelen zu gewinnen, und der über sie mit größter Aufmerksamkeit wacht«;32 dieser war für die neu aufgenommenen Brüder zuständig. Es ist nicht erkennbar, ob Benedikt die Absicht hatte, seine Regel zur Grundlage einer weitreichenden europäischen Klosterreform zu machen, doch führte die Praktikabilität und Flexibilität der Vorschriften dazu, dass der Text nach und nach immer größere Verbreitung fand, zunächst teilweise in Verbindung mit anderen Regeltexten, unter anderem aus dem irischen Bereich. In diesem Prozess führten die Vorschriften über die Lesung und über die Aufnahme von Kindern zur Ausbildung von Klosterschulen, an denen ein Grundwissen erworben werden konnte, das sich an den aus der Spätantike überkommenen artes liberales, den sieben freien Künsten, orientierte; daneben wurden aber wohl oftmals auch Theologie und Bibelexegese sowie grundlegende medizinische Kenntnisse vermittelt. Die Klosterschulen wurden so zu Vermittlern der antiken Tradition an das frühe und hohe Mittelalter. Noch bevor die Regel Benedikts weite Verbreitung fand, erlangte jedoch eine andere Klostergründung große Bedeutung für die Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte. Sie ging zurück auf einen der einflussreichsten römischen Amtsträger im ostgotischen Italien, Cassiodor (Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator). Um 485 geboren, gelang ihm 523 unter Theoderich der Aufstieg zum höchsten Beamten des Ostgotenreichs, bis er sich angesichts des Zerfalls der gotischen Macht um 538/40 aus der Politik zurückzog. Um 550 gründete er auf seinem Familienbesitz in Kalabrien das Kloster Vivariense33 und wandte sich dem Aufbau einer Bibliothek und der Auseinandersetzung mit theologischen Problemen zu; er starb erst nach 580 im Alter von fast 100 Jahren. Nachdem Cassiodor schon in weltlicher Position mehrere Werke geschrieben hatte, darunter eine verlorengegangene »Gotengeschichte« und eine Sammlung von Erlassen und Schriftstücken aus seiner Amtszeit, verfasste er für sein Kloster – vielleicht sogar anstelle einer Regel – die Institutiones divinarum et humanarum lectionum, die »Vorschriften für geistliche und weltliche Lektüre«. In der Einleitung zum ersten Teil über die geistliche Lektüre stellte er fest: »Wenn ich mir vor Augen halte, dass die Schulen der weltlichen Wissenschaften mit so großem Eifer besucht werden, weil sehr viele Menschen durch sie weltliche Klugheit zu 31 Ebd., cap. 59. 32 Ebd., cap. 58,6. 33 Brunhölzl, Geschichte, 1, S. 27.

Anfänge des Mönchtums im Westen

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erlangen glauben, dann trifft es mich – wie ich gestehe – mit größtem Schmerz, dass für die Heilige Schrift die öffentlichen Lehrer fehlen. […] Die göttliche Liebe drängt mich nun dazu, anstelle eines Lehrers für euch diese einführenden Bücher mit Gottes Beistand zu schreiben. Ich hoffe, dass dadurch der Reihe nach die Bücher der Heiligen Schrift und auch umfangreiche Kenntnis der weltlichen Wissenschaften mit Gottes Hilfe zur Verfügung gestellt werden können.«34

Der erste Teil stellt zu den einzelnen Büchern der Bibel die verschiedenen Kommentare zusammen und nennt weitere Hilfen, unter anderem zum angemessenen Kopieren und Verbessern von Texten. So stellt Cassiodor im 30. Kapitel fest: »Offen gestehe ich, dass mir unter all euren körperlichen Arbeiten die Aufgabe der Abschreiber, insofern sie sauber schreiben, besonders am Herzen liegt, […] denn […] durch ihre Schreibarbeit verbreiten sie die Gebote des Herrn weit und breit. […] Der Teufel empfängt so viele Wunden, wie viele Worte des Herrn der Abschreiber schreibt. […] Doch damit die Schreiber in solchem bedeutenden Werk mit der Änderung der Buchstaben keine falschen Worte einbringen oder ungebildete Verbesserer wissen, wie sie zu verbessern haben, sollen sie die alten Orthographen studieren. […] Ich habe diese Bücher, so gut ich konnte, mit großem Eifer gesammelt. [… Zudem] habe ich große Mühe darauf verwandt, in einem eigens zusammengestellten Band mit dem Titel ›Die Rechtschreibung‹ euch ausgewählte Regeln an die Hand zu geben«.35

Da ein Verständnis der Bibel ohne Kosmologie und Kenntnis der weltlichen Wissenschaften für ihn unmöglich war, enthält der erste Teil noch einige Hinweise dazu, ebenso wie eine Beschreibung des Klosters und praktische Hinweise für das Klosterleben. Der zweite Teil, über die weltliche Lektüre, folgt dann im Aufbau den »sieben freien Künsten«, beginnt also mit dem Trivium aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik, um dann die eher »naturwissenschaftlichen« Fächer des Quadriviums, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, vorzustellen, jeweils mit knappen inhaltlichen Darstellungen und wichtigen Literaturhinweisen. Es ist diese Leseliste, wahrscheinlich zugleich ein kommentierter Katalog seiner Klosterbibliothek, die für die weitere Entwicklung folgenreich wurde. Zwar wurden die Institutiones zuerst nur in Teilen rezipiert – Isidor von Sevilla und Alkuin kannten oder benutzten am Anfang des 7. bzw. 9. Jahrhunderts nur das zweite Buch –, doch wurde der Text schließlich im 9. Jahrhundert zum Schulbuch, das den grundlegenden Lesestoff für viele Disziplinen bestimmte. Im Zusammenhang damit bestand ein wesentlicher Beitrag Cassiodors in der Vermittlung griechischer Texte, die er ins Lateinische übertragen ließ und so den westlichen 34 Cassiodorus, Institutiones, S. 3, deutsche Übersetzung zitiert nach n. Frank, Mönchtum, 1, S. 203. 35 Ebd., S. 75–76; bzw. ebd., S. 273–74.

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Die Klosterschulen des frühen und hohen Mittelalters

Schulen zugänglich machte, darunter die Antiquitates Iudaicae des Flavius Josephus und eine aus drei Texten kompilierte Fortsetzung der Kirchengeschichte des Eusebius von Cäsarea, die sich zu einem der beliebtesten mittelalterlichen Handbücher zur Kirchengeschichte entwickelte;36 aber auch in der Literatur zu den artes liberales ließe sich manches ohne die Institutiones nicht mehr zuordnen. Obwohl das Kloster Vivariense seinen Gründer wahrscheinlich nicht lange überlebte, seine Bibliothek verstreut wurde und im 7. Jahrhundert wohl nur in Teilen in die Lateranbibliothek, die Bibliothek der Päpste, gelangte, um abgeschrieben bzw. von dort bis in die Zeit Karls des Großen ausgeliehen zu werden, kommt der Gründung Cassiodors somit zentrale Bedeutung für die weitere Entwicklung zu: Es ist das erste Kloster, für das sich die Ausbildung und ein explizites Studienprogramm fassen lassen, lange vor späteren Institutionen; damit markiert seine Gründung den endgültigen Beginn der mittelalterlichen Klosterkultur.

II.

Die irisch-angelsächsische Klosterkultur

Waren bisher die Impulse zur Gründung von Klöstern und zur Ausbildung von Klosterschulen vor allem von Südfrankreich und Italien ausgegangen, kam seit dem Ausgang des 6. Jahrhunderts ein neuer Faktor hinzu: das Christentum auf den Britischen Inseln, bei Iren und Angelsachsen. Irland war spätestens seit dem Anfang des 5. Jahrhunderts christianisiert worden, zunächst durch den 431 von Papst Cölestin I. entsandten Palladius, dann – und schließlich erfolgreich – durch den romanisierten Briten Patricius (Patrick), der als Kind von irischen Räubern nach Irland gebracht wurde und später als Missionar dorthin zurückkehrte. Obwohl sein Wirken nur einen Teil Irlands betraf, einige Gebiete vielleicht schon zuvor christianisiert worden waren und in anderen das Christentum erst am Anfang des 6. Jahrhunderts Fuß fassen konnte, hat ihn eine spätere Tradition – nicht ganz zu Unrecht – zum »Apostel Irlands« gemacht.37 Wahrscheinlich geht die besondere Struktur der irischen Kirche schon auf ihn zurück. Da es im Land keine Städte gab, wurden die Bistümer in Klöstern eingerichtet, deren Einflussbereich oftmals mit Stammesgebieten identisch war. Der Abt war damit der religiöse Anführer dieser Stämme und stand zugleich über dem in seinem Kloster wirkenden Bischof bzw. übte die bischöflichen Funktionen selbst aus.38 Weitere Unterschiede zu den stärker auf Rom hin orientierten Christen, die sich offenbar durch eine zeitweilige Abschließung Irlands gegen36 Brunhölzl, Geschichte, 1, S. 41–42. 37 Richter, Irland, S. 43. 38 Vgl. ebd., S. 56–57.

Die irisch-angelsächsische Klosterkultur

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über dem Kontinent ergeben hatten, waren andere Normen für die Osterberechnung und die andere Form der Tonsur für Kleriker, die »Johannes-Tonsur«, bei der der vordere Teil des Kopfes geschoren wurde. Gerade die andere Berechnung des im Kirchenjahr zentralen Osterfestes, von dem bekanntlich alle beweglichen Kirchenfeste abhängen, sollte im 7. Jahrhundert zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen den irischen und den römisch beeinflussten Missionaren führen. Das Osterfest wurde auf dem ersten Konzil von Nikaia 325 auf den ersten Sonntag festgelegt, der auf den Vollmond nach dem Frühlingsanfang folgt. Da dies eine Synchronisierung von Sonnen- und Mondzyklus bedeutet, nämlich von Wochentag und Vollmond, umfasst der Osterzyklus das Vielfache der dafür jeweils notwendigen Zahlenreihen, d. h. 28 x 19 oder 532 Jahre. Die korrekte Berechnung erforderte somit ein kompliziertes Verfahren und setzte sich erst langsam im Abendland durch. Einen gewissen Abschluss bildete die Ostertafel des römischen Abtes Dionysius Exiguus, die mit dem Jahr 532 begann und in acht Spalten den Inkarnationsjahren die Angaben für den Mondzyklus gegenüberstellte.39 Auf dieser Grundlage ergeben sich für Ostern 35 mögliche Termine zwischen dem 21. März und dem 25. April. Die irischen Mönche rechneten dagegen auf der Grundlage eines älteren, nur 84 Jahre umfassenden Zyklus, der das Osterfest nur selten mit dem nach der Ostertafel des Dionysius Exiguus berechneten Termin zusammenfallen ließ. In der Folge kam es vor allem in den Kontaktzonen zwischen irischem und römischem Christentum im Norden Englands zu Problemen durch die Unterschiede im Ablauf des Kirchenjahrs. Zugleich stellten diese Probleme einen wichtigen Anstoß dafür dar, sich mit den Grundlagen und Methoden der Kalenderberechnung zu beschäftigen. Die weitgehend friedliche Mission Irlands hatte den irischen Mönchen keine Gelegenheit zu einem – von ihnen offenbar zumindest teilweise erstrebten – Martyrium gegeben; sie suchten deshalb das Ausbleiben des »roten« Martyriums durch andere Formen, das »weiße« und das »grüne« Martyrium, zu kompensieren, durch strengste, bis an die Zerstörung des eigenen Körpers gehende Askese, und durch die selbst gewählte Verbannung aus der geliebten Heimat, durch »asketische Heimatlosigkeit«.40 So wanderten kleine Gruppen von Mönchen zunächst nach Schottland und England, dann auf den Kontinent. In Schottland, das seinen mittelalterlichen und modernen Namen ohnehin von den eingewanderten Iren, den Scoti, trägt, entstand 563 auf einer vorgelagerten Insel das Kloster Hy oder Iona. Sein Gründer war der aus königlichem Geschlecht stammende Colum Cille, Kolumban der Ältere. Er hatte bereits in Irland mehrere

39 Borst, Computus, S. 29–30. 40 Hage, Christentum, S. 70.

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Die Klosterschulen des frühen und hohen Mittelalters

Klöster gegründet, so Durrow und Kells.41 Mit Iona entstand nun ein geistliches wie politisches Zentrum, von dem aus Kolumban die Christianisierung der noch heidnischen Pikten, des anderen »schottischen Kernvolks«, und der Northumbrier, der im Norden Englands siedelnden Angelsachsen, in Angriff nahm. Bis zu seinem Tod 597 hatte er Iona zum Mittelpunkt eines weitreichenden Netzes von Kirchen, Klöstern und Bistümern gemacht. Eine ähnliche Rolle spielte danach auf dem Kontinent der jüngere Kolumban, der, um 543 geboren, zunächst im Kloster Bangor ausgebildet wurde und dort als Lehrer tätig war, bevor er um 570 mit zwölf Gefährten ins Frankenreich zog. Die oftmals nur wenig organisierten Unternehmungen der irischen Mönche, die außerhalb ihrer Heimat ursprünglich nur in der Nachfolge Christi als Pilger und Fremde leben wollten, aber durch ihre strenge Lebensführung beispielhaft wirkten und von den Herrschern Gelegenheit zu Predigt und Mission erhielten, wurden so zu einem wichtigen Faktor der frühmittelalterlichen Geschichte. In gewissem Sinne wird damit die Feststellung, dass das Licht der Bildung immer aus den Osten gekommen sei, ex Oriente lux, für eine Phase der europäischen Geschichte in ihr Gegenteil verkehrt. Auch wenn aus den Lebensbeschreibungen der älteren irischen Klostergründer und Heiligen wenig über die Ausbildung in den irischen Klöstern zu erfahren ist,42 entwickelte sich doch dort eine eigenständige Kultur, die im Zuge der irischen Mission auf den britischen Inseln und dem Kontinent weite Verbreitung erfuhr. Die wesentliche Anbindung der Iren an die lateinische Welt erfolgte dabei durch das Studium der Bibel und die Auseinandersetzung mit der lateinischen Liturgie.43 So werden z. B. in einigen der Viten der Psalter oder andere Bücher der Bibel als Lektüre in den irischen Klöstern erwähnt; darüber hinaus dürften vor allem die Kirchenväter, darunter wiederum an erster Stelle Hieronymus, eine wichtige Rolle gespielt haben. Allerdings kannte man die Bibel zunächst nicht in der Übersetzung des Hieronymus, sondern in den (Bruchstücken älterer) Übersetzungen, die als Vetus Latina zusammengefasst werden.44 Erst seit dem 6. Jahrhundert setzte sich die Vulgata allmählich durch. Obwohl die ältere Auffassung, Irland sei ein »Zufluchtsort« der antiken, vor allem der römischen, Literatur gewesen, lange von der Forschung widerlegt ist und vieles auf Einflüsse aus Gallien, dem römischen Britannien und selbst aus dem westgotischen Spanien zurückgeführt werden kann, bleibt es doch beachtlich, was sich die irischen Mönche trotz ihrer Randlage aneignen und in ein eigenes Bildungsprogramm einbringen konnten. Dazu gehörte selbst eine – wenn auch meist 41 42 43 44

Zum Kontext der irischen Wandermönche s. u. a. Dietz, Wandering Monks, S. 194–96. Brunhölzl, Geschichte, 1, S. 157. Ebd., S. 158. König, Bedeutung.

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Abb. 1: Book of Kells, Trinity College, Dublin, Ms. A I 58, fol. 34r [9. Jahrhundert], Monogramm Chi Rho (XR = Chr[istus]). [wikipedia, https://en.wikipedia.org/wiki/Book_of_Kells]

rudimentäre – Kenntnis des Griechischen,45 die sich unter anderem in zwei- oder (unter Einschluss des Hebräischen) sogar dreisprachigen Glossaren niederschlug. Ein Glossar mit durch ihre Endungen latinisierten griechischen und hebräischen Begriffen hat sich auch als Anhang zu einem von den Britischen Inseln, wohl aus dem Irland des 7. Jahrhunderts, stammenden Lehrbuch erhalten, das 45 Vgl. Berschin, Griechisches.

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allerdings erst in Handschriften aus dem 9. Jahrhundert überliefert ist, den Hisperica famina. Sie enthalten kurze Kapitel zur Schule, zum Tagesverlauf, über das Meer, das Feuer und anderes in Reimprosa. Text und Glossar sind – mit einer Formulierung von Franz Brunhölzl – »Ausgeburt einer verdrehten Gelehrsamkeit«,46 belegen aber wohl die Existenz einer eigenen, teilweise extremen, »hisperischen« Latinität, die zeitweilig in der irischen Literatur eine Rolle gespielt haben dürfte. Aber auch ohne diese »Auswüchse« hatte das Lateinische in Irland seine Eigenheiten, die durch die Mission auch im angelsächsischen England Verbreitung fanden und in Anklängen bis zum 11. Jahrhundert fassbar sind. Das insulare Latein war unter anderem durch die Tatsache geprägt, dass es – anders als noch vielfach auf dem Kontinent – als Fremdsprache erlernt werden musste. Dazu wurden in Irland die ursprünglich vor allem für muttersprachliche Leser verfassten älteren lateinischen Grammatiken, insbesondere die Ars minor bzw. die Partes maiores des Donatus aus dem 4. Jahrhundert, an die Bedürfnisse irischer Nutzer angepasst.47 Um 600 wirkte der in einem monastischen Umfeld lebende Verfasser der ersten bekannten lateinischen Grammatik Irlands, Asperius oder Asporius, der sich wahrscheinlich an den Institutiones Cassiodors orientierte. Wenige Jahrzehnte danach, wohl noch vor dem Tod Isidors von Sevilla (636), entstand ein anonym überlieferter Kommentar zu den Partes maiores des Donatus, und um 650 schrieb ein als Virgilius Maro bekannter irischer Grammatiker, der sich unter dem Einfluss Isidors aus dem bisherigen geistlichen Umfeld der Lateinstudien löste und Grundfragen menschlicher Existenz ins Zentrum stellte (im Kontext der »Weisheitsliteratur«).48 Die irischen Grammatiken sollten im folgenden Jahrhundert auch auf dem Kontinent in weitem Umfang rezipiert werden. Im Zentrum der literarischen Aktivitäten in den irischen Klöstern stand, wie angeführt, die Bibellektüre, die sich anhand der starken Gebrauchsspuren an den aus Irland erhaltenen frühen Bibeltexten nachweisen lässt. Schon früh wurden diese Texte auch auf Reisen mitgeführt, und zwar in Ledertaschen, wie sie auch für die Aufbewahrung der Manuskripte im Kloster Verwendung fanden. Entsprechend der Bedeutung der Bibellektüre spielte auch die Bibelexegese, die Auslegung der biblischen Texte, vor allem im 7. Jahrhundert in Irland eine wichtige Rolle, anders als auf dem Kontinent, wo sich fast keine Kommentare aus dieser Zeit erhalten haben. Die Zuweisung dieser Schriften wird allerdings dadurch erschwert, das sie zumeist unter den Namen der großen Kirchenväter erhalten sind, als (angebliche) Werke des Augustinus, Hieronymus, Hilarius und 46 Brunhölzl, Geschichte, 1, S. 163–64; Marenbon, Philosophy, S. 48, spricht von »extravagant poetry«. 47 Richter, Irland, S. 63. 48 Vgl. Law, Wisdom, bes. S. 22–23.

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anderer. Die Autoren orientierten sich oftmals an älteren Vorbildern, so etwa an den exegetischen Schriften des Theodor von Mopsuestia, die in lateinischer Übersetzung vorlagen, und beschränkten sich zumeist auf die den Erzählungen der Bibel zugrundeliegenden historischen Abläufe, ohne die theologischen Probleme zu diskutieren. Sie präsentierten häufig eine Abfolge von Fragen und Antworten, die – mit der Formel »das ist nicht schwer« (non difficile) eingeleitet – meist bei trivialen Feststellungen stehenblieben, aber trotz einer gewissen Tendenz zu Kuriositäten Einblicke in den (klösterlichen) Schulbetrieb und den Eindruck intensiver Auseinandersetzung mit der biblischen Vorlage vermitteln. Dem klösterlichen Bereich entstammen ebenfalls die irischen Bußbücher (Pönitentialien), die seit dem 6. Jahrhundert für Geistliche, Mönche und Nonnen entstanden und nachhaltig auf die gesamte lateinische Christenheit einwirkten. Die Auferlegung und Erfüllung von Bußleistungen ermöglichte es, Sünden schon auf Erden zu tilgen.49 Daraus entwickelte sich das weitgespannte kirchliche Bußwesen des Mittelalters, für das die spätere kirchliche Lehre den durch die Märtyrer und Heiligen angehäuften »Gnadenschatz« in Anspruch nahm. Zu den eigenständigsten irischen Literaturgattungen gehört aber zweifellos die Hymnendichtung, für die sich von der Zeit Patricks bis ins 8. Jahrhundert rund 50 Beispiele erhalten haben.50 Einige dieser geistlichen Gedichte werden Kolumban dem Älteren zugeschrieben, unter anderem der Hymnus Altus prosator …, der die christliche Weltvorstellung beschreibt, mit der Schilderung der Schöpfung, des Sündenfalls und des Jüngsten Gerichts, der Beschreibung von Welt und Hölle. Besondere Bedeutung erlangte daneben in den irischen Klöstern seit der Mitte des 7. Jahrhunderts, vielleicht infolge der großen Pestwelle der Jahre 663/ 664,51 das Bestreben, die Kenntnisse über die irischen Missionare, Heiligen und Klostergründer in schriftlicher Form zu überliefern. Neben einer reichen, teilweise volkssprachlich überlieferten Annalistik entwickelte sich eine weitgehend eigenständige irische Hagiographie. Der älteste namentlich bekannte Autor war Cogitosus (der »Gedankenreiche«), dessen Name wahrscheinlich auf einen latinisierten irischen Namen zurückgeht und der auf Bitten der Mönche von Kildare das Leben und vor allem die Wunder der heiligen Brigit schilderte. Da anders als in den (wenig späteren) Lebensbeschreibungen Patricks und Colum Cilles über Brigits Persönlichkeit wenig erkennbar wird, ihr Fest am 1. Februar aber mit einem der vier großen keltischen Feste zusammenfällt und auch der mit ihr verbundene Feuerkult heidnische

49 Richter, Irland, S. 68. 50 Brunhölzl, Geschichte, 1, S. 166. 51 Richter, Irland, S. 62.

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Ursprünge andeutet, hat es Brigit wahrscheinlich nie gegeben;52 vielmehr dürfte in Kildare eine heidnische Kultstätte »christianisiert« worden sein. Die von Cogitosus verfasste Vita Brigits vermittelt ungeachtet dessen jedoch vielfache Eindrücke über das Kildare des 7. Jahrhunderts, und ihre Bedeutung liegt auch darin, dass sie einen anderen Autor, Muirchú, nach dessen eigenem Zeugnis am Ende des Jahrhunderts zu seiner Biographie des heiligen Patrick anregte. Diese war nicht die erste Vita des romanobritischen Missionars, ist aber sicher »die erste […] mit literarischem Anspruch«53 und die erste, die sich vollständig erhalten hat, zumal sie auf die Nachwelt einwirkte. In der wesentlich chronologisch aufgebauten Darstellung, die allerdings sprachlich unbeholfen bleibt und sich vor allem an Formulierungen der Bibel orientiert, erscheint Patrick als ein Missionar, der seine Gegner mit ihren eigenen Methoden ausspielt. Von literarisch ganz anderer Qualität ist schließlich der dritte hagiographische Text aus dem späteren 7. Jahrhundert, Adomnáns Vita Columbae, die Lebensbeschreibung Kolumbans des Älteren. Adomnán, um 624 geboren, war der neunte Abt des von Kolumban gegründeten Iona und dessen entfernter Verwandter. Als er rund ein Jahrhundert nach Kolumbans Tod, zwischen 692 und 697, auf Bitten seiner Mönche mit dem Schreiben begann, konnte er sich sowohl auf eine ältere, heute verlorene, Vorlage wie auf seine Erfahrungen als Autor einer Schrift »über die heiligen Stätten« (De locis sanctis) stützen; zudem stand er einem Kloster vor, in dem Bildung und Ausbildung seit der Gründung eine wichtige Rolle gespielt hatten. Adomnán war allerdings auch derjenige Abt von Iona, der sich im Streit um die Berechnung des Osterfests dem über das angelsächsische England vermittelten römischen Einfluss beugte, auch wenn ihm dabei seine Gemeinschaft vorerst noch nicht folgte.54 Schon im römischen Britannien hatte das Christentum, wie die Rolle Patricks als Missionar Irlands deutlich macht, weite Verbreitung gefunden. Die um die Mitte des 5. Jahrhunderts einsetzende Invasion der heidnischen Angeln, Sachsen und Jüten drängte jedoch die wohl weiterhin vorwiegend christliche keltische Bevölkerung in mehreren Schüben immer weiter nach Westen bzw. überlagerte ihre Siedlungsgebiete mit eigenen Herrschaftsstrukturen. Die Christianisierung der Angelsachsen begann einmal, wie geschildert, am Anfang des 7. Jahrhunderts von Iona aus, unter anderem durch die Gründung des Klosters (und Bistums) auf der Insel Lindisfarne vor der northumbrischen Küste 635,55 zum anderen aber ging sie vom Papsttum aus.

52 53 54 55

Cusack, Brigit, S. 76. Brunhölzl, Geschichte, 1, S. 173. Blair, Introduction, S. 140. Dunleavy, Island, S. 16–17.

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Es war Gregor der Große, der bezeichnenderweise den Propst des von ihm gegründeten Andreasklosters, Augustinus, und eine Reihe seiner Mitbrüder beauftragte, die Bekehrung der Angelsachsen zu übernehmen. Die Missionare landeten Anfang 597 auf der im Osten Kents gelegenen Insel Thanet, gewannen die Unterstützung König Aethelberhts von Kent, der mit einer Christin verheiratet war, und erreichten schließlich die Bekehrung des Königs und der Großen des Landes. Augustinus wurde 601 durch eine zweite römische Mission zum Erzbischof von Canterbury erhoben, Bischofssitze in London und Rochester folgten.56 Bald kam es jedoch zu Rückschlägen; nach dem Tode Aethelberhts 616 war die junge Kirche zeitweilig selbst in Kent bedroht. Der 625 eingeleitete Versuch, das einflussreiche Northumbrien zu bekehren, scheiterte mit dem Tod König Edwins 633, wurde aber bald darauf durch irische Missionare erneuert. Gregor I. hatte in seiner von Beda in der »Kirchengeschichte des englischen Volkes« (Historia ecclesiastica gentis Anglorum) überlieferten Antwort auf die Frage des Augustinus nach seinem Verhältnis zu den britischen Bischöfen festgestellt: »Alle Bischöfe Britanniens aber übertragen wir Deiner Brüderlichkeit, damit die Ungebildeten unterrichtet, die Wankelmütigen durch Überzeugung gestärkt, die Schlechten durch Vorbild gebessert werden«.57 Zeigte der Papst so seine Unkenntnis der Verhältnisse in der zumindest seit dem frühen 4. Jahrhundert fassbaren britischen Kirche, war damit zugleich für Augustinus der Weg zum Dialog verbaut. Zwei Versuche, die Unterstützung der britischen Bischöfe zu erhalten, scheiterten; auf dem Boden Northumbriens musste es nun aber zum Konflikt zwischen der keltischen und der römischen Kirche kommen. Der Streit entzündete sich an der Problematik der Berechnung des Osterfests, da die Differenzen gerade am northumbrischen Königshof deutliche Konsequenzen hatten. König Oswiu folgte dem irischen Osterdatum, während seine Frau den in Kent geübten römischen Traditionen verpflichtet war. Interne Problem des northumbrischen Königtums, ein Streit zwischen Oswiu und seinem Sohn Alchfrith, verschärften die Lage. Zur Entscheidung kam es schließlich 663 oder 664 im Kloster Whitby, das von der mit der Königsfamilie verwandten Äbtissin Hild geleitet wurde. Neben Oswiu und Hild nahmen auf keltischer Seite zwei Bischöfe teil, darunter Colman, der Bischof von Lindisfarne, auf römischer Seite – neben Alchfrith, einem Vertreter der römischen Mission und einem weiteren Bischof – Wilfrid, der Leiter des Klosters Ripon. Nach dem Bericht Bedas waren es schließlich die

56 Blair, Introduction, S. 117. 57 Beda, Kirchengeschichte, 1, S. 92–93 (lateinisch-deutsch).

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von Wilfrid vorgetragenen Argumente, die den König überzeugten, sich dem römischen Brauch anzuschließen.58 Auch wenn die Bedeutung dieser Entscheidung nicht überschätzt werden darf, da nur ein kleiner Teil des Klerus beteiligt war, führten die Ereignisse zu Whitby letztendlich dazu, dass sich alle christianisierten Angelsachsen auf Rom hin orientierten, während sich die römische Form der Osterberechnung bis zum 8. Jahrhundert nach und nach auch im irischen Mönchtum durchsetzte. Die angelsächsische Kirche war allerdings endgültig erst dann gefestigt, als der 669 von Rom als Erzbischof von Canterbury entsandte Theodor von Tarsus tiefgreifende Reformen in die Wege geleitet hatte.59 Unter ihm legte die erste englische Synode in Hertford 672 elementare Regeln für die Kirchenverwaltung fest, und in mehreren Schritten bildete sich durch die Maßnahmen Theodors und seiner Nachfolger die Struktur der englischen Bistümer heraus. Den (vorläufigen) Abschluss der Entwicklung markierte die endgültige Erhebung Yorks zum Erzbistum 735. Zum Umkreis Erzbischof Theodors gehörte der aus dem northumbrischen Adel stammende Mönch Benedict Biscop, der sich mehrfach in Rom aufgehalten hatte. Nachdem seine anderen Pläne gescheitert waren, wandte er sich an den northumbrischen König Ecgfrith und führte ihm anhand seiner kirchlichen und monastischen Erfahrungen und der von ihm auf seinen Reisen gesammelten Bücher den Wert der monastischen Ausbildung vor Augen. Der König schenkte ihm daraufhin Land bei Durham, auf dem Benedict 674 das Kloster Monkwearmouth gründete.60 Nachdem die Gebäude mit Hilfe fränkischer Steinmetze und Glasmacher schnell errichtet worden waren, kehrte Benedict ein weiteres Mal nach Rom zurück, um dort Bücher, Reliquien und Bilder zu erwerben. Als er seine Erwerbungen zusammen mit einem römischen Abt nach Northumbrien gebracht hatte, war Ecgfrith über Benedicts Erfolge so begeistert, dass er ihm 681 weiteren Grundbesitz übergab, nicht weit von der älteren Gründung entfernt. So entstand das Kloster Jarrow, dessen Kirche 685 geweiht wurde. Auch die neue klösterliche Gemeinschaft wurde von Benedict durch eine sechste und letzte Romreise mit den notwendigen Materialien versorgt. Als er 690, nach seiner Rückkehr durch eine Reihe von Krankheiten geschwächt, verstarb, traf er strenge Verfügungen über den Umgang mit den Bibliotheken, die sorgfältig verwahrt werden und unter allen Umständen zusammenbleiben sollten.61 Monkwearmouth und Jarrow waren zu diesem Zeitpunkt bei weitem nicht die einzigen Klöster im angelsächsischen England; vielmehr hatte schon Augustinus 58 59 60 61

Blair, Introduction, S. 131. Bonner, Religion, S. 35–36. Blair, Introduction, S. 139. Olley, Benedict Biscop, S. 30, 35.

Die irisch-angelsächsische Klosterkultur

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in Canterbury eine monastische Gemeinschaft begründet, die in der weiteren Entwicklung das Domkapitel stellen sollte, und nach der – irisch beeinflussten – Gründung von Lindisfarne 635 folgte eine Reihe weiterer Klostergründungen in Northumbrien, Ostanglien und Essex. In den Jahren um 650/70 wurde die angelsächsische Kirche immer stärker monastisch ausgerichtet. Dies ging wesentlich auf den Einfluss der irischen Mönche, die Beziehungen zu den nordfränkischen Klöstern und die Übernahme der Benedikt-Regel durch Wilfrid zurück.62 Keines der angelsächsischen Klöster war aber so wie Monkwearmouth und Jarrow ausdrücklich als Stätte der Bildung gegründet worden, und keines dürfte über eine derartig gut ausgestattete Bibliothek verfügt haben. Es ist so wohl nicht unbedingt ein Zufall, dass mit dem »verehrungswürdigen« Beda, wie ihn die Späteren nannten, Beda Venerabilis, der vielleicht bedeutendste Gelehrte des angelsächsischen Englands, in diesen Klöstern ausgebildet wurde und lebte. Beda, um 672/73 geboren, kam als Siebenjähriger nach Monkwearmouth zu Benedict Biscop, als dieser von Rom zum vorletzten Mal zurückgekehrt war; und als Jarrow gegründet wurde, wechselte er in dieses Kloster, um es nur noch äußerst selten zu verlassen. Im Alter von etwa 30 Jahren legte er seine erste Schrift vor, De temporibus, der Kalenderberechnung gewidmet, und bis zu seinem Tod 735 folgten zahlreiche weitere Werke, darunter die 731 abgeschlossene »Kirchengeschichte des englischen Volkes« (Historia ecclesiastica gentis Anglorum), die wichtigste Quelle für die englische Frühgeschichte.63 Nach De temporibus wandte er sich noch in einer weiteren Schrift den Problemen der Kalenderberechnung zu, in De temporum ratione (»Über die Berechnung der Zeiten«) von 725. Diese Texte waren wie sein großes Kompendium De natura rerum (»Über das Wesen der Dinge«) vor allem für den Schulbetrieb in Jarrow und Monkwearmouth bestimmt. Beda knüpfte dabei an die Sammlungen Isidors von Sevilla an, die ihn über Irland erreicht haben könnten. In seinen eher naturwissenschaftlichen Schriften sowie in der Geschichtsschreibung setzte er sich für die römische Osterberechnung und für die ebenfalls auf Dionysius Exiguus zurückgehende Inkarnationszählung ein, also für die Datierung in Jahren nach Christi Geburt, die sich erst durch die Rezeption seiner Werke endgültig durchsetzte. Historiographie hat Beda mehrfach auch als Biograph von Heiligen und Chronist von Klöstern betrieben, mit den Viten Cuthberts und Felix’, des Missionars der Ostangeln, mit einem von ihm verfassten Martyrologium und mit der Lebensbeschreibung der Äbte von Wearmouth und Jarrow.64

62 Blair, World, S. 140. 63 Blair, Introduction, S. 324–26. 64 Gransden, Writing, 1, S. 14–16.

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Die Klosterschulen des frühen und hohen Mittelalters

Wie methodisch er bei der Erstellung dieser Texte vorging, hat er für die Lebensbeschreibung des mit den Klöstern Melrose, Ripon und Lindisfarne verbundenen Cuthbert selbst geschildert. Zunächst hat er aufgrund einer älteren Lebensbeschreibung Material gesammelt und in die richtige Ordnung gebracht, dann Zeugen befragt, die mit Lindisfarne, aber auch noch mit Cuthbert selbst vertraut waren. Seine auf dieser Grundlage überarbeitete Vita hat er dann auf Pergament übertragen und nach Lindisfarne geschickt. Erst als die Ältesten und die Lehrer dieser Gemeinschaft den Text gelesen und gebilligt hatten, galt er für ihn als abgeschlossen; dann war er aber auch nicht mehr bereit, weiteres Material einzuarbeiten. Zu den Schulschriften Bedas gehören neben den Werken zur Kalenderberechnung noch Traktate über Metrik, Rhetorik und Orthographie; zahlreich sind jedoch auch seine Kommentare zu den Büchern des Alten und Neuen Testaments. Beda steht für den Höhepunkt der northumbrischen Klosterkultur, die in den mit der Zerstörung Lindisfarnes 793 einsetzenden Wikingerangriffen unterging. Kulturelle Zentren gab es aber auch im Süden, wenn etwa Beda über die monastische Gemeinschaft in Canterbury in der Zeit Theodors von Tarsus und seines afrikanischen Begleiters, des Abtes Hadrian, feststellt: »Da sie beide […] in den heiligen wie den weltlichen Wissenschaften überreichlich unterwiesen waren, ergossen sich täglich, als die Schüler versammelt waren, Ströme heilsamer Wissenschaft in deren Herzen, die bewässert werden sollten; so dass sie ihren Zuhörern neben den Büchern der heiligen Schriften auch die Kenntnis der metrischen, astronomischen, arithmetischen und kirchlichen Wissenschaft vermittelten«.65

Die von Beda so charakterisierte Schule wurde um 670 auch von Aldhelm von Malmesbury für weiterführende Studien aufgesucht. Der um 639 geborene Aldhelm, aus der Königsfamilie von Essex stammend, hatte seine erste Ausbildung in der von dem Iren Mailduf (Maildubh) begründeten monastischen Gemeinschaft erhalten und ging nach dem Tod des (namensgebenden) Mailduf 675 als Abt nach Malmesbury zurück. Obwohl er 705 Bischof des neugegründeten Bistums Sherborne wurde, blieb er bis zu seinem Tod 709 Abt seines Klosters.66 Seine lehrhaften, auf die Wissensvermittlung ausgerichteten literarischen Werke zeigen eine weitreichende Beherrschung der lateinischen Sprache und einen reichen Wortschatz, einen nahezu »barocken« Prosastil gegenüber eher schlichter, aber korrekter Dichtung und die Tendenz zur Benutzung seltener Worte und Begriffe, vor allem aus dem Griechischen oder den Hisperica famina. Neben einer Metrik mit einer Sammlung von Rätseln sowie Gedichten hat er eine umfangreiche Schrift De virginitate (»Über die Jungfräulichkeit«) hinter-

65 Beda, Kirchengeschichte, 2, S. 320–21. 66 Zur Biographie vgl. Orchard, Poetic Art, S. 2–4.

Die Ausstrahlung der irisch-angelsächsischen Klosterkultur

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lassen, die einer Äbtissin und den Nonnen ihres Klosters gewidmet ist.67 Dabei will Aldhelm vor allem durch Beispiele zur richtigen Lebensführung der Nonnen anhalten. In einem seiner dreizehn erhaltenen Briefe zeigt sich Aldhelm schließlich von der Ausbildung in Canterbury unter Theodor und Hadrian so überzeugt, dass er seinem Briefpartner mitteilt, kein Engländer müsse in Zukunft mehr nach Irland gehen, um dort zu studieren; und dies wird gewissermaßen durch den Brief eines unbekannten Iren unterstützt, der zur Ausbildung zu Aldhelm nach Malmesbury kommen wollte. Um 700 konnten somit die englischen Klosterschulen mit den irischen konkurrieren, und das zeigte sich auch an ihrem Einfluss auf dem Kontinent. Winfrid, der unter dem Namen Bonifatius zum »Missionar der Deutschen« werden sollte, begann seine Ausbildung ebenfalls im Süden Englands, in den benediktinischen Klöstern Exeter und Nursling, und in Nursling war er längere Zeit selbst als Lehrer tätig, bevor er im Alter von 40 Jahren 716 den ersten Versuch unternahm, die Friesen zu missionieren. Seine kulturelle Wirksamkeit gehört jedoch schon zur Tätigkeit der irischen und angelsächsischen Mönche auf dem Kontinent.

III.

Die Ausstrahlung der irisch-angelsächsischen Klosterkultur und die früh- und hoch mittelalterliche Entwicklung

Die älteren und vielleicht auch die intensiveren insularen Einflüsse auf dem Kontinent gingen von den wandernden irischen Mönchen aus. An erster Stelle ist dabei der schon erwähnte Kolumban der Jüngere zu nennen, der nach seiner Ausbildung in Bangor um 570 (oder auch später) mit einer Gruppe von zwölf Gefährten ins Frankenreich ging. Die schriftlichen Zeugnisse erlauben nur sehr bedingt einen Zugang zu seiner Persönlichkeit. Aber wenn sich Kolumban bald nach seiner Ankunft auf dem Festland zum Hof König Sigiberts begab, um sich angesichts der von ihm beobachteten Missstände als Reformer zu präsentieren, zeugt das von einem entwickelten Sendungsbewusstsein.68 Kolumban beeindruckte aber nicht nur wegen seiner strengen Lebensführung und seiner asketischen Ideale; vielmehr war er nach seinem Biographen Jonas »dem König und seinen Hofleuten wegen der Fülle seiner Gelehrsamkeit sehr lieb«.69 Deshalb bat ihn der König, sich innerhalb des Frankenreichs niederzulassen, und Kolumban gründete daraufhin in Annegray in den zu dieser Zeit noch wenig besiedelten Vogesen ein erstes Kloster.

67 Genauer gibt es eine Prosa- und eine Versfassung, ebd., S. 6–7. 68 Prinz, Frühes Mönchtum, S. 121. 69 Ionas, Vita Columbani, S. 420–21 (lateinisch- deutsch).

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Die Klosterschulen des frühen und hohen Mittelalters

Die Anziehungskraft dieser eremitischen Gründung war so groß, vor allem für den fränkischen Adel, dass bald zwei weitere Klöster entstanden, Luxeuil und Fontaine. Dies führte zur Erneuerung des Klosterwesens im Frankenreich, zumal sich – ähnlich wie einst aus Lérins – nun zahlreiche der fränkischen Bischöfe aus Luxueil rekrutierten und eine enge Verbindung zum Königtum bestand. Die von ihnen und anderen Unterstützern der neuen monastischen Lebensform gegründeten Klöster werden in der Forschung als »irofränkisch« gekennzeichnet, weil mit ihnen der von Kolumban ausgehende Impuls vor allem durch die fränkischen Oberschichten weitergetragen wurde.70 Kolumban selbst geriet allerdings durch sein Festhalten an der irischen Osterberechnung und durch seine Kritik an Sigiberts Witwe, Brunhilde, sowie an ihrem Enkel, König Theuderich, in Schwierigkeiten und wurde schließlich 610 aus dem Land verwiesen. Nachdem seine »Abschiebung« nach Irland durch einen Sturm scheiterte, zog er zunächst rheinaufwärts in den Bodenseeraum in die Nähe von Bregenz, um dort missionarisch zu wirken. Eine erneute Klostergründung kam allerdings nicht zustande; vielmehr wanderte Kolumban weiter nach Oberitalien und gründete dort 612 das Kloster Bobbio, in dem er 615 starb. Auch Bobbio entwickelte sich bald zu einem Zentrum strengerer monastischer Lebensformen wie klösterlicher Bildung.71 Für Bobbio wie für die anderen irischen Gründungen auf dem Kontinent war von großer Bedeutung, dass die Kontakte nach Irland nicht abrissen. So kamen nach Kolumban und seinen Begleitern immer wieder andere Iren nach Bobbio und arbeiteten in seinem Skriptorium; dort erlernten sie zwar die italienischen Schriften, führten jedoch gleichzeitig ihr System von Abkürzungen, ihre Ergänzungen, ihre Glossen und Erläuterungen sowie ihren Stil der Buchdekoration ein. Sie brachten Bücher aus Irland mit, nahmen aber ebenso andere Schriften von Bobbio nach Irland zurück.72 Zu Kolumbans Gefährten bei seiner Reise nach Süden gehörte – nach der Aussage seiner Lebensbeschreibungen – wahrscheinlich auch der heilige Gallus. Zweifel an seiner irischen Herkunft und an der Beziehung zu Kolumban lassen sich nicht ganz ausschließen. Gallus blieb wohl im Bodenseeraum zurück, als Kolumban nach Süden weiterzog, und gründete eine Zelle, aus der am Anfang des 8. Jahrhunderts das Kloster St. Gallen entstand. Auch St. Gallen war ein Anziehungspunkt wandernder irischer Mönche, so dass sich mindestens seit dem frühen 9. Jahrhundert irische Elemente im St. Galler Buchbestand feststellen lassen.73 Von ähnlicher Bedeutung war die Gründung auf der Reichenau, die von dem Iren oder irisch beeinflussten Franken Pirmin ausging. Nachdem er zu70 71 72 73

Prinz, Frühes Mönchtum, S. 124. Brunhölzl, Geschichte, 1, S. 179. Hughes, Church, S. 92–93. Prinz, Frühes Mönchtum – Südwestdeutschland, S. 168–69.

Die Ausstrahlung der irisch-angelsächsischen Klosterkultur

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nächst im Auftrag des alamannischen Herzogs ein Kloster in Pfungen bei Winterthur eingerichtet hatte, kam er um 720 an den Bodensee. Wohl auf Druck des Karolingers Karl Martell verlor er jedoch die Unterstützung des Alamannenherzogs und zog sich ins Elsass zurück, wo er in Murbach das Familienkloster der elsässischen Herzöge begründete. Weitere Gründungen folgten, andere Klöster, wie das elsässische Weißenburg, wurden durch Pirmin in seinem Sinne reformiert. Wie Kolumban, Gallus und Pirmin arbeiteten auch andere irische Mönche mit den fränkischen Oberschichten zusammen. Das galt auch für die Mönche der paruchia Fursei, des Einflussgebiets des heiligen Fursey, der nach einer ersten Klostergründung in Ostanglien wegen seiner zu großen Berühmtheit nach Lagny an der Marne östlich von Paris zog. Er wurde im neuerrichteten Kloster Péronne bestattet, dessen Leitung zunächst sein Bruder Foílleán, dann mit dem 706 verstorbenen Cellán ein irischer »Briefpartner« Aldhelms von Malmesbury übernahm. Zur paruchia Fursei gehörten neben Péronne das Frauenkloster Nivelles, das von Foílleán gegründete Fosse bei Namur sowie zahlreiche Pfarrkirchen. Die Mönche wurden bei der Ausweitung ihres Einflussgebiets wesentlich vom fränkischen Adel unterstützt und griffen ihrerseits in die fränkische Politik ein. Auch Péronne und die ihm verbundenen Klöster waren geistige Zentren; zudem geht von ihm wahrscheinlich sowohl die Verehrung des heiligen Patrick wie auch die anderer irischer »Mönchsväter« auf dem Kontinent aus. Die Beziehungen reichen bis nach Salzburg, wo der Ire Virgil im ausgehenden 8. Jahrhundert als Abt und Bischof wirkte.74 In den irischen bzw. irofränkischen Klöstern bestimmten zwar die strengen irischen Regeln das Klosterleben – Kolumban forderte sowohl die Abkehr von weltlichen Vorstellungen als auch weitreichende körperliche Entsagung –, doch wurde die Kolumban-Regel oftmals zusammen mit der Regel Benedikts benutzt. Zusammen mit den irischen Traditionen trug dies wohl dazu bei, dass fast alle irischen und irofränkischen Gründungen eine wichtige Rolle als Bildungszentren spielten. Dazu kam die anhaltende »Verstärkung« aus Irland. Noch um 870 vermerkt der Biograph des heiligen Germanus, Heiric von Auxerre: »Ohne Rücksicht auf [die Gefahren des] Meer[es] wandert fast ganz Irland zu unseren Ufern, mit einer Herde von Philosophen«.75 Die vielfältigen irischen Einflüsse verschmolzen im Laufe des 8. Jahrhunderts mit denen der angelsächsischen Mission. Den Anfang machte der aus Northumbrien vertriebene Wilfrid von York, dessen Argumente 663/64 in Whitby den Ausschlag für die Entscheidung zugunsten der römischen Berechnung des Osterfestes gegeben hatten und der sich nach seiner Vertreibung aus York im 74 Prinz, Virgil. 75 Heiricus von Auxerre, Vita, S. 429; Zitat auch in McNeill, Churches, S. 178.

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Die Klosterschulen des frühen und hohen Mittelalters

Winter 678/79 um die Christianisierung der noch heidnischen Friesen bemühte.76 Obwohl er im Frühjahr nach England zurückkehrte, war damit ein Anstoß für weitere angelsächsische Missionen auf dem Kontinent gegeben. Nach einem weiteren, gescheiterten Unternehmen war es dann der im Kloster Ripon unter Wilfrid und in Irland ausgebildete Willibrord, der 690 – wieder mit einer Gruppe von zwölf Gefährten – zur Mission der Friesen aufbrach und für sein Vorhaben die gestärkte fränkische Stellung unter Pippin dem Mittleren nutzen konnte, bis mit dessen Tod 714 die noch junge friesische Kirche zusammen mit der fränkischen Herrschaft über Friesland ein Ende fand und sich Willibrord in sein Kloster Echternach zurückziehen musste. Die enge Verbindung zwischen den angelsächsischen Missionaren und den Karolingern wurde später durch seinen »Nachfolger« Winfrid erneuert, doch suchte dieser nach dem Scheitern seines friesischen Unternehmens zunächst die Unterstützung des Papsttums. Gregor II. empfing ihn 719 freundlich in Rom, erteilte ihm einen Missionsauftrag und machte ihn zum Mitglied der römischen Kirche, indem er ihn nach dem Heiligen des Vortags, dem römischen Märtyrer Bonifatius, benannte.77 In der Folge missionierte und reformierte er nicht nur in Thüringen, Hessen und Bayern, sondern gründete zugleich mehrere Klöster, unter anderem zunächst um 730 in Ohrdruf, Fritzlar, Tauberbischofsheim, Kitzingen und Ochsenfurt, die vorwiegend mit angelsächsischen Mönchen und Nonnen besetzt wurden. Eine besondere Rolle spielte dabei unter anderem seine Verwandte Leobgith (Lioba), die 735 die Leitung von Tauberbischofsheim übernahm. Sie war in den Klöstern Thanet und Wimborne ausgebildet und danach von Bonifatius nach Deutschland berufen worden; das von ihr geleitete Kloster strahlte als Bildungszentrum bald auf eine Reihe weiterer, allerdings meist kleinerer Frauenklöster aus, deren Leitung sie als »Oberäbtissin« übernahm. Wie aus einem Brief des Bonifatius an Leobgith hervorgeht, ging es ihr nicht nur um die klösterliche Askese und Ausbildung, sondern auch um die Unterweisung von Mädchen, die sie eine Zeitlang betreute.78 Weitere Klostergründungen folgten, so 744 in Fulda, das rasch zu einem erstrangigen geistlichen und geistigen Zentrum aufstieg. Fulda wurde unter seinem ersten Abt Sturmi nach dem Vorbild Montecassinos eingerichtet und erhielt umfangreiche Stiftungen, insbesondere, nachdem Bonifatius nach seinem Märtyrertod in Friesland 754 im Kloster bestattet worden war. Hatte schon Bonifatius immer wieder Bücher aus England erbeten, begann in Fulda bald eine intensive Sammlung von Literatur, bis die Bibliothek im ausgehenden Mittelalter 76 Rollason, Wilfrid, Sp. 124. 77 Schieffer, Winfrid, S. 113. 78 Briefe des Bonifatius, 96, S. 318–21.

Die Ausstrahlung der irisch-angelsächsischen Klosterkultur

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die beachtliche Zahl von rund 2000 Handschriften umfasste, darunter zahlreiche Werke der antiken Literatur, für die Fulda eine wichtige Vermittlerrolle spielte. Daneben stehen aber auch die ältesten deutschen Sprachzeugnisse, unter anderem das Hildebrandslied, mit dem Kloster in Verbindung. Unter den Äbten Fuldas spielte vor allem Hrabanus Maurus (822–842) bildungsgeschichtlich eine wichtige Rolle,79 der 847 als Erzbischof von Mainz einer der Nachfolger des Bonifatius werden sollte und zahlreiche Werke hinterließ, neben exegetischen Schriften auch Handbücher für weltliches und geistliches Wissen, Denkschriften und Texte für die Ausbildung des Klerus. Nachdem schon der Biograph Karls des Großen, Einhard, in Fulda ausgebildet worden war, gehörten unter Hrabanus Maurus unter anderem der Evangeliendichter Otfrid von Weißenburg, der Biograph des heiligen Gallus und Autor zahlreicher weiterer Texte, Walahfrid Strabo, sowie der vor allem durch seinen Briefwechsel berühmte Lupus von Ferrières zu den Mitgliedern der Fuldaer Klosterschule. Es waren somit vor allem die irischen und angelsächsischen Einflüsse, die dazu beigetragen hatten, dass das klösterliche Bildungswesen um 800 vielfach weit entwickelt und gefestigt war. Nicht immer jedoch waren Askese und Bildung hinreichend miteinander verbunden, wie dies ein Brief Karls des Großen an einen Abt deutlich macht: »Es sind uns in den letzten Jahren aus mehreren Klöstern öfters Schreiben zugegangen, worin uns berichtet wird, dass die dort weilenden Brüder in frommen und heiligen Gebeten für uns wetteiferten. In der Mehrzahl dieser Zuschriften fanden wir zwar einen rechten, tüchtigen Sinn, aber auch eine ungebildete Sprechweise, weil infolge der Nachlässigkeit im Lernen die ungebildete Zunge nicht das fehlerfrei auszudrücken vermochte, was im Herzensinnern fromme Ergebenheit getreuen Sinnes diktierte. Deshalb wurde in uns die Besorgnis rege, es möchte bei dem Mangel an schriftstellerischem Können auch an der Einsicht und Erkenntnis der heiligen Schriften viel weiter, als es nur irgendwie sein dürfte, fehlen. […] Wir ermahnen euch daher, das Studium nicht zu vernachlässigen und in demütiger und Gott wohlgefälliger Meinung wetteifernd zu lernen, damit ihr in die Geheimnisse der Heiligen Schrift leicht und sicher eindringen könnt. Da sich nämlich in der Bibel rhetorische Figuren, Tropen und anderes dergleichen findet, so kann niemand zweifeln, dass sie jeder Leser umso schneller in ihrer geistigen Bedeutung erfasst, je mehr und je vollkommener er zuvor wissenschaftlich geschult ist«.80

Macht dieses Schreiben zum einen das letzte Ziel der klösterlichen Bildung deutlich, nämlich die Ausrichtung auf das Studium und Verständnis der Bibel, weist es zum anderen auf ein grundsätzliches institutionelles Problem der Klöster wie der Klosterschulen hin: Nur beständige Kontrolle und immer wieder er79 Spilling, Skriptorum, S. 167–69 u. ö. 80 Karoli Epistola de litteris colendis, 780/800, in: MGH, Leges, Capitularia, 1, 29, S. 79; deutsche Übersetzung nach Bühler, Klosterleben, S. 127.

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Die Klosterschulen des frühen und hohen Mittelalters

neuerte Reformbemühungen konnten ein gewisses Niveau des klösterlichen Lebens und der Ausbildung gewährleisten. So ist denn auch die weitere Geschichte des mittelalterlichen Mönchtums von Erneuerungsbewegungen durchzogen, die sich häufig auf den Charakter der Klosterschulen auswirkten. So führten unter Karls Sohn, Ludwig dem Frommen, drei Reichssynoden zwischen 816 und 819 eine Reform des Mönchtums ein, die erstmals allen Klöstern des Frankenreiches die Benedikt-Regel verbindlich vorschrieb und ihr die jeweils geltenden einzelnen Vorschriften für die Lebensführung, die consuetudines, unterordnete. Auch wenn sich so die regionalen Unterschiede verfestigten, entstand damit erst jetzt ein relativ einheitliches Benediktinertum. Zugleich nahm der Kaiser die Klöster unter seinen Schutz und legte die Regeln für die Integration in die herrschaftlichen Strukturen fest, bis hin zu den Leistungen für das Reich. Die ältere Forschung verband die Reformen zu Unrecht mit dem Klostergründer und -reformer Benedikt von Aniane, der sich jedoch intensiv mit der Benediktsregel auseinandersetzte.81 Der reformerische Impuls erlosch bald nach Benedikts Tod (821); größere neue Reformansätze formierten sich aber im Folgenden zumeist, ausgehend von einzelnen Häusern, in Gestalt von Gemeinschaften oder Kongregationen von Klöstern. Das galt bereits für die Neuerungen, die seit dem Anfang des 10. Jahrhunderts vom um 908 durch Herzog Wilhelm von Aquitanien gegründeten burgundischen Kloster Cluny ausgingen.82 Bewusst wurde das Kloster von Anfang an aus allen Bindungen außer der gegenüber dem Papsttum gelöst; unter in ihrer Lebensführung vorbildlichen ersten Äbten wurde die Geltung der Benedikt-Regel erneuert und der Versuch unternommen, auf die Probleme der Zeit zu reagieren. Seit 931 hatten die Äbte das päpstliche Privileg, sich andere Klöster zur Durchführung von Reformen dauerhaft zu unterstellen, so dass sich, vor allem in den romanischen Ländern und England, eine weitreichende Kongregation von Reformklöstern bildete, der im 12. Jahrhundert fast 1.500 Häuser unterstanden; dazu kam noch einmal dieselbe Zahl an Klöstern, die sich ohne feste Bindung den Reformen verpflichtet fühlten, in Deutschland unter anderem die von Klöstern wie Hirsau und St. Blasien ausgehenden, aber weniger deutlich strukturierten Reformbewegungen.83 Die Forschung hat auf die Aufgeschlossenheit der Cluniazenser gegenüber der Wissenschaft verwiesen, obwohl sich die Mönche in bewusster Abgeschiedenheit zunächst einem Leben im Dienste Gottes widmeten.84 Zwar entstanden in den cluniazensischen Klöstern vor allem liturgische Handschriften, doch wurden 81 82 83 84

Dartmann, Benediktiner, S. 75. Ebd., S. 84–85. Ebd., S. 93. Tellenbach, Wesen, S. 129.

Die Ausstrahlung der irisch-angelsächsischen Klosterkultur

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dort auch die antiken Schriftsteller rezipiert, und einige bedeutende Theologen gingen aus ihren Reihen hervor. Überhaupt bedeutete Ordensreform auch in den folgenden Jahrhunderten trotz der vorherrschenden asketisch-theologischen Motivation immer wieder auch die Erneuerung der klösterlichen Schulen. Im 13. Jahrhundert wurde die Entstehung eines neuen Typus von geistlichen Orden, der Bettelorden, sogar von der Ausbildung eines eigenen Studiensystems begleitet, dessen höchste Stufe, die der »Generalstudien«, in Verbindung mit den Universitäten stand.

3.

Von der Kathedralschule zur Universität

Die Klosterschulen waren die Institutionen, die in einer Welt der politischen Unruhe, der zerfallenden und sich erneuernden Herrschaftsstrukturen sowie des Niedergangs im Bildungswesen das antike Erbe in ihrem Rahmen übernahmen und für die Späteren bewahrten. Zwischen weltlicher Bildung und klösterlichen Idealen bestand eine Spannung, die sich nie ganz auflösen ließ, wie dies etwa eine Stelle aus den »St. Galler Klostergeschichten« deutlich macht, in denen der Autor Ekkehard über den gelehrten Mönch Notker »den Stammler« († 912) Folgendes berichtet: »Mit Erlaubnis der Oberen, vielmehr sogar auf ihre Weisung, waren die Jüngeren und hierzu Befähigten bei Nacht und bei Tage, wenn [Notker] jeweils in seinen Gebetsübungen pausierte, gleichsam auf der Lauer. Keine Stunde galt nämlich für unpassend, so einer, ein Buch in den Händen, sich mit dem Herrn Notker unterhielt. Da er sie selber aber in Rücksicht auf den Wortlaut der Regel zuweilen durch Zischen und Scharren von sich scheuchte, ward ihm, was er so zurückgewiesen, von den Äbten bei seiner Gehorsamspflicht auferlegt. Wie honigfließend er aber in seinen Antwortreden gewesen ist, bezeugen die Tränen derer, die ihn erlebt haben.«85

In den Klöstern standen das Gebet und das Lob Gottes an erster Stelle, das die Mönche gewissermaßen stellvertretend für die Christen in der Welt im Kreislauf der Tage leisteten; wissenschaftliche Diskussionen oder auch die Belehrung der Jüngeren außerhalb der durch Strenge gekennzeichneten Schule galten dafür eher als störend, selbst wenn ein Gelehrter wie Notker von seinen Oberen angewiesen wurde, sich dem Drängen der Lernbegierigen zu stellen. Diese Probleme spielten jedoch für den weltlichen Klerus, die Priester mit ihren verschiedenen Weihegraden, die Archidiakone, Bischöfe und Erzbischöfe, keine wesentliche Rolle, denn sie wollten sich nicht aus der Welt zurückziehen, sondern in ihr wirken. Dafür war ebenso eine gewisse Bildung notwendig, von den Lateinkenntnissen für die Messe bis hin zur Kenntnis der Heiligen Schrift und der Kirchenväter, wobei das Leben außerhalb einer streng organisierten 85 Ekkehardi IV. Casus, S. 85–87.

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Von der Kathedralschule zur Universität

monastischen Gemeinschaft zu sehr unterschiedlichen Ausformungen der Bildungsideale und zu großen faktischen Differenzen in der Klerikerausbildung führte. Insgesamt wurden damit Weltklerus und Mönchtum zu den wichtigsten, zeitweilig sogar zu den alleinigen Trägern der Schriftlichkeit im früheren Mittelalter. Ähnlich wie in der Geschichte des Mönchtums bedurfte es jedoch immer wieder erneuerter Bemühungen, um den Standard der Klerikerausbildung zu verbessern- Lange war es gerade im ländlichen Bereich eben keine Selbstverständlichkeit, dass die Priester über ausreichende Lateinkenntnisse verfügten. So wurde die Ausbildung der Kleriker an den zentralen Kirchen der Bistümer, an den Kathedralen, erst seit der Zeit Karls des Großen, im Zuge der »karolingischen Renaissance«, als Regelfall durchgesetzt, ausgehend vom Hof und der Hofbibliothek.86 Dennoch gab es weiterhin große Unterschiede im Bildungsstand der Kleriker und im Charakter der Ausbildung an den Kathedralschulen. So standen einige im 10., 11. und 12. Jahrhundert im Zentrum der bildungsgeschichtlichen Entwicklung, andere spielten dagegen kaum eine Rolle. Besonders im nordfranzösischen Raum leisteten die Kathedralschulen einen wichtigen Beitrag zur Entstehung der Universitäten, die sich seit der Wende zum 13. Jahrhundert ausbildeten. Die damit angesprochene Phase wird von der modernen Forschung ebenso wie die Zeit der Karolinger als Periode der Erneuerung und des bewussten Rückgriffs auf antike Ideale und Texte verstanden und als »Renaissance des 12. Jahrhunderts« bezeichnet.87 Damit soll der Bogen von der »karolingischen Renaissance« zur »Renaissance des 12. Jahrhunderts« geschlagen werden, auch wenn die Geschichte der Kathedralschulen nicht mit dem Jahr 1200 endet.

I.

Die Kathedralschulen und die »karolingische Renaissance«

Die bildungsgeschichtlichen Beziehungen zwischen dem Mönchtum und dem Weltklerus waren vielfach recht eng, wie dies im letzten Kapitel deutlich geworden sein sollte. Monastische Zentren wie die in Lérins oder Luxueil dienten als Ausbildungsstätten des weltlichen Klerus, besonders der Bischöfe, die nach der Ausbildung im Kloster ihr Amt übernahmen;88 und Bischöfe mit »monastischem« Hintergrund wie Bonifatius betätigten sich als Gründer von Klöstern, deren Schulen eine wichtige Rolle spielen sollten. Aber auch unabhängig von der klösterlichen Welt erlangten die Bischöfe und ihre Schulen Einfluss auf die bildungsgeschichtlichen Entwicklungen. Ein frühes Beispiel bietet der bereits er86 Haberl, Hofbibliothek. 87 Vgl. u. a. Giraud, Schools, S. 2. 88 Kap. 2.

Die Kathedralschulen und die »karolingische Renaissance«

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wähnte Isidor von Sevilla aus dem westgotischen Spanien, der seinem Bruder Leander im Jahr 600 als Erzbischof der Stadt nachfolgte und für seine »Etymologien«89 auf das dort vorhandene antike Bildungsgut zurückgreifen konnte. Isidor wirkte aber nicht nur durch sein Hauptwerk, sondern suchte auch allgemein die Ausbildung des Klerus zu verbessern, möglicherweise durch eine Liste der zu lesenden Autoren. Er stand damit bereits in einer längeren Tradition, denn schon Augustin hatte bischöfliche Schulen gefordert, und seit 527 hatten mehrere Synoden des Westgotenreichs Regelungen für die Klerikerausbildung beschlossen. Während in Irland und in den irisch beeinflussten Gebieten im Norden der britischen Inseln die Bistümer mit Klöstern verbunden waren und so keine eigenständige Bedeutung für die Ausbildung von Klerikern erlangen konnten, entwickelten sich auch im angelsächsischen Bereich einflussreiche Kathedralschulen. An erster Stelle ist dafür wiederum die unter Erzbischof Theodor von Tarsus und dem Abt Hadrian erneuerte Schule in Canterbury zu nennen,90 die aber im Wesentlichen ihren monastischen Charakter behielt. Es waren dann jedoch die Schulen von York, die größeren Einfluss auf dem Kontinent ausübten. Northumbrien war in der Zeit Bedas zu einem der großen geistig-geistlichen Zentren des lateinischen Westens geworden, auch durch die einstmals von Benedict Biscop begründeten Bibliotheken der Klöster Monkwearmouth und Jarrow. Zu Bedas Schülern zählte auch Egbert, der 732/34 zum Bischof, im Jahr darauf im Sinne von Anregungen Bedas zum Erzbischof von York erhoben wurde.91 Beda hat Egbert im letzten von ihm hinterlassenen Zeugnis, einem Brief an den Bischof, noch einmal eindringlich ermahnt, seinen Amtspflichten nachzukommen und die Kirche Northumbriens zu reformieren.92 Dazu gehörte sicher auch die Verbesserung der Klerikerausbildung, und so richtete Egbert eine Kathedralschule ein, deren Leitung er bald einem Verwandten, Aethelberht, übertrug. So entstand eine organisierte Gemeinschaft von Lernenden, die sich schon recht schnell nicht nur aus den auszubildenden Klerikern, sondern auch aus jüngeren Gelehrten rekrutierte, die über die Elementarbildung hinausreichende Interessen hatten. Ein Zeugnis dafür ist eine Egbert selbst zugeschriebene Schrift, der Dialogus ecclesiasticae institutionis (»Dialog über die Einrichtung der Kirche«), der eine Erklärung kirchenrechtlicher Bestimmungen bietet und vor allem die Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft behandelt.93 Der Erfolg der Kathedralschule war vor allem das Werk von Aethelberht, der sich als guter Lehrer 89 90 91 92 93

Isidor Etymologiarum Libri XX. Blair, World, S. 242–43. Blair, Introduction, S. 142. Kubrusly de Freitas, Of When It was Necessary, bes. S. 133–34. Blair, From Bede, S. 240–41.

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erwies, über die artes liberales, Dichtung, Recht und über das Alte Testament unterrichtete und seinerseits eine umfangreiche Bibliothek in York aufbaute. Sein Schüler Alkuin, der schon unter Egbert in York gelernt hatte, hat in sein Gedicht über die Bischöfe und Heiligen von York (De pontificibus et sanctis ecclesiae Eboracensis carmen) eine Liste der wichtigsten Autoren eingeschlossen, die in der Bibliothek vertreten waren. Neben den Kirchenvätern wie Hieronymus, Hilarius, Ambrosius, Augustin, Athanasius, Gregor d.Gr. und anderen christlichen Autoren wie Basilius, Arator, Aldhelm und Beda werden auch antike Schriftsteller wie Plinius, Aristoteles, Cicero, Laktanz, Vergil, Lukan, Prosper, Boethius, Donatus und Priscian genannt.94 Auch wenn dies noch nicht ein (irgendwie vollständiges) Bücherverzeichnis darstellt, lässt sich jedoch feststellen, dass die Bibliothek der Kathedrale in York einige Titel besessen haben muss, die Beda noch nicht zugänglich waren.95 Dies gilt zunächst für den 524 unter Theoderich wegen Hochverrats hingerichteten Römer Boethius, der durch sein bereits im ostgotischen Gefängnis verfasstes Hauptwerk »Über den Trost der Philosophie« (De consolatione philosophiae), aber auch durch seine Übersetzungen des Aristoteles und anderer griechischer Autoren für das Mittelalter zu einem wichtigen Vermittler antiker Bildung wurde. Aber auch die Schriften von Aristoteles, Cicero, Lukan und anderen lagen Beda wahrscheinlich noch nicht vor; ebenso ist die Vertrautheit mit Vergil unsicher. Wie aufgrund Alkuins Zeugnis mit gutem Grund angenommen werden kann, sind diese Schriften wahrscheinlich von Aethelberht von mehreren Reisen mitgebracht worden, die er unternahm, bevor er 766 zum Nachfolger Egberts als Erzbischof von York erhoben wurde. Obwohl das Wirken Alkuins die weitreichendsten Folgen hatte, sind doch auch weitere Schriften aus dem Umkreis der Kathedralschule in York bekannt, die das hohe Niveau der Ausbildung dort belegen: mehrere Gedichte, ein metrischer Kalender, eine Sammlung von Rätseln sowie Annalen, die sich in der späteren historiographischen Sammlung des Simeon von Durham erhalten haben.96 Mit der Berufung Aethelberhts zum Erzbischof übernahm wahrscheinlich der um 730 in Northumbrien geborene Alkuin die Leitung der Kathedralschule von York. Dort war er für fast 15 Jahre tätig und unterhielt durch seine Verwandtschaft mit dem Friesenmissionar Willibrord auch Kontakte zum Kontinent. Zu seinen Schülern gehörte unter anderem der Friese Liudger, der zum ersten Bischof von Münster geweiht werden sollte. Als Aethelberht 780 auf sein Amt verzichtet und Alkuin auf seiner dritten Reise nach Rom für den neuen Erzbischof um Unterstützung geworben hatte, traf er 781 in Parma mit Karl d. Gr. 94 Alkuin, Carmen, S. 395. 95 Blair, From Bede, S. 242–43. 96 Ebd., S. 241.

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zusammen,97 der ihn – zusammen mit anderen Gelehrten wie Paulinus von Aquileja, Petrus von Pisa und Theodulf von Orléans – an seinen Hof berief. So begann für Alkuin 782 eine neue Phase seiner Karriere, in der er die Leitung der Hofschule Karls des Großen übernahm. Diese Gründung Karls zog zahlreiche Schüler und Gelehrte aus dem Frankenreich und England an, so etwa Karls späteren Biographen Einhard, der aus Fulda an den Hof kam, und Hrabanus Maurus, war aber nicht nur offen für den Klerus, sondern sollte auch einer besseren Bildung des Adels dienen. So nahmen wohl auch Karl und seine Familie dort am Unterricht teil. Alkuin, der, obwohl er selbst nicht Mönch war, mit der Leitung der Klöster Ferrières und Troyes, Flavigny, St. Josse-sur-Mer und St. Martin in Tours betraut wurde, beriet den König vor allem in kirchlichen Fragen. Zugleich wurde er zum wichtigsten Reformer des fränkischen Bildungswesens.98 So belebte er durch sein Wirken wie durch seine Schriften das Studium der artes liberales neu, das im Frankenreich weitgehend in Vergessenheit geraten war. Neben einer Schrift De orthographia verfasste er eigene Schriften zur Grammatik, Rhetorik und Dialektik und setzte sich mit mathematischen, astronomischen und musikalischen Fragen auseinander; weiter schrieb er Bibelkommentare und theologische Traktate.99 Als führender Vertreter der »karolingischen Renaissance« bemühte er sich um ein reineres Latein und orientierte sich dabei an den Schriften der Kirchenväter, vor allem an Gregor d.Gr. In diesen Kontext gehört auch Alkuins Beteiligung an der Neubearbeitung des lateinischen Bibeltextes, der Vulgata. Er war zudem an der Reform der Buchschrift beteiligt, die zur Ausbildung der karolingischen Minuskel führte. Als er 804 in Tours verstarb, hinterließ er auch dort ein gut ausgestattetes geistiges Zentrum. Alkuin war es auch, der entscheidenden Einfluss auf die Admonitio generalis, die »Allgemeine Ermahnung«, Karls d.Gr. nahm,100 eine umfangreiche kirchenrechtliche Sammlung, die Karl wohl nach 789 als Kapitular erließ und die an die Bischöfe, den Klerus, die weltlichen Großen und das Volk gerichtet ist. Sie enthält im 72. Kapitel ein Reformprogramm für den Bereich der Bildung. Sowohl die Klöster wie auch die Kathedralen sollten danach Schulen einrichten, in denen zumindest die Psalmen, Noten, Singen, Komputistik und Grammatik unterrichtet werden. Die dort ausgebildeten Kleriker sollten vor allem in der Lage sein, die fehlerhaften Texte zu korrigieren (genannt sind Evangeliare, Psalterien und Messbücher), die offenbar im Lande kursierten und in der Darstellung des Textes selbst zu häretischen Auffassungen führen konnten.

97 98 99 100

Kerner, Alkuin, S. 288. Ebd., S. 290. Dales, Intellectual Life, S. 81. Kerner, Alkuin, S. 290.

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Abb. 2: Textauszug der Admonitio generalis Karls von 789 [spätes 9. Jahrhundert], Bibliothèque Nationale, Paris, Ms. Lat. 10758, p. 50. [https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8423828c/f62.item]

Insbesondere die Ausbildung der Kleriker fand deshalb als Mittel, nicht als Zweck der Reform101 in der Gesetzgebung Karls mehrfach Berücksichtigung. So legte ein Kapitular die »Mindestanforderungen« an Priester fest: Sie mussten das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser kennen und erklären können, Fürbitten, Gebete, Messgesänge und Predigten beherrschen, das Evangelium, kirchenrechtliche Texte und die Kalenderrechnung verstehen sowie Urkunden und Briefe schreiben können.102 Neben der Schriftlichkeit waren also Lateinkenntnisse und die Grundlagen der artes liberales wichtige Voraussetzungen. Die Umsetzung dieser Forderungen, die zunächst nicht mehr als einen ideellen Katalog darstellten, wurde jedoch den Bischöfen und damit den Kathedralschulen übertragen. Die Reform der fränkischen Kirche hatte schon unter Karls Vater

101 Brown, Carolingian Renaissance, S. 20. 102 Quae a presbyteris discenda sunt, MGH, Leges, Capitularia, 1, 117, S. 235; Übersetzung in: Geschichte in Quellen, 2, 87, S. 85.

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Pippin und dessen Bruder Karlmann begonnen, angestoßen von den Missionsbestrebungen des Bonifatius. In diesem Zusammenhang hatte bereits Bischof Chrodegang von Metz in den 40er Jahren des 8. Jahrhunderts die Ausbildung der Kleriker an seiner Kathedrale reformiert, unter anderem durch die Betonung des gemeinschaftlichen Lebens; ausgehend von seinem Beispiel wurde die Ausbildung der Kleriker an einer Domschule erst zum Regelfall erhoben, und der Metzer Bischofssitz erlangte einen »geradezu idealtypische[n] Rang«.103 Die Bemühungen um die Kirchenreform und damit um die Erneuerung der Klerikerausbildung erreichten aber mit den Kapitularien Karls einen neuen Höhepunkt und wurden insbesondere nach der Kaiserkrönung im Jahre 800 weiter intensiviert. Dies setzte sich auch unter Karls Sohn und Nachfolger, Ludwig dem Frommen, fort. So heißt es in seiner Admonitio oder Ordinatio von 823/25 nochmals ausdrücklich, dass die Bischöfe Schulen unterhalten müssten, um »die Söhne und Diener der Kirche zu lehren und zu unterweisen«.104 Die Reformen führten zwar nicht dazu, dass das geschriebene Wort die mündlichen Elemente aus dem Rechtsleben, aus Verfassung und Alltag verdrängte, doch nahm die Bedeutung der Schriftlichkeit zu. So konnten nicht mehr nur die Priester zunehmend lesen und schreiben, vielmehr wurden darüber hinaus auch Schreiber ausgebildet, die nicht nur die Vervielfältigung von Manuskripten übernahmen, sondern auch in vielen Bereichen der Verwaltung tätig werden konnten. Dabei bildeten sich im Haushalt der Herrscher sowie der Bischöfe und anderen geistlichen Amtsträger Schreibstuben aus, und die Herrscher konnten davon ausgehen, dass auf Seiten der Empfänger zumindest eine grundlegende Schriftlichkeit vorhanden war, um die ausgesandten Schreiben zur Kenntnis nehmen zu können.105 Die zweite Generation der Träger der »karolingischen Renaissance« rekrutierte sich wesentlich aus dem Umfeld der Hofschule Karls. Im Falle Einhards werden antike Einflüsse unter anderem daran fassbar, dass er seine Vita Caroli Magni vor allem an dem Beispiel der Kaiserbiographien Suetons orientierte, bis hin zur Übernahme ganzer Sätze und Reden. Von noch größerer Bedeutung war Hrabanus Maurus, der 822 zum Abt Fuldas und – nach seinem Verzicht dort – 847 zum Erzbischof von Mainz berufen wurde. In seiner Fuldaer Zeit verfasste er eine vor allem auf Isidor von Sevilla aufbauende enzyklopädische Darstellung, De rerum natura (»Über das Wesen der Dinge«), sowie eine Schrift »über die Ausbildung der Kleriker« (De institutione clericorum), die einen detaillierten Einblick in das kirchliche Leben gibt, von der Beschreibung von Kleidung, 103 Ehlers, Dom- und Klosterschulen, S. 31. 104 Admonitio, ad omnes regni ordinationes, in MGH, Leges, Capitularia, 1, 150,6, S. 304; vgl. Brown, Carolingian Renaissance, S. 26. 105 Ebd., S. 27–28.

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Messen, Festen und Liturgie bis hin zur Klerikerausbildung im engeren Sinne, die durch einen Überblick über die artes liberales ergänzt wird.106 Obwohl dieser Text im Wesentlichen auf ältere Vorlagen zurückgeht und wenig Neues bietet, trug seine Übersichtlichkeit dazu bei, dass er nach dem Werk Cassiodors zu einem der am meisten gelesenen »Handbücher« der Klerikerausbildung des früheren Mittelalters wurde.107 Hrabanus’ Erhebung zum Erzbischof von Mainz durch den ostfränkischen König, Ludwig den Deutschen, führte jedoch zu einer Fülle von Konflikten, die ihm bis zu seinem Tod (856) wohl wenig Zeit für ein Engagement für die Mainzer Kathedralschule ließen. Etwa zur selben Zeit, als Hrabanus nach Mainz ging, gewann in den anderen Teilen des Frankenreichs noch einmal der irische Einfluss an Bedeutung, und zwar in Verbindung mit Bischöfen bzw. Kathedralschulen. So erschien im Winter 848 ein Ire namens Sedulius am Hof des Bischofs von Lüttich und beeindruckte diesen so sehr, dass er ihn umgehend zum scholasticus seiner Kathedralschule ernannte. An dieser Schule wirkte Sedulius Scottus für etwa zehn Jahre, bis sich seine Spur nach einem Wikingerangriff auf Lüttich 858 wieder verliert. Seine Kenntnis der klassischen Autoren beschränkte sich wesentlich auf den römischen Bereich, die Zuschreibung von Übersetzungen von Bibeltexten aus dem Griechischen lässt nicht belegen.108 Wohl für den Schulbetrieb verfasste er zwei grammatische Werke, Kommentare zu den älteren Grammatiken des Eutyches und Priscian. Sedulius ist auch der Autor eines der ersten mittelalterlichen Fürstenspiegel, des Liber de rectoribus Christianis (»Buch über die christlichen Regenten«). In dieser den Söhnen Kaiser Lothars gewidmeten Schrift ist vieles der moralischen Anweisungen aus älteren Vorlagen übernommen, doch zeichnet sie sich durch einen besonderen Stil des Lateinischen aus, der – wie bei Boethius – Prosa und Dichtung miteinander verbindet.109 Der sicherlich bedeutendste Ire in den fränkischen Teilreichen dieser Zeit war jedoch Johannes Scotus Eriugena, der mit dem selbstgewählten »doppelten« Herkunftsnamen (Scotus bedeutet Ire, Eriugena weist auf seine Herkunft aus Erin, aus Irland selbst) seine Abstammung von der »grünen Insel« besonders hervorheben wollte. Um 845 hielt er sich wohl in Laon, am Ort einer der Residenzen König Karls des Kahlen im Westfrankenreich, auf, als ihn der Bischof von Laon, Hinkmar, aufforderte, eine Schrift gegen die Lehren Gottschalks des Sachsen zu verfassen, eines Schülers des Hrabanus Maurus. Gottschalk, in Fulda unter Hrabanus aufgewachsen, hatte sich dem Klosterleben entzogen und in Schriften und Predigten auf augustinischer Basis die Lehre einer doppelten 106 107 108 109

Zapf, Hrabanus, Sp. 78. Dales, Intellectual Life, S. 93. Herren, Sedulius. Dales, Intellectual Life, S. 99–100.

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Prädestination vertreten, zum Guten wie zum Bösen, bis er sich 848 einer Mainzer Synode stellte und durch seinen inzwischen zum Gegner gewordenen einstigen Lehrer als Häretiker zu Klosterhaft verurteilt wurde.110 Johannes Scotus Eriugena brachte sich allerdings mit seiner noch vor diesen Ereignissen verfassten Schrift »Über die göttliche Vorherbestimmung« (De divina praedestinatione) selbst in Schwierigkeiten, da er nicht nur die Prädestination der bösen Menschen zum Übel leugnete, sondern die Existenz des Bösen überhaupt, auf der Grundlage neuplatonischer Vorstellungen.111 Obwohl seine Schrift auf zwei Synoden verurteilt wurde, hielt Karl der Kahle an ihm fest und gab ihm den Auftrag zur Übersetzung der Schriften des Ps. Dionysius Areopagita, eines syrischen Autors des 5. Jahrhunderts, der mit dem von Paulus auf dem Areopag in Athen bekehrten Dyonisius identifiziert wurde. Johannes zeigte dabei eine meisterhafte Beherrschung der griechischen Sprache, wie sie lange im Westen nicht wieder erreicht werden sollte. Mit den ebenfalls neuplatonisch beeinflussten Texten über die himmlischen und kirchlichen Hierarchien aber gab er den lateinischen Autoren des Westens eine – zudem durch ihre scheinbar frühchristliche Herkunft besonders legitimierte – Argumentationshilfe an die Hand, die in der kirchlichen und politischen Theorie der Zeit von großer Bedeutung werden sollte und begierig aufgenommen wurde, auch wenn man den Übersetzer wegen seiner häretischen Lehre oftmals nicht mehr erwähnte. Das Hauptwerk des Johannes, Periphyseon oder De divisione naturae (»Über die Einteilung der Natur«), war der Versuch eines eigenständigen philosophischtheologischen Systems auf neuplatonischer Grundlage, der davon ausgeht, dass der Mensch ohne die Hilfe kirchlicher Institutionen zum Wissen über Gott gelangen und so Philosophie und Theologie miteinander verbinden kann.112 Johannes verstand unter Natur alles Existierende und unterschied zwischen vier Formen von »Wesen«: ungeschaffenen, die schaffen; geschaffenen, die ihrerseits schaffen; geschaffenen, die nicht schaffen; und solchen, die weder schaffen noch geschaffen sind. Gott fällt sowohl in die erste wie in die letzte Kategorie, als ungeschaffener Schöpfer und als derjenige, zu dem alles Geschaffene zurückkehrt. Seine Auffassungen zeigen damit einen deutlichen Trend zu pantheistischen Vorstellungen, da die Erschaffung von endlichen Dingen als Selbst-Begrenzung Gottes erscheint, der ungeachtet dessen in dem präsent bleibt, was er geschaffen hat. Damit ist es nach Johannes Scotus Eriugena auch möglich, dass sich die Menschen trotz der Erbsünde wieder dem gottgegebenen Wissen über die Natur annähern, indem sie sich Gott zuwenden.113 110 111 112 113

O’Meara, Eriugena, S. 35. Ebd., S. 40–45. McNeill, Churches, S. 186. Ebd., S. 186–87; vgl. Kap. 10.

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Johannes entwickelte seine originellen Vorstellungen, die er auch in anderen Schriften wie in seinem Kommentar zum Johannes-Evangelium verarbeitet hat, aus Lehren, die wahrscheinlich schon im Umkreis Alkuins entstanden waren und unter anderem auf der aristotelischen Kategorienschrift, den Werken Augustins und der wichtigsten Schrift des Boethius aufbauten; er ergänzte diese Grundlage durch neuplatonische Vorstellungen, durch eine Ontologie der Partizipation.114 Zudem stand Johannes nicht allein, sondern fand – wie aus den Marginalien in den Handschriften und anderen Zeugnissen deutlich wird – zahlreiche Leser, die sein Werk gründlich rezipierten und auch kommentierten. Dazu zählte unter anderem Martinus Scotus, der in Johannes’ Wirkungszeit an der Kathedrale von Laon Schulmeister war und dessen wenige Werke eine gewisse Kenntnis des Periphyseon belegen;115 zu den engeren Anhängern des Johannes gehörten aber zum einen Wulfad, der als Erzieher eines der Söhne Karls des Kahlen 866 zum Erzbischof von Bourges aufstieg und dem das Periphyseon gewidmet ist, und zum anderen Heiricus von Auxerre, der nach der Rückkehr in seine Heimatstadt wesentlich dazu beitrug, dass die Philosophie des Johannes Scotus auch an den Kathedralschulen des 10. Jahrhunderts noch rezipiert wurde.116

II.

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Zur Zeit des Heiricus hatte die Schule von Auxerre schon eine gewisse Stabilität erreicht, denn während anderenorts der Erfolg der Schule wesentlich von einem einzelnen Schulmeister abhing, gehört Heiricus in eine Reihe von Schulleitern, die mit Murethach, Haimo, Heiricus und Remigius bereits das gesamte 9. Jahrhundert umspannte.117 Ähnlich war die Situation in Laon mit dem rund 25 Jahre dort tätigen Martinus Scotus († 875). Ihm folgte zunächst der Dekan des Domkapitels, Bernhard († 903), nach, dann Adelhelm von Laon († 930), der als Verfasser eines Schultextes hervortrat, die Bibliothek der Kathedrale durch seine eigenen Bücher bedeutend ergänzte und schließlich zum Bischof der Stadt erhoben wurde. Auch wenn damit in Laon die Tradition für mehrere Generationen abbrach, gewannen diese und andere Kathedralschulen im Laufe des 10. und 11. Jahrhunderts weiter an Bedeutung. Die Geschichte der Schule von Laon am Ende des 9. und in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts lässt sich nicht durch historiographische Quellen oder Briefe erschließen, sondern ausschließlich durch die dort geschriebenen Ma114 115 116 117

Marenbon, Circle, S. 141. Ebd., S. 109. Ebd., S. 112–15. Contreni, Carolingian Renaissance, S. 725.

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nuskripte. Etwa 125 Handschriften aus dieser Zeit sind noch aus Laon nachweisbar. Sie geben einen Eindruck von der Ausbildung unter Martinus Scotus und seinen Nachfolgern, unter anderem durch die Existenz wichtiger Hilfsmittel wie verschiedener Glossare und von Bedas De orthographia.118 Zu den überlieferten Beständen gehören weiter Schriften von Isidor von Sevilla, Vergil, Donatus und Priscian sowie ein typischer Schultext wie die im 3. Jahrhundert entstandenen Disticha Catonis, die in vier Büchern Spruchweisheiten, Lebensregeln und Fabeln enthalten, die für den Grammatikunterricht der Anfänger zugrunde gelegt werden konnten und zugleich Ansatzpunkte für die moralische Unterweisung boten. Aus den von Martinus Scotus stammenden Kommentaren wird zugleich erkennbar, dass in Laon auch eine weitere »klassische« Schulschrift vorhanden gewesen sein muss: die Lehrdichtung »Über die Hochzeit der Philologie und Merkurs« (De nuptiis philologiae et Mercurii) des spätantiken heidnischen Autors Martianus Capella († um 430).119 Sie enthält erstmals den später allgemein gültigen »Kanon« der artes liberales, Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, die bei Martianus als Brautjungfern der Philologie auftreten und ihre Lehrinhalte vortragen. In der Ausbildung in Laon herrschten allerdings bis in die Zeit Adelhelms insbesondere Grammatik, Komputistik und Bibelexegese vor. Wahrscheinlich konnte man Ende des 11. Jahrhunderts an diese Tradition anknüpfen, als hier mit Anselm von Laon († 1117) wieder ein bedeutender Lehrer wirkte. Anselm, der in seinen späteren Jahren mit Petrus Abaelardus in Konflikt geriet, war zunächst selbst durch einen Pariser Lehrer beeinflusst, Manegold [von Lautenbach], der aus den Auseinandersetzungen des Investiturstreits die Notwendigkeit einer neuen intensiven Beschäftigung mit der Bibel abgeleitet hatte. Anselm und seine Schüler begannen deshalb mit der anspruchsvollen Aufgabe einer Glosse, also eines begleitenden Kommentars, zum gesamten Text der Bibel;120 aus diesen Bemühungen ging schließlich der mittelalterliche »StandardKommentar« zur Bibel, die Glossa ordinaria, hervor, ebenso wie sich damit die ersten Ansätze für die spätere theologische Summenliteratur entwickelten. Voraussetzung dafür war ein enzyklopäisches Vorgehen, das bei Abelard, wie noch zu zeigen sein wird, mit seiner dialektischen Methode auf schärfste Kritik stoßen sollte. Seit dem Anfang des 10. Jahrhunderts bestand zwischen den Kathedralkapiteln von Laon und Reims eine Gebetsverbrüderung, die auch Beziehungen zwischen beiden Schulen begründete. Während jedoch über die Kathedralschule in 118 O’Meara, Eriugena, S. 16–17. 119 Überblick bei Grebe, Martianus. 120 Smith, Glossa, S. 19–20.

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Laon nach 930 wenig bekannt ist, lässt sich die Entwicklung in Reims während des gesamten 10. Jahrhunderts verfolgen, unter anderem durch die vom Archivar des Kapitels, Flodoard († 966) verfasste Reimser Kirchengeschichte. Danach wurden bereits durch den 900 verstorbenen Bischof Fulco zwei Schulen begründet, eine »externe« und eine für die Mitglieder des Kapitels, und Hucbald von St. Amand und Remigius von Auxerre als Lehrer berufen.121 Auch Flodoard, nach Franz Brunhölzl »einer der bedeutendsten gelehrten Schriftsteller des 10. Jahrhunderts«,122 wurde in Reims ausgebildet und blieb dort bis zu seinem Lebensende tätig. Sein literarisches Interesse galt vor allem der Geschichtsschreibung und der hagiographischen Dichtung; so hat er neben der Reimser Kirchengeschichte Annalen für die Jahre 919 bis 966 sowie einen Zyklus De triumphis Christi hinterlassen, der den Triumph Christi »in der Welt und über die Welt« durch die Heiligen schildert und aus Anlass der vielfältigen Probleme begonnen wurde, denen sich Flodoards »Dienstherr«, Erzbischof Artold, in den 940er Jahren gegenübersah. Grundlegende Wandlungen in der Reimser Kathedralschule wurden dann nach dem Tod Flodoards 969 durch die Erhebung des in Metz ausgebildeten Adalbero zum Erzbischof eingeleitet. Er entstammte dem Umkreis der lothringischen Reformbewegung und führte in Reims eine strenge gemeinschaftliche Lebensführung ein. Die Leitung der Kathedralschule wurde mit dem Archidiakon Gerannus einem als Dialektiker bekannt gewordenen Gelehrten übertragen. Gerannus lernte auf einer im Auftrag des westfränkischen Königs Lothar 972 unternommenen Italienreise in Rom Gerbert von Aurillac kennen,123 der dort in päpstlichem und kaiserlichem Auftrag an den Schulen tätig war. Als ihm Otto d. Gr. die Erlaubnis dazu gab, ging Gerbert nach Reims, um dort für zehn Jahre die Leitung der Kathedralschule zu übernehmen und als Berater des Erzbischofs tätig zu sein. Anders als bei seinen Vorgängern lag der Schwerpunkt der Lehre Gerberts in Reims auf dem Quadrivium, also den eher »mathematisch-naturwissenschaftlichen« Disziplinen. Auch einer seiner Schüler, Richer von Reims, der zunächst zum Studium nach Chartres gegangen war, hat unter Gerbert vor allem Dialektik, Medizin und Mathematik gelernt. Im Werk Richers, der auf Anregung Gerberts mit einer zeitgeschichtlichen Chronik begann (den Historiae oder Historiarum libri quattuor), wird einiges über den Lehrplan Gerberts berichtet.124 So begann er die Ausbildung seiner Schüler mit der zentralen Einführungsschrift in die Logik, mit der Isagoge des Porphyrius in lateinischer Übersetzung, um dann mit Hilfe der 121 122 123 124

Ehlers, Dom- und Kathedralschulen, S. 38. Brunhölzl, Geschichte, 2, S. 128. DeMayo, Students, S. 100. Ebd., S. 101.

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Schriften des Boethius zu den grundlegenden Werken des Aristoteles, insbesondere zur Kategorienschrift und den Topica, überzuleiten. Im nächsten Schritt ließ Gerbert antike Dichter wie Vergil, Terenz, Juvenal, Horaz und Lukan lesen und kommentieren, um schließlich rhetorische und dialektische Übungen durchzuführen.125 Nachdem damit das Trivium abgeschlossen war, konzentrierte Gerbert die Ausbildung auf das Quadrivium. Dabei setzte er erstmals wieder Instrumente ein, die seit längerem vergessen waren und die er wahrscheinlich bei seinen Studien in Spanien, im katalanischen Kloster Ripoll, kennengelernt hatte:126 Globus und Astrolab, um damit Zeitmessung und Sternbestimmung zu verbessern. Neben der Astronomie galt seine besondere Aufmerksamkeit dem Unterricht in der Mathematik, in dem er ebenso wie beim Gebrauch von Globus und Astrolab arabische Einflüsse verarbeitete, sowie dem der Musik, für den er ein Musikinstrument mit einer Saite, ein monocordum, herstellte.127 Gerade der Musikunterricht wird von Richer als Besonderheit hervorgehoben, sei er doch vorher im Westfrankenreich vernachlässigt worden. Gerbert war jedoch wie andere Gelehrte seiner Zeit auch bei der Beschaffung von Büchern aktiv. So bestand ein umfangreicher »Leihverkehr« mit Italien und dem römisch-deutschen Reich. Auch seine wohl recht zahlreichen Schüler kamen oftmals von weit her. Einige von ihnen wirkten ihrerseits an Kathedralschulen, so Johann, Schulmeister und seit 997 Bischof von Auxerre, Adalbert, Lehrer in Metz, Richard von St. Vanne, vor 1004 Nachfolger Gerberts in Reims, sowie wahrscheinlich auch Fulbert von Chartres († 1028), einer der bedeutendsten Gelehrten des 11. Jahrhunderts.128 Gerbert selbst stieg nach einer Reihe von Auseinandersetzungen und Problemen, die ihn von Reims wegführten, zunächst 991 zum Erzbischof der Stadt auf, musste sich jedoch 996 hilfesuchend zum Kaiser begeben, zu Otto III., der ebenfalls einer seiner Schüler gewesen war. Nach der Erhebung zum Erzbischof von Ravenna wurde er schließlich mit kaiserlicher Unterstützung 999 (in bewusster Anknüpfung an die Zeit Konstantins d. Gr. als Silvester II.) zum Papst gewählt und starb schließlich 1003 nach »seinem« Kaiser. Obwohl Reims unter Gerbert auch auf andere Kathedralschulen ausstrahlte, verlor es im 11. Jahrhundert gegenüber anderen Zentren wie Chartres, Orléans, Tours und Paris an Bedeutung, bis ins 12. Jahrhundert, als zwischen 1121 und 1131 einer der Schüler Anselms von Laon, Alberich, hier tätig wurde. Waren die politischen Verhältnisse im Westfrankenreich, wie das Schicksal Flodoards deutlich macht, durch vielfache Unruhe gekennzeichnet, vollzog sich 125 126 127 128

Richer, Historiae, III 46–48, S. 193–95. DeMayo, Students, S. 99–100. Richer, Historiae, III 49, S. 195. Ebd., S. 102.

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die Entwicklung der Kathedralschulen im Osten des Frankenreichs unter dem Vorzeichen der starken Einbindung der Reichskirche in die königliche und kaiserliche Politik. Der Einsatz der Bischöfe im Dienst des Königtums führte an den Höfen zu größerer Aufmerksamkeit für die Ausbildung der Kleriker. Neben der Treue zum Herrscher und zumindest edelfreier Abkunft bildeten administrative Fähigkeiten und insbesondere ein hoher Bildungsstand gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere.129 Wie wichtig dabei allerdings auch eine hinreichende Einbindung in das jeweilige Umfeld war, zeigt die wechselvolle Karriere des gelehrten Bischofs von Verona und Lüttich, Rather. Um 887 nahe Lüttich geboren und im Kloster Lobbes (im Hennegau ausgebildet), ging er nach Italien und wurde 931 zum Bischof von Verona erhoben, aber im Streit mit König Hugo bereits 934 wieder abgesetzt und inhaftiert.130 Nach seiner Freilassung, einem Aufenthalt in der Provence und in Lobbes berief ihn Hugo 946 erneut zum Bischof von Verona, doch wieder konnte sich Rather nur für zwei Jahre halten, diesmal gegen Adel und Klerus. Deshalb wandte er sich mit der Bitte um Hilfe an Otto d.Gr., der ihn schließlich an seine Hofschule holte, wo er unter anderem für die Ausbildung des jüngeren Bruders des Königs, Brun, verantwortlich war, der – für die geistliche Laufbahn bestimmt – später zum Erzbischof von Köln aufsteigen sollte. Zum Dank für diese Tätigkeit wurde Rather dann 953 zum Bischof von Lüttich berufen, konnte sich aber auch dort nicht durchsetzen und resignierte 955. Danach wirkte er unter anderem als Abt des kleinen Klosters Alna (Aulne) bei Lüttich, bevor ihn Otto I. 962 ein drittes Mal zum Bischof von Verona ernannte. Mit seinen Vorhaben zur Kirchenreform stieß er jedoch erneut auf den Widerstand des Klerus und musste sich 968 in seine Heimat zurückziehen, wo er nach weiteren vergeblichen Reformversuchen 974 im Kloster Alna verstarb.131 Seine literarische Tätigkeit war vor allem durch seine vielfältigen kämpferischen Auseinandersetzungen geprägt und zeichnete sich durch einen eigenwilligen, eleganten, aber auch teilweise schwer verständlichen Stil aus. Sowohl mit der antiken Literatur wie mit den Kirchenvätern und dem Kirchenrecht vertraut, widmete Rather sein Hauptwerk, die zwischen 934 und 936 in der Gefangenschaft entstandenen Praeloquia, einer christlichen Morallehre, die sich gezielt an die verschiedenen Berufe und Stände richtete. Soldaten, Handwerkern, Ärzten, Kaufleuten, Anwälten, Richtern und Zeugen, Amtsträgern, Adligen, Abhängigen und Räten, Freien und Leibeigenen, Lehrern und Schülern, Männern und Frauen, Eheleuten, Eltern, Unverheirateten, Jungfrauen und Witwen sowie weltlichen und geistlichen Herrschern werden in diesem Werk 129 Ehlers, Dom- und Kathedralschulen, S. 43. 130 Lumaghi, Rather, S. 26–28. 131 Seibert, Rather, S. 177.

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jeweils ihre Pflichten vor Augen geführt.132 Rathers weitere erhaltene Schriften sind vor allem polemischer Natur; verloren ist dagegen eine Schulschrift, die er in der Provence verfasste, eine lateinische Grammatik mit dem Titel Sparadorsum (»Rückenschoner«). Obwohl Rather aufgrund seiner Probleme kaum Einfluss auf die Kathedralschulen in Lüttich und in Verona genommen haben dürfte, stand er doch mit vielen geistig-geistlichen Zentren in Verbindung, so unter anderem mit Flodoard in Reims. Die Schärfe seiner Polemik, die Intensität seiner Forderungen und die Härte des Anspruchs, die er nicht nur an andere, sondern auch an sich selbst richtete,133 ließen sein Werk jedoch schon bald in Vergessenheit geraten. Wichtige Zentren der Klerikerausbildung im römisch-deutschen Reich lagen zunächst im Westen, im lotharingischen Raum. So unterhielt Erzbischof Robert von Trier († 956) ebenfalls Beziehungen zu Flodoard von Reims und zu Rather von Verona. Robert berief unter anderem den irischen Mönch Israel nach Trier, der auch an der Ausbildung Bruns, des Bruders Ottos I., beteiligt war. Brun führte später, als er mit der Kölner Domschule schon eine wichtige »Pflanzstätte« des Reichsepiskopats begründet hatte,134 seine eigenen Kenntnisse ausdrücklich auf Israel zurück. Die schon unter Robert bestehende Trierer Kathedralschule wurde unter seinem Nachfolger Heinrich dem auf der Reichenau ausgebildeten Schwaben Wolfgang übertragen, der danach zum Bischof von Regensburg aufstieg und als Lehrer des späteren Königs und Kaisers Heinrichs II. wirkte. Auch die Kölner Kathedralschule konnte nach dem Tode Bruns († 965) ihre Stellung halten; so wurde mit Ragimbold ein Lehrer aus Chartres berufen, und der 1021 verstorbene Erzbischof Heribert, der selbst an der Wormser Domschule ausgebildet worden war, sorgte für weitere Förderung. Das Lehrprogramm dieser rheinischen Kathedralschulen scheint den konventionellen Bahnen gefolgt zu sein. So hat der Speyrer Subdiakon Walther um 982/83 eine Lebensbeschreibung des heiligen Christophorus verfasst, der auch die wichtigste Lektüre der Speyrer Schule entnommen werden kann. Sie umfasste unter anderem die Werke von Vergil, Horaz, Iuvenal, Terenz, Lukan, Martianus Capella und Boethius; dazu kam eine im 1. Jahrhundert nach Christus entstandene lateinische Bearbeitung der homerischen Ilias, die seit dem 9. Jahrhundert zum Schulbuch wurde.135 Kathedralschulen spielten aber auch weiter östlich, in den sächsischen Kerngebieten der Ottonen, eine wichtige Rolle. So gab es in Magdeburg schon vor 968, vor der Erhebung zum Erzbistum, eine Schule im Moritzkloster, das der Sitz des Kapitels war; diese Einrichtung wurde nach 968 mit der Unterstützung Ottos d.Gr. zur Kathedralschule erweitert. Ihr erster be132 133 134 135

Lumaghi, Rather, S. 41. Brunhölzl, Geschichte, 2, S. 366. Vgl. aber Vones, Erzbischof. Ehlers, Dom- und Klosterschulen, S. 42–43.

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kannter Leiter war ein Magister Ohtrich, der unter anderem den späteren Bischof Wigbert von Merseburg und Adalbert von Prag ausbildete. Die Qualität der Magdeburger Ausbildung unter Ohtrich ist sowohl durch das Zeugnis Thietmars von Merseburg über seinen Vorgänger Wigbert wie auch durch das Urteil Bruns von Querfurt belegt, der Ohtrich als »zweiten Cicero« bezeichnete. Auch Adam von Bremen stellte in seiner »Bischofsgeschichte der Hamburger Kirche« rückblickend fest, der ausgezeichnet gebildete Thiedhelm, der die Bremer Kathedralschule einstmals geleitet hatte, sei ein Schüler des »großen Ohtrich von Magdeburg« gewesen.136 Der Lateinunterricht unter Ohtrich dürfte jedoch nach den erhaltenen Berichten für seine Schüler kaum sehr erfreulich gewesen sein, spielte dabei doch, nach der Feststellung von Joachim Ehlers, »heftiges Prügeln der Schüler als probates domschuldidaktisches Mittel eine große Rolle. […] Immerhin brachte [Ohtrich] seine bisweilen ungebärdigen sächsisch-thüringischen Adelssprosse auf diese Weise dahin, jedenfalls in Gegenwart des Lehrers nur lateinisch zu reden«.137 Nachdem Ohtrich 978 Magdeburg verlassen hatte, folgte ihm Eckehard »Rufus« (»der Rote«) als Schulmeister nach; unter ihm wurden sowohl Brun von Querfurt wie auch die Bischöfe Suidger von Münster und Thietmar von Merseburg ausgebildet. Nach dem Bericht Thietmars lag der Schwerpunkt des Unterrichts unter Eckehard auf der Grammatik und damit zugleich beim Studium der antiken Literatur. Zweifellos kann man an den Kathedralschulen der jungen sächsischen Bistümer nicht dasselbe Niveau voraussetzen wie in Trier oder gar in Reims, doch schuf die Klerikerausbildung auch hier wichtige Grundlagen. Zu den bedeutenderen Schulen zählte auch die Kathedralschule in Hildesheim, die sich wohl auf der Grundlage einer Schenkung von Büchern entwickelte, die Bischof Otwin († 984) vom Italienzug Ottos II. mitbrachte. Bald darauf lässt sich ein gewisser Thangmar als »Leiter der Knabenschule« belegen, der unter anderem die späteren Bischöfe Bernward von Hildesheim und Meinwerk von Paderborn ausbildete. Bernward studierte nicht nur die artes liberales, sondern auch die »mechanischen Künste«; als Bischof trug er seinerseits zum Ausbau der Dombibliothek bei. Meinwerk dagegen kam erst nach einer Grundausbildung in Halberstadt nach Hildesheim, um schließlich von Heinrich II. zum Bischof von Paderborn erhoben zu werden. Nach dem Lob seiner Lebensbeschreibung, der Vita Meinwerci episcopi Patherbrunnensis, soll Meinwerk dann seine eigene Kathedralschule so gefördert haben, dass sie in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts unglaubliche Höhen erreichte:

136 Adam, Gesta, II,12, S. 242–43; vgl. Ehlers, ebd., S. 44. 137 Ebd., S. 45.

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»Es gab dort Musiker und Dialektiker, es erglänzten Rhetoriker und hervorragende Grammatiker; […] die Meister der [freien] Künste übten das Trivium, [und] all ihr Bemühen galt dem Quadrivium; dort erleuchteten Mathematiker und Astronomen, und es gab Physiker und Geometer; es herrschten der große Horaz und Vergil, […] Sallust und […] Statius […]«.138

Die Lektüre der großen antiken Dichter, heißt es weiter im Text, sei nur durch eigene Dichtung und Gesänge gestört worden. Dieses Bild ist sicherlich überzeichnet, doch gilt dasselbe auch für die Feststellung, der spätere Bischof von Osnabrück, Benno [II.], habe um die Mitte des 11. Jahrhunderts bei der Übernahme der Kathedralschule in Hildesheim nur »irgendwie bäuerisch erzogen[e]« Kleriker vorgefunden, die kaum des Lesens und Schreibens kundig gewesen seien.139 Die Klerikerausbildung im römisch-deutschen Reich des 11. Jahrhunderts erreichte jedoch zweifellos nicht denselben Rang wie die aufstrebenden Kathedralschulen des Westens.

III.

Die Kathedralschulen und die »Renaissance des 12. Jahrhunderts«

Während die Klosterkultur im 9. und 10. Jahrhundert durch die Überfälle der Wikinger und Normannen schwere Verluste erlitten hatte und folglich an Bedeutung verlor, hatten die Kathedralschulen seit dieser Zeit immer mehr an Einfluss gewonnen. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildet zweifellos das 12. Jahrhundert, die Epoche, die die Entstehung der Universitäten vorbereitete. Die wichtigste Rolle spielten dabei die Schulen im Norden Frankreichs von Tours an der Loire im Westen bis zu Laon in der Picardie im Osten. Je mehr sich die Lehrpläne durch das Studium der antiken Autoren, Bibelexegese und weitere Fächer wie Medizin verdichteten, umso mehr wuchs auch die Mobilität von Schülern und Lehrern zwischen diesen geistig-geistlichen Zentren. Es herrschte ein Klima des Aufbruchs, das von niemandem nachdrücklicher als von Petrus Abaelardus beschrieben worden ist. Abelard, 1079 geboren, studierte zunächst bei Roscelin von Compiègne, Wilhelm von Champeaux und Anselm von Laon, um sich bald darauf mit seinen Lehrern zu überwerfen und dann in Melun und Corbeil selbst mit der Lehre zu beginnen.140 Wie gleich noch einmal zu zeigen sein wird, gründete er danach eine eigene Schule außerhalb der Stadt auf dem Mont-St. Geneviève und erfuhr großen Zulauf. Eine Wende in seinem Leben brachte sein Verhältnis mit seiner 138 Vita Meinwerci, CLX, S. 84–85. 139 Vita Bennonis II., 5, S. 380–81. 140 Vgl. Pedersen, Universities, S. 134–35.

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Schülerin Heloïse, die nach der Geburt eines Sohnes ins Kloster Argenteuil eintrat, während sich Abelard als Mönch des Kloster St. Denis in eine Einsiedelei zurückzog, in der er die sogenannte Theologia summi boni, die »Theologie des höchsten Guten«, verfasste, die 1121 auf Betreiben seiner Gegner durch eine Synode in Soissons als häretisch verurteilt wurde. Abelard, der inzwischen zum Abt eines bretonischen Klosters gewählt worden war, dort aber mit seinen Reformbemühungen scheiterte, gründete 1128/29 für die aus ihrem Kloster zusammen mit den anderen Nonnen vertriebene Heloïse ein Nonnenkloster an der Stelle eines von ihm zuvor errichteten Bethauses, des Paraklet, für das er eine Ordensregel verfasste und brieflichen Rat gab. 1135/36 nach Paris zurückgekehrt, begann er mit der Abfassung seiner theologischen Schriften, geriet jedoch bald in Konflikt mit der größten kirchlichen Autorität seiner Zeit, dem Zisterzienser-Abt Bernhard von Clairvaux († 1153), der ihn 1140 zu Sens wegen seiner Lehren verurteilen ließ. Durch Vermittlung des Abtes von Cluny, Petrus Venerabilis, kam es jedoch schließlich zum Ausgleich. Abelard blieb im Umfeld von Cluny, wo er im April 1142 starb. Grundlegend sind Abelards Schriften zum wissenschaftlichen Arbeiten, die die scholastische Methode entscheidend geprägt haben, so insbesondere die Schrift Sic et non, die widersprüchliche Zitate aus Autoritäten gegenüberstellt, um einen wissenschaftlichen Weg zu einer wahren Lösung aufzuzeigen. Seine Lebensgeschichte und damit auch seine frühe Karriere an den Schulen hat er zudem selbst in der »Geschichte der Missgeschicke«, der Historia calamitatum, geschildert, die insbesondere seit dem 13. Jahrhundert weite Rezeption fand. Den Anfang der von ihm geführten Auseinandersetzungen beschreibt er folgendermaßen: »Ich kam schließlich in Paris, wo [die Philosophie …] zu blühen pflegte, zu Wilhelm von Champeaux, meinem Lehrer, der zu dieser Zeit sowohl tatsächlich als auch seinem Ruf nach einer der herausragendsten Magister darin war. Als ich für einige Zeit bei ihm blieb, war ich zuerst willkommen, doch nach einer Weile fand er mich lästig, weil ich einige seiner Aussagen in Frage zu stellen suchte, sehr oft gegen ihn argumentierte und manchmal als der Gewinner der Diskussion erschien. Diejenigen, die unter meinen Mitstudenten als herausragend betrachtet wurden, wurden durch mein Verhalten umso mehr verärgert, umso mehr sie mich an Alter und in der Zeit des Studiums übertrafen. Damit begannen die Probleme, die mich bis heute verfolgen; je weiter sich mein Ruhm verbreitete, umso mehr entbrannte der Neid gegen mich […].«141

Abelard sah sich daraufhin offenbar als soweit ausgebildet an, dass er selbst eine Schule gründen konnte, und entschied sich für eine der königlichen Residenzen, Melun. Wilhelms Versuch, dies zu verhindern, scheiterte, und nach einiger Zeit zog Abelard sogar näher an Paris heran, nach Corbeil, um eher zu Debatten 141 Petrus Abaelardus, Historia, S. 4–5 (eigene Übersetzung).

Die Kathedralschulen und die »Renaissance des 12. Jahrhunderts«

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herausfordern zu können. Nach einer längeren Krankheit kehrte er nach Paris zurück, nur um Wilhelm von Champeaux, der inzwischen in die von ihm reformierte Gemeinschaft von Regularkanonikern in S. Victor eingetreten war, erneut zur Diskussion zu stellen. Er zog damit mehr und mehr Scholaren an und überzeugte selbst den Leiter der Kathedralschule zu Notre-Dame, der ihm schließlich den Unterricht in Dialektik übertrug. Dies konnte jedoch Wilhelm nicht hinnehmen und setzte ihn ab. Abelard kehrte daraufhin nach Melun zurück, gründete aber kurz danach die erwähnte Schule auf dem Mont-S. Geneviève, als Wilhelm seine Schule in einen Ort außerhalb von Paris verlegte. Als Abelard nach der Klärung familiärer Angelegenheiten wieder in die Studienzentren Nordfrankreichs zurückkehrte, setzte er jedoch die Kontroverse mit Wilhelm nicht fort, sondern wandte sich nach Laon. Über seine Begegnung mit Anselm schreibt er: »Und so ging ich zu diesem alten Mann, dessen Name mehr auf langer Praxis als auf Fähigkeit oder Wissen beruhte. Wenn ihn jemand unsicher über irgendeine Frage bei ihm anklopfte, verließ er ihn mit noch größerer Unsicherheit. Er war ein Wunder in den Augen seiner Zuhörer, aber ein Niemand in der Sicht der Fragenden. Er hatte eine bewunderungswürdige Beherrschung der Worte, die aber von verachtungswerter Bedeutung und frei von Vernunft war. Wenn er ein Feuer anzündete, füllte er sein Haus mit Rauch, ohne es zu beleuchten. […]«.142

Kein Wunder also, dass Abelard bald auch mit dem Haupt der Schule von Laon in Konflikt geriet. Er blieb immer häufiger von den Vorlesungen fern, und als er sich nach einer Anregung von Studenten selbst mit der Bibelauslegung versuchte, brachte das die älteren Schüler Anselms gegen ihn auf. Am Ende verbot ihm Anselm die eigenständige Lehrtätigkeit, so dass Abelard nach Paris zurückkehrte. Dazu schreibt er: »Für einige Jahre hatte ich in Ruhe die Schule inne, die mir vor langer Zeit zugewiesenen und übergeben, aber aus der ich zunächst vertrieben worden war. Sobald ich dort war, setzte ich alles daran, den Kommentar zu Hesekiel zu beenden, den ich in Laon begonnen hatte. Meine Vorlesungen erwiesen sich bei den Hörern als so beliebt, dass sie meinten, ich hätte in den Vorlesungen über Theologie keine geringere Beliebtheit erreicht, als sie sie in der Philosophie gesehen hatten. Durch Vorlesungen in beiden Fächern nahm die Zahl meiner Studenten erheblich zu, und den finanziellen Gewinn und den Ruhm, den ich so erwarb, kennst du aus den Berichten gut.«143

Die von Abelard beschriebene Situation war somit durch die Konkurrenz zwischen den Lehrern und Lehrprogrammen sowie zwischen verschiedenen Schulformen gekennzeichnet, denn neben den Kathedralschulen spielten nicht nun nur die klösterlichen, sondern auch »freie Schulen« eine Rolle, wie sie 142 Ebd., S. 10–11. 143 Ebd., S. 16–17.

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Abelard in Melun und Corbeil, aber auch auf dem Mont-S. Geneviève unterhalten hatte. Diese Vielfalt spiegelt den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und intellektuellen Aufbruch der europäischen Gesellschaft seit dem 11. Jahrhundert, der auch den Hintergrund für die Entstehung der Universitäten bildet. Abelards Lebensgeschichte ließen sich zahlreiche andere Beispiele an die Seite stellen; ähnliches gilt für die geistig-geistlichen Zentren Nordfrankreichs, unter denen Paris zwar eine zentrale Rolle spielte, aber bei weitem nicht der einzige Kristallisationspunkt der Entwicklung war. Zu nennen sind vielmehr weitere Kathedralschulen, unter anderem die Schule in Chartres, selbst wenn deren Bedeutung in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts nicht überschätzt werden darf. Die Bedeutung Chartres’ geht bereits auf den schon angesprochenen mutmaßlichen Schüler Gerberts, Fulbert, zurück, doch waren an der Kathedralschule auch nach Fulberts Tod 1028 immer wieder bedeutende Schulmeister tätig. Einer der berühmtesten war Bernhard von Chartres, der wahrscheinlich zwischen 1114 und 1119 an der Kathedralschule lehrte und zwischen 1119 und 1126 das Amt des Kanzlers ausübte. Seine Schriften, darunter ein Kommentar zur Isagoge des Porphyrius, sind verloren, doch hat der Engländer Johann von Salisbury, selbst einer der großen Gelehrten seiner Zeit, wohl aufgrund von Berichten der Schüler einen Eindruck von der intensiven Lehrtätigkeit Bernhards gegeben. In seinem Metalogicon beschreibt er Bernhards Methoden: »Bei der Lektüre der Texte der Autoren hob er hervor, was einfach war und der Regel folgte. Anderseits würde er grammatische Figuren erklären, rhetorische Ausschmückungen, sophistische Feinheiten, ebenso die Beziehung des diskutierten Texts zu anderen Disziplinen. Dabei würde er aber nicht versuchen, alles zur selben Zeit zu lehren. Im Gegenteil würde er seinen Unterricht schrittweise erteilen, angepasst an die Fähigkeit seiner Studenten. Und weil die Schönheit einer Formulierung entweder in der eleganten und passenden Verbindung von Adjektiven und Verben mit Substantiven oder im Gebrauch von Metaphern liegt, durch die die Sprache mit hinreichendem Grund eine ungewöhnliche Bedeutung erhält, nutzte er jede Gelegenheit, dies seinen Studenten ins Bewusstsein einzuprägen. Und weil durch Übung das Gedächtnis gestärkt und die geistigen Fähigkeiten geschärft werden, nötigte er seine Studenten, alles zu wiederholen, was sie gehört hatten. In einigen Fällen setzte er auf Warnungen, in anderen auf Schläge oder sonstige Strafen. Jeder Student war täglich aufgefordert, etwas von der Lektion des vergangenen Tages vorzutragen, einige weniger, andere mehr. […] Die abendliche Übung, die als Deklination bezeichnet wurde, war so übermäßig voll mit grammatischer Unterrichtung, dass jeder – außer er wäre nicht einer der Klügsten –, der ein Jahr daran teilnahm, die Regeln des Sprechens und Schreibens beherrschen würde, ebenso wie die allgemein üblichen Worte und Sätze. Aber weil es sich nicht ziemt, dass irgendeine Schule oder ein Tag ohne Religion existiert, wurden solche Dinge in den

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Unterricht eingeschlossen, die Glauben und Charakter aufbauen und die Anwesenden zum Guten inspirieren würden. […]«144

Johann von Salisbury überliefert auch die doppeldeutige Aussage Bernhards über das Verhältnis der Zeitgenossen zur Antike: »Bernhard von Chartres pflegte uns mit Zwergen zu vergleichen, die auf den Schultern von Riesen sitzen. Er hob hervor, dass wir mehr und weiter als unsere Vorgänger sehen, aber nicht, weil wir bessere Augen haben oder größer gewachsen sind, sondern weil wir hochgehoben und von ihren gigantischen Staturen hoch droben getragen werden.«145

Aus diesem Bild spricht einmal Bernhards Verehrung für die Antike, zum anderen aber auch das Selbstbewusstsein des Zeitgenossen, durch die Kenntnis der antiken Autoren über diese hinausgelangen zu können. Diese Haltung spiegelt sich auch in den Buchbeständen der Kathedrale. Sie umfassen zum einen die auch sonst benutzte Handbuchliteratur aus lateinischen Klassikern, spätantiken und karolingischen Textbüchern sowie grundlegender Literatur zu Medizin und Recht; dazu kamen zum anderen Werke Gerberts, eine Reihe von selteneren Schriften zur Medizin und Mathematik sowie die neu übersetzten Texte aus dem griechischen und arabischen Bereich. Zu den anderen Gelehrten des 12. Jahrhunderts, die mit Chartres verbunden waren, zählt Gilbertus Porretanus (de la Porrée, † 1154), der seine Studien unter Bernhard begann, dann aber zu Anselm nach Laon ging. Dort lehrte er zum ersten Mal und verfasste dabei seine Glossen zum Psalter, kehrte aber 1124/26 nach Chartres zurück. Um 1140 unterrichtete er dann auf dem Mont-S. Geneviève, bevor er zum Bischof von Poitiers erhoben wurde. Mit Gilberts Namen wurde lange – allerdings wohl zu Unrecht – eine der wichtigsten Schulschriften des 12. Jahrhunderts verbunden, der Liber sex principiorum (»Buch der sechs Prinzipien«), der sich eigenständig mit den letzten sechs Kategorien der »Kategorienschrift« des Aristoteles auseinandersetzt, mit Bewirken und Erleiden, Ort, Zeit und Lage sowie mit den habitus, den erwerbbaren Qualitäten. Ein weiterer mit Chartres verbundener Gelehrter war Theoderich (oder Thierry) von Chartres, der Leiter der Kathedralschule in der Zeit, als Bernhard das Amt des Kanzlers in Chartres innehatte. 1126 ging er nach Paris und erlangte bald den Ruf, einer der führenden Lehrer seiner Zeit zu sein. Für Lehrzwecke entstand auch sein Heptateuchon, das wichtige ältere und neuere Texte zum Studium der (sieben) artes liberales miteinander vereinte. 1142 kehrte Thierry für rund zehn Jahre als Kanzler nach Chartres zurück, um schließlich dem Zisterzienserorden beizutreten. Die von ihm erhaltenen Schriften stellen im Wesentlichen die Notizen für seine Vorlesungen dar. So sind von ihm Glossen zu 144 John of Salisbury, Metalogicon, I,24; vgl. Metalogicon, transl. McGarry, S. 67–68. 145 John of Salisbury, Metalogicon, III,4; vgl. Metalogicon, transl. McGarry, S. 167.

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Schriften von Cicero, Martianus Capella und Boethius erhalten. Sein bedeutendstes Werk war jedoch wohl das Hexameron oder De sex dierum operibus (»Über die Werke der sechs Tage«), das sich auf rationaler Grundlage mit der Schöpfungsgeschichte auseinandersetzt.146 Schließlich ist mit Wilhelm von Conches ein weiterer Schüler Bernhards von Chartres zu nennen, der wahrscheinlich schon um 1115 mit seiner Lehrtätigkeit begann147 und an verschiedenen Schulen, wohl vor allem in Paris, tätig war. Sein Hauptwerk ist das um 1148 vollendete Dragmaticon, in dem er – auf der Grundlage intensiver Kenntnis der Literatur – versuchte, eine systematische Zusammenschau von Welt und Natur zu entwickeln, die von einer begrenzten Zahl wissenschaftlicher Prinzipien ausging.148 Schon die Karrieren Gilberts, Thierrys und Wilhelms machen deutlich, dass das sich das Gelehrtenleben des 12. Jahrhunderts vor allem durch seine Mobilität auszeichnete. Zwei weitere Beispiele seien dazu noch kurz vorgestellt: Johann von Salisbury und Wilhelm von Tyrus, der Chronist der frühen Kreuzzüge. Johann, um 1115/20 in Salisbury im Süden Englands geboren, hielt sich seit 1136 für längere Perioden auf dem Kontinent auf, so zunächst 12 Jahre (bis 1147/48) für seine Studien. In dieser Zeit hörte er bei zwölf verschiedenen Lehrern, so auch bei Abelard, Gilbertus Porretanus und Wilhelm von Conches, wahrscheinlich in und um Paris. Nach einer wechselvollen Karriere, in der auch Zeit für seine Hauptwerke blieb, neben dem erwähnten Metalogicon auch für seinen Fürstenspiegel, den Policraticus, wurde er schließlich 1176 zum Bischof von Chartres berufen, wo er 1180 starb. Wilhelm von Tyrus, um 1130 in Jerusalem geboren, war von 1165 bis zu seinem Tod 1186 in verschiedenen kirchlichen Ämtern im Heiligen Land tätig, unter anderem als Erzieher des künftigen Königs Balduin IV. von Jerusalem. Zuvor hatte er fast 20 Jahre im lateinischen Westen studiert, nach eigener Auskunft unter 16 Lehrern, zehn davon in den artes liberales und in der Theologie, vier im Recht und zwei in klassischer Literatur und Mathematik. Während er über Recht in Bologna hörte, fand er seine Lehrer in den artes liberales und in der Theologie wahrscheinlich in Paris.149 Zu ihnen gehörte auch der Theologe Petrus Lombardus († 1164), der mit seiner Sammlung von Auszügen aus der Bibel, den Kirchenvätern und weiterer theologischer Literatur, den Libri Sententiarum, das spätere Lehrbuch für angehende Theologiestudenten verfasste. Sowohl Wilhelms wie auch Johanns Bildungsgang macht deutlich, dass die Zeit vorbei war, in der sich Studenten an 146 147 148 149

Dales, Intellectual Life, S. 163–65. Nach Southern, Schools, S. 130, Anm. 49. Dales, Intellectual Life, S. 166. Edbury, Rowe, William, S. 15.

Die Kathedralschulen und die »Renaissance des 12. Jahrhunderts«

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einen Lehrmeister und an einen Ort banden; vielmehr nutzten die künftigen Gelehrten in der Regel die Breite des Lehrangebots. In diesem Klima des geistigen Aufbruchs war es nur eine Frage der Zeit, dass sich die Magister und die Scholaren eigenständig zu organisieren versuchten; diese Entwicklung sollte jedoch zur Entstehung der ersten Universitäten führen. Die »Renaissance des 12. Jahrhunderts« war aber nicht nur durch die Ausweitung der Bildungsangebote und durch eine geistige und religiöse Aufbruchsstimmung gekennzeichnet. Vielmehr führte die intellektuelle Neugier der zeitgenössischen Gelehrten auch zur Wieder- und Neuentdeckung zahlreicher antiker und arabischer Schriften, die zuvor nicht oder nicht mehr bekannt waren. Die wichtigste Rolle spielten dabei die »Kontaktzonen« zwischen der lateinischen Christenheit und dem Islam bzw. dem byzantischen Kulturkreis, das von der Arabern 711 zum größeren Teil eroberte Spanien sowie Süditalien, in dem sich lange byzantinische und islamische Einflüsse vermischten; und wiederum waren Bistumssitze an der Entwicklung beteiligt. Nach der Rezeption arabischen Wissens durch Gerbert von Aurillac im 10. Jahrhundert waren es zunächst Ereignisse im süditalienischen Salerno, dem schon früh für seine Ärzte bekannten Sitz eines Erzbistums, die einen ersten »Schub« arabischen Wissen in den Westen brachten. Im späten 11. Jahrhundert bildete sich hier eine der berühmtesten Schulen des lateinischen Westens, an der eigenständige, aber durch das islamisch-byzantinische Umfeld geprägte medizinische Traktate entstanden, wie die Quaestiones Salernitanae, die »salernitanischen Probleme«, eine umfangreiche Sammlung von Fragen und Anworten zur Medizin. Den Ausgangspunkt dafür bildete die Karriere des salernitanischen Arztes Alfanus († 1085), der einen Mönch aus Montecassino, Desiderius, heilte, der später zum Abt Montecassinos aufsteigen und als Viktor III. zum Papst gewählt werden sollte. Alfanus trat unter dem Einfluss von Desiderius ins Kloster Montecassino ein, wurde bald jedoch Abt des Benediktinerklosters in Salerno und schließlich sogar Erzbischof. An ihn wandte sich um 1077 ein islamischer Flüchtling aus Nordafrika, Constantinus Africanus, der Alfanus durch seine Bildung beeindruckte. Der Erzbischof bekehrte ihn zum Christentum, lehrte ihn Latein und brachte ihn dazu, als Mönch ins Kloster Montecassino einzutreten.150 Dort begann Constantinus bis zu seinem Tode 1087 mit einer regen Übersetzungstätigkeit, die wichtige arabische Texte, die zum Teil ihrerseits aus dem Griechischen übertragen waren, dem lateinischen Westen zugänglich machte. Sein Hauptwerk, die Pantegni, waren systematischer, rationaler und vollständiger als alle anderen damals bekannten medizinischen Handbücher. Seine Schriften bildeten die Grundlage für die Entstehung der Schule von Salerno, wobei um die Mitte des 12. Jahrhunderts eine theoretische, jetzt auch auf phi150 Lindberg, Transmission, S. 61–62.

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Von der Kathedralschule zur Universität

losophische Ansätze zurückgreifende Neuorientierung der Medizinerausbildung stattfand, die sich auf die entstehenden Universitäten auswirken sollte. Mit dem Einfluss der Schule von Salerno, die allerdings selbst nie in den Rang einer Universität erhoben wurde, wurden auch die Texte des Constantinus aufgegriffen und erfuhren weite Verbreitung. Sie wurden schließlich zur Grundlage des Medizinstudiums an den Universitäten.151 Neben anderen Übersetzern und Übersetzerschulen ist für das 12. Jahrhundert dann vor allem die »Schule von Toledo« zu nennen. Ihr wichtigster Repräsentant war Gerhard von Cremona, der 1187 im Alter von 73 Jahren in Toledo verstarb. Seine Schüler haben ihm eine kurze Lobschrift gewidmet, die auch die 71 Werke nennt, die Gerhard aus dem Arabischen übersetzt hat. Den Schwerpunkt bilden dabei vor allem die Schriften des Aristoteles; so hat er die »Zweite Analytik«, »Über den Himmel«, »Über Entstehen und Vergehen«, die »Metheora« und die »Physik« ins Lateinische übertragen, wohl aber auch den teils Aristoteles, teils anderen Autoren zugeschriebenen, neuplatonisch geprägten Liber de causis (»Buch von den Ursachen«).152 Noch vor Gerhard stand möglicherweise ein anderer Übersetzer in Beziehung zu Toledo, Johann von Sevilla, der in den 1130er Jahren eine seiner Übersetzungen dem Erzbischof von Toledo, Raimund, widmete. Am Hof des Erzbischofs lebte schließlich um 1215 auch Michael Scotus, der dort eine Schrift des arabischen Astronomen Al-Bitruji (latinisiert Alpetragius), De sphaera (»Über die Kugel«) übersetzte. Seit etwa 1220 lebte er in Italien, und zwar seit 1227 als Hofastrologe Kaiser Friedrichs II. Wahrscheinlich nutzte er in dieser Zeit seine in Toledo erworbenen Kenntnisse dafür, zahlreiche Aristoteles-Kommentare eines spanischen Arabers, des 1198 verstorbenen Averroes (Ibn Rushd) ins Lateinische zu übersetzen, die bald im lateinischen Westen zentrale Bedeutung erlangten.153 Überhaupt trug die rege Übersetzertätigkeit dazu bei, dass sich der Kanon der grundlegenden Schriften erheblich erweiterte. An den Universitäten wie an den weiterhin einflussreichen Kathedralschulen sollte das neu zugängliche antike und arabische Bildungsgut begierig aufgenommen werden.

151 Dales, Intellectual Life, S. 151–52. 152 Dod, Aristoteles Latinus, S. 47, 58. 153 Ebd., S. 58–59.

4.

Die Ausbildung der Universitäten und ihrer Institutionen

Die »Renaissance des 12. Jahrhunderts« führte, wie beschrieben, zu einem Aufblühen des Schulwesens. Nicht überall aber mündete diese Entwicklung in die Entstehung von Universitäten. Das vielleicht bedeutendste Beispiel bietet die Medizinschule von Salerno, die in der Forschung nicht ganz glücklich als »ProtoUniversität« gekennzeichnet wurde.154 Salerno besaß bereits im 10. Jahrhundert auch nördlich der Alpen den Ruf eines medizinischen Zentrums, und schon seit der Mitte des 11. Jahrhunderts lassen sich in den Schriften der Schule Anzeichen für eine erste »medizinische Renaissance« ausmachen, unter anderem die Kenntnis der Lehren Galens. Dazu kam der – ebenfalls schon behandelte – Glücksfall der Übersetzertätigkeit des Constantinus Africanus. Schon im früheren 12. Jahrhundert konnte deshalb der anglonormannische Chronist Ordericus Vitalis meinen, die an medizinischem Wissen reiche salernitanische Schule bestände schon seit den ältesten Zeiten.155 Die Stadt wurde so auch zum Anziehungspunkt für auf der Suche nach geistigen Zentren umherziehende Gelehrte wie Adelard von Bath, der um 1116 berichtete, er habe in Salerno einen »griechischen Philosophen« getroffen, der über »Medizin und das Wesen der Dinge« doziert habe.156 Anders aber als in Paris oder Bologna bildeten sich in Salerno keine der akademischen Institutionen aus, die eine (werdende) Universität auszeichneten. Für die frühe Zeit ist nur bekannt, dass es einen »Leiter« der Schule gab, der als praepositus oder prior in den Quellen erscheint. Trotz ihres unbestrittenen Rangs fand die Medizinschule erst 1231 die Unterstützung durch eine der geistlichen oder weltlichen Autoritäten, als Friedrich II. als König von Sizilien die Zulassung als Arzt oder Lehrer der Medizin in seinem Königreich von der Prüfung durch eine Kommission abhängig machte, der unter anderem die Meister von Salerno angehören sollten. Friedrich erließ zugleich so etwas wie eine »Studienordnung« 154 So Cobban, Medieval Universities, S. 37 (als Überschrift). 155 Orderici Vitalis Historia, 2, Lib. 3,11; vgl. Rashdall, Universities, 1, S. 76. 156 Adelardus, De eodem, S. 33; vgl. Rashdall, ebd., S. 79–80, Anm. 3.

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Die Ausbildung der Universitäten und ihrer Institutionen

für die Mediziner, die eine dreijährige Grundausbildung in den artes liberales, ein fünfjähriges Studium der Medizin und ein einjähriges Praktikum vorschrieb. Dies konnte jedoch nicht verhindern, dass die salernitanische Schule immer mehr an Bedeutung verlor; auch ein 1253 unternommener Versuch, Salerno durch die Verlegung der in Neapel gelehrten anderen Fächer zu einer »vollen« Universität zu machen, scheiterte. Diese Entwicklung hing wohl unter anderem damit zusammen, dass Salerno spätestens zu dieser Zeit für die Vermittlung byzantinisch-arabischen Wissens keine Rolle mehr spielte. Ein wichtiger Faktor war aber sicher auch, dass ihm noch immer jene Rechte und Strukturen fehlten, die die (werdenden) Universitäten erlangen und ausbilden konnten. Will man den Unterschied zwischen Universitäten und anderen bedeutenden Schulen definieren, muss man vor allem auf rechtliche Kriterien zurückgreifen. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der mittelalterliche Begriff der universitas eine völlig andere Bedeutung hat als der moderne Begriff der »Universität«. Universitas steht allgemein für jede Form genossenschaftlicher Strukturen, von der Zunft über die Dorf- und Stadtgemeinde bis hin zu jenen genossenschaftlichen Zusammenschlüssen der Magister und Scholaren, die den Kern der mittelalterlichen Universität ausmachten. Universitas meint also keineswegs ausschließlich die Universität im modernen Sinne, und erst recht nicht steht der Begriff für die Gebäude einer solchen Gemeinschaft. Sucht man nach einem mittelalterlichen Begriff, der der modernen Bedeutung von »Universität« nahekommt, stößt man auf den des »Generalstudiums« (studium generale).157 Ein studium generale zeichnete zunächst dadurch aus, dass es von einer universalen Institution, meist vom Papst, in einigen Fällen vom Kaiser, privilegiert oder sogar gegründet worden war. Weiter hatten seine Mitglieder über die Einflussbereiche einzelner Fürsten und Landesherren, Bischöfe und Städte hinausgehende Rechte, die letztlich in der gesamten lateinischen Christenheit Gültigkeit besaßen.158 Diese Rechte betrafen zum einen den persönlichen Schutz für Magister und Scholaren, der ihnen gleichermaßen durch die höchsten weltlichen und geistlichen Autoritäten zugesichert worden war, dazu von der Seite des Papstes die Erlaubnis, ihren Studien- oder Lehraufenthalt durch Einkünfte aus geistlichen Ämtern zu finanzieren, die sie nicht selbst vor Ort wahrnehmen konnten. Zum anderen schlossen diese Rechte weitgehende korporative Selbstverwaltung ein, darunter die eigenständige Regelung der Ausbildung und des Gemeinschaftslebens der Korporation. Ein wesentliches Element der Rechte der »Generalstudien« war schließlich, dass ihre Abschlüsse universelle Geltung besaßen, dass also die Absolventen das Recht besaßen, innerhalb der lateinischen Christenheit überall zu lehren, das ius ubique docendi – während die Ausbildung 157 Pedersen, Universities, S. 133. 158 Verger, Grundlagen, S. 49.

Die Entstehung der ältesten Universitäten

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an den Kathedralschulen immer nur zur Lehre innerhalb des Bistums berechtigte. Die an den Universitäten verliehenen Titel, von dem eines Bakkalars oder eines Magisters bis zu dem des Doktors, der den höheren Fakultäten vorbehalten blieb, signalisierten eine besondere Kompetenz ihres Trägers, unabhängig von der Universität, von der sie verliehen worden waren.159 Den Absolventen der Universitäten standen damit die höchsten Ämter offen, wobei vielfach für die Erhebung zum Bischof ein Abschluss in den artes oder auch im Kirchenrecht ausreichte. Päpstliche und / oder kaiserliche Privilegien, persönliche und korporative Rechte der Magister und Scholaren sowie das ius ubique docendi bilden somit wesentliche Elemente der mittelalterlichen Universität, während sich für Salerno bestenfalls die allgemein geltenden persönlichen Rechte nachweisen lassen. Dieser »Kanon« von rechtlichen Regelungen bildete sich allerdings auch für die anderen Schulen erst nach und nach heraus, vor allem im Konflikt mit anderen Gemeinschaften und Autoritäten, insbesondere mit den Städten und den Bischöfen; ebenso setzte sich der Begriff des studium generale erst allmählich durch.160 Als erste, in diesem Sinne »gewachsene« Universitäten können Bologna, Paris und Oxford gelten. In einer zweiten, durch Konflikte gekennzeichneten Phase der Entwicklung entstanden neue Universitäten durch den Auszug der Magister und Scholaren aus ihrer bisherigen Universitätsstadt, so etwa in Cambridge nach 1209 durch Auseinandersetzungen in Oxford, in Padua 1222 durch Magister und Scholaren aus Bologna und in Toulouse 1229 nach Konflikten in Paris. Erst in einer dritten, allerdings chronologisch nicht eindeutig abgrenzbaren Phase kam es dann zur planmäßigen Gründung von Universitäten, so zuerst unter anderem, wenn auch noch nicht dauerhaft, 1218 durch König Alfons IX. von León in Salamanca,161 dann 1224 durch Friedrich II. in Neapel. Nördlich der Alpen gewann dabei das Pariser Modell im Laufe der Entwicklung mehr und mehr Vorbildcharakter, insbesondere für die seit dem 14. Jahrhundert gegründeten mitteleuropäischen Universitäten, auch wenn Karl IV. 1373 das Rechtsstudium in Prag nach Bologneser Vorbild organisierte.

I.

Die Entstehung der ältesten Universitäten

Die ältesten, »gewachsenen« Universitäten lassen sich nur schwer mit einem Gründer oder einem festen Gründungsdatum in Verbindung bringen, obwohl in der späteren Geschichte immer wieder Theorien dazu entwickelt wurden. So 159 Ebd. 160 Für einen Überblick u. a. Roesner, Amor Scientiae. 161 Verger, Grundlagen, S. 64.

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Die Ausbildung der Universitäten und ihrer Institutionen

glaubte man im späteren Mittelalter z. B., Oxford sei schon im 9. Jahrhundert durch den westsächsischen König Alfred oder gar durch aus Troja geflohene Gelehrte begründet worden; Paris führte sich auf Karl den Großen und damit auf römische Traditionen zurück; und in Bologna wurde zwischen 1226 und 1234 eine Gründungsurkunde erfunden, die 423 durch Kaiser Theodosius erteilt worden sei.162 Noch 1888 meinte man hinreichenden Anlass zu haben, das 800jährige Jubiläum der Universität Bologna feierlich begehen zu können. Wie schon die Ausweitung des Schulwesens war aber auch die Entstehung der Universitäten ein langwieriger Prozess, für den verschiedenste Faktoren namhaft gemacht werden müssen. Ungeachtet dieser Probleme besteht in der Forschung weitgehender Konsens darüber, dass wahrscheinlich Bologna für sich beanspruchen kann, die älteste europäische Universität zu sein, insofern sich hier zuerst gemeinschaftliche Strukturen der Lehrer und Scholaren entwickelten. Nach der Schule von Salerno, die, wie erwähnt, nicht die Rechte einer Universität erlangen konnte, bildete sich in Bologna Ende des 11. Jahrhunderts ein eigenes, überregional bedeutendes Schulwesen aus, das sich aber nicht auf die Medizin, sondern auf das Recht konzentriert. Die Bologneser Rechtsschulen waren zugleich anders als die Schulen nördlich der Alpen nicht kirchlichen, sondern privaten oder auch städtischen Ursprungs. Anders als dies aus den Gründungsmythen der Universitäten hervorgeht, waren die antiken rechtlichen Traditionen insbesondere in den italienischen Städten nicht völlig vergessen;163 vielmehr wandte man sich angesichts der im 11. Jahrhundert aufbrechenden vielfältigen Konflikte zwischen den Städten und den Stadtherren, den Bischöfen, aber auch zwischen Kaiser und Papst, nur mit neuer Intensität zu. Bologna spielte dabei als Durchgangsstation wichtiger Handelsverbindungen, Pilgerwege und Heerstraßen vom Norden nach Rom und vom Westen nach Venedig und Byzanz eine bedeutende Rolle; es lag zudem in einem Teil Norditaliens, der längere Zeit unter byzantinischem Einfluss gestanden hatte, im dem Anspruch nach, wenn auch lange nicht de facto, 751 in den Kirchenstaat integrierten, Exarchat Ravenna bzw. in der Romagna. Rechtsschulen gab es zweifellos auch in anderen norditalienischen Städten, nicht zuletzt in Ravenna, doch sollte sich schließlich Bologna zu dem einen großen Zentrum der Rechtswissenschaften entwickeln. Der erste namentlich bekannte Rechtslehrer Bolognas war der seit 1072 nachweisbare Pepo (oder Peppo), der bis 1100 in der Stadt wirkte. Eine zentrale Quelle für die frühe Geschichte der Bologneser Rechtsschulen, der um die Mitte des 13. Jahrhunderts schreibende Jurist Odofredus, wertet ihn gegenüber den späteren Rechtslehrern ab, wenn er über Pepo schreibt: »Was immer sein Wissen 162 Rüegg, Themen, S. 26. 163 Bellomo, Legal Past, S. 60.

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gewesen sein mag, er war ein Mann ohne Namen«.164 Pepo war jedoch wahrscheinlich einer der ersten, der das unter Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert kodifizierte römische Recht wieder in aktuellen Entscheidungen anwandte, und der erste Bologneser Jurist, der die römisch-deutschen Herrscher von der Nützlichkeit des Römischen Rechts zu überzeugen suchte. So setzte er sich in einem Kriminalprozess in Gegenwart Kaiser Heinrichs IV. dafür ein, den Gesetzen der Kaiser wieder Geltung zu verschaffen.165 Pepo bleibt jedoch biographisch kaum fassbar, auch wenn man vielleicht schon mit ihm den weiteren »Gründungsmythos« der Universität Bologna verbinden könnte, die Texte des Römischen Rechts seien zuerst aus Ravenna nach Bologna gekommen.166 Nach Odofredus aber war es jedoch der Magister Irnerius, der nach seinem Studium in Ravenna nach dem »Zusammenbruch« der dortigen Schule nach Bologna kam und dabei die Rechtstexte mit sich führte. Der zwischen 1112 und 1125 in Bologna belegte Irnerius (oder Wernerius, Guarnerius, »Werner«) begann nach der Feststellung des Odofredus »von sich aus mit dem Studium unserer Bücher, und mit dem Studium begann er die Rechte zu lehren. Dabei erwarb er sich großen Ruhm und war der erste leuchtende Vertreter unserer Wissenschaft, und weil er der erste war, der Glossen zu unseren Büchern anfertigte, nennen wir ihn die erste Leuchte des Rechts«.167

Auf Irnerius geht aber nicht nur die hier beschriebene Einführung der Kommentierung des Corpus iuris civilis nach dialektischen Grundsätzen zurück; vielmehr nahm er auch eine Redaktion der justinianischen Rechtssammlung vor. Irnerius, der kein Kleriker, sondern Laie war, war nicht nur am Recht interessiert; vielmehr wird er von Odofredus als magister artium bezeichnet, der unter anderem ein Formularbuch für den Kanzleigebrauch und ein theologisches Sammelwerk schrieb, das er aus den Werken Augustins und anderer Kirchenväter exzerpierte. Die von Pepo und Irnerius, vielleicht den Häuptern konkurrierender Schulen,168 begonnene Aufarbeitung des nicht leicht zu handhabenden Römischen Rechts fand – zumal im Investiturstreit – immer wieder die Aufmerksamkeit der Kaiser und ihrer Anhänger, so etwa Heinrichs V., der 1116/18 den Magister Irnerius um Rat bat. Auch Friedrich I. Barbarossa wurde 1158 bei der Gesetzgebung auf den Ronkalischen Feldern von vier Bologneser Juristen unterstützt.

164 Odofredus, Lectura in Ius Civile, 1, Digestum vetus, De iustitia et iure, Lyon 1550, fol. 7rb; zitiert nach Pennington, Odofredus, S. 12 (eigene Übers.). 165 Rüegg, Themen, S. 32. 166 Rashdall, Universities, S. 113. 167 Odofredus, Lectura in Ius Civile, 1, Digestum vetus, De iustitia et iure, Lyon 1550, fol. 7rb; zitiert nach Grundmann, Ursprung, S. 40; Pennington, Odofredus, S. 12 (eigene Übers.). 168 Grundmann, Ursprung, S. 41.

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In diesen Kontext gehört zweifellos die erste große Rechtsverleihung an die Bologneser Lehrer und Scholaren durch Friedrich Barbarossa von 1155, die als neuer Rechtssatz, als Authentica, dem Römischen Recht hinzugefügt wurde und üblicherweise nach ihrem Anfangswort als Authentica Habita zitiert wird.169 Es heißt darin: »Nach sorgfältiger Prüfung dieser Angelegenheit […] gewähren wir allen Scholaren, die zu Studienzwecken auf Wanderschaft gehen, besonders den ›Professoren‹ der göttlichkaiserlichen Gesetze, folgende Wohltat unserer Gnade: Sowohl sie selbst wie ihre Boten sollen zu den Orten, an denen man die Studien der Wissenschaften ausübt, sicher gelangen und in ihnen wohnen können. Weil nämlich die, die Gutes tun, unser Lob und unseren Schutz verdienen, halten wir es für angemessen, dass wir alle diejenigen, durch deren Wissen die Welt erleuchtet [und] das Leben der Untertanen darauf ausgerichtet wird, Gott und uns, seinem Diener zu gehorchen, mit besonderer Zuneigung vor jeglichem Unrecht zu bewahren. Wer möchte sich ihrer nicht erbarmen? Aus Liebe zur Wissenschaft heimatlos, aus reich arm geworden, leisten sie selbstlos Verzicht, setzen ihr Leben allen Gefahren aus und erdulden von oft nichtswürdigen Menschen, was schwer hinzunehmen ist, am eigenen Leibe Unrecht ohne Grund. Deshalb bestimmen wir durch dieses allgemeine und in Ewigkeit gültige Gesetz, dass sich niemand mehr als so unverfroren erweise, den Scholaren irgendein Unrecht antun zu wollen und ihnen wegen der Schulden eines Landsmannes, was manchmal, wie wir gehört haben, aus üblem Brauch geschehen ist, irgendeinen Nachteil zuzufügen.«170

Diese »Scholarenkonstitution« regelt damit vor allem ein grundlegendes, auch nach 1155 immer wieder noch aktuelles Problem, das der »kollektiven Haftung« für andere Studenten oder sonstige Personen aus derselben Herkunftsregion. So konnte z. B. ein fränkischer Student unterwegs oder auch in Bologna wegen der Schulden eines Nürnberger Kaufmanns inhaftiert werden. Ein ähnliches, auch reales Problem bot 1209 den Anlass für die erste große Kontroverse in Oxford, die mit dem Auszug der Magister und Scholaren endete: Als einer der Scholaren nach der Tötung einer Frau vor dem königlichen Amtsträger aus der Stadt geflohen war, wurden drei andere Scholaren, die mit ihm die Wohnung geteilt hatten, verhaftet und kurz darauf hingerichtet.171 Die Authentica Habita sollte somit für Schutz und größere Rechtssicherheit sorgen, zumal sie auch die Bestimmung enthält, dass sich angeklagte Scholaren nur vor dem von ihnen gewählten Gericht, entweder vor dem Meister oder vor dem Bischof ihrer Schulstadt verantworten mussten. Dieses Privileg definierte zwar die persönlichen Rechte der Scholaren, schuf aber noch keine Grundlage für die Entwicklung von Körperschaften. Diese 169 Zu ihrer Bedeutung Pedersen, Universities, S. 139–40. 170 MGH, Diplomata. Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, 10,2, 243, S. 39–40; Übers. nach Deutsche Geschichte, hrsg. Hartmann, 82, S. 356–57. 171 Classen, Geschichte, S. 536–37.

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vollzog sich vielmehr unabhängig von kaiserlicher Unterstützung durch die innere Dynamik der Bologneser Schulen, die mehr und mehr Scholaren aus allen Regionen der lateinischen Christenheit, darunter Deutsche, Franzosen und Engländer, anzogen, auch durch die Ausbildung eines weiteren, kirchlichen »Zweiges« der Rechtswissenschaft. Nachdem schon seit längerem immer wieder Anläufe zur Kodifizierung des kanonischen (Kirchen-) Rechts unternommen worden waren, unter anderem durch Ivo († 1116), seit 1090 Bischof von Chartres, war es der in Bologna wirkende Mönch Gratian, der mit seinem Decretum, der »Zusammenschau sich widersprechender kirchenrechtlicher Sätze« (der Concordantia discordantium canonum), um 1140 die Grundlagen für ein systematischeres und einheitlicheres Kirchenrecht legte. Diese private Sammlung wurde im 13. Jahrhundert zum Ausgangspunkt für »offizielle« kirchliche Kompilationen, besonders der von den Päpsten neu erlassenen Bestimmungen, der Dekretalen;172 und während zunächst das Decretum von den Dekretisten kommentiert wurde, wandten sich später die Dekretalisten der päpstlichen Gesetzgebung zu. Ungeachtet der wachsenden Zahl von Magistern und Scholaren blieben die Bologneser Rechtsschulen bis in die 1180er Jahre von einzelnen Lehrern geleitete, private Institutionen, die auf individuellen Vereinbarungen zwischen Lehrern und Schülern beruhten, die unter anderem auch die Honorare der Magister, die collectae, regelten. Doch machte der große Zuzug von Scholaren die Schulen zu einem wirtschaftlichen Faktor, so dass die Stadt bemüht war, die Magister in Bologna zu binden und eine Abwanderung in andere Städte zu verhindern. Da die Lehrer zumeist Bürger Bolognas waren, fanden sie sich 1189 zu einem Eid bereit, mit dem sie versprachen, ihre Schulen nicht aus der Stadt zu verlegen. Etwa gleichzeitig begannen die Scholaren, sich zu ihrem besseren Schutz genossenschaftlich zu organisieren. Sie schlossen sich nach Herkunftsgebieten in »Nationen« zusammen – als älteste ist die »lombardische Nation« zu 1191 belegt –, und diese Nationen bildeten ihrerseits »Universitäten«, an deren Spitze ein gewählter Rektor trat.173 Das Vorbild für diese Zusammenschlüsse waren die städtischen Gilden, die ähnlich organisiert waren, und so wurde die Bildung der Universitäten, die in Bologna zwischen 1230 und 1240 mit der Bildung zweier Universitäten abgeschlossen war, der citramontanen und der ultramontanen, wohl anfangs ohne größeren Widerstand von den städtischen Autoritäten geduldet. Problematisch musste dieser korporative Zusammenschluss allerdings den zahlenmäßig unterlegenen Magistern erscheinen, zumal sich in den Handwerken immer die Meister, nie aber die Lehrlinge zusammenschlossen.

172 Corpus Iuris, hrsg. Friedberg, 1–2. 173 Kibre, Nations, S. 11.

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Zu größeren Problemen kam es allerdings erst, als sich die Rektoren der »Universitäten« weigerten, der Stadt gegenüber denselben Treueeid zu leisten wie die Magister. 1211 und 1216–17 wurden mit Hilfe der Magister Statuten erlassen, die die Bildung der studentischen Universitäten unterbinden sollten.174 Daraufhin erfuhren die Scholaren Unterstützung durch den Papst, Honorius III., der 1219 den Lehrern das Recht entzog, nach den strengen Prüfungen die endgültige Lehrerlaubnis, die licentia, zu erteilen, und diese Aufgabe einer kirchlichen Institution, dem Archidiakon von Bologna, übertrug. Doch setzten sich die Auseinandersetzungen zwischen den Scholaren und der Stadt auch in den nächsten Jahren fort und führten mehrfach zum Auszug der Studenten, so schon zwischen 1217 und 1220, und dann, wie erwähnt, 1222 nach Padua. Als 1224 Friedrich II. massive Versuche unternahm, nicht nur durch die Gründung der eigenen Universität in Neapel, die ihm unliebsam gewordene Universität in Bologna endgültig aufzulösen,175 und sich der Papst mit einer weiteren Bulle zugunsten der Scholaren in die Auseinandersetzungen einschaltete, verzichtete die Stadt implizit, seit 1288 dann explizit auf den von den Rektoren geforderten Eid. Schließlich kam es zu einem allmählichen Ausgleich, der sich in den städtischen Statuten von 1245 niederschlug.176 Darin akzeptierte die Stadt die Autonomie der beiden Universitäten unter Einschluss der eigenständigen Gerichtsbarkeit der Rektoren; den meist stadtfremden Scholaren wurden im Hinblick auf ihre Wohnung, auf die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern, auf Darlehen und allgemeinen Rechtsschutz dieselben Rechte zugestanden wie den Bürgern Bolognas. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich auch die inneren Strukturen der Universitäten verfestigt; ein besonderer Typus von Universität war entstanden, der in der Forschung mit dem Begriff der »Scholarenuniversität« bezeichnet wird. Denn den studentischen Korporationen war es gelungen, auch die Kontrolle über den Aufbau des Studiums an sich zu ziehen. Wie dies aus den ältesten erhaltenen Statuten Bolognas hervorgeht, von 1252, waren die Professoren nurmehr die Angestellten der Korporation, für die in Jahresverträgen sowohl die Bezahlung wie auch der Zeitplan der Lehrveranstaltungen über Römisches und Kirchenrecht festgeschrieben wurde. Die Scholaren an der Universität Bologna hatten deshalb eine völlig andere Stellung als jene an anderen Universitäten, weil sie nicht in jungen Jahren, sondern schon als erwachsene Männer an die Universität kamen, die über ein eigenes Einkommen und oft auch über Ämter oder Privilegien verfügten, die ihnen eine eigenständige Stellung verschafften.177 174 175 176 177

Kibre, Privileges, S. 18. Nardi, Hochschulträger, S. 93. Kibre, Privileges, S. 23. Verger, Grundlagen, S. 60.

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Neben den Juristen, deren Strukturen bald für andere Universitäten des südlichen Europas vorbildlich wurden, organisierten sich bald auch die Vertreter der anderen Fächer. Schon vor 1220 waren auch die artes liberales im Studienangebot vertreten, allerdings mit deutlichem Schwerpunkt auf dem Trivium, auf Grammatik, Rhetorik und Dialektik, wobei für die Juristen insbesondere die rhetorischen Formen von Bedeutung waren, während die eher mathematischnaturwissenschaftlichen Disziplinen des Quadriviums eine untergeordnete Rolle spielten. Um 1260 begann schließlich in Bologna auch die Ausbildung von Medizinern. Beide Fächer organisierten sich nach dem Vorbild der Juristen in eigenen Universitäten unter einem Rektor, doch wurde ihnen ihre Eigenständigkeit von der Stadt und den Juristen erst 1316 zugestanden. In dieser Zeit kam es auch zum endgültigen Ausgleich zwischen der Stadt und den Rechtsuniversitäten, nachdem 1321 nach der Exekution eines der Scholaren der letzte größere Auszug stattgefunden hatte, nach Siena; die Stadt leistete Abbitte und errichtete der Universität eine Kapelle. Obwohl auch in Paris die Konflikte zwischen Stadt und Universität eine gewisse Rolle spielten, herrschten hier ganz andere Voraussetzungen. Das geistige Milieu, in dem die Universität entstand, war das der Kathedralschulen und der für die Entwicklung zur Universität wesentlichen freien Schulen im Umfeld von Paris.178 Dort aber standen aber die artes liberales und die Theologie im Zentrum des Unterrichts; und die Scholaren waren fast alle Kleriker. Die Lehre an den Schulen hing damit vor allem von den zuständigen geistlichen Institutionen ab, d. h. vom Bischof von Paris und dem für den Schulbetrieb verantwortlichen Kanzler von Notre Dame. Spätestens seit der Mitte des 12. Jahrhunderts war die Eröffnung von »privaten« Schulen von der Erteilung einer Lizenz durch den Kanzler abhängig. Die Theologie blieb dabei eine Domäne der Kathedralschule, an der mit dem bereits erwähnten Petrus Lombardus, mit Petrus Comestor und Petrus Cantor Theologen lehrten, deren Lehrbücher auch den Unterricht an der späteren theologischen Fakultät bestimmen sollten. In den Privatschulen standen dagegen neben den Fächern des Triviums (und der Theologie) ebenso Recht und Medizin auf den Lehrplänen. Auch in Paris zogen die Vielfalt des Angebots und der Wissensdrang immer größere Zahlen von Scholaren in die Stadt;179 zugleich kamen aber ebenfalls viele jüngere Lehrer nach Paris, die – wie schon in der Zeit Abelards – mit den Etablierten um den Zulauf der Scholaren konkurrierten. Da die im Vergleich zu Bologna wesentlich jüngeren Scholaren unter weitgehender Kontrolle ihrer Magister verblieben, waren es die Zusammenschlüsse der Lehrenden, die in Konflikte mit den Autoritäten, mit der Stadt und vor allem mit 178 Dazu Kap. 3. 179 Vgl. Grundmann, Ursprung, S. 49.

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dem Kanzler, verwickelt wurden. Ein zentraler Ausgangspunkt dafür war die Erteilung der Lizenzen, die den einen zu großzügig erfolgte, zumal sie für den Kanzler mit Einnahmen verbunden war, für die anderen aber ein Eingriff in die Rechte der werdenden Korporation darstellte. Anzeichen für die Zusammenarbeit von Magistern finden sich schon in der Zeit Johanns von Salisbury, doch war der endgültige Zusammenschluss ein allmählicher Prozess. Ein Dokument von 1198 spricht bereits vom gemeinschaftlichen Rat der Magister an den Bischof in Disziplinarangelegenheiten,180 doch wird die Korporation der Magister erst 1208/09 urkundlich fassbar, als sie von Papst Innozenz III. ausdrücklich genehmigt wurde.181 Innozenz bestätigte den Lehrenden der artes liberales, des Kirchenrechts und der Theologie dabei nicht nur, als eine rechtlich gültige Korporation, als universitas oder consortium, gemeinschaftlich handeln zu können, sondern billigte auch offenbar schon bestehende Regelungen über das Gemeinschaftsleben, die die Kleidung, die rechte Ordnung der Vorlesungen und Disputationen sowie die Begräbnisfeiern für verstorbene Magister betrafen – Aspekte, die auch in Gilden und Zünften eine zentrale Rolle spielten. Acht gewählte und vereidigte Mitglieder der Korporation hatten über die Einhaltung der Statuten zu wachen und konnten Magister ausschließen, die sich weigerten, ihren Gehorsam gegenüber den Regelungen zu beschwören; zugleich entschied die Korporation eigenständig über die Aufnahme neuer Mitglieder. Dieser päpstlichen Bestätigung ging im Jahr 1200 eine königliche Privilegierung voraus, als Philipp II. Augustus nach dem Tod einiger Studenten in einem Streit in einer Taverne Magister und Scholaren ausdrücklich unter seinen Schutz nahm und verfügte, dass diese sich nicht mehr den weltlichen Autoritäten zu stellen hatten.182 Neben dieser Bekräftigung des besonderen geistlichen Gerichtsstands, des privilegium fori, für Magister und Scholaren forderte der König die Bürger von Paris auf, über die Sicherheit der Mitglieder der Schulen zu wachen, und beauftragte den königlichen Amtsträger, den prévôt, gegen Rechtsbrecher vorzugehen. 1210 folgte eine weitere königliche Urkunde, die Anklagen gegen Scholaren im Wesentlichen auf Kapitalverbrechen und auf Fälle, in denen es zu Verletzungen gekommen war, beschränkte.183 Die königlichen Urkunden lassen zwar im Gegensatz zur päpstlichen Privilegierung nichts erkennen, was auf die Entstehung der Universität hinweist, doch trugen sie wahrscheinlich dazu bei, dass die die weitere Entwicklung prägenden Konflikte

180 181 182 183

Leff, Paris, S. 24. Kibre, Privileges, S. 90. Ebd., S. 86. Leff, Paris, S. 28.

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nicht zwischen der Stadt und der Universität, sondern zwischen der Universität und den zuständigen kirchlichen Autoritäten ausgetragen wurden. Die bereits beschriebenen Spannungen zwischen dem Kanzler und der Korporation der Magister, vor allem in der Frage der Erteilung der Lizenzen, aber auch in Bezug auf die Inhaftierung von Scholaren, eskalierten bald nach 1210, so dass 1212/13 zunächst beschlossen wurde, dass je drei Vertreter beider Seiten ihre Auffassungen vor päpstlichen Richtern vortragen sollten, um eine Einigung herbeizuführen. Die vom Papst beauftragten Vermittler entschieden in beiden zentralen Punkten gegen den Kanzler. Dieser hatte künftig allen Lehrenden eine Lizenz zu geben, die von der Mehrheit der Magister in den Fächern der Theologie, des Kirchenrechts und der Medizin als geeignet angesehen wurden. In den artes sollte er zusammen mit einer Kommission von sechs Magistern über die Vergabe der Lizenz befinden. Darüber hinaus konnte er eigenständig an nach seiner Einschätzung dafür infrage kommende Personen eine Lizenz vergeben, ohne aber von irgendjemand im Gegenzug einen Gehorsamseid oder auch Bezahlung zu verlangen. Zudem durfte er nicht ohne weiteres gegen Magister und Scholaren strafrechtlich vorgehen, sondern musste sich im Zweifel an den Beauftragten des Papstes wenden.184 Mit diesem päpstlichen Eingreifen wurde die Eigenständigkeit der Korporation der Magister gegenüber dem Kanzler gestärkt; zugleich koppelte es die weitere Entwicklung der Universität an das Papsttum, das jetzt anstelle der Pariser Bischöfe als eigentliches Haupt der Schulen erscheinen musste. Von besonderer Bedeutung wurde so auch das Auftreten des päpstlichen Legaten Robert de Courçon 1215, der den Auftrag zur Neuordnung der Pariser Verhältnisse erhalten hatte. Die von ihm erlassenen Statuten, die die älteren Regelungen aufnehmen, bilden die erste systematische Zusammenstellung der Rechte und Pflichten der Magister und Scholaren. So heißt es im Text: »Niemand soll in Paris in den artes lesen, bevor er 21 Jahre alt ist, und er soll mindestens sechs Jahre Vorlesungen gehört haben, bevor er [selbst] zu lesen beginnt; und er soll versprechen, mindestens zwei Jahre zu lesen, sofern er nicht durch einen ernstzunehmenden Grund verhindert ist, den er öffentlich oder vor einer Kommission nachzuweisen hat. Er soll nicht durch einen schlechten Ruf [oder übles Verhalten] befleckt sein, und wenn er zu Vorlesungen bereit ist, soll er gemäß der Form geprüft werden, die in dem Schreiben des Herrn Bischofs P. von Paris enthalten ist, das den von den päpstlichen Richtern gebilligten Frieden zwischen dem Kanzler und den Scholaren bestätigt […].«185

184 Ebd., S. 25. 185 Chartularium Universitatis Parisiensis, 1, 20, S. 78; vgl. University Life, hrsg. Thorndike, 15, S. 28 (eigene Übers.).

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Damit wurden zum einen die Entscheidungen von 1212/13 bestätigt; zum anderen wurde den Verhältnissen in den artes Rechnung getragen, in denen die Scholaren vielfach ihr Studium in recht jungem Alter, mit 14 oder 15 Jahren, nach dem Abschluss der elementaren Ausbildung aufnahmen, um dann nach dem Examen einige Zeit zu lehren und damit – zumindest partiell – das Studium in den »höheren Fächern«, Theologie, Kirchenrecht oder Medizin, zu finanzieren. Die Bestimmungen für die Theologen lauten dann auch deutlich anders: »Niemand soll in Paris vor seinem 35.[Lebens]jahr lesen und sofern er nicht mindestens für acht Jahre studiert und über die Bücher getreu und in Seminaren gehört und Vorlesungen in Theologie für fünf Jahre besucht hat, bevor er selbst öffentliche Vorlesungen hält.«186

Sind hier keine Texte vorgeschrieben, nennen die Statuten für die artes einen Kanon von Büchern, über die die Scholaren Vorlesungen gehört haben müssen. Ausdrücklich davon ausgeschlossen werden jedoch noch die Bücher des Aristoteles zu Metaphysik und Naturphilosophie, deren Lektüre zusammen mit den Schriften Davids von Dinant bereits 1210 durch den Bischof von Paris und andere kirchliche Autoritäten verboten worden war. Die Statuten regeln weiterhin das Gemeinschaftsleben der Magister und Scholaren, fordern Zurückhaltung bei gemeinsamen Festen und in der Kleidung sowie die Anwesenheit bei der Bestattung von Magistern und Scholaren. Von zentraler Bedeutung waren einige weitere allgemeine Bestimmungen: »Jeder Magister soll Rechtshoheit über seinen Scholaren haben. Niemand soll einen Hörsaal oder ein Haus belegen, ohne zuvor den Besitzer um Erlaubnis gefragt zu haben, sofern dies möglich war. Niemand soll die Lizenz vom Kanzler oder einem anderen gegen Geld oder ein gegebenes Versprechen oder eine andere Bedingung annehmen. Zudem können die Magister und Scholaren zwischen sich selbst und mit anderen Personen Verpflichtungen und Verordnungen [eingehen und] erlassen, die durch Glaube, Strafe oder Eid bekräftigt werden, [und zwar] in diesen Fällen: insbesondere bei der Ermordung oder Verstümmlung eines Scholaren oder seiner schweren Verletzung, wenn keine rechtliche Genugtuung erfolgt, [sowie] für Vereinbarungen über die Wohnungspreise, über Kleidung, Bestattung, Vorlesungen und Disputationen, so jedoch, dass die Universität dadurch nicht aufgelöst oder zerstört wird.«187

Diese Statuten erlaubten es der Gemeinschaft der Magister und Scholaren endgültig, als ein Kollegium zu handeln, nicht nur nach innen, mit der Regelung des Gemeinschaftslebens, sondern auch nach außen, beim Schutz ihrer Mitglieder und bei der Festlegung der Preise für Wohnraum. Zugleich machen die Bestimmungen den grundlegenden Unterschied zu den Verhältnissen in Bologna 186 Chartularium Universitatis Parisiensis, 1, 20, S. 79; vgl. University Life, hrsg. Thorndike, 15, S. 29 (eigene Übers.). 187 Ebd.

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deutlich: Paris war, wie es die Forschung genannt hat, eine »Magisteruniversität« mit weitgehender Kontrolle der Scholaren durch ihre Lehrer. Mit den Statuten von 1215 wurde im Verhältnis zwischen Magistern und Kanzler zwar den tatsächlichen Verhältnissen Rechnung getragen, doch waren die Konflikte damit noch nicht beendet. 1219 exkommunizierte der Pariser Bischof die Universität als ganze, als es offenbar zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Scholaren und Pariser Bürgern gekommen war; als Grund nannte der Bischof jedoch vor allem, dass sich die Magister dazu verbunden hatten, neue Statuten zu formulieren. Zwar griff Papst Honorius III. zugunsten der Universität ein und hob die Exkommunikation auf, doch wiederholte der Bischof seine Vorwürfe bereits zwei Jahre später, diesmal zusammen mit dem Hinweis auf den Gebrauch eines eigenen Siegels durch die Universität und auf die eigenständige Festsetzung von Mieten. Der Papst setzte daraufhin eine Kommission von Bischöfen ein, forderte aber zugleich das Zerbrechen des universitären Siegels, das dann 1225 auch tatsächlich umgesetzt wurde; erst 1246 gelang es der Universität, wieder ein eigenes Siegel führen zu können. In der Frage der Stellung der Magister gegenüber dem Kanzler aber blieb Honorius bei der bisherigen Linie; und Bischof und Kanzler wurde die Exkommunikation von Mitgliedern der Universität untersagt. Die Spannungen blieben jedoch bestehen, und schließlich kam es zum offenen Ausbruch von Konflikten, als in von Streitigkeiten in Tavernen ausgehenden Kämpfen mehrere Studenten durch den prévôt und seine Bewaffneten getötet wurden. Die Magister setzten die Vorlesungen aus, und als nach einer bestimmten Frist keine Genugtuung für die Vorgänge geleistet worden war, verließen sie die Stadt, um anderenorts, auch in Oxford, freudig aufgenommen zu werden. Die bereits 1219 gegründete, aber erst nach dem Friedensschluss im Albigenserkrieg 1229 sich faktisch entwickelnde, päpstlich geförderte, Universität Toulouse warb auch um die Pariser Magister, mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass sie hier »die naturphilosophischen Bücher [des Aristoteles] hören können, die in Paris verboten wurden, wenn sie innig in die Tiefe der Natur eindringen wollen«.188 Es bedurfte erst der gemeinsamen Anstrengungen des neuen französischen Königs, des jungen Ludwigs IX., sowie Papst Gregors IX., um die Pariser Universität wieder neu »ins Leben« zu rufen. Die Magister und Scholaren kehrten erst 1231 wieder in die Stadt zurück, als ihnen Gregor mit der (wie immer nach den Anfangsworten zitierten) Bulle Parens Scientiarum (»Mutter der Wissenschaften«) endgültig den Vorrang gegenüber dem Kanzler zugesichert hatte. Jeder Kanzler musste künftig vor dem Bischof oder seinem Kapitel und zwei Vertretern der Magister einen Eid leisten, dass er jedem die Lizenz erteilen 188 Chartularium Universitatis Parisiensis, 1, S. 131; University Life, hrsg. Thorndike, S. 34 (eigene Übers.).

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werde, den die Magister für dazu geeignet erklärten und dass er das Recht der Magister akzeptiert, die inneren Verhältnisse der Gemeinschaft zu regeln, diese nach außen zu vertreten und zur Durchsetzung ihrer Forderungen die Vorlesungen auszusetzen. Obwohl die Vergabe der Lizenzen in noch immer recht offener Form geregelt war, war damit der Kanzler nurmehr das nominelle Oberhaupt der Universität, die durch die päpstliche Förderung weitgehende Unabhängigkeit erlangt hatte.189 Die Päpste sahen in der Universität eine Institution, die sie im Kampf gegen Häresien und bei der Erläuterung und Verteidigung des Glaubens unterstützen konnte.190 So war es kein Zufall, dass sie schon früh versuchten, die Universitäten mit jenen anderen Institutionen zu verbinden, die im 13. Jahrhundert entstanden waren und von den Päpsten seit Innozenz III. in diesem Kontext eingesetzt wurden: den Bettelorden. So verlangte Honorius III. bereits 1220 von der Universität Paris, die Studien der Bettelorden in die Theologie-Ausbildung zu integrieren. Im Laufe der folgenden Jahre kam es jedoch zu Spannungen zwischen den Mitgliedern der Bettelorden und den anderen Magistern, die dem Weltklerus entstammten. Sie standen insbesondere der seelsorgerischen Tätigkeit der Bettelorden ablehnend gegenüber, die sie als einen Eingriff in ihre Aufgaben empfanden. So kam es vor allem zwischen 1250 und 1256 zu scharfen Auseinandersetzungen, dem »Bettelordensstreit«, in dem sich die Päpste auf die Seite der Bettelorden schlugen. Obwohl so nur ein Kompromiss erreicht werden konnte, konnte die Universität ihre Strukturen in diesen Jahren weiter verfestigen. Seit der Zeit um 1240 lag die Leitung der Universität in der Hand eines jeweils für befristete Zeit aus dem Kreis der Magister in den artes gewählten Rektors, der jeweils einer der vier Universitätsnationen dieser weitaus größten Gruppe unter den Magistern entstammte. Bis 1260 bildeten sich daneben die höheren Fakultäten aus, jeweils mit eigenen Statuten und mit Dekanen an ihrer Spitze. Das Pariser Modell der »Magisteruniversität« wurde auch von zahlreichen weiteren Universitäten übernommen, vor allem im Raum nördlich der Alpen. Das gilt auch für die Universität Oxford, die sich in vielerlei Hinsicht ähnlich wie Paris entwickelte, wenn auch die Anstöße dazu eigenständigen Charakter hatten. Anders als Paris war Oxford kein Bischofssitz und hatte deshalb auch keine Kathedralschule; seine Bedeutung resultierte vielmehr ähnlich wie die Bolognas aus seiner guten Verkehrslage, die es zu einer Handelsstadt und im 12. Jahrhundert auch zu einem Ort wichtiger politischer Ereignisse machten. Die Oxforder Schulen könnten neben den anderen englischen Bildungsinstitutionen vom 1167 durch Heinrich II. erlassenen Verbot profitiert haben, außerhalb 189 Leff, Paris, S. 32. 190 Verger, Grundlagen, S. 61.

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Englands zu studieren, auch wenn dies nur begrenzte Wirksamkeit hatte. Ein erstes Anzeichen für das Aufblühen der Oxforder Schulen findet sich unter anderem in den Werken Geralds von Wales (Giraldus Cambrensis, † 1223), der zu 1184 davon berichtet, er habe bei einem Aufenthalt in Oxford seine Topographie Irlands in drei Teilen an drei Tagen vorgetragen. Am ersten Tag habe er in seinem Hospiz vor den armen Scholaren gesprochen, am zweiten vor allen Doktoren der verschiedenen Fakultäten und jenen ihrer Schüler, die bereits einen größeren Ruf und Ruhm erlangt hätten, schließlich am dritten Tag vor den übrigen Scholaren, Rittern und Bürgern.191 Oxfords Bedeutung wird in dieser Zeit wird auch dadurch belegt, dass sich einer der englischstämmigen Pariser Magister, Alexander Neckham, 1191 oder 1192 in der Stadt aufhielt. Als es im Jahr 1209 zu den bereits geschilderten Ereignissen kam, der »Kollektivhaftung« dreier Scholaren für ihren nach einem Mord geflohenen Wohngenossen und dem vollständigen Auszug von Magister und Scholaren, sollen nach dem Chronisten Roger von Wendover bereits 3000 clerici die Stadt bevölkert haben. Sie gingen von Oxford nach Reading, Cambridge und auf den Kontinent. Anders als im Fall von Paris zogen diese Ereignisse jedoch nicht unmittelbar ein päpstliches Eingreifen nach sich, weil England zu dieser Zeit aufgrund eines Streits zwischen König Johann und Papst Innozenz III., bei dem es um die Besetzung des Erzbistums Canterbury ging, unter dem Interdikt stand, also alle gottesdienstlichen Handlungen mit Ausnahme der Sterbesakramente untersagt und im Gegenzug durch den König die Kontakte der englischen Kirche zum Papsttum unterbrochen waren. Zu einer Klärung der Probleme kam es so erst 1214, nach Aufhebung des Interdikts, als ein päpstlicher Legat eine Freiheitsurkunde erließ, die die Oxforder zu Sühneleistungen, zu angemessenen Preisen für Wohnung und Versorgung von Magistern und Scholaren sowie zur Anerkennung des KlerikerPrivilegs einer eigenen Gerichtsbarkeit verpflichtete. Vergehen gegen Magister und Scholaren sollten dem Bischof von Lincoln gemeldet werden, der auch die Gerichtshoheit über sie ausübte. Das Privileg berührt auch die Leitung der Universität, für die um 1201 bereits ein »Meister der Schulen« namentlich belegt ist, nun aber auf »den Bischof von Lincoln oder den Archidiakon des Ortes [Oxfords] oder seinen Amtsträger oder den Kanzler oder wen sonst der Bischof zu diesem Amt delegieren wird«,192 verwiesen wird. Auch wenn diese Stelle nicht völlig klar ist, war dies wahrscheinlich der Anstoß zur Einrichtung eines eigenen Kanzleramts für die Universität, wobei der Kanzler wie der ältere »Meister der Schulen« im Auftrag von Bischof und Kapitel für die Lizenzerteilung und die Kontrolle der Schulen verantwortlich sein sollte. 191 Giraldi Opera, hrsg. Brewer, 1, S. 73; übers. Butler, S. 97; vgl. Rashdall, Universities, 3, S. 25. 192 Leff, Paris, S. 79.

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Nach einer späteren Überlieferung ließ der Bischof von Lincoln jedoch zunächst einen solchen Titel nicht zu, so dass sich der herausragende Gelehrte Robert Grosseteste († 1253) wiederum mit der Bezeichnung »Meister der Schulen« begnügen musste. Dies zeigt den im Vergleich zu Paris völlig anderen Charakter des Kanzleramts in Oxford: Während in Paris der Kanzler als Vertreter der bischöflichen Autorität und Mitglied des Domkapitels von Anfang an die Schulen kontrolliert hatte und zugunsten der Autonomie der Universität in seinen Rechten beschränkt werden musste, spielte er in Oxford eine Vermittlerrolle zwischen dem Bischof von Lincoln und seinem Domkapitel auf der einen und der Universität auf der anderen Seite; am Ende wurde er sogar zum Symbol der Selbstverwaltung. Die ersten Belege für das Amt des Kanzlers stammen aus den 1220er Jahren, wobei er teilweise zusammen mit dem eigentlichen Vertreter des Bischofs in Oxford auftrat, mit dem Archidiakon, der aber nie die Gerichtshoheit über Magister und Scholaren erlangen konnte. Schon von Anfang an oder zumindest bald nach 1214 dürfte der Kanzler aus den Reihen der Magister gewählt worden sein, wobei sich bis zum Ende des 13. Jahrhunderts ein Verfahren ausbildete, bei dem zunächst fünf, dann zwei der führenden Magister beim Bischof um die Bestätigung ihrer Wahl nachsuchten. Nur ein einziges Mal, zu 1290, ist das persönliche Erscheinen eines künftigen Kanzlers beim Bischof belegt, um von diesem sein Amt übertragen zu bekommen. Im Laufe der Entwicklung gewann der Kanzler neben dem Recht zur Erteilung der Lizenzen die Kompetenzen des Rektors in Paris und zugleich auch Einfluss auf die Stellung der Universität in der Stadt Oxford. Als Vertreter des Bischofs übte er die geistliche Kontrolle über die Magister und Scholaren als Kleriker aus, er kontrollierte die Schulen, und er konnte diejenigen ihrer Ämter entheben oder exkommunizieren, die sich gegen die Rechte der Universität vergangen hatten; zudem konnte er über die Inhaftierung von Magistern und Scholaren entscheiden, die Verbrechen begangen hatten. Dabei konnte er aufgrund umfangreicher Privilegierung durch die englischen Könige auch auf die weltliche Gewalt zurückgreifen.193 Heinrich III. hatte 1227 zunächst allgemein die Privilegien der Universität bestätigt und schaltete sich zwischen 1231 und 1268 mehrfach in die Regelung der Miethöhe für Magister und Scholaren ein. Der König übertrug dem Kanzler 1244 nach einem Konflikt die Gerichtsbarkeit in allen Fragen, die Schulden, Mieten und Preise für Lebensmittel und andere bewegliche Güter betrafen, seit 1248 musste er bei der Festsetzung der Preise für Brot und Bier anwesend sein, und 1255 wurden selbst die Übergriffe durch Laien der Jurisdiktion des Kanzlers unterstellt. Verständlicherweise rief dies den Widerstand der Oxforder Bürger hervor, der 1263 zu einem kurzzeitigen Auszug nach Northampton, 1290 aber zu einer erneuten feierlichen Bestätigung der Rechte der 193 Ebd., S. 80–81.

Die Gründung von Universitäten

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Universität durch König Eduard I. führte, die noch einmal alle kontroversen Fragen zugunsten der Universität entschied. Damit hatten sich jeweils um 1200 die Universitäten Bologna, Paris und Oxford gebildet, die ihre nachher auch für andere Generalstudien kennzeichnenden Rechte in den Auseinandersetzungen mit den Städten, Bischöfen und Kapiteln erworben hatten, unterstützt vom Papsttum und den weltlichen Herrschern. Ähnlich entstand auch die Universität in Montpellier, die sich aus dortigen Medizinschulen entwickelte, die seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts belegt sind. Montpellier erhielt 1220 – ebenfalls durch einen päpstlichen Legaten – eigene Statuten, die den Magistern weitgehende Autonomie gaben und ihnen die Gestaltung der Studiengänge erlaubten.194 Die zweite »Generation« von Universitäten wurde, wie mehrfach betont, durch Auszüge der Magister und Scholaren aus den älteren Institutionen begründet. Neben Cambridge (1209) als Oxforder und Padua (1222) als Bologneser »Tochter-Universität« sind in Frankreich Orléans und Angers zu nennen, die vom Auszug aus Paris 1229 profitierten und um 1235 bzw. um 1250 den Status einer Universität erreicht haben dürften, auch wenn sie ihre formale Anerkennung erst im 14. Jahrhundert erhielten. Besonders zahlreich, aber zumeist nur von begrenztem Erfolg waren die Migrationen in Oberitalien, durch die unter anderem Universitäten in Vicenza (1204–1209), Arezzo (1215–1255), Vercelli (1228–1244) und Siena (1246–1252) ins Leben gerufen wurden. Schon früh wurden diesen »spontanen« aber auch planmäßige Gründungen an die Seite gestellt, die im Laufe der Entwicklung immer zahlreicher wurden, so dass man gerade für das ausgehende Mittelalter, für das 15. und frühe 16. Jahrhundert, eine regelrechte Welle von Gründungen beobachten kann.

II.

Die Gründung von Universitäten

Wie sich bald nach der Entstehung der ersten Universitäten zeigte, waren diese Institutionen nicht nur intellektuelle Zentren, sondern hatte ebenso eine immense wirtschaftliche und politische Bedeutung. Die Förderer von Bologna, Paris und Oxford, Päpste, Kaiser und Könige, unterstützten die Korporationen der Magister und Scholaren nicht oder zumindest nicht nur aus Liebe zur Wissenschaft, auch wenn die Bildung seit dem 12. Jahrhundert weit über den Klerus hinaus als eigenständiger Wert anerkannt wurde, bis hin zu dem sprichwortartig überlieferten Satz, ein des Lesens und Schreibens unkundiger König sei nicht

194 Verger, Grundlagen, S. 62.

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Die Ausbildung der Universitäten und ihrer Institutionen

mehr als ein gekrönter Esel (rex illiteratus quasi asinus coronatus).195 Vielmehr erforderten zunehmende Schriftlichkeit, Ausweitung und Ausdifferenzierung von Verwaltungen und zunehmende Verrechtlichung in Kirche, Politik und Gesellschaft eine wachsende Zahl von Fachleuten, die nur durch die Universitäten ausgebildet werden konnten. Im Zuge des sich zum Ende des Mittelalters hin intensivierenden Territorialisierungsprozesses mussten die (werdenden) Landesherren zudem ein Interesse daran haben, Inhalt und Umfang der Ausbildung stärker unter ihre Kontrolle zu bringen. Dies erklärt, warum ein erheblicher Anteil der gegründeten Universitäten durch die jeweiligen Landesherren initiiert und privilegiert wurde; allerdings kamen, wie eingangs angedeutet, meist immer noch päpstliche und / oder kaiserliche Bestätigungen hinzu. Das wohl früheste Beispiel einer solchen Landesuniversität ist die bereits mehrfach angesprochene Gründung Friedrichs II. in Neapel 1224.196 Sie war eindeutig gegen die oberitalienischen Städte gerichtet, mit denen Friedrich bald darauf in bis zu seinem Tode 1250 anhaltende Auseinandersetzungen eintreten sollte. Folglich wurde zugleich mit der Gründung allen sizilischen Untertanen Friedrichs der Besuch anderer Universitäten verboten. Die Korporation der Magister und Scholaren erhielt ein gewisses Maß an Rechten, so dass man – anders als im Fall Salernos – tatsächlich von einer Universität sprechen kann, doch scheinen die folgenden politischen und militärischen Auseinandersetzungen die weitere Entwicklung behindert zu haben. So musste schon 1239 eine »Reform«, also wohl eine Neugründung der Universität vorgenommen werden, und ähnliche Anläufe wiederholten sich unter Friedrichs Nachfolgern, 1258–59 unter Manfred und 1266/1278 unter Karl von Anjou. Bis 1497 blieb jedoch unmittelbar der königliche Kanzler für die Universität verantwortlich, und es war wahrscheinlich die starke königliche Kontrolle und die Einschränkung der Rechte von Magistern und Scholaren, die Neapel im Rahmen der europäischen Universitäten nur untergeordnete Bedeutung zukommen ließ. Wieviel jeweils vom Engagement des Landesherrn abhing, zeigt auch ein Beispiel von der Iberischen Halbinsel, auf der die Gründung von Universitäten fast ausschließlich auf der Initiative der Herrscher beruhte. Seit 1208 übernahm König Alfons VIII. von Kastilien die Bezahlung der Gehälter der Lehrer an der Kathedralschule von Palencia, an der zu diesem Zeitpunkt Logik, Grammatik, Theologie und Kirchenrecht gelehrt wurden. Alfons starb jedoch 1214, ohne dass die Schule bis zu diesem Zeitpunkt den Status einer Universität erlangt hätte. Dies änderte sich nicht, als Palencia 1220 auf Bitten des neuen Herrschers, 195 Als Vorwurf des jungen Heinrich (I.) von England an seinen Vater, Wilhelm I., bei William of Malmesbury, De Gestis, 2, S. 467; in einem angeblichen Schreiben Konrads III. an Ludwig VI. in John of Salisbury, Policraticus, cap. IV,6, 1, S. 254. Zum Kontext s. Fried, In den Netzen. 196 Allgemein s. Oldfield, Kingdom.

Die Gründung von Universitäten

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Ferdinands III., auch durch Honorius III. privilegiert wurde; der Papst regelte in seiner Urkunde nur Fragen der Finanzierung und nahm die Magister und Scholaren unter seinen Schutz.197 Weitere Rechtsverleihungen blieben aus, und zugleich verlor die Schule mehr und mehr an Bedeutung, bis sie um 1250 völlig aus den Quellen verschwindet. Inzwischen hatte sich eine andere Gründung die Unterstützung des Königtums sichern können, die Universität in Salamanca, die nach einer chronikalischen Notiz bereits 1218–19 durch Alfons IX. von Léon eingerichtet wurde, sich aber erst nach den Privilegien von Ferdinand III. von Kastilien von 1243 und insbesondere von Alfons X. von 1254 zu entwickeln begann.198 Anders als die nordeuropäischen Universitäten behielt das Generalstudium in Salamanca auch in späterer Zeit den Charakter einer Kathedralschule bei, denn Magister und Scholaren verblieben unter der Jurisdiktion eines dem Bischof unterstellten scholasticus oder magister scholarum, der die Lizenzen in der Barbarakapelle der Kathedrale vergab; und die Kathedrale diente auch im Folgenden als Versammlungsort der Universität. Zwei Konservatoren aus dem Kreis des Klerus von Salamanca waren unter anderem für das Problem der Mieten zuständig. Die königliche Urkunde wurde im folgenden Jahr, 1255, auch durch den Papst, Alexander IV., bestätigt; dieser gewährte zugleich in weiteren Urkunden zusätzliche Rechte, so die Führung eines eigenen Siegels und das ius ubique docendi für die Absolventen der Universität, wobei – bis 1333 – die Universitäten Paris und Bologna ausdrücklich ausgenommen blieben. Der rechtliche Status der Universität wurde schließlich dadurch gefestigt, dass das königliche Privileg von 1254 in die große Rechtssammlung Alfons’ X., die um 1260 entstandenen Siete Partidas (»Sieben Teile«), aufgenommen und dass dort erstmals in der lateinischen Christenheit versucht wurde, den Begriff des Generalstudiums zu bestimmen. Ein studium generale erforderte danach mindestens jeweils einen Lehrer für die sieben »freien Künste« bzw. zumindest für Grammatik, Logik und Rhetorik sowie je einen Lehrer für weltliches und Kirchenrecht; ein Generalstudium kann allein durch den Papst, den Kaiser oder – und das ist neu in diesem Zusammenhang – durch den König begründet werden; letzterer hat auch die Gehälter der Lehrenden festzusetzen. Die Siete Partidas belegen zugleich, dass die genossenschaftlichen Strukturen von Magister und Scholaren zu diesem Zeitpunkt bereits so weit entwickelt waren, dass auch die Wahl eines Rektors als Kennzeichen ihrer universitas betrachtet wurde. Salamanca entwickelte sich auch zum Modell für andere Gründungen auf der Iberischen Halbinsel, so von Valladolid, das Ende des 13. Jahrhunderts gegrün-

197 Rashdall, Universities, 2, S. 67. 198 Überblick bei Beltran de Heredia, Origines.

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Die Ausbildung der Universitäten und ihrer Institutionen

det wurde. Zu den landesherrlichen Gründungen des 13. Jahrhunderts zählt schließlich in gewissem Sinne auch die 1245 initiierte Kurienuniversität.199 Bis 1300 lässt sich die Entstehung oder Gründung von 18 Generalstudien beobachten; bis 1400 kamen weitere 26 Neu- oder Wiedergründungen dazu, bis 1500 sogar 41. Waren um 1378 28 oder 31 Universitäten aktiv, erhöhte sich diese Zahl um 1500 auf 63 bis 65.200 Nicht viele dieser im gesamten Gebiet der lateinischen Christenheit entstandenen Generalstudien gelangten nach ihren Studentenzahlen und dem Niveau der Lehre über die Mittelmäßigkeit hinaus, doch konnten vor allem einige jüngere west- und mitteleuropäischen Universitäten wie Poitiers, Bourges, Caen, Löwen, Köln, Heidelberg, Tübingen, Leipzig, Wien, Prag und Krakau am Ausgang des Mittelalters an Bedeutung gewinnen. Im mitteleuropäischen Raum war die von Karl IV. 1348 ins Leben gerufene Prager Universität die erste Gründung überhaupt; zuvor hatten die Scholaren in den großen, übernationalen Universitäten wie Paris oder Bologna studiert, die auch im 14. und 15. Jahrhundert immer noch auswärtige Studenten anzogen. Auf die »Reichsuniversität« Prag, die 1373 eine nach Bologneser Vorbild organisierte Juristenfakultät erhielt, folgten im deutschen Sprachraum bis 1400 die Gründungen von Wien (1365 bzw. 1383/84), von Heidelberg (1386), Köln (1388) und Erfurt (1379 bzw. 1392), die auf ihre Weise die Probleme auch der späteren Universitätsgründungen deutlich werden lassen. In Wien war es 1365 der Ehrgeiz Herzog Rudolfs IV. »des Stifters«, der mit der kaiserlichen Residenz in Prag konkurrieren wollte und deshalb selbst eine Universität ins Leben rief. Nach längeren Verhandlungen mit dem Papst, Urban V., die wahrscheinlich in Rudolfs Auftrag durch einen deutschsprachigen Pariser Magister, Albert von Sachsen, geführt wurden, erließ Rudolf im März 1365 die Gründungsurkunde; die päpstliche Bestätigung, die zunächst die Theologie ausdrücklich ausnahm, folgte im Juni. Der Herzog sah eine großzügige Ausstattung der Gründung vor, bis hin zu einem eigenen Universitätsviertel, in dem die universitäre Kontrolle angemessene Mieten gewährleisten sollte.201 Die inneren Strukturen der Universität waren wesentlich durch das Pariser Vorbild geprägt; die Artistenfakultät gliederte sich in vier Nationen, die den Rektor der gesamten Universität wählen sollten. Der zum Kanzler erhobene Propst von St. Stephan war für die Behandlung von Kapitalverbrechen zuständig, der Rektor für andere straf- oder zivilrechtliche Klagen gegen Magister und Scholaren. Rudolf starb jedoch bald nach Erlass des Gründungsprivilegs, und seine Nachfolger, seine jüngeren Brüder, waren ebenso wenig wie die Stadt Wien an einer reich ausgestatteten und kostspieligen Universität interessiert. So kam es, dass – in 199 Zu dieser und zur Stadtuniversität Roms (ab 1303) s. Schwarz, Kurienuniversität. 200 Verger, Grundlagen, S. 64–66. 201 Ubl, Universität.

Die Gründung von Universitäten

89

Fortsetzung der älteren Stephansschule – wohl nur die Artistenfakultät, die Fakultät der artes liberales, entstand, und auch das nur in eingeschränktem Rahmen. Erst die Neugründung durch Albrecht III. 1383–84, die durch eine Bulle Urbans VI. von 1384 gebilligt wurde, führte zum Erfolg. Albrecht gewann einen weiteren Pariser Magister, den Theologen Heinrich von Langenstein, der Paris wegen der 1378 ausgelösten Kirchenspaltung und der Parteinahme der Pariser Universität für den avignonesischen Papst verlassen hatte. Heinrich orientierte die Wiener Universität nun jedoch am Vorbild Prags. Nach den von ihm formulierten Statuten konnte der Rektor aus jeder Fakultät gewählt werden, und die oberen Fakultäten wurden in das System der Nationen eingeschlossen. Aus diesem Grund wählte sich auch die Artistenfakultät einen eigenen Dekan.202 Die Wiener Gründung mag anfangs auch deshalb in Schwierigkeiten geraten sein, weil es neben der Stephansschule keine weiteren bedeutenden Bildungsinstitutionen in der Stadt gab. Andere künftige Universitätsstädte wiesen dagegen schon länger ein blühendes Schulwesen auf. Das galt insbesondere für Erfurt, das schon in der Mitte des 13. Jahrhunderts 1000 Scholaren beherbergt haben soll, nicht zuletzt aufgrund der hier gegründeten Ordens- und Stiftsschulen.203 Einer der Pariser Magister, Heinrich Totting von Oyta, ließ sich 1362–63 in einer an den Papst gerichteten Supplik sogar als rector superior studii generalis et solennioris Alamannie artium Erfordensis, als »oberster Leiter des allgemeinen und ehrwürdigen deutschen Artistenstudiums zu Erfurt«, stilisieren,204 und auch Karl IV. akzeptierte den hohen Rang der Erfurter Schulen. Lange blieb jedoch die formale Anerkennung durch ein päpstliches Privileg aus, und als Scholaren und Bürger 1379 schließlich eine päpstliche Urkunde erlangen konnten, war es der »falsche«, der avignonesische Papst, der in Deutschland fast nirgendwo akzeptierte Clemens VII., der diese erteilt hatte. Erst als schließlich auch der römische Papst, Urban VI., seine Zustimmung gegeben hatte, trat die Universität endgültig »ins Leben«. Der erste Rektor wurde erst 1392 gewählt, nachdem mit Heidelberg und Köln schon zwei weitere Universitäten gegründet worden waren. Auch bei scheinbar günstigen Voraussetzungen war die Entwicklung der Universitäten somit immer wieder durch lokale Besonderheiten und Zufälle geprägt.

202 Rashdall, Universities, S. 240. 203 Moraw, Universität, S. 197. 204 Ebd., S. 246–47; Denifle, Entstehung, S. 406.

90

III.

Die Ausbildung der Universitäten und ihrer Institutionen

Die inneren Strukturen der Universitäten

Da zentrale Elemente der Universitätsverfassung immer schon im Rahmen der jeweiligen Entstehungsgeschichte angesprochen wurden, seien die wichtigsten Strukturen nur noch einmal kurz in Erinnerung gerufen. Die genossenschaftlich organisierte Universität war ihrerseits ein »Zusammenschluss« verschiedenster genossenschaftlichen Institutionen, insbesondere von Fakultäten, Nationen und Kollegien. Dabei ging die ursprünglich auf ein Fach oder Fachgebiet bezogene Bezeichnung facultas im Laufe des 13. Jahrhunderts auf die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden des jeweiligen Fachgebiets über. Fakultäten bildeten die wichtigsten Teile der nach dem Pariser Vorbild organisierten Universitäten, doch finden sie sich auch – unter anderem Namen und in etwas anderer Funktion – in Bologna und Padua. Das Generalstudium war hier in die universitas der Juristen und die der Studierenden in den artes und der Medizin unterteilt; die Magister waren im collegium doctorum zusammengeschlossen. Neben diesem fachlichen Gliederungsprinzip spielte die Herkunft der Magister und Scholaren eine wichtige Rolle. Die »Fakultäten« in Bologna waren jeweils in zwei weitere universitates gegliedert, die italienische und die außeritalienische, wobei letztere nochmals in Nationen aufgeteilt war; und in Paris war es die wichtigste Fakultät, die der »Artisten«, in der sich neben der »französischen« Nation noch drei weitere bildeten, die normannische, die pikardische und die englisch-deutsche. Auch wenn das Pariser Modell der vier Universitätsnationen nördlich der Alpen vielfach übernommen wurde, wo es die Studentenzahl und die Herkunft der Universitätsbesucher nahelegte, etwa in Prag mit einer böhmischen, polnischen, bayerischen und sächsischen Nation, hatten diese nicht immer dieselbe Stellung und dieselben Aufgaben. So schlossen sie in Prag (und später in Wien) anders als in Paris Magister und Scholaren aller Fakultäten ein, auch wenn die Wahl des Rektors jeweils unter ihnen wechselte. Jede dieser Korporationen hatte eigene Amtsträger, die sich im Laufe der Zeit herausbildeten; ebenso entstanden vielfach eigene Statuten, die unter anderem den Lehrbetrieb regelten. Im Laufe der mittelalterlichen Entwicklung gewannen für die inneren Strukturen die Kollegien mehr und mehr an Bedeutung. Während einige Forscher lange Zeit die These arabischer Vorbilder für die Universitäten verfochten haben, wird inzwischen nur noch die Auffassung vertreten, das System der Kollegien sei islamischen Ursprungs gewesen.205 Allerdings finden sich seine Wurzeln in einem typisch christlichen Motiv: dem der Nächstenliebe und Armensorge. Die ersten »Kollegien«, noch in einem weiteren Sinne, waren »fromme

205 Rüegg, Themen, S. 27.

Die inneren Strukturen der Universitäten

91

Stiftungen«,206 mit denen in kleinerem Umfang, für einige wenige Kleriker, armen Scholaren das Studium ermöglicht werden sollte. Die Kollegien im engeren Sinne entstanden seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, als die wachsenden Studentenzahlen die Kosten des Studiums in die Höhe trieben und die Unterbringung der Scholaren erschwerten. Das älteste Kolleg war die 1257 in Paris gegründete Sorbonne;207 ihr folgten in Oxford 1264 das Merton College und 1280/1282 University und Balliol College. Waren diese Einrichtungen wie die meisten anderen Kollegien für Weltkleriker bestimmt, entstanden gleichzeitig Anstalten, die einzelnen Orden vorbehalten blieben, in Paris etwa 1248 Saint Bernard für die Zisterzienser sowie um 1260 Cluny für die Cluniazenser. Ein wichtiges Vorbild für die Kollegien waren die Studien der Bettelorden, die sich seit den 1220er Jahren in der gesamten lateinischen Christenheit verbreitet hatten. Zwar spielte in den für den Weltklerus, oft aus der Herkunftsregion des Stifters, gegründeten Kollegien das gemeinschaftliche Leben auch eine wichtige Rolle, doch ging es bei ihnen vor allem darum, einer bestimmten Zahl Studenten während ihres Studiums eine Unterbringung zu sichern. Die Kollegien finanzierten sich aus Zinseinkünften aus Grund- und Hausbesitz sowie aus Renten, die die Stifter ihnen übertragen hatten. Der vollentwickelte Bautyp des Kollegiums umfasste die in der Regel um einen Innenhof angelegten Gebäude für Hör-, Speise- und Schlafsäle, Wohnräume, Kapelle, Bibliothek, Küche und Keller. In Paris handelte es sich allerdings zumeist um kleinere Einrichtungen, die vor allem den jungen Studenten der Artistenfakultät helfen sollten. Eine Ausnahme bildete das 1304 gestiftete Collège de Navarre, das lange Zeit mit 70 Studenten die größte Institution ihrer Art blieb und vor allem Theologiestudenten aufnahm.208 Insgesamt war in Paris die Kontrolle durch die geistlichen und universitären Amtsträger stärker als in England, wo das genossenschaftliche Element stärker hervortrat, wohl vor allem aufgrund der Tatsache, dass die fellows bereits schon erste Abschlüsse vorweisen mussten. Bis 1320 entstanden insgesamt 19 Kollegien in Paris, sechs in Oxford und eines, das 1284 gegründete Peterhouse College, in Cambridge.209 Weitere Gründungen folgten im 14. und 15. Jahrhundert, nicht nur in England oder Nordfrankreich, sondern auch im süd- und mitteleuropäischen Raum, wobei die Kollegien oftmals jedoch nicht die Rolle spielen konnten wie in Paris und Oxford. Eine Besonderheit des mitteleuropäischen Raums war das Kolleg für die Magister, das Collegium maius. Diese Kollegien waren oftmals 206 207 208 209

Verger, Grundlagen, S. 68. Cobban, Universities, S. 115. Allgemein s. Gorochov, Le collège. Cobban, Universities, S. 128.

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Die Ausbildung der Universitäten und ihrer Institutionen

weitgehend mit Fakultäten identisch, wenn hier die meisten Lehrenden eines Fachs zusammenlebten. Hier wie auch in Paris und Oxford stand aber nur einem kleinen Teil der Studierenden, bestenfalls 15 %, die Unterbringung in den Kollegien offen. Daneben gab es für die Scholaren nur zwei Möglichkeiten der Unterbringung, entweder die private Anmietung von Wohnraum oder das Leben in den von den Universitäten kontrollierten »Studentenhäusern«. Die erste Form findet sich vor allem an den west- und südeuropäischen Universitäten, wo mit den Juristen bessergestellte und zumeist ältere Studenten das Bild bestimmten, während in Oxford, Paris und an den mitteleuropäischen Universitäten immer wieder versucht wurde, auf die »frei« residierenden Scholaren Druck auszuüben, sich entweder in den Kollegien oder in den »Studentenhäusern«, den domus, hospicia, paedagogia, bursae, aulae oder halls niederzulassen. So suchte man in Oxford 1410 und erneut 1420 die Residenzpflicht in den Kollegien und Halls durchzusetzen,210 und ebenso erließ man 1410 eine Verordnung gegen jene, die außerhalb der Bursen blieben, gegen die extra bursae stantes. Diese Einrichtungen waren wie die Kollegien Teil der Universität und standen unter der Leitung von rectores oder regentes, die von der Universität zugelassen werden mussten. Sie sorgten – allein oder mit einzelnen Magistern – für die Unterbringung und Versorgung der Scholaren, aber auch für den akademischen Unterricht, und erhielten dafür wöchentlich von den Studenten Gelder für Verpflegung, Wohnen und Studium.211 Anders als die Kollegien waren Bursen oder halls keine mildtätigen Stiftungen, sondern setzten ein eigenes Einkommen voraus; in Wien waren sie nach der Höhe der wöchentlichen Abgaben gestaffelt. Ihre Größe konnte erheblich variieren. So betrug die durchschnittliche Belegung Oxforder Halls 18, die der Bursa Jerusalem in Krakau 100 Studenten. Zum Teil unterhielten Magister eigene Kollegialbursen in enger struktureller und räumlicher Verzahnung mit ihren Kollegien, die für die »freien« Einrichtungen insofern eine Konkurrenz darstellten, als die Kosten für den magister regens entfielen. Oftmals konnten sich nur private Institutionen gegen sie behaupten, die ein besonderes Angebot bereitstellten, wie Grammatikschulen oder humanistische Zirkel.

210 Ebd., S. 148. 211 Schwinges, Student, S. 203.

5.

Das Schulwesen des späteren Mittelalters

Die Universitäten bildeten seit ihrer Entstehung die höchste Ebene innerhalb des Bildungswesens; doch gab es darunter und daneben weitere Institutionen, die für die Wissensvermittlung zuständig waren. Zum Teil legte ihr Besuch erst die Grundlagen für ein Studium an den Universitäten; zum Teil war aber die Ausbildung an diesen Schulen auf völlig andere Ziele ausgerichtet. Das besondere Kennzeichen des spätmittelalterlichen Schulwesens ist seine Vielgestaltigkeit. Zum einen konnten sich die älteren Kloster- und Kathedralschulen vielfach behaupten, zum andern bildeten sich neue Schulformen, die mit ihnen und untereinander konkurrierten. Ungeachtet des landesherrlichen Engagements bei der Gründung von Universitäten waren es zumeist andere Autoritäten und soziale Gruppen, die sich für das (niedere) Schulwesen einsetzten. Es gab zwar auf Seiten der Fürsten einen hohen Bedarf an »gelehrten Räten«, aber die werdenden Territorien überließen das Schulwesen weiterhin fast immer noch der Kirche. Eigene Wege gingen nur die Städte, die im späten Mittelalter Einfluss auf die Auswahl der Schulmeister und die Gestaltung der Lehrpläne zu gewinnen suchten. Neben den kirchlich dominierten Schulen entstanden so auch Schulen mit Unterricht in der Volkssprache, die den städtischen Bedürfnissen stärker Rechnung trugen, auch wenn ebenso die Grundlagen für den Besuch weiterführender Schulen gelegt werden sollten.212 Dabei kam es jedoch einer endgültigen »Spaltung« im Bildungswesen, denn die Ausbildung künftiger Kleriker musste zwangsläufig von anderen Voraussetzungen ausgehen als die künftiger Kaufleute und Ratsherren. Während in den geschlossenen kirchlichen Institutionen so weiterhin die überkommene, durch lateinische Texte geprägte Lehre den Unterricht beherrschte, gewannen an den »offenen« kirchlichen und an den weltlichen Schulen die Volkssprachen und das auf praktische Anwendung ausgerichtete Elementarwissen an Bedeutung. Diese Entwicklung ist untrennbar mit der weiteren Verbreitung der Schriftlichkeit verbunden, die im Spätmittelalter fassbar wird. Lesen und Schreiben waren im 212 Vgl. Kintzinger, Schule, S. 4–5.

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Das Schulwesen des späteren Mittelalters

frühen und im hohen Mittelalter im Wesentlichen eine Domäne des Klerus, auch wenn trotz der Anforderungen des kanonischen Rechts lange Zeit selbst unter den Bischöfen nicht alle die Anforderungen an die literarische Gestaltung erfüllen konnten.213 Zudem wurden Lesen und Schreiben getrennt gelernt und unterrichtet. Während sich die Schreibfähigkeit im Klerus spätestens seit dem 14. Jahrhundert durch verschiedene Reformen weiter verbesserte, hatten die Kaufleute bereits seit dem 12. Jahrhundert zunehmend die Bedeutung der Schriftlichkeit erkannt. Zunächst beschäftigten Kaufmannsgilden und Fernkaufleute Geistliche als Schreiber, doch machten die Vielfalt der Handelsgeschäfte und die sich durchsetzende Geschäftsführung vom Kontor des Kaufmanns aus bald eine eigene Schriftlichkeit der Kaufleute unabdingbar. Lesen, Schreiben und Rechnen mussten spätestens im 15. Jahrhundert nicht nur die Kaufleute, sondern auch ihr Personal beherrschen.214 Nicht zufällig lassen sich seit dem Ausgang des 13. Jahrhunderts erste Nachweise für kaufmännische Buchführung, oftmals zuerst noch in lateinischer Sprache, finden; das erste erhaltene, über einen längeren Zeitraum geführte Handlungsbuch in Deutschland ist das der Kaufmannsfamilie Holzschuher in Nürnberg (von 1304/07). So entwickelten sich eigene Anforderungen an die Ausbildung von Kaufleuten, die sich in der Ausprägung der städtischen Schulen niederschlugen. Weniger Bedeutung hatte dagegen in diesem Zusammenhang der wachsende Personalbedarf der landesherrlichen Kanzleien; er trug wenig zur Verbreitung der Schreibfähigkeit im Adel bei. So konnte selbst ein Dichter wie der 1445 verstorbene Oswald von Wolkenstein wahrscheinlich weder lesen noch schreiben, und die auch auf theologische Werke ausgerichtete Bücherleidenschaft des 1469 verstorbenen bayerischen Ritters Jakob Püterich von Reichertshausen stieß bei seinen Standesgenossen auf Spott und Verachtung.215 Lesen und Schreiben war überhaupt in den Städten weiter verbreitet als auf dem Lande; so hat man für Deutschland geschätzt, dass etwa 10 bis 30 % der städtischen Bevölkerung Lesen und Schreiben konnten.216 Allerdings muss dabei zwischen den verschiedenen Regionen der lateinischen Christenheit differenziert werden. In Italien spielte seit dem 14. Jahrhundert der humanistische Impuls eine wichtige Rolle. Dort kam es zunächst zu Reformen im Bildungswesen, bei denen mehr und mehr die Volkssprache an Bedeutung gewann, auch für den Lateinunterricht.217 Hatten die Oberschichten der italienischen Stadtrepubliken lange wenig Wert auf klassische Bildung gelegt und nur 213 214 215 216 217

Wendehorst, Wer konnte, S. 22. Ebd., S. 29. Ebd., S. 27. Ebd., S. 32. Black, Humanism, S. 261.

Die Kloster- und Kathedralschulen im späteren Mittelalter

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ein Minimum an Lesen, Schreiben und Rechnen für die Ausbildung ihrer Kinder gefordert, wandelte sich das italienische (und später das europäische) Bild eines Edelmanns unter dem Einfluss Coluccio Salutatis und seines Kreises seit dem frühen 15. Jahrhundert grundlegend. Ausgehend von antiken Idealen, wurde nun klassische Bildung ein wesentliches Element adligen Selbstverständnisses.218 So traten in Italien insbesondere die führenden Adelsfamilien als Förderer neuer, humanistisch geprägter Schulen und akademischer Zirkel auf. Mit der Ausbreitung des Humanismus über die Alpen gewannen die humanistischen Bildungsideale auch dort an Einfluss, doch war dies ein langsamer Prozess, der zunächst wenig substanzielle Änderungen im Lehrplan brachte.

I.

Die Kloster- und Kathedralschulen im späteren Mittelalter

Die Geschichte der Kloster- und Kathedralschulen endete nicht mit dem hohen Mittelalter, vielmehr wirkten diese Bildungsinstitutionen auch im 13. bis 15. Jahrhundert weiter und bildeten vielfach den Ausgangspunkt für die Universitätsgründungen des späteren Mittelalters. Dafür kann man z. B. auf die Gründung Erfurts von 1379/1392 verweisen, die auf einem florierenden kirchlichen Schulwesen aufbaute, zwar nicht auf einer Kathedralschule, da Erfurt nicht Bischofssitz war, wohl aber auf den Schulen an den vier Kollegiatkirchen der Stadt, deren Geistliche jeweils in einer eigenen Gemeinschaft vereint waren; und für die Gründung der Kölner Universität 1388 konnte man sowohl auf die seit der Zeit Erzbischof Bruns bestehende Kathedralschule unter ihrem magister scholarum wie auch auf die zentrale Studieneinrichtung eines jüngeren Ordens, auf das Generalstudium der Dominikaner in Köln, zurückgreifen. Aber auch dort, wo später keine Universitäten entstanden, gab es zeitweilig bedeutende Schulen. Ein Beispiel dafür ist die Kathedralschule von Bamberg, die im 12. und 13. Jahrhundert für die Rezeption der Frühscholastik und für die Rechtswissenschaft eine eigenständige Rolle spielte. Das wichtigste Zeugnis dafür ist die hoch- und spätmittelalterliche Dombibliothek, die weitgehend erhalten geblieben ist und einen reichen Bestand zu den im 13. Jahrhunderts studierten Fächern enthält,219 mit scholastischer, kanonistischer, römisch-rechtlicher, rhetorischer und medizinischer Literatur der Zeit. Zahlreiche Handschriften entstanden nicht in Bamberg selbst, sondern wurden als Geschenke oder Vermächtnisse in die Dombibliothek verbracht. Die Bamberger Schule hatte zunächst in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, unter dem Domscholaster Tuto, einen guten Ruf, doch finden sich auch für die Zeit nach 1200 Belege für die Interessen und 218 Ebd., S. 275–76. 219 Fried, Domschule, S. 163.

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Das Schulwesen des späteren Mittelalters

Aktivitäten ihrer Schulmeister. So hat sich eine Liste von Büchern erhalten, die um 1200 wohl dem Scholaster Reinhard übergeben wurden. Sie umfasst unter anderem Lebensbeschreibungen spätantiker und frühmittelalterlicher Heiliger, Werke des Augustinus und lateinischer Autoren, unter anderem von Cicero, Livius und Vergil, Schulbuchliteratur zu den Disziplinen der Grammatik und Logik sowie schließlich drei juristische Handschriften. Während damit im Bereich der artes vor allem die konventionelle Schullektüre abgedeckt ist, spiegeln die juristischen Texte zwar wahrscheinlich noch nicht den Einfluss der neueren Entwicklungen in den Rechtswissenschaften, stellen aber immerhin einen der ältesten Hinweise auf die Existenz römischrechtlicher Handschriften in Deutschland dar.220 Aus derselben Zeit findet sich in Bamberg von einem Magister Konrad eine Anspielung auf eine der zu dieser Zeit in Paris noch verbotenen aristotelischen Schriften, auf die Metheora.221 Um die Mitte des 13. Jahrhunderts war dann der Bezug zu den Universitäten endgültig hergestellt. So ist zwischen 1243 und 1267 ein doctor decretorum, also ein Kirchenrechtler, der aus Polen stammende Jakob, als Domscholaster belegt, und gleichzeitig amtierte ein Magister als Bischof. Auch an anderen Kathedralschulen dürfte in dieser Zeit ein im Laufe des Spätmittelalters immer intensiverer Austausch mit den Universitäten begonnen haben: Ihre Schüler zogen an die Universitäten, um ihre Ausbildung zu vollenden; und die Absolventen der Universitäten kehrten als Schulleiter und Bischöfe in die Kathedralorte zurück. Bamberg verlor allerdings im Laufe des 13. Jahrhunderts an Bedeutung, auch wenn hier bis 1309 noch ein Dichter wie Hugo von Trimberg wirkte und seine umfangreiche didaktische Dichtung, den »Renner«,222 und lateinische Schriften verfasste. Einen Sonderfall in der klösterlichen Bildung des späteren Mittelalters bilden zweifellos die bereits angesprochenen Schulen der Bettelorden. Bei den Dominikanern gingen die Bemühungen um eine intensive Ausbildung der Ordensmitglieder bereits auf den Ordensgründer, den gebildeten Regularkanoniker Dominikus von Guzmàn, zurück. Dominikus wollte den desolaten kirchlichen Zuständen und insbesondere den starken häretischen Bewegungen in Südfrankreich, allen voran den Katharern oder Albigensern, durch Predigt und verbesserte Seelsorge begegnen. Die wesentliche Grundlage dafür war ein in den Konventen durchzuführendes Studium der Theologie für die Ordensmitglieder. Während die alten Orden sich von den Entwicklungen an den Universitäten ferngehalten hatten, suchte Dominikus bewusst den Anschluss an die »neue Theologie« des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. So nahm er selbst für einige Zeit 220 Ebd., S. 177, Anm. 86. 221 Ebd., S. 181. 222 Jahn, Hugo von Trimberg, Sp. 629–30.

Die Kloster- und Kathedralschulen im späteren Mittelalter

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zusammen mit anderen Brüdern am Theologieunterricht des in Toulouse lehrenden englischen Magisters Alexander Stavensby teil und bemühte sich möglicherweise sich um die Gründung einer Universität in Toulouse,223 die allerdings erst nach seinem Tode Wirklichkeit werden sollte. Die Verpflichtung der Brüder zu intensiver Studientätigkeit wurde dann auch in den ältesten Konstitutionen des Ordens von 1216 verankert,224 auch wenn dies zunächst eher die Liturgie als die wissenschaftliche Theologie betraf. Die Novizen, die neu aufzunehmenden Brüder, sollten durch den Novizenmeister nicht nur an die Lebensform der jungen Gemeinschaft herangeführt, sondern auch zum eifrigen Studium angehalten werden. Bald darauf wurde fehlender Einsatz beim Studium unter Strafe gestellt, ebenso allerdings auch die Lektüre verbotener Bücher, denn – ähnlich wie an der Pariser Universität in dieser Zeit – war die Beschäftigung mit den heidnischen Philosophen, allen voran mit Aristoteles, untersagt. Da Bücher kostbar und nicht in ausreichender Zahl vorhanden waren, stellte man den Brüdern die erforderlichen Texte in einer eigenen kleinen Bibliothek bereit, deren Bestand durch besondere Vorschriften geschützt wurde.225 1220 wurden dann in Bologna auf der ersten allgemeinen Versammlung, dem ersten Generalkapitel, des Ordens, umfangreiche neue Konstitutionen erlassen, die nicht nur die Strukturen des Ordens festlegten, sondern auch die Ordensstudien grundlegend regelten. In den Konventen stand künftig hinter dem Prior an zweiter Stelle ein magister studentium, ein Studienleiter, der die Ausbildung der Brüder überwachte und Ungeeignete ausschloss.226 Er konnte veranlassen, dass die Lernenden eigene Zellen erhielten, um dort lesen, schreiben oder auch nachts studieren zu können; nur mit seiner Erlaubnis durften die studierenden Brüder an den internen Vorlesungen und den daran anschließenden Diskussionen und Disputationen teilnehmen. Da die Erlangung der durch das Generalkapitel nach eingehender Prüfung zu erteilenden Predigtbefugnis das eigentliche Ziel dieses Studiums war, lag der Schwerpunkt der Ausbildung auf der Theologie, insbesondere auf der Bibelexegese, während die Lektüre heidnischer Autoren ebenso verboten war wie die Beschäftigung mit den »weltlichen Wissenschaften« (seculares scientiae). Die artes fanden in einer Kompromisslösung zwischen älteren kirchlichen Verboten und theoretischen Erfordernissen vor allem als »Hilfswissenschaften« Berücksichtigung. Schon 1217 waren die ersten fratres nach Paris gekommen. Zunächst gewährte einer der Magister, maître Jean (nicht der wohl fälschlich mit ihm identifizierte Jean de Barastre), dann mit ihm die Universität insgesamt den Dominikanern 223 224 225 226

Hellmeier, Stellung, S. 132–33. Zu diesen s. Melville, Constitutiones. Berg, Armut, S. 33–34; Bullido del Barrio, Sensus, S. 144–46. Bullido del Barrio, Sensus, S. 146–47.

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Wohnrecht im Hospital S. Jacques;227 zudem sollten die auszubildenden Brüder in ihren theologischen Studien unterstützt werden. Dies übernahm wiederum maître Jean, der seine Schule in den Konvent S. Jacques verlegte und dort öffentliche Vorlesungen hielt. 1219 lebten in Paris bereits rund 30 jüngere Brüder, doch kam es 1229 zu einer neuen Entwicklung, als mit Roland von Cremona erstmals ein Dominikaner in die Gemeinschaft der Magister aufgenommen wurde. Roland war nach einem artes-Studium in Bologna dem Orden beigetreten und erhielt im Mai 1229 durch den Pariser Kanzler die Lehrbefugnis, die licentia docendi, für Theologie. Obwohl er bald darauf nach Toulouse wechselte und der Auszug der Universität zunächst die endgültige Etablierung des Ordens verhinderte, folgte ihm mit Hugo von St. Cher ein weiterer Dominikaner nach.228 Damit war die ordensinterne Schule im Konvent von S. Jacques zu einer schola, einer Teilschule, des theologischen Generalstudiums in Paris geworden, und die Vorlesungen der Inhaber dieses theologischen Lehrstuhls standen nun allen Studierenden der Theologie offen. Schon im September 1230 kam ein weiterer dominikanischer Lehrstuhl in der Theologie hinzu, als Johannes von S. Gilles, einer der führenden Magister der Theologie, nach einer Predigt dem Orden beitrat. Die Doppelstellung der Magister als Konventsmitglieder und Teil der universitären Gemeinschaft führte schließlich im bereits angesprochenen Bettelordensstreit der 1250er Jahre zu tiefgreifenden Problemen. Aufgrund des päpstlichen Engagements für die Mendikanten musste sich die Universität beugen und die dauerhafte Verbindung von Ordensstudium und theologischer Fakultät zulassen; auch der Versuch, die Zahl der von den Orden besetzten theologischen Lehrstühle zu reduzieren, führte nicht zum Erfolg. Die Dominikaner konnten aber nicht nur in Paris, sondern auch an anderen Universitäten Fuß fassen. So kamen Anfang 1218 die ersten Brüder nach Bologna,229 und dem noch von Dominikus selbst gewonnenen Reginald von Orléans gelang es seit Ende 1218, den Konvent in Bologna zu stabilisieren. Reginald war zuvor Lehrer des kanonischen Rechts gewesen, und so konnte er vor allem Lehrer und Scholaren des kanonischen Rechts für den Orden gewinnen, unter ihnen Roland von Cremona. Ein Problem blieb in Bologna allerdings die theologische Ausbildung der Brüder, da die Universität zu diesem Zeitpunkt noch keine theologische Fakultät besaß. Noch größeren Auftrieb erhielten die Bemühungen des Ordens unter seinem zweiten Leiter, Jordan von Sachsen, der 1222 dem Gründer Dominikus nachfolgte

227 Courtenay, Donation, S. 109–10; Saffrey, Fondation, S. 110–11. 228 Kaeppeli, Scriptores, 2, S. 269. 229 Mulchahey, Studium.

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und in großer Zahl Scholaren für den Orden gewinnen konnte,230 darunter auch einen Bruder, der in Paris und danach am Generalstudium in Köln zu einem der führenden Gelehrten des Ordens aufsteigen sollte, Albertus Magnus. In der Zeit Jordans von Sachsen wurde auch die Regelung mehr und mehr von Bedeutung, dass ein Konvent des Ordens neben dem Prior jeweils durch einen Lektor geleitet werden müsse. Dabei zwang der Lehrkräftemangel zu einer hohen Mobilität der doctores, die ihre Tätigkeit – von anderen Aufgaben befreit – auf das jeweilige Studium konzentrieren sollten. Um Streitigkeiten beim Wechsel in einen anderen Konvent zu vermeiden, wurde verfügt, dass die Lektoren ungeachtet ihrer durch die Konstitutionen vorgeschriebenen persönlichen Armut ihre Bücher weitgehend mit sich führen konnten; und wenn sie unterwegs verstarben, standen diese dem Konvent zu, in den sie entsandt worden waren. Probleme schufen jedoch die großen Zahlen von jungen Brüdern, die in das bisher einzige Generalstudium, nach Paris, strömten. Zunächst beschloss man deshalb, je Provinz des Ordens dort nur noch drei Studenten zum Studium zuzulassen. Zugleich wurde die mangelnde Ausbildung der von den Provinzoberen nach Paris entsandten Brüder beklagt, so dass man 1256 schließlich dem Leiter der Provinz, in der das Generalstudium lag, die Möglichkeit zugestand, ungeeignete Brüder nach Absprache mit Prior und Lektoren in ihre Heimat zurückzusenden. Schon zehn Jahre zuvor, 1246, war die Einrichtung weiterer Generalstudien in der provençalischen, der lombardischen, der deutschen und der englischen Provinz beschlossen worden, die ebenfalls jeweils zwei Brüder aus allen Provinzen aufnehmen sollten. Dies bereitete die endgültige Ausgestaltung des Studiensystems der Dominikaner durch das Generalkapitel von 1259 vor. Die durch den Beschluss von 1246 herbeigeführte Dezentralisierung der Generalstudien blieb erhalten; darunter bildeten die (regional bedeutsamen) Partikularstudien und die Studien in den einzelnen Konventen weitere Ebenen der Ausbildung, die von den jüngeren Brüdern nacheinander durchlaufen werden mussten, auch wenn der Übergang zwischen diesen Ebenen möglichst flexibel gestaltet werden sollte.231 Zu dieser »vertikalen« Gliederung des Studiensystems trat eine »horizontale« nach Studieninhalten. Aufgrund der Empfehlungen einer Reformkommission, der neben Albertus Magnus auch sein berühmtester Schüler Thomas von Aquin angehörte, wandte man sich nunmehr auch innerhalb des Ordens den artes und den weltlichen Studien zu, insbesondere den Schriften des Aristoteles, und verfügte, dass neben den weiterhin theologisch geprägten anderen Ordensstudien bei Bedarf in den einzelnen Provinzen sogenannte studia arcium begründet werden konnten, die die philosophische Ausbildung der Brüder zu übernehmen 230 Hellmeier, Stellung, S. 135. 231 Berg, Armut, S. 64.

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hatten. Die Dominikaner reagierten damit als einzige geistliche Gemeinschaft auf die Entwicklungen und veränderten Lehrinhalte in der wissenschaftlichen Theologie des 13. Jahrhunderts, die sie auch im Aufbau ihrer Ordensstudien berücksichtigten.232 Die Ausgangssituation bei den Franziskanern war grundlegend anders. Der Gründer des Ordens, der hl. Franziskus von Assisi, hatte trotz eines gewissen Respekts erhebliche Vorbehalte gegenüber der Wissenschaft und sah die Lebensform seiner Gemeinschaft durch Bildung infrage gestellt. Noch zu seinen Lebzeiten zeichnete sich jedoch ein Wandel ab, als er 1224 Antonius von Padua gestattete, einer Gruppe von Brüdern Vorlesungen in Theologie zu halten, solange dies nicht ihre devotio, ihre Frömmigkeit, aufhob.233 Antonius kam zwar aufgrund vielfältiger anderer Aktivitäten nicht dazu, ein Studium der Theologie zu begründen, zumal er selbst kaum die Voraussetzungen dafür erfüllte, doch vermittelte er den Brüdern auf zahlreichen Predigtreisen Kenntnisse der augustinischen Theologie, die so, noch nicht auf wissenschaftlicher Ebene, im Franziskanerorden Eingang fand. Die wachsende Konzentration der Franziskaner auf Seelsorge und Predigt führte schließlich mehr und mehr zu einer Annäherung an das Studiensystem der Dominikaner. Bis um 1240 blieben Diskussionen um das Selbstverständnis und um die Zielsetzung des Ordens auf der Tagesordnung, doch gewannen danach die theologischen Studien im Orden an Gewicht. Die endgültige Wende markiert die durch den Leiter des Ordens, Bonaventura, angelegte Sammlung von älteren »Anordnungen für das Ordensleben«, die Constitutiones Narbonenses, von 1260.234 Obwohl die Studieneinrichtungen der Franziskaner nie dieselbe Bedeutung erlangten wie die der Dominikaner, entstand nun ein ähnliches System von Generalstudien, denen Schulen den Ordensprovinzen zugeordnet waren. Wer in Paris (oder an einem anderen Generalstudium) studieren wollte, musste zunächst zwei bis drei Jahre an einem Partikularstudium gelernt haben; dann folgten mindestens vier Jahre Ausbildung am Generalstudium, bevor ein Bruder selbst eine Lehrtätigkeit an den Provinzialschulen aufnehmen konnte. Ein wesentlicher Unterschied zu den Dominikanern war allerdings die strengere Handhabung von Eigentums- und Versorgungsfragen, die nur für Bücher etwas gelockert wurde. Nach dem Vorbild von Franziskanern und Dominikanern organisierten dann auch die anderen Bettelorden ihre Studiensysteme, während einige der älteren Orden zumindest an den Universitäten präsent zu sein versuchten, so etwa Zisterzienser und Cluniazenser mit eigenen Häusern in Paris. Es war allerdings vor 232 Ebd., S. 63. 233 Robson, Franciscans, S. 59. 234 Ebd., S. 61.

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allem das Studiensystem der beiden großen Bettelorden, das in der gesamten lateinischen Christenheit Bedeutung erlangte. Es gab kaum eine Stadt, in der nicht mindestens einer, oft sogar beide Orden mit ihren Konventen vertreten waren. Da der Anteil der Brüder aus der jeweiligen Stadt, insbesondere aus dem städtischen Patriziat, im Laufe der Zeit zunahm, waren auch die Bindungen zwischen den Konventen und der städtischen Gesellschaft in der Regel recht eng; gelegentlich übernahmen die Brüder Aufgaben in der städtischen Verwaltung oder schrieben im Auftrag des Rats städtische Chroniken. Das vielleicht bekannteste Beispiel aus dem Hanseraum ist die dem Lesemeister der Lübecker Franziskaner, Detmar († um 1395), zugeschriebene Chronik, die im 15. Jahrhundert durch die Chronica novella des Lübecker Dominikaners Hermann Korner fortgesetzt wurde.235 Zu nennen sind daneben unter anderem für die Dominikaner die (verlorene) Mindener Chronik Hermanns von Lerbeck, die Dortmunder Chronik des Johannes Nederhoff und das Werk des Jakob von Soest, für die Franziskaner das Werk des »Thorner Annalisten«. Die Bettelorden nahmen aber nicht nur in dieser Hinsicht Einfluss auf die städtische Bildung, vielmehr spielten ihre Schulen in den Städten neben anderen kirchlichen und städtischen Institutionen eine eigene Rolle.

II.

Die Entstehung und frühe Entwicklung der städtischen Schulen

Zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert kam es im lateinischen Westen zu zahlreichen Städtegründungen, nachdem sich zunächst die noch aus der Römerzeit bestehenden Zentren vielfach behauptet hatten und neue Siedlungen an Marktorten und Burgen entstanden waren. Gab es z. B. in Deutschland um 1125 nur etwa 30 Städte mit 1.000–5.000 Einwohnern und überregionaler wirtschaftlicher Funktion sowie einige hundert kleinere Marktorte, waren es um 1320 fast 4.000 Städte, davon 50 »Großstädte« mit mehr als 50 Hektar Fläche und über 5.000 Einwohnern sowie rund 200 »Mittelstädte« mit 2.000–5.000 Einwohnern.236 Neugründungen gab es auch in anderen Teilen Europas, etwa in Italien, auch wenn sie nur zum Teil mit den älteren Städten konkurrieren konnten. Dafür zeigte sich die weitreichende Urbanisierung Italiens an den hohen Einwohnerzahlen der Städte: Bis zum 14. Jahrhundert erreichten Mailand, Venedig, Florenz und Genua wahrscheinlich über 80.000 Einwohner, eine Zahl, mit der sich im lateinischen Westen sonst nur noch Paris messen konnte; sieben weitere Städte, darunter die Universitätsstadt Bologna, beherbergten mehr als 40.000 Einwoh235 Wriedt, Geschichtsschreibung, S. 425. 236 Pitz, Stadt B., Sp. 2176–77.

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ner, und immerhin 72 Städte hatten noch zwischen 10.000 und 40.000 Einwohner. Dazu kamen mehrere hundert »Kleinstädte« unter 10.000 Einwohnern.237 Trotz dieser Unterschiede zwischen den Regionen Europas führte die Ausweitung des Städtewesens überall auch zur Gründung neuer Schulen und zur Entstehung neuer Schulformen. Vor allem in diesem Zusammenhang gewannen vielfach die »Grammatikschulen« an Bedeutung, auch wenn sie ebenso, allerdings seltener, auf dem Lande anzutreffen sind. So hat man z. B. für England errechnet, dass sich zwischen 1066 und 1200 nur an 32 Orten Schulen nachweisen lassen, im 13. Jahrhundert schon an 67, im 14. Jahrhundert an 105 und schließlich im folgenden Jahrhundert sogar an 114 Orten, auch wenn das ebenso die Überlieferung spiegelt.238 Diese Elementarschulen hatten einen sehr unterschiedlichen Charakter; einige gingen auf Stiftungen zurück, andere arbeiteten auf »kommerzieller« Basis und offerierten Unterbringung und Verpflegung gegen entsprechende Schulgelder. Allerdings fielen auch an den »öffentlichen« Einrichtungen, an denen der Schulmeister (und teilweise weitere Lehrkräfte) durch eine Stiftung finanziert wurde(n), Schulgebühren an. Die Zahl der Schüler war von Schule zu Schule verschieden, ebenso der Ausbildungsstand der Lehrer und – damit verbunden – die Qualität des Unterrichts. Im Zentrum stand die Grammatik, d. h. die Vermittlung von Lesen und Schreiben sowie von Grundkenntnissen des Lateinischen bis hin zur Lektüre von Schulautoren und der Grammatik des Priscian. Dieser grundlegende Lehrplan wurde im ausgehenden Mittelalter an einer Reihe von Schulen durch weitere »Fächer« ergänzt. So gab es Schulen, die sich verstärkt praktischen Fragen zuwandten und z. B. in den sieben »mechanischen Künsten« unterrichteten, die an den Universitäten nicht vertreten waren, in den Bereichen des Handwerks, des Kriegswesens, der Seefahrt, der Geographie und des Handels, des Landbaus und Haushalts, der Tier- und Waldkunde sowie der Heil- und Hofkünste.239 Im Umfeld der italienischen Universitäten wurden Schulen eingerichtet, die der Ausbildung von Notaren, also in der Verwaltung und im Rechtswesen tätigen Schreibern, dienten, für deren Aufgaben sich im Laufe der Zeit feste Normen entwickelt hatten, und in England wurden die Juristen des an den Universitäten nicht vertretenen common law, des englischen Gewohnheitsrechts, an eigenen Rechtsschulen, den Inns of Court, unterrichtet.240 Dazu gab es in den Städten teilweise eigene Schulen für die Kunst des Rechnens, unter anderem mit Hilfe des aus dem arabischen Raum »importierten« Rechenbretts, des abacus, die vor allem für die Kaufmannssöhne von besonderer Bedeutung waren; zudem wurden 237 238 239 240

Chittolini, Stadt C., Sp. 2180. Verger, Schule A., Sp. 1585; vgl. Orme, Schools, S. 341. Für einen Überblick s. immer noch Eis, Fachliteratur, S. 13–43. Costantini, Inns.

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auch Fremdsprachen gelehrt. Das Schulwesen stand vor allem der männlichen Bevölkerung offen, während Mädchenschulen selten belegt sind, so z. B. in Paris um 1360. Der Unterricht an den Grammatikschulen bildete für viele die einzige Stufe der Ausbildung; wo sich für einzelne eine Berufsausbildung anschloss, war dies zumeist durch eine individuelle Übereinkunft zwischen dem Ausbilder und dem Lehrling geregelt. Nur in Ausnahmefällen waren die Grammatikschulen an Universitäten angeschlossen, so in England an die Universitäten in Oxford und Cambridge; aber auch sonst konnten einige Absolventen der Grammatikschulen, vor allem, wenn sie dem Klerus angehörten oder sich ihm anschlossen, ein Studium aufnehmen.241 Grundsätzlich blieb das städtische Schulwesen bis zur Reformation, aber auch noch darüber hinaus, weitgehend kirchlich bestimmt. Sein Ursprung waren die Pfarrschulen, an denen die Pfarrer oder von ihnen beauftragte Geistliche schon seit der Zeit der karolingischen Reformen Knaben oder junge Männer unterrichteten, damit sie sie beim Gottesdienst unterstützen konnten.242 Diese Ausbildung umfasste deshalb Grundkenntnisse des Lateinischen und des Lesens sowie vor allem den Gesangsunterricht. Dieser Aspekt blieb auch an den städtischen Pfarrschulen des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit von so zentraler Bedeutung, dass in vielen Quellen »Schüler« und »Sänger« synonym verwandt werden und dass man aus der Erwähnung von »Schülern« nicht immer auf die Existenz einer eigenständigen Bildungsinstitution schließen darf. Allerdings bildeten die Pfarrschulen in dieser Zeit nur noch einen wenig bedeutenden Teil des kirchlichen Schulwesens in den Städten; sie wurden vor allem von den unentgeltlich unterrichteten Armenschülern besucht, die wesentlich den Chorgesang trugen und dadurch wie durch ihre Ausbildung hofften, eines Tages eine Pfründe als Messpriester erhalten zu können. Eine wichtigere Rolle spielten dagegen die in den Städten angesiedelten Schulen an Kathedralen, Stiften und Klöstern, die sich oftmals gegen die Bezahlung recht hoher Schulgelder auch für die Kinder von Bürgern öffneten. Im Hanseraum galt das unter anderem für die angesehenen Stiftsschulen in Münster, Osnabrück, Minden, Hildesheim, Paderborn, Magdeburg und Halberstadt. Für die bereits angesprochenen Konventsschulen der Bettelorden lässt sich allerdings nicht immer eindeutig feststellen, wieweit sie weltlichen Schülern offenstanden;243 vermutet werden kann dies aber zumindest für die Konvente in Lübeck, Wismar und Stralsund. Das Lehrprogramm an allen diesen Schulen blieb jedoch durch die kirchlichen Bedürfnisse geprägt. Neben der Grundausbildung in Lesen, Schreiben und la241 Verger, Schule A., Sp. 1585–86. 242 Kaemmel, Geschichte, S. 20, 61. 243 Vgl. ebd., S. 41–45.

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teinischer Grammatik sowie in den weiteren Disziplinen des Triviums wurden bestenfalls noch die Fächer des Quadriviums und die Methoden wissenschaftlicher Diskussion von Problemen gelehrt, um damit auf den Besuch der Universitäten vorzubereiten. Dabei spielten somit die speziellen Bedürfnisse der Städte und ihrer Bewohner nur eine untergeordnete Rolle, bei denen Schriftlichkeit nicht nur im Wirtschaftsleben, sondern auch in der Verwaltung der Städte und in ihrer Politik immer mehr an Bedeutung gewann. Die sich entwickelnde Buch- und Rechnungsführung der Kaufleute, die Führung ihrer Geschäfte vom Kontor aus, die einen regen brieflichen Austausch erforderte, die Entwicklung des städtischen Rechts und der Verwaltung, in der verschiedene Stadtbuchserien entstanden, und der diplomatische Austausch der Städte mit den Fürsten und Herren machten nicht nur eine solide grundlegende Ausbildung, sondern auch den Erwerb spezialisierten Wissens erforderlich.244 Diese Kenntnisse und Fähigkeiten konnte das kirchlich geleitete Schulwesen nicht vermitteln, und die im Hanseraum ohnehin nur in kleiner Zahl begründeten privaten Schulen boten dafür keinen Ersatz, ebenso wenig eine denkbare Intensivierung der Berufsausbildung. In dieser Situation entwickelten die Räte der Hansestädte schon früh Pläne für Schulen unter städtischer Kontrolle, wohl auch deshalb, weil sie sich aus der Abhängigkeit von der Kirche in schulischen Belangen lösen und nicht mehr auf Geistliche für die städtischen Kanzleien angewiesen sein wollten. Zu den ältesten städtischen Schulen im Hanseraum zählten die 1252 an der Marktkirche begründete Lübecker Stadtschule sowie die seit 1281 belegte Schule an St. Nicolai in Hamburg. Noch ins 13. Jahrhundert gehören auch die Stadtschulen in Helmstedt (1248/53) sowie in Hannover (1270); im 14. Jahrhundert folgten Schulen in Stralsund (1319), Wismar (1331), Rostock (1337) und Lüneburg (1398).245 Die erheblichen zeitlichen Unterschiede ergeben sich aber nicht nur aus Zufällen der Entwicklung, sondern sind in teilweise mit höchster Intensität geführten rechtlichen Auseinandersetzungen mit den zuständigen kirchlichen Autoritäten begründet, die ähnlich – wie bei der Entstehung der ältesten Universitäten – nicht bereit waren, zugunsten der Städte auf die Kontrolle des Schulwesens zu verzichten. Auch dabei blieb das Papsttum die letzte Instanz, musste doch vielfach ein päpstliches Privileg zur Schulgründung erworben oder die städtische Schulaufsicht in Prozessen an der Kurie durchgesetzt werden, so auch in Hamburg um die Mitte des 14. Jahrhunderts gegen die Ansprüche des Domkapitels, denn die mit Erlaubnis Papst Martins IV. 1281 an St. Nikolai begründete städtische Schule geriet nach dem Einspruch des Domscholasters und achtjährigen rechtlichen Auseinandersetzungen zunächst wieder unter die 244 Kintzinger, Schule – Bildung, S. 592. 245 Überblick u. a. Kaemmel, Geschichte, S. 65–73.

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Oberhoheit des Kapitels, obwohl der Papst den Vertretern und den Ältesten der Gemeinde zunächst ausdrücklich das Recht zur Einsetzung und Absetzung des Schulmeisters gegeben hatte.246 Auch die Lübecker Gründung musste gegen das Domkapitel durchgesetzt werden. So wurde den Lübeckern 1262 nur eine Elementarschule bei St. Jakobi gestattet, für die der Rat bestenfalls ein Präsentationsrecht und die Zuständigkeit für das Schulgebäude erhielt, die Schulmeister aber nicht eigenständig einsetzen konnte.247 Diese Situation wurde noch im Jahr 1300 ausdrücklich bestätigt, obwohl die Lübecker in dieser Zeit ohne Erlaubnis zwei weitere Elementarschulen gegründet hatten. Ein Entgegenkommen erreichte der Rat nur in der Frage des Lehrplans,248 bis er schließlich im Laufe des 14. Jahrhunderts die Kontrolle über die Schulen gewann. Auch anderenorts gab es langwierige Auseinandersetzungen. In Braunschweig gelang so die Gründung einer städtischen Schule nach langen Konflikten erst 1419/20; aber auch in anderen Städten lassen sich erst im 15. Jahrhundert die ersten städtischen Schulen nachweisen, so 1428 in Reval, 1467 in Hildesheim, 1469 in Stettin und 1494 in Göttingen.249 In vielen Auseinandersetzungen zwischen den Städten und den zuständigen kirchlichen Autoritäten spielten vorgeschobene Argumente eine große Rolle, so 1252 in Lübeck und mehrfach danach das Argument des zu weiten Schulwegs, während Bildungsinhalte und Struktur der kirchlichen Schulen nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurden. Aber auch nach der Lösung aus der kirchlichen Oberaufsicht blieben die städtischen Schulen vielfach kirchlichen Institutionen verbunden.250 Das zeigt sich zum einen an der räumlichen und selbst organisatorischen Nähe vieler dieser Schulen zu den Pfarrkirchen, die allerdings nicht allein in der Frömmigkeit der Bürger begründet war, sondern wohl vor allem auf das Faktum hinweist, dass auch die Pfarrkirchen im ausgehenden Mittelalter in mancher Hinsicht städtische, von den Bürgern kontrollierte und bewirtschaftete Einrichtungen waren. Zum anderen blieb jedoch auch der Unterricht an den städtischen Schulen den kirchlichen Vorbildern verpflichtet, und zwar nicht nur durch die Übernahme des Wissenschaftsschemas der artes liberales, sondern auch durch das Bild des Lehrers, der selbst im weltlichen, städtischen Raum seinen geistlichen Charakter bewahrte. Dieses Phänomen hat sicher seine Ursache darin, dass sich der Übergang vom kirchlich geleiteten zum städtischen Schulwesen ungeachtet der Konflikte fast überall kontinuierlich vollzog, dass also während der Übergangsphase in der Ausbildung fehlende Aspekte wohl durch Privatlehrer und in 246 247 248 249 250

Wriedt, Schulen, S. 160. Ebd., S. 159. Bruchhäuser, Kaufmannsbildung, S. 291–92. Kintzinger, Schule – Bildung, S. 593. Wriedt, Schulen, S. 155.

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anderer Form vermittelt wurden, während der kirchlich geprägte Lehrplan seine Gültigkeit behielt und schließlich in ergänzter Fassung übernommen wurde. Eine wesentliche Neuerung der städtischen Schulen war allerdings der Unterricht auch in der Volkssprache. So machten viele der mit Erlaubnis des Rates unterrichtenden Privatlehrer ihre Schüler nicht nur mit der Abfassung von Briefen und Texten in lateinischer Sprache, sondern auch in deutscher Sprache vertraut, und in einer späten Phase der Entwicklung, im 15. Jahrhundert, wurden sogar eigene deutsche Schreibschulen begründet, wenn sie nicht schon vorher – wie in Braunschweig seit 1420 – ohne formelle Billigung der Autoritäten bestanden.251 In einigen Städten konnten diese Schulen im Laufe des 15. Jahrhunderts neben den länger bestehenden städtischen Lateinschulen eingeführt werden, so etwa in Lübeck, in Stettin und dann 1477 in Hamburg, in anderen kam es jedoch zu großen Problemen bei ihrer Durchsetzung, so dass z. B. Lüneburg und Rostock noch im Laufe des 16. Jahrhunderts keine eigenen deutschsprachigen Schulen hatten.252 In der Reformation sollte jedoch der deutschsprachige Unterricht aufgewertet und zusammen mit dem lateinischen auf eine neue Grundlage gestellt werden, die auch den praktischen Anforderungen an das Bildungswesen besser entsprach. Damit sollten vor allem die weiter bestehenden Privatschulen eingeschränkt werden, die der Reformator Johannes Bugenhagen als »Winkelschulen« abqualifizierte; zugleich wurden erstmals systematische Schritte für eine Ausbildung der Mädchen unternommen, auch wenn diese inhaltlich und von den Ansprüchen deutlich hinter der Schulbildung der Jungen zurückblieb. Obwohl sich im städtischen Kanzleigebrauch seit dem 14. Jahrhundert Papier mehr und mehr durchsetzte, blieben in den Schulen die schon seit der Antike gebrauchten Wachstafeln der wichtigste Beschreibstoff. Wenn etwa der Biograph Karls des Großen, Einhard, berichtet, der Kaiser habe »Tafel und Büchlein im Bett unter dem Kopfkissen bei sich [geführt] …, um in müßigen Stunden seine Hand an das Nachmachen von Buchstaben zu gewöhnen«,253 darf man sich die ersten Bemühungen der spätmittelalterlichen Schüler um Lesen und Schreiben wohl so ähnlich vorstellen. Das in eine ausgehöhlte Holztafel eingelassene Wachs wurde mit der spitzen Seite eines Griffels beschrieben und konnte – solange es noch relativ weich war – mit seiner stumpfen Seite leicht wieder geglättet werden; Wachstafeln waren also ideal für Übungszwecke. Bei Ausgrabungen in mittelalterlichen Städten hat man immer wieder einzelne Exemplare oder auch zusammengebundene »Hefte« gefunden, so z. B. in Lübeck, wo die Tafeln um die Mitte des 14. Jahrhunderts Schreib-, Alphabet- und 251 Zu Braunschweig vgl. Kintzinger, Bildungswesen. 252 Zur Abgrenzung s. Bleumer, Schulmeister, S. 80–82. 253 Einhard, Vita, S. 197.

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Grammatikübungen an der städtischen Lateinschule bei St. Jacobi belegen.254 Diese Tafeln enthalten jedoch auch interessante Stilübungen, die die besonderen kaufmännischen Aspekte der Ausbildung belegen. Dazu gehört der Geschäftsbrief eines Kaufmanns Johann von Dulmen an einen gleichnamigen Partner, dem er mitteilt, dass er ihm Waren für zwei namentlich benannte Kaufleute übersende, sowie eine Anfrage nach möglichen Geschäftspartnern in Thüringen und Frankfurt, wo mit Stockfisch und Heringen Handel getrieben werden sollte. Weitere Übungen betrafen die Abfassung von Ratskorrespondenz, die sich unter anderem auf den zur Fundzeit (um 1370) geführten Krieg mit Dänemark bezieht, sowie Entwürfe von Urkunden, wie sie in der Kanzlei Lübecks in dieser Zeit ausgefertigt wurden. Das hat in der Forschung, unter anderem bei Fritz Rörig, zur Vermutung geführt, dass an der Schule nicht nur der kaufmännische Nachwuchs, sondern auch das künftige Kanzleipersonal ausgebildet wurde, aber auch die Universitäten spielten dafür eine Rolle. Es ist in diesem Zusammenhang sicher kein Zufall, dass in einigen Städten, unter anderem in Lübeck, Wismar und Stralsund, zeitweilig der jeweilige Stadtschreiber auch als Schulmeister belegt ist.255 Wenn sich auch um 1370 in der Korrespondenz des Rates allmählich das Niederdeutsche durchzusetzen begann, spielte doch das Lateinische noch lange vor allem für den Austausch mit den europäischen Mächten eine wichtige Rolle, und obwohl der kaufmännische Bereich dabei voranging, sind doch die älteren Kaufmannsbriefe und Handlungsbücher fast ausschließlich in lateinischer Sprache niedergelegt. Man kann sicher davon ausgehen, dass die damit fassbaren Lateinkenntnisse der Kaufleute zumindest teilweise auf den städtischen Lateinschulen erworben wurden. Ähnliche Konflikte um das kirchliche Bildungsmonopol wie im Hanseraum hatte es z. B. in Flandern schon seit dem 12. Jahrhundert gegeben. Dagegen kam es im oberdeutschen Raum kaum zu schweren Auseinandersetzungen, da insbesondere in den Reichsstädten dem Rat schon früh die Aufsicht über die Schulen zufiel. So kann man z. B. in allen 18 Reichsstädten Württembergs städtische Schulen nachweisen, selbst wenn der Zeitpunkt auch hier teilweise relativ spät liegt, im Falle Heilbronns z. B. erst 1431.256 Das Beispiel Esslingens macht jedoch deutlich, dass die Entwicklungen im oberdeutschen Raum sich nicht grundsätzlich von denen im Norden unterschieden. Esslingen war im späten Mittelalter ein wirtschaftliches Zentrum, das auch eine Reihe von Klöstern anzog, so unter anderem sechs Konvente der Bettelorden, Dominikaner, Franziskaner, Augustiner, Karmeliter, Clarissen sowie Do254 Kintzinger, Schule – Bildung, S. 594; Wriedt, Schulen, S. 165. 255 Bruchhäuser, Kaufmannsbildung, S. 295–92. 256 Holtz, Schule, S. 441.

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minikanerinnen. Überhaupt wurde das Stadtbild von Kirchen, Kapellen und Klöstern bestimmt. Die älteste Esslinger Schule war – wie in vielen anderen Städten auch – die an der Pfarrkirche der Stadt. Dort wurden jedoch vor allem künftige Priester ausgebildet, die den Pfarrer beim Chorgesang und bei Prozessionen unterstützten. Daneben entstand im 13. Jahrhundert eine Lateinschule, deren Leiter erstmals 1267 bzw. 1279 fassbar werden. Der 1279 bis 1281 als Schulmeister bzw. rector scolarum belegte Magister Heinrich war wahrscheinlich noch ein Kleriker, wie auch in dieser Zeit die Schule wohl noch unter kirchlicher Aufsicht stand. Dies änderte sich erst im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts. Ein wichtiger Schritt war zweifellos die Errichtung einer neuen Schule neben dem Dominikanerkloster, für die die Stadt 1326 ein Grundstück erwarb und die aus dem Vermögen der Pfarrkirche finanziert wurde, das zu diesem Zeitpunkt bereits unter städtischer Kontrolle stand. Wahrscheinlich ging schon damit das Patronat über die Schule an die Stadt über, die fortan die Schulmeisterstelle besetzen sowie Ordnungen und Lehrpläne erlassen konnte und zudem die Pflicht hatte, für die Bezahlung und Unterbringung des Schulmeisters zu sorgen. Eindeutige Nachweise für die städtische Kontrolle des Schulwesens finden sich dann aus dem 15. Jahrhundert. So wird z. B. zu 1406 der »Schulmeister der Stadt Esslingen« namentlich genannt, und 1452 bewarb sich ein Georg Jeger mit einem Schreiben an Bürgermeister und Rat Esslingens um das freigewordene Rektorenamt. Diese städtische Kontrolle schloss jedoch enge Beziehungen zur Kirche nicht aus. Vielmehr war z. B. der Schulmeister der Lateinschule während der Jahre 1408–1414, Magister Hermann Berminter, auch für die Kirche tätig und wechselte später sogar ganz ins Pfarramt über, das er schließlich 1451 aufgab; und einer seiner Vorgänger, Walter Griesbach, 1389 und 1391 nachgewiesen, nahm zwischen 1403 und 1434 die Aufgaben eines Stadtpfarrers wahr, um dann 1437–38 als Dekan, als Repräsentant des Speyerer Domkapitels in Esslingen, in den Quellen zu erscheinen. Daneben gab es jedoch auch verheiratete Schulmeister, bei denen es sich bestenfalls um Kleriker mit niederen Weihen, vielleicht aber eher um Personen weltlichen Standes handelte. Den hohen Rang, den Bürgermeister und Rat der Schule zuwiesen, belegt die Tatsache, dass immerhin zehn der 14 bekannten Schulmeister vor der Reformation einen universitären Abschluss, den magister artium, vorweisen konnten. Dagegen gewannen die Bettelorden kaum Einfluss auf das städtische Bildungswesen. Obwohl z. B. die Esslinger Dominikaner dauerhaft ein regional bedeutsames Partikularstudium in ihrem Kloster einrichten konnten und die Augustiner-Eremiten Ende des 14. Jahrhunderts in Esslingen zeitweilig verstärkt Grammatikunterricht betreiben wollten, wirkten die Orden wohl allein durch ihre Predigten auf die Bürger ein. Waren auch im oberdeutschen Raum ähnlich

Die Entstehung und frühe Entwicklung der städtischen Schulen

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wie im Norden in einigen Städten zeitweise Stadtschreiber und Schulmeister identisch, spielte der zwischen 1447 und 1469 in Esslingen tätige Stadtschreiber Niklas von Wyle († 1479) für die Stadt eine besondere Rolle.257 Wyle war ein gebürtiger Schweizer, der in Wien und vielleicht auch in Pavia studiert hatte und nach einer Tätigkeit als Schulmeister in Zürich und danach, wenn auch nur kurz, als Ratsschreiber in Nürnberg nach Esslingen kam. Dort war er nicht nur als Stadtschreiber, sondern gewissermaßen als »freier« Schulmeister tätig. Da er für die städtische Kanzlei auch Gehilfen anzulernen hatte, richtete er seine Ausbildung darauf aus, dass seine Schüler anschließend die Stadt- und Kanzleischule in Ulm besuchen konnte, um sich dort endgültig im Kanzleidienst ausbilden zu können. Zugleich haben sich zahlreiche Schreiben erhalten, mit denen Wyle seine Absolventen für die Stellen von Schulmeistern und Schreibern sowie für ein Studium empfahl. Die Grundlage der Ausbildung Wyles wird aus einer Sammlung von Übersetzungen aus dem Lateinischen deutlich, die er 1478 im Druck veröffentlichte. Sie umfassen sowohl unterhaltende Novellen wie auch belehrende Texte, die zumeist von den italienischen Humanisten des 14. und 15. Jahrhunderts stammen; aber auch ein Werk Bernhards von Clairvaux ist darunter. Mit den Übersetzungen wollte er das Interesse der Schüler wecken, in der Hoffnung, dass sich diese dann eigenständig den humanistischen Autoren zuwenden würden. Ihnen sollten durch die Lektüre vor allem die rhetorischen Elemente nahegebracht werden; daneben wurde aber auch den ethischen Prinzipien und der Zuwendung zum allgemeinen Nutzen ein eigener Platz zugewiesen. Wie bei den Humanisten ging es ihm in der Ausbildung um den »ganzen Menschen«.258 Seine Tätigkeit belegt zusammen mit anderen Zeugnissen die frühe Ausbreitung der humanistischen Gedankenwelt im deutschen, speziell im oberdeutschen Sprachraum. Insgesamt blieb hier aber die Ausbildung den kirchlichen Normen und Idealen stärker verpflichtet als im Norden; die Absolventen der nunmehr städtischen Lateinschulen wurden lange, noch bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, auf eine klerikale Laufbahn vorbereitet. Eine »Verweltlichung« dieser Schulen setzte z. B. in Nürnberg erst um 1500 ein, allerdings wurden dort die deutschsprachigen, an den Interessen der Bürger orientierten Schulen teilweise früher als im Hanseraum eingerichtet.259 Diese und die Spezialschulen gewannen bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts gegenüber den älteren Lateinschulen mehr und mehr an Bedeutung, wie dies z. B. der Autobiographie des Nürnbergers Hieronymus Koeler des Älteren zu entnehmen ist. Koeler ging anfangs im Alter von acht Jahren auf die Lateinschule an St. Lorenz, um dann 1520 auf die deutschsprachige 257 Zu ihm u. a. Greule, Kanzlist. 258 Holtz, Schule, S. 458. 259 Bruchhäuser, Kaufmannsbildung, S. 288.

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Das Schulwesen des späteren Mittelalters

Schule zu wechseln, um, wie es seiner Autobiographie heißt, lesen und cantzleischs schreiben zu lernen, zu dem erbarn und künstreichen herren Johann Newdorfer […].260 Daran schloss sich noch eine Ausbildung in der »Rechenkunst« an. Während in anderen oberdeutschen Städten, etwa 1403 in Rothenburg, 1488 in Schweinfurt und 1491 in Bamberg, die Gründung deutschsprachiger Schulen auf die Initiative des Rates zurückging, zeichnete sich Nürnberg durch eine Besonderheit aus: Diese Schulen waren ein freies Gewerbe, das sich nur den Regeln der Nürnberger Gewerbeordnung unterwerfen musste und dessen Qualität bei der Konzessionierung durch den Rat geprüft wurde. Da der Bedarf an Schulmeistern, Schreibern und Rechenmeistern im deutschsprachigen Schulwesen ständig wuchs, ging man schließlich sogar dazu über, fremde Lehrer durch den teilweisen Erlass der Bürgersteuer zur Niederlassung zu bewegen. Das Vordringen der deutschsprachigen Schulen wurde dann aber durch die Reformatoren auch mit Sorge betrachtet. So warnte z. B. Luther 1530 in seiner dem Nürnberger Syndikus Lazarus Spengler gewidmeten Predigt, das man kinder zur Schulen halten solle, vor der damit möglicherweise verbundenen Aufgabe des Lehrprogramms der artes liberales und forderte dazu auf, sich den artes gerade wegen der Ausbildung künftiger Theologen und Juristen wieder stärker zuzuwenden.261 Die Erneuerung des Lateinunterrichts hatte zu diesem Zeitpunkt aber bereits aus einer anderen Richtung begonnen, durch die humanistischen Lehrprogramme.

III.

Die Umsetzung der humanistischen Bildungsideale

Das spätere Mittelalter war nicht nur ein Zeitalter der Expansion der Bildung, wie sie in den städtischen Schulen fassbar wird, es war auch, wie dies für viele Phasen der Geschichte gilt, auch unsere eigene, ein Zeitalter der Bildungsreform. Die Impulse dazu gingen von sehr unterschiedlichen Strömungen aus. So empfanden viele vor allem die Ausbildung an den Artistenfakultäten der Universitäten als unzulänglich und suchten deshalb das Elementarschulwesen zu verbessern. Im Nordwesten Europas, vor allem in den Niederlanden, spielte dabei die religiöse Erneuerungsbewegung der Devotio moderna, der »neuen Frömmigkeit«, eine zentrale Rolle. Der Devotio moderna, insbesondere den »Brüdern und Schwestern vom gemeinsamen Leben« unter ihrem Gründer Gerhard Groote († 1384), 260 Edition Amburger, Familiengeschichte, S. 214; vgl. Bruchhäuser, Kaufmannsbildung, S. 297. 261 Luther, Predigt, D [1]: Wo wolten Prediger und Juristen und Ertzte komen, wo nicht die Grammatica und ander rede kuenste fur handen weren. Aus diesem brunne muessen sie alle her fliessen.

Die Umsetzung der humanistischen Bildungsideale

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ging es um eine innerliche, persönliche Frömmigkeit, die auf Christus ausgerichtet war, wobei der Bibellesung besonderer Wert zugemessen wurde.262 So äußerte sich der Reformimpuls der Devotio moderna nicht nur in der Erneuerung des Klosterlebens durch die Windesheimer Kongregation, sondern auch in der Einrichtung von großen Grammatikschulen, vor allem in Deventer. In diesen wurde nicht nur eine mit religiösen Übungen verbundene strengere Disziplin durchgesetzt, sondern es wurden zugleich Ansätze für eine neue Pädagogik entwickelt, die zum einen unmittelbar auf die Texte der Kirchenväter zurückgriff, zum anderen aber im Gegensatz zu anderen Schulen eine Einteilung der Schüler nach ihrem Alter vornahm. Spiegeln sich schon im Reformprogramm der Devotio moderna humanistische Züge, so waren es in Italien vor allem die Vertreter des Humanismus, die im 15. Jahrhundert zu einer Erneuerung des Schulwesens beitrugen. Mit Hilfe der Fürsten und der Stadtrepubliken entstanden neue Schulen, für die ein humanistisches Bildungsprogramm entwickelt wurde, das das Studium der antiken Autoren, der griechischen Sprache und der Rhetorik zur Grundlage machte und auch den besonderen Wert der moralischen und religiösen Prägung der Schüler hervorhob.263 Zu den bedeutendsten Lehrern in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gehörten Guarino de’ Guarini (1374–1460) sowie Vittorino de’ Rambaldoni da Feltre (1378–1446). Guarino hatte zunächst in Griechenland die griechische Sprache erlernt, bevor er zunächst kurz in Florenz, dann in Venedig und schließlich seit 1429 im von den Este beherrschten Ferrara lehrte. In Ferrara war er sowohl an der Universität wie auch an der Schule des Fürsten tätig, wo er neben den Kindern des Fürsten und anderer Adelsfamilien auch eine Gruppe armer Scholaren unterrichtete, die ohne Schulgeld zugelassen waren. Obwohl Guarino die alten Textbücher benutzte, waren seine pädagogischen Methoden neu. So hielt er seine Schüler nicht nur nachdrücklich zum Studium der antiken Texte und zum Aufbau ihrer intellektuellen Fähigkeiten an, sondern versuchte ebenso, dazu beizutragen, dass sich ihr soziales Verhalten verbesserte und ihre physischen Kräfte wuchsen. Damit war er einer der energischsten Verfechter eines »ganzheitlichen« Menschenbilds. Während Guarino neben seiner Lehrtätigkeit noch Zeit für zahlreiche Schriften fand, hat sich von seinem Zeitgenossen Vittorino da Feltre wenig erhalten.264 Auch Vittorino wurde von einer bedeutenden italienischen Adelsfamilie unterstützt, den Gonzaga in Mantua, und auch er unterrichtete am Hof des Fürsten dessen Kinder, andere adlige Schüler sowie eine Gruppe von begabten, aber armen Knaben, in einem eigenen Gebäude, das La casa gioiosa, das »freu262 Allgemein Elm, Devotio. 263 Verger, Schule A., Sp. 1586. 264 Woodward, Vittorino, S. xxvii–xxviii.

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Das Schulwesen des späteren Mittelalters

denreiche Haus«, genannt wurde.265 Der Schwerpunkt seiner Ausbildung lag auf dem lateinischen Grammatikunterricht und auf der Auseinandersetzung mit Cicero, die zugleich auf die moralischen Pflichten bei der Übernahme öffentlicher Aufgaben vorbereiten sollte. In seinen Methoden unterschied sich nur wenig von Guarino, gab aber auch Spielen und adligen Vergnügungen Raum. Sein Bildungskonzept unterschied sich allerdings in einer Hinsicht radikal von den geistlich geprägten Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters: Wie aus einem seiner wenigen erhaltenen Briefe hervorgeht, betonte er im Anschluss an Cicero den besonderen Wert des aktiven Lebens, in dem er »alles Lob der Tugend« vereint sah. Diese Aufwertung der vita activa gegenüber der von den Älteren betonten kontemplativen Lebensführung markiert ein wesentliches Element des humanistischen Reformimpulses. Bildung, vorher Aufgabe des Mönchtums und der Weltkleriker, wurde damit Teil des adligen Wertekanons; es war diese »Aufwertung« klassischer Bildung, die die humanistischen Ideale für die fürstlichen Familien wie auch für die Führungsschichten der Stadtrepubliken Italiens attraktiv werden ließ.266 Eine nahezu »klassische« Repräsentation dieser Entwicklung ist das Gemälde von Joos von Wassenhove aus den Jahren um 1476, das Federigo da Montefeltro, den Herzog von Urbino, zeigt, wie er seinen noch sehr jungen Sohn Guidobaldo unterrichtet. Den Ausgangspunkt der humanistischen Ideen bildeten allerdings nicht die Fürstenhöfe, sondern vielmehr die Stadtrepubliken Italiens, insbesondere Florenz. Nachdem sich die italienischen Gelehrten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nicht zuletzt durch das Engagement Petrarcas mehr und mehr dem Studium der antiken Autoren zugewandt hatten, war es Coluccio Salutati, der Florenz zu einem Zentrum der neuen Bildungsideale machte. Salutati, ein Notar aus einem Dorf bei Lucca, wurde 1375 zum Kanzler von Florenz berufen und übte dieses Amt bis zu seinem Lebensende 1406 aus, also rund 30 Jahre. In dieser Position gewann er entscheidenden politischen Einfluss auf die Geschicke der Stadtrepublik, den er unter anderem dazu nutzte, die von Petrarca propagierte Beschäftigung mit den antiken Schriftstellern zu fördern. Obwohl er selbst nicht zu den führenden Gelehrten der Zeit zählte, gingen von ihm somit wichtige Anregungen aus. Im Zentrum seiner Aktivitäten stand eine besondere Form von Bildungsinstitution, ein gelehrter Zirkel, der sich im florentinischen Augustinerkloster Santo Spirito traf, um sich mit moralischen und philosophischen Problemen auseinanderzusetzen. Dieser Kreis stand zunächst unter der Leitung von Luigi Marsili; seit dessen Tod 1394 war Salutati das führende Mitglied der Gruppe. Zu ihr gehörten zum einen jüngere Gelehrte, zum anderen aber auch jüngere Mitglieder des Floren265 Ebd., S. 31–34. 266 Hay, Law, Italy, S. 303.

Die Umsetzung der humanistischen Bildungsideale

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tiner Patriziats. Salutati, der den anderen ein Vorbild gab, verband dabei seine politischen und ökonomischen Aktivitäten mit seinen gelehrten Interessen. Die Mitglieder der Gruppe trafen sich regelmäßig zu Gesprächen und Diskussionen über aktuell interessierende Fragen, tauschten sich intensiv über antike Literatur aus und konnten dabei auf die gut ausgestattete private Bibliothek des Kanzlers zurückgreifen.267 Erst der Einsatz Salutatis machte die wissenschaftliche Betätigung »salonfähig«, doch noch wesentlicher war, dass zum gelehrten Zirkel in Santo Spirito und damit zu Salutatis Schülern die künftigen führenden Köpfe der jüngeren humanistischen Bewegung zählten, Leonardo Bruni, Pietro Paolo Vergerio und Poggio Bracciolini. Sie führten am Anfang des 15. Jahrhunderts eine intellektuelle Revolution herbei, insbesondere Leonardo Bruni, der sich vom älteren, von Salutati verkörperten Humanismus löste und bürgerliche Vorstellungen in den Mittelpunkt stellte. Ein wesentliches Instrument dafür war eine neue Sicht der Geschichte, die sich von der bisherigen, am linearen Verlauf von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht orientierten, Vorstellung abwandte und zwei republikanische Staatsbildungen, die Römische Republik und die Stadtrepublik von Florenz, durch ihre weltlichen Erfolge als besonders ausgezeichnet ansah.268 Die Erfahrungen aus der Geschichte sollten dabei auch für die Gegenwart nutzbar gemacht werden. Die Wirkung Salutatis und Brunis machte sich schon bald in einem veränderten Bildungskanon der städtischen Aristokratie bemerkbar. Hatte sich vor 1400 nur eine kleine Minderheit mit dem Studium des Lateinischen beschäftigt, stellte der Kaufmann Giovanni di Pagolo Morelli um 1420 in seinen Memoiren für seine Söhne ein Bildungsprogramm zusammen, das sich nicht auf Lesen, Schreiben und Rechnen beschränkte. Danach sollten sie »jeden Tag wenigstens eine Stunde Vergil, Boethius, Seneca und andere Autoren lesen […]. Beginnt eure Studien mit Vergil, […] dann verbringt einige Zeit mit Boethius, mit Dante und den anderen Dichtern, mit Tullius [Cicero], der euch lehren wird, vollkommen zu sprechen, mit Aristoteles, der euch in Philosophie unterweisen wird. […] Lest und studiert die Bibel, erfahrt alles über die großen und herrlichen Taten, die unser Herrgott durch die Propheten vollbracht hat. […] Euer Geist wird Trost und Freude daraus beziehen. Ihr werdet lernen, die Welt geringzuschätzen und werdet euch nicht sorgen müssen, was mit euch geschehen mag […]«.269

Vermischen sich in diesem Lehrprogramm noch scholastische und humanistische Texte und Ziele, sollte sich dies spätestens in der nächsten Generation ändern. Der große Humanist, Autor und Künstler Leon Battista Alberti († 1466) 267 Brucker, Florenz, S. 281. 268 Witt, Coluccio, S. 162. 269 Morelli, Ricordi, S. 225–26; engl. Übers. bei Brucker, Florenz, S. 289.

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Das Schulwesen des späteren Mittelalters

hat um 1435 in seinen Abhandlungen über die Familie einen Lehrplan umrissen, der sich allein auf die antiken Autoren stützte und keine Hinweise auf die Bibel oder christliche Schriftsteller mehr enthält.270 Wie schon die Wirksamkeit des Niklas von Wyle in Esslingen deutlich gemacht hat, gewannen seit der Mitte des 15. Jahrhunderts humanistische Tendenzen allmählich auch an nordalpinen Bildungszentren an Bedeutung. Eine wichtige Rolle dabei spielte die Erfurter Universität. Dort kam es zu Verschiebungen innerhalb des Triviums, im Wesentlichen ohne größere Änderungen in den Statuten, wobei z. B. allerdings 1489 erlassene Regelungen die Rolle der Rhetorik wieder stärker betonten.271 Von größerer Bedeutung war jedoch nun eine intensive Beschäftigung mit dem Lateinischen. So hob später z. B. der Humanist Jakob Wimpfeling, der 1468/69 ein Jahr in Erfurt studiert hatte, die Rolle des Lateinstudiums im Erfurter Schulbetrieb hervor, und einige der Erfurter Magister hielten Anfang der 1470er Jahre Vorlesungen über ein lateinischdeutsches Wörterbuch, über Metrik, Poetik und die Kunst des stilistisch eleganten Schreibens, die ars scribendi. Schon 1469 zogen die in kleinerem Kreis gehaltenen Vorlesungen über Poetik, Rhetorik und klassische Autoren so viele Hörer an, dass man beschloss, künftig alle derartigen Verstaltungen der Mitglieder der Fakultät nur noch öffentlich im Collegium maius abzuhalten. Unter den dabei genannten Autoren erscheinen Cicero, Valerius Maximus und Sallust, aber auch Vergil, Ovid und Terenz. Zu einem Zentrum humanistischer Studien wurde aber auch die 1477 gegründete Mainzer Universität. Ihre wichtigsten Vertreter waren der Mediziner Dietrich Gresemund von Meschede, der in Erfurt studiert hatte,272 sowie sein gleichnamiger Sohn, ein Jurist, der aber auch das Lehrprogramm der Artistenfakultät beeinflusste. So verfasste er schon im Alter von 16 Jahren ein Lehrgedicht, die Lucubratiunculae bonarum septem artium liberalium, die »kleinen Nachtarbeiten über die guten sieben freien Künste«. Ähnlich wie das »klassische« Werk des Boethius stellen sie einen Dialog des Autors mit der Philosophie dar, in dem grundlegende Forderungen an die Ausbildung der Artisten formuliert werden. Dietrich fordert darin nicht nur die Rückkehr zur klassischen Latinität, sondern auch die Zuwendung zum Studium der griechischen Sprache. Darüber hinaus erweitert er den Fächerkatalog des einstmals von Martianus Capella festgelegten Triviums; neben Grammatik, Rhetorik und Logik, die als studia humanitatis verstanden wurden, sollten Poesie und Historie treten. In Mainz und anderenorts wurden die überkommenen Fächer und Lehrinhalte durch neue, humanistische Disziplinen ergänzt, aber in der Regel im 270 Vgl. Leon Battista Alberti, Libri, 1, S. 82–88. 271 Das und das Folgende nach Sarnowsky, artes, S. 74–76. 272 Steiner, Artistenfakultät, S. 402–04 und ff.

Die Umsetzung der humanistischen Bildungsideale

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Lehrplan beibehalten – sie sollten noch bis zu den großen Studienreformen des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielen. Dies machen auch die ersten erhaltenen Statuten der Mainzer Artistenfakultät von 1535 deutlich.273 In Mainz wurde dadurch ähnlich wie z. B. in Tübingen, Ingolstadt und Freiburg den jungen Scholaren ein sogenanntes »Pädagogium« vorgeschrieben, das auf das eigentliche Studium vorbereiten sollte und vor allem Kenntnisse in Grammatik und Rhetorik vermittelte. Zwar wurde weiterhin das Lehrbuch des Donatus zugrunde gelegt, das Grammatik und Rhetorik gleichermaßen berücksichtigt, doch wurden daneben schon in dieser frühen Phase antike Dichter behandelt, z. B. Terenz für die Grammatik, Vergil für die Poetik; dazu kam eine erste Beschäftigung mit den Schriften Ciceros. Dies wurde dann in der Ausbildung der Bakkalare in den artes vertieft, die neben den logischen Werken des Aristoteles Dialektik nach eine Einführungsschrift des Kölner Humanisten Johannes Caesarius sowie Rhetorik anhand von Schriften Quintilians, Ciceros und des Humanisten Rudolf Agricola lernen sollten. Im Zuge dieser humanistischen Neuerungen gewann auch die Geschichte erstmals den Rang einer universitären Disziplin. So war seit 1513/14 Nikolaus Fabri in Mainz Lektor für Geschichte und las vor allem über die römischen Historiker, unter anderem über Livius, Valerius Maximus, Sallust und Sueton. Auf ihn geht z. B. eine Neuausgabe der Werke des Livius zurück, die bisher noch nicht bekannte Teilen der »Römischen Geschichte« enthielt. Mainz war allerdings eine Ausnahme, denn an den Artistenfakultäten der meisten anderen Universitäten wurden Historie, Rhetorik und Poetik an einem Lehrstuhl vereint. Weniger spektakulär waren die Veränderungen im Bereich der Moralphilosophie, auch wenn die Humanisten auf die ethische Komponente der Ausbildung immer besonderen Wert gelegt hatten. In Ingolstadt wurde sie sogar kurzzeitig zugunsten intensivierter Rhetorikkurse aus dem Lehrplan genommen, bevor sie dann wieder an einem von zwei Lehrstühlen der Philosophie präsent war; und in Mainz kam es in gewissem Sinne sogar zu einer »Abwertung«, als die Moralphilosophie um 1500 ihre eigenständige Stellung an der Artistenfakultät verlor und mit den Fächern des Triviums verbunden wurde. Dies trat ein, als der humanistisch gesonnene Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg 1501 Johannes Rhagius Aesticampianus auf eine von ihm bezahlte Lektur für Rhetorik und Moralphilosophie berief.274 Nach dem Weggang dieses Humanisten 1506 zur neugegründeten Universität in Frankfurt a. O. verlor die Verbindung von Rhetorik und Moralphilosophie wieder an Bedeutung, zumal beides um 1535 an getrennten Lehrstühlen unterrichtet wurde. Doch blieb die Moralphilosophie wie die neuen Disziplinen der Poetik und der Historie auch in der späteren Ent273 Ebd., Anlage 4, zum Folgenden s. ebd., S. 561–63 und 580. 274 Fleischer, Johannes.

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Das Schulwesen des späteren Mittelalters

wicklung mit dem Trivium verbunden. Die angeführten Auswirkungen der humanistischen Reformvorstellungen auf den Lehrplan der Universitäten belegen, dass sich die Bildungsgeschichte auch als eine Abfolge von Lehrprogrammen beschreiben lässt.

6.

Lehrpläne und Studienordnungen

Schon im Überblick über die Geschichte der Bildungsinstitutionen von den Klosterschulen des frühen bis zu den humanistisch geprägten Schulreformen des ausgehenden Mittelalters wurden immer wieder Bildungsprogramme, Lehrbücher und -methoden an einzelnen Schulen und Institutionen angesprochen. Es soll in diesem Kapitel der Versuch unternommen werden, diese Lehrpläne und Studienordnungen noch einmal im Zusammenhang der Entwicklung darzustellen, bevor es um die Geschichte der verschiedenen Disziplinen gehen kann. Dabei wird auf viel Vertrautes zurückzukommen sein, nicht nur auf schon angesprochene Autoren, sondern auch auf den wesentlichen Ausgangspunkt der Entwicklung, das Programm der sieben »freien Künste«, der artes liberales. Bereits dieses Schema grundlegender Disziplinen entsprang dem spätantiken Bedürfnis, das angesammelte Wissen zu ordnen und überschaubar zu machen. Es hat seine Wurzeln schon in der römischen Kaiserzeit, in der erste Versuche unternommen wurden, einen Wissenskanon zu definieren, wenn auch jeweils aus unterschiedlicher Perspektive. So suchte z. B. Vitruv (Marcus Pollio Vitruvius) in seinem 25 v. Chr. entstandenen und Augustus gewidmeten grundlegenden Werk über die Architektur jene theoretischen Aspekte zu definieren, die sich ein Architekt für seine spätere Tätigkeit aneignen sollte. Danach sollte er literarische Bildung besitzen, Zeichnen und Geometrie beherrschen, Kenntnisse der Geschichte und der Philosophie haben, mit der Musik vertraut sein und schließlich Wissen in den Bereichen Medizin, Recht und Astronomie erworben haben.275 Diese Disziplinen wurden jedoch von ihm immer schon in bestimmtem Sinne verstanden. So werden von ihm Arithmetik und Optik unter Geometrie subsumiert und wesentlich auf die Bedürfnisse der Architektur eingeschränkt; Geschichte reduziert sich auf die Kenntnis von Symbolen und Attributen historischer Gestalten; Philosophie meint vor allem praktische Ethik und Physiologie; Musik beschränkt sich auf Akustik und mechanische Probleme; und auch die 275 Dolch, Lehrplan, S. 62.

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Lehrpläne und Studienordnungen

anderen Fächer sind wesentlich auf die für einen künftigen Architekten wesentlichen Fragen eingeschränkt. Zwar verstand Vitruv die Ausbildung des Architekten bereits als Einheit, doch stehen seinen Überlegungen noch nicht für ein geschlossenes, allgemeines Lehrprogramm wie das der artes liberales. Das gilt ähnlich für die Vorstellungen des aus Spanien stammenden römischen Rhetoriklehrers Marcus Fabius Quintilianus (35–95 n. Chr.), auch wenn er bereits einen »Fächerkreis« (orbis doctrinae) definierte, der nicht schon einer »angewandten« Wissenschaft dienen, sondern eine allgemeine Grundlage schaffen sollte. In seiner Institutio oratoria (»Anweisung für den Redner«) hat er so etwas wie einen eigenen Bildungsgang eines künftigen Rhetors umrissen. Die Ausbildung sollte schon in frühester Kindheit mit dem Erlernen des Griechischen beginnen, aber in einer Weise, dass die Beherrschung des Lateins nicht dadurch gemindert würde; im Elementarunterricht war dann vor allem Lesen und Schreiben zu vermitteln. Danach folgte der höhere Unterricht in zwei Stufen, jeweils unter Aufnahme der vorhergehenden Lehrinhalte und mit Vorübungen für die folgende Ausbildungsstufe. Im ersten Teil wurden vor allem Grammatik, Musik, Geometrie und weitere elementare Disziplinen vermittelt, wobei innerhalb der Grammatik bereits die Arten der Dichtung und historische Erklärungen, innerhalb der Geometrie auch Arithmetik und Astronomie unterrichtet werden sollten; zugleich standen schon die ersten Übungen innerhalb der Rhetorik auf dem Programm. Der eigentliche Elementarunterricht in Rhetorik (die »kleine Rhetorik«) war dann aber Aufgabe des zweiten Teils, in dem auch die Vermittlung von Grammatik, Musik und Geometrie fortgesetzt wurde. Erst jetzt war der Weg frei für die eigentliche, »fachwissenschaftliche« Ausbildung, für die »große Rhetorik«, für die unter anderem Geschichte, Rechtskunde und Philosophie berücksichtigt werden sollten. Dieser Lehrplan für künftige Rhetoriker enthält somit explizit zumindest drei Fächer der späteren artes liberales, Grammatik, Musik und Geometrie, dazu im Zentrum der Ausbildung die Rhetorik; implizit werden dann noch Arithmetik und Astronomie sowie – im Kontext der Rhetorik – die Dialektik angesprochen.276 Dabei blieb Quintilian mit seinen Vorstellungen vor allem seinem Fach, der Rhetorik, verpflichtet. Die von ihm entwickelten Ansätze wirkten allerdings unter anderem insofern weiter, als auch andere für eine Zweiteilung der Grammatik eintraten, vor allem Aelius Donatus im 4. Jahrhundert, der sein im Mittelalter grundlegendes Grammatiklehrbuch in zwei Teile teilte. Einem Elementarunterricht, der in Fragen und Antworten die wichtigsten Wortformen und Redeteile vorstellen soll, dem Donatus minor, folgt ein dreiteiliger Hauptkurs, der spätere Donatus maior, in dem nacheinander die grundlegenden Elemente der Sprache wie Laute, Metrik 276 Ebd., S. 66–67.

Lehrpläne und Studienordnungen

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und anderes, dann wiederum, diesmal ausführlicher, Wortformen und Redeteile, schließlich Sprach- und Stilfehler abgehandelt werden. Um 500 entstand in Konstantinopel daneben die Grammatik des Priscian, die auch die Satzlehre einschloss. Entwickelten sich so Differenzierungen innerhalb eines grundlegenden Faches, der Grammatik, wurde schließlich der gesamte Bildungskanon durch den um 430 verstorbenen Martianus Capella endgültig formuliert, und zwar in der bereits erwähnten Lehrdichtung »Über die Hochzeit der Philologie und Merkurs« (De nuptiis philologiae et Mercurii).277 Die als Göttin verstandene Philologie umfasst bei ihm alle Disziplinen jenseits der Philosophie und der für die einzelnen Berufe notwendigen Kenntnisse. Bei ihrer Vermählung mit Merkur treten nun die sieben »freien Künste« als Brautjungfern auf, jede mit bestimmten Attributen, die sich vielfach in späteren bildlichen Darstellungen finden, etwa die Grammatik mit einem Messer gegen Sprachfehler, die Dialektik mit einem Angelhaken. Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Harmonik (Musik) tragen jeweils die wichtigsten Inhalte ihrer Disziplinen vor; bezeichnenderweise werden in dem vor den anderen Göttern geführten Gespräch die Repräsentationen zweier weiterer Fächer, der Medizin und der Baukunst, nicht als Brautjungfern zugelassen und damit – für die weitere Entwicklung folgenreich – aus dem engeren Bildungskanon ausgeschlossen. Martianus vermittelte in seiner gegenüber späteren Darstellungen der artes liberales deutlich umfangreicheren Lehrdichtung auch wichtige Elemente des antiken Bildungsguts, z. B. in der Dialektik, in der er sich unter anderem an Aristoteles und Cicero anschloss, wobei er den Fächern jeweils in etwa dieselben Anteile zuwies. De nuptiis wurde von den Späteren als Handbuch für Fortgeschrittene und Lehrer verstanden und häufig rezipiert.278 So erklärt sich auch, dass das von Martianus entwickelte Siebenerschema der artes liberales bis zum Ausgang des Mittelalters und darüber hinaus in der Bildungsgeschichte eine so zentrale Rolle spielte, auch wenn daneben andere Modelle für Bildung und Ausbildung entwickelt wurden. Die sieben »freien Künste« blieben auch dann grundlegend, als es nicht mehr, wie im früheren Mittelalter, darum ging, antikes Bildungsgut in verständlicher Form zu bewahren, sondern als im Zuge der »Renaissance des 12. Jahrhunderts«, der Rezeption antiken und arabischen Wissens und genuin mittelalterlicher Entwicklungen immer neue Lehrinhalte in den Bildungsgang integriert werden mussten. Dieser Prozess soll hier in Umrissen nachgezeichnet werden.

277 Allgemein Grebe, Martianus. 278 Dolch, Lehrplan, S. 70–71.

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I.

Lehrpläne und Studienordnungen

Das Programm der artes liberales in der frühmittelalterlichen Bildung

Der Verfall des weströmischen Reiches führte nicht nur politisch zu unruhigen und oftmals unübersichtlichen Verhältnissen, auch im Bereich der Bildung vollzogen sich grundlegende Wandlungen. An die Stelle der weltlichen Schulen traten die Kloster- und Kathedralschulen, die um neue, christlich geprägte Bildungsprogramme bemüht sein mussten. Wie bereits geschildert, stellte sich dabei zunächst die Frage nach der Bewahrung des antiken Erbes; und dafür war es wesentlich, einen grundlegenden Kanon des Wissens zu bestimmen, der einen Überblick über die überlieferten Disziplinen bot. Schon die spätantiken Gelehrten hatten das Bedürfnis nach handbuchartigen Zusammenfassungen und Übersichten, wie dies z. B. in der Lehrdichtung des Martianus Capella, aber auch in Schriften wie dem »Kommentar zum Traum des Scipio« von Macrobius aus dem 4. Jahrhundert seinen Niederschlag fand. Dieser Trend setzte sich folglich im früheren Mittelalter unter christlichen Vorzeichen fort, wobei das Siebenerschema der artes liberales rasch an Bedeutung gewann. Dabei konnte man allerdings auch auf die Vorstellungen der Kirchenväter zurückgreifen, die in ihren Schriften vielfach Verbindungen zwischen den antiken Idealen und christlichen Normen hergestellt hatten. So stellte z. B. Klemens von Alexandrien († 215) in seinen Stromateis, den »Teppichen wissenschaftlicher Darlegung gemäß der wahren Philosophie«, fest: »Einige Leute aber, die sich für besonders begabt halten, erklären es für richtig, dass man sich weder mit Philosophie noch mit Dialektik beschäftigt, ja dass man nicht einmal die Naturwissenschaft erlernt, und fordern einzig und allein den Glauben«.

Klemens jedoch setzte die Forderung dagegen, dass ein Christ »auch von der Geometrie und der Musik und von der Grammatik und von der Philosophie selbst das Brauchbare entnimmt und damit den Glauben unangreifbar gegen alle Anschläge macht«.279

An anderer Stelle setzt er sich mit dem Nutzen der »griechischen Wissenschaft« sowie mit der Musik, der Astronomie und der Geometrie auseinander und folgert daraus: »Die Wissenschaften sind also Gehilfinnen der Philosophie, und die Philosophie selbst hilft mit bei der Erfassung der Wahrheit«.280 Werden schon hier die verschiedenen artes angesprochen und ihr Wert im Rahmen eines christlich geprägten Lehrplans hervorgehoben, hat auch Augustinus, der vor seinem Übertritt zum Christentum selbst als Rhetoriklehrer wirkte,

279 Clemens, Teppiche, I. Buch, IX, 43, 1 und 4, Bd. 1, S. 45. 280 Ebd., VI. Buch, 91, 1, Bd. 2, S. 299.

Das Programm der artes liberales in der frühmittelalterlichen Bildung

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sich mit diesen grundlegenden Disziplinen auseinandergesetzt. So hatte er offenbar den Plan zu einer Gesamtdarstellung der artes, von denen er zwei Werke, je eine Schrift über die Grammatik und über die Musik, vollendete, während sich zu Rhetorik und Dialektik nur Fragmente erhalten haben. Auch in seinen anderen Werken kommt er immer wieder auf die sieben »freien Künste« zu sprechen, selbst wenn ihnen jeweils andere »Fächer« wie z. B. Baukunst, Malerei und Bildhauerei an die Seite gestellt werden und er in seinem Alterswerk De doctrina christiana ein umfangreicheres Wissensschema entwickelt, mit dem er, ausgehend vom »rechten Gebrauch«, die artes stärker mit christlichen Konzepten verbindet.281 Damit war auch anderen christlich geprägten Ansätzen der Boden bereitet. Die ersten Schritte dazu wurden auf dem Boden des Ostgotenreiches in Italien unternommen. So trug der bereits mehrfach erwähnte, aus einer vornehmen stadtrömischen Familie stammende Anicius Manlius Severinus Boethius (475/ 80–524) durch seine Werke entscheidend zur Verbreitung des Kanons der artes liberales bei. Nach einer gründlichen philosophischen Ausbildung trat er um 507 in die Dienste König Theoderichs und stieg in hohe Ämter auf, wurde dabei jedoch in politische Intrigen verwickelt und unter dem Vorwurf des Hochverrats hingerichtet. Er suchte dem lateinischen Westen die griechische Philosophie durch Übersetzungen und Kommentare näherzubringen. So übersetzte er die Einführungsschrift des Porphyrius zu den logischen Werken des Aristoteles sowie dessen Kategorien und Perihermeneias, die zusammen als Ars vetus noch die Grundlagen der Logikausbildung an den spätmittelalterlichen Universitäten bilden sollten, sowie die aristotelische »Erste Analytik«, die Topica sowie die »Sophistischen Widerlegungen«. Seine Kommentare zu Perihermeneias, den aristotelischen Kategorien, den Topica Ciceros und anderen Schriften sind mindestens teilweise erhalten. Obwohl er mit seinen Übersetzungen und Kommentaren wesentlich auf die Entwicklung des Triviums (aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik) einwirkte, gehören seine eigenständigeren Beiträge vor allem in den Bereich des eher mathematisch-naturwissenschaftlich geprägten Quadriviums (aus Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik). Überhaupt geht der Begriff des Quadriviums auf ihn zurück, genauer auf eine Stelle seiner »Einführung in die Arithmetik« (De institutione arithmetica), die in der mittelalterlichen Entwicklung den Charakter eines Schulbuchs erhielt. Daneben hat er weitere Werke zu den Fächern des Quadriviums verfasst: eine »Einführung in die Musiktheorie« (De institutione musica), eine verlorene Einführung in die Geometrie (die beiden unter seinem Namen überlieferten entsprechenden Texte stammen nicht von

281 Hornung, Doctrina, S. 113.

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Lehrpläne und Studienordnungen

ihm) sowie eine nur bei Cassiodor belegte astronomische Lehrschrift, die sich am Werk des Ptolemaios orientierte.282 Boethius gilt zu Recht als der »letzte Römer« und der »erste Scholastiker«; obwohl er sich bei den Späteren durch seine Hinrichtung auf Befehl des Arianers (und damit Ketzers) Theoderich den Ruf eines Märtyrers erwarb, war seine philosophische Lehre, wie dies auch sein im Gefängnis entstandenes Werk »Über den Trost der Philosophie« (De consolatione philosophiae) deutlich macht, mit gewissen Inkohärenzen sowohl an heidnischen wie an christlichen Vorbildern orientiert.283 So waren auch seine Beiträge zur Ausgestaltung der sieben »freien Künste« nicht unbedingt christlich oder gar monastisch geprägt. Nach ihm war es dann aber Cassiodor, der, wie bereits beschrieben, nach dem Niedergang des Ostgotenreiches den artes in der klösterlichen Bildung zum Durchbruch verhalf. Im zweiten, »weltlichen«, Teil seiner Institutiones, stellt er grundlegende Informationen zu den sieben »freien Künsten« zusammen, die zugleich bereits die Schwerpunkte der folgenden Entwicklung deutlich werden lassen. Der Abschnitt über die Grammatik ist ein Auszug aus dem Werk des Donatus, der durch Ausführungen zu den Wortformen und Literaturhinweise ergänzt ist; für die Rhetorik werden Cicero, Quintilian und Augustinus herangezogen, für die Dialektik die Übersetzungen und Kommentare des Boethius sowie wiederum Cicero. Im Rahmen des Triviums kommt diesem dritten Teil das größte Gewicht zu, während die Grammatik den geringsten Raum einnimmt. Bezeichnend für die weitere Entwicklung ist aber vor allem das Übergewicht des Triviums gegenüber dem Quadrivium, dem Boethius noch große Aufmerksamkeit zuwandte, dem bei Cassiodor aber jeweils nur recht knappe Ausführungen gewidmet sind. So setzt sich der Abschnitt über Arithmetik mit Begriffsklärungen und Strukturen auseinander und verweist auf ältere Texte wie den des Boethius; der über Musik zählt vor allem Töne, Rhythmen und Instrumente auf; zur Geometrie werden Euklid, Archimedes und andere Autoren angeführt; und zur Astronomie werden Begriffsklärungen und Klimazonen besprochen. Dieser Trend »zum Trivium« verstärkte sich noch in späteren Bearbeitungen der Institutiones, so dass sich dort fast 80 % des Textes mit den Fächern des Triviums beschäftigen.284 Ungeachtet der vielfältigen Probleme im Übergang zur frühmittelalterlichen Gesellschaft und einer weiterhin fassbaren gewissen Bildungsfeindlichkeit der christlichen Eliten war dies jedoch der endgültige »Startschuss« für den Siegeszug der artes liberales durch die Welt der kirchlich geprägten Bildung. Auch wenn Gregor d. Gr. um 600 in einem Begleitschreiben zu seinen Moralia in Job fest282 Gruber, Boethius, Sp. 309. 283 Marenbon, Boethius, S. 154–59. 284 Dolch, Lehrplan, S. 80.

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stellte, »ich halte es für ganz und gar unwürdig, dass ich die Worte des himmlischen Orakels unter die Regeln des Donatus beugen soll«,285 setzte sich gerade die Elementarbildung des Triviums immer mehr als wichtige Voraussetzung für die kirchliche Laufbahn durch. Gregor schrieb seinen umfangreichen, allegorisch-moralischen Kommentar zum Buch Hiob, der für die Späteren Handbuchcharakter hatte, auf Bitten des Erzbischofs Leander von Sevilla; damit stand er – trotz aller Kritik – mit einem anderen Zentrum der kirchlichen Bildung in Verbindung. Denn Leanders mehrfach erwähnter Bruder Isidor, der ihm im Jahre 600 als Erzbischof nachfolgte, schuf mit seinen Etymologiae oder Origines die grundlegende Enzyklopädie des Mittelalters, die immer wieder als Steinbruch für spätere Kompilationen herhalten musste, zumal Isidor offenbar in Sevilla eine umfangreiche Bibliothek mit antiker Literatur zur Verfügung stand. Auch Isidor beginnt sein Hauptwerk (in den ersten drei Büchern) mit einer Übersicht über die artes liberales,286 und auch bei ihm haben die Disziplinen des Triviums ein deutliches Übergewicht. Anders aber als bei Cassiodor und seinen Bearbeitern stand allerdings nun die Grammatik im Vordergrund; ihr ist ein eigenes Buch gewidmet, das im Umfang sogar das zweite Buch zu Rhetorik und Dialektik noch übertrifft, ebenso das dritte Buch mit den Fächern des Quadriviums. Besonders bemerkenswert ist jedoch, dass Isidor nicht bei diesem Wissenskanon stehen blieb, sondern in 17 weiteren Büchern zahlreiche andere Wissensgebiete anschloss. Als erstes behandelt er im vierten Buch die Medizin, dann folgen Recht und Geschichte, theologische Probleme, Biologie, Kosmologie, Geographie, praktische Disziplinen wie Baukunst, Metallurgie, Gartenbau, Kriegswesen, Wirtschaft und anderes. Er vereint damit also nicht nur die artes liberales mit den späteren Universitätsfächern Medizin, Recht und Theologie, sondern auch mit den nach einem späteren Schema als sieben artes mechanicae abgegrenzten »technischen Disziplinen«. Dies hatte im Folgenden zwar als Konsequenz, dass diese anderen Fächer nicht in Vergessenheit gerieten – selbst wenn manche der Ausführungen Isidors nicht unproblematisch sind –, doch änderte sich am Vorrang der artes liberales wenig, zumal die Etymologiae außerhalb Spaniens vom 7.–9. Jahrhundert zumeist nur als ein auf die ersten drei Bücher beschränktes Fragment überliefert wurden.287 Isidor hat sein Hauptwerk allerdings bewusst vereinfachend konzipiert. So sind die antiken Autoren selten unmittelbar, sondern aus Vorlagen zitiert, und die Erklärungen gehen zumeist von der Etymologie aus, da er in stoischer Tradition glaubte, mit der Bezeichnung bereits die Sache selbst fassen zu können. 285 Gregor der Große, Buch, S. 17; nach Dolch, Lehrplan, S. 81. 286 Isidor Etymologiarum Libri, 1, I–III. 287 Englisch, Artes, S. 70.

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Der Einführungscharakter der Etymologiae zeigt sich vor allem im Vergleich zu seinem naturphilosophischen Werk De natura rerum (»Über das Wesen der Dinge«), das wesentlich ausführlicher ist und bereits Kenntnisse in den »naturwissenschaftlichen« Disziplinen voraussetzt. Zudem dürfte die Schwerpunktsetzung auf den sieben artes kein Zufall oder Folge mangelnder Informationen sein. Vielmehr hat Isidor mit dem Aufbau der Etymologiae offenbar bewusst den Versuch unternommen, auf die Änderungen im Bildungswesen seiner Zeit zu reagieren und neue Ansätze zu entwickeln. Obwohl Spanien nach 711 zu großen Teilen durch die Araber erobert wurde, wirkten die Schriften Isidors von Sevilla in vielen Teilen der lateinischen Christenheit nach. So hat z. B. Beda Venerabilis sein eigenes Werk De natura rerum, eine naturphilosophische Enzyklopädie in 51 Kapiteln, neben Plinius vor allem auf Isidor aufgebaut. Darin stehen vor allem kosmologische Probleme im Vordergrund. So setzt sich Beda unter anderem mit dem Aufbau der Welt, dem Himmelsgewölbe und den Sternen, mit den Elementen und der Witterung auseinander. Wahrscheinlich verfasste Beda dieses »Handbuch« als Grundlage für seine komputistische Schrift De tempore, die sich vor allem mit der Oster- und Kalenderberechnung beschäftigt. Der northumbrische Klostergelehrte hat aber nicht nur zum Quadrivium, sondern auch zum Trivium eigene Beiträge geleistet, z. B. durch seine Schriften De orthographia und De schematibus et tropis (»Über die Redewendungen und Bilder«). Letzteres ist eine kleine Schrift zur Rhetorik, die sich vor allem mit der Bibel auseinandersetzt. Die Bibel hat für Beda nicht nur Vorrang durch ihre Autorität, ihr Alter und die vielfältigen inhaltlichen Bezüge, die sich zu ihr herstellen lassen, sie ist auch ein literarisches Werk, in dem sich bereits sämtliche Stilfiguren der Rhetorik finden.288 Während bei Beda die artes liberales fast nur implizit eine Rolle spielen, hat sich ein anderer Angelsachse, Alkuin, als Leiter der Kathedralschule in York sowie vor allem in seiner Zeit an der Hofschule Karls d. Gr. ausführlich sowohl mit den einzelnen artes als auch mit dem gesamten Lehrplan befasst. So hat er in der kurzen »Disputation über die wahre Philosophie« (Disputatio de vera philosophia) in Form eines Dialogs zwischen Schüler und Lehrer Grundprobleme der Ausbildung und der Wissenschaften abgehandelt.289 In der Tradition Augustins und Cassiodors weist er dabei den weltlichen Disziplinen einen eigenen Wert zu; insbesondere die sieben »freien Künste« bereiten aber in einer Stufenfolge auf das Studium der Heiligen Schrift und damit auf die Erkenntnis Gottes vor. Hatte Cassiodor die artes liberales noch mit den sieben Säulen verglichen, auf denen sich nach den »Sprüchen Salomonis« (9,1) die Weisheit ihr Haus erbaut, und sie damit nebeneinander der Theologie gegenübergestellt, 288 Curtius, Literatur, S. 56. 289 Brunhölzl, Geschichte, 1, S. 270.

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entwickelt Alkuin, der erstmals intensiv auf Boethius zurückgreift, damit ein differenzierteres Wissenschaftssystem. Insbesondere bauen für ihn auf der Grammatik die als Teile der »Logik« verstandenen Disziplinen der Rhetorik und Dialektik, auf diesen wiederum die Teile der »Physik« auf, also die Fächer des Quadriviums. Nach einem Gedicht Theodulfs von Orléans († 821) ist diese Auffassung der artes liberales auch einmal in einem Kunstwerk umgesetzt worden, das die Gestalt eines Baumes hatte und bildliche Darstellungen der artes vielleicht nach den Beschreibungen bei Martianus Capella aufwies. Dabei befand sich die Grammatik an unterster Stelle am Stamm. Aus ihr verzweigten sich Rhetorik und Dialektik sowie die vier Kardinaltugenden, während Arithmetik, Musik und Geometrie weiter oben im Baum angesiedelt waren; an oberster Stelle folgte die Astronomie.290 Der Erwerb des Wissens blieb aber nicht auf dieser Ebene stehen; vielmehr sollte er in einer allmählichen Abkehr von den weltlichen Dingen, mit der consolatío des Boethius, zur Theologie und somit zur Hinwendung zu Gott hinführen, in der Alkuin die Selbstverwirklichung und das wahre Glück des Menschen sieht. Die dialogische Form der Disputatio kehrt auch in den meisten anderen Lehrschriften Alkuins wieder, die sich mit den einzelnen Fächern der artes beschäftigen, allerdings ohne den Anspruch, einen vollständigen Überblick über die Wissensgebiete zu geben. Vielmehr ging es ihm um didaktische Impulse für eine Reform des Bildungswesens.291 Alkuin hat seine Schriften zur Grammatik, zur Orthographie, zur Rhetorik, zur Dialektik und zur Arithmetik immer so angelegt, dass man einen Eindruck davon bekommt, wie er seinen Unterricht an der Hofschule gestaltet hat. Die »Grammatik« ist z. B. als Dialog zwischen zwei 14 bzw. 15 Jahre alten Knaben gestaltet, einem Franken und einem (Angel-)Sachsen, die erst vor kurzem in die lateinische Grammatik eingestiegen sind und sich nun über deren Regeln abfragen. Das Gespräch, in das bei Unklarheiten auch der Magister eingreift, gibt einen lebhaften Überblick über den Stoff der Grammatik, auf der Grundlage von Priscian, der durch Donatus sowie Beda und vielleicht auch Isidor ergänzt wird. Auch der Dialogus de rhetorica et virtutibus (»Dialog über die Rhetorik und die Tugenden«) bietet den Gegenstand in Gesprächsform dar, als Unterrichtsstunde, die Alkuin dem König, Karl d. Gr., erteilt, nachdem ihm dieser um Unterweisung in der Rhetorik gebeten hat, um seine praktischen Erfahrungen theoretisch zu »untermauern«. Alkuin orientiert sich dabei vor allem an den Schriften Ciceros, auch bei der Übernahme der vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Selbstbeherrschung (prudentia, iustitia, fortitudo, temperantia), die auch auf dem beschriebenen »Baum der Wissenschaften« 290 Dolch, Lehrplan, S. 101. 291 Brunhölzl, Geschichte, 1, S. 271.

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wiederkehren – Gegenstück sind seit Paulus die theologischen Kardinaltugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Als Dialog zwischen Alkuin und Karl d. Gr., dem darin die Rolle des Schülers zugewiesen wird, ist ebenfalls eine weitere Lehrschrift Alkuins gestaltet, De dialectica. Darin ordnet er zunächst die Dialektik als Teil der »Logik« in die Philosophie als ganze ein und stellt sie in Beziehung zur Theologie. Danach werden im Sinne der Vorlagen, der Schriften des Boethius und Isidors von Sevilla, verschiedene Teile der Dialektik unterschieden und nacheinander abgehandelt. Schließlich sind in diesem Kontext auch die wahrscheinlich von Alkuin verfassten Propositiones ad acuendos juvenes (»Vorschlägen zur Übung für Jugendliche«) zu nennen, die älteste lateinischsprachige Aufgabensammlung zur Mathematik darstellen.292 Auch wenn Alkuin in seinen Lehrschriften insgesamt wenig Neues bietet, trugen sie Wesentliches zur karolingischen Bildungsreform bei, vermittelten sie doch in didaktisch ansprechender Form aufbereitete Kenntnisse, die im Frankenreich seit der Merowingerzeit weitgehend verlorengegangen waren. Darauf konnten dann die Späteren aufbauen, unter anderem Hrabanus Maurus († 856), der, um 780/83 geboren, im Kloster Fulda unter dem Einfluss der karolingischen Bildungsreform erzogen wurde, wo er 819 selbst die Leitung der Schule übernahm. Hatten bereits Alkuin und die anderen Repräsentanten der »karolingischen Renaissance« den Anschluss an die Antike durch eifriges Sammeln, Ordnen und Abschreiben der heidnischen Schriftsteller gesucht, verkörperte Hrabanus fast vollkommen den Idealtyp eines enzyklopädisch gebildeten Gelehrten, der sich an den Autoritäten orientierte und diese zugleich in den Dienst der reformerischen Ideale stellte.293 Seine Werke sind daher vielfach Lehrstoffsammlungen für die Ausbildung von Priestern. Das gilt insbesondere für die in seinen späteren Jahren entstandene, in 22 Bücher gegliederte Schrift De rerum naturis oder De universo, bei der er sich wohl bewusst im Gegensatz zu früheren Werken vor allem auf die christlichpatristischen Autoren der Antike beschränkt. Wichtigste Grundlage waren die Etymologiae Isidors, deren Text er durch Bibelzitate, allegorische Passagen und Auszüge aus seinen eigenen Werken ergänzte. Auch die Gliederung Isidors übernahm er weitgehend. Allerdings wurden von ihm die ersten vier Bücher, die erste Hälfte des fünften und das zehnte Buch durch fünf eigene Bücher zu theologischen Fragen ersetzt, während andere Bücher neu gegliedert und teilweise aufgeteilt wurden, so dass sich am Ende zwei Bücher mehr als bei Isidor ergaben. Damit legte er jedoch zugleich anders als Isidor nicht mehr die artes liberales zugrunde, die bei diesem Gegenstand der ersten drei Bücher gewesen waren. Vielmehr ging seine Darstellung von den »höchsten Dingen« aus, von Gott 292 Vgl. Englisch, Artes, S. 81. 293 Ebd., S. 82.

Hochmittelalterliche Lehrpläne und Bildungsprogramme

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und den Engeln, von den Patriarchen, Propheten, den Personen des Alten und des Neuen Testaments sowie von den Märtyrern, um dann über Anthropologie, Biologie, Kosmologie, Naturkunde und anderes wie bei Isidor die artes mechanicae zu erreichen. Auch wenn Hrabanus in dieser Enzyklopädie, für die übrigens als einzige Enzyklopädie des Mittelalters Abbildungen konzipiert wurden,294 gewissermaßen ein alternatives Bildungsmodell entwickelt, hat er doch an anderen Stellen die artes ausdrücklich einbezogen, z. B. in seiner Schrift »Über die Ausbildung von Klerikern« (De institutione clericorum) von 819. Im Anschluss an Augustins De doctrina Christiana und zahlreiche weitere Vorlagen stellt er hier im dritten Buch die weltlichen Disziplinen zusammen, mit denen sich auch die Geistlichen vertraut machen müssen. Dabei werden Grammatik, Rhetorik und Dialektik oder Logik in etwa gleichbehandelt, und auch dem Quadrivium wird breiter Raum gewidmet, insbesondere der Arithmetik, die selbst die Grammatik noch einmal um ein Drittel übertrifft. Auch in dieser Schrift geht es allerdings Hrabanus weniger um die Fächer an sich als vielmehr um ihren Nutzen für die Theologie und vor allem für die Bibelexegese, mit denen er sich in den ersten beiden Büchern von De institutione auseinandersetzt. Anders als bei Alkuin, der sich durch einen weiten Horizont und einen eigenständigen Zugang auszeichnete,295 werden somit bei Hrabanus die artes allein den geistlichen Interessen untergeordnet; geistige Bildung wird zum (fast ausschließlichen) Monopol des Klerus. Diese Tendenz bestimmte auch die weitere Entwicklung seit der Zeit Ludwigs des Frommen; die weltliche Bildung in den artes wurde nicht Teil einer von weltlichen Gelehrten und interessierten Laien getragenen Kultur, sondern Teil der Ausbildung von Klerikern. Gleichzeitig waren sie jedoch damit fest im Bildungskanon verankert.

II.

Hochmittelalterliche Lehrpläne und Bildungsprogramme

Das Siebenerschema der artes liberales blieb bis zum Ende des Mittelalters und darüber hinaus für alle Lehrpläne grundlegend, doch gab es immer wieder Modifikationen und Ergänzungen, die auf die Bedürfnisse und Ansätze der jeweiligen Epoche reagierten. Zumeist blieben allerdings die Studien in den artes völlig konventionell, wie sich z. B. aus dem schon einmal zitierten Werk des Walther von Speyer von 982/83 erschließen lässt, seiner Lebensbeschreibung des heiligen Christophorus. Im ersten Buch, dem längsten der fünf Bücher des Werks, hat Walther anstelle des Bildungsgangs des Heiligen seinen eigenen ge294 Brunhölzl, Geschichte, 1, S. 333. 295 Ebd., S. 329.

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schildert, im Libellus primus de studio poetae qui et scolasticus (im »Ersten Büchlein über die Ausbildung des Dichters und Schulmeisters«). Darin beschreibt er nicht nur seine Schullektüre, sondern einen acht Jahre umfassenden Lehrplan an der Domschule zu Speyer, von denen zwei Jahre dem Elementarunterricht in Lesen, Schreiben und Psalmengesang, vier Jahre der Grammatik und antiken Schriftstellern sowie zwei Jahre den übrigen artes gewidmet waren. Innerhalb dieser letzten beiden Jahre standen wiederum Dialektik und Rhetorik sowie die Rechenarten im Zentrum; dazu kamen Aspekte der Geometrie und der Musik nach Martianus Capella und Boethius sowie die Vermittlung von Kenntnissen über Sternbilder. Ähnlich wie bei Cassiodor und seinen Bearbeitern standen damit in Speyer vor allem die Fächer des Triviums im Mittelpunkt des Unterrichts, und wahrscheinlich war dies an vielen anderen Kathedral- und Klosterschulen genauso. Einen Beleg dafür bilden auch die Übersetzungen Notkers des Deutschen († 1022), der in St. Gallen die ersten beiden Bücher der grundlegenden Schrift des Martianus Capella, die Werke des Boethius, die Kategorien des Aristoteles und anderes, also im Wesentlichen Texte aus dem Bereich des Triviums, in eine lateinisch-deutsche Mischprosa übertrug.296 Änderungen vollzogen sich vor allem mit dem vielgestaltigen gesellschaftlichen und intellektuellem »Aufbruch« seit der Mitte des 11. Jahrhunderts. Einerseits kam es zu grundlegender Kritik an weltlicher Bildung – so bei Petrus Damiani († 1072) aus der Sicht des Kirchenreformers –, zum anderen wurden Ergänzungen des bisherigen Schemas vorgenommen oder alternative Modelle entwickelt. Ein Beispiel dafür bietet das Werk des biographisch schwer zu fassenden, in Canterbury und Regensburg nachweisbaren Honorius Augustodunensis († nach 1130). Unter den ihm zugewiesenen Schriften findet sich eine Lehrallegorie mit dem Titel »Über das Exil und die Heimat der Seele oder über die Artes« (De animae exilio et patria alias de artibus). Er beschreibt darin den Weg vom »Exil« der Unwissenheit zur »Heimat« der göttlichen Wissenschaft, der über zehn Künste führt, die sich mit den »natürlichen Dingen« befassen. Diese zehn Künste sind jeweils als Städte beschrieben; und den Anfang machen die »klassischen« sieben freien Künste, wobei wiederum Grammatik, Rhetorik und Dialektik der größere Raum zukommt. Dann aber folgen drei weitere Disziplinen: »Die achte Stadt, durch welche man der Heimat zustrebt, ist die ›Physiologie‹. In dieser Stadt belehrt Hippokrates die Reisenden über die Kräfte und Natur der Pflanzen, Bäume, Steine und Lebewesen, und über Heilung / Heilmittel für den Körper führt er zum Heil der Seelen. […] Die neunte Stadt. durch welche man sich der Heimat zu nähern hat, ist die Mechanik. Sie belehrt die Reisenden über allen Nutzen der Metalle, der Hölzer, der Marmorarten und vor allem über Gemälde, Skulpturen und alle Künste, 296 Dolch, Lehrplan, S. 109.

Hochmittelalterliche Lehrpläne und Bildungsprogramme

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welche Handarbeit bedeuten. […] Die zehnte Stadt, durch welche man in die heimatlichen Atrien gelangt, ist die Ökonomie. Sie ordnet Regierungen und Ämter; sie unterscheidet Berufe und Stände. Sie lehrt die in die Heimat Eilenden, dass die Menschen ihrem Verdienste nach in die Engelsordnung eingeteilt werden.«

Den Abschluss bilden theologische Überlegungen, die Honorius mit einem Kapitel mit folgender Überschrift einleitet: »Nachdem die Artes liberales durchlaufen sind, gelangt man zur Heimat, d. h. zur in der göttlichen Schrift leuchtenden und im Anblick Gottes vollkommen wahren Weisheit […].«297

Ähnlich wie bei Alkuin dienen die »freien Künste« auch für Honorius der Vorbereitung auf die Theologie, doch ist ihre Zahl hier offenbar bewusst auf zehn vermehrt. Sieht man von Motiven der Zahlenspekulation ab (die Zehn ist wie die Sieben eine heilige Zahl), werden in diesem Text erstmals weitere Disziplinen in den Kreis der artes aufgenommen, die vorher ausgeschlossen waren: die Medizin, die »mechanischen Künste« sowie der Bereich der aristotelischen »Politik« und »Ökonomik«, die freilich zu dieser Zeit noch nicht in Übersetzung vorlagen. Auch in anderen Werken des Honorius wie dem an Johannes Scotus Eriugena orientierten Clavis Physicae wird deutlich, dass er an einem Gesamtbild des Wissens interessiert war, das ihm die bisherigen sieben artes nicht bieten konnten. Einen Schritt weiter ging, schon im Umfeld der künftigen Pariser Universität, Hugo von St. Victor († 1141) in seinem Didascalion. Hugo hat darin zunächst einmal den »klassischen« Fächerkanon wiederholt und mit der Verbreitung seiner Schrift wohl auch zu dessen Verfestigung beigetragen. Auch er hebt den auf die Theologie vorbereitenden Charakter der artes hervor. So schreibt er: »Vielmehr möchte ich zeigen, dass man gute Fortschritte überhaupt nur bei planmäßigem, methodischem Studium erzielt. Denn […] es gibt auch in der Wissenschaft eine Stufenfolge […]«.298

Zugleich entwickelt er aber in Verbindung aristotelischer und platonischer Elemente einen völlig neuen Lehrplan, der zwar die artes integriert, aber die Gesamtheit der als Wissenschaft von allen menschlichen und göttlichen Dingen gefassten Philosophie strukturiert. Die große Einteilung umfasst vier Bereiche: den theoretischen, den praktischen, den »mechanischen« sowie den logischen; dazu kommt ein »Anhang« mit Aspekten, die später in humanistischen Bildungsprogrammen eine entscheidende Rolle spielen sollten: Poesie, Geschichte und »neuere« Philosophie. Zur Theorie zählen vor allem drei Disziplinen, Theologie, »Mathesis« im Sinne der Fächer des Quadriviums sowie »Naturlehre«, also wichtige Elemente der späteren Lehrpläne der Universitäten; der Bereich der 297 Nach Michel, Ignorantia; vgl. die Übersetzung bei Dolch, Lehrplan, S. 116. 298 Übersetzung ebd., S. 120.

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Lehrpläne und Studienordnungen

praktischen Philosophie umfasst mit Ethik, Ökonomik und Politik diejenigen Aspekte, die später unter dem Begriff der »Moralphilosophie« zusammengefasst werden sollten; und für die Logik unterscheidet Hugo zwischen Grammatik und Redekunst, die ihrerseits Dialektik, Rhetorik und Sophistik vereinte. Das eigene Gewicht, das er diesen Fächern durch diese Gliederung zuweist, nimmt ebenfalls ihre zentrale Bedeutung an den Universitäten vorweg. Zu diesen drei Kategorien von Wissenschaften, Logik, Ethik und Theorie, tritt mit der »mechanischen Philosophie« ein von Hugo gegenüber den früheren Autoren deutlich aufgewerteter Bereich, den schon Honorius Augustodunensis unter die artes gezählt hatte. Analog zu den artes liberales definiert Hugo sieben Gruppen, die man zudem nach dem Vorbild von Trivium und Quadrivium in nach innen und nach außen gewendete Tätigkeiten trennen kann: lanificium (Wollweberei, Verarbeitung flexibler organischer Stoffe; armatura (Waffenhandwerk, weitere technische Berufe, bildende Künste, Baugewerbe); navigatio (Seefahrt, Handel zu Wasser und zu Lande); agricultura (Gartenbau und Landwirtschaft); venatio (Jagd, Lebensmittelgewerbe); medicina und schließlich theatrica (Ritterspiele, Hofkünste).299 Auch wenn die späteren Autoren ihm nicht in der Aufwertung der artes mechanicae folgten und die Einteilung teilweise modifizierten (unter anderem mit einer Aufspaltung von Handwerk und Kriegswesen unter der Aufgabe des eigenständigen lanificium), hatte Hugo mit diesem Schema eine bis ins 15. und 16. Jahrhundert gültige Differenzierung dieser technischen Disziplinen geschaffen. Im Gegensatz dazu war das Gesamtmodell Hugos wenig erfolgreich. Die Unterscheidung zwischen logischen, theoretischen und praktischen Fächern setzte sich nicht durch; vielmehr blieb der überkommene Siebenerkanon der artes liberales weiterhin gültig. Das zeigt sich auch daran, dass es im 12. und 13. Jahrhundert immer häufiger zu bildlichen Darstellungen des Programms der artes kam. Eines der berühmtesten Beispiele aus dem Bereich der Buchmalerei ist der Hortus deliciarum (»Garten der Freuden«) der Äbtissin Herrad von Landsberg († 1195), der um 1175 für die Nonnen auf dem Odilienberg im Elsass entstand, eine umfangreiche allgemein gehaltene Enzyklopädie, die mit zahlreichen Zeichnungen illustriert war. Zu den berühmtesten Abbildungen der 1870 vernichteten Handschrift zählt das Schema der sieben »freien Künste«, das diese im Kreis um die Philosophie anordnet, die eine dreiteilige Krone mit der Aufschrift Ethik, Logik, Physik trägt – die artes sollten den Menschen als Gaben des Heiligen Geistes zur Kenntnis göttlicher und menschlicher Dinge verhelfen.300 Die Flexibilität und Beständigkeit des Siebenerschemas sollte sich auch an den

299 Vgl. Krafft, Artes, Sp. 1064. 300 Willeke, Ordo, 1, S. 51; 2, Abb. 12.

Hochmittelalterliche Lehrpläne und Bildungsprogramme

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Abb. 3: Herrad de Landsberg, Hortus deliciarum [um 1180, nach der 1870 zerstörten Straßburger Handschrift, fol. 32r], Kupferstich, koloriert aus Christian Moritz Engelhardt, Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum, Stuttgart, Tübingen, 1818; Die thronende Philosophie, mit Plato und Sokrates, umgeben von den Repräsentationen der sieben freien Künste. [wikimedia, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Philosophie_mit_den_sieben_freien_K%C3%BCnste n.jpg]

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Lehrpläne und Studienordnungen

Universitäten zeigen, selbst wenn die artes liberales die Lehre an den Universitäten nur unvollständig widerspiegelten.301

III.

Die Studienordnungen der Universitäten

Wie schon geschildert, gingen die Universitäten im Laufe des früheren 13. Jahrhunderts aus verschiedenen älteren Bildungsinstitutionen hervor, von den städtischen Rechtsschulen Oberitaliens über die Kathedralschulen des nordfranzösischen Raums bis hin zu privaten, Stifts- und Klosterschulen. Es ist daher wenig überraschend, dass sie ihren grundlegenden Lehrplan wie die älteren Schulen an den Disziplinen der artes liberales orientierten und dass die nach diesen benannte Artistenfakultät bei der Herausbildung der höheren Fakultäten fast überall zuerst besucht werden musste, bevor man sich dem Studium in Medizin, Recht oder Theologie zuwenden konnte. Diese Entwicklung brachte allerdings auch Änderungen im Bereich des artes-Studiums mit sich, da es nun auf die höheren Fakultäten vorbereiten, also Grundlagen für die Beschäftigung mit der Theologie ebenso bieten musste wie für Recht und Medizin. Das führte zu Verschiebungen insbesondere im Trivium, bei denen die Dialektik (Logik) mit der Philosophie auf Kosten der Grammatik an Bedeutung gewann, während die Rhetorik bis zum späten Mittelalter vor allem für die Rechtswissenschaften zentral blieb und oft auf die ars dictaminis reduziert wurde, die Kunst des Schreibens von Briefen, Urkunden und anderen Texten.302 Diese generelle Entwicklung hatte ihre Wurzeln in den Veränderungen seit dem 12. Jahrhundert. Dabei wurden nicht nur immer neue Texte zugänglich, sondern die Bibelexegese und die Diskussion theologischer Probleme erfolgten mehr und mehr nach den Regeln der Dialektik. Wesentlichen Anteil hatten daran die um 1150 entstandenen Textbücher, in der Theologie die Libri sententiarum des Petrus Lombardus und im Kirchenrecht das Decretum Gratians, die – selbst nach dialektischen Grundsätzen aufgebaut – die systematische Auseinandersetzung mit den zentralen Fragen des Fachs erlaubten. Im Bereich des Quadriviums kam es dagegen zu eigenen Schwerpunktbildungen bei den einzelnen Universitäten, die von den besonderen Interessen der Magister abhingen. So war z. B. Oxford stärker mathematisch ausgerichtet, während bei den Pariser Artisten eher die Metaphysik im Zentrum des Interesses stand. Unabhängig davon sollte allerdings das Quadrivium gegenüber den älteren Schulen an den Universitäten generell an Bedeutung gewinnen.

301 Rexroth, Scholastik, S. 312, 320. 302 Leff, Paris, S. 120.

Die Studienordnungen der Universitäten

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Mit der Grammatik verloren auch in Paris zugleich die antiken Schriftsteller an Einfluss. So setzte sich z. B. Johannes de Garliandia († 1252), der dort vielleicht als letzter Grammatiklehrer den Vorbildern des 12. Jahrhunderts folgte und eine intensive Auseinandersetzung mit den älteren lateinischen Autoren pflegte, in Werken wie dem Morale scolarium für das Studium der Klassiker ein.303 Aber er war sich bewusst, dass sich das Fach »auf dem Rückzug« befand und suchte Unterstützung nicht mehr in Paris selbst, sondern an den Schulen in Orléans, wo Grammatik noch ein hoher Rang zugewiesen wurde. Aus Orléans stammte dann auch Henri d’Andeli, der um 1250 in seiner allegorischen Dichtung La Bataille des VII Arts (»Die Schlacht der sieben Künste«) die Auseinandersetzung zwischen der von Orléans ausziehenden Frau Grammatik und der Paris beherrschenden Frau Logik im Bild einer kriegerischen Auseinandersetzung beschreibt und damit den Verfall von Grammatik und Rhetorik in Paris beklagt.304 Die beiden personifizierten Studienfächer führen jeweils eigene Kontingente ins Feld. Auf der Seite der Grammatik kämpfen unter anderem Donatus und Priscian sowie Iuvenal, Horaz, Vergil, Lukan, Sedulius, Arator und Terenz, auf der Seite der Logik vor allem Aristoteles. Aber auch mittelalterliche Autoren nehmen an den Auseinandersetzungen teil, so Alain de Lille und Bernardus Silvestris auf der Seite der Grammatik. Die Logik wird vom weltlichen und vom Kirchenrecht unterstützt, aber ebenso von Ma dame de la Haute Science, von der Theologie, die von den Kirchenvätern sowie Beda und Isidor von Sevilla begleitet wird, weiter von der Medizin, Chirurgie, Astronomie, Geometrie und Musik. Neben Aristoteles, den seine Kommentatoren Boethius, Macrobius und Porphyrius unterstützen, tritt auch Plato auf der Seite der Logik auf.305 Das mit Worten geführte Gefecht spiegelt somit den Übergang vom Lehrplan des 12. zu dem des späteren 13. Jahrhunderts, zumal die Logik nicht zufällig eng mit den höheren Disziplinen der Rechte, der Theologie und der Medizin verbunden ist. Wenn Henri d’Andeli mit dieser sicherlich auch öffentlich und vor einem breiteren Publikum vorgetragenen Dichtung die Hoffnung auf eine Rückkehr zum traditionellen Studium der Grammatik und der Klassiker verband, sollte er sich täuschen; doch ging die Erneuerung der Grammatikstudien auf einem anderen Wege voran. Dabei wurden zunächst die älteren Lehrbücher durch zwei neue Grammatiken ergänzt (und teilweise ersetzt), das 1199 entstandene Doctrinale des Alexander de Villa Dei und der gereimte, vor 1212 verfasste Graecismus des Eberhard von Béthune. Beiden Autoren ging um eine logisch-spekulative Systematisierung des Stoffs der Grammatik.306 Dieser Trend setzte sich 303 304 305 306

Haye, Divisio, S. 52. Henri D’Andeli, Bataille, S. 43–44. Stark, Henri, S. 901–02. Curtius, Literatur, S. 53.

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Lehrpläne und Studienordnungen

fort und mündete um 1270 in einer »spekulativen Grammatik«, die wesentlich durch die Aristoteles-Rezeption beeinflusst wurde. Ihre Vertreter, so etwa Boethius von Dacia und Thomas von Erfurt, formulierten eine kohärente linguistische Theorie, in der jeder der behandelten grammatischen Aspekte in ein begriffliches System eingebunden war.307 Die »spekulative Grammatik« verlor zwar bereits im Laufe des 14. Jahrhunderts an Bedeutung, wirkte aber in einigen Aspekten selbst bei den Humanisten nach, die in bewusster Abkehr von der universitären Grammatik nun wieder die klassischen Autoren in den Mittelpunkt stellten. Einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des Curriculums an den Universitäten hatten aber nicht nur die »Verschiebungen« innerhalb des Triviums, sondern auch die Übersetzungsbemühungen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts, durch die bis 1200 die wichtigsten logischen, wissenschaftstheoretischen, naturphilosophischen und metaphysischen Schriften des Aristoteles in lateinischer Übertragung vorlagen. Bis in die 1230er Jahre folgten dann noch die Politik, die Ethik und die (pseudo-aristotelische) Ökonomik. Zwar wurde 1210, 1215 sowie nochmals 1231 in der Bulle Parens Scientiarum die Lektüre vor allem der (metaphysischen und) naturphilosophischen Schriften des Aristoteles verboten, bis eine »Reinigung« erfolgt sei. Gregor IX. betonte wenig später, die Bücher zur Natur enthielten durchaus Nützliches, während Fehlerhaftes oder Skandalöses auszuschließen sei, »damit, wenn das Verdächtige entfernt ist, der Rest ohne Verzögerung und Anstoß gelesen werden kann«.308 Doch dies konnte den auch in der Bataille des VII Arts beschriebenen Siegeszug des Aristoteles (und seiner Logik) nicht aufhalten, so dass sich auch der Lehrplan der zentralen Rolle dieser wieder entdeckten Texte anpassen musste. So nennen bereits die 1215 vom päpstlichen Legaten Robert de Courçon bestätigten ersten Statuten der Pariser Artistenfakultät die »alte« und »neue« Logik des Aristoteles (d. h. die bereits von Boethius und die neu übersetzten Teile), die Ethik sowie das vierte Buch der Topica als grundlegende Texte der Ausbildung; dazu kamen die Lehrbücher von Donatus und Priscian.309 An diesem Kanon änderte sich formal im Folgenden wenig, auch als 1252 die ersten Statuten für die Ausbildung von Bakkalaren durch die englisch-deutsche Nation erlassen wurden, doch hatten zu diesem Zeitpunkt bereits alle Schriften des aristotelischen Korpus eine weite Verbreitung. So ist es kein Zufall, dass die Statuten der Artistenfakultät von 1255 den »ganzen Aristoteles« unter den Textbüchern auflisten, also auch die Schriften zur Metaphysik und Naturphilosophie, neben 307 Pinborg, Grammar, S. 255. 308 Chartularium Universitatis Parisiensis, 1, 87, S. 144; vgl. University Life, hrsg. Thorndike, 20, S. 40 (eigene Übers.). 309 Vgl. Chartularium Universitatis Parisiensis, 1, 20, S. 78; University Life, hrsg. Thorndike, 15, S. 28.

Die Studienordnungen der Universitäten

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Kommentaren wie denen von Boethius, Porphyrius und weiteren Texten.310 Der Unterricht in den artes liberales war damit wesentlich durch die Lektüre und Kommentierung der aristotelischen Schriften geprägt, auch wenn die Theologen darauf 1270 und 1277 mit dem Verbot einzelner Sätze reagierten. Ähnlich war die Situation in Oxford, wo sich allerdings die aristotelischen libri naturales unter dem Einfluss des Kanzlers und späteren Bischofs von Lincoln, Robert Grosseteste († 1253), der selbst die Ethik des Aristoteles übersetzt hatte, keinen Verboten wie in Paris gegenübersahen. Dort wurden die Schriften des aristotelischen Korpus genau wie an anderen europäischen Universitäten in den Lehrplan der artes liberales integriert. So orientieren sich z. B. die Oxforder Statuten von 1431 bei der Aufzählung der Textbücher an der Reihenfolge der Fächer: Für die Grammatik wird Priscian genannt, für die Rhetorik die Rhetorik des Aristoteles, die durch Texte von Boethius, Cicero, Ovid und Vergil ergänzt oder ersetzt werden konnte, für die Logik Buch 1–3 der Topica des Boethius oder die Topik des Aristoteles, seine Erste Analytik oder Peri Hermeneias, für Arithmetik und Musik die Lehrschriften des Boethius und schließlich für die Astronomie die aristotelische Physik, seine Schriften »Über den Himmel« und »Über die Seele« (De caelo und De anima) oder andere naturphilosophische Werke. Dieser »klassische« Kanon der freien Künste, bei dem allerdings die – oft mit Euklid verbundene – Geometrie fehlt, wurde darüber hinaus durch zwei Fächer ergänzt, die sich ebenfalls aus Schriften des Aristoteles ergaben: Moralphilosophie (mit der »Ethik«, »Ökonomik« und »Politik« des Aristoteles) und Metaphysik. Diese Anpassung des Lehrplans der artes liberales an die Bedürfnisse der universitären Ausbildung wurden auch an den neugegründeten Universitäten des nordalpinen Raums nachvollzogen. Dies machen z. B. auch die Statuten der Wiener Artistenfakultät von 1389 deutlich, die getrennt die Voraussetzungen für die Prüfung zum Bakkalar und zum Magister regeln.311 Die erste Stufe des Studiums, bis zum Erwerb des Bakkalaureats, sollte mindestens zwei Jahre dauern. Ähnlich wie in Paris und Oxford wurde dabei auch in Wien innerhalb der artes vor allem die Ausbildung in der Logik betont. In der Grammatik standen nicht mehr die Lehrbücher Donatus’ und Priscians auf dem Programm, vielmehr schrieb man die (teilweise) Lektüre des Doctrinale des Alexander de Villa Dei und des Grecismus des Eberhard von Béthune vor. Während für die Rhetorik nicht einmal ein bestimmtes Buch genannt wird, ist der Bereich der Logik sowohl durch die (aristotelisch geprägte) ars vetus wie auch die »neue Logik« des 13. und 14. Jahrhunderts präsent, durch die Summulae des Petrus Hispanus und durch Vorlesungen über die Parva logicalia, die unterschiedlichen Formen von Sätzen, 310 Lindberg, Beginnings, S. 228. 311 Dazu und zum Folgenden Sarnowsky, artes, S. 70–71.

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Lehrpläne und Studienordnungen

die suppositiones, ampliationes, appellationes, obligationes, insolubilia und consequentiae. Dazu kamen Vorlesungen über die beiden »Analytiken« sowie die »Sophistischen Widerlegungen« des Aristoteles.312 Für den Erwerb des Bakkalaureats waren daneben 1389 in den Fächern des Quadriviums, in Arithmetik, Geometrie und Astronomie, zunächst Vorlesungen zum Algorismus, dem mathematischen Werk des al-Khwarizmi, zum ersten Buch der Elemente Euklids und über Johannes de Sacroboscos Traktat De sphaera, ein astronomisches Handbuch, vorgeschrieben. Dazu kam die Lektüre der aristotelischen Physik und von De anima. Der Kanon der zu lesenden Schriften wurde für den Erwerb des Magistertitels noch erheblich erweitert. So mussten die künftigen Magister im Bereich des Triviums zusätzlich noch über die Topica des Aristoteles gehört haben, die zusammen mit der Ars vetus, den beiden Analytiken und den »Widerlegungen« auch in privaten Disputationen behandelt wurden, die die Magister mit den Bakkalaren veranstalteten und bei denen Lehrsätze (sophismata) und Quaestionen formuliert und diskutiert wurden. Besonders umfangreich waren die weiteren Anforderungen im Bereich des Quadriviums: Neben zusätzlichen Vorlesungen über Bücher der Musik und Arithmetik hatten sie auch über fünf Bücher der »Elemente« Euklids sowie über die noch nicht genannten aristotelischen Schriften zur Naturphilosophie zu hören, über De caelo, De generatione, die Meteora und Parva naturalia. Diskutiert wurden aber auch mittelalterliche Vorlagen wie die Theorica planetarum, die Perspectiva communis, ein Werk über Optik von Johannes Peckham, die Proportiones, wohl in der Regel die des Oxforder Philosophen Thomas Bradwardine oder spätere Bearbeitungen wie die Alberts von Sachsen, sowie die Latitudines formarum, die sich nach dem Vorbild Nicole Oresmes mit Fragen der zweidimensionalen Darstellung auseinandersetzen.313 Auch die naturphilosophischen Texte wurden in den privaten Veranstaltungen der Magister, Bakkalare und Scholaren vertieft. In Wien nutzte man dafür die Schriften von Zeitgenossen, z. B. für die aristotelische Physik die Quaestionen des Pariser Magisters Johannes Buridan und für De caelo den Kommentar seines »Schülers« Albert von Sachsen,314 der der erste Rektor der Wiener Universität gewesen war. Moralphilosophie und Metaphysik werden schließlich bezeichnenderweise erst in den Anforderungen an einen künftigen Magister genannt, wohl, weil sie für Anfänger nicht geeignet erschienen. Die Kandidaten mussten dabei Veranstaltungen sowohl über die »(Nikomachische) Ethik«, die »Politik« und die pseudo-aristotelische »Ökonomik« wie auch über die »Metaphysik« des Aristoteles besucht haben. Zudem 312 Lhotsky, Artistenfakultät, Beil. II, VII, S. 236. 313 Ebd., XXIV, S. 253. 314 Ebd., XXVII, S. 255.

Die Studienordnungen der Universitäten

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wurden Vorlesungen über die Schrift »Vom Trost der Philosophie« (De consolatione philosophiae) des Boethius angeboten. Auch in Wien standen somit Logik, Mathematik und Naturphilosophie als zentrale Bereiche der artes Moralphilosophie und Metaphysik gegenüber. Entsprechende Regelungen für die artes finden sich auch an den anderen mitteleuropäischen Universitäten, wenn auch mit einigen Abweichungen. So schreiben z. B. die Statuten von 1390 für Prag keine Lektüre für das Studium der Grammatik und Rhetorik vor, während in Krakau 1404/06 in der Rhetorik ausdrücklich die Poetria nova des Gottfried von Vinsauf genannt wird.315 Die Heidelberger Scholaren mussten nach Statuten aus der Zeit um 1400 in Grammatik nicht unbedingt das Doctrinale und den Grecismus gehört haben, sondern es genügte der Nachweis, »dass sie in der Grammatik auf andere Weise angemessen ausgebildet sind«. Während in Heidelberg die »neue Logik«, die logica nova, erst von künftigen Magistern bewältigt werden musste, forderten dies die Statuten der Kölner Artistenfakultät von 1398 schon von den Kandidaten für das Bakkalaureat. Dabei konnten in Köln die Summulae des Petrus Hispanus durch den »nominalistischen« Kommentar des Pariser Magisters Johannes Buridan ersetzt werden.316 Die in der Regel bald nach der Gründung der Universitäten formulierten Statuten wurden immer wieder der jeweiligen aktuellen Situation angepasst. So wurden z. B. in Erfurt die ersten ausführlichen, 1412 erlassenen Statuten um 1420 durch die Zusammenstellung »praktisch aller Bücher, die für den Grad des Bakkalaureats zu Erfurt gelesen und geprüft werden müssen« durch den jungen Magister Herbord de Lippia ergänzt.317 Durch diese wurden schon für die Ausbildung der Bakkalaureare Veranstaltungen in der »neuen Logik« vorschrieben, und zwar in der besonderen Gestalt der »terministischen« Logik. Dafür wurden die Schriften von drei Autoren des 14. Jahrhunderts zugrunde gelegt, der Engländer Thomas Manlefelt (oder Maulevelt) und Richard Billingham, die Magister in Paris bzw. Oxford gewesen waren, sowie des Prager Magisters Johannes de Hollandria. Damit hatte im »Wegestreit« zwischen via antiqua und via moderna, zwischen »begriffsrealistischer« und »begriffsnominalistischer« Ausrichtung im Universalienstreit, zwischen eher »traditionell« oder eher an Wilhelm von Ockham und seinen Anhängern ausgerichteter philosophischer Lehre, zunächst die via moderna in Erfurt »gesiegt«. Bald jedoch muss die via antiqua wieder an Bedeutung gewonnen haben, denn die erneuerten Statuten von 1449 geben keinerlei Hinweis auf die Lektüre »terministischer« Autoren; allerdings kam es 1489 zu einem erneuten Kurswechsel. 315 Sarnowsky, artes, S. 72. 316 Bianco, Universität, 2, Beil. VII, S. 66–71. 317 Kadenbach, Prüfungsstoff, S. 810–11.

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Lehrpläne und Studienordnungen

Überhaupt war der Wegestreit vielfach von großer Bedeutung für die Lehrpläne und Studienordnungen der Universitäten. So wurden z. B. an der Universität Heidelberg 1452 aufgrund des Eingreifens des Kurfürsten und Pfalzgrafen Friedrichs I. beide Wege gleichberechtigt vorgeschrieben und erhielten jeweils eigene Ordnungen, die unter anderem die Parva logicalia des ersten Heidelberger Rektors Marsilius von Inghen als Lektüre für die via moderna, das Werk des Petrus Hispanus aber für die via antiqua vorsahen. Ein Eingreifen der landesherrlichen Obrigkeit gab es selbst in Paris, wo Ludwig XI. nach der Einschränkung der akademischen Freiheiten 1474 durch das Verbot nominalistischer Autoren eine Krise herbeiführte. Während die Lektüre von Werken Wilhelms von Ockham, Johannes Buridans, Marsilius’ von Inghen, Alberts von Sachsen und anderer verboten wurde, legte der französische König den Pariser Gelehrten ausdrücklich Aristoteles, Averroes, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus, Bonaventura und andere »realistische« Autoren ans Herz.318 Dieses Verbot konnte sich nicht lange halten – schon 1481 wurde es wieder aufgehoben –, doch zeigte es nicht nur die Gefährdung der Universitäten durch die erstarkte Stellung von Landesherren auf, sondern machte nochmals eindrücklich die tiefgehende Spaltung innerhalb der spätmittelalterlichen Gelehrtenwelt, zwischen via antiqua und via moderna, deutlich. Mit dem Aufkommen humanistischer Bildungsprogramme verlor diese Alternative allerdings an Bedeutung; nun standen sich Scholastik und Humanismus mit ihren »alten« und »neuen« Lehrplänen gegenüber.

IV.

Weitere spätmittelalterliche Bildungsprogramme

An den Universitäten blieben die auf der Grundlage der artes liberales erarbeiteten Lehrpläne und Studienordnungen auch im Hinblick auf die bedeutende Rolle der Aristoteles-Rezeption zumeist bis ins 18. Jahrhundert bestimmend. Daneben entwickelten sich jedoch seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts vielfach Ergänzungen und Alternativen, vor allem unter dem Einfluss des von Italien ausgehenden Humanismus, der seit der Mitte des 15. Jahrhunderts auch in Deutschland, nach 1500 dann unter anderem in England und Frankreich wirksam wurde. Nördlich der Alpen war dabei der Einfluss der Fürsten noch größer als in Italien, und im Heiligen Römischen Reich hatte der Rückgriff auf die Antike zugleich auch einen massiven politischen Hintergrund. Insbesondere Maximilian I. suchte die ältere, christianisierte Reichsidee durch ein säkulares Element zu ergänzen, durch die Erinnerung an die Stellung der antiken römischen Kaiser.

318 Asztalos, Fakultät, S. 384.

Weitere spätmittelalterliche Bildungsprogramme

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So ist es kein Zufall, dass humanistische Ideen schon früh im Umfeld der kaiserlichen Kanzlei Fuß fassten. Der erste und wohl auch bedeutendste Repräsentant des italienischen Humanismus an der Kanzlei war Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der 1458 als Pius II. den Papstthron besteigen sollte. Enea, der aus niedrigem Adel stammte, war einer der engagiertesten Teilnehmer des Basler Konzils gewesen, bevor sich dort eine immer stärkere Radikalisierung abzeichnete, die schließlich sogar zur Wahl eines Gegenpapstes führte. Als ihn der neue König, der Habsburger Friedrich III., aufgrund seiner literarischen Tätigkeit zum poeta laureatus gekrönt hatte, war die Verbindung zum Hof hergestellt, und da sich auch der königliche Kanzler Kaspar Schlick für Enea einsetzte, wurde er um 1443 in die Kanzlei übernommen.319 Obwohl dabei auch immer wieder politische Faktoren eine Rolle spielten, nahm Enea in den folgenden Jahren mehrfach zu Bildungsproblemen Stellung und suchte humanistischen Idealen den Weg zu ebnen. So richtete er im Dezember 1443 einen ausführlichen Brief an den jungen Herzog Sigismund von Tirol, für den Friedrich III. die Aufgaben eines Vormunds übernommen hatte. Wie dies an den humanistisch geprägten Schulen eines Guarino Guarini und eines Vittorino da Feltre praktiziert wurde, stand auch für Enea die Ausbildung des ganzen Menschen im Zentrum. So forderte er den jungen Sigismund auf, sich nicht nur der seinem adligen Stand entspringenden vita activa zu widmen, sondern sich auch um eine angemessene geistige Ausbildung, um die vita contemplativa, zu bemühen, und verwies auf das platonische Ideal der Philosophen als Herrscher. Die dabei vermittelte Bildung sollte aber nicht mehr einen geistlichen Charakter haben; vielmehr verwies Enea auf die aus der Antike überkommene weltliche Bildung, deren Kenntnis für einen Fürsten eine zentrale Rolle spielen müsse.320 Gerade aus der Lektüre der antiken Schriftsteller kann ein Herrscher nach Enea vielfältigen Nutzen ziehen, vermittelt sie doch anders als die weltfremde Scholastik praktische Erkenntnisse, so zu Fragen der Landwirtschaft, des Kriegswesens, des gesellschaftlichen Lebens, des Regierens und vielen anderen Aspekten. Das Studium der antiken Autoren prägt für Enea gleichermaßen den Charakter und regt zur politischen Wirksamkeit an. Wenn er allerdings den Empfänger des Briefes auffordert, sich noch eine »Reifezeit« zu geben, um sich in Ruhe dem Studium der Alten widmen zu können, spricht er eindeutig im Interesse seines Dienstherrn, denn Friedrich war von den Versuchen Sigismunds, seines Vetters, sich vorzeitig aus seiner Abhängigkeit zu lösen, wenig angetan. Gleichwohl kehren die Grundideen Eneas auch an anderen Stellen seines umfangreichen Werkes wieder. Das gilt auch für eine andere »Erziehungs319 Zum Kontext Helmrath, Dekade, bes. S. 343. 320 Bauer, Bildungsprogramme, S. 249.

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Lehrpläne und Studienordnungen

schrift«, den Traktat »Über die Erziehung der Kinder« (De liberorum educatione), den er im Februar 1450 für ein anderes Mündel Friedrichs III., für Ladislaus Posthumus, den nach dem Tod seines Vaters geborenen Sohn König Albrechts II., verfasste. Auch dort fordert Enea für die Fürstenerziehung die Verbindung von theoretischen und praktischen Aspekten der Ausbildung, von sapientia und virtus, von Weisheit und Tugend, die durch die studia humanitatis, die Zuwendung zu den antiken Autoren, erreicht werden soll Dafür legte er die einleitend behandelte Lehrschrift Quintilians, die Institutiones oratoriae, zugrunde, die dieser dem Sohn seines Freundes Vitorius Marcellus gewidmet hatte; und wie Quintilian danach als Prinzenerzieher an den Hof Kaiser Domitians ging, so hoffte Enea mit seiner Schrift auf die Bildung am kaiserlichen Hof in seiner Zeit Einfluss zu gewinnen. Wie dies auch im Lehrprogramm der Universitäten geschah, hielt der italienische Humanist dabei am Schema der sieben »freien Künste« fest und nahm nur eine neue Akzentsetzung vor. War die Grammatik im universitären Unterricht zurückgedrängt worden, räumte er ihr wieder breiten Raum ein und wies ihr den ersten Rang innerhalb des Triviums zu. Sie lässt sich für ihn in vier zentrale Aspekte gliedern, in die – gewissermaßen zur Rhetorik hinüberführende – Lehre vom richtigen Sprechen, in eine kanonische Zusammenstellung der richtigen Lektüre, in die Interpretation der jeweiligen Autoren sowie in die Einführung in die Kunst des richtigen Schreibens. Dahinter müssen die anderen Disziplinen zurücktreten, auch die des Quadriviums, von denen Enea vor allem die Musik und die Astronomie hervorhebt. Insbesondere die Dialektik, Grundlage der universitären Ausbildung nicht zuletzt im Bereich der Theologie, wird vom künftigen Papst abgewertet und kritisiert. Im Zentrum seines Bildungsprogramms steht eine praktische Lebensweisheit, die Enea mit der Philosophie identifiziert und als letztes Ziel der Ausbildung eines Fürsten bestimmt.321 Zwar hatten seine Ideen bei den unmittelbaren Empfängern seiner Schriften keine Wirkung, zumal Ladislaus jung starb, bevor er politischen Einfluss erlangte, doch die Kaiserin Eleonore richtete die Erziehung des jungen Maximilian an Eneas Schrift »Über die Erziehung der Kinder« aus, so dass dies wesentlich die humanistischen Interessen des künftigen Königs und Kaisers erklärt. Maximilian hat 1514 im Prosaroman Weißkunig seine Ausbildung selbst geschildert und darauf hingewiesen, wie sehr dabei im Sinne Eneas eine Konzentration auf das Wesentliche versucht worden sei, ein Hinweis auf Eneas Kritik an der scholastischen Gelehrsamkeit. Wirksam wurden Eneas Vorstellungen aber auch im unmittelbaren Umfeld der Kanzlei. So trug z. B. Johann Hinderbach, der aus dem Kanzleidienst zum Bischof von Trient aufstieg, zur Verbreitung seiner Schriften bei, indem er unter anderem die Kaiserin mit De liberorum educatione be321 Ebd., S. 251.

Weitere spätmittelalterliche Bildungsprogramme

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kanntmachte. In das von Enea beeinflusste Umfeld gehört auch der bereits als Esslinger Stadtschreiber erwähnte Niklas von Wyle († 1479),322 der eine Sammlung von Briefen Eneas veröffentlichte. Die humanistischen Ideale fanden bald auch Eingang an der Wiener Universität, als der Philosoph und Astronom Georg von Peurbach (1423–1461) 1458 in einer universitären Disputation auf der Grundlage der Werke Quintilians zum Unterschied von Rhetorik und Poesie, zu einem »klassischen« Problem des Humanismus, Stellung nahm. Einen Höhepunkt erreichte der humanistische Einfluss an der Wiener Universität, als 1497 der regius poeta, der königliche Dichter, Konrad Celtis durch Maximilian auf den ersten Wiener Lehrstuhl für Rhetorik und Poetik berufen wurde. Celtis hatte schon in seiner Antrittsrede an der jungen, nach humanistischen Idealen gegründeten Ingolstädter Universität das Ideal einer ganzheitlichen, fachübergreifenden Bildung vertreten, und in Wien suchte er Poetik, Rhetorik und Philosophie zu den zentralen Bausteinen eines allgemeinen Bildungsprogramms zu entwickeln, das vertieftes Wissen mit politischer Wirksamkeit verbinden sollte. Dies spiegelte sich auch 1501 in der Gründung eines Collegium poetarum et mathematicorum, das die sich allmählich von der Philosophie lösenden Naturwissenschaften mit humanistischen Bildungsinhalten verbinden und so eine weltlich ausgerichtete Bildungsinstitution entstehen lassen sollte.323 Mit diesen Entwicklungen zeichneten sich somit andere, »neuzeitliche«, Lehrprogramme ab. Im Folgenden sollen nunmehr die mittelalterlichen Lehrinhalte im Zentrum stehen.

322 Kap. 5, zu Anm. 36. 323 Ebd., S. 259–60.

7.

Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

Im Überblick über die Lehrpläne und Bildungsprogramme für die Institutionen der mittelalterlichen Bildungsgeschichte sollte nicht nur die zentrale Rolle der sieben »freien Künste«, der artes liberales, deutlich geworden sein, sondern auch, dass diese immer wieder neue Auslegungen erfuhren und dass sich auch die Gewichte zwischen den sieben Disziplinen, ebenso wie zwischen den beiden Teilen der artes, dem Trivium und dem Quadrivium, immer wieder verschoben. Die Ursachen für diese Veränderungen lagen einmal bei den Autoren selbst, in ihren unterschiedlichen Interessen, zum anderen aber in veränderten Rahmenbedingungen. So erklärt sich die große Bedeutung des Triviums im früheren Mittelalter wohl vor allem durch die Tatsache, dass selbst die elementaren Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit den artes nicht mehr wie selbstverständlich zugrunde gelegt werden konnten, da das antike Schulwesen weitgehend untergegangen und das Lateinische für einen großen Teil der Gelehrten nicht mehr die Mutter-, sondern eine Hoch- oder letztlich eine Fremdsprache war. Die Ausbildung musste deshalb fast während der gesamten mittelalterlichen Entwicklung bereits mit dem Erlernen der Sprache einsetzen, und folglich kam den grundlegenden Fächern des Triviums, vor allem der Grammatik, eine wichtige Hilfsfunktion zu. Ohne sie gab es keinen Zugang zu den anderen Wissenschaften. Keine bildliche Darstellung des (ausgehenden) Mittelalters zeigt dies deutlicher als die Darstellung der Grammatik in den Margarita philosophica (»Philosophischen Perlen«) des Gregor Reisch (1503).324 Denn die Grammatik, die einen Jungen an den »Turm der Wissenschaften« heranführt, hält nicht nur eine ABC-Tafel als Zeichen für das Erlernen von Schreiben und Lesen, sondern auch den Schlüssel zu diesem Gebäude, in dem übereinander Donatus und Priscian als die beiden Lehrmeister der Grammatik sowie die Vertreter aller anderen Disziplinen bis hin zur durch Petrus Lombardus repräsentierten Theologie und Metaphysik residieren. Die beiden anderen Fächer des Triviums, 324 Zum Kontext Heinzer, Gregor Reisch.

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Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

Dialektik (oder Logik) und Rhetorik, werden dabei durchaus angemessen durch Aristoteles und Cicero vertreten. Charakteristisch für das spätere Mittelalter ist in dieser Darstellung allerdings die Verbindung von Rhetorik und Poetik (poesis), die auf humanistische Einflüsse zurückgeht, während im frühen und hohen Mittelalter die Lektüre der antiken Dichtung vor allem im Kontext der Grammatik-Ausbildung erfolgte. Zweifellos werden sich die Inhalte von Rhetorik und Dialektik auf der niedrigen, elementaren Stufe des Erwerbs von Lateinkenntnissen deutlich von den entwickelten eigenständigen Disziplinen unterschieden haben; in diesem Fall bestanden sie, wie etwa im Frankenreich vor dem Wirken Alkuins, aus einigen wenigen grundlegende Regeln, die die geschicktere Anwendung der erlernten Sprache erleichtern sollten. Grundlegenden Einfluss auf die Entwicklung hatte aber nicht nur, dass das Lateinische zur Hoch- oder Fremdsprache wurde, sondern dass andere Sprachen, allen voran das Griechische, weitgehend in Vergessenheit gerieten, denn so wurden wichtige Verbindungen zur antiken Kultur abgeschnitten. Dass die Kenntnisse des Griechischen im Westen schon am Ausgang der Antike nicht mehr selbstverständlich waren, zeigt unter anderem die bereits mehrfach angesprochene Übersetzertätigkeit des Boethius, der seinen Zeitgenossen die Werke der griechischen Philosophen, allen voran die des Aristoteles, in lateinischen Übersetzungen zugänglich machen wollte. Dies setzte sich im frühen und späteren Mittelalter fort, bis sich die Humanisten um eine Erneuerung der Griechischkenntnisse bemühten, angestoßen auch von den kulturellen Kontakten zum untergehenden Byzantinischen Reich. Dagegen war kaum einem der früheren mittelalterlichen Gelehrten eine griechische Grammatik zugänglich, ebenso wenig der »originale« Homer, die griechischen Dramatiker und die vorchristlichen Historiker. Die griechische Bildung lebte vor allem in Übersetzungen weiter, von der Bibel über (Pseudo-) Dionysios Areopagita bis hin zu Aristoteles. Bei alledem darf man jedoch den mittelalterlichen Anteil an der Griechen-Rezeption nicht unterschätzen. So spielte das Griechische in der Liturgie und auch in den Laudes für die römischen Kaiser des Westens eine Rolle, und immer wieder finden sich griechische Begriffe in der Formulierung von Buchtiteln. Dabei stand allerdings die christliche Tradition im Vordergrund, nicht das klassische Griechenland, sondern das christliche, griechisch geprägte Oströmische oder Byzantinische Reich. Die wenigen westlichen Gelehrten, die über Griechischkenntnisse verfügten, interessierten sich weniger für die antike Literatur wie die Homer zugeschriebenen Dichtungen, sondern für die neoplatonisch beeinflussten Lehren des (Pseudo-)Dionysios

Die Bedeutung der Grammatik im frühen und hohen Mittelalter

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Areopagita, die Bibeltexte und allgemein für Griechisch als eine der heiligen Sprachen.325 In der irischen Kultur des frühen Mittelalters konnten daher zumindest einige Gelehrte – wenn auch oftmals nur rudimentär – Griechisch lesen oder übersetzen. So war das griechische Alphabet ganz oder mindestens teilweise bekannt, griechische Begriffe wurden aus spätantiken oder frühmittelalterlichen Autoren wie Hieronymus, Macrobius, Boethius, Priscian und Isidor von Sevilla exzerpiert und vielleicht auch Glossare eigenständig überliefert.326 Allerdings war man mit diesen elementaren Kenntnissen noch weit von einer Übersetzertätigkeit entfernt, und ein Übersetzer wie der im 9. Jahrhundert im Westfrankenreich wirkende Johannes Scotus Eriugena bildete für lange Zeit eine Ausnahmegestalt. Der Westen blieb grundsätzlich auf das Lateinische hin orientiert – selbst wenn im späteren Mittelalter noch die Volkssprachen hinzutraten –, und auch der griechische Ursprung einer ebenfalls rhetorisch-dialektische Elemente vereinenden Grammatik wie der des Priscian änderte nichts daran, dass im Westen wesentlich lateinische Grammatik, lateinische Rhetorik und Dialektik gelehrt wurden.

I.

Die Bedeutung der Grammatik im frühen und hohen Mittelalter

Es war vor allem die christliche Mission bei den Iren, den Angelsachsen und den germanischen Völkern, die seit dem 4. und 5. Jahrhundert eine Situation herbeiführte, in der immer mehr Vertreter der Kirche Latein, wie bereits angesprochen, nicht mehr als Muttersprache beherrschten, sondern als Fremdsprache lernen mussten. Zudem fehlte jeweils eine eigene volkssprachliche Schriftkultur, die ihnen den Zugang zu lateinischer Schriftlichkeit erleichtert hätte. Obwohl sie alltäglich mit dem Lateinischen in Liturgie, Chorgesang und Bibellektüre vertraut gemacht werden konnten, schuf der Unterricht in lateinischer Grammatik grundlegende Probleme. Die überlieferten spätantiken Handbücher des 4. und 5. Jahrhunderts waren nicht für die Anfänger in einer Fremdsprache, sondern – wie die Ars minor des Donatus – für »Muttersprachler« oder – wie die auch durch die Kenntnis griechischer Autoren geprägte Grammatik Priscians – eher für Fortgeschrittene konzipiert.327 Im Wesentlichen lagen drei verschiedene Formen von Grammatiken vor, die sich jeweils an den Bedürfnissen einzelner Gruppen orientierten: die »Schulgrammatiken«, Kommentare zu älteren Grammatiken sowie die Regulae, die 325 Berschin, Griechisches, S. 501. 326 Ebd., S. 510. 327 Leff, Trivium, S. 283.

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Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

Sammlungen zu formalen Zwecken darstellten. Da für die Schulgrammatiken die Kenntnis des Lateinischen vorausgesetzt wurde, lag der Schwerpunkt weniger auf der Diskussion der Formen als vielmehr auf dem semantischen Aspekt. Das gilt selbst für die im Mittelalter »klassische« Grammatik des Donatus, dessen Ars minor zwar die acht Teile der Rede aufführt, Substantiv, Pronomen, Verb, Adverb, Partizip, Konjunktion, Präposition und Interjektion, sie aber vor allem nach ihren Eigenschaften untersucht.328 So fehlen zwei von fünf Deklinationen, und für die Konjugation von Verben wird nur ein Beispiel genannt. Auch die Ars maior des Donatus bot dafür keine Abhilfe, ebenso wenig die zahlreichen anderen Grammatiken der römischen Kaiserzeit oder die Kommentare zu den älteren Grammatiken, die sich nach Donatus entwickelten. Die Regulae waren dagegen wesentlich zum Nachschlagen bestimmte Texte, die z. B. die Endungen aller Substantive oder aller Verben in verschiedenen Deklinationen und Konjugationen auflisteten, aber dem Anfänger nur wenig Anhaltspunkte für die grundlegenden Formen der Sprache boten. In einigen grammatischen Werken waren die Formen der Schulgrammatik und der Regulae miteinander verbunden, so bei Priscian, dessen Institutiones grammaticae eine so umfangreiche Beschreibung grammatischer Formen bieten, dass die Nutzung des Werks intensive Kenntnisse des Lateinischen voraussetzte.329 In der frühmittelalterlichen Entwicklung kam den Iren eine zentrale Bedeutung für die Fortführung dieser grammatischen Tradition zu, vielleicht nicht ganz zufällig, waren sie doch als eines der ersten Völker außerhalb der Grenzen des ehemaligen Römischen Reiches christianisiert worden. Im Wesentlichen entstanden in der vorkarolingischen Zeit wiederum drei Typen von Texten: neue Kommentare zu älteren Grammatiken wie die Ars Ambrosiana aus dem von Kolumban d. J. gegründeten Bobbio in Norditalien, die sich auf eine detaillierte Analyse der Ars maior des Donatus beschränkt, Sammlungen von Deklinationen oder Konjugationen, unter dem Titel von Declinationes nominum bzw. Conjugationes verborum, sowie eigene, insulare Elementargrammatiken. Der Ausgangspunkt für diese Texte war, die Schrift des Donatus durch die für den Anfänger notwendigen Informationen zu ergänzen. Daraus entwickelten sich bis 700 Standardformen für eine Elementargrammatik, bei der zwar weiterhin die Ars minor des Donatus zugrunde gelegt wurde, aber ab einer bestimmten Stelle mit Hilfe anderer Texte, auch der Declinationes nominum, jeweils zahlreiche Beispiele für die Deklinationen aufgelistet sind. Diese Grammatiken, zu denen auch eine Schrift des Winfrid-Bonifatius zählt, die er noch vor dem Beginn seiner missionarischen Aktivitäten an der Klosterschule in Nursling verfasst hat, boten dann den Gelehrten der »karolingischen 328 Law, Study, S. 89. 329 Vgl. ebd., S. 90.

Die Bedeutung der Grammatik im frühen und hohen Mittelalter

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Renaissance« eine wichtige Grundlage. Da sie sich aber nicht mit elementaren Kenntnissen der lateinischen Grammatik zufriedengeben wollten,330 sondern literarische Ambitionen entwickelten, suchten sie ihre Kenntnisse der Grammatik durch antike Werke zu verbessern. So suchten und fanden sie ältere Donatus-Kommentare, weitere kürzere Schulgrammatiken und Regulae, unter anderem Augustinus zugeschriebene Texte. Bei der Verbreitung dieser seltenen Manuskripte spielte die Palastbibliothek Karls d. Gr. eine zentrale Rolle. Die wichtigste Wiederentdeckung war zweifellos die der »großen« Grammatik Priscians, der Institutiones. Von den Handschriften aus der Zeit um 800, die sich erhalten haben, stammen drei aus Italien, vier aus irisch oder angelsächsisch beeinflussten Zentren auf dem Kontinent und sieben aus Nordfrankreich, davon ein erheblicher Teil aus Alkuins Kloster in Tours. So geht wahrscheinlich die Wiederentdeckung der Institutiones wie auch einer anderen Schrift Priscians auf den Einfluss Alkuins und anderer insularer Gelehrter zurück. Alkuin hat zudem in dem im vorangehenden Kapitel erwähnten »Dialog zwischen einem Franken und einem Angelsachsen über die acht Teile der Rede« (Dialogus Franconis et Saxonis de octo partibus orationis) den Versuch unternommen, die komplexe Grammatik Priscians in leicht verständlicher, dialogischer Form darzustellen. Andere Versuche zur »Popularisierung« der Institutiones folgten, unter anderem durch den in Fulda unter Hrabanus Maurus ausgebildeten Walahfrid Strabo, der in zwei Werken eine Verschmelzung der Grammatiken des Donatus und des Priscian unternahm; einmal, in dem er die Ars minor durch Informationen aus den Institutiones ergänzte, zum anderen, indem er ausgewählte Teile der Institutiones mit Stücken aus der Ars maior des Donatus verband. Schon zuvor waren aber an der karolingischen Hofschule eigene Grammatiken entstanden, die an die insulare Tradition wie an Donatus anschlossen, so etwa von Paulus Diaconus und Petrus von Pisa. Bei Petrus kehrt die von Alkuin bevorzugte dialogische Form in ähnlicher Gestalt wieder, als Abfolge von Fragen und Antworten, die in pädagogisch eindringlicher Weise grammatische Kenntnisse vermitteln sollte. So heißt es z. B. einer Stelle: »Wir sollten fragen, was poeta ist. Ein Wort. Zu welcher Klasse von Worten gehört es? Es ist ein Substantiv. Wie viele Eigenschaften hat dieses Substantiv? Fünf. Welche sind dies? Qualität, genus, Zahl, einfacher [oder] zusammengesetzter Zustand, Fall. Was für eine Qualität hat poeta? Allgemeine«, usw.331 Hatte Petrus dieses Frage- und Antwortschema nur in einigen Fällen eingesetzt, entstand seit dem späten 8. Jahrhundert eine neue Form von »analytischen« Grammatiken, die allein auf diesem Schema aufbaute. Auch diese Grammatiken wurden wieder mit den älteren Kommentaren oder selbst mit den 330 Ebd., S. 92. 331 Petrus Pisanus, Ars; vgl. Law, Study, S. 94.

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Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

Declinationes nominum kombiniert. Diese Texte erfreuten sich bis zum Ende des Mittelalters großer Beliebtheit. Auch zwei elementare grammatische Schriften des späteren Mittelalters, das nach seinem Anfang zitierte Dominus quae pars bzw. Ianua oder Poeta quae pars, sind nach diesem Frage- und Antwortschema angelegt; Teile dieser anonym überlieferten Texte wurden sogar mehrfach gedruckt. Daneben gewannen in der Karolingerzeit dialektische Elemente Einfluss auf die Grammatik. Schon von der Grammatik Priscians gingen Impulse für die Beschäftigung mit Dialektik aus, da er oftmals ausführlich auf die Definitionen und die Bedeutung technischer Begriffe einging, und bei Alkuin spielte dann die Verbindung von Grammatik und Dialektik insofern eine Rolle, als er in seine Grammatik Definitionen von Substantiven und Verben secundum philosophiam integrierte, die er aus dem aristotelischen De interpretatione übernommen hatte.332 Diese Definitionen waren dann auch für andere Autoren ein wichtiger Ausgangspunkt, sich mit grammatisch-dialektischen Problemen zu befassen. So beschäftigte sich etwa Petrus von Pisa mit der von Donatus gegebenen Definition von Verben, indem er sie mit Kategorien der Einführungsschrift des Porphyrius, der Isagoge, in Beziehung setzte. Donatus definiert ein Verb als »Redeteil mit Zeit und Person, ohne Fall, der entweder Bewirken, Erleiden oder keines von beiden anzeigt«;333 und Petrus analysierte diese Definition nach fünf Aspekten, Art, Geschlecht, Übereinstimmung, Unterschied und Eigenschaft (species, genus, communio, differentia, proprietas), wobei jedem Aspekt ein Teil der Definition entspricht.334 Von dieser Übertragung war es nur ein Schritt, die acht Teile der Rede mit den zehn von Aristoteles in der »Kategorienschrift« unterschiedenen Formen des Seienden, den zehn Kategorien, in Verbindung zu bringen. Dies geschah bald darauf in einem anonymen Text aus dem Kloster St. Gallen und setzte sich bis ins 10. Jahrhundert fort; danach war es dann um die Mitte des 12. Jahrhunderts Petrus Elias, der eine dialektische Durchdringung der Grammatik unternahm und großen Einfluss gewann.335 Übernahm dabei die Dialektik gewissermaßen eine Hilfsfunktion für die Grammatik, sollten beide Disziplinen ihrerseits im Wesentlichen einem besseren Verständnis der theologischen Schriften dienen. Obwohl sich mit Berufung auf die Kirchenväter immer wieder Widerstände gegen die Auseinandersetzung mit grammatischen Problemen regten, hoben die Autoren der »karolingischen Renaissance« dagegen die grundlegende Funktion

332 333 334 335

Vgl. Gibson, Milestones, S. 17–18. Donati Ars, S. 359. Law, History, S. 152. Gibson, Milestones, S. 32.

Die Bedeutung der Grammatik im frühen und hohen Mittelalter

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der Grammatik hervor. So hat etwa Smaragd, der spätere Abt von St. Mihiel-surMeuse, in der Einleitung zu seiner Grammatik vermerkt: »Manche Leute, die von Natur aus naiv sind, andere, die sich hinter dem Vorwand der Heiligkeit verstecken, und andere im Griff der Bequemlichkeit sagen, weil Gott weder in der Grammatik diskutiert noch namentlich genannt ist und die einzigen Namen und Beispiele, die sich dort finden, die von Heiden sind, dass Grammatik von ihnen missachtet und ignoriert werden kann. Sie sind sich offenbar nicht bewusst, dass die Vermittlung eines technischen Gegenstands etwas völlig anderes ist, als von Gott zu reden. […] Im Vertrauen auf seine Hilfe, nicht in einem übertragenen oder obskuren Sinne […], lernen wir die Kunst der Grammatik, die von den Heiden so gut gesetzmäßig erfasst wurde, und bieten sie voll Freude dem Herrn dar […]«.336

In Reaktion auf die angeführten Argumente versuchte Smaragd, seine Grammatik weitgehend auf biblischen Beispielen aufzubauen. Deshalb hat er, zum kleineren Teil im Anschluss an ältere Grammatiken, im Wesentlichen jedoch eigenständig, in seiner Schrift rund 750mal auf die Bibel Bezug genommen, dabei zu drei Vierteln auf das Alte Testament. Aber auch über die Beispiele hinaus betrieb Smaragd eine »Christianisierung« der Grammatik, indem er nach biblischen Argumenten für grammatische Regeln suchte. So setzte er die acht Teile der Rede mit den acht Passagieren der Arche Noah, den acht Glückseligkeiten und anderen Belegen für die Zahl acht in der Bibel in Beziehung, und in Streitfragen griff er auf die Autorität der Bibel zurück, um eine Klärung herbeizuführen, etwa im Zusammenhang mit dem Problem, ob das Verb von einem Personalpronomen begleitet sein sollte. Smaragd stieß mit seinem Zugang zur Grammatik bei seinen Zeitgenossen auf recht weitreichende Resonanz, und andere Autoren grammatischer Werke folgten seinem Vorbild. Umgekehrt fand die Grammatik aber auch bei den Theologen Eingang, so dass z. B. Johannes Scotus Eriugena und Gottschalk der Sachse, aber auch Hinkmar von Reims sich in ihren Schriften grammatischer Argumente bedienten. Dazu trug eine stärkere Textbezogenheit bei; diese findet sich jedoch auch in den seit dem 9. Jahrhundert entstandenen Kommentaren zur Grammatik, die wesentlich durch die irische Tradition beeinflusst waren. Besonders zwei Iren sind zu nennen, die durch Grammatik-Kommentare hervorgetreten sind: Murethach, der in den 840er Jahren in Auxerre und Metz wirkte337 und die Ars maior des Donatus kommentierte, sowie der etwa zur selben Zeit an der Kathedralschule von Lüttich tätige Sedulius Scottus, von dem sich unter anderem auch Kommentare zu den Institutiones grammaticae Priscians sowie zu zwei anderen antiken Grammatikern, zu Eutyches und Phocas, erhalten haben.338 336 Smaragdus, Liber; vgl. Law, Study, S. 100. 337 Mvrethach, In Donati, S. XXIII–XXIX. 338 Düchting, Sedulius, S. 868.

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Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

Beide greifen – wie übrigens auch andere Grammatik-Kommentare der Zeit – auf eine verlorene irische Grammatik zurück, die teilweise wörtlich übernommen wurde. Wesentlich war ihnen zudem die Konzentration auf die Art und Weise gemeinsam, wie Donatus bestimmte Aussagen formuliert hatte. Dabei griffen sie teilweise auf die älteren, dialektischen Ansätze zur Analyse der grammatischen Definitionen zurück. Die irischen Kommentare zur Grammatik wurden fortgeführt und weiterentwickelt durch Remigius von Auxerre († um 908), der bei seiner Auseinandersetzung mit Donatus, Eutyches, Phocas und Priscian auch auf zahlreiche weitere antike und frühmittelalterliche Autoren zurückgriff, so auf Vergil, Persius, Martianus Capella, Boethius und Beda. Ihm ging es dabei weniger um eine Rechtfertigung dessen, was Donatus ausführte, sondern vor allem um ein Verstehen des Textes. Dabei wandte er sich unter anderem der Bedeutung der einzelnen Worte, ihrer Etymologie und verwandten Begriffen zu. Insbesondere der Donatus-Kommentar des Remigius erfuhr weite Verbreitung; diese Schrift wirkte bis ins spätere Mittelalter fort und war so bekannt, dass man ihm sogar eine der spätmittelalterlichen »analytischen« Grammatiken zuschrieb. Die frühmittelalterlichen Entwicklungen schufen somit die Grundlage für den Grammatikunterricht an den hoch- und spätmittelalterlichen Schulen und Universitäten. Wesentlich blieb der Einführungscharakter der Grammatik. Der Engländer Johann von Salisbury, der 1180 als Bischof von Chartres starb, hat so in seinem Metalogicon unter anderem eine Beschreibung des Grammatik-Unterrichts gegeben, Dabei hat er eingangs die Definition von Isidor von Sevilla wiederholt: »Die Grammatik ist nämlich die Kunst des rechten Sprechens und Schreibens und der Ursprung aller freien Künste«,339 und hinzugefügt: »Grammatik ist die Wiege aller Philosophie, und, auf eine bestimmte Redeweise, die Amme des gesamten Studiums der Wissenschaften«.340 Die Grammatik führte im Verständnis der Zeit selbst an die Dichtung heran, die mindestens von einem Teil der Autoren noch zur Grammatik gerechnet wurde. So heißt es etwa in einem Gedicht Stefans von Tournai († 1203), in dem die Ausbildung eines Knaben literarisch beschrieben wird: »Aufgefordert von der Grammatik naht sich die Poesie, begleitet von den neun Musen, um den von jener zuvor mit Sprachkenntnis Ausgerüsteten mit der poetischen Technik auszustatten«.341

Als Grundlage des Unterrichts galt weiterhin Donatus, während Priscian zeitweilig an Bedeutung verlor, vor allem im 10. und 11. Jahrhundert. Daneben fanden insbesondere im Zuge der »Renaissance des 12. Jahrhunderts« die ein-

339 Isidori Etymologiarum Libri, I,5, 1. 340 John of Salisbury, Metalogicon, I,13, S. 37. 341 Auvray, Poème, S. 288; Übersetzung bei Curtius, Literatur, S. 55.

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leitenden Kapitel der Institutio oratoria Quintilians Interesse, während die noch von Remigius kommentierten anderen spätantiken Grammatiker weitgehend in Vergessenheit gerieten. Das zeigt sich auch im Metalogicon des Johannes von Salisbury, in dem für die Grammatik neben Donatus und Priscian vor allem Isidor, Cassiodor, Beda und Quintilian genannt sind.342 Diesen klassischen Schultexten entstand jedoch seit dem 12. Jahrhundert Konkurrenz durch eigene scholastische Schriften. So erlangte zunächst die Summa de arte grammatica des Petrus Elias (um 1140/50) einigen Einfluss, der zu den Lehrern Johanns von Salisbury zählte. Petrus unterschied in seinem auf Donatus und Priscian aufgebauten Werk vier Teile der Grammatik: Orthographie, »Prosodie«, Etymologie und Syntax. Der erste Teil setzte sich mit dem gesprochenen und geschriebenen Wort und seinen Eigenschaften auseinander; der zweite, die »Prosodie«, mit den Akzenten, Pausen und der Zeichensetzung; während der dritte, die Etymologie, die Konjugationen und Deklinationen sowie die Wortbildung und Bedeutung behandelte; der vierte Teil schließlich, die Syntax, setzte sich mit der Satzbildung und ihren Regeln auseinander, was auch die Behandlung der Fälle einschloss. Folgenreich war einmal der dritte Teil, der über die Diskussion der Redeweisen zur Entstehung eigenständiger Traktate De modis significandi, »Über die Bezeichnungsweisen«,343 beitrug und damit die bereits angesprochene »spekulative Grammatik« vorbereitete; zum anderen aber auch ein Abschnitt des vierten Teils über die Redefiguren und ihre Fehlbildungen, mit denen der Bezug zur Rhetorik hergestellt wurde. Vor allem im universitären Milieu gewannen dann seit dem 13. Jahrhundert das Doctrinale des Alexander de Villa Dei sowie der Grecismus des Eberhard von Béthune an Bedeutung. Das 1199 entstandene Doctrinale ist eine in zwölf Kapitel aufgeteilte Grammatik, die wesentlich der Vermittlung des Stoffes dienen sollte344 und in metrischen Versen gestaltet war; dies kehrt auch im Grecismus des 1212 verstorbenen Eberhard wieder, der mit rund 4500 Hexametern vor allem das Erlernen der Grammatik erleichtern wollte und vielfach glossiert und kommentiert wurde. Diese und andere Schulautoren bildeten schließlich die Grundlage für den Grammatik-Unterricht an den Universitäten; sie waren aber zugleich eine Voraussetzung für die Vermittlung der Rhetorik.

342 John of Salisbury, Metalogicon, I,19, S. 57. 343 Pinborg, Entwicklung, S. 19–20, 57–58. 344 Alexander de Villa-Dei, Doctrinale, S. 7–8.

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II.

Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

Die Rhetorik vom Frühmittelalter bis in die Zeit des Humanismus

Die Rhetorik hat ihrerseits wissenssystematisch eine Mittelstellung zwischen Grammatik und Dialektik, kann sie doch sowohl als »Fortsetzung« der Grammatik, als Möglichkeit zur Verbesserung der erlernten Sprache, wie auch als Teil der Dialektik oder Logik begriffen werden, als Instrumentarium zur argumentativen Auseinandersetzung. Dies erklärt die unterschiedliche Stellung, die ihr in den verschiedenen, im vorangehenden Kapitel besprochenen Lehrplanmodellen zukam. Wie bereits aus der kurzen Vorstellung der Institutio oratoria Quintilians deutlich geworden sein sollte, kam ihr in der Antike so grundlegende Bedeutung zu, dass ihr sogar die anderen Disziplinen untergeordnet werden konnten; die Redekunst hatte auf jeden Fall eine einflussreiche Stellung in der Öffentlichkeit. Dies erklärt auch, dass sie noch mehr als die Grammatik bereits in der Antike eine systematische Ausgestaltung erfuhr, bei der fünf Teile der Rhetorik unterschieden wurden: inventio, dispositio, elocutio, memoria und actio (Findungslehre, Anordnung, Ausdruck, Gedächtnis und Vortrag).345 Zugleich differenzierte man die Beredsamkeit nach ihren Gegenständen: als Gerichtsrede, als beratende Rede und Lob- oder Prunkrede. Obwohl die Gerichtsrede im früheren Mittelalter mit dem Römischen Recht an faktischer Bedeutung und »Verwertbarkeit« verlor, blieb sie doch eine wichtige Form, für die die umfangreichsten Regeln aufgestellt wurden. So hat z. B. auch Alkuin in seiner dialogischen Schrift »Über die Rhetorik und die Tugenden« 346 Karl d. Gr. anhand von fiktiven Rechtsfällen die Gerichtsrede üben lassen; und in den oberitalienischen Rechtsschulen kam mit der Wiederbelebung des Römischen Rechts auch die antike Gerichtsrede wieder zu Ehren. Den höchsten Rang aber hatte seit der römischen Kaiserzeit die Lob- oder Prunkrede, für die sich das Herrscherlob als eigene Gattung ausbildete, für die besondere Traktate entwickelt wurden. Eine kleine Anweisung »Über das Lob« des im 2. Jahrhundert wirkenden Hermogenes wurde Anfang des 6. Jahrhunderts durch den Grammatiker Priscian ins Lateinische übersetzt und wirkte so an den lateinischen Schulen weiter. Im Rahmen der fünf Teile der Rhetorik spielte schon in den antiken Diskussionen die Findungslehre (inventio) die hervorragendste Rolle. Ausgehend von der Gerichtsrede und von der Erwartung, dass jede Rede die Zuhörer gewinnen, aufmerksam machen und belehren machen sollte,347 wurden für den Aufbau wiederum fünf Teile unterschieden: Einleitung, »Erzählung«, Beweis, Widerle345 Curtius, Literatur, S. 77. 346 Vgl. Kempshall, Virtues. 347 Curtius, Literatur, S. 79.

Die Rhetorik vom Frühmittelalter bis in die Zeit des Humanismus

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gung gegnerischer Behauptungen und Schluss (exordium oder prooemium, narratio, argumentatio oder probatio, refutatio, peroratio oder epilogus). Diese Bestandteile wurden auch auf die anderen Gegenstände von Reden übertragen; sie wirken überdies fort im »klassischen« Aufbau mittelalterlicher Urkunden, in denen Beweis und Widerlegung allerdings durch rechtliche Verfügung und Strafandrohungen ersetzt sind und der Schlussteil auch die Beweismittel umfasst. Da sich der Beweis in der »schönen« Rede auf wiederkehrende Argumente stützen konnte, legte man Sammlungen davon an und suchte diese systematisch zu erfassen. So entstand eine eigenständige Lehre von den topoi oder loci communes, den »stehenden Wendungen« in der Rede, die Topik, die in eigenen Schriften behandelt wurde. Zugleich gewann die Rhetorik auch auf andere Bereiche der Literatur Einfluss, wurde zur grundlegenden Formenlehre, wie sich die topoi zu allgemein verwendbaren Klischees entwickelten. So wurde die Rhetorik durch Plinius auch auf Prosabriefe übertragen. In der Spätantike nahmen diese Entwicklung im 4. Jahrhundert Quintus Aurelius Symmachus und nach seinem Vorbild dann im 5. Jahrhundert der Gallier Sidonius Apollinaris († 486) wieder auf, deren Briefe für die »Renaissance des 12. Jahrhunderts« beispielhaften Charakter erlangen sollten. Einflussreich für die mittelalterliche Entwicklung der Rhetorik waren aber auch die Kirchenväter, allen voran Augustinus, der selbst einige Zeit als Rhetoriklehrer gewirkt hat. Er hat nicht nur die Texte der Bibel unter rhetorischem Aspekt gewertet, sondern auch mit seinen eigenen Schriften zur Verbreitung rhetorischer Formen beigetragen. So sind selbst seine Confessiones, seine »Bekenntnisse«, ein Beispiel für antike Kunstprosa. Die antike Rhetorik bot somit für ihn ein Instrumentarium für die Verbreitung christlicher Vorstellungen.348 Eine wichtige Rolle spielte dann am Anfang der frühmittelalterlichen Entwicklung Cassiodor, der als Politiker des Ostgotenreichs noch selbst mit der politischen Rhetorik in römischer Tradition vertraut war. So verfasste er ein Schreiben für den Ostgotenkönig Athalarich, in dem die Aufgaben des Schulwesens beschrieben werden. Darin ist neben der Grammatik und der Beschäftigung mit den antiken Autoren das Studium der Rhetorik als ein dem Interesse des Reiches dienendes Ausbildungsziel definiert: »Die Barbarenkönige bedienen sich ihrer nicht; sie verbleibt bei den gesetzlichen Herrschern. Waffen und das Übrige haben auch die anderen Völker: aber die Beredsamkeit steht einzig den Herren der Römer zu Gebote«.349

Diese Selbstverständlichkeit der rhetorischen Tradition ging allerdings – im Westen – spätestens mit dem Ostgotenreich unter. Nach dem Ende seiner poli348 Ebd., S. 84. 349 Cassiodor, Variae, IX, 21, S. 286; Übersetzung Curtius, Literatur, S. 84–85.

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Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

tischen Wirksamkeit und seinem Rückzug in das Kloster Vivariense hat sich Cassiodor im Rahmen seiner Institutiones im Abschnitt über die »weltliche Bildung« noch einmal kurz mit der Rhetorik auseinandergesetzt, und zwar im Rahmen der artes liberales. Den Aufgaben dieser für seine monastische Gemeinschaft konzipierten Schrift entsprechend, enthalten die Institutiones keine eigenständige Behandlung der Rhetorik, sondern beschränken sich im Wesentlichen darauf, die antiken Regeln der Rede und der Konzeption von Texten den liturgischen Zwecken anzupassen. Auch die Etymologiae Isidors von Sevilla gehen nicht sehr weit über den bei Cassiodor präsentierten Bestand der Rhetorik hinaus. So sieht sich Isidor angesichts der Fülle antiken Materials zur Selbstbeschränkung gezwungen; er reduziert die Rhetorik deshalb nach dem Vorbild des Martianus Capella auf die Gerichtsrede: »Die Rhetorik ist die Wissenschaft von der schönen Rede in Zivilrechtsfällen«, heißt es bei ihm.350 Allerdings behandelt er auch die Figurenlehre, für die er viele Belege aus der Dichtung anführt. In der folgenden Entwicklung trat die Rhetorik innerhalb der artes hinter der Grammatik zurück; die Sprachvermittlung wurde wichtiger als die Kenntnis schöner Formen der Sprache, auch wenn Aspekte der Rhetorik ebenso im Rahmen der Grammatik eine Rolle spielten. Mit dem 10./11. Jahrhundert trat jedoch eine Erneuerung der Rhetorik ein. So wurde die Lehre vom Ausdruck, die Theorie des ornatus, in Lehrgedichten abgehandelt, etwa in De lege dictamen ornandi (»Über die Regeln der Ausschmückung des Schreibens«) des St. Galler Abtes Ekkehard IV. († n. 1057) oder in De ornamentis verborum (»Über die Ausschmückung der Worte«) Marbod von Rennes († 1123). Zugleich kam es jedoch zur Ausbildung einer eigenen mittelalterlichen Rhetorik mit der Entstehung der ars dictaminis oder ars dictandi, der »Kunst des (schönen) Schreibens«.351 Sie schloss an die Formel- und Briefsammlungen an, die sich bereits seit der Merowinger- und Karolingerzeit entwickelt hatten, jetzt aber mit Einleitungen und Überlegungen zu den Regeln versehen wurden. Ausgangspunkt war das Bedürfnis in den kirchlichen sowie königlichen Kanzleien, für die Abfassung von Urkunden und Briefen möglichst kunstvolle Vorlagen zugrunde legen zu können; die ars dictaminis erwuchs somit aus der Verwaltungspraxis. Bei der Auseinandersetzung mit der Brieflehre konnte man auf die spätantiken Traditionen, etwa auf Symmachus, Sidonius und Cassiodor zurückgreifen, aber auch auf ältere Vorbilder. Die ars dictaminis bildete jedoch den Versuch, die Rhetorik von der Briefkunst her aufzubauen, diese also anstelle der Gerichtsrede an die »Spitze« der Beredsamkeit zu setzen. Damit ging eine gewisse Abgrenzung zu den bisherigen theoretischen Vorstellungen über Rhetorik einher, da man sich den Bedürfnissen der Zeit anpassen musste. 350 Isidori Etymologiarum, II,1. 351 Worstbrock, Anfänge.

Die Rhetorik vom Frühmittelalter bis in die Zeit des Humanismus

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Vielsagend ist in diesem Zusammenhang der Bedeutungswandel des lateinischen dictare. Bedeutete dictare ursprünglich »diktieren«, gewann es schon in der Antike durch das Diktieren von Briefen und anderen Schriften die Bedeutung von »schreiben«, »abfassen«, bis hin zum Schreiben poetischer Werke. Aus diesem Wortfeld stammen die deutschen Begriffe »dichten«, »Dichtung«,352 und dictamen meint so im Mittellateinischen schließlich auch das Gedicht. Nicht zufällig spricht Dante von den Troubadours als dictatores illustres. Auch wenn die Texte zur ars dictandi oft nur Abschnitte über die Briefkunst enthielten, betonten sie deshalb immer wieder in der Einleitung, dass die ars dictaminis sowohl Prosa wie auch Poesie umfasst. Dabei kam es allerdings durch die Unterscheidung verschiedener Formen von Poesie zu einer Aufspaltung in drei bzw. sogar vier Formen von dictamina. Grundsätzlich wurde zunächst zwischen »silbenmessender« oder metrischer und »akzentuierender« oder rhythmischer Poesie differenziert; später kam als Mischform die Reimprosa hinzu, so dass im Rahmen der ars dictaminis sowohl die metrischen, die rhythmischen, die prosaischen wie auch die gemischten Formen behandelt wurden.353 Damit wurden die Grenzen zwischen Poesie und Prosa zunehmend unscharf; aber auch im Bereich der Prosa bestanden weitere Unterscheidungen, zwischen der »schlichten« Prosa für Briefe, Urkunden, Historiographie und Fachschrifttum und der »Kunstprosa«, bei der allerdings im Satzschluss seit der Spätantike rhythmische Formen beachtet wurden. Die Vorherrschaft der ars dictaminis hatte jedoch nicht zur Folge, dass die anderen antiken Gegenstände der Rhetorik völlig in Vergessenheit gerieten; vielmehr spielten die Gerichtsrede und insbesondere die Prunk- und Lobrede weiterhin eine wichtige Rolle. Das Interesse daran zeigt sich vor allem in Italien, wo z. B. um 900 der Grammatiker Eugenius Vulgarius in Neapel in einem Gedicht mit 20 Hexametern die Regeln der Gerichtsrhetorik beschrieb und wo um 1050 Anselm von Besate in seiner Retorimachia einen fiktiven Rechtsstreit erörterte, um den Nutzen der Rhetorik deutlich zu machen.354 Dem Studium von Grammatik und Rhetorik kam innerhalb der Vorbereitung auf die Rechtswissenschaften große Bedeutung zu, und nicht zufällig haben sich schon aus dem 12. Jahrhundert feierliche Reden italienischer Juristen erhalten.355 Neben fiktiven Rechtsfällen wurden auch Fragen diskutiert, die die Gerichtsrede zur Beratungsrede werden ließen, etwa, ob man heiraten solle. Wenn diese Frage, wie häufig im Mittelalter, von den männlichen, oftmals geistlichen, Autoren mit Hinweis auf den weiblichen Charakter verneint wurde, ergab sich die 352 353 354 355

Curtius, Literatur, S. 86. Ebd., S. 158. Bennett, Controversia, bes. S. 5. Vgl. Curtius, Literatur, S. 164.

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Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

Form der »abratenden Rede« (dissuasio). Eine der beliebtesten war die Dissuasio Valerii ad Rufinum philosophum ne uxorem ducat, die »abratende Rede des Valerius an den Philosophen Rufinus, dass er keine Frau nähme«, die der Engländer Walter Map in seiner um 1190 entstandenen Anekdotensammlung »Über die Vergnügungen der Höflinge« (De nugis curialium) verbreitete;356 sie wurde in der Scholastik immerhin fünfmal kommentiert. Weitere Verbreitung erfuhr jedoch die Prunk-, Lob- und Staatsrede. So waren an den weltlichen und geistlichen Höfen während des gesamten Mittelalters »Lob- und Preisgedichte« auf die Herrschenden und Großen beliebt. Obwohl auch der griechische Begriff dafür, Panegyrik, spätestens seit der Karolingerzeit bekannt war, sprach man in der Regel von laus, laudes oder preconia. Neben den laudes regiae, dem Lob der Herrscher, finden sich schon früh, zudem in antiker Tradition, Lobgedichte auf Städte und Länder. So hebt z. B. ein langobardisches, bald nach 738 entstandenes Gedicht die Eigenschaften Mailands hervor: seine Lage, Befestigungen, öffentlichen und kirchlichen Einrichtungen, seine geistliche und geistig-kulturelle Tradition, seinen Wohlstand und die Weisheit seiner Herren, des Königs Luitprand († 744) und des Erzbischof Theodor II. († 735), schließlich die Leistungen der Mailänder für die Verteidigung der Christenheit gegen ihre Feinde. Städte-, Länder- wie Herrscherlob blieben bis ins späte Mittelalter (und darüber hinaus) wichtige Literaturgattungen, wobei das volkssprachliche Element eine wachsende Rolle spielte. Diese Verbreitung rhetorischer Formen im hohen und späten Mittelalter, von der ars dictaminis zur Prunk- und Lobrede, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den rhetorischen Kenntnissen einiger weniger und dem allgemeinen Bildungsstand sowie den Möglichkeiten praktischer Erprobung eine deutliche Differenz bestand. So hat z. B. Wibald von Stablo-Corvey († 1158), der wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der Briefe und Urkunden König Konrads III. nahm, einmal in einem Brief beklagt, dass es in den Klöstern keine Gelegenheit zur Anwendung der rhetorischen Theorien gebe und dass man deshalb dort kaum die Kunst der Beredsamkeit erlernen könne. In seiner Sicht boten weder die kirchliche noch die weltliche Gerichtsbarkeit den notwendigen Bezug zur Praxis, zumal gerade in Deutschland die meisten Laienrichter bestenfalls über natürliche Talente verfügten. Dieser eher skeptischen Einschätzung der aktuellen Situation stand jedoch im 12. Jahrhundert auch die bewusste Anknüpfung an die antiken Ideale gegenüber, etwa bei Johann von Salisbury, der in seinem Metalogicon gegen die Meinung eines nicht zu identifizierenden Cornificius Stellung nahm, dass die Rhetorik kein notwendiger Bestandteil der Philosophie sei. Für Johann dagegen bildet die Beredsamkeit die harmonische Verbindung von Vernunft und Wort, von Ver356 Gualteri De nugis, IV,iii, S. 142–52.

Die Rhetorik vom Frühmittelalter bis in die Zeit des Humanismus

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nunft und Rede (ratio et oratio), die im Sinne einer über Cicero zu griechischen Vorbildern zurückgehenden Tradition die wesentliche Grundlage von Moral und Gesellschaft darstellen. Sie sind für ihn durch Gott zusammengefügt und dürfen nicht durch die Menschen voneinander getrennt werden; denn das hieße, die Beziehung von Merkur und der Philologie aufzuheben und die »freien Künste« zu zerstören. Die Rhetorik spielte aber auch bei anderen Gelehrten des 12. Jahrhunderts eine wichtige Rolle, so bei Petrus Abaelardus. Dies spiegelt sich schon in seiner Bestimmung der Logik als Wissenschaft der argumentatio, der Beweisführung, oder als contentio ratiocinantium, »Wettstreit der Theoretiker«, auch wenn er in den einzelnen Schritten der argumentatio auf der logischen Notwendigkeit, nicht auf rhetorischer Interpretation aufbaut. In gewissem Sinne kann man dann sogar seine für die Entwicklung der scholastischen Methode zentrale Schrift Sic et non mit der Form der Gerichtsrede in Verbindung bringen, so weit, dass in der Forschung sogar von einer »rhetorischen Phase« der Methode Abelards gesprochen wurde.357 Diese enge Beziehung zwischen Rhetorik und Dialektik spiegelt sich auch im Lehrgedicht La Bataille des VII Arts von Henri d’Andeli aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Die Rhetorik, die in der Allegorie auf Seiten der Logik und damit der Universität Paris in den Kampf eingreift, hat sich nach Henri schon lange von der Grammatik abgewandt. Sie wird mit den Juristen in Verbindung gebracht, die ihr Metier des Geldes willen betreiben; zugleich wird ihre Wirkung damit beschrieben, dass ihre Speere mit gefiederten Zungen die Herzen der Menschen durchdringen.358 Obwohl Henri die »Nichtsnutzigkeit« der von Rhetorik und Logik gelehrten Sprache angreift, muss er am Ende die Niederlage der Grammatik eingestehen. Aus ganz anderer Perspektive hat im 13. Jahrhundert ein französisch schreibender Enzyklopädist, Brunetto Latini († 1294/95), der Lehrer Dantes, die Rolle der Rhetorik beschrieben. In seiner Sammlung Li livres dou trésor (»Die Bücher des Schatzes«) spricht er von der Rhetorik als »Gipfel des Triviums«. Sie ist für ihn »jene edle Wissenschaft, die uns lehrt, gute, schöne und einfache Sätze zu finden und zu sprechen mit Sätzen, gemäß dem, was die Natur erfordert. Dies ist die Mutter der Redner, dies ist die Ausbildung der Dichter; dies ist die Wissenschaft, die sich zuerst an die Welt wendet, um ein besseres Verhalten zu erwirken, und die sich daneben in den Predigten der heiligen Männer äußert, in den heiligen Schriften und im Gesetz, das die

357 Beonio-Brocchieri, Concetto, S. 831. 358 Stark, Henri, S. 910.

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Menschen durch Recht und Gerechtigkeit regiert. Dies ist die Wissenschaft, von der Tullius [Cicero] spricht in seinem Buch […] vom Redner«.359

Aber die Einschätzung der Rhetorik im 13. Jahrhundert war nicht nur positiv, und die von Henri d’Andeli beschriebene Verbindung von Rhetorik und Logik mündete an den Universitäten zunächst oft in einer Verdrängung der Beredsamkeit durch die andere siegreiche Disziplin. Wie bereits angedeutet, fehlt die Rhetorik teils in den universitären curricula ganz, etwa in Paris 1215 und 1366, teils ist sie nur mit einer oder wenigen Schulschriften vertreten, etwa mit der Poetria nova des Gottfried von Vinsauf (entstanden 1208/1213) oder dem Laborinthus des Eberhardus Alemannus (1212/1280), die beide rhetorische Formen und Stilmuster diskutieren. Auch wenn z. B. das Werk Eberhards seinerseits eine umfangreiche Leseliste von Schulautoren enthält, von Cato, Aesop, Ovid und Vergil über Martianus Capella, Boethius und Sidonius bis hin zu Marbod von Rennes, Bernardus Silvestris, Alain de Lille, Alexander de Villa Dei und eben Gottfried von Vinsauf, trat die Rhetorik überall an den Universitäten deutlich hinter der Logik zurück; und in Italien wurden die klassischen Autoren sogar weitgehend durch die ars dictaminis ersetzt. Diese Entwicklung ist umso erstaunlicher, als mit den um 1270 durch Wilhelm von Moerbeke übersetzten Rhetorica des Aristoteles eine Schrift vorlag, die den Wert der Rhetorik im universitären Bildungskanon deutlich werden ließ. Allerdings wurde dieses Werk trotz seiner weiten Verbreitung selten als rhetorisches Textbuch benutzt; vielmehr behauptete sich in dieser Hinsicht Cicero mit seinen Schriften. Für diese Entwicklung war unter anderem das Werk des einflussreichen Pariser Magisters Ägidius Romanus (1247–1316) verantwortlich.360 Ägidius, der der römischen Familie der Colonna entstammte und früh dem Bettelorden der Augustiner-Eremiten beigetreten war, erwarb sich während seiner Pariser Tätigkeit einen guten Ruf innerhalb und außerhalb seines Ordens; so wurden seine Lehren trotz einiger Probleme 1287 für die Mitglieder des Ordens als verbindlich erklärt, und 1292 wählte man ihn zum Leiter seines Ordens, ein Amt, das er bis zu seinem Tod 1316 ausübte und das ihn mit politischen wie mit intellektuellen Führungszirkeln in Berührung brachte. In der Rhetorik hat er vor allem durch zwei Schriften gewirkt: durch einen längeren Kommentar zur aristotelischen Rhetorik sowie durch einen Traktat »Über den Unterschied zwischen Rhetorik, Ethik und Politik« (De differentia rhetoricae, ethicae et politicae) aus den Jahren um 1280.361 Ägidius bewegt sich in der »Rhetorik« in dem für Aristoteles-Kommentare im 13. Jahrhundert charakteristischen Rahmen: Während der »Philosoph«, Aristo359 Brunetto Latini, Livres, I, I, iv, S. 9; vgl. Glorieux, Faculté, S. 23. 360 Murphy, Condemnation, S. 834. 361 Ebd., S. 836.

Die Rhetorik vom Frühmittelalter bis in die Zeit des Humanismus

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teles selbst, auch mit anderen Werken vertreten ist, scheint Ägidius keine unmittelbaren Kenntnisse Ciceros zu besitzen. Von der älteren Literatur ist fast nur Boethius mit seinem »Trost der Philosophie« zitiert, daneben der im 9. Jahrhundert lebende Araber Alfarabi. Im Text wird jede – mal kürzere, mal längere – Passage der Moerbeke-Übersetzung durch einen Kommentar des Ägidius ergänzt, der nie von den aristotelischen Positionen abweicht. Während Ägidius in seinem Rhetorik-Kommentar keine der vielen Gelegenheiten zu einem CiceroZitat nutzt, hebt er in De differentia z. B. hervor, dass Ciceros Definition der Rhetorik als Zweig der politischen Wissenschaft eine begriffliche Trennung von der Politik erschwert. Cicero war ihm also in der Tradition seines Lehrers, Thomas von Aquin, durchaus vertraut; vielleicht hat er ihn aber erst nach seinem Rhetorik-Kommentar, der in De differentia angesprochen und folglich früher entstanden ist, besser kennengelernt. Der Rhetorik-Kommentar beginnt mit einer Darlegung der Unterschiede zwischen Rhetorik und Dialektik, für die Ägidius sechs wesentliche Punkte nennt: Die Rhetorik geht tiefer auf moralische Fragen ein; der Rhetoriker muss Leidenschaften erwecken und seine Botschaft auch einem nicht entsprechend vorgebildeten Publikum vermitteln können, während sich der Dialektiker an hochgebildete Geister richtet; der Rhetoriker benutzt Beispiele und behandelt einzelne Phänomene, während der Dialektiker mit allgemeinen Schlüssen und Ableitungen sowie mit Universalien argumentiert; und schließlich stützt sich der Rhetoriker auf Glauben und Vertrauen, während der Dialektiker topoi benutzt, um eine Meinung zu erzeugen.362 Eine Ähnlichkeit zwischen Rhetorik und Dialektik besteht nur insofern, als beide Disziplinen rationalen Kriterien folgen und sich um ein Verständnis der intellektuellen Prozesse bemühen. Aber auch dabei besteht ein entscheidender Unterschied: »Dialektik wendet sich nicht auf eine durch den Willen bestimmte Weise, sondern eigenständig dem Intellekt zu; Rhetorik dagegen ist dem Willen untergeordnet und folgt mehr dem Wirken des Intellekts in sich selbst, sofern er dem Willen untergeordnet ist«.363

Insgesamt wertet also Ägidius die Rhetorik deutlich gegenüber der Dialektik ab; letzterer kommt wissenschaftlich der höhere Rang zu. Noch folgenreicher als diese Ablehnung der Rhetorik war jedoch für die weitere Entwicklung das Faktum, dass Ägidius die Rhetorik eindeutig dem Bereich der Moralphilosophie zugeordnet hat, sie also in den Zusammenhang der aristotelischen »Ethik« und »Politik« stellte; ein Urteil, das sich auch in De differentia findet. Tatsächlich lässt sich anhand der Überlieferung der aristotelischen Rhetorica in den folgenden 362 Ebd., S. 837. 363 Aegidius Romanus, Rhetorica, (II) fol. 2ra; englische Übersetzung bei Murphy, Condemnation, S. 838.

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Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

Jahrhunderten zeigen, dass die scholastischen Gelehrten diese Schrift nicht in einem rhetorischen, sondern in einem moralphilosophischen Kontext rezipierten. Zusammen mit der negativen Bewertung des Erkenntnisgehalts der Rhetorik wird dies die Vorherrschaft der Dialektik oder Logik innerhalb des Triviums an den Universitäten befestigt haben.

III.

Die mittelalterliche Geschichte der Logik: von der Ars vetus zur nova logica

Die Logik ist zweifellos diejenige der Disziplinen des Triviums, in der die eigenständigen Entwicklungen im Mittelalter am weitesten gegangen sind; und insbesondere die Komplexität der scholastischen Logik des späteren Mittelalters ist in einigen Aspekten erst im 20. Jahrhundert wieder erreicht worden. Den entscheidenden Ausgangspunkt bildet die Übersetzertätigkeit des Boethius, durch den dem lateinischen Mittelalter die grundlegenden Werke zur Logik zugänglich gemacht wurden. Wie bereits geschildert, waren dies die Einführungsschrift (Isagoge) des Porphyrius in die logischen Werke des Aristoteles, dessen »Kategorienschrift« und Perihermeias (oder latinisiert De interpretatione), das – zusammen mit der ebenfalls von Boethius übersetzten »Ersten Analytik« – die aristotelische Urteilslehre enthält.364 Die drei kleinen Schriften bildeten fortan, auch noch an den Universitäten des späteren Mittelalters, als ars vetus oder logica vetus den Grundbestand des Logik-Unterrichts. Allerdings wurde die Ars vetus im lateinischen Westen zunächst wenig rezipiert. Den Anfang machte erst die Karolingerzeit, genauer der Kreis der Gelehrten um Alkuin, die die erste Phase der Rezeption der aristotelischen Logik vom späten 8. bis zum frühen 10. Jahrhundert einleiteten. Die textliche Grundlage dieser Philosophen, zu denen unter anderem Johannes Scotus Eriugena und die führenden Köpfe der Schule von Auxerre gehörten, war noch nicht die ars vetus in der Übersetzung des Boethius. Vielmehr lag neben der Isagoge des Porphyrius die »Kategorienschrift« nur in zwei Bearbeitungen vor, einer ergänzten Zusammenfassung aufgrund des Kommentars von Boethius, zum anderen in einer nicht sehr engen und nicht immer genauen Paraphrase, den Categoriae Decem (»zehn Kategorien«), die teilweise Augustinus zugeschrieben wurde und im 8. bis 10. Jahrhundert weitere Verbreitung fand.365 Darüber hinaus kam den theologischen Schriften, den opuscula sacra, des Boethius zentrale Bedeutung zu, die den Gelehrten der »karolingischen Renaissance« den Weg wiesen, wie die Begriffe der »Kategorienschrift« bzw. der Categoriae Decem im 364 Vgl. Ebbesen, Ancient logic, S. 104–06. 365 Marenbon, Circle, S. 16.

Die mittelalterliche Geschichte der Logik: von der Ars vetus zur nova logica

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Einzelnen verstanden werden mussten; weiter wurden der spätantike Kommentar des Chalcidius zum Timaios Platos, De consolatione von Boethius sowie einige augustinische Schriften benutzt, insbesondere die Schrift »Über die Dreieinigkeit« (De trinitate), die hier den wohl weitreichendsten Einfluss auf die mittelalterliche Philosophie erlangen konnten. Im Zentrum der philosophischlogischen Diskussionen stand die Begrifflichkeit der »Kategorienschrift«, vor allem die erste Kategorie ousía (Wesen, Wesenheit, Substanz). Aristoteles selbst hatte in seinen philosophischen Schriften immer wieder auf grundlegende logische Begriffe hingewiesen, die Kategorien, die der Einordnung alles Seienden dienen sollten. Dabei setzte er offenbar eine elementare Schrift voraus, die schon relativ früh verlorengegangen sein muss; erhalten hat sich nur ein Fragment, das überdies in der vorliegenden Form zu einem Schulhandbuch vereinfacht wurde. Von den zehn, kein geschlossenes System bildenden, Kategorien haben sich so nur für die ersten vier längere Ausführungen erhalten, für die ousía, für Quantität, Qualität und Relation. Für die anderen sechs Kategorien, die in drei Paare gegliedert werden können, Ort und Zeit, Lage und Besitzen, Bewirken und Erleiden, gibt es nur wenige Hinweise in der Einleitung. Allerdings schafft gerade die erste Kategorie die meisten Probleme, wenn Aristoteles dafür zwischen zwei Formen von Wesenheiten unterscheidet, einmal das einzelne, sinnlich konkrete Wesen, z. B. ein bestimmter Mensch, und zum anderen das durch Art und Gattung zu beschreibende, abstrakte, allgemeine Wesen, das »nie als solches erscheint, dafür aber als in sich unveränderlich den alleinigen Gegenstand aller Wissenschaft bildet«.366 Bei Porphyrius heißt es dazu am Anfang der Isagoge: »Was, um gleich mit diesen anzufangen, bei den Gattungen und Arten die Frage angeht, ob sie etwas Wirkliches sind oder nur auf unseren Vorstellungen beruhen, und ob sie, wenn Wirkliches, körperlich oder unkörperlich sind, endlich, ob sie getrennt für sich oder in und an dem Sinnlichen auftreten, so lehne ich es ab, hiervon zu reden, da eine solche Untersuchung sehr tief geht und eine umfangreichere Erörterung fordert, als sie hier angestellt werden kann.«367

Was hier formuliert ist, ist der Ausgangspunkt eines das ganze Mittelalter anhaltenden Streits, des »Universalienstreits«, um den Charakter der nach Aristoteles als »Wesenheiten« im zweiten Sinne verstandenen Allgemeinbegriffe (universalia). Die Entscheidung über die Realität oder die allein an Einzeldinge gebundene Existenz der Allgemeinbegriffe spaltete noch die universitären Schulen des ausgehenden Mittelalters in Realisten und Nominalisten, in Verfechter der via antiqua oder der via moderna.

366 Aristoteles, Kategorien, §5, S. 3; Übersetzung aus Aristoteles, Einführungsschriften, S. 132. 367 Porphyrii Isagoge, S. 1; Übersetzung aus Porphyrius, Einleitung, S. 1.

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Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

Es waren die Gelehrten des 8. bis 10. Jahrhunderts, die die Auseinandersetzungen um die Rolle der Universalien eröffneten, allerdings mit einer festen und eindeutigen Stellungnahme. In ihrer Behandlung des Begriffs ousía verstanden sie »Wesenheit« als allgemeinste Art mit einer realen Existenz, die es erlaubte, zwischen Gott und seiner Schöpfung Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Obwohl diese »Grundlinie« beibehalten wurde, wandelte sich während der Karolingerzeit vor allem der methodische Zugang. Während der Kreis um Alkuin vor allem exzerpierte und kompilierte, arbeiteten die Philosophen der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts eigenständiger und origineller. So ging z. B. Ratramnus von Corbie nicht über die Ergebnisse des Boethius hinaus, setzte sich aber ausführlich mit dem Universalienproblem auseinander; und Johannes Scotus Eriugena entwickelte in seinem Periphyseon ein originelles, theologisch beeinflusstes Gesamtkonzept, in das er die Frage der »Wesenheit«, der Universalien und der Kategorien integrierte.368 Seine »Nachfolger« schufen kein vergleichbares Werk mehr, sondern konzentrierten sich auf die Glossierung der zentralen Texte wie der Categoriae Decem und der Opuscula sacra des Boethius. Dabei verlor das originelle Werk des Johannes Scotus zunehmend an Bedeutung; es erfolgte eine weitgehende Annäherung an die aristotelischen Lehren, allerdings weiterhin unter eindeutiger, teilweise sogar überzogener »realistischer« Perspektive.369 Spätestens seit dem 11. Jahrhundert verbreitete sich jedoch die Boethius-Übersetzung der Kategorienschrift und ließ die Categoriae Decem aus dem Blickfeld der Gelehrten verschwinden. Bald darauf wurden auch weitere Texte der aristotelischen Logik zugänglich. Neben der ars vetus hatte schon Boethius weitere aristotelische Schriften übertragen, die »Erste Analytik«, die Topica sowie die Sophistici Elenchi, die »Sophistischen Widerlegungen«. Alle Schriften zusammen repräsentieren so etwas wie einen logischen Basiskurs, der sich im Westen des Römischen Reiches entwickelte und insbesondere durch Boethius erweitert wurde; dazu kamen noch die Topica Ciceros sowie Kommentare, Kompendien und ergänzende Monographien.370 Während des lateinischen Mittelalters waren die Lehrschriften jenseits der ars vetus jedoch kaum bekannt. Die antike Logik wirkte zunächst vor allem in den Kompendien und kurzen Überblicken weiter, etwa in Buch IV der »Hochzeit Merkurs und der Philologie« von Martianus Capella oder in dem Fragment De dialectica von Augustinus. Dies änderte sich in der »Renaissance des 12. Jahrhunderts«. Die »wiederentdeckten« Sophistici Elenchi ließen das kleine Werk des Augustinus obsolet werden. Dazu kamen Neuübersetzungen, die aber gerade bei den schwierigen 368 Vgl. Kap. 3 und 10. 369 Marenbon, Circle, S. 140–42. 370 Ebbesen, Ancient Logic, S. 105.

Die mittelalterliche Geschichte der Logik: von der Ars vetus zur nova logica

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wissenschaftstheoretischen Schriften auf vielfache Probleme stießen. So übertrug der Kleriker Jakob von Venedig um 1130 eine Reihe von aristotelischen Schriften, die bisher noch nicht im Lateinischen vorlagen, fand aber mit dieser »neuen Logik« (logica nova) bei den Philosophen, unter anderem auch bei Petrus Abaelardus, wenig Resonanz, weil der Text in seiner Übertragung allzu schwierig und unverständlich schien. Jakob hatte sich dafür einer alten, auch in Spanien verbreiteten Übersetzungstechnik bedient, der »Wort-zu-Wort-Übertragung«, bei der jeder griechische Begriff mit einem lateinischen Äquivalent gleichgesetzt wurde, die somit zwar näher am Text blieb, aber manches unklar werden ließ. So klagte z. B. Johannes von Salisbury über die wahrscheinlich von Jakob übersetzte älteste lateinische Fassung der »Zweiten Analytik« des Aristoteles: »Die Lehre der ›Zweiten Analytik‹ ist extrem scharfsinnig und eine, der nur wenige folgen können. Dafür gibt es offensichtlich mehrere Gründe. Zum ersten behandelt das Werk die Kunst der Beweisführung, die die schwerste aller Formen des Denkens darstellt. Zweitens wird diese Lehre kaum mehr angewandt. […] Das genannte Buch, das die Beweislogik lehrt, ist noch verwirrender als der Rest [der Werke des Aristoteles]. Das ist teilweise eine Folge der komplizierten Übertragung von Termini und Buchstaben, ebenso wie altmodische Beispiele, die aus verschiedenen Disziplinen übernommen sind. Schließlich, obwohl das nicht die Schuld des Autors ist, ist das Werk durch stümperhafte Fehler der Schreiber so verunstaltet, dass es ebenso viele schwierige Stellen wie Kapitel enthält. […] Daher behaupten viele, dass das Werk nicht korrekt [ins Lateinische] übersetzt wurde, und machen den Übersetzer für seine Schwierigkeit verantwortlich«.371

Jakob übertrug aber nicht nur die aristotelischen Schriften, sondern auch griechische Kommentare dazu ins Lateinische, so einem Alexander zugeschriebene Kommentare zur »Zweiten Analytik« sowie zu den Sophistici Elenchi.372 Die mittelalterlichen Gelehrten glaubten aufgrund der Zuschreibung, Texte des spätantiken Kommentators Alexander von Aphrodisias vor sich zu haben; wahrscheinlich handelt es sich jedoch um zwei andere Autoren, Johannes Philoponus und Michael von Ephesos. Flossen auf diesem Wege so oder so spätantike, speziell neuplatonische, Elemente in die Entwicklung der Logik ein, führte die rege arabisch-lateinische Übersetzertätigkeit in Toledo dazu, dass sich auch arabischer Einfluss auf die Logik bemerkbar machte, vor allem durch die Aristoteles-Kommentare aus dem arabischen Raum. Zusammen mit neuen Übersetzungen bzw. Bearbeitungen bisheriger Übersetzungen wurde so die aristotelische Logik, das Organon, endgültig zur Grundlage der scholastischen Philosophie.

371 John of Salisbury, Metalogicon, IV,6; vgl. Metalogicon, transl. McGarry, S. 212, und die Übersetzung bei Piltz, Welt, S. 98. 372 Ebbesen, Ancient logic, S. 108.

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Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

Neben der ars vetus gewannen jetzt endgültig auch die Topica, die »Sophistischen Widerlegungen«, die »Erste« und die »Zweite Analytik« Schulbuchcharakter. Die Topica boten ein Handbuch zu den wiederkehrenden Argumenten innerhalb der logischen Disputationen, aber auch zu Regeln für die Beweisführung. Dazu gehörte z. B. der Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine, die Induktion, d. h., was in einer Art gilt, muss auch für die Gattung gelten. Daneben wurden (im Anschluss an Boethius) in diesem Kontext verschiedene loci, »Örter«, unterschieden, je nach dem, was die Grundlage der jeweiligen Regel bildete, z. B. für den Satz: »Was eine gute Ursache hat, ist selbst gut«, bei dem die Ursache entscheidend ist, spricht man vom locus a causa; analog geht man vom »Größeren« oder Kleineren aus, formuliert also z. B. einen locus a minore, mit dem Satz: »Was für dasjenige zutrifft, was nur einen geringen [Grad an Wahrscheinlichkeit] besitzt, trifft auch für das zu, was einen höheren [Grad besitzt]«.373 In engem Zusammenhang mit den Topica stehen die »Sophistischen Widerlegungen«, in denen Aristoteles Fehlschlüsse zusammengestellt hat, die auf den ersten Blick einen korrekten Eindruck hinterlassen, teils aufgrund sprachlicher, teils aufgrund gedanklicher Ungenauigkeiten. So kann die Doppeldeutigkeit von Begriffen und Satzkonstruktionen zu Täuschungen führen, ebenso wie der ungültige Schluss vom Einzelnen auf die Allgemeinheit, wie der Zirkelschluss oder der Trugschluss (die fallacia consequentis), mit dem mögliche Erklärungen zu notwendigen Ursachen werden. Die eigentliche Grundlage der aristotelisch geprägten Wissenschaft bildeten jedoch nicht die Topica oder die »Sophistischen Widerlegungen«, sondern die beiden Analytiken des Aristoteles. Gegenstand der »Ersten Analytik«, der Analytica priora, waren die logischen Schlüsse, die Syllogismen. Jeder Schlusssatz (conclusio) musste danach notwendig aus den beiden vorausgehenden Sätzen, den praemissae, folgen, für die zwischen Obersatz (maior) und Untersatz (minor) unterschieden wurde; der Obersatz enthält dabei das Prädikat, der Untersatz das Subjekt des Schlusssatzes. Sind Ober- und Untersatz wahr, folgt ein wahrer Schluss, auch wenn sich durch Zufall einmal aus einer wahren und einer falschen Prämisse ein wahrer Schluss ergeben kann. Unterschieden wurden im Einzelnen allgemein bejahende, allgemein verneinende, partikulär bejahende und partikulär verneinende Aussagen; sie wurden (in dieser Reihenfolge) mit den Vokalen A, E, I, O bezeichnet und in entsprechenden Schlüssen zusammengestellt, für die man ein Lehrgedicht erfand, das unter anderem durch das Logik-Handbuch des Petrus Hispanus († 1277) aus der Mitte des 13. Jahrhunderts verbreitet wurde. Es beginnt mit den Worten »Barbara Celarent …«, verweist also zunächst auf die Schlüsse mit allgemein bejahenden

373 Boethius, De topicis differentiis, III, 1199B; vgl. De topicis, transl. Stump, S. 69, und Piltz, Welt, S. 101.

Die mittelalterliche Geschichte der Logik: von der Ars vetus zur nova logica

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bzw. zwei allgemein verneinenden Aussagen (A-A-A; E-A-E); die weiteren Schlussformen sind entsprechend »umkleidet«.374 Schuf die »Erste Analytik« somit die Grundlage für einzelne wissenschaftliche Aussagen, bot die »Zweite Analytik« den Apparat für die Ausgestaltung der gesamten Wissenschaft. Wissenschaftliches Wissen muss nach Aristoteles immer von den höchsten und allgemeinsten Grundsätzen ausgehen. Dies geschieht mit Hilfe der Deduktion, der Ableitung von allgemeingültigen Aussagen aus Axiomen. Zugleich ist allerdings auch die induktive Methode von großer Bedeutung, d. h., dass allgemeingültige Sätze aus einer Reihe von Beobachtungen abgeleitet werden können. Dabei wird allerdings zwischen notwendigen und kontingenten, also zufälligen, durch bestimmte Rahmenbedingungen geprägten, Phänomenen unterschieden; die Qualität von Schlüssen innerhalb der Mathematik ist somit eine andere als die innerhalb der Naturphilosophie, weil sich in der Mathematik anders als in der Natur mit absoluter Notwendigkeit schließen lässt. Die aristotelische Logik traf im 12. Jahrhundert im lateinischen Westen auf fruchtbaren Boden. Schon vor der Wiederentdeckung der aristotelischen Schriften hatten Gelehrte wie Anselm von Canterbury († 1109) logische Probleme diskutiert, die selbst bei Aristoteles und Boethius nur im Ansatz zu finden waren, etwa die Idee einer formalen Logik, die unabhängig von der empirischen Anbindung die Welt der Begriffe ordnen sollte.375 Auch das Universalienproblem erhielt an der Wende zum 12. Jahrhundert neue Brisanz, unter anderem durch einen der Lehrer Abelards, Roscelin von Compiègne, der nach Johann von Salisbury eine besondere Form des Nominalismus vertreten haben soll,376 sowie durch Abelard selbst. Zudem wurden neue Themen eingeführt, die vor allem semantische Probleme betrafen, etwa die Differenzierung zwischen significatio und suppositio, Verweis auf einen Gegenstand und Begründung eines größeren Zusammenhangs, wobei für suppositio weitere Formen unterschieden wurden, nach der Verbindung zwischen den Prädikaten der Aussagen (copulatio), nach Begrenzung oder Ausweitung der verwandten Begrifflichkeit (restrictio – ampliatio) sowie nach der Beziehung zu aktuell existierenden Gegenständen (appellatio). Zugleich entwickelte sich eine Bezeichnung für Teile des Satzes, die für sich stehen können, wie Substantive und Verben, und für solche, die nicht für sich verständlich sind, wie Präpositionen und Adjektive; man sprach dafür von kategorematischen bzw. synkategorematischen Begriffen und übertrug dies auch auf Sätze, um ihren Aussagewert nach den bestimmenden Teilen des Satzes zu charakterisieren. 374 Petrus Tartaretus, Expositio, fol. xxxiii ra, erläutert ab fol. xxix vb (Petrus Hispanus in Großschrift mit Kommentar von Petrus Tartaretus). 375 Colish, Foundations, S. 275. 376 Maurer, Philosophy, S. 86.

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Die grundlegenden Disziplinen: Grammatik, Rhetorik und Logik

Während die aristotelisch geprägten Grundlagen in den Summulae logicales des Petrus Hispanus zusammengefasst wurden, entstanden im Laufe der spätmittelalterlichen Entwicklung eigene Werke dieser eigentlich »neuen«, mittelalterlichen Logik. Auf der Grundlage der Entwicklungen seit dem 13. Jahrhundert, vor allem auch der Ergebnisse Wilhelms von Ockham, fasste der Pariser Magister Albert von Sachsen († 1390) um 1360 die »neuen« Teile der Logik in einem eigenen Lehrbuch, der Logica, zusammen.377 In ihren sechs Kapiteln handelt er nacheinander zunächst allgemein die Begriffe, dann die suppositiones in ihren verschiedenen Bedeutungen, die Aussagen (propositiones), die Schlüsse (consequentia), die sophistischen Argumente und schließlich schwer lösbare logische Sätze (insolubilia) ab. Diese Problemfelder wurden zudem nicht nur vielfach in eigenständigen Traktaten, sondern auch in Problem- oder Quaestionenform diskutiert. Eine eigene Literaturgattung bildeten dabei die Sophismata, Sammlungen von logischen Sätzen, die auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft wurden; eine der umfangreichsten stammt ebenfalls von Albert von Sachsen.378 Die Logik entwickelte sich somit insbesondere an den Universitäten zur wichtigsten grundlegenden Disziplin und wirkte auf alle anderen Fächer ein. Dies galt für die Theologie ebenso wie für den Bereich der Naturphilosophie.

377 Albert von Sachsen, Logik. 378 Alberti de Saxonia Sophismata.

8.

Natur und Welt im frühen und hohen Mittelalter

Der mittelalterlichen Geschichte der Disziplinen des Triviums, der Grammatik, Rhetorik und Dialektik, sollen im Folgenden die der »mathematisch-naturwissenschaftlichen« Disziplinen des Quadriviums gegenübergestellt werden, allerdings ergänzt durch weitere Aspekte, die keine Aufnahme in den Fächerkanon der »sieben freien Künste« gefunden haben, nämlich durch einige Ausführungen zur Geschichte der Medizin. Dies soll zunächst für das frühe und hohe Mittelalter beschränkt sein, also auf die Zeit vor der intensiven Rezeption antiken und arabischen Gedankenguts seit der Wende zum 13. Jahrhundert. Diese Periode fand lange wenig Aufmerksamkeit in den Darstellungen zur mittelalterlichen Wissenschaftsgeschichte und zur allgemeinen Entwicklung der Naturwissenschaften, anders als das Spätmittelalter, dem seit den Forschungen des französischen Naturwissenschaftlers und Wissenschaftshistorikers Pierre Duhem am Anfang des 20. Jahrhunderts vielfach stärkeres Interesse entgegengebracht wurde.379 Die dafür grundlegende negative Einschätzung des früheren Mittelalters hat sich inzwischen gewandelt. Das Wissen der Spätantike ging nicht auf einen Schlag oder sogar vollständig verloren, sondern spielte in vielen Lebensbereichen weiter eine Rolle, von der Baukunst bis zur Landvermessung.380 Daneben machten gerade die neuen, christlich begründeten, religiösen Interessen ihrerseits bestimmte naturwissenschaftliche Kenntnisse erforderlich, z. B. Mathematik und Astronomie für die Berechnung des kirchlichen Festkalenders oder für die Grundlagen der kirchlichen Architektur. Dennoch stellte sich für die Zeitgenossen, wie schon ausgeführt, immer wieder die Frage, welche der antiken Lehren noch an die Späteren vermittelt und welche Disziplinen unter den neuen Voraussetzungen weiter betrieben werden konnten. Angesichts der Tatsache, dass vielfach der Spracherwerb in den Vordergrund trat und das Trivium gegenüber dem Quadrivium mehr und mehr an Gewicht gewann, waren die »mathematisch-naturwissenschaftlichen« Disziplinen von die379 Duhem, Études; ders., Système. 380 Vgl. Englisch, Artes, S. 11.

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Natur und Welt im frühen und hohen Mittelalter

sem Vermittlungsproblem besonders betroffen. Der Wandel von der Spätantike zum frühen Mittelalter ist in der Forschung daher lange als Bruch beschrieben und mit den politischen Entwicklungen, speziell mit dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches und seiner Strukturen (nicht zuletzt im Bildungswesen), in Verbindung gebracht worden. Parallel dazu wurde auf Wendepunkte innerhalb der Biographien und Karrieren einzelner Autoren verwiesen, etwa bei Augustinus oder bei Cassiodor, die sich von weltlichen Kontexten abwandten.381 Dagegen konstatierte die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte einen weitgehend kontinuierlichen Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter, der sich kaum an einem Punkt chronologisch festmachen lässt. In der Wissenschaftsgeschichte verband sich das mit der Vorstellung eines Niedergangs bereits in der Spätantike, der sich dann im Frühmittelalter fortgesetzt habe. So wurde die griechische Handbuchtradition zunächst insbesondere durch lateinische Autoren wie Seneca († 68) und Plinius († 79) im Westen aufgenommen und dann in immer neuen Kompilationen des antiken (und zeitgenössischen) Wissens weitergeführt.382 Plinius sammelte in seiner umfangreichen Historia naturalis eine Fülle von Informationen aus antiken Werken. Sein enzyklopädisches Werk wurde für Jahrhunderte zu einer zentralen Ressource der Auseinandersetzung mit der Natur, referierte aber kaum theoretische Grundlagen und war bereits durch Missverständnisse und Verkürzungen gekennzeichnet. Dies setzte sich in den weiteren spätantiken und frühmittelalterlichen Enzyklopädien und Handbüchern fort, so dass der Kontinuität zwischen Spätantike und Frühmittelalter große Bedeutung zukommt. Letztlich führte erst die verstärkte unmittelbare Rezeption der antiken und arabischen Philosophen zu einem Bruch mit dieser Tradition. Sehr deutlich zeigt sich das in einem (realen oder fiktiven) Gespräch zwischen dem englischen Gelehrten Adelard von Bath (belegt 1116–1142) und seinem Neffen, in dem die aus der Handbuchliteratur überkommene antike Tradition und die neue, auch von der arabischen Wissenschaft beeinflusste Bildung unvereinbar aufeinandertrafen, wie es Adelard in seinen »Natürlichen Problemen«, den Questiones naturales, geschildert hat.383 Gegenstand dieses Kapitels ist deshalb die Entwicklung bis zum Beginn der intensiven Rezeption antiker und arabischer Schriften in der »Renaissance des 12. Jahrhunderts«.

381 Klinkenberg, Verfall, zu Cassiodor. 382 Grant, History, S. 95–97. 383 Adelard, Questiones, bes. S. 90.

Die mathematischen Disziplinen der artes liberales

I.

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Die mathematischen Disziplinen der artes liberales

Zu den sieben freien Künsten gehörten bekanntlich Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Der Grundstock der Kenntnisse in diesen wie in den anderen mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen stammte von den Griechen. So gingen die wichtigsten Beiträge zur Mathematik auf Euklid, Archimedes und Apollonius zurück, zur Astronomie auf Aristarch, Hipparch und Ptolemaios; und zur nicht in den artes vertretenen Medizin lassen sich die Werke von Herophilos, Erasistratos und Galen nennen. Allerdings vollzog sich im griechischen Bereich noch vor der römischen Eroberung ein Wandel. Im geistigen Zentrum des ägyptischen Ptolemäerreichs, in Alexandria, das mit seiner berühmten Bibliothek auf den östlichen Mittelmeerraum ausstrahlte, geriet die Wissenschaft mehr und mehr unter politischen Einfluss und konzentrierte sich deshalb vor allem auf Landvermessung und Kalenderberechnung, während der praktische Bezug in den anderen Disziplinen verlorenging. Zugleich setzte hier die Kompilation von Handbüchern ein, die in der römischen Handbuchtradition und den früh- und hochmittelalterlichen Enzyklopädien ihre Fortsetzung fanden. Dabei wurde vielfach jeweils das von den Älteren erarbeitete Material übernommen, oft sogar wörtlich und ohne ausdrückliche Kennzeichnung seiner Herkunft. Man darf bei diesen und späteren Texten nicht von einem modernen Verständnis von Originalität ausgehen, das immer eigenständige Leistungen voraussetzt, sondern muss die prägende Kraft von Autoritäten berücksichtigen. In der Mathematik hatte z. B. Theon von Smyrna das für ein Verständnis der platonischen Philosophie notwendige Wissen zusammengestellt, und seine Schrift wurde im 4. Jahrhundert von Chalcidius übernommen, dem Autor einer unvollständigen, aber durch eigenständige Überlegungen zur Theorie der Materie ergänzten Übersetzung des Timaios, aus der das Frühmittelalter nahezu seine gesamte Kenntnis der platonischen Philosophie bezog.384 Chalcidius beeinflusste auf diese Weise wesentlich die spätere Tradition. Auch für die Mathematik stellte sich generell die Frage, welche der oftmals komplexen mathematischen Erkenntnisse noch weitervermittelt würden. Dabei ergab sich ein doppeltes Problem. Die theoretische Mathematik der griechischen Denker fand in der Kultur der Römer keine Aufnahme, so dass keine eigene römische Tradition entstand, die die Erkenntnisse der Griechen in einem breiteren Kontext rezipiert und weiterentwickelt hätte. Es fehlte im Westen schon vor dem Ende der Antike nicht nur ein mathematisches Verständnis, es fehlten bereits die Über-

384 Stock, Science, S. 7.

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Natur und Welt im frühen und hohen Mittelalter

setzungen. Die Mathematik der Griechen wurde wesentlich nur in Werken in griechischer Sprache tradiert.385 Bedeutungsvoll wurde deshalb wiederum das Werk des Boethius, das die mittelalterliche Entwicklung entscheidend beeinflusste. Das gilt vor allem für seine Institutio arithmetica, die eine bearbeitete Übersetzung der griechischsprachigen Einführung in die Arithmetik des Nikomachus von Gerasa (um 100) darstellt, allerdings weniger für seine »Geometrie«, die wesentlich auf Euklid zurückgriff und heute verloren ist. Daneben bestanden in spätrömischer Zeit nur eine rudimentäre Arithmetik und eine Geometrie, die den Bedürfnissen der Landvermessung und der Architektur diente. Beides war aber nur wenigen vertraut und fand lange Zeit keine schriftliche Darstellung. Überhaupt standen den Gelehrten des frühen Mittelalters, die sich mit Mathematik beschäftigen wollten, nur wenige Texte zur Verfügung, die zudem teilweise nicht eigenständig waren, sondern dem Kontext der »sieben freien Künste« entstammten und auch unterschiedliche Inhalte vermittelten. Die Institutio arithmetica des Boethius z. B. behandelt vorwiegend die Inhalte der pythagoreischen Zahlenlehre, also den Unterschied zwischen geraden und ungeraden Zahlen, das Problem der Prim- und der zusammengesetzten Zahlen, Bezeichnung und Klassen von Zahlenverhältnissen, die Verbindungen und Unterschiede zwischen Arithmetik, Geometrie und Musik und vieles andere mehr. Ähnlich waren die Kapitel zur Arithmetik in den Werken Cassiodors und Isidors von Sevilla aufgebaut. Cassiodor versuchte in den Institutiones divinarum et humanarum lectionum (»Vorschriften für die geistliche und weltliche Lektüre«) als erster, eine Brücke zwischen Theologie und Mathematik zu schlagen, indem er die – nur knapp dargestellten – mathematischen Sätze in einem theologischen Kontext miteinander verband. Dadurch sollte den Späteren zusammen mit einigen wichtigen Lehrsätzen die Bedeutung der Mathematik vermittelt werden. Cassiodor verzichtete dabei jedoch auf die Aufnahme von Spezialwissen, sondern beschränkte sich wesentlich auf das überlieferte Basiswissen, während er für weiterführende Fragen auf die »Fachliteratur« verwies.386 Isidor versuchte im Gegensatz dazu in seinen Etymologiae, heidnische wie christliche Ansätze miteinander zu vereinen und sich die gesamte Breite der antiken Handbuchtradition nutzbar zu machen.387 So verweist seine Darstellung zum einen ausdrücklich auf die antiken Autoren, legitimiert aber zum anderen die Auseinandersetzung mit der Arithmetik durch die Bibel. Kennzeichnend für diese wie für andere Stellen der Etymologiae ist die Tendenz zur Systematisierung und Vereinfachung. Wie sich anhand der Flächen- und Körperzahlen zeigen 385 Mahoney, Mathematics, S. 145. 386 Vgl. Englisch, Artes, S. 126. 387 D’Onofrio, Isidore, S. 328.

Die mathematischen Disziplinen der artes liberales

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lässt, ließen sich kompliziertere Zusammenhänge im früheren Mittelalter kaum noch vermitteln; und schon Isidor selbst war wohl mit der Umsetzung der Zahl 5 als Kreis (durch Quadrierung) oder Kugel (durch die Kubikzahl) überfordert.388 Ungeachtet dessen besaß die Arithmetik als überlieferte Wissenschaft für ihn eigenes Gewicht. Ein neues, ursprünglich nur mündlich überliefertes mathematisches Element kam durch die kleine Schrift Bedas »Über die Fingerrechnung« (De computo vel loquela digitorum) zum schriftlichen Wissenskanon hinzu, die zumeist als erstes Kapitel seines größeren Werks über die Kalenderrechnung, De temporum ratione, überliefert ist. Bei der Fingerrechnung, die sich in einigen Teilen der Welt bis heute erhalten hat, geht es darum, mit Hilfe der Finger und der Handflächen Zahlen zu symbolisieren und mathematische Operationen auszuführen. Die höchste mit der Methode Bedas darstellbare Zahl ist 9999; bis zu dieser Höhe ließen sich elementare Rechnungen durchführen. Wie schon der Zusammenhang zu seinem Werk »Über das Wesen der Zeiten« deutlich macht, ging es Beda allerdings weder um hohe Zahlen noch um komplizierte Operationen; vielmehr sollten die Mönche mit Hilfe seiner Methode nur die Daten für das Osterfest und die damit verbundenen kirchlichen Feiertage berechnen und insgesamt den kirchlichen Kalender führen können. Beda wollte mit seinen Ausführungen zudem wahrscheinlich nur eine Ergänzung zum schon aus der römischen Zeit bekannten Rechenbrett bieten, zum abacus. Wohl um die Schwerfälligkeit der römischen Zahlen auszugleichen, hatte man schon früh Rechenbretter hergestellt, auf denen von rechts nach links Spalten für die Vielfachen von eins, zehn, hundert usw. angelegt waren, teilweise mit einer abgetrennten ersten Linie für fünf, fünfzig usw. Auf diesem Brett wurden nun – je nach den durchzuführenden Rechenoperationen – kleine Steine bewegt, die calculi, von denen sich der lateinische Begriff für »Rechnen«, calculare, ableitet. Addition und Subtraktion ließen sich damit leicht ausführen, aber ebenso war die Multiplikation von Zahlen möglich, auch wenn sie mehrere Schritte erforderlich machte. Durch besondere Einteilungen ließen sich teilweise auch die auf dem Duodezimalsystem beruhenden römischen Maße und Gewichte umrechnen. Die ersten Traktate über den abacus stammen aus dem Ende des 10. Jahrhunderts und wurden für Klosterschulen verfasst. Sie zeigen mit ihren Stärken und Schwächen die Hauptprobleme der abacus-Rechnung auf, die vor allem mit dem grundlegenden Verständnis der Operationen verbunden waren. So blieben die meisten Texte auf dem Niveau von Beispielsammlungen, die keine oder nur wenige Erläuterungen gaben.389 Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang jedoch Gerbert von Aurillac, der um 970/980 wahrscheinlich über das 388 Englisch, Artes, S. 134. 389 Mahoney, Mathematics, S. 149.

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islamische Spanien mit einem abacus in Berührung kam, der apices oder Zählleisten aufwies, von denen jede mit einer arabischen Ziffer von 1 bis 9 beschriftet war, und der diesen abacus in einem eigenen Traktat beschrieb. Der Vorteil dieses Rechenbretts war, dass man viel weniger Steine für die Markierung einer Zahl brauchte, z. B. für die Zahl 2748 statt 21 oder 13 Steinen (falls die Fünfereinheiten markiert waren) nur vier Steine. Damit war aber zugleich die Durchführung von Rechenoperationen schwieriger geworden, weil man z. B. bei Additionen nicht mehr nur die vorhandenen Steine zusammentragen musste. Gerbert trat überhaupt als Leiter der Schule von Reims dadurch hervor,390 dass er den Fächern des Quadriviums stärkeres Gewicht zukommen ließ und auch eigene mathematische Schriften verfasste. Neben den kurzen Regulae de numerorum abaci rationibus (»Regeln über die Verhältnisse der Zahlen des abacus«) hat er eine Einführungsschrift in die Geometrie (Isagoge Geometriae oder Geometria) verfasst und auch in Briefen mehrfach zu mathematischen Problemen Stellung genommen. So hat er z. B. im Briefwechsel mit Adelbold von Utrecht eine Aufgabe dargestellt, bei der ein gleichseitiges Dreieck mit 90 Fuß Seitenlänge berechnet werden soll. In seiner Geometrie beginnt Gerbert zunächst mit einigen Begriffsklärungen und einem kurzen Abriss der Geschichte der Geometrie, als deren Erfinder er die Ägypter nennt, die wegen der jährlichen Überschwemmungen durch den Nil früh dazu gezwungen waren, Methoden für die Vermessung der Felder zu entwickeln. Seine eigentliche Darstellung setzt bei den Elementen der Geometrie an, bei Körper, Fläche, Gerade und Punkt, um dann – nach der Behandlung der verschiedenen Maße – ausführlich die Bestimmung von Dreiecken zu diskutieren, die ja auch Gegenstand des Briefes an Adelbold gewesen war. Gerbert verweist darauf, dass er verschiedene, wohl auch antike Quellen für seine Einführungsschrift genutzt hat, selbst wenn sich diese nur zum Teil mit Sicherheit erschließen lassen. So hat er z. B. eine anonyme Geometrie aus dem 9. oder 10. Jahrhundert herangezogen, die späteren Ausgaben seiner eigenen Schrift angefügt wurde, und eine frühmittelalterliche ars geometrica, die aus dem angelsächsischen Umfeld stammt und auch als Teil einer astronomisch-komputistischen Sammelschrift aus dem 8. Jahrhundert überliefert ist.391 In der Geometrie hatte sich noch stärker als für die Arithmetik eine eigenständige westliche Tradition entwickelt, für die Boethius nur eine geringe Rolle spielte, weil seine an Euklid orientierte Schrift De institutione geometrica verlorenging und um 800 nur wenige Fragmente erhalten waren, einige Begriffsbestimmungen, Postulate, Axiome und Theoreme der Bücher 1–4 der Elemente Euklids, die mit den spätantiken Texten einer eigenständigen Ars gromatica, 390 Dazu vgl. oben Kap. 3. 391 Brunhölzl, Geschichte, 2, S. 148.

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einer »Feldmesskunst«, vereint wurden. Ausgehend von der Etymologie des Wortes »Geometrie«, wurde die Geometrie des frühen Mittelalters dann auch von den eher praktischen Aspekten beherrscht. Ausgehend von den lotharingischen Kathedralschulen, verbreiteten sich schließlich Handschriften, die die Fragmente aus Euklid, die Ars gromatica, Schriften Gerberts und andere Texte als »Geometrie« des Boethius zusammenfassten. Die praktische Orientierung und der besondere Charakter der frühmittelalterlichen Geometrie zeigt sich auch in der Korrespondenz zwischen Ragimbold, dem aus Chartres stammenden Leiter der Kathedralschule von Köln, und Radulf von Lüttich, die sich unter anderem darüber austauschten, was der »äußere Winkel« eines Dreiecks sei, ob das korrekte Verhältnis von Diagonale und Seite in einem Quadrat 7:5 oder 17:12 sei und was verschiedene Fußmaße bedeuteten.392 Die Ausrichtung der Geometrie, aber auch der Arithmetik war damit schon vorgeprägt, als dem lateinischen Westen im 12. Jahrhundert nicht nur das ganze Werk des Euklid, sondern auch mathematische Traktate aus dem arabischen Raum zugänglich wurden. Die älteste Übersetzung der »Elemente« Euklids, die von Adelard von Bath, stammt bereits aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts. Zwei weitere Übersetzungen aus dem Arabischen folgten, von Hermann von Kärnten und Gerhard von Cremona.393 Diese rege Übersetzertätigkeit zeigt, ebenso wie die weiteren Bearbeitungen, die sich bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts anschlossen, die Wertschätzung, die das Werk des Euklid im 12. Jahrhundert erlangen konnte. Fast gleichzeitig mit den älteren Übersetzungen der »Elemente« wurde auch eine arabische Schrift aus dem 9. Jahrhundert übertragen, das »Traktat über das Rechnen mit indischen Zahlen« des Al-Khwarizmi (um 825). Al-Khwarizmi war wohl der erste im arabischen Raum, der die Symbole für die Ziffern 1 bis 9 sowie für den »Platzhalter« 0 systematisch im Rahmen eines Dezimalsystems anwandte und Regeln für das Rechnen mit diesen Größen entwickelte. Dieses System wurde im lateinischen Westen nach seinem Urheber als Algorismus bezeichnet, ein Begriff, aus dem sich auch der moderne Begriff des »Algorithmus« ableitet. Auf der Grundlage seines Traktats entwickelte sich schließlich im 13. Jahrhundert eine eigene Literaturgattung; so verfasste etwa Alexander de Villa Dei um 1202 ein Carmen de Algorismo, ein »Gedicht vom Algorismus«, das die Regeln des AlKhwarizmi in Versform fasste und ähnlich wie die kleine Schrift Bedas vor allem bei der Berechnung der beweglichen Kirchenfeste helfen sollte. Die Mathematik spielte zweifellos vom 6. bis zum 11. Jahrhundert eine untergeordnete Rolle, nicht zuletzt, weil sich, wie angesprochen, aufgrund der griechischen Mathematik keine eigenständige römische Tradition entwickelte.394 392 Mahoney, Mathematics, S. 150. 393 Nach der Tabelle bei Crombie, Augustine, S. 60. 394 Mahoney, Mathematics, S. 150.

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Aber auch die danach einsetzende intensive Rezeption antiker und arabischer Wissenschaft führte nicht mehr zu einer Übernahme der griechischen Mathematik, weil sich inzwischen im Westen eigene Formen mathematischen Denkens auszubilden begannen. So trug insbesondere Bedas Schrift »Über das Wesen der Zeiten« entscheidend dazu bei, dass mit der Kalenderberechnung eine eigene »Fachrichtung« entstand, eine eigene mathematische Disziplin, die sich bei praktischer Bedeutung durch hohe Standards auszeichnete.395 Die Rede ist von der Komputistik, die sich in Ansätzen schon bei Cassiodor und Isidor von Sevilla findet, die die Bedeutung des computus als christlicher Form der Zeitberechnung hervorgehoben hatten. Für Isidor war der computus dasjenige, was den menschlichen Geist mit dem Lauf der Dinge verband, so dass er in Bezug darauf feststellte: »Nimm die Zahl aus den Dingen, und alles vergeht.«396 In diesem Sinne versuchte er selbst, die mathematischen Zusammenhänge des Kalenders und der historischen Wirklichkeit zu ergründen. So verband er unter anderem, ohne auf frühere Bedenken zurückzukommen, die sechs Tage der göttlichen Schöpfung mit den sechs Weltaltern und den sechs Lebensphasen. Isidors Vorbild regte unter anderem einen irischen Mönch des 7. Jahrhunderts zum ältesten computus des Landes an, in dem er allerdings den als conpotus geschriebenen Begriff sprachlich mit compos, »teilhaftig«, in Verbindung brachte und darunter die Einteilung in Zahlen überhaupt verstand. Die Methode dieser »Wissenschaft« war folglich die Zählung, mit der der Lauf von Mond und Sonne zur Bestimmung des Ostertermins verfolgt werden sollte. Dieser irische Text regte seinerseits einen merowingischen Autor im Jahre 727 dazu an, einen eigenen computus zu verfassen; er leitete jedoch den Begriff unter anderem vom griechischen Wort für Kreis ab (das bei ihm als ciclus erscheint) und wollte deshalb unter computus vor allem die Berechnung von Kreisbewegungen verstehen. Auf dieser Grundlage ging er daran, das Alter der Welt, also die Jahre seit der Schöpfung, zu berechnen, und kam für seine eigene Zeit auf das Jahr 5928. Da sich aus verschiedenen Bibelstellen bis zur Wiederkehr Christi sechs Weltalter von jeweils 1000 Jahren ergaben, blieben nach seiner Berechnung noch 72 Jahre bis zum Jüngsten Gericht. Das lineare christliche Geschichtsbild blieb bis ins ausgehende Mittelalter und darüber hinaus lebendig,397 und immer wieder gab es Versuche, die Geschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht mit Hilfe der Weltalter zu periodisieren und zeitlich einzugrenzen, doch rückte im Rahmen der Komputistik mit dem Werk Bedas nun die Kalenderberechnung stärker in den Vordergrund. 395 Pedersen, Astronomy, S. 307. 396 Isidor, Etymologiae, III, iv,4; vgl. die Übersetzung bei Borst, Computus, S. 38. 397 Vgl. unten Kap. 12.

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Beda forderte angesichts der irisch-angelsächsischen Kontroverse um die Berechnung des Osterfests, dass die zentralen Festtage für eine angemessene Vergegenwärtigung der christlichen Lehre überall zum gleichen, richtigen Zeitpunkt begangen werden sollten. So benutzte er – allerdings nach seinen nicht ganz präzisen Angaben – eine Sonnenuhr, um die Tag- und Nachtgleiche im Frühjahr und damit den Termin des Osterfestes festzulegen. Seine eigentliche Methode war jedoch die bereits vorgestellte »Fingerrechnung«, wie überhaupt für ihn die Arithmetik vor allem kirchlichen Zwecken zu dienen hatte. Dabei ging er davon aus, dass es dem menschlichen Verstand nicht möglich ist, die von Gott gesetzte himmlische Ordnung vollständig durch Zahlen zu erfassen. Diese Haltung spiegelt sich zum einen in einer Tabelle von Mondständen, in der er Buchstaben statt Zahlen benutzte, um den – nicht zum eigenen Rechnen befähigten – Lesern nicht eine Genauigkeit vorzuspiegeln, die es seiner Auffassung nach dabei nicht gab. Zum anderen vereinfachte er manche der Rechenregeln und sah auch die für die Osterberechnung grundlegende Bewegung des Mondes nur als ungenau erfassbar an.398 In der Folge ergaben sich einige Ungenauigkeiten, die er – in bewusster Nachlässigkeit – durch die Lehre vom »Mondsprung« erklärte. Seine methodische Grundhaltung erklärt auch, warum er Versuchen der Berechnung der Fortdauer der Welt wie im computus von 727 ablehnend gegenüberstand. Zugleich wandte er sich auch gegen das Vorgehen der Astrologie, die das Geburtsdatum zerlegte und daraus das weitere Schicksal eines Menschen ableiten wollte. Er trat vielmehr dafür ein, dass sich die Christen auf die Messung von Stunden beschränken sollten, wobei er für den Bereich der Wissenschaft einen 24stündigen, an den Sonnentag angelehnten Zyklus empfahl. Seine Bedenken hinderten ihn allerdings nicht daran, ähnlich wie andere Autoren auf heilsgeschichtlicher Grundlage das Datum der Schöpfung der Welt zu errechnen; er kam dabei auf den 18. März des Jahres 3952 vor Christus. Im Rahmen des linearen Geschichtsbilds, das auch für Beda gewisse Aussagen über die Zukunft erlaubte, spielte jedoch für ihn vor allem das Auftreten Christi auf Erden eine zentrale Rolle für die weitere Entwicklung. So leistete er – vor allem durch seine »Kirchengeschichte des englischen Volkes« – den wesentlichen Beitrag dazu, dass sich die bis heute gültige Jahreszählung nach der »Fleischwerdung des Herrn«, der Inkarnation Christi, im lateinischen Westen durchsetzte. Zugleich trug er zu einer Strukturierung des Kirchenjahrs bei, indem er in einem Martyrologium 114 von ihm überprüfte Heiligenfeste in den kirchlichen Kalender integrierte, die im Folgenden immer häufiger zur Grundlage von Datierungen gewählt wurden. Beda legte so die Grundlagen nicht nur der mittelalterlichen Berechnung von Kalenderdaten. Er verband die Kalenderrechnung 398 Borst, Computus, S. 44.

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des computus mit dem liturgisch relevanten Martyrologium und der Chronistik, die Gegenwart konnte so in den Lauf der Geschichte eingeordnet werden.399 Auf dieser Grundlage war die Komputistik ein zentrales Element nicht nur der klösterlichen Bildung geworden. So nahm z. B. auch Alkuin auf Nachfrage Karls d.Gr. in Briefen von 797/99 zu Problemen des computus Stellung, zur Berechnung des Laufs von Sonne und Mond, und auf Karls Anweisung hin wurde seit 809 von einer Gruppe von Gelehrten, die in den Quellen als compotistae erscheinen, die Tabellen und Sammlungen Bedas aktualisiert und ergänzt. Auch wenn bald eine gewisse Ermüdung eintrat, brachten das 9. und 10. Jahrhundert zahlreiche weitere Werke zur Komputistik hervor.400 Ein Wandel zeichnete sich am Ende des 10. Jahrhunderts ab, als Abbo von Fleury in seinem 978 verfassten Computus vulgaris Kritik an Bedas Daten für Schöpfung und Kreuzigung äußerte und sich stärker dem Problem der Zeit und ihrer Berechnung zuwandte.401 Dabei bediente er sich anders als Beda der (antiken) Wasseruhr, der clepsidra, die eine gleichmäßigere Einteilung der Stunden erlaubte. Abbo kritisierte zudem Bedas Verbindung von Zeitrechnung und Historiographie und suchte die eigenständige Ordnung der Natur in den Mittelpunkt zu stellen. Deshalb legte er auch einen immerwährenden Kalender mit umfangreichen Tabellen mit Zahlen und Zeichen in Form karolingischer Figurengedichte an, der zugleich die Schönheit der Gleichmäßigkeiten in Arithmetik, Geometrie und literarischer Komposition verdeutlichen sollte. Da es ihm um die Verbindung praktischer Erfahrungen mit den monastischen Idealen ging, setzte er sich auch mit einfachen Messmethoden auseinander; zudem berechnete er ähnlich wie Beda für eine längere Periode die Ostertermine im Voraus, und zwar für das »Großjahr« 1064 bis 1595, wobei er darauf verwies, dass Gott allein wisse, ob sich die Geschichte der Welt über diesen gesamten Zyklus hin fortsetzen werde. Dieser praktische Zugang zur Komputistik wurde durch Entwicklungen in der Astronomie verstärkt, insbesondere durch die Verbreitung des Astrolabs im lateinischen Westen.

II.

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Die Grundlage der mittelalterlichen Astronomie und Kosmologie bildete, obwohl zunächst nur über die Handbuchtradition vermittelt, die Astronomie der hellenistischen Epoche, die Ptolemaios († um 170) in seinen Werken zu einem gewissen Abschluss geführt hatte. Er übernahm das astronomische System 399 Ebd., S. 47. 400 Ebd., S. 54–59. 401 Allgemein vgl. Juste, Comput.

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Hipparchs und entwickelte mit Hilfe der Mathematik des Apollonius jenes geozentrische System, das bis zum Wirken des Copernicus am Anfang des 16. Jahrhunderts in den Grundzügen Bestand haben sollte.402 Sein Hauptwerk, die dreizehn Bücher der Syntaxis mathematica, die nach der arabischen Übersetzung auch als Almagest bekannt wurde, fasste die älteren astronomischen Lehren zusammen und bot einen grundlegenden Überblick, der so auch für die Späteren vorbildlich wurde. In Buch 1 und 2 setzt er sich mit den astronomischen Prinzipien auseinander und führt den Nachweis, dass die kugelförmige Erde im Zentrum des Universums ruht. Buch 3 ist der Sonne gewidmet, Buch 4 und 5 dem Mond, Buch 6 und 7 den Fixsternen, schließlich Buch 8 bis 13 den fünf (damals bekannten) Planeten. Sein eigener Beitrag lag dabei vor allem auf mathematischem Gebiet. Wesentlich war jedoch auch die Übernahme des platonischen Prinzips der »Rettung der Phänomene« (sozein ta phainomena), also der »Wahrung« der am Himmel zu beobachtenden Erscheinungen durch komplexe mathematische Konstruktionen, die bewusst nur als Hilfsmittel zur Berechnung des Laufs der Sterne verstanden wurden. Dazu gehörte vor allem die Annahme von »Epizykeln«, also die Bestimmung der Laufbahn von Planeten mit Hilfe eines seinerseits auf einer Kreisbahn umlaufenden Kreises, sowie die von »Exzentern«, also von Kreisbewegungen um ein auf einer Achse verschobenes Zentrum. Auf dieser Grundlage war eine annäherungsweise Beschreibung der Planetenbewegung möglich, doch keine Bestimmung der Abstände oder gar eine »physikalische« Erklärung. Das umfangreiche, eindrucksvolle Werk des Ptolemaios bot für die Späteren kaum einen Anlass und wenig Ermutigung, die durch ihn behandelten Fragen noch einmal selbst neu anzugehen. Vielmehr mussten seine Methoden immer erst mühsam weitervermittelt werden. Es ist so auch kein Zufall, dass der Almagest zunächst im lateinischen Westen nicht unmittelbar rezipiert wurde; selbst die nach seinem Vorbild verfasste und noch von Cassiodor bezeugte astronomische Lehrschrift des Boethius hat sich nicht erhalten und wurde so offenbar im Westen nur wenig zur Kenntnis genommen. Dagegen fand das Werk des Ptolemaios im griechischen Kulturraum weiterhin Aufmerksamkeit, etwa im Alexandria des 5. und 6. Jahrhunderts, und wurde schließlich im Bagdad des frühen 9. Jahrhunderts ins Arabische übersetzt. Diese Übersetzung wurde noch im 9. Jahrhundert durch den arabischen Astronomen Thabit ibn Qurra revidiert und fand breite Aufmerksamkeit. Obwohl in Sizilien in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auch eine Übersetzung aus dem griechischen Original unternommen wurde, bildete der arabische Text schließlich auch die Grundlage für die maßgebliche lateinische Fassung, die 1175 in Toledo durch Gerhard von Cremona abgeschlossen wurde. Zu diesem Zeit402 Stock, Science, S. 5.

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punkt waren auch andere Schriften des Ptolemaios zugänglich geworden, neben der »Geographie« unter anderem sein Tetrabiblos oder Quadripartitum, in dem er astrologische Probleme wie den Einfluss der Sterne auf das menschliche Leben diskutiert.403 Zunächst aber lagen diese Schriften im lateinischen Westen nicht vor, ebenso wenig wie die Schriften eines Hipparch oder anderer antiker Astronomen. Überhaupt waren die Kenntnisse der Astronomie hier im Vergleich zum griechischen Osten sehr bescheiden.404 Den Ausgangspunkt bildete wiederum die spätantike Handbuchtradition, so die »Naturgeschichte« des Plinius, der Kommentar des Macrobius zu Ciceros Somnium Scipionis und das Werk des Martianus Capella. Dazu kamen Texte der neuen christlichen Autoritäten, vor allem der Kirchenväter, wie die Genesis-Kommentare des Augustinus und Ambrosius. Vom Werk Platos war, wie erwähnt, im Wesentlichen nur die erste Hälfte des Timaios bekannt, die Chalcidius übersetzt hatte. Diese Texte gingen so auch in die frühmittelalterlichen Enzyklopädien und Handbücher ein, in Isidors Etymologiae und in sein ausführlicheres astronomisch-kosmologisches Werk »Über die Natur der Dinge« (De natura rerum), in Bedas gleichnamige Schrift sowie in die Sammlungen des Hrabanus Maurus, Honorius Augustodunensis und Alexander Neckham († 1217). Diese »Quellenlage« wie die besonderen Interessen der meist dem Umfeld der Kloster- oder Kathedralschulen entstammenden Autoren erklärt auch, warum das bei Ptolemaios in der Astronomie vorherrschende mathematische Element in den frühmittelalterlichen Werken zugunsten kosmologischer Überlegungen zurücktrat. Trotzdem finden sich z. B. auch bei Isidor Reste mathematischer Astronomie. So kannte er die Himmelsachse und die Pole, den Tierkreis als Gürtel von Sternen, der sich im Winkel von fünf Grad zur Ebene der Ekliptik stellt sowie den Weg der Sonne durch die Sterne. Allerdings konnte er wenig über die exakte Position der Sterne sagen und nur für Jupiter und Saturn korrekte Umlaufzeiten angeben. In dieser Hinsicht war Beda besser informiert, ebenso wie über die Phasen der Sichtbarkeit der Planeten. Andererseits ging er hinter das mathematische Modell des Ptolemaios insofern zurück, als er – ähnlich wie Plinius – nur Exzenter, aber keine Epizykel für die Planetenbahnen annahm und dabei das Problem übersah, dass damit allein die von der Erde aus erkennbare Rückwärtsbewegung der Planeten nicht erklärbar war. Ein gewisser Wandel in Astronomie und Kosmologie vollzog sich in der »karolingischen Renaissance«. Die Astronomie wurde im Zuge der durch Alkuin eingeleiteten Reformen in den Schulen wieder intensiver gelehrt, und ein anonymes Traktat »Über den Zustand der himmlischen und irdischen Welt« (De 403 Thorndike, Magic, 1, S. 109–10. 404 Pedersen, Astronomy, S. 305.

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mundi coelestis terrestrique constitutione) zeichnet sich dann auch durch größere Genauigkeit im Umgang mit den technischen Begriffen der Astronomie aus. So wurden z. B. komplizierte astronomische Probleme je nach den zu beobachtenden Oppositionen und weiteren Faktoren in verschiedene Aspekte aufgeteilt, und neue mathematische Methoden zur Beschreibung der Sternenbewegung wurden erprobt, etwa in einem aus dem 9. Jahrhundert stammenden Diagramm mit konzentrischen Kreisen. Dieses Modell sollte im 10. Jahrhundert zu einem Gitternetz wie mit einem cartesischen Koordinatensystem erweitert werden, auf dem sich alle Bewegungen der Planeten zweidimensional darstellen ließen.405 Eine Sonderrolle in der Karolingerzeit spielte auch im Hinblick auf die Astronomie Johannes Scotus Eriugena, der in seinem Hauptwerk Periphyseon oder De divisione naturae ein eigenes astronomisches Modell anwandte, mit dem er gegen Ptolemaios der Heraklides von Pontus zugeschriebenen geo-heliozentrischen Theorie folgte. Bei ihm bewegen sich, ähnlich wie in späteren Ansätzen, Venus und Merkur auf Kreisbahnen um die Sonne, die ihrerseits wiederum um die Erde kreist.406 Weder Johannes Scotus noch seine Zeitgenossen besaßen jedoch geeignete Instrumente, um ihre theoretischen Überlegungen mit Hilfe von Beobachtungen zu untermauern; zur Verfügung stand allein eine recht schlichte Form der Sonnenuhr, und in Berichten über Beobachtungen finden sich vor allem Hinweise auf Sonnen- und Mondfinsternisse. Dies änderte sich jedoch unter arabischem Einfluss, durch Gelehrte, die mit dem islamischen Spanien in Kontakt kamen. So war es wiederum Gerbert von Aurillac, der die erste Beschreibung eines Himmelsglobus verfasste, der für die Darstellung der Himmelssphären und der Sternbilder benutzt wird.407 Daneben findet sich unter den ihm zugeschriebenen, wohl aber nicht authentischen Schriften ein Liber de astrolabio, ein »Buch über das Astrolab«, das ein wohl von den Griechen erfundenes und im Nahen Osten weiterentwickeltes und häufig verwandtes Instrument zur Sternenbeobachtung war. Es besteht aus einer kreisförmigen Scheibe aus Bronze oder Kupfer, die auf der einen Seite eine Gradeinteilung mit einer Datumslinie und einem drehbaren Zeiger, der sogenannten Alhidade, aufweist. In diesen Zeiger ist am Anfang und Ende jeweils ein Spalt eingearbeitet, durch den man den Stern anvisieren kann, dessen Höhe mit Hilfe des senkrecht aufgehängten Astrolabs bestimmt werden soll. Die Rückseite des Astrolabs dagegen war als eine jeweils der geographischen Breite angepasste stereographische Projektion der Himmelssphäre auf eine Ebene parallel zum Äquator gestaltet, die es erlaubte, eine Reihe von Problemen der sphärischen

405 Ebd., S. 308. 406 Johannes Scotus Eriugena, Periphyseon, 3, S. 206. 407 Brunhölzl, Geschichte, 2, S. 148.

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Astronomie mit Hilfe von Drehungen einer zweiten, als Sternkarte geformten Scheibe einer Lösung zuzuführen.408 Im lateinischen Westen wurde der Gebrauch dieses Instruments erstmals durch zwei anonyme Traktate erläutert, durch die kleinen Schriften De mensura astrolabii (»Über das Maß des Astrolabs«) und De utilitatibus astrolabii (»Über die Nutzung des Astrolabs«) aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Nachweisbar war ein Astrolab z. B. bereits um 1025 im Besitz des vorhin erwähnten Radulf von Lüttich, und ein erster Bericht über Sternenbeobachtung mit Hilfe des Astrolabs stammt von Walcher, dem Prior des Klosters Malvern, der am 18. Oktober 1092 das Astrolab zur Bestimmung der Zeit einer Mondfinsternis nutzte.409 Ausgehend von seinen Beobachtungen, kam Walcher zu der Erkenntnis, dass man mit Hilfe der exakten Bestimmung der Mondfinsternisse eine festere Grundlage für die kirchliche Festtagsberechnung erlangen könnte, und legte 1108 ein die 76 Jahre von 1036 bis 1111 umfassendes Tafelwerk vor, das 1120 erneuert wurde. Dies waren die ersten astronomischen Tafelwerke, die im lateinischen Westen entstanden; weitere sollten folgen. Allerdings brauchte man für eine umfassendere Nutzung des Astrolabs ohnehin ein ausführlicheres astronomisches Tafelwerk. Ein derartiges Werk lag dem Westen schließlich 1126 vor, als Adelard von Bath die astronomischen Tafeln Al-Khwarizmis übersetzt hatte.410 Sie boten nicht nur Tabellen zu den verschiedenen Kalendern, zu den mittleren Bewegungen von Sonne, Mond und Planeten sowie zu Konjunktionen und Eklipsen, sondern auch eine Einführung in den Gebrauch astronomischer Tafeln und zahlreiche weitere Informationen. Allerdings gab es mit diesen astronomischen Tafeln auch ein schwerwiegendes Problem, das sich als Herausforderung erweisen sollte: Sie waren auf der Grundlage der Hedschra, also des Beginns der islamischen Zeitrechnung, kalkuliert und gingen von einem Meridian aus, der durch einen mythologischen Berg im Zentrum der Welt, faktisch durch das alte Zentrum Indiens, gelegt war. Innerhalb kurzer Zeit kam es so zu zahlreichen Versuchen, die astronomischen Tafeln den westlichen Regionen anzupassen. So erstellte 1141 ein sonst nicht näher bekannter Raimund Tafeln für Marseille, und etwa zur selben Zeit rechnete Robert von Chester die Tafeln Al-Khwarizmis auf den Meridian von London um. Andere Tafelwerke folgten, wobei man nicht nur auf die Schrift Al-Khwarizmis, sondern auch auf andere astronomische Tafeln aus dem arabischen Raum zurückgriff, unter anderem auf die des spanisch-arabischen Astronomen az-Zarqali aus dem

408 Crombie, Augustine, S. 106–07. 409 Nothaft, Error, S. 80. 410 Ebd., S. 84.

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11. Jahrhundert, die als »Toledanische Tafeln« nur in verschiedenen lateinischen Versionen erhalten sind.411 Alle diese Tafelwerke standen auf einer theoretischen Grundlage, wobei – gerade bei Al-Khwarizmi – zwar auch die indische Astronomie eine Rolle spielte, aber vor allem dem Werk des Ptolemaios zentrale Bedeutung zukam. So führten die erweiterten Möglichkeiten der praktischen Astronomie wiederum zu einem Bedarf an grundlegenden Schriften, dem die Übersetzer nachzukommen suchten, indem sie weitere Texte in lateinischer Sprache zur Verfügung stellten. 1137 übertrug Johann von Sevilla eine kleine Schrift des im 9. Jahrhundert lebenden Bagdader Astronomen al-Farghani, die den lateinischen Titel Rudimenta astronomica oder Liber differentiarum erhielt und in knapper Form eine Einführung in die Astronomie des Ptolemaios bot, ohne dafür auf dessen mathematische Grundlagen zurückgreifen zu müssen. Aber auch dies erwies sich als nicht ausreichend, so dass dem lateinischen Westen, wie angesprochen, bald auch Übersetzungen des Almagest vorlagen. Seine Rezeption setzte allerdings in vollem Umfang erst an den Universitäten des 13. Jahrhunderts ein, da die Kathedral- und Klosterschulen vielfach keine ausreichende Ausbildung boten, um sich mit diesem schwierigen Werk angemessen auseinandersetzen zu können. Wie deutlich worden sein sollte, war im Rahmen der Astronomie der Antike und des Mittelalters stets von Kugeln und Kugelschalen, Sphären, die Rede, wenn es um die grundlegende Gestalt der Welt und ihrer Teile ging. Tatsächlich ist die These, das Mittelalter hätte sich die Welt als Scheibe vorgestellt, im Wesentlichen eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und beruht unter anderem auf dem falschen Verständnis der mittelalterlichen Weltkarten, die durchaus im modernen Sinne als Projektionen verstanden werden können, auch wenn die graphische Umsetzung nicht immer gelang.412 Schon das System des Ptolemaios, das bis zur »kopernikanischen Wende« im 17. Jahrhundert vorherrschend blieb, vereinte nicht nur astronomische und mathematische Einflüsse, sondern nahm auch den platonischen Ansatz idealer geometrischen Figuren auf, nach dem Kreisen und Kugeln besondere Bedeutung zukam. Für ihn war der endliche, aber immens große Kosmos folglich aus konzentrischen Kugelschalen, den Sphären, aufgebaut, angefangen von der als Kugel vorgestellten Erde im Zentrum, über die Sphären der sieben Planeten, zu denen auch Sonne und Mond gezählt wurden, bis hin zur Sphäre der Fixsterne. Insbesondere im Bereich der Planeten war eine Reihe von Hilfskonstruktionen, mit Exzentern und Epizykeln, notwendig, die aber für Ptolemaios das Kugelschalenmodell nicht in Frage stellten. Dieses astronomische »System« konkurrierte – sofern sie bekannt waren – mit den physikalischen Vorstellungen des Aristoteles, der von einer räumlichen, 411 Pedersen, Astronomy, S. 313; Nothaft, Error, S. 84. 412 Von den Brincken, Kugelgestalt; Simek, Erde, S. 53.

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durch ihre »Schwere« bestimmten Anordnung der vier Elemente ausging, wobei zunächst im Zentrum die Erde angenommen wurde, dann folgten Wasser, Luft und Feuer. Erst darüber begann mit der Sphäre des Mondes der Bereich der Himmelskörper, der sich durch ein eigenes, fünftes, Element auszeichnete. Auch diese Theorie ließ sich mit Hilfe von Kugelschalen verdeutlichen; und so wurden beide Modelle in spätmittelalterlichen Darstellungen vielfach zusammengeführt. Die Erde nahm dabei ihre zentrale Stellung nicht wegen ihrer großen, sondern wegen ihrer geringen Bedeutung ein, zumal für Aristoteles im Kosmos eine Kausalität »von außen nach innen« vorherrschte, vom als unbewegt vorgestellten Ersten Beweger jenseits der Fixsternsphäre hinab zu den Planeten und Elementen. Obwohl weder die naturphilosophischen Werke des Aristoteles noch der Almagest des Ptolemaios dem früheren Mittelalter in Übersetzung zugänglich waren, wurden ihre grundlegenden Vorstellungen schon durch die Handbuchtradition vermittelt. So finden sich die sogenannten »Weltallbilder« unter anderem in Bedas naturphilosophischer Enzyklopädie De natura rerum und im 9. Jahrhundert im in Versform angelegten Calendarium des Wandalbert von Prüm,413 in Handschriften mit Kommentaren zur Genesis sowie in den mystischen Texten der Hildegard von Bingen. Abweichungen gab es dabei zumeist nur in der Gestaltung der äußeren Sphären, für die jenseits der Fixsternsphäre teilweise noch eine Kristall- und Feuersphäre sowie eine Sphäre Gottes als »Erstem Beweger« angenommen wurden; allerdings wurden erst im späteren Mittelalter ausführliche Diskussionen um die Zahl der Sphären geführt. Neben der wissenschaftlichen Kosmologie gab es weitere Vorstellungen, die teils die wissenschaftliche Sicht popularisierten, teils auf eigenständigen Traditionen beruhen. So vergleicht z. B. Honorius Augustodunensis in seinem Imago mundi (»Bild der Welt«) die Bewegung eines Planeten um die Erde mit einer Fliege, die auf einem Mühlstein sitzt und sich mit diesem dreht, ein Bild, das ähnlich auch in einer altisländischen Quelle wiederkehrt.414 Bei Honorius wie in volkssprachlicher Überlieferung findet sich auch ein anderes kosmologisches Modell, das seine Wurzeln ebenfalls in antiken Vorstellungen hat: das Bild der Welt als Ei. Ausgangspunkt dafür war das Schema der vier Elemente, wobei Schale, Häutchen, Eiweiß und Dotter entweder jeweils Feuer, Luft, Wasser und Erde oder aber anderen Bestandteilen des Universums zugeordnet wurden. Diese Gleichsetzung ging bereits in die spätantike und frühmittelalterliche Handbuchliteratur ein und findet sich ebenso z. B. in den Kommentaren von Johannes Scotus Eriugena und von Remigius von Auxerre zu der grundlegenden Schrift des 413 Simek, Erde, S. 19. 414 Ebd., S. 23.

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Martianus Capella. In den Handschriften des Liber scivias der Hildegards von Bingen wird sogar der Kosmos insgesamt eiförmig dargestellt, und unter einem Bild in einer Stuttgarter Handschrift heißt es: »Wie die runde Erde nämlich in der Mitte des Himmels aus dem Nichts geschaffen wurde, so schwebt sie im Nichts wie das Dotter im Ei«.415 Überhaupt scheinen das wissenschaftliche Modell der Kugelsphären und das Bild des Eis nicht als Widerspruch empfunden worden zu sein; so hat etwa Wilhelm von Conches in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in seiner »Philosophie der Welt« (Philosophia mundi) beides nebeneinander eingesetzt. Selbst wenn das Bild des Kosmos als Ei nicht der idealen Kugelgestalt folgt – und fast, so möchte man meinen, das Ringen Keplers um die astronomische Gleichberechtigung der Ellipse vorwegnimmt –, bleibt es doch dreidimensional, hat also mit der vielfach postulierten Scheibentheorie nichts zu tun. Die grundsätzliche Dreidimensionalität des Weltbilds lässt sich auch aus den anderen Texten bestätigen. Wenn etwa Hrabanus Maurus in seinem Werk De universo den bewohnten Erdkreis mit einem Rad vergleicht, so ist es durchaus plausibel, dies als einen Hinweis auf den Teil einer Kugel zu interpretieren.416 Überhaupt gingen die mittelalterlichen Autoren auch aufgrund der antiken Tradition davon aus, dass nur ein Teil der Erde bewohnt bzw. überhaupt bewohnbar ist, so dass die sogenannten T-O-Weltkarten, die in schematischer Anordnung die drei bekannten Kontinente, Europa, Asien und Afrika, zeigen, zweifellos eine bewusste Beschränkung auf die bewohnte Welt darstellen, wobei die Kontinente schematisch um Jerusalem zentriert sind. Verdeutlichen lässt sich dies ebenso an der Auseinandersetzung mit den Klimazonen, die im Kontext mit Diskussionen der Kugelgestalt des Universums stehen bzw. auf Karten wie aus dem Liber Floridus des Lambert von St. Omer auf einer Kugel dargestellt werden. Die Übertragung des Kugelschalenmodells auf die vier Elemente fand auch dort statt, wo, wie im 12. Jahrhundert vor Beginn der eigentlichen AristotelesRezeption, die Auseinandersetzung mit dem Timaios Platos zu neuen naturphilosophischen Konzeptionen führte. So hat z. B. Thierry von Chartres († um 1155) in seiner Schrift »Über die sieben Tage und die Unterschiede der sechs Werke« (De septem diebus et sex operum dinstinctionibus), mit der er den Versuch unternahm, die Schöpfungsgeschichte rational zu erklären, Platos Lehre von den vier Elementen aus dem Timaios entlehnt. Danach waren die Elemente mit festen geometrischen Grundstrukturen zwar ineinander umwandelbar, doch bildeten sie insgesamt konzentrische Sphären um die Erde als Zentrum, und zwar nacheinander Wasser, Luft und Feuer; die Feuersphäre schloss allerdings in 415 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. hist. fol. 415, fol. 16r; Übersetzung bei Simek, Erde, S. 33, der sich auf Zahlten, Creatio, S. 149, Anm. 160, bezieht. 416 Simek, Erde, S. 39.

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Abb: 4: Isidori iunoris Hispalensis episcopi Ethimologiarum libri numero viginti, [Augsburg]: Günther Zainer [19. November] 1472, fol. [189]v; T-O-Weltkarte [wikimedia, https://common s.wikimedia.org/wiki/File:Etimolog%C3%ADas_-_Mapa_del_Mundo_Conocido.jpg]

diesem Modell anders als sonst den gesamten Raum vom Mond bis zu den Fixsternen ein, da das Feuer den wichtigsten Bestandteil der Himmelskörper bilden sollte.417 Ähnlich setzen im Übrigen andere auf Platos Timaios fußende Darstellungen des 12. Jahrhunderts, etwa die Cosmographia des Bernardus Silvestris (um 1150), einen sphärenförmig aufgebauten Kosmos voraus (wenn Bernhard z. B. auf die Sphären der sieben Planeten und die zentrale Rolle der äußersten Sphäre verweist).418 Die Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts änderte somit nur Details, aber nicht mehr das grundlegende Modell.

417 Crombie, Augustine, S. 46–47. 418 Bernardus Cosmographia, VI,3 und XIII,11, S. 133 und 149.

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III.

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Auch für die Medizin hatte die Spätantike den Versuch der systematischen Zusammenfassung des – vor allem griechisch geprägten und seit der Zeit des Hippokrates zusammengetragenen – Wissens unternommen. Selbst wenn er von seinem Ansatz her eher ein Universalgelehrter war und unter anderem zu allgemeinen naturphilosophischen Fragen Stellung nahm, war es der aus Pergamon stammende Galen (um 130–200), der die Medizin bis ins Zeitalter der Renaissance prägte. Galen, der unter anderem in Rom als Leibarzt des Kaisers Commodus tätig war, nahm gleichermaßen neuplatonische und aristotelische Elemente in die Medizin auf. So widersprach er älteren Vorstellungen von irrationalen Vorgängen im Körper und vertrat die Auffassung, dass die Organe zielgerichtet arbeiten. In diesem Zusammenhang wies er zudem nach, dass sich Blut regulär z. B. auch in Herz und Lunge findet, und erkannte unter anderem die Funktion der Herzklappen; dabei war er allerdings noch weit von der Vorstellung eines Blutkreislaufs entfernt, der endgültig erst 1628 von William Harvey nachgewiesen werden sollte.419 In Analogie zu den aristotelischen Lehren über die vier Elemente entwickelte Galen auf hippokratischer Grundlage die das Mittelalter prägende »Viersäftelehre«, die Lehre der »Humoralpathologie«, nach der Gesundheit und Krankheit wesentlich durch das Gleichgewicht oder Ungleichgewicht der vier Körpersäfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim bestimmt wird. Sie finden sich in verschiedenen Organen des Körpers, gelbe Galle in der Gallenblase, schwarze Galle in der Milz, Schleim in den Drüsen, und lassen sich in dieser Reihenfolge mit den vier Jahreszeiten sowie mit den Elementen Luft, Feuer, Erde und Wasser und ihren Elementarqualitäten heiß und kalt, feucht und trocken verbinden. Daneben lassen sich drei Formen von »Hauch« (pneuma oder lateinisch spiritus) unterscheiden, der »Naturhauch« der Leber, der »Lebenshauch« des Herzens sowie der »Seelenhauch« des Gehirns, das für Galen anders als für Aristoteles eindeutig das Zentrum des Nervensystems war. Dies blieben lange die theoretischen Grundlagen der Medizin,420 ebenso wie Galen mit einem Werk über anatomische Untersuchungen lange prägend blieb. Aufgrund einer Abneigung gegenüber der Chirurgie und vor allem gegenüber der Sektion von Leichen konzentrierte er sich dabei auf die Anatomie von Schweinen, Ziegen und Affen, und insbesondere die Schweineanatomie wurde zunächst von den Späteren aufgenommen und fortgeführt. Noch vor der Übersetzung seiner Schriften ins Lateinische, aus dem Arabischen durch Gerhard von Cremona im 419 Dazu allgemein Gregory, Harvey’s Heart. 420 Touwaide, Galen, bes. S. 180–81.

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späten 12. Jahrhundert sowie aus dem Griechischen durch Burgundio von Pisa um 1185 und durch Wilhelm von Moerbeke um 1277, entstand im Umfeld von Salerno am Anfang des 12. Jahrhunderts die erste abendländische Anatomie, die einem Copho von Salerno zugeschriebene »Schweineanatomie« (Anatomia Porci), die die öffentliche Sektion eines Schweines schildert. Daran schlossen sich noch im Laufe des 12. Jahrhundert drei weitere ähnliche Texte aus Salerno an. Erst ein vierter, die Anatomia Ricardi, war, allerdings noch weitgehend auf literarischer Grundlage, der menschlichen Anatomie gewidmet. Sie formuliert den Grundsatz: »Die Anatomie ist für Ärzte notwendig, damit sie sicher erkennen können, dass der menschliche Körper dazu gebaut ist, dass er verschiedene Bewegungen und Tätigkeiten […] ausführen kann«.421

Vor allem aus ethischen Überlegungen, aber auch unter Verweis auf das Werk Galens, setzte sich jedoch die Untersuchung von Verstorbenen erst allmählich durch, in Bologna unter anderem im Zusammenhang mit – modern gesprochen – gerichtsmedizinischen Fragen. Für die Epoche des frühen Mittelalters war jedoch ein anderer Aspekt von größerer Bedeutung, der der materia medica, der Heilmittel. Dafür war zunächst eine andere antike Kompilation grundlegend, das »Kräuterbuch« des Dioskurides aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Dieses Werk stellt systematisch in sechs Büchern die verschiedenen Heilpflanzen und sonstigen Heilmittel zusammen und listet jeweils die medizinischen Anwendungen dazu auf. So heißt es z. B. über Rosen (in einer Übersetzung in einem Druck des 16. Jahrhunderts): »Der Wein, da gedoͤ rte Rosen in gesotten sind, ist gut wider den Schmertzen und wehthumb des Haupts, der Ohren, des Zaͤ nfleisches, deß hindern Maßdarms, anderer Gedaͤ rme und der [Ge-]Beermutter, die Ort damit gewaschen, mit einem Federlin angestrichen oder mit einem Clystierroͤ hrlin beygebracht. Dieselbige Rosen auch sonder [ohne] einige außpressung gestossen und ubergelegt, vertreiben unnd heylen die hitzige [entzündete] Geschwulst, […] die Gebrechen des Magens, die sich auß Feuchtigkeiten erheben unnd den Rothlauff [die Hautkrankheit der Rose. …] Die Rosen werden auch unter die Wundsalben und sonderlich unter die jenige, welche wider die Mundtgeschwer bereyt werden […] vermischt«.422

Die umfangreiche Sammlung des Dioskurides ist in den Handschriften – ebenso wie in späteren Drucken – vielfach von Illustrationen begleitet, die die Pflanzen und sonstigen Heilmittel vorstellen. Sie wurde zwar bereits im 6. Jahrhundert in Italien ins Lateinische übertragen, war aber im früheren Mittelalter vor allem aus Kompilationen bekannt, die in weitaus stärkerem Maße Irrtümer verbreiteten, da 421 Ricardus, Anatomia, 1, S. 1. 422 Dioskurides, Kräuterbuch, S. 60.

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ihre Verfasser neben einer oftmals ausgeprägten Neigung zur allegorischen Interpretation nicht immer die für ihre Arbeit notwendigen Kenntnisse besaßen. Auf der Grundlage der Werke anderer antiker Autoren entstanden so immer neue pharmakologische Handbücher, die teilweise sogar in Versform vorliegen, die Libri medicinales, an denen sich z. B. die Vertreter der Klostermedizin wie Bertharius aus dem Kloster Montecassino sowie Walahfrid Strabo von der Reichenau orientierten. Jedoch nicht Dioskurides bestimmte dabei das Bild der materia medica, sondern der Kreis der Plinius zugeschriebenen Rezeptschriften, von denen vor allem die in verschiedenen Fassungen erhaltene Medicina Plinii häufig verbreitet war. Diese Schrift aus dem frühen 4. Jahrhundert verband Auszüge von Plinius, Dioskurides, Galen und anderen. Wenn etwa Cassiodor in seinen Institutiones unter anderem ein Herbarium Dioskoridis als grundlegende Lektüre nennt oder Isidor ein Herbarium anführt, bezog sich das wahrscheinlich nicht auf das vollständige antike Handbuch, sondern auf den als Dioscoridus Langobardus bekannten volkstümlichen Auszug.423 Seit dem 11. Jahrhundert setzte sich dann unter arabischem Einfluss eine Tendenz zur Systematisierung durch, bei der die Einträge alphabetisch angeordnet wurden; auch der Dioscuridus Langobardus wurde schließlich nach diesem Prinzip umgestaltet. In dieser Zeit gewann die Medizinschule von Salerno mehr und mehr an Bedeutung, und in ihr wandte man sich den Fragen der materia medica neu zu. Es entstand die Literaturgattung der »Antidotarien«, von denen der Liber antidotarius magnus den klarsten Aufbau hat.424 Der älteste Antidotarius aus Salerno enthält immerhin rund 12.000 Regeln in 1.000 Kapiteln; spätere Schriften wie die Katholika des Magisters Salernus aus der Mitte des 12. Jahrhunderts waren weniger umfangreich, schlossen aber mindestens teilweise nicht nur die Heilmittel, sondern auch die praktische Heilkunde mit ein. Salernus war auch der Autor eines Compendium, das in 130 Kapiteln zahlreiche Aspekte von Pharmakologie und Therapie behandelt. Schon dem frühen Mittelalter war ein dictum Hippocratis, ein Satz des Hippokrates, vertraut, nach dem sich die Heilkunst aus Diätetik, Pharmakologie und Chirurgie zusammensetzt,425 so dass Salernus mit seinem Werk eine Brücke zwischen diesen Disziplinen schlug. Die Entwicklung der Schule von Salerno war eng mit der Übersetzung der später an den Universitäten grundlegenden (zumeist arabischen) Schriften zur Medizin, der Ars vetus, durch Constantinus Africanus († 1087) verbunden. Die damit ausgelösten Veränderungen lassen sich besser verstehen, wenn man sie der 423 Schipperges, Garten, S. 142–44. 424 Ebd., S. 144. 425 Ebd., S. 139.

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frühmittelalterlichen Kloster- oder genauer Klerikermedizin gegenüberstellt. Deren Selbstverständnis findet sich unter anderem in einem der Gedichte Alkuins, in einem der carmina Alcuini, in dem es heißt: »Schon strömen die Ärzte herbei in des Hippokrates Hallen. Der eine schlägt zur Ader, ein anderer mischt Kräuter in einem Gefäß, dieser braut das Getränk, während jener den Heiltrunk reicht. Und doch, ihr Ärzte, für alles erstattet den Dank; Christi Segen sei euren Händen zugegen«.426

Die Ärzte des früheren Mittelalters sahen sich somit durchaus in antiker Tradition, die mit Namen wie dem des Hippokrates verbunden wurde; sie verstanden sich jedoch auch in einem christlichen Kontext, bei dem das eigene Wirken nur mit Gottes Hilfe zum Erfolg führen konnte. Entsprechend findet sich dies auch in der bereits angesprochenen Stelle der Institutiones Cassiodors, der seinen Mönchen riet: »Also lernt die Eigenschaften der Kräuter und die erprobten Mischungen der Arzneien kennen, doch setzt eure Hoffnung nicht auf die Kräuter […], denn obwohl die Medizin durch Gott begründet wurde, führt er selbst die Heilung herbei, da er auch das Leben ohne Zweifel gegeben hat«.427

Cassiodor gab zugleich so etwas wie eine »Leseliste«. Zunächst empfahl er das Herbarium des Dioskurides und fuhr dann fort: »Lest den Hippokrates und Galen in lateinischer Übersetzung […] und einen anonymen Autor, der nachweislich verschiedene Autoren gesammelt hat, dann die Medicina des Caelius Aurelian, das Buch des Hippokrates über die Kräuter- und Heilmethoden und verschiedene andere Schriften über die Heilkunst, welche ich euch in meiner Bibliothek mit Gottes Hilfe überlassen habe«.428

Allerdings lagen wohl schon Cassiodor vielfach nur Kompilationen oder Auszüge der genannten Werke vor, und dies galt umso mehr in den späteren Klöstern, die sich am Vorbild der Gründung Benedikts von Nursia orientierten, auch wenn sie einen Rahmen schufen, in dem die grundlegenden Kenntnisse nie völlig in Vergessenheit gerieten. Die medizinische Praxis in Klöstern und an Kathedralen blieb wesentlich auf die heilpflanzliche und medikamentöse Behandlung der Patienten beschränkt, die – wie im Gedicht Alkuins – durch Aderlässe sowie durch Bäder ergänzt wurde. Art und Zahl der chirurgischen Eingriffe blieben gering. Vielfach wurden stattdessen religiöse und magische Heilmethoden praktiziert, während eine theoretische Reflektion der medizinischen Grundlagen so gut wie nie stattfand. Dies änderte sich durch die Entwicklungen in Salerno radikal; die Übersetzungen 426 Alcuini Carmina, XXVI, S. 245; nach der Übersetzung bei Schipperges, Garten, S. 139–40. 427 Cassiodori Institutiones, I, xxxi, S. 78. 428 Ebd., S. 79; zur Übersetzung vgl. Büchelin, hrsg. Kurze, S. 3.

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des Constantinus Africanus schufen trotz des eher praktischen Charakters der übertragenen Schriften erstmals eine medizintheoretische Grundlage. Sie umfassten neben einem umfangreichen medizinischen Kompendium in zwanzig Büchern, dem Liber pantegni oder Liber regius, und einem kürzeren Handbuch unter anderem Abhandlungen über einfache Heilmittel, Urinschau, Fieber, Augen- und Magenkrankheiten sowie Melancholie.429 Zusammen mit der schon ins 9. Jahrhundert zurückgehenden praktischen Ausrichtung der Salernitaner Schule erklären diese Schriften den Schub, der nun von Salerno für die Entwicklung der mittelalterlichen Medizin ausging. Die Schule von Salerno markiert einen derartig tiefen Einschnitt in der Medizingeschichte, dass die Forschung geradezu zwischen vorsalernitanischer und salernitanischer Medizin unterscheidet. Letztlich beginnt im lateinischen Westen erst in Salerno die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit medizinischen Problemen.430 Die Schule von Salerno hat aber nicht nur die Medizin an den Schulen verändert; durch die seit dem 13. Jahrhundert fassbaren Gesundheitslehren hat sie die Erkenntnisse zur Diätetik und Pharmakologie popularisiert. Insbesondere das in Versen abgefasste Regimen sanitatis Salernitanum, das »Salernitaner Gesundheitshandbuch«, fand weite Verbreitung und wurde auch in die Volkssprachen übersetzt. Dass dies nicht immer unkritisch aufgenommen wurde, zeigen nach Salernitaner Vorbild gestaltete Rezeptparodien, die sich im Umfeld der Gesundheitslehren finden. Das gilt etwa für ein Rezept gegen Kahlköpfigkeit, das bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann. Es heißt darin unter anderem: »Du solt auch nemen ain schwarczes aye, / Das von ayner henen wische [weißen Henne] sye; / Nym auch das gerechte horn, / Das dem hasen wechst by dem orn; / Dar zu och das ole [Öl] mayn, / Gedrucket uß ainem schwarczen marmelstain«.431

Die Gesundheitslehren führen jedoch schon hinüber in die Entwicklungen des späteren Mittelalters.

429 Büchelin, hrsg. Kurze, S. 6. 430 Ebd., S. 4. 431 Ebd., S. 113.

9.

Physik, Kosmologie und Medizin im späteren Mittelalter

In wissenschaftsgeschichtlichen Überblicksdarstellungen werden nicht nur das Früh- und Hochmittelalter sehr kursorisch behandelt, auch das Spätmittelalter findet oft nur exemplarisch und im Blick auf die Ausbildung der modernen Naturwissenschaften Erwähnung. Bis heute hat sich trotz der Erschließung durch Lexika und Handbücher432 kein einheitliches Forschungsgebiet der mittelalterlichen Wissenschaftsgeschichte entwickelt. Das liegt zum einen an der Vielgestaltigkeit der Themen, die gesonderte Betrachtung verdienen, von der Bewegungslehre über die Alchimie bis zur Medizin, zum anderen an den vielfach fehlenden Verbindungslinien zwischen vormoderner und moderner Wissenschaft, zumal für die mittelalterliche Naturerkenntnis nicht nur die Grenzen zur Philosophie, sondern auch jene zur Theologie und zu manchen »Pseudo-Wissenschaften« überschritten werden müssen.433 Grundlegende Ansätze wurden oft spät und nicht in einem größeren Rahmen aufgenommen, zur Ausbildung einer wissenschaftshistorischen »Schule« mit klaren Forschungsschwerpunkten kam es vor allem in den USA der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit Forschern wie Lynn Thorndike, Ernest A. Moody, Marshall Clagett, John E. Murdoch, Edward Grant und anderen. Obwohl wissenschaftliche Texte aus dem Mittelalter durchaus schon vorher Beachtung fanden, war es im Bereich der Bewegungslehren (modern der »Physik«) der französische Physiker, Wissenschaftstheoretiker und -historiker Pierre Duhem, der um 1904 einen eigenständigen, mittelalterlichen Zweig der Wissenschaftsgeschichte begründete. Duhem vertrat in seinem 1906 erschienenen wissenschaftstheoretischen Werk über »Ziel und Struktur der physikalischen Theorien« selbst die Auffassung, dass der historische Zugang auch in der modernen Naturwissenschaft eine wichtige Rolle spiele. »Die richtige, sichere und fruchtbare Methode, um einen Geist zur Aufnahme einer physikalischen Hypothese vorzubereiten, ist die historische. […] Indem [die Geschichte 432 Z. B. Medieval Science, Technology, and Medicine; und die Cambridge History of Science, 2. 433 Vgl. dazu etwa das monumentale Werk von Thorndike, History.

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der Wissenschaft] die ehemals triumphierenden Doktrinen aus ihrer Vergessenheit, in der sie nun ruhen, wieder ausgräbt, erinnert sie [den Physiker] daran, dass die verführerischsten Systeme nur provisorische Darstellungen und nicht definitive Erklärungen sind […]«.434

In diesem Sinne hatte Duhem zunächst versucht, den Ursprüngen der modernen Statik nachzuspüren, in seinen »Origines de la statique«; dabei stieß er – bereits nach teilweiser Fertigstellung des ersten Bandes – eher zufällig auf die mittelalterlichen Schriften und stellte Beziehungen zu den von ihm schon zuvor untersuchten frühmodernen Lehren fest. Fortan ließ ihn das Problem nicht mehr los, und bis zu seinem Tode 1916 bzw. sogar darüber hinaus folgten zahlreiche weitere Bände zur Wissenschaftsgeschichte, die sich vor allem mit den mittelalterlichen Entwicklungen beschäftigten, zunächst der zweite Band der »Origines«, dann drei Bände über Leonardo da Vinci und seine Vorbilder, schließlich vier Bände über die kosmologischen und physikalischen Theorien von Plato bis Copernicus in »Le système du monde«, das aus dem Nachlass 1954 bis 1958 noch um sechs weitere Bände vermehrt wurde. Duhem war fast geblendet vom Reichtum der vormodernen Naturwissenschaft; überall sah er Beziehungen zu den Erkenntnissen der modernen Physik und Astronomie, so dass er die aus dem Selbstverständnis des 17. und 18. Jahrhunderts geborene These von der »Wissenschaftlichen Revolution« infragestellte. Für ihn war vielmehr die Geschichte der Wissenschaft, wie er schon in den »Origines« betonte, durch Kontinuität geprägt: »Die mechanische und physikalische Wissenschaft, auf die die modernen Zeiten mit Recht stolz sind, geht über eine ununterbrochene Folge kaum wahrnehmbarer Vervollkommnungsprozesse aus den an den Schulen des Mittelalters gelehrten Doktrinen hervor; die vorgeblichen intellektuellen Revolutionen waren meist nichts anderes als langsame und lang vorbereitete Evolutionen […]«.435

Seine Thesen lösten vor allem in Frankreich heftige Kontroversen aus, auch wenn oder vielleicht gerade weil er sie in einem französischen Kontext entwickelt und im Rahmen seiner späteren Studien vor allem die Rolle der Naturphilosophie an der Universität Paris im 14. Jahrhundert in den Mittelpunkt gestellt hatte. Seit der Mitte der 1930er Jahre hob z. B. Alexandre Koyré in seinen Studien über Galilei, den »Études Galiléennes«, den vom Mittelalter unabhängigen Ursprung der modernen Naturwissenschaft hervor. So schreibt er zur Situation der Wissenschaft im 17. Jahrhundert: »Dabei ging es nicht darum, fehlerhafte oder ungenügende Theorien zu bekämpfen, sondern vielmehr den Rahmen des Denkens selber zu verändern; eine geistige Haltung 434 Duhem, Ziel, S. 365 und 367. 435 Duhem, Origines, 1, iv.

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umzukehren, eine insgesamt sehr natürliche, indem man sie durch eine andere ersetzte, die ihr in keiner Weise entsprach. Und das erklärt, warum – trotz gegenteiliger Phänomene, Phänomene einer historischen Kontinuität […] – die klassische Physik, hervorgegangen aus dem Denken von Bruno, Galileo, Déscartes, nicht die mittelalterliche Physik der ›Pariser Vorgänger von Galilei‹ fortsetzt. Sie gründet sich auf eine andere Grundlage, eine Grundlage, die wir als archimedisch bezeichnen wollen«.436

Koyré hat die These eines Bruchs in der Wissenschaftsentwicklung auch in weiteren Schriften, vor allem für die Astronomie, mit Nachdruck vertreten.437 Seither hat die Forschung im Wesentlichen gegen Duhem und für Koyré Stellung bezogen, wenn auch jeweils unter sehr verschiedenen Vorzeichen. Ein »Klassiker« ist inzwischen z. B. Thomas Kuhns erstmals 1962 erschienene Arbeit über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen,438 die eine Fülle weiterer Untersuchungen zur »Wissenschaftlichen Revolution« auslöste. Kuhn beschreibt die damit verbundenen radikalen Änderungen als Wechsel des wissenschaftlichen Paradigmas, d. h. der Grundlagen der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Die Betonung einer Revolution im 17./18. Jahrhundert hinderte jedoch nicht daran, sich auch den mittelalterlichen Entwicklungen verstärkt zuzuwenden.439 Von besonderer Bedeutung wurden dafür die Untersuchungen, die Anneliese Maier unter anderem mit ihren »Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik« vorlegte. In der Einleitung zum ersten Band über »Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert« forderte sie eine Überprüfung von »Duhems These an den Quellen«.440 Ihr ging es darum, die naturphilosophischen Lösungen aus ihrem jeweiligen Kontext zu verstehen und zu interpretieren. Für sie ist »das Jahrhundert, das um 1277 mit dem Physik-Kommentar des Ägidius Romanus beginnt und 1377 mit dem Traité du ciel et du monde des Nicolaus von Oresme endet, […] noch kein erstes ›klassisches Jahrhundert der Physik‹, aber es ist ohne Zweifel ein klassisches Jahrhundert der Naturphilosophie«.441

Ihre Abgrenzung von Naturphilosophie und Naturwissenschaft vermittelt zwischen den Thesen Duhems und Koyrés, indem sie das physikalischen Denken von Galilei, Leibniz und Newton als etwas Neues versteht, aber dennoch von einer Vorbereitung der modernen Naturwissenschaft durch die Naturphilosophie des Spätmittelalters ausgeht.442 Ähnliche Ansätze prägten auch die wissenschaftshistorische Forschung in den USA.

436 437 438 439 440 441 442

Koyré, Études, S. 15–16. Koyré, Révolution. Kuhn, Structure. Vgl. u. a. Blumenberg, Genesis. Maier, Studien, 1, S. 1. Ebd., 5, S. 382. Zur Frage der »Vorbereitung« vgl. jedoch Sarnowsky, Theorie, S. 420–21.

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Physik, Kosmologie und Medizin im späteren Mittelalter

In diesem Kapitel sollen daher zunächst die Voraussetzungen der universitären Naturerkenntnis vorgestellt werden, dann exemplarisch einige der physikalischen Probleme des ausgehenden Mittelalters sowie Fragen der Kosmologie. Die spätmittelalterlichen Entwicklungen in der Medizin können nur in einem Ausblick angedeutet werden.

I.

Die Grundlagen der universitären Naturphilosophie

An den Universitäten des Mittelalters (und der Frühen Neuzeit) erfolgte die Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Natur vor allem – mit der Ausnahme der Medizin – im Rahmen der Grundausbildung an der »Artistenfakultät«, also im Rahmen der Fächer des Quadriviums. Die Übersetzungen der naturphilosophischen Schriften des Aristoteles und seiner Kommentatoren stellten dafür die zentralen Texte zur Verfügung, auch wenn sich daneben eigenständige mittelalterliche Traditionen entwickelten. Denn schon die Werke des Aristoteles bilden eine umfassende und geschlossene Naturlehre. Sie waren – wie die meisten anderen überlieferten aristotelischen Schriften – wohl aus dem Lehrbetrieb an seiner Schule, dem Peripatos, entstanden, als Vorlesungsmanuskripte, denn die für die »Veröffentlichung« bestimmten Dialoge sind fast vollständig verloren.443 Die erhaltenen Texte erhielten allerdings erst nach Tode des Aristoteles die Form, in der sie den spätantiken und mittelalterlichen Gelehrten zugänglich waren: eine Gliederung nach den behandelten Stoffen und nach Büchern, in die teilweise auch mehrere Fassungen von Auseinandersetzungen mit ein- und demselben Problem oder Randbemerkungen und spätere Ergänzungen eingingen.444 Die grundlegende naturphilosophische Schrift war die »Physik«, die in den acht Büchern der im Laufe der Entwicklung entstandenen Fassung Abhandlungen zur Wissenschaftstheorie, zum Unendlichen und zum Kontinuum, zu Raum und Zeit sowie zur Bestimmung und Erklärung von Bewegung enthält.445 Buch VII liegt in zwei nacheinander überlieferten Fassungen vor, doch auch das achte Buch ist nichts anderes als eine spätere Bearbeitung derselben Problematik, der Fragen um Prinzipien und Ursachen von Bewegung.446 Ungeachtet der vielfältigen Brüche im überlieferten Text verstanden die spätmittelalterlichen Philosophen dieses Werk ebenso als Einheit wie das gesamte Korpus der aristotelischen Schriften. Für sie hatte Aristoteles in der »Physik« eine grundlegende »Theorie der Bewegung«, d. h. aller denkbaren Veränderungen und Prozesse, 443 444 445 446

Flashar, Dialogfragmente, bes. S. 166. Dazu Primavest, Werk, S. 63. Corcilius, Physik, S. 75. Ebd., S. 83.

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entwickelt. Seine anderen naturphilosophischen Werke boten für sie demgegenüber nur die Auseinandersetzung mit bestimmten Phänomenen: die Schrift »Über den Himmel und die Welt« (De caelo et mundo) mit den Bewegungen der Sterne und Planeten sowie mit dem Aufbau der Welt, »Über Entstehen und Vergehen« (De generatione et corruptione) mit den Prozessen im Bereich der vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft, die »Metheora« mit den Kometen und den Vorgängen in der Atmosphäre, »Über die Seele« (De anima) mit der besonderen Rolle der Lebewesen und Fragen der »Psychologie«. Dazu kamen die Schriften zur Biologie und die Parva naturalia, die kleinen Schriften zur Naturphilosophie. Der grundlegende Charakter der »Physik« erklärt, warum sie in den universitären Lehrplänen an erster Stelle stand. Auch die beiden großen Gelehrten des 13. Jahrhunderts aus dem Dominikanerorden, Albertus Magnus und sein Schüler, Thomas von Aquin, betonten die eigenständige Rolle der aristotelischen »Physik«, die sie nicht nur als Vorbereitung auf Metaphysik und Theologie verstanden, sondern von der abstrakteren Mathematik und von der Metaphysik abgegrenzt wissen wollten.447 Die anderen aristotelischen Schriften zur Naturphilosophie wurden dagegen erst in zweiter Linie gelesen, diskutiert und kommentiert. Die Auseinandersetzung mit diesen Texten erfolgte in verschiedener Form. So verfasste z. B. Albertus Magnus zu allen aristotelischen Schriften eine Paraphrase, die die Grundgedanken der Vorlage erläutert, während sich Thomas in erster Linie auf die wörtliche Auslegung, die Expositio, konzentrierte, bei der einem Textstück der Vorlage ein Kommentar angeschlossen wird. Erst seit dem Ende des 13. Jahrhunderts fanden die schon lange zuvor geübten Disputationen und Diskussionen auch in die überlieferten Kommentare Eingang, indem man nun besondere Probleme in Frage- und Antwortform abhandelte, in den Quaestionen. Zunächst wurden diese, wie etwa im Kommentar des Ägidius Romanus zur »Physik«, in die Expositio integriert.448 Bald bildeten sie aber eine eigenständige Kommentarform, die parallel zur bzw. nach der Expositio überliefert ist. Nicht alle uns erhaltenen Kommentare liegen als ordinatio, d. h. als vom Autor überprüfte und zum Abschreiben freigegebene Textfassung vor, sondern vielfach sind auch Vorlesungsmitschriften, reportationes, erhalten, da die Vorlesungen mindestens teilweise lange noch so gehalten wurden, dass man mitschreiben konnte. Daran dürfte – trotz Androhung schwerer Strafen – auch ein Statut der Universität Paris von 1355 wenig geändert haben, in dem es heißt: »Zwei Methoden der Vorlesung über Bücher sind in den freien Künsten erprobt worden, indem die eine Gruppe der Magister der Philosophie ihre Worte so schnell aussprach, 447 Wallace, Setting, S. 97. 448 Aegidius Romanus, Physica.

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dass sie der Geist der Hörer aufnehmen, aber die Hand ihnen nicht folgen konnte, während die anderen so langsam redeten, dass die Zuhörer mit der Feder Schritt halten konnten. Nachdem dies durch sorgfältige Untersuchung verglichen worden war, wurde die erste Methode als besser erkannt. […] Deshalb haben wir, […] die Magister der Artistenfakultät […], in dieser Weise entschieden, dass alle Dozenten, ob Magister oder Scholaren dieser Fakultät, wann und wo auch immer sie dazu kommen, regulär oder ›kursorisch‹ über einen Text in derselben Fakultät zu lesen oder irgendeine Frage im Zusammenhang damit zu diskutieren oder irgendetwas anderes in Form einer Auslegung zu tun, die erstere Methode der Vorlesung nach ihren besten Fähigkeiten ausfüllen sollen«.449

Auch wenn die Vervielfältigung von Texten durch Diktat nicht völlig ausgeschlossen werden sollte, lag doch das Hauptinteresse der Fakultät beim Erlass dieses Statuts nicht auf didaktischem, sondern auf finanziellem Gebiet, da die Verbreitung von universitären Schriften auf diesem Wege, oft in Teilen in Heftform, den sogenannten »Petien«, eine wichtige Einnahmequelle darstellte. Die Auseinandersetzung mit den naturphilosophischen Werken des Aristoteles, allen voran mit der »Physik«, war anfangs verboten,450 unter anderen, weil er darin die Ewigkeit der Welt vertritt, während die christliche Lehre von Schöpfung und Jüngstem Gericht ausgeht, also von der endlichen Dauer der Welt, in der wir leben. Zudem wurden diese Werke des Aristoteles dem Westen zusammen mit arabischen Kommentaren zugänglich, die eine deterministische Position beziehen und wenig Raum für den freien Willen des Menschen lassen. Selbst die Unsterblichkeit der individuellen Seele des Menschen, ein Kernstück des christlichen Dogmas, wurde in diesem Kontext abgelehnt. Die neuplatonisch beeinflussten arabischen Kommentare gingen so weit, Gottes Handeln an die von Aristoteles beschriebenen Mechanismen zu koppeln. So stellte z. B. auch der wichtigste (arabische) Kommentator des Aristoteles, der spanische Araber Averroes (Ibn Rushd, † 1198), in seinem Vorwort zur aristotelischen Physik bewundernd fest, das Werk des Aristoteles sei »eher würdig göttlich, als menschlich genannt zu werden«.451 Dieser Standpunkt fand auch im lateinischen Westen seine Anhänger, insbesondere bei den Averroisten, bei Siger von Brabant († um 1285) und anderen, die für den eigenständigen Erkenntniswert der aristotelisch-averroistisch geprägten Philosophie eintraten, doch wurden diese Lehren vielfach von den Autoritäten verboten, ebenso wie die aristotelischen Schriften zur Naturphilosophie selbst. In Paris gab es Verbote dieser Werke z. B. 1210, 1215 und 1231. Selbst im großen Privileg Gregors IX., Parens Scientiarum, ist nur die Rede davon, dass die 449 Chartularium Universitatis Parisiensis, 3, Nr. 1229, S. 39; University Life, hrsg. Thorndike, S. 237 (eigene Übers.). 450 Dod, Aristoteles, S. 71. 451 Averroes, Physica, fol. 5 B.

Die Grundlagen der universitären Naturphilosophie

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Texte zunächst von den darin enthaltenen Irrtümern gereinigt werden müssten.452 Ungeachtet dessen wurde aber die aristotelische Naturphilosophie trotz allem – zunächst im privaten Umfeld, dann aber wohl auch schon in Vorlesungen – mit Interesse gelesen und diskutiert, so dass sie sich nicht auf Dauer verbieten ließ. Eine Liste der 1255 im Pariser Vorlesungsbetrieb behandelten Schriften enthält denn auch den »ganzen« Aristoteles,453 der mehr und mehr zum »Philosophen« schlechthin wurde, während Averroes für die Lateiner zum »Kommentator« schlechthin aufstieg. Als sich dabei die Tendenzen zur einer »Abkopplung« der Philosophie von der Theologie verstärkten, führte das zu Spannungen mit den Theologen, die sich ihrerseits beim Aufbau der Theologie an der aristotelischen Wissenschaftstheorie orientiert hatten. So wandte sich z. B. schon Thomas gegen jene Philosophen, die bei der Wiedergabe von christlichen Vorstellungen widersprechenden philosophischen Lehren darauf beharrten, nur den Text auszulegen und nicht dem Inhalt zuzustimmen, und 1267 kritisierte der Ordensgeneral der Franziskaner, Bonaventura, scharf die Weltkleriker unter den Pariser Magistern, die für die Ewigkeit der Welt und für die Einheit der menschlichen Seele, also gegen die Unsterblichkeit der individuellen Seele, eintraten. 1270 kam es schließlich zu einer ersten Verurteilung einzelner Lehrsätze durch den Bischof von Paris, nachdem die Verurteilung des Aristotelismus bzw. Averroismus insgesamt nicht mehr möglich schien.454 Wer von nun an in Paris die Ewigkeit der Welt, die Einheit der Seele oder auch zwingende kausale Zusammenhänge zwischen dem Lauf der Sterne und den Vorgängen auf der Erde positiv vertrat, dem drohte die Exkommunikation. Um 1280 mussten sich dann die Pariser Magister an der Artistenfakultät unter anderem eidlich verpflichten, sich nicht in Fragen der Theologie einzumischen und bei Streitfällen stets im Sinne der christlichen Dogmen zu entscheiden.455 Etwa zur selben Zeit verfasste Ägidius Romanus, Augustiner-Eremit und Schüler Thomas’ von Aquin, eine kleine Schrift zu den »Irrtümern der Philosophen« (Errores philosophorum), in der er seiner Auffassung nach falsche Lehren des Aristoteles, der arabischen Philosophen Averroes, Avicenna, Algazel und Alkindi sowie des Moses Maimonides zusammentrug. Darin beginnt er ebenfalls mit dem Problem der Ewigkeit der Welt, genauer mit der Ewigkeit von Bewegung und Zeit, und erläutert diese und andere aristotelischen Irrtümer; ähnliches geht er auch für die anderen Philosophen vor. So schreibt er zu Averroes: »Der Kommentator bekräftigte alle Irrtümer des Philosophen, aber mit 452 Chartularium Universitatis Parisiensis, 1, Nr. 79, S. 138; University Life, hrsg. Thorndike, S. 38 (eigene Übers.). 453 Lohr, Interpretation, S. 87. 454 Wallace, Setting, S. 105. 455 Chartularium Universitatis Parisiensis, 1, Nr. 501, S. 587 (danach die zeitliche Einordnung).

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größerer Hartnäckigkeit, und er widersprach noch vehementer als der Philosoph jenen, die die Auffassung vertraten, dass die Welt einen Anfang habe«.456 Als sich 1277 eine weitere Verschärfung des Konflikts abzeichnete, ordnete Papst Johannes XXI., einst als Petrus Hispanus selbst Pariser Magister und führender Logiker, eine Untersuchung der Situation durch den Pariser Bischof Étienne Tempier an.457 Ohne ausdrückliche Erlaubnis, wohl aber mit nachträglicher Billigung des Papstes ließ Tempier einen Katalog von 219 Sätzen zusammentragen, die fortan nicht mehr verteidigt oder in positivem Sinne in den Debatten verwandt werden durften, darunter auch Stellen aus den Werken des 1274 verstorbenen Thomas von Aquin. Die Verbote richteten sich jedoch vor allem gegen die Vertreter des Averroismus, denen eine Lehre von der »doppelten Wahrheit« zugeschrieben wurde, d. h. die Auffassung, dass man zugleich an sich widersprechenden philosophischen und theologischen Sätzen festhalten könne, wenn erstere durch die Vernunft und die theoretischen Grundlagen der Philosophie, letztere aber durch den Glauben und das kirchliche Dogma nachgewiesen werden könnten. Die Verurteilung von 1277 darf jedoch nicht nur als repressiver Akt verstanden werden. Der Effekt der Verurteilung hatte nicht nur die Unterdrückung kirchlich nicht akzeptabler Lehren zur Folge, sondern ermöglichte auch ein Aufbrechen der aristotelischen Denkstrukturen, die bei einem Erfolg des Averroismus übermächtig geworden wären.458 So wurden nicht nur die Theologen vor Behauptungen in Schutz genommen wie jenen, »dass die Redeweisen der Theologen auf Fabeln beruhen; dass nichts besser erkannt wird aufgrund der Kenntnis der Theologie; [und] dass die einzigen Weisen der Welt die Philosophen sind«.459

Vielmehr wurden zudem die naturphilosophischen Regeln und Prinzipien durch die Betonung der göttlichen Allmacht infrage gestellt und so Möglichkeiten zu einer Überprüfung bisheriger Vorstellungen eröffnet. Beispielsweise war es nun verboten, zu behaupten, »dass nichts zufällig geschieht, sondern alles mit Notwendigkeit passiert, und dass alles, was in Zukunft sein wird, notwendigerweise sein wird […]; dass die erste Ursache [Gott] nicht mehrere Welten schaffen kann; […] dass Gott nicht die Ursache von etwas Neuem sein oder etwas neu erschaffen kann; dass Gott nicht den Himmel [d. h. wohl die Welt als ganze] geradlinig bewegen kann, und der Grund ist, dass sonst ein Vakuum zurück-

456 457 458 459

Aegidius Romanus, Errores, iv, S. 14–16. Vgl. Thijssen, Censure, S. 40–44. Vgl. Flasch, Aufklärung; Grant, God, S. 214–17. Chartularium Universitatis Parisiensis, 1, Nr. 473, Art. 152–54, S. 552; engl. Übers. Grant, God, S. 215.

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bliebe; [und] dass Gott nicht die Existenz eines Akzidens ohne Substanz oder von mehr [als drei] Dimensionen zugleich bewirken kann«.460

Damit waren deterministische Ansätze verboten, während Gott jederzeit durch Wunder in den natürlichen Gang der Dinge eingreifen konnte, nicht zuletzt in der Eucharistie, bei der die Akzidentien, die äußeren Eigenschaften von Brot und Wein, erhalten bleiben, während sich die Substanz wandelt, in den Leib und das Blut Christi. Die Allmacht Gottes erlaubte es aber ebenso, über die Existenz mehrerer Welten nachzudenken oder über die Folgen einer Bewegung der Welt als ganzer, während dabei im Sinne der aristotelischen Lehren ein Vakuum, ein absolut leerer Raum, zurückbliebe, den die Natur sonst mit allen Mitteln zu verhindern trachte. Die Wirkung der Verurteilungen von 1277 ist in der Forschung sicher mehrfach, nicht nur von Pierre Duhem, überschätzt worden, doch waren die Inhalte zweifellos den Pariser Philosophen des 14. Jahrhunderts bekannt, die sich immer wieder auf sie bezogen. Sie trugen dazu bei, dass die scholastischen Gelehrten trotz aller Anlehnung an die Autorität des »Philosophen« und seines »Kommentators« in mancher Hinsicht eigene Wege gingen.

II.

»Physikalische« Probleme des ausgehenden Mittelalters

Die spätmittelalterliche Naturphilosophie, die für Pierre Duhem den Ausgangspunkt der modernen Naturwissenschaft bildet, zeichnet sich durch eine ungewöhnliche Mischung von Wiederbelebung, Beharrung und Innovation aus. Die Kommentierung der wiederentdeckten aristotelischen Physik und der damit verbundenen anderen aristotelischen Schriften verstand sich in erster Linie als Versuch, sich den antiken Lehren wieder zu nähern und sie besser zu verstehen. Dort, wo man abweichende Lösungen formulierte, glaubte man meist an ein Überlieferungsproblem. So stellte z. B. einer der Pariser Magister des 14. Jahrhunderts, Albert von Sachsen, mit Blick auf die Unterschiede zwischen seinen Regeln der Bewegung und den aristotelischen Formulierungen fest: »Mit Sicherheit sind diese Regeln, die [üblicherweise] den Absichten des Aristoteles zugeschrieben werden, obwohl dies nicht so ist, aufgrund eines Irrtums des Übersetzers falsch formuliert; und das kann man zur Entschuldigung des Aristoteles sagen«.461 Die scholastischen Autoren bedienten sich bei der Kommentierung widersprüchlicher Stellen in den aristotelischen Schriften eines Vorgehens, das unter anderem auf Averroes zurückging. Der »Kommentator« hatte darauf hingewie460 Chartularium Universitatis Parisiensis, 1, Nr. 473, Art. 21, 34, 48, 49, 141, S. 545–46, 551; engl. Übers. Grant, God, S. 214. 461 Albert von Sachsen, Physica, VII,8, Ad Rationes, S. 994; vgl. Sarnowsky, Theorie, S. 75.

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sen, dass die Erkenntnis schon nach Aristoteles von dem ausgeht, was uns näher ist, und dann zum an sich bzw. für die Natur Einsichtigeren und Deutlicheren fortschreitet, d. h., von dem was bekannter (famosior) ist, zu dem, was »wahrer« (verior) ist. Die Unterschiede in den aristotelischen Schriften ließen sich so durch eine jeweils andere Redeweise des »Philosophen« erklären. Das galt z. B. für die aristotelische Bestimmung von Bewegung oder Veränderung (motus), die einerseits, nach dem dritten Buch der »Physik«, in den Kategorien des Orts, der Quantität und der Qualität stattfindet, während sie andererseits, nach der »Kategorienschrift«, eine eigene Kategorie, die der passio, bildet. Die Erklärung der »Kategorienschrift« war nach Averroes famosior, die der Physik aber die (wissenschaftlich) wahrere.462 Mit diesen und ähnlichen Argumenten konnte man innere Probleme des aristotelischen Werks leicht überwinden, so dass es selten zum ausdrücklichen Widerspruch zur aristotelischen Naturphilosophie oder zu weitreichenden Neuansätzen kam. In mindestens zwei Ausnahmefälle aber entstand, sicher nicht ganz zufällig, eine eigene Literaturgattung, die die Probleme unabhängig vom Kontext der aristotelischen Schriften verfolgte. So hat der Oxforder Magister Thomas Bradwardine 1328 eine eigenständige, mathematisch fundierte Theorie der auslösenden Faktoren der räumlichen Bewegung formuliert, die sich als Korrektur aristotelischer Vorstellungen verstand und in einem »Traktat über die Verhältnisse [in Bewegungen]« (Tractatus de proportionibus) verbreitet wurde, der rasch Nachahmung fand;463 und der Pariser Magister Nicole Oresme setzte in den 1350er Jahren die aristotelischen Lehren über Bewegung und Veränderung erstmals graphisch um, in einem zweidimensionalen »Koordinatensystem«, das er in einem »Traktat über die graphische Darstellung von Qualitäten und Bewegungen« (Tractatus de configurationibus qualitatum et motuum) ausführlich begründete und das später in kleineren Abhandlungen »Über die räumliche Ausdehnung der Formen« (De latitudinibus formarum) von anderen Autoren popularisiert wurde.464 Aber auch innerhalb der Physik-Kommentare kam es zu einigen Änderungen, so etwa in Bezug auf die aristotelische Theorie des Vakuums, die durch die Verurteilungen von 1277 infrage gestellt war, sowie im Kontext des Problems der Wurfbewegung, für das Aristoteles selbst keine klare Lösung vorgeschlagen hatte. Zudem ging die von Thomas Bradwardine entwickelte Funktion für die Faktoren der Bewegung um 1350 ebenfalls in die Kommentare zur Physik ein. Diese Beispiele sollen hier – notwendigerweise etwas verkürzt – angesprochen werden.

462 Sarnowsky, Averroes, S. 261–62. 463 Thomas Bradwardine, Tractatus, zur Einordung ebd., S. 48–54. 464 Nicole Oresme, Tractatus, zur Wirkung ebd., S. 73–111.

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Die aristotelische Ablehnung des Vakuums als eines Raums ohne Körper steht im engen Zusammenhang mit seiner Stellungnahme gegen die Theorien der Atomisten, die die Dinge und Wesen dieser Welt auf letzte, unteilbare Elemente zurückführten, die sich in einem leeren Raum bewegen. Aristoteles setzte dem die Lehre der vier Elemente und des Kontinuums entgegen, nach der ein freiwerdender Raum innerhalb der Welt rasch durch einen anderen Körper gefüllt wird, gemäß dem auch in der Scholastik aus der Erfahrung abgeleiteten und häufig wiederholten Satz, dass »die Natur ein Vakuum fürchtet« (natura abhorret vacuum).465 Für Aristoteles war somit die Vorstellung eines Raums ohne Körper eine Absurdität, die es nicht einmal jenseits der als endlich begriffenen Welt geben konnte, ein Standpunkt, den die Verurteilungen von 1277 zugunsten des Dogmas von der göttlichen Allmacht zu verbieten suchten. Aristoteles belegt seine Thesen mit einem Gedankenexperiment über die Bewegung von Körpern in einem Medium. So verweist er darauf, dass eine Bewegung bei sonst gleichen Voraussetzungen umso schneller verläuft, je dünner das Medium ist, dass sich aber trotzdem nie eine mathematische Relation zur Bewegung in einem Vakuum errechnen lässt. Die spätscholastischen Philosophen sind Aristoteles hierin weitgehend gefolgt und haben, wie etwa einer der einflussreichsten Pariser Magister, Johannes Buridan, geschlossen, »dass die Existenz des Vakuums durch keine natürliche Kraft erreicht werden kann«.466 Buridan hat dann aber, wie eine Reihe anderer Gelehrter auch, die übernatürliche Möglichkeit des Vakuums im Sinne des entsprechenden Artikels der Verurteilungen von 1277 zugestanden, wenn er unmittelbar im Anschluss daran folgert: »Durch übernatürliche, d. h. göttliche, Macht ist die Existenz eines Vakuums möglich, so etwa, wenn Gott zwar die Himmel erhält, aber alles darinnen Enthaltene zerstört, d. h. diese Welt hier unten […]«.467

Dieser Schluss war nach Buridan für die menschliche Vernunft nicht beweisbar, sondern musste nach dem Glauben akzeptiert werden. Er berührt mit seinem Beispiel ein auch bei anderen Autoren wiederkehrendes Gedankenexperiment, nach dem Gott in seiner Allmacht alle Körper im Bereich unterhalb des Mondes, also im Bereich der vier Elemente, zerstört, ohne dass die »Seiten« des Himmels kollabieren und ohne dass sich die »physikalischen« Eigenschaften des nun leeren Raumes verändern würden. Dies war gewissermaßen der Idealfall eines Vakuums, als Raum, in dem zwar keine Körper existierten, in dem sie jedoch existieren konnten. 465 Z. B. bei Nicole Oresme, Super Physicam, 4,11, S. 493. 466 Johannes Buridan, [Physica III], IV,14, oppositum, 1. concl., fol. 66vb; vgl. Sarnowsky, Power, S. 193. 467 Ebd., 2. concl.

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Für Buridan war in einem solchen Raum – entgegen der aristotelischen Annahme – unter bestimmten Bedingungen sogar die Bewegung eines schweren Körpers, z. B. eines Steins, denkbar. In einem anderen Kontext ging er sogar so weit, sich ein Vakuum nicht mehr nur als Hohlraum unterhalb der Sphäre des Mondes, sondern als »reine Dimension« (dimensio simplex) vorzustellen,468 doch blieb seine Diskussion des Problems im Wesentlichen negativ. Anders war dies bei einem seiner »Schüler«, bei Nicole Oresme, der sich in seinem PhysikKommentar mit dem Vakuum unter der Perspektive logischer Möglichkeiten auseinandersetzte, denn für ihn implizierte die Existenz eines Vakuums keinen logischen Widerspruch.469 Vakuum war für ihn auf dreifache Weise denkbar: durch stufenweise Verdünnung des Mediums in einem vorgegebenen Bereich, durch Zerstörung aller Körper unterhalb des Mondes sowie durch göttliche Allmacht auch zwischen der Welt und einem beliebigen Körper. Dabei sprach sich Oresme indirekt auch für die Möglichkeit eines völlig von Körpern losgelösten Raums, eines spatium separatum, aus, das die Diskussion seiner Zeitgenossen im negativen Sinne beherrschte und auch von Aristoteles ausdrücklich abgelehnt worden war. Auf dieser Grundlage behandelte er auch die Frage, ob entgegen der aristotelischen Annahmen Bewegung im Vakuum möglich ist. So kam er zum Ergebnis, dass sich zwar ein einfacher, nicht zusammengesetzter Körper im Vakuum nur in einer unteilbaren, nicht sukzessiven, d. h. faktisch unendlich schnellen und damit »physikalisch« nicht fassbaren, Bewegung bewegen würde, dass aber die meisten der aus verschiedenen Elementen, Bestandteilen oder Eigenschaften zusammengesetzten Körper einen inneren Widerstand besitzen, der ihnen eine sukzessive Bewegung ermöglichen würde.470 Seine Sammlung von Beispielen wurde durch Albert von Sachsen noch erweitert. Er ging z. B. von einem Gedankenexperiment aus, bei dem sich zwei ungleich schwere Körper auf einer Ebene in einem innerweltlichen Vakuum befinden, und zwar im selben Abstand vom Zentrum der Welt. Für ihn kann – anders als im Plenum – im Vakuum jede noch so kleine Kraft diese Körper in Bewegung versetzen, da der Abstand zum Weltzentrum gewahrt bleibt, doch hängt die Geschwindigkeit der Bewegung vom Gewicht der Körper ab. Ähnlich gilt für eine im Vakuum aufgehängte Waage mit gleichen Gewichten, dass sie bereits durch eine sehr kleine Kraft aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann.471 Auch wenn die einzelnen Ergebnisse Alberts wie die Oresmes, Buridans und ihrer Zeitgenossen einer Überprüfung aus der Sicht der modernen Natur468 Johannes Buridan, [Physica IV], IV,8, fol. lxxiv ra. 469 Sarnowsky, Power, S. 195–96. 470 Nicole Oresme, Super Physicam, 4,12, Tunc dicendum, S. 499–500, vgl. Sarnowsky, Power, S. 197–98. 471 Albert von Sachsen, Physica, IV,12, 5. concl., S. 705.

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wissenschaften zumeist nicht standhalten, trugen sie doch zur Reflexion über ein Phänomen bei, für das in aristotelischer Perspektive so etwas wie ein »Denkverbot« bestanden hatte. Anders war die Situation im Fall der Regeln der Bewegung, für die es seit der Spätantike immer wieder unterschiedliche Ansätze gab. Aristoteles hatte im siebenten Buch sieben Regeln formuliert, wie sich bewegende Kraft, benötigte Zeit, Widerstand durch den zu bewegenden Körper und durch das Medium zueinander verhalten, ähnlich wie er im vierten von einer Verringerung der Dichte des Mediums und wachsender Geschwindigkeit bei gleichbleibender Kraft und gleichem Körper ausgegangen war.472 Die Späteren interpretierten diese Überlegungen dahingehend, dass Aristoteles von einer Proportionalität zwischen der Geschwindigkeit und dem Verhältnis von bewegender Kraft und Widerstand ausgegangen sei, ohne dass dieses »aristotelische Bewegungsgesetz« schon im modernen Sinne als »Formel« zu verstehen wäre. Bereits im Alexandria des 6. Jahrhunderts hat dann Johannes Philoponus einer solchen Lösung widersprochen und sich dafür eingesetzt, im Falle fehlenden Widerstands – wie in einem Vakuum, dessen Möglichkeit er gelten lassen wollte – von einer Höchstgeschwindigkeit auszugehen, die durch den Widerstand des Mediums nur vermindert werde. Möglicherweise in Kenntnis dieser Theorie, vielleicht aber auch eigenständig, hat sich ebenso der spanische Araber Ibn Badga (latinisiert Avempace) in seinem verlorenen Physik-Kommentar am Anfang des 12. Jahrhunderts dafür ausgesprochen, die Geschwindigkeit nicht aus dem Verhältnis, sondern aus der Differenz von Kraft und Widerstand zu bestimmen. Seine Auffassung ist allerdings nur aus dem Kommentar des Averroes bekannt, der sich energisch gegen Avempace und damit für das »aristotelische Bewegungsgesetz« einsetzte. Dieses suchte er gegen mathematische Argumente von Kritikern zu verteidigen, indem er darauf verwies, dass die Relation nur für Kräfte gelten solle, die größer als der Widerstand seien.473 Auch im lateinischen Westen löste die Frage der Beziehung von Kraft und Widerstand in der Bewegung einen tiefgehenden Dissens aus. Albertus Magnus und Ägidius Romanus schlossen sich den Argumenten von Averroes an, während Thomas von Aquin die Theorie Avempaces übernahm und nach seinen Vorstellungen ergänzte. So wies er in seinem Physik-Kommentar darauf hin, dass allein die räumliche Ausdehnung einer zu durchlaufenden Strecke schon als Erklärung dafür ausreichen müsste, dass eine Bewegung – auch im Vakuum – mit endlicher Geschwindigkeit erfolgt.474 Diese Theorie der incompossiblitas termi472 Sarnowsky, Theorie, S. 325–26. 473 Averroes, Physica, IV, fol. 162 A; vgl. Sarnowsky, Theorie, S. 327. 474 Thomas von Aquin, De Physico auditu, IV,xii, 1016–1018, S. 224.

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norum, der »Getrenntheit räumlicher Punkte«, wurde auch von anderen übernommen, und wie Thomas entschieden sich ebenso zahlreiche andere scholastische Denker, etwa Roger Bacon und Johannes Duns Scotus, wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen, im Sinne des Avempace für die These einer Differenz von Kraft und Widerstand. Einen Umschwung brachte erst der Tractatus de proportionibus des Thomas Bradwardine. Um die von allen Kritikern hervorgehobenen Probleme zu umgehen, suchte er die bisher nur vage formulierten Relationen zu einer Art »Gesetz« zu verdichten, das die notwendigen mathematischen Voraussetzungen erfüllte. Für ihn folgt »das Verhältnis der Geschwindigkeiten in der Bewegung dem Verhältnis der bewegenden Kräfte zu dem der widerstehenden Kräfte, […] und das sollst du in geometrischer Proportion verstehen«.475

Bradwardine zog dabei also nicht nur eine Bewegung, sondern auch eine zweite mit geänderten Voraussetzungen heran, deren Größen er miteinander in Beziehung setzte. Zudem griff mit der »geometrischen Proportion« zusätzlich auf einen Formalismus zurück, der in der Sprache der modernen Mathematik als Logarithmus zu kennzeichnen ist. Diese logarithmische Abhängigkeit der Geschwindigkeit erfüllt genau die gestellten Bedingungen. Bei der Gleichheit von Kraft und Widerstand ergibt sich die Geschwindigkeit »null«; eine Relation, bei der der Widerstand größer als die Kraft ist, führt mathematisch nicht zu einem sinnvollen Ergebnis. Diese Lösung fand bald weitgehende Zustimmung und wurde – zuerst durch Albert von Sachsen – auch wieder in die Physik-Kommentare integriert. Zwar kam Galilei noch einmal auf das Bewegungsgesetz des Avempace zurück, doch gab er es schließlich zugunsten eigener Vorstellungen auf. Eine ähnlich rasche Verbreitung wie das Bradwardinesche Bewegungsgesetz fand auch die scholastische Lösung für das Problem der Wurfbewegung, die Impetustheorie, auch wenn man nicht schon deshalb von einer spätmittelalterlichen und frühmodernen »Impetusphysik« sprechen darf. Der Begriff impetus, der zunächst nichts anderes als »Antrieb« oder »Schwung« bedeutet, gewann dabei erst um 1355 seine eigentliche Bedeutung; zunächst war unter anderem von einer »eingeprägten«, »zurückgelassenen« oder auch nur von einer »bewegenden Kraft« (virtus impressa, derelicta, motiva) die Rede.476 Aristoteles hatte sich an zwei Stellen der Physik, aber auch in De caelo mit dem Wurfproblem auseinandergesetzt, ohne zu einer abschließenden Lösung zu kommen. Die Bewegung eines geworfenen Körpers, die sich ab einem be475 Thomas Bradwardine, Tractatus, c. III, S. 112. 476 Sarnowsky, Theorie, S. 389–91.

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stimmten Punkt von der Hand des Werfenden trennt, schuf aufgrund der aristotelischen Prinzipien der Bewegung grundlegende Schwierigkeiten. Anders, als dies im Trägheitsprinzip der »klassischen Physik« seit dem 17. Jahrhundert formuliert ist, braucht jede Bewegung oder Veränderung nach Aristoteles eine ständig wirkende, ontologisch unterscheidbare Ursache.477 Alles, was bewegt ist, muss danach von einem anderen bewegt sein, das mit Ersterem »gleichzeitig«, d. h. in Kontakt, ist. Um dies auch für den Fall eines geworfenen Körpers zu gewährleisten, der sich immer weiter vom Werfenden entfernt, führte Aristoteles die umgebende Luft als weiteren Faktor ein, die, wie man aus Erfahrung weiß, Dinge mit sich führen kann. In der ausführlichsten Stelle, im achten Buch der Physik, verweist er dafür unter anderem auf die Lösung durch einen »reihenweisen Platzwechsel«, auf die »Antiperistatistheorie«, bei der die vom geworfenen Körper vorne verdrängte Luft nach hinten strömt und dabei dem Körper einen neuen Anschub verleiht, bis sich die Bewegung erschöpft. Aristoteles steht jedoch diesem wohl aus Platos Timaios abgeleiteten Ansatz eher ablehnend gegenüber und favorisiert eine Lösung, bei der die Luft als eigenständiger Beweger aktiv wird. Danach bewegt der Werfende nicht nur den geworfenen Körper, sondern gibt auch der ihn umgebenden Luft die Fähigkeit mit, diesen aktiv weiter zu bewegen. Die aktive Bewegungsfähigkeit wird dann von Luftschicht zu Luftschicht übertragen, schwächt sich dabei aber immer mehr ab, bis sie schließlich erlischt und das Geworfene zu Boden fällt.478 Bei den Kommentatoren des Aristoteles fand dieser Erklärungsversuch wenig Anklang, denn er stellte durch den zusätzlichen Faktor Luft die Rationalitätsprinzipien der Wissenschaft in Frage, widersprach zumindest partiell der alltäglichen Erfahrung und war nur bedingt dazu geeignet, die aristotelischen Prinzipien der Bewegung auch für diesen Fall zu wahren. Der naheliegendste Schritt, den nachher auch die Vertreter der Impetustheorie gingen, war es, das der Luft zugeschriebene innere Prinzip der Bewegung auf den geworfenen Körper selbst zu übertragen. Es war wiederum im 6. Jahrhundert Johannes Philoponus, der wohl als erster in seinem – allerdings nicht vollständig erhaltenen – Physik-Kommentar für ein inneres Prinzip bei der Wurfbewegung eintrat; so ist im vierten Buch, wenn auch eher beiläufig, von einer »eingeprägten Kraft« die Rede. Da seine Schriften erst im 16. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt wurden, waren sie dem lateinischen Westen nicht bekannt, doch könnten sie auf die arabischen Philosophen gewirkt haben, die eine ähnliche Theorie der Wurfbewegung entwickelten. So erklärten z. B. Avicenna (Ibn Sı¯na¯) und Alp-

477 Weisheipl, Principle. 478 Sarnowsky, Theorie, S. 384–85.

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etragius (Al Bitruji) die Fortdauer der Wurfbewegung durch eine dem Körper innewohnende »Tendenz« zur Bewegung (inclinatio oder mayl).479 Da aber auch die entsprechenden Passagen ihrer Schriften im Westen nicht bekannt oder kaum verbreitet waren, setzte die Diskussion unter den scholastischen Gelehrten neu an. Dabei wurden zunächst, im 13. und noch im frühen 14. Jahrhundert, die aristotelischen Lösungen weitgehend akzeptiert. So hat z. B. Thomas von Aquin die Stellen im achten Buch der Physik und in De caelo völlig unkritisch kommentiert und ein inneres Prinzip ausdrücklich abgelehnt. Ähnlich folgten auch Albertus Magnus und Ägidius Romanus den aristotelischen Vorgaben. Dagegen vertraten die Franziskaner Petrus Johannis Olivi und Wilhelm von Ockham völlig andere, neue Lösungen. Olivi nahm an, dass sich der geworfene Körper nach dem Ende des Kontakts zum Werfenden von selbst weiterbewegt, und schloss jede weitere Wirkung von Kräften kategorisch aus. Ockham, der sich im Rahmen seiner wissenschaftstheoretischen Vorstellungen ohnehin um die Reduktion »überflüssiger« Annahmen bemühte, lehnte die These einer im Geworfenen selbst wirksamen Kraft schon deshalb ab, weil diese seiner Meinung nicht vom ursprünglichen Beweger erzeugt werden könne. Er stellte vielmehr fest, »dass der Beweger in diesem Vorgang nach der Trennung des Bewegten vom ersten Werfenden die Bewegung in sich selbst ist und nicht irgendeine absolute Kraft in ihm, die so wirkt, dass dieses Bewegte und die Bewegung völlig vermischt werden«.480

War hiermit eine innere Kraft für die Erklärung der Wurfbewegung ausdrücklich ausgeschlossen worden, war es ein anderer Franziskaner, Franciscus de Marchia, der – zudem in einem anderen Kontext als der der »Physik« – um 1320 wohl erstmals im lateinischen Westen positiv für eine im geworfenen Körper selbst wirksame Kraft eintrat. In seinem Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus behandelte er in einem Abschnitt die Wirkung der Sakramente, für die seiner Meinung nach die Möglichkeit einer Fernwirkung in Betracht zu ziehen war. Deshalb wandte er sich in Exkursen auch »physikalischen« Beispielen zu, vor allem dem Problem der Wurfbewegung, das er ausführlich diskutiert. Dabei entscheidet er die Frage, ob die – eindeutig vom Werfenden erzeugte – Kraft ihren Sitz im aristotelischen Sinne im Medium oder doch im Körper selbst hat, eindeutig durch die Feststellung, dass der Beweger diese Kraft im Körper zurücklässt. Diese virtus derelicta vergleicht er mit der Wärme im erhitzten

479 Maier, Studien, 2, S. 127–34, gegen ältere Thesen. 480 Wilhelm von Ockham, In tertium Sententiarum, qu. 4, S. 143; vgl. auch Goddu, Physics, S. 186–205.

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Wasser; ähnlich wie diese wirkt die »zurückgelassene Kraft« nur für einige Zeit und erschöpft sich von selbst, so dass der Körper bald darauf wieder herabfällt.481 Es war dann wiederum die »Pariser Schule« um Johannes Buridan, in der sich die »klassische« Formulierung der scholastischen Impetustheorie entwickelte. Wesentlich wurden jetzt Argumente aus der Alltagserfahrung wie etwa der Hinweis Buridans, dass die Luft eher einer Bewegung widersteht als ihr förderlich ist.482 Dabei wurden – als Ausnahme – die aristotelischen Lösungen ausdrücklich abgelehnt, und zwar sowohl die Antiperistasis- wie auch die Luftschichtentheorie; ebenso wurde aber auch, z. B. bei Albert von Sachsen, Widerspruch gegenüber den Thesen Olivis und Ockhams erhoben. Die Anschaulichkeit der Argumentation zeigt sich unter anderem an den Beispielen, die gegen die Antiperistasis-Theorie ins Feld geführt werden. So setzen sich auch einmal angestoßene Bewegungen fort, bei denen die Luft nicht über eine »Angriffsfläche« verfügt, auf die sie im Nachströmen einwirken kann, z. B. die Drehung eines Mühlrads oder eines Kreisels; wer auf einem Heuwagen sitzt, spürt zwar den Widerstand der Luft von vorn, aber nicht die Wirkung der nach hinten strömenden Luft; und beim Werfen eines Heubündels kann man deutlich erkennen, dass einzelne Halme nach hinten wegfliegen, obwohl dies eigentlich von der vorn verdrängten und nach hinten strömenden Luft verhindert werden müsste.483 Buridan und die anderen Pariser Philosophen der Mitte des 14. Jahrhunderts setzen dem die Erklärung durch ein inneres Prinzip entgegen. So heißt es in Buridans Physik-Kommentar »letzter Hand«, »dass man sagen kann, dass der Beweger in der Bewegung des bewegten Körpers diesem einen gewissen impetus oder eine gewisse bewegende Kraft einprägt, in die Richtung, in die es der Beweger führt. […] Jener impetus wird durch die widerstehende Luft und durch die Schwere des Steins kontinuierlich vermindert, die ihn zum Gegenteil dessen tendieren lässt, für das der impetus erzeugt wurde«.484

Der impetus ist für Buridan demnach eine eingeprägte bewegende Kraft und zugleich eine Qualität permanenter Natur, die sich nur durch die äußeren Einflüsse vermindert. In dieser Form bot sich eine Übertragung des Prinzips innerer Kräfte auf zahlreiche andere »physikalische« Phänomene an, auch auf die »natürlichen« Bewegungen der Elemente oder auf die Himmelsbewegungen. Im Sinne der aristotelischen Prinzipien der Bewegung wurden für die Himmelskörper jeweils eigene »Intelligenzen« oder Engel angenommen, die die Kontinuität der Bewegung zu gewährleisten hatten. Mit der Theorie des permanenten Buridanschen 481 482 483 484

Maier, Studien, 2, S. 180–97. Kritisch dazu Krieger, Imprimit. Albert von Sachsen, Physica, VIII,13, Similiter, S. 1072. Johannes Buridan, [Physica IV], VIII,12, fol. cxx vb; ediert Maier, Studien, 2, S. 211.

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Physik, Kosmologie und Medizin im späteren Mittelalter

impetus reichte jedoch der Hinweis, dass Gott den Himmelskörpern bei der Schöpfung einen impetus mitgab, der sie bis heute bewegt, weil es innerhalb der Himmelssphären keinen Widerstand durch das Medium gibt und weil die Himmelskörper selbst nicht zur Ruhe tendieren.

III.

Kosmologie und Weltbild des späteren Mittelalters

Der allgemeine Charakter der aristotelischen Naturphilosophie trug dazu bei, dass die aristotelischen Schriften, insbesondere sein De caelo, an den Universitäten des ausgehenden Mittelalters auch für Astronomie, Kosmologie und Weltbild zur Grundlage wurden, selbst wenn daneben das durch Ptolemaios beschriebene mathematisch-geometrische Modell seine Gültigkeit behielt. Die astronomischen Grundlagen wurden dabei im universitären Unterricht weniger über die Schriften des Ptolemaios als vielmehr innerhalb einer eigenen mittelalterlichen Tradition vermittelt, einer Sammlung kleinerer Texte, die vielfach als corpus astronomicum in einer Handschrift vereint wurden.485 Im Zentrum standen dabei drei Traktate, die von einem zwischen 1230 und 1255 in Paris lehrenden Engländer, Johannes de Sacrobosco, verfasst wurden. Neben einem Algorismus vulgaris, der einfache arithmetische Operationen bis hin zur Berechnung von Kubikwurzeln und eine Beschreibung des Gebrauchs der arabischen Zahlen enthält, und neben einem komputistischen Werk, dass die Astronomie mit der Zeitrechnung verband, war es vor allem sein »Traktat über die Kugel[gestalt der Welt]« (Tractatus de sphaera), der vielfach rezipiert und immer wieder kommentiert wurde. Es enthält eine kurze, nicht-mathematische Zusammenfassung der Lehren des Ptolemaios, mit kurzen Kapiteln zur Kosmologie und zur Bewegung von Sonne und Planeten. Dies war jedoch nicht mehr als eine Einführungsschrift, während Gelehrte wie Albertus Magnus oder Roger Bacon über viel tiefer gehende Kenntnisse verfügten. Da gerade die Bewegung von Sonne, Mond und Planeten im Tractatus de sphaera wenig zufriedenstellend beschrieben war, wandte sich ein anonymer Autor diesem Problem in einer eigenen Schrift zu, der Theorica planetarum. Dieses Handbuch fand weite Verbreitung. Heute sind noch über 200 Manuskripte bekannt, während sich z. B. vom Almagest des Ptolemaios aus dem Mittelalter weniger als 40 lateinische Handschriften erhalten haben. Die Übernahme astronomischer Begriffe aus dem Arabischen oder Griechischen hatte zuvor zu Unklarheiten und Missverständnissen geführt, doch es gelang es dem Autor der Theorica, eine eigene, klare lateinische Fachsprache zu entwickeln. Zudem trug er mit seiner übersichtlichen Darstellung wesentlich dazu bei, die Theorie des 485 Pedersen, Astronomy, S. 315.

Kosmologie und Weltbild des späteren Mittelalters

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Ptolemaios an den spätmittelalterlichen Universitäten zu verankern.486 Weitere Traktate folgten, die sich offenen Fragen zuwandten; zudem wurden dem corpus astronomicum nun auch die zuerst aus dem islamischen Spanien übernommenen astronomischen Tafelwerke hinzugefügt, zunächst die »Toledanischen Tafeln«, die die Berechnung der Planetenbewegungen auf der Grundlage der Theorica planetarum erlaubten. Sie wurden schließlich durch die um 1275 in Toledo angefertigten »Alfonsinischen Tafeln« ersetzt, die später in einer Bearbeitung durch den Pariser Magister Johannes de Saxonia von 1327 kursierten und nur in dieser Form erhalten sind. Kosmologisch-astronomische Probleme wurden aber auch immer wieder im Kontext der Kommentierung der aristotelischen Schriften diskutiert, zumal es gerade kosmologische Themen waren, die zunächst zum Verbot der aristotelischen Naturphilosophie beigetragen hatten, insbesondere die These von der Ewigkeit der Welt. Stieß diese Annahme auf den heftigen Widerstand der Theologen, herrschte andererseits im Hinblick auf die Endlichkeit des Kosmos und vor allem auf die Einzigartigkeit der Welt weitgehende Übereinstimmung zwischen den christlichen und den aristotelischen Vorstellungen. Zum Konflikt musste es jedoch kommen, wenn die Naturphilosophie diese Einzigartigkeit absolut zu setzen trachtete und damit aus der Sicht der Theologen die Allmacht Gottes infragestellte; so erklärt sich, dass 1277 auch der Satz verurteilt wurde, »dass die erste Ursache [Gott] nicht mehrere Welten schaffen kann«.487 In der Folge entwickelten sich, ähnlich wie für das Vakuum, auf logischen Prämissen aufbauende Thesen für die Beziehung anderer Welten zum bestehenden Universum, die zur Abstützung oder Widerlegung von »physikalischen« Theorien genutzt wurden.488 So wurde z. B. diskutiert, wie die Entfernungen und der Raum zwischen vier kugelförmigen Welten zu bestimmen wären, die sich jeweils in einem Punkt berühren, und Nicole Oresme suchte die Frage zu beantworten, ob in mehreren Welten dieselben »physikalischen« Gesetze wie in unserer eigenen gelten würden. Die Auseinandersetzungen um die Grenzen der göttlichen Allmacht ließen schließlich auch die von Aristoteles postulierte Endlichkeit der Welt fragwürdig werden. So wurden z. B. im Kontext des dritten Buchs der »Physik«, in dem es unter anderem um Unendlichkeit und Kontinuum geht, von den spätscholastischen Philosophen immer wieder, wenn auch zumeist negativ, Argumente verwandt, die scheinbar der Endlichkeit des Kosmos widersprachen. Dazu zählt ein in der Spätantike bei Simplicius überlieferter stoischer Gedanke, demzufolge ein Mensch im endlichen Kosmos an dessen Grenze gelangen und versuchen könnte, die Hand auszustrecken. Stößt man dabei auf 486 Lindberg, Beginnings, S. 266–67. 487 Wie Anm. 29. 488 Grant, Cosmology, S. 270.

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ein Hindernis, befindet sich etwas außerhalb des endlichen Kosmos, der somit zu erweitern ist; kann man aber die Hand ausstrecken, ist gewissermaßen dadurch der Kosmos erweitert worden. Da sich dies in beiden Fällen endlos fortsetzen lässt, muss der Kosmos unendlich sein.489 Ungeachtet der verschiedenen Lösungen zu diesem Problem blieb dieser Fall eine Absurdität, die ebenso wie andere extrakosmische Phänomene für die meisten nicht auf natürliche Weise vorstellbar war. Selbst die Existenz eines endlosen Vakuums außerhalb der Welt wurde in der Regel abgelehnt. Eine Ausnahme bildeten jedoch unter anderem die Thesen Nicole Oresmes, der in seinem lateinischen De caelo-Kommentar ein von Gott geschaffenes Vakuum jenseits des endlichen Kosmos für möglich hielt und schloss: »Wenn gefragt wird, was jenes Vakuum außerhalb des Himmels ist, ist zu sagen, dass es nichts anderes ist als Gott selbst, der seine unteilbare endlose Größe und seine Ewigkeit zugleich ist«.490

Eine ähnliche Auffassung hatte zuvor, wenn auch in einer theologischen Schrift, Thomas Bradwardine vertreten. Das Konzept eines endlosen, gottgefüllten leeren Raums jenseits des endlichen, kugelförmigen Universums wurde dann im 17. und 18. Jahrhundert auch von den Begründern der modernen Naturwissenschaft übernommen, so von Henry More, Isaac Newton und Otto von Guericke.491 Aber auch der Aufbau des Universums und die Bewegung der Himmelskörper wurden im universitären Kontext immer wieder diskutiert. So nahmen die spätscholastischen Gelehrten unter der Annahme der im Zentrum der Welt feststehenden Erde drei verschiedene Bewegungen der Fixsterne wahr: eine tägliche Rotation von Ost nach West; eine langsame Bewegung von West nach Ost, die nur einen Grad innerhalb von 100 Jahren ausmachte und aus der Präzession der Äquinoktien, der Tag- und Nachtgleichepunkte, resultiert; sowie eine als Trepidation bezeichnete und von dem arabischen Astronomen Thabit ibn Qurra im 9. Jahrhundert beschriebene Vor- und Rückwärtsbewegung. Da eine einzelne Sphäre nicht verschiedene Bewegungen ausführen konnte, schrieben scholastische Gelehrte wie Albert von Sachsen und Pierre d’Ailly diese Bewegungen jeweils eigenen Sphären zu, wobei die gleichmäßigste und schnellste Bewegung, die im aristotelischen Sinne alle anderen beeinflusste, der zehnten Sphäre zukam. Während diese für Albert zugleich die äußerste Sphäre bildete, schloss Pierre d’Ailly im Sinne der weit zurückreichenden Tradition noch eine elfte Sphäre, den »Feuerhimmel«, das Empyreum, an.492

489 490 491 492

Sarnowsky, Si extra mundum, S. 132. Nicole Oresme, De Caelo, 1,19, 2. art., S. 287; vgl. Sarnowsky, Si extra mundum, S. 144. Grant, Cosmology, S. 271. Grant, Cosmology, S. 278.

Die Medizin an den spätmittelalterlichen Universitäten

211

Diskutiert wurde auch über die Frage der Beweger der Sphären sowie darüber, ob nicht die beobachtete schnelle Bewegung der Fixsterne durch eine tägliche Erdrotation zu erklären sei. Obwohl diese Lösung innerhalb des geozentrischen Weltbilds und der ptolemaischen Tradition abgelehnt wurde, wiesen z. B. Buridan und Oresme bei ihrer Behandlung des Problems nach, dass die Annahme einer täglichen Erdrotation eine gleichwertige Beschreibung der sichtbaren Himmelsbewegungen darstellt. Sie bereiteten damit zumindest indirekt Copernicus den Weg.

IV.

Die Medizin an den spätmittelalterlichen Universitäten

Auch für die Medizin bildete die Aristoteles-Rezeption einen Einschnitt in der Entwicklung der Disziplin. Zusammen mit der Verbreitung der zentralen arabischen Werke veränderte sie den Charakter der Medizin grundlegend, die zu einer scholastischen Wissenschaft wurde, während der erste Schub arabischer Medizin durch die Übersetzertätigkeit des Constantinus Africanus nur die Basis des Wissens erweitert hatte. Obwohl sich erste aristotelische Einflüsse schon bei dem in Salerno an der Wende zum 13. Jahrhundert tätigen Urso von Kalabrien zeigen, vollzog sich diese Entwicklung vor allem an den entstehenden Universitäten.493 Dort stand zunächst das aristotelische »Über die Seele« im Zentrum, zusammen mit dem Kommentar des Avicenna, die das Bild der Sinneswahrnehmung beeinflussten. Als man sich dann stärker medizinischen Werken zuwandte, unter anderem kleineren Schriften von Hippokrates und Galen, die als »kleine Kunst«, Articella, zusammengefasst wurden, waren die Methoden bereits dialektisch-philosophisch geprägt. Damit war der Boden bereitet für die zentrale Rolle, die bald dem »Kanon«, der wichtigsten medizinischen Schrift, des Avicenna zukam.494 Für Avicenna war es von vorneherein klar, dass sich die Medizin auf unsichererem Boden als die Philosophie bewegte und dass die philosophischen Erkenntnisse im Zweifel Vorrang hatten. Zugleich suchte er die Medizin vor allem als theoretische Wissenschaft zu etablieren und grenzte die auf Aristoteles aufbauenden Gelehrten scharf von den reinen Praktikern ab. Diese Differenzierung prägte fortan auch das Bild der mittelalterlichen Hörsäle. Während der gelehrte scholastische Mediziner oben auf dem Katheder über Galen und Avicenna dozierte, demonstrierte zu seinen Füßen der als Handwerker verstandene »Baderchirurg« die praktischen Konsequenzen. Schon die Schriften eines Gilbertus Anglicus aus der Zeit um 1230 zeichneten sich so durch 493 Talbot, Medecine, S. 400–01. 494 Lindberg, Beginnings, S. 187.

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Physik, Kosmologie und Medizin im späteren Mittelalter

zahlreiche philosophische Analysen und Zitate aus den Autoritäten wie Aristoteles, Avicenna und Averroes aus. Sie spiegeln zunächst vor allem die Situation in Frankreich, doch gewann der Aristotelismus mit Taddeo Alderotti († 1295) auch in Bologna an Bedeutung. Auch Alderotti legte erheblichen Wert auf die Anwendung von philosophischen und insbesondere logischen Methoden, um mit ihrer Hilfe medizinische Texte besser zu verstehen. Auf diese Weise trug er in Nachfolge Avicennas zu einer scholastischen Ausrichtung der Medizin bei, die für die Medizin an den italienischen Universitäten prägend wurde.495 Für die Medizin wie für die Naturphilosophie trug somit die Wiederentdeckung des »ganzen« Aristoteles zu einer grundlegenden Neuorientierung der Disziplinen bei. Dies wirkte sich aber ebenso auf die Ausbildung der großen philosophischen und theologischen Systeme aus.

495 Talbot, Medecine, S. 403.

10. Philosophie und Theologie: die großen Systeme

Grammatik, Rhetorik und Logik bildeten zusammen mit der Naturphilosophie und der Mathematik den Kern der artes liberales. An den früh- und hochmittelalterlichen Schulen sowie an der Artistenfakultät der Universitäten setzten sich jedoch die mittelalterlichen Gelehrten auch mit weitergehenden philosophischen Fragestellungen auseinander, vor allem mit Moralphilosophie und Metaphysik, die in enger Beziehung zur Theologie standen. Diese Disziplinen blieben zumeist den Fortgeschrittenen vorbehalten und bereiteten insofern noch intensiver als die artes liberales im engeren Sinne auf die Beschäftigung mit der Theologie vor, als sie vielfach dieselben Probleme wie diese zum Gegenstand hatten. Zugleich orientierten sich die Theologen im Laufe der mittelalterlichen Entwicklung immer stärker an den grundlegenden Methoden und Argumentationsweisen der Philosophie.496 Sie verstanden schließlich die Theologie als eine Wissenschaft, die sich vor allem durch ihre Inhalte und Ziele aus den anderen Wissenschaften heraushob. Dies äußerte sich zum einen in der Entwicklung der Bibelexegese, für die sich ähnliche Formen herausbildeten, wie sie sich im Umgang mit Texten allgemein beobachten lassen. Eine besondere Rolle spielte dabei die Auseinandersetzung mit den »Sentenzen«, den Auszügen aus der Bibel, den Kirchenvätern und anderen Autoritäten, die der Pariser Theologe Petrus Lombardus († 1164) um die Mitte des 12. Jahrhunderts in vier Büchern systematisch zusammenstellte und die an den entstehenden Universitäten zum Elementarbuch des Unterrichts in der Theologie wurden.497 Sie boten nicht nur den Ansatzpunkt für vielfältige Formen der am Wortlaut orientierten Textauslegung, sondern auch zur textgestützten Diskussion bestimmter grundlegender Probleme in Form einer scholastischen Quaestio. Zum anderen lässt sich bei den großen mittelalterlichen Denkern wie z. B. bei Thomas von Aquin oder Wilhelm von Ockham kaum eine scharfe Trennungs496 Asztalos, Fakultät, S. 359–60. 497 Colish, Foundations, S. 282.

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Philosophie und Theologie: die großen Systeme

linie zwischen Philosophie und Theologie ziehen, auch wenn in den einzelnen Werken jeweils philosophische oder theologische Probleme im Vordergrund standen und beide Disziplinen gegeneinander abgegrenzt wurden. Der Lehrer von Thomas von Aquin, Albertus Magnus († 1280), hat Theologie in seinem Sentenzenkommentar folgendermaßen aus den anderen Wissenschaften herausgehoben: »An erster Stelle wird [die Theologie] als Weisheit [im aristotelischen Sinne] bezeichnet, weil sie sich mit den höchsten [Wirklichkeiten] auf die möglichst erhabene Weise auseinandersetzt, [nämlich] mit Gott auf der Grundlage der Glaubensartikel. Andere von den Philosophen entwickelte Wissenschaften [wie z. B. die Metaphysik] heißen auch Weisheiten, weil sie von hohen Dingen handeln; allerdings machen sie dies nicht auf die allerhöchste Weise, sondern vielmehr aufgrund von Prinzipien, die der [menschlichen] Vernunft entspringen. Somit behaupte ich auch, dass [die Theologie] die einzige freie [Wissenschaft] ist oder [zumindest] freier als die anderen; sie wird nämlich als freie Wissenschaft bezeichnet, wie Aristoteles den Menschen frei nennt, weil er für sich und nicht für einen anderen ist. Und das gilt wegen des Wissens, nach dem in ihr gefragt wird, das etwas aus sich Erstrebenswertes ist. Dies nämlich ist an erster Stelle Gott [selbst], nach dessen Kenntnis, die selig machend ist, alle [Menschen] streben; und deshalb ist [die Theologie] frei, weil ihr Gegenstand nicht wegen eines anderen, sondern [als Wert] in sich erfragt wird«.498

Auch für Albertus Magnus waren es somit die Inhalte und Ziele der Theologie, die sie den anderen Wissenschaften voranstellten bzw. zu einer einzigartigen Wissenschaft werden ließen. Bei aller Betonung der Notwendigkeit, sich diesen Inhalten und Zielen auch »in frommer Haltung« zuzuwenden, bildeten jedoch für Albert die Vernunft und das Studium der Bibel gleichermaßen wichtige Grundlagen der Theologie.499 Der Vorrang der theologischen Wissenschaft rechtfertigte das Eingreifen der Theologen in philosophische Diskussionen, wie dies etwa durch die Verbote von 1270 und 1277 an der Pariser Universität geschah. Zugleich musste deshalb der Spielraum der Philosophen dort eingeschränkt werden, wo sie sich auf Feldern bewegten, auf denen sie in Konkurrenz zu den Theologen traten, ohne die langwierige Ausbildung an der theologischen Fakultät durchlaufen zu haben. Es ist so kein Zufall, dass schon 1272 an der Pariser Artistenfakultät entsprechende Statuten erlassen wurden, in denen es heißt: »Kein Magister oder Bakkalar unserer Fakultät soll sich anmaßen, irgendeine rein theologische Frage zu entscheiden oder auch nur zu diskutieren, wie etwa in Bezug auf die Trinität und die Inkarnation und alle ähnlichen Dinge, und damit die ihm gesetzten Grenzen überschreiten, denn wie Aristoteles sagt, ist es für einen Nicht-Geometer 498 Albertus Magnus, Commentarii, dist. I, art. IV, ad 1, S. 19a; Übersetzung nach Albertus Magnus, Ausgewählte Texte, S. 21–23. 499 Ebd., S. 20.

Die Entwicklung der Theologie als Wissenschaft

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unangemessen, mit einem Geometer zu diskutieren. […] Wenn jemand irgendwo in Paris eine Frage in eine Disputation einbringt, die Glauben und Philosophie gleichermaßen berührt, und sie gegen den Glauben entscheidet, soll er als ein Häretiker für immer aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen werden. […] Wenn [schließlich] einer der Magister oder Bakkalare der Fakultät irgendwelche schwierigen Passagen oder Fragen liest oder disputiert, die den Glauben zerstören könnten, soll er die Argumente oder den Text soweit ablehnen, wie sie gegen den Glauben [gerichtet] sind, oder soll zugestehen, dass sie vollkommen falsch und gänzlich irrig sind, und er soll sich nicht anmaßen, über diese Art von Schwierigkeiten weiter zu disputieren oder zu lesen, weder im Text noch in den Autoritäten, sondern soll darüber als völlig irrig hinweggehen«.500

Diese Verbote behielten auch im Folgenden ihre Gültigkeit, und um 1280 wurden sie in den Eid aufgenommen, den die Magister bei der Aufnahme (inceptio) in die Artistenfakultät zu leisten hatten. Um 1355 wird dieser Eid z. B. von Johannes Buridan erwähnt; er verlor erst am Ende des 15. Jahrhunderts an Bedeutung. Ungeachtet dieser normativen Abgrenzung von Philosophie und Theologie bestanden jedoch weiterhin vielfältige Beziehungen, zumal die Theologen seit der Mitte des 13. Jahrhunderts wie alle Mitglieder der höheren Fakultäten zunächst ein Studium an der Artistenfakultät absolviert haben mussten. Es bietet sich daher an, die »großen Systeme« der Philosophie und Theologie, die Ansätze zur »Erklärung der Welt als ganzer« (wenn man das so formulieren darf), gemeinsam zu behandeln; dies liegt schon deshalb nahe, weil ihre »Urheber« zumeist gleichermaßen Philosophen wie Theologen waren. Schon die philosophisch-theologischen »Systeme« z. B. eines Thomas von Aquin oder Wilhelm von Ockham bedürften eigentlich jeweils eines eigenen Kapitels, können aber hier nur knapp umrissen werden. Hier soll jedoch zuvor noch ein Überblick über die »Verwissenschaftlichung der Theologie«, die Entwicklung der Bibelexegese und den wachsenden Einfluss der scholastischen Methode, gegeben werden. Abschließend stehen einige der spätmittelalterlichen, vor allem durch die Aristoteles-Rezeption geprägten »Weltentwürfe« im Zentrum, und zwar zunächst für das 13., dann knapper für das 14. Jahrhundert.

I.

Die Entwicklung der Theologie als Wissenschaft

Wenn man die überlieferten mittelalterlichen Bibliothekskataloge und die erhaltenen mittelalterlichen Handschriften überhaupt zusammenfassend quantifizieren könnte, ergäbe sich mit großer Sicherheit ein deutliches Übergewicht der theologischen Literatur, das sich auch unter Berücksichtigung höherer Verluste 500 Chartularium Universitatis Parisiensis, 1, Nr. 441, S. 499–500; University Life, hrsg. Thorndike, S. 85–86 (eigene Übers.).

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Philosophie und Theologie: die großen Systeme

bei den anderen Literaturgattungen nur wenig verändern würde. Schon in den einzelnen Sammlungen und Listen steht dabei trotz der Vielfalt der Formen überlieferter theologischer Texte vielfach die Bibelauslegung im Vordergrund. Die Bibel war zweifellos das zentrale Textkorpus der Theologie, doch ließen sich die theologischen Dogmen daraus nicht klar ableiten, was eine Verwendung als Lehrbuch unmöglich machte. Die Bibelexegese war somit von Anfang an die Hauptbeschäftigung der Theologie.501 Die Grundlagen der Bibelexegese entwickelten somit schon in der Zeit der Kirchenväter. So hat sich z. B. der Lehrer Augustins, Ambrosius, Bischof von Mailand (374–379), intensiv mit dem Alten Testament auseinandergesetzt, vor allem mit der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis, die er in seinem Hexameron kommentierte. Nachdem er kurz die Lehren der antiken Philosophen vorgestellt hat, beginnt er seine Darstellung mit der Bemerkung: »Folgenden Satz stellte der heilige Moses, da er im göttlichen Geiste voraussah, dass solche Irrtümer [wie in der heidnischen Kosmologie] hervortreten würden und vielleicht schon hervorzutreten anfingen, an die Spitze seines Berichtes: ›Im Anfang hat Gott den Himmel und die Erde geschaffen‹. Er spricht damit den Anfang der Dinge, den Urheber der Welt und die Erschaffung der Materie zugleich aus«.502

Zeigt dies bereits den engen Zusammenhang zwischen Philosophie und Theologie, war es dann Augustin, der in den ersten drei Büchern seiner Schrift »Über die christliche Lehre« (De doctrina christiana) die methodischen Grundlagen für die mittelalterliche Bibelexegese formulierte. Für ihn spiegeln die Worte der Bibel unmittelbar ihren göttlichen Urheber. Damit musste man zunächst einmal ihren Inhalt als historische Wahrheit akzeptieren, doch kam zugleich dem spirituellen Sinn höherer Wert als der buchstäblichen Auslegung zu. Wenn es ihm möglich erschien, interpretierte Augustinus denselben Text sowohl im buchstäblichen wie im spirituellen Sinne, wobei der eine den anderen enthalten oder vorwegnehmen sollte. Diese Differenzierung zwischen dem buchstäblich-historischen und dem höheren geistig-mystischen Verständnis der Bibel geht unter anderem schon auf Origines († 254) zurück. Für letzteres wurde später, bei Johannes Cassian im 5. Jahrhundert,503 noch nach tropologischem, allegorischem und anagogischem Schriftsinn unterschieden. Führt der tropologische Sinn zu den moralischen Bezügen des Bibeltextes, erschließen sich im allegorischen Sinn die Geheimnisse Christi und der Kirche und im anagogischen Sinn die eschatologische Bedeutung. So kann etwa »Jerusalem« in einer Bibelstelle vierfach verstanden werden: als historische Stadt der Juden (literal), als Synonym für die Seele des einzelnen

501 Asztalos, Fakultät, S. 359. 502 Ambrosius, Exameron, S. 9–10. 503 Johannes Cassian, Unterredungen, XIV,8, S. 105.

Die Entwicklung der Theologie als Wissenschaft

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Menschen (tropologisch), als Symbol für die Kirche Christi (allegorisch) und als die (zukünftige) himmlische Stadt Gottes (anagogisch). Diese Einteilung fand während des gesamten Mittelalters weite Verbreitung und wurde unter anderem von Beda, Hrabanus Maurus, Bonaventura und Albertus Magnus übernommen. Der augustinische Ansatz für die Bibelexegese blieb dabei insofern vorbildlich, als auch die Späteren seine Wertschätzung philosophischer Methoden übernahmen und sich der Bibel zuerst als »heiliger Geschichte« näherten. Auf dieser Grundlage wandte sich z. B. auch Gregor d. Gr. um 590 den Büchern Hiob und Hesekiel sowie den Evangelien zu, wobei er sich in den »Predigten zu Hesekiel« (Homilia in Ezecheliem) angesichts der äußeren Bedrohung Roms in der Entstehungszeit des Textes auf die spirituelle Bedeutung konzentrierte.504 In seiner Begrifflichkeit sind jedoch der allegorische und der anagogische als typologischer Sinn zusammengefasst; so heißt es in der Einleitung zu seinem Hiob-Kommentar zur Bibelexegese: »Zunächst legen wir die historischen Fundamente; dann errichten wir in Anwendung des typologischen Verständnisses ein geistiges Gebilde, das als Festung des Glaubens dienen soll; und darüber hinaus kleiden wir im letzten Schritt, durch die Gnade der moralischen Unterweisung, das Bauwerk mit einem farbigen Anstrich«.505

Damit war so etwas wie eine definitive Formel für die Bibelexegese gefunden, die auch von Gregors Nachfolgern, Isidor von Sevilla und Beda, als den »letzten Kirchenvätern«, nicht mehr wesentlich verändert wurde. Mit Beda endete zugleich eine erste Phase der Innovationen in der Theologie und der Bibelexegese. Konnte er noch weitere, ältere Autoren in seine Kommentare einbringen, griffen die auf ihn aufbauenden Kommentatoren der Karolingerzeit fast nur noch auf die Kirchenväter-Tradition und verschiedene Kompilationen zurück, so dass manches bei Alkuin, Hrabanus Maurus und Walahfrid Strabo aus dritter und vierter Hand zitiert ist. Zugleich lag aber bereits am Ende des 9. Jahrhunderts ein Korpus von Bibelkommentaren vor, der es den Anfängern ermöglichte, für nahezu jedes Buch der Bibel eine Anleitung zur Lektüre aus Texten der Kirchenväter zu finden.506 Ein neues Element entwickelte sich seit dem 10. Jahrhundert, als sich unter anderem durch Gerbert von Aurillac, den späteren Papst Silvester II., ein stärkerer Einfluss der Logik auf die Theologie bemerkbar machte. Gerbert betonte in seiner Schrift »Über das Vernünftige und den Verstandesgebrauch« (De rationali et ratione uti) den Nutzen von Definitionen und Begriffsbildungen auch in Glaubensfragen. Ungeachtet der Kritik eines Petrus Damiani († 1072), der in der Anwendung logischer Begriffe auf Gott eine Einschränkung der göttlichen All504 Smalley, Study, S. 33. 505 Gregor d. Gr., Moralia, Ad Leandrum, 3, S. 4. 506 Smalley, Study, S. 38.

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Philosophie und Theologie: die großen Systeme

macht sah, gewann an den Schulen des 11. und 12. Jahrhunderts, vor allem an den Kathedralschulen des nordfranzösischen Raums, ein stärker auf logischer Argumentation aufbauender Typus von Bibelkommentaren an Bedeutung, die Glossen. Sie enthielten Wort- oder Sachkommentare zu einzelnen Stellen des Bibeltextes, die entweder am Rand oder zwischen den Textzeilen eingefügt waren (als Marginal- bzw. Interlinearglossen). Die Anfänge der Entwicklung lassen sich unter anderem an Fulbert von Chartres († 1028) und seinem Schüler Berengar von Tours festmachen, dem Fragmente einer Glosse zu den Paulusbriefen zugeschrieben sind, die sich in einer Sammlung mit anderen Glossen erhalten haben, von denen die meisten anonym sind bzw. den Kirchenvätern, einem gewissen Drogo sowie Lanfranc von Bec zugewiesen werden. Lanfranc wurde nach der Eroberung Englands durch die Normannen 1070 zum Erzbischof von Canterbury berufen, hatte aber vor der Übernahme seiner Aufgaben in Bec seine Ausbildung in der Theologie möglicherweise unter Berengar begonnen. Die Gemeinsamkeiten in der Art der Kommentierung deuten auf eine Art Schulbildung, die von Fulbert ausging.507 Diese Autoren waren aber nicht die einzigen, die sich jetzt der Glossen bedienten. Eine entsprechende Glossierung benutzten auch der in Paris lehrende Manegold von Lautenbach († um 1110) sowie insbesondere Anselm von Laon († 1117), möglicherweise ein Schüler Manegolds. In der Schule Anselms, der – entgegen dem von Abelard vermittelten Eindruck – bis nach Italien, Deutschland und England reichende, positive Impulse gab und mit vielen seiner Schüler eng kooperierte, entwickelten sich erste Ansätze zu einer systematischen Auseinandersetzung mit der Bibel. Während so der spätere Texttypus der Summa Theologica vorbereitet wurde, wurden die Glossen der Schule von Laon zur Regel-Kommentierung der Bibel, zur – immer wieder variierten, allerdings auch nach 1200 nicht als fester Text zu fassenden – Glossa ordinaria,508 die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass sie jedem Buch der Bibel eine unter anderem auf Hieronymus zurückgehende Einleitung voranstellt, umfangreiches Material versammelt und dabei auch zeitgenössische Theologen als Autoritäten zitiert. Sie fand weite Verbreitung, auch in den frühen Drucken des ausgehenden Mittelalters. Anselm begann aber zugleich mit der Methode der Auseinandersetzung mit theologischen Problemen in Quaestionenform. Weit stärker als bei der Bestimmung der vier Schriftsinne oder bei der Glossierung durch Rand- oder Zwischenbemerkungen bedeutete dies eine Lösung vom Text, die zugleich die Berücksichtigung dialektischer Gedankengänge erleichterte. Grundlegend dafür

507 Ebd., S. 47–48. 508 Smith, Glossa, bes. S. 2.

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wurde Abelards Schrift Sic et non, in der er den Nutzen seiner Methode auch für die Theologie darlegt: »Wir müssen auch besonders darauf achten, dass wir nicht, wenn Aussagen der Kirchenväter zitiert werden, die von der Wahrheit abzuweichen scheinen oder ihr entgegengesetzt sind, von verderbten Textstellen oder falschen Zuschreibungen getäuscht werden. Denn viele apokryphe Schriften sind unter den Namen von Heiligen überliefert, um ihnen Autorität zu verleihen, und selbst etliche Texte der göttlichen Schrift sind durch Irrtümer von Schreibern verdorben.509 […] Angesichts des Vorausgeschickten haben wir es unternommen, verschiedene Aussagen der Kirchenväter zu sammeln, die nach unserer Erinnerung Anlass zur Überprüfung geben wegen der in ihnen enthaltenen Widersprüche. [Diese Überprüfung] regt die jungen Leser zu den höchsten Bemühungen an, nach der Wahrheit zu forschen, und schärft ihren Verstand. Intensives und häufiges Nachfragen ist in der Tat der erste Schlüssel zur Weisheit. [Schon] der berühmte Philosoph Aristoteles […] ermahnte die Studierenden, dies nachdrücklich zu praktizieren […]«.510

Abelard stellte in seiner Schrift 158 Probleme zusammen, für die er jeweils die gegensätzlichen Positionen durch Stellen aus der Bibel und den Kirchenvätern belegte; allerdings entwickelte er anders als in den späteren Kommentaren in Quaestionenform keine abschließenden Lösungen, sondern überließ es den Lesern, durch Anwendung der Vernunft zu einem Ergebnis zu kommen. Dies war der Beginn der scholastischen Quaestio, die sich auch in der Theologie zu einem zentralen Instrument der Kommentierung entwickelte und sich in Form der Quodlibeta, der Behandlung frei gestellter Probleme, sogar schon seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verselbständigen sollte.511 Die Kommentierung in Quaestionenform wurde an den Universitäten besonders häufig für die Sentenzen des Petrus Lombardus angewandt, da sich alle Bakkalare der Theologie zunächst an diesem Text »bewähren« mussten. Auch wenn sich Bernhard von Clairvaux mit seiner ganzen Autorität den Methoden Abelards entgegenzustellen suchte, war der Siegeszug der Logik in der Theologie nicht mehr aufzuhalten. Noch zu Abelards Lebzeiten erhielt die Bibelexegese neue Impulse durch die Schule von St. Victor in Paris, insbesondere durch Hugo von St. Victor († 1141). Hugo trat zwar auch für die Nutzbarmachung der neuen Methoden und Inhalte für die Theologie ein, wandte sich aber gegen eine übereilte Erarbeitung der Bibel mit Hilfe der Glossen, wie dies an den Schulen seiner Zeit geschah. Dagegen setzte er auf eine Verbindung zwischen Gelehrsamkeit und Kontemplation. Die artes und die anderen Wissenschaften sollten auf die Bibelexegese vorbereiten, die Lehren der Theologie die allegorische Auslegung der Bibel ermöglichen. Damit 509 Es folgen ausführliche Beweisstellen. 510 Petrus Abaelardus, Sic, Prologus, S. 91, S. 103; engl. Übersetzung (im Auszug) bei Medieval World View, S. 268. 511 Hamesse, Quaestiones, S. 17–18.

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ließ sich erst die scholastische lectio erreichen, die ihrerseits Vorstufe der monastischen Kontemplation war.512 Für sein Bibelverständnis bemühte Hugo sich sogar darum, Informationen über die jüdischen Interpretationen des Alten Testaments zu bekommen, und nahm diese in seine Schriften auf. Obwohl sich in St. Victor bald eine weniger offene Haltung gegenüber den weltlichen Wissenschaften durchsetzte, fand Hugo mit seiner sorgfältigen Kommentierung der Bibel verschiedene Nachfolger, unter anderem Andreas von St. Victor († 1175), der sich auf die Kommentierung ausgewählter, problematischer Passagen konzentrierte und sich noch stärker als Hugo dem eigentlichen Wortlaut der Bibel zuwandte. Die Viktoriner waren konservativ, insofern sie die Bibelexegese hinter Gregor d.Gr. auf Augustinus und Hieronymus zurückführen wollen, aber in ihrem Beharren auf der intensiven Analyse der Texte wirkten sie auch auf die Theologen der entstehenden Universitäten, in Paris z. B. auf Petrus Comestor († um 1169), Petrus Cantor († 1197) sowie Stephen Langton († 1228), die die lectio divina, die Auseinandersetzung mit der Bibel, stärker in den akademischen Vorlesungszyklus einbrachten. So legte z. B. Petrus Comestor mit seiner Historia scholastica im Sinne Hugo von St. Victor ein vielfach rezipiertes Lehrbuch vor, das in die Abläufe der biblischen Geschichte einführte und hohes Ansehen genoss,513 und Langton glossierte – im Zusammenhang damit – die Bücher der Bibel in der von Hugo aus didaktischen Gründen vorgeschlagenen Reihenfolge.514 Die Tradition der Viktoriner wurde seit den 1230er Jahren durch die Dominikaner und die anderen Bettelorden wieder aufgenommen, die z. B. in Paris seit dieser Zeit kontinuierlich Vorlesungen zur Bibel hielten, die sich von den Vorlesungen der weltlichen Schulen unterschieden. Ihre führenden Vertreter, insbesondere Hugo von St. Cher, Magister der Theologie in Paris 1230–1235, entwickelten einen neuen Kommentartypus, die Postillen, wohl nach dem Textanfang post illa verba (»nach jenen Worten«), der im späteren Mittelalter weite Verbreitung fand und sich von nun an – im Unterschied zu den Glossen – auf durchgängige Bibelkommentare bezog.515 Hugos Postillen, die während seiner fünfjährigen Lehrtätigkeit in Paris entstanden und die gesamte Bibel abdecken, waren allerdings als Ergänzung der älteren Glossen gedacht, die den Scholaren erst den Zugang zur Glossierung und damit zu den Texten der Bibel eröffnen sollten; sie reflektierten somit vor allem die Ergebnisse der Bibelgelehrsamkeit, auch wenn die Viktoriner und die anderen Autoren des 12. und frühen 13. Jahrhunderts oft nicht namentlich zitiert 512 513 514 515

Smalley, Study, S. 105. Clark, Making, S. 1–2. Vgl. ebd., S. 50. Smalley, Study, S. 270.

Philosophisch-theologische Entwürfe des frühen und hohen Mittelalters

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sind. Hugos Postillen wurden rasch rezipiert und fanden bis ins 15. Jahrhundert weite Verbreitung; andere Autoren schlossen sich mit ähnlichen Texten an. Dabei blieb die Theologie aber weiterhin in Auseinandersetzung mit den Lehren der Philosophen.

II.

Philosophisch-theologische Entwürfe des frühen und hohen Mittelalters

Wie dies schon angedeutet wurde, geht die enge Verbindung von Theologie und Philosophie bereits auf die Kirchenväter zurück, die – wie vor allem Augustinus – beim Aufbau des christlichen Denkens auf die Grundlagen der antiken Philosophie zurückgriffen. Die Entwicklung der Bildungsinstitutionen, von den Klosterschulen des früheren Mittelalters zu den insgesamt weitgehend kirchlich geprägten Universitäten, führte dann dazu, dass sich diese beiden Bereiche noch enger miteinander verbanden. So erklärt sich die Tatsache, dass die meisten der mittelalterlichen Gelehrten sowohl zu philosophischen wie zu theologischen Fragen Stellung nahmen und eine klare Trennung von Philosophie und Theologie vielfach kaum möglich erscheint. Dies gilt bereits für die Autoren des frühen und hohen Mittelalters. Die vor allem enzyklopädisch orientierten Gelehrten des 6. bis 9. Jahrhunderts, Cassiodor, Isidor von Sevilla, Beda, Alkuin, Hrabanus Maurus und andere, trugen zwar wesentlich zur Bewahrung des antiken Bildungsguts bei und entwickelten vielfach eigene Wege im Umgang mit den grundlegenden Problemen von Bildung und Ausbildung, leisteten aber kaum eigenständige Beiträge zur Entwicklung eines philosophisch oder theologisch geprägten Weltbilds. Anders ist dies für den schon mehrfach erwähnten Johannes Scotus Eriugena († n. 877), der mit seinem wohl zwischen 862 und 866 verfassten Hauptwerk Periphyseon oder De divisione naturae (»Über die Einteilung der Natur«) einen systematischen Ansatz zur Erklärung der Welt unternahm, der wesentlich durch neuplatonische Ideen beeinflusst war, wie sie auch in den von Johannes übersetzten Schriften des Ps.-Dionysios Areopagita über die kirchlichen und himmlischen Hierarchien fassbar sind.516 Dabei stellt allerdings das Periphyseon einen sehr eigenständigen Versuch dar, zu einer christlichen Sicht auf die Welt und insbesondere zu einer systematischen, christlichen Interpretation des Universums zu gelangen.517 Die im zweiten Titel des Werks fassbare Einteilung der Natur in vier Kategorien umschließt alle Wesenheiten, selbst Gott, der sogar auf zweifache Weise in die Kategorisierung 516 Zu ihm insbes. oben Kap. 3.1. 517 Copleston, History, 2, S. 112–13.

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Philosophie und Theologie: die großen Systeme

eingeschlossen ist. Johannes unterscheidet im Einzelnen zwischen dem, was schafft und nicht geschaffen ist; dem, was geschaffen ist und zugleich schafft; dem, was geschaffen ist und nicht schafft; und dem, was nicht geschaffen ist und nicht schafft. Am Anfang steht Gott als das Wesen, das ewig besteht und die Ursache aller anderen Dinge ist. Gott bringt in sich den logos, das göttliche Wort, und damit die göttlichen Ideen hervor, die wiederum – im platonischen Sinne – die Vorbilder oder Beispiele für die Einzeldinge sind; sie bilden folglich die Natur, die geschaffen ist und zugleich schafft. Erst die dritte Kategorie, die der geschaffenen, aber nicht schaffenden Wesenheiten, umfasst dann die Dinge dieser Welt, die als »Selbstoffenbarung« Gottes verstanden werden können. Mit der vierten, logisch noch fehlenden, Kategorie, dem nicht geschaffenen und nicht schaffenden Wesen, spricht Johannes schließlich den Endpunkt aller Entwicklungen an, die Rückkehr aller Dinge in Gott als ihrem Ursprung. Diese Einteilung lässt sich somit zunächst auf ein Zweierschema reduzieren: auf die Unterscheidung zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung. Zugleich aber betrifft sie sowohl die existierenden wie die nichtexistierenden Wesen, denn, wie Johannes gleich am Anfang seines Werks hervorhebt, »Natur ist die allgemeine Bezeichnung […] für alle Dinge, die sind und die nicht sind«.518 Im Sinne der platonischen Vorstellungen besteht aber zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden nur ein relativer Unterschied; das Seiende negiert gewissermaßen sein nichtexistierendes »Gegenteil«. Für Johannes erfordert diese Unterscheidung fünf Formen der Interpretation. An erster Stelle geht es um das, was sinnlich oder durch den Verstand fassbar ist – was auch das ausschließt, was durch seine Vollkommenheit unsere Sinne übersteigt, nämlich Gott und die grundlegenden Wesenheiten der von Gott geschaffenen Dinge. Die zweite Form orientiert sich an der hierarchischen Ordnung der Wesenheiten, die auf jeder Stufe die Verstärkung des Untergeordneten und die Negation des Höheren darstellen, wie etwa die positive Annahme des Menschen in seinem sterblichen Zustand die Negation der Eigenschaften des Engels beinhaltet.519 Im dritten Verständnis sind alle möglichen Dinge existent, solange sie sich in einer Wirkung manifestieren, was jene ausschließt, die erst noch eine eigene Existenz erlangen müssen, wie das, was im Samen von Lebewesen und Pflanzen angelegt ist. Der vierte Sinn des Seienden bezieht sich allein auf die im Denken der Philosophen reflektierten Dinge, während die dem Entstehen und Vergehen unterworfenen Einzeldinge der Welt im Vergleich mit den ihnen zum Vorbild dienenden unveränderlichen Ideen nicht im eigentlichen Sinne existieren. Schließlich kann man fünftens den Menschen als Seienden fassen, insofern er nach dem Ebenbild Gottes geschaffen und durch Gottes Sohn in die Gnade zurückgebracht wurde, 518 Johannes Scotus Eriugena, Periphyseon, 1, S. 36. 519 Ebd., S. 40.

Philosophisch-theologische Entwürfe des frühen und hohen Mittelalters

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aber ebenso auch als Nichtseienden, als er diese Ähnlichkeit durch seine Sünde verloren hat.520 Bei der Einteilung der »Natur« im Sinne Eriugenas darf man aber nicht davon ausgehen, dass damit ein Ganzes beschrieben ist, in dem Gott und die Schöpfung Teile sind, oder eine Gattung, in der Gott und die anderen Wesen nur verschiedene Arten darstellen würden. Vielmehr soll damit nur die Art und Weise verdeutlicht werden, wie sich Gott in einer Hierarchie von Wesenheiten manifestiert und fassbar werden lässt, die sich von ihm unterscheiden und unter ihm stehen. Das äußert sich für Johannes auch in der Bestimmung des Seienden, die im aristotelischen Sinne von den zehn Kategorien auszugehen hat, die entweder durch die Sinne oder durch den Intellekt erfahrbar sind. Will man nämlich diese Kategorien auf Gott anwenden, kann man zwar im Sinne einer »positiven Theologie« mit einiger Berechtigung sagen, dass Gott Substanz ist, dass er gut ist, dass er groß ist (also Qualität und Quantität besitzt) usw. Andererseits muss man aber im Sinne einer »negativen Theologie« unmittelbar darauf feststellen, dass sich Gott jeder dieser Kategorien entzieht, also weder Substanz ist noch eine Qualität oder Quantität hat.521 Beide Sichtweisen haben dieselbe Berechtigung, doch bleibt für Johannes am Ende nur der Weg einer »Theologie der Übersteigerung«, die zu jeder denkbaren Eigenschaft nur feststellen kann, dass Gott darüber hinausgeht und dabei menschliches Verständnis übersteigt. Die Aussage der Bibel, dass Gott weise ist, muss also so verstanden werden, dass er »überweise« ist.522 Unbezweifelbar hat Johannes Scotus Eriugena in der Nachfolge von schon bei Ps.-Dionysios Areopagita entwickelten Modellen versucht, die Grundsätze der Philosophie zur Erklärung des christlichen Glaubens zu nutzen, doch kann das Ergebnis für die wenigsten seiner Zeitgenossen befriedigend ausgefallen sein, denn die Übersteigerung hilft wenig weiter; eine Annäherung an Gott ist so nicht möglich. Dazu kommt, dass die Präsenz Gottes in den Dingen zum Eindruck verleiten könnte, Johannes habe pantheistische Vorstellungen vertreten.523 Vielleicht erklärt dies die Rezeptionsgeschichte, die sich im Wesentlichen auf das 9. und 10. Jahrhundert sowie auf Eriugenas Auseinandersetzung mit den aristotelischen Kategorien beschränkt. Ungeachtet dieser Probleme trifft jedoch die Feststellung des Herausgebers des Periphyseon, diese Schrift sei »the most impressive piece of philosophical writing between the ages of St. Augustine and St. Thomas«.524

520 521 522 523 524

Ebd, S. 44; vgl. die knappere Übersicht in der Einleitung, ebd., S. 28. Ebd., S. 86–88. Vgl. Gilson, History, S. 117. Copleston, History, 2, S. 135. Sheldon-Williams, in: Johannes Scotus Eriugena, Periphyseon, 1, S. vii.

224

Philosophie und Theologie: die großen Systeme

Eine Verbindung von Vernunft und Glauben strebte auch Anselm von Canterbury (1033–1109) an. In Aosta in Piemont geboren, zog er zum Studium nach Frankreich und trat dort ins Kloster ein; er stieg schließlich 1078 zum Abt des Klosters Bec auf, bevor er als Nachfolger Lanfrancs 1093 zum Erzbischof von Canterbury erhoben wurde. In seinen Schriften Monologion und Proslogion entwickelte er ein »Programm«,525 das er als fides quaerens intellectum, als Glaube auf der Suche nach rationalem Verständnis, umschrieb. Dabei sollte die Autorität der Heiligen Schrift durch die Vernunft untermauert werden; ein Ansatz, der ihn zum eigentlichen Begründer der Scholastik werden ließ, auch wenn er sich der Frage des Gottesbeweises noch ohne den späteren Hintergrund der Unterscheidung zwischen einer »natürlichen« und einer »dogmatischen Theologie« näherte. So entwickelt er in seinem Monologion mehrere Gottesbeweise, die von Stufen der Vollkommenheit ausgehen. Ausgangspunkt des ersten Beweises ist die Tatsache, dass es in den Dingen gute Eigenschaften gibt, sonst würden wir sie nicht erwerben wollen. Wenn aber das Gute in verschiedenen Dingen im unterschiedlichen Grad fassbar ist, stellt sich die Frage nach seinem Ursprung. Anselm wendet dafür nun den Grundsatz an, dass verschiedene Grade einer Perfektion auf die Teilhabe an einem einzelnen und gemeinsamen Prinzip hinweisen, das alle anderen beeinflusst und allein aus sich diese Eigenschaft besitzt. Damit kann er für das Gute in der Welt folgern, dass es ein »großes Gutes« geben muss. Da dieses alles andere übertrifft, gibt es nichts »über« ihm; dieses ist folglich ein höchstes Wesen, das über allem Seienden steht und das wir Gott nennen.526 Anselm schließt folglich in einem platonischen Sinne von den Graden des Guten auf ein absolutes Gutes, ebenso von den Graden der Weisheit auf ein absolutes Weises usw. Diese metaphysische Argumentation erwies sich als sehr folgenreich und wurde selbst von Thomas von Aquin noch übernommen. Ähnlich wirksam wurde, selbst wenn es kontrovers diskutiert wurde, ebenfalls das Argument des Proslogion, der »ontologische Gottesbeweis«. Dabei geht Anselm davon aus, dass auch dem Zweifelnden die Definition Gottes, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, verständlich ist. Damit ist aber zugleich die subjektive Existenz Gottes impliziert, insofern er somit innerhalb des Geistes und genauer im auch vom Zweifelnden akzeptierten Gottesbegriff besteht.527 Mit der Definition Gottes kann man aber zugleich einen Schritt weiter gehen: Etwas, das so groß ist, dass nichts Größeres gedacht werden kann, kann nicht nur im Intellekt existieren. Denn eine reale Existenz ist mehr als die Existenz im 525 Asztalos, Fakultät., S. 360. 526 Anselm von Canterbury, Opera, 1, Monologion, c. 1–2, S. 13–15; vgl. Gilson, History, S. 131. 527 Anselm von Canterbury, Opera, 1, Proslogion, c. 4, S. 102.

Die Aristoteles-Rezeption und die großen scholastischen Systeme

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Intellekt allein; würde das, was so groß ist, das nichts Größeres gedacht werden kann, allein im Intellekt existieren, könnte doch etwas Größeres gedacht werden, was zu einem Widerspruch führt.528 Folglich muss Gott im Intellekt wie in der Wirklichkeit existieren. Ähnlich ergibt sich aus diesem Gottesbegriff sogar die notwendige Existenz Gottes, da diese »größer« ist als die mögliche Existenz. Während diese Argumentation von Thomas (und später von Kant) verworfen wurde, fand sie bei anderen Autoren Anklang, in modifizierter Form noch bei Descartes und Leibniz. Die lange Dauer der Debatte belegt zugleich das hohe Niveau, auf dem Anselm Gott und Welt zu erfassen suchte.529 Im frühen und hohen Mittelalter, vor allem im 12. Jahrhundert, gab es neben Johannes Scotus Eriugena und Anselm von Canterbury zahlreiche andere Autoren, die – häufig aus platonischer oder neuplatonischer Perspektive – Ansätze für eine philosophisch-theologische Sicht der Welt entwickelten. So vertrat z. B. Bernhard von Chartres die Auffassung, die Materie habe bereits vor der Schöpfung in einem ungeordneten und formlosen Zustand bestanden, und die Natur sei so etwas wie ein Organismus, der seine Form einer »Weltseele« verdanke, und Wilhelm von Conches († um 1154) wollte die Weltseele des platonischen Timaios in der ersten Fassung seines Kommentars mit dem Heiligen Geist gleichsetzen. Auch Hugo von St. Viktor ist in diesem Rahmen noch einmal zu nennen, da er unter anderem einen eigenen Gottesbeweis versucht hat, ebenso wie ein anderer Viktoriner, Richard von St. Viktor († 1173). Richard verweist dabei unter anderem auf Gott als Ursache aller möglichen Existenz: Wenn etwas möglich ist, aber nicht aus sich selbst oder notwendig bestehen kann, muss es seine mögliche Existenz aus einem anderen ableiten; dieses kann aber nur Gott sein.530 Diese und ähnliche Überlegungen blieben jedoch zumeist isoliert, während den lateinischen Philosophen durch die rege Übersetzertätigkeit des 12. Jahrhunderts mit den Werken des Aristoteles ein umfassendes philosophisches System zugänglich wurde, das bald dazu anregen sollte, darauf aufbauende eigene, christliche Ansätze zu entwickeln.

III.

Die Aristoteles-Rezeption und die großen scholastischen Systeme des 13. Jahrhunderts

Bei der Auseinandersetzung mit den grundlegenden Werken der antiken und arabischen Denker reagierten die christlichen Philosophen und Theologen unterschiedlich. Viele arbeiteten weiter wie bisher, kritisierten die neuen Lehren 528 Ebd., c. 15, S. 112. 529 Gilson, History, S. 132–34. 530 Goetz, Gott, I,1, S. 218.

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Philosophie und Theologie: die großen Systeme

oder versuchten, sich einzelne Elemente nutzbar zu machen. Dagegen bemühte sich eine kleinere Gruppe, ein gleichwertiges oder besseres eigenes System zu entwickeln und sich nicht von »Heiden« und »Ungläubigen« übertreffen zu lassen.531 Dabei musste das neue Wissen erst einmal erschlossen werden, bevor es auch für die Theologie nutzbar gemacht werden konnte, und es galt, zunächst dessen eigenen Wert zu erkennen. Eine führende Rolle spielten dabei die Vertreter der Bettelorden, insbesondere der Dominikaner und Franziskaner, so unter anderem Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Bonaventura und Roger Bacon. Albertus Magnus wurde um 1200/1206 in Lauingen in Schwaben geboren, trat 1223 nach Studien in Padua und Bologna in den Dominikanerorden ein, ging dann nach Köln und 1240 nach Paris, wo er 1245–1248 als Theologe lehrte. 1248 berief man ihn wiederum nach Köln, um das dortige Generalstudium des Ordens aufzubauen; zwischen 1254 und 1257 war er der Leiter der deutschen Dominikanerprovinz und 1260–1262 Bischof von Regensburg, wirkte danach als päpstlicher Legat, lebte in Würzburg und Straßburg, kehrte dann aber um 1270 nach Köln zurück, wo er 1280 starb. Albert war zweifellos ein Universalgelehrter, so dass ihm seine Nachwelt zu Recht den Titel eines doctor universalis verliehen hat, denn er hat nicht nur Kommentare zu zahlreichen Schriften des Aristoteles verfasst, zumeist in der Form der Paraphrase, sondern er hat sich ebenso mit den Werken des Ps.Dionysios Areopagita befasst und war auch mit Augustinus und den arabischen Philosophen vertraut, vor allem mit Avicenna. Daneben kommentierte er die Sentenzen des Petrus Lombardus und verschiedene Bücher der Bibel, schrieb eine Summa de creaturis (»Summe über die Schöpfung«) sowie am Ende seines Lebens eine (unvollendete) Summa theologica.532 Die weltlichen Wissenschaften hatten für ihn eine eigene Berechtigung, die sich unter anderem in seinen Beiträgen zu naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Fragen spiegelt. Obwohl dabei eigene Beobachtungen eine zentrale Rolle spielten, stand für ihn in der Philosophie das Buchwissen im Vordergrund, das er zunächst zu sichten und zu ordnen, dann dem lateinischen Westen durch seine Kommentierung zugänglich zu machen suchte. So entwickelte er seine eigenen Positionen aus einer Mischung der aristotelischen, arabischen und neuplatonischen Texte, die er benutzte. Ein Beispiel bietet die am Anfang der 1240er Jahre in Paris entstandene Summa de creaturis, die bei der Glosse zur Schöpfungsgeschichte ansetzt, nach der Gott zunächst gleichzeitig vier Dinge geschaffen habe, Materie, Zeit, den Feuerhimmel und das Wesen der Engel. Materie steht dabei voran, weil sie im 531 Gilson, History, S. 275. 532 Copleston, History, 2, S. 293–94; zu letzterer Anzulewicz, Theology, S. 22–23.

Die Aristoteles-Rezeption und die großen scholastischen Systeme

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aristotelischen und neuplatonischen Sinne das ist, aus dem die Form aller Seienden erzeugt wird, und weil sie damit das »Sein« an sich ist.533 Die Zeit, die für jede Art von Wesen verschieden ist, wird als Maß von Entstehen und Vergehen benötigt, während der Feuerhimmel, das unbewegliche Empyreum, der Ort der einfachen Körper und der Engel ist. Letztere bestehen nicht aus Materie und Form, sondern werden durch ihre Wirkung fassbar.534 In der Summa de creaturis vereint Albert somit die aristotelische Philosophie mit christlichen, arabischen und neuplatonischen Vorstellungen. In seiner Summa theologica bestimmt er die Theologie als eigene Wissenschaft, die gleichwohl auf die Lehren der Philosophen zurückgreifen kann, und diskutiert die verschiedenen Formen des Seins. Für ihn gibt es nur ein Wesen, das mit seiner Form und seinem Sein völlig identisch ist, nämlich Gott. Albert verweist dabei auf die Feststellung Anselms, dass Gott unmöglich nicht existieren kann oder auch nur als Nichtseiendes gedacht werden kann, und auf eine Aussage Avicennas, dass Gott ein notwendiges Sein hat. Gott ist damit zugleich das einzige »einfache«, in sich ruhende Wesen, während alle anderen Geschöpfe schon durch die Beziehung zu ihrer Ursache zusammengesetzt sind.535 Auch in dieser, möglicherweise durch spätere Bearbeiter veränderten, Schrift stützt sich Albert wieder auf Aristoteles, die arabischen Philosophen sowie auf die mittelalterliche Tradition, bezieht aber dabei immer jeweils eine abgewogene eigene Position. Diese pragmatische Einstellung hat es ermöglicht, dass man im 15. Jahrhundert in Paris und Köln den Versuch unternahm, dem philosophischtheologischen System seines Schülers Thomas von Aquin einen eigenen »Albertismus« entgegenzustellen, allerdings mit geringem Erfolg. Dass es allerdings schon im 13. Jahrhundert nicht zu einer Schulbildung um Albert kam, lag sicher auch daran, dass der Dominikanerorden die Lehren des heiligen Thomas für verbindlich erklärte. Thomas von Aquin, der seit 1248 zu den Schülern von Albertus Magnus in Köln gehört hatte, stammte aus einer süditalienischen Adelsfamilie, wurde um 1225 auf der Burg Roccasecca bei Aquino geboren, im Kloster Montecassino erzogen und trat nach einem Studium an der Universität Neapel 1244 in den Dominikanerorden ein, der ihn nach Paris und anschließend nach Köln sandte. 1252 kehrte er nach Paris zurück und lehrte dort 1256–1259 sowie erneut 1269– 1272; dazwischen war er für die Päpste Urban IV. und Clemens IV. tätig und leitete für zwei Jahre die Ordensschule in Rom; nach 1272 baute er eine Schule seines Ordens in Neapel auf und starb schließlich im März 1274 auf dem Weg

533 Albertus Magnus, Summa de creaturis, S. 318–21; vgl. Anzulewicz, Theology, S. 42–43. 534 Gilson, History, S. 279–83. 535 Ebd., S. 290–91.

228

Philosophie und Theologie: die großen Systeme

zum Zweiten Lyoner Konzil.536 Insbesondere seine Pariser Jahre waren durch eine umfangreiche literarische Tätigkeit geprägt, aber auch in der Zwischenzeit und in Neapel entstanden zahlreiche Schriften, so Kommentare zu den aristotelischen Schriften sowie theologische Werke. Sein Hauptwerk, die Summa Theologiae, wurde um 1267 begonnen und bis in die neapolitanische Zeit fortgeführt;537 in der ersten Pariser Periode entstanden sein Sentenzenkommentar, die Schriften »Über das Sein und das Wesen« (De ente et essentia), »Über die Prinzipien der Natur« (De principiis naturae) und anderes mehr, bald darauf die »Summe gegen die Heiden« (Summa contra Gentiles); in der zweiten Pariser Periode folgten (zwölf) weitere AristotelesKommentare sowie seine Schrift »Über die Einheit des Intellekts gegen die Averroisten« (De unitate intellectus contra Averroistae). Thomas schrieb in erster Linie als Lehrer der Theologie, die für ihn von der Philosophie deutlich zu unterscheiden ist, und zwar nicht nur durch ihren Hauptgegenstand, Gott, sondern auch durch ihr Vorgehen. So gibt es zwar immer wieder inhaltliche Überschneidungen, etwa in der Metaphysik, die die Existenz Gottes beweisen kann, doch muss die Theologie Gottes Existenz und seine Selbstoffenbarung in der Welt als feste Tatsache voraussetzen, während die Philosophen mit der alltäglichen Sinneserfahrung beginnen müssen und sich nur über logische Schlüsse der Erkenntnis Gottes nähern können.538 Ungeachtet dieser deutlichen Abgrenzung setzte sich Thomas ebenso intensiv wie sein Lehrer mit den Schriften des Aristoteles und der arabischen Philosophen auseinander. Dabei sah er die aristotelischen Lehren im Wesentlichen als richtig und mit einer Reihe von Korrekturen als Grundlage für eine christliche Weltsicht an.539 Durch ihn wurde Aristoteles erst »der Philosoph« schlechthin, denn Thomas suchte nicht nur, die aristotelische Philosophie in einem christlichen Rahmen als grundlegende Sicht der Welt zu interpretieren, sondern er legte sie auch dem Aufbau und der Argumentation der Theologie zugrunde. Auch unter anderen, arabischen, jüdischen und neuplatonischen,540 Einflüssen ging er daran, die als solche nicht homogenen, allerdings schon von den Arabern, allen voran von Averroes, als Einheit empfundenen Schriften des Aristoteles zu einem christlich geprägten System zu »verdichten«. Für Thomas haben die philosophischen Disziplinen einen eigenständigen Erkenntniswert. Sie unterscheiden sich von der Theologie vor allem dadurch, dass in ihnen den Autoritäten eine geringere Bedeutung zukommt. Vor allem in der Summa Theologiae, aber auch in anderen späten Schriften, hat er das ei536 537 538 539 540

Aertsen, Aquinas’s Philosophy, S. 12–13. Thomas von Aquin, Summa Theologica. Copleston, History, 2, S. 304–07. Owens, Aristotle, S. 38. Burrell, Aquinas, S. 60–61.

Die Aristoteles-Rezeption und die großen scholastischen Systeme

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genständige Recht der natürlichen Welt mit dem Argument verteidigt, dass Gott in der Schöpfung seinen Kreaturen das Sein in vollem Umfang mitgeteilt, ihnen eine eigenständige Realität gegeben hat; und er hat damit gegen bestimmte philosophische Ansätze seiner Zeit den göttlichen Ursprung alles Seienden betont. Daraus folgt für ihn zugleich, dass alles, was ist, gut ist – omne ens est bonum.541 Das gilt gleichermaßen auch für die Körperlichkeit wie für die Leidenschaften des Menschen. So gibt es zwar ebenfalls die Sünde, doch kann sie aufgrund der Schöpfung der Welt durch Gott weder das Sein des einzelnen Menschen noch das der Welt grundsätzlich verändern oder vernichten. Wesentlich ist dabei für Thomas der Gedanke der Menschwerdung Gottes, da sich in Christus der göttliche logos mit der menschlichen Natur und damit mit der Welt verbunden hat und diese so – gegen die Vorstellungen der Manichäer und Katharer – nicht grundsätzlich schlecht sein kann. Wir können Gott nur unvollständig, durch seine Geschöpfe und somit »analogisch« erkennen. Zwei Dinge können wir mit Sicherheit feststellen: dass er völlig anders ist als alle seine Geschöpfe und dass er in sich selbst ruhen muss, um Ursache alles anderen zu sein. Zwar sind nur begrenzte Aussagen über Gott möglich, weil alle unsere Begriffe, selbst der der Existenz, für ihn nicht mehr greifen; zugleich lassen sich jedoch aufgrund von Ähnlichkeiten und Beziehungen ebenso wahre Aussagen ableiten. So lässt sich auch das Sein Gottes beweisen, allerdings nicht durch den »ontologischen Gottesbeweis« Anselms, den Thomas strikt ablehnt,542 sondern durch Argumente, die sich aus dem Werk des Aristoteles gewinnen lassen. Ausgangspunkt ist die Existenz sinnlich erfahrbarer Realität, die eine Ursache haben muss; da die Ursachenkette aber nicht endlos sein darf, um die Realität erklären zu können, muss es eine erste Ursache geben, die wir Gott nennen. Thomas verweist dazu auf die aristotelische Argumentation für die von uns sinnlich erfahrbare Bewegung: Diese braucht eine stetige Ursache, die ihrerseits erklärt werden muss; und um einen unendlichen Regress zu vermeiden, muss man schließlich einen unbewegten Beweger, eine erste Ursache, annehmen.543 Daneben greift Thomas auf weitere Argumente zurück, die einen Gottesbeweis ermöglichen, so auch auf Anselms Argument der Notwendigkeit einer höchsten Perfektion, wenn sich verschiedene Grade der Perfektion an den Dingen der Welt beobachten lassen.544 Mit dem Nachweis Gottes als Wirkursache alles Seienden wird aber zugleich Gott als Urheber der Schöpfung erkennbar. Da er absolut und unendlich ist, ist in ihm die Existenz und die Perfektion alles Seienden angelegt. 541 Thomas von Aquin, Summa Theologica, I, qu. 5, art. III, 1, S. 31; Te Velde, Participation, S. 49–53. 542 Thomas von Aquin, Summa Theologica, I, qu. 2, art. I, 1, S. 12; vgl. Copleston, History, S. 337–38. 543 Gilson, History, S. 369–70. 544 Kenny, Aquinas, S. 139–41.

230

Philosophie und Theologie: die großen Systeme

Sie wird durch die Schöpfung umgesetzt, die als ganze begriffen werden muss und aus dem Nichts erfolgt, also nichts voraussetzt, nicht einmal Materie. Der Vorgang der Schöpfung ist völlig unabhängig von anderen Einflüssen, d. h., alle Seienden sind kontingent, zufällig, in Bezug auf Gott. Die Schöpfung kommt aus dem freien Willen Gottes zustande,545 ohne eine Änderung im göttlichen Wesen. Ihr Ursprung in Gott ergibt sich jedoch auch aus der in ihr herrschenden Ordnung und der Ausrichtung auf feste Ziele. Anders als dies einige arabische Philosophen, besonders Avicenna, angenommen haben, kann von einer Ursache mehr als eine Wirkung ausgehen. Als reine Intelligenz enthält Gott vielmehr bereits alle durch die Vernunft erfahrbaren Dinge, die die Formen der Dinge in der Welt darstellen, auch wenn sie zunächst nur in seinem Denken existieren. An der Spitze der Schöpfung stehen die Engel, die unkörperlich und immateriell sind. Sie sind, wie alle Seienden, aus Existenz und Wesen zusammengesetzt, haben aber unter allen Geschöpfen die einfachsten Strukturen und werden so kaum als Individuen erkennbar. Unter ihnen besteht eine Hierarchie, die sich mit dem Menschen fortsetzt, der durch seine Seele mit den immateriellen Seienden verbunden ist, auch wenn diese nicht mehr der reinen Intelligenz der Engel entspricht, da sie notwendig mit einem Körper verbunden sein muss. Der Mensch ist nach der Vorstellung des heiligen Thomas somit in zweifacher Hinsicht ein zusammengesetztes Wesen: aus Seele und Körper, wie alle Seienden aus Form und Materie bestehen, ebenso aber auch aus Wesen und Existenz, da die Seele ein wirkliches Sein empfangen muss, bevor sie die Existenz an alle Teile des Körpers weitergeben kann.546 Indem sich Thomas die aristotelischen Lehren zueigen machte und auch für die Theologie das allgemeine Wissenschaftsverständnis übernahm, galt er bei vielen seinen Zeitgenossen als Aristoteliker und zog die Kritik der Theologen auf sich. Seine neue Theologie war aber auch ein neuer Ansatz in der Metaphysik, der weitreichende Folgen hatte, für das Verständnis der Form wie für das Bild des Menschen. Dieser konnte sich jetzt als ein Individuum verstehen, das in den Gedanken Gottes und durch göttlichen Willen entstanden war.547 Thomas löste damit nicht nur eine rege philosophische Debatte aus, sondern wirkte zugleich schulbildend: Seither bezogen und beziehen sich Philosophen und Theologen immer wieder auf thomistische Positionen oder ordneten sich dem Thomismus zu. Die einflussreichen Gelehrten aus dem Dominikanerorden, Albertus Magnus und Thomas von Aquin, dürfen aber nicht vergessen machen, dass es im 13. Jahrhundert daneben noch weitere Ansätze für philosophisch-theologische 545 Stump, Aquinas, S. 109. 546 Gilson, History, S. 372–76. 547 Ebd., S. 383.

Die Aristoteles-Rezeption und die großen scholastischen Systeme

231

Systeme gegeben hat, nicht zuletzt beim zweiten großen Bettelorden, den Franziskanern. So hat ein Zeitgenosse des heiligen Thomas, Bonaventura, als Giovanni di Fidenza um 1220 in der Toskana geboren und wie Thomas 1274 verstorben,548 in seinen zahlreichen, in Paris verfassten Werken ähnlich versucht, Brücken von der Theologie zu den Lehren des Aristoteles zu schlagen,549 unter anderem in der kleinen Schrift »Über die Zurückführung der [freien] Künste auf die Theologie« (De reductione artium ad theologiam) und im »Weg des Geistes zu Gott« (Itinerarium mentis in Deum). So übernimmt er aristotelische Theorien und Begriffe wie die Zusammensetzung der Dinge aus Form und Materie, interpretiert sie aber vor dem Hintergrund anderer Vorstellungen, z. B., indem er Form und Materie auch den Engeln zuweist und Materie deshalb als reine Potentialität verstehen muss.550 Bonaventura bezog zwar während der dogmatischen Auseinandersetzungen an der Pariser Universität seit den 1250er Jahren Stellung gegen extreme aristotelische Positionen, darf deshalb jedoch noch nicht als Anti-Aristoteliker verstanden werden. Andererseits war sein Zugang zur Metaphysik eher durch Plato und vor allem Augustinus als durch Aristoteles geprägt. Noch eigenständiger war der Weg eines anderen Franziskaners, des Engländers Roger Bacon (um 1215–1292), der zunächst in Oxford, dann in Paris studiert hatte und dem Orden 1247 beitrat. Neben mathematisch-naturwissenschaftlichen Schriften und einem theologischen Kompendium, an dem er noch in seinem Todesjahr arbeitete, hinterließ er als sein Hauptwerk das Opus maius (»Das größere Werk«), das durch ein Opus minus und ein Opus tertium, ein kleineres und ein »drittes« Werk ergänzt wird.551 Bei seiner Auseinandersetzung mit den aristotelischen Lehren orientierte er sich vor allem an Avicenna, dessen Interpretation er in seinem enzyklopädischen Überblick über die Wissenschaften zugrunde legte. Dabei betonte er den besonderen Wert des experimentum, der Erfahrung.552 Diese ist für Bacon auf zweifache Weise denkbar: als innere und spirituelle, deren höchste Form zu einem innerlichen Leben und zur Mystik führt; und als äußere, die durch die Sinne gewonnen werden kann und die Grundlage allen wissenschaftlichen Wissens bildet. In diesem Zusammenhang führt Bacon den Begriff der »Erfahrungswissenschaft« (scientia experimentalis) ein,553 die für ihn anders als die deduktiven Wissenschaften größere Sicherheiten erlaubt, über die bisherigen Kenntnisse hinausführt und einen eigenständigen Zugang zu den Geheimnissen 548 549 550 551 552 553

Zu seinen biographischen Daten s. Hammond, Dating. Ein Beispiel ebd., S. 218–19. Copleston, History, 2, S. 272. Ebd., S. 444. Hackett, Experientia, S. 109–12. Ebd., S. 112–14; vgl. Hackett, Roger Bacon.

232

Philosophie und Theologie: die großen Systeme

der Natur erlaubt, allerdings auch zur Zukunft in Gestalt der Ankunft des Antichrist, die die Kirche und die Fürsten mit Hilfe der scientia experimentalis verhindern könnten.554 Bacon stand mit seinen Vorstellungen in einer eigenen Oxforder Tradition, die unter anderem durch Robert Grosseteste begründet worden war und Mathematik und Naturerkenntnis besonderes Gewicht beimaß. Es waren jedoch zwei andere unter anderem in Oxford wirkende Franziskaner, die am Anfang des 14. Jahrhunderts auf ihre Weise auf die von der Dominikanerschule ausgehenden Anregungen antworten sollten, Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham.

IV.

Die großen scholastischen Systeme des 14. Jahrhunderts

Mit dem 13. Jahrhundert war die Zeit der großen philosophisch-theologischen Entwürfe noch nicht zu Ende; vielmehr wirkte der von Thomas von Aquin gegebene Impuls auch im 14. Jahrhundert fort. Manche der Philosophen und Theologen sahen jedoch in seinen Lösungen eine unzulässige »Durchsetzung« der christlichen Vorstellungen mit den Lehren des Aristotelismus und suchten deshalb eigene Wege. Zu ihnen gehörte der um 1265/1266 in Schottland geborene Johannes Duns Scotus, der früh den Franziskanern beitrat, 1291 in Northampton zum Priester geweiht wurde und 1300 in Oxford sowie seit 1302 in Paris über die Sentenzen des Petrus Lombardus las; er starb 1308 in Köln. Sein SentenzenKommentar ist getrennt nach den Orten seiner Vorlesungen überliefert, als Opus Oxoniense bzw. Parisiense; dazu kommen weitere Schriften, die bei der nach seinem frühen Tod erfolgten Bearbeitung durch seine Schüler offenbar teilweise verändert wurden, so etwa die Quaestiones quodlibetales und die Collationes, die wohl die Lehre in Paris spiegeln, sowie ein Problem-Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles.555 Duns Scotus suchte sich vor allem durch seine Erkenntnistheorie vom Ansatz des heiligen Thomas abzugrenzen.556 Für ihn kann der menschliche Verstand alles sinnlich Erfahrbare erkennen, d. h. alles, das existiert, nicht nur die stofflichen und physikalischen Gegenstände unserer Umwelt. Zwar gibt es im irdischen Leben Grenzen in der Tiefe der Erkenntnis, aber zumindest unter den Bedingungen des jenseitigen Lebens könnten wir ebenso die geistigen Wirklichkeiten unmittelbar erfassen. Dies kann schon deshalb nicht anders sein, weil wir uns sonst kaum sinnvoll mit metaphysischen (oder theologischen) Fragen 554 Gilson, History, S. 310–11. 555 Zu Leben und Werk ausführlich Vos, Philosophy, S. 13–101. 556 Copleston, History, 2, S. 488–89 und ff.

Die großen scholastischen Systeme des 14. Jahrhunderts

233

befassen könnten. Duns Scotus hielt es so auch für möglich, mit Hilfe der Vernunft – und durch göttliche Gnade – zu einer intuitiven Gotteserkenntnis zu kommen,557 selbst wenn er sich für die Art und Weise der Erkenntnis weitgehend den aristotelischen Vorgaben anschloss und die Rolle der Sinneserfahrung betonte. Dabei unterscheidet er jedoch im Vorgang des Erkennens das Hinblicken vom Begreifen, die intuitive Erkenntnis von der bewussten Begriffsbildung, für die er präzise Kategorien zu entwickeln sucht.558 Daraus ergeben sich für ihn unterschiedliche Weisen der Aussage, der Prädikation. So kann z. B. der Begriff seiend »washeitlich«, auf seinen allgemeinsten logischen Kern hin, oder »eigenschaftlich«, auf seine ihn unterscheidenden Bestimmungen hin, verwandt werden. Ähnlich unterzieht Duns Scotus auch andere Begriffe einer logischen Analyse. Einzeldinge lassen sich als Strukturkomplexe verstehen und nach Bestandteilen, formalen Aspekten und Modi differenzieren. Die Lehren des schon in der Scholastik als doctor subtilis (»scharfsinniger Gelehrter«) charakterisierten Johannes Duns Scotus wurden bald nach seinem Tode zum grundlegenden philosophisch-theologischen System der Franziskaner erklärt, ähnlich wie die des heiligen Thomas für die Dominikaner oder die des Ägidius Romanus für die Augustiner-Eremiten. Da seine zentralen Gedanken zu Freiheit, Individualität und zu den Begriffen in der Wissenschaft in den folgenden Diskussionen immer wieder aufgegriffen wurden, führte dies zu einer Schulbildung, wobei der in Opposition zum Thomismus stehende Skotismus des ausgehenden Mittelalters nicht immer viel mit den Vorstellungen des Duns Scotus gemeinsam hatte.559 Diese Schulbildung führte dazu, dass nun auch die Werke der jeweiligen »Patrone« kommentiert wurden, etwa die des heiligen Thomas durch Johannes Capreolus († 1444). Aber die Thomisten, Skotisten und Albertisten des ausgehenden Mittelalters arbeiteten im Wesentlichen nur am bestehenden »System«, ohne einen grundlegenden Neuansatz zu versuchen. Ihrem »alten Weg«, der via antiqua, der begriffsrealistischen Position, stellte sich seit der Mitte des 14. Jahrhunderts eine andere Ausrichtung entgegen, der »neue Weg«, die via moderna, die »nominalistische« Position, die durch das Wirken eines anderen Oxforder Franziskaner-Gelehrten Auftrieb erhielt, des um 1280/1285 in Ockham in Surrey geborenen Wilhelm von Ockham.560 1309/10 begann er mit dem Studium der Theologie in Oxford, wo er zwischen 1315 und 1319 über die Bibel und die Sentenzen des Petrus Lombardus Vorlesungen hielt. Damit stieß er auf den Widerspruch des Kanzlers der Universität, 557 558 559 560

Vos, Philosophy, S. 325, 327. Ebd., S. 322–26. Honnefelder, Scotus. Leppin, Wilhelm von Ockham, S. 5–6.

234

Philosophie und Theologie: die großen Systeme

John Lutterell, der ihn 1323 an der Kurie häretischer Irrlehren beschuldigte, noch bevor Ockham seine Lehrbefugnis als Doktor der Theologie erhalten hatte.561 Er musste sich daraufhin in Avignon vor einer Kommission rechtfertigen, und als sich seine Lage zu verschlechtern schien, schloss er sich dem Generalminister des Ordens an, Michael von Cesena, der 1328 an den Hof des römisch-deutschen Königs und Gegenspielers des Papstes, Ludwigs des Bayern, nach München floh. Fortan nahm er in zahlreichen polemischen Schriften gegen das Papsttum Stellung, bis er wohl an der Pest 1349 in München verstarb. Neben seinem Sentenzenkommentar und politischen Schriften wie dem »Werk der Neunzig Tage« (Opus nonaginta dierum) hat er zahlreiche logische Schriften und weitere Aristoteles-Kommentare verfasst, die wahrscheinlich alle aus der Oxforder Zeit stammen. Auch Ockhams Vorstellungen von Gott und Welt sind vor allem durch die Theologie geprägt. So betont er die Allmacht Gottes, der für ihn – wie für andere Denker des 14. Jahrhunderts – alles das tun kann, was keinen logischen Widerspruch impliziert. Dieser potentia Dei absoluta, absoluten göttlichen Allmacht, die die völlige Kontingenz der weltlichen Dinge und der aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse zur Folge hat, steht allerdings die Tatsache gegenüber, dass sich Gott durch die Schöpfung auf gewisse Weise festgelegt hat, in Gestalt der »geordneten göttlichen Allmacht«, der potentia Dei ordinata. Dadurch können wir auch für die Welt zu gesicherten philosophischen und metaphysischen Einsichten gelangen; ebenso, wie dies die Gültigkeit von Gottesbeweisen ermöglicht. Ockham ist dabei am meisten vom Argument überzeugt, dass die faktische, aus vielen Einzeldingen bestehende Welt ein nicht-faktisches, notwendiges Seiendes zu ihrer Erhaltung benötigt, Gott. Überhaupt ist die Welt für Ockham allein aus Einzeldingen aufgebaut, auf denen unser Wissen beruht; die eigenständige Existenz von »Ideen« oder »Universalbegriffen« lehnt er ab. Wissenschaft kann sich so nur auf der Ebene von Sätzen konstituieren; das eigentliche Wissen sind dann nicht mehr die Gegenstände, sondern die Sätze selbst. Damit wird für ihn die Logik in Philosophie und Theologie zur grundlegenden Hilfswissenschaft. An die Lehren Ockhams schloss sich ebenfalls eine Schulbildung an, die in ihren verschiedenen Ausprägungen als »Nominalismus«, »Terminismus« oder eben via moderna bezeichnet wird und in mancher Hinsicht, vor allem im Umgang mit Begriffen, tatsächlich »moderner« als die Vorstellungen eines Albertus Magnus, Thomas von Aquin oder Johannes Duns Scotus wirkt. Dabei darf man jedoch den theologisch-kirchlichen Hintergrund der Zeit nicht vergessen. Dieser spielte, vor allem durch den Einfluss des Kirchenrechts, auch für die Entwicklung der mittelalterlichen Rechtswissenschaft eine bedeutende Rolle.

561 Ebd., S. 105–11.

11. Geistliches und weltliches Recht

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Rechten erwuchs im Mittelalter zwar zum einen immer aus den praktischen Problemen der Rechtsprechung, war aber zum anderen auch durch philosophische und theologische Grundsätze bestimmt. Das galt jedoch für die verschiedenen Bereiche und Traditionen des Rechts in unterschiedlichem Maße, wobei selbst für die verschiedenen »Rechtskreise«, das kirchliche oder kanonische, das römische (oder Zivil-) und das germanische (oder Gewohnheits-)Recht, keine einheitlichen Aussagen möglich sind. Die philosophisch-theologischen Einflüsse auf das Recht werden vor allem in der Unterscheidung zwischen göttlichem und menschlichem Recht fassbar, die immer wieder in den Quellen zu finden ist. Während das menschliche Recht durch kirchliche und weltliche Autoritäten auf legitime Weise gesetzt, damit aber auch veränderlich ist, ist das göttliche Recht im Grundsatz unveränderbar. Es umfasst zum einen sittliche und rechtliche Normen, die von Gott allein gegeben sind und als Naturgesetz oder Naturrecht verstanden werden, zum anderen Normen, die in der Offenbarung als göttlich bezeichnet und in gewissem Sinne auch durch die dogmatische Auslegung geprägt sind, das positive göttliche Recht.562 Die Vorstellung von einem allen Völkern gemeinsamen Naturrecht, das grundlegende sittliche Verhaltensweisen vorschreibt, entwickelte sich bereits in der Antike, unter anderem bei Cicero oder bei Juristen wie Ulpian. Sie wurde dann auch vom Christentum übernommen, wobei z. B. Augustinus darauf verwies, dass die Erbsünde die Natur des Menschen verändert habe und dass das Naturrecht deshalb nur mit dem Glauben und der Gnade erkannt werden könne. In der kanonisch-rechtlichen Tradition entstand daraus eine enge Verbindung zwischen Naturrecht und positivem göttlichem Recht. Für den Bologneser Kamaldulensermönch Gratian, der um 1140 die lange maßgebliche Kompilation des Kirchenrechts zusammenstellte, war das Natur-

562 Freitag, Ius divinum; Merks, Göttliches Recht, S. 260.

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Geistliches und weltliches Recht

recht unmittelbar im Alten und Neuen Testament enthalten.563 Mit der Erneuerung des Naturbegriffs in der Renaissance des 12. Jahrhunderts, unter anderem durch Alain de Lille (Alanus ab Insulis), entstand die Vorstellung von Sünden gegen die Natur, die sich gegen die Vernunft und gegen die Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft richten. Daran knüpfte wiederum Thomas von Aquin an, der in seiner Summa Theologiae und seinem Sentenzenkommentar das Naturrecht im weiteren Sinne als eine dem Menschen als vernunftbegabtem Wesen eigene Tendenz beschrieb und es mit dem Völkerrecht in Verbindung brachte. Thomas unterscheidet dabei zwischen »ersten« und »zweiten Vorschriften« (prima, secunda praecepta): Die »ersten Vorschriften« beziehen sich auf ein Verhalten, das für die Ziele der Natur absolut notwendig ist, die »zweiten« dienen nur einer besseren Umsetzung dieser Ziele.564 Wilhelm von Ockham hat dagegen ein objektives Naturrecht abgelehnt, weil er gegen die Vorstellung einer »menschlichen Natur an sich« eintrat. Aber auch für ihn ist es im Sinne der göttlichen Vorschriften, wenn sich die Menschen an den für das Leben in einer Gesellschaft erforderlichen Normen orientieren. Zudem gibt es nach Ockham so etwas wie ein »subjektives Naturrecht«, den Anspruch des Menschen auf ihm seinem Wesen nach zustehende Güter und Rechte – gewissermaßen auf »Menschenrechte«. Positives göttliches Recht und Naturrecht stehen somit insgesamt bei allen mittelalterlichen Autoren über dem menschlichen Recht in allen seinen Ausformungen. Sie bildeten eine Instanz, an der sich das kanonische, das römische und die germanischen Rechte überprüfen lassen mussten. Daraus wird bereits erkennbar, dass Recht im mittelalterlichen Sinne, wie unter anderem Karl Kroeschell gegen die ältere rechtshistorische Forschung hervorgehoben hat,565 eben nicht unveränderlich und dauerhaft war (als »gutes altes Recht«) und nicht nur tradiert bzw. jeweils nur »wiedergefunden« werden musste. Dies wird auch anhand der Begrifflichkeit deutlich. Der häufigste Quellenbegriff für Recht ist ius; dieser meinte jedoch zunächst – anders als noch im antiken Kontext – nicht mehr das allgemeine (objektive) Recht, sondern die jeweiligen Rechte des Einzelnen, vor allem im Hinblick auf den persönlichen Besitz. Der Gegenbegriff dazu ist lex, der das Gesetz bzw. das objektive Recht meint. Die volkssprachlichen Bezeichnungen sind dann nach den lateinischen Vorbildern geprägt worden. Für ius stand im deutschen Sprachraum zunächst kiwalt (»Gewalt«), bis es durch den entsprechenden Begriff reht (»gerade, rich-

563 Weigand, Problematik, S. 241. 564 Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I,2, qu. 100, art. III, ad 1, 2, S. 571–72; vgl. Speer, Naturgesetz, S. 365. 565 Kroeschell, Recht, Sp. 510.

Geistliches und weltliches Recht

237

tig«) verdrängt wurde; lex entspricht ê bzw. êwa (im Sinne von »Recht«, »Rechtsgemeinschaft« oder »Bund«). Bei beiden Begriffsfeldern spielt die Unwandelbarkeit oder das alte Herkommen des Rechts keine Rolle. Eine Ausnahme bildet nur die consuetudo, für die im Deutschen mit giwonaheite (»Gewohnheit«) ein eigener Begriff »erfunden« werden musste. Lange bestehende Gewohnheiten konnten schon im Römischen Recht Vorrang vor dem Gesetz erhalten, und auch die Kirchenväter billigten die Anwendung von Gewohnheitsrecht, wenn es nicht dem Naturrecht oder dem positiven göttlichen Recht widersprach. Der Vorrang von Gewohnheiten wurde jedoch lange als Neuerung empfunden, bis zum 12. Jahrhundert, als grundlegende Wandlungen eintraten. Seit dieser Zeit gewann aufgrund kanonistischer Einflüsse die Theorie an Bedeutung, dass im Prinzip alles Recht als Gewohnheitsrecht entsteht. Mit der Rechtskompilation des gelehrten Schöffen Eike von Repgow, dem »Sachsenspiegel« (um 1220/1230), setzte sich diese Vorstellung auch im deutschsprachigen Recht durch, ebenso wie eine Begriffserweiterung von ius bzw. reht: Dieses bezeichnete schon seit dem 12. Jahrhundert nicht mehr nur das subjektive, sondern auch das objektive Recht. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass sich lange Zeit ein erheblicher Teil der Rechtshandlungen mündlich vollzog, so dass der aus den schriftlichen Rechtsquellen zu gewinnende Eindruck keineswegs vollständig ist und sogar der normative Charakter der Texte infrage gestellt werden könnte. So gilt z. B., dass Urkunden ursprünglich nur die nachträgliche schriftliche Fixierung eines vorangegangenen mündlich-symbolischen Rechtsakts darstellten und erst allmählich die Ausfertigung der Urkunde an dessen Stelle trat. Aber auch danach blieben Hören und Lesen, öffentliche Kundgabe und rechtliche Inszenierung von großer Bedeutung, wie sich unter anderem aus den Urkundenformeln erschließen lässt. Dabei war die Verwendung der korrekten (Rechts-)Sprache gleichermaßen wesentlich wie die der Gesten und Gebärden. Dazu kam eine eigene Rechtssymbolik, die abstrakte Zusammenhänge verdeutlichte, wie etwa ein Stab oder Schwert die Gerichtshoheit.566 Das Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Tradition wird in der Forschung seit langem unter dem Aspekt der »pragmatischen Schriftlichkeit« untersucht, sind doch gerade im Bereich des Rechts die Grenzen vielfach fließend.567 So bilden z. B. die Weistümer schriftlich niedergelegte Rechtssätze, die auf eine ältere mündliche Tradition zurückgreifen, und auch in den städtischen Rechten wurden viele länger bestehende Satzungen erst nachträglich schriftlich fixiert. In diesem Kontext kommt wiederum dem Gewohnheitsrecht besondere Bedeutung

566 Ebd., Sp. 511–12. 567 S. u.a. Schmidt-Wiegand, Rechtsbücher, S. 441–42, 455–56.

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Geistliches und weltliches Recht

zu, das sich auf das alte Herkommen und damit in der Regel auf eine mündliche Tradition beruft. Diese Probleme können jedoch in diesem Kapitel nur am Rande berücksichtigt werden. Am Anfang soll vielmehr die Entwicklung des geistlichen und des weltlichen Rechts getrennt verfolgt werden, im ersten Abschnitt die des Kirchenrechts, im zweiten die des weltlichen Rechts. Der dritte Abschnitt soll dann einen Eindruck von der Auseinandersetzung mit den Rechten an den Universitäten geben, der vierte wird knapp die Rolle der Juristen im »öffentlichen Leben« des ausgehenden Mittelalters umreißen.

I.

Die Systematisierung des Kirchenrechts

Alle Religionen definieren nicht nur das Verhältnis des Menschen zu Gott, sondern geben ebenso generelle Verhaltensregeln, die sowohl den Einzelnen wie auch das Verhältnis der Menschen untereinander betreffen. Im Christentum bildet dafür die Bibel die zentrale Grundlage, die als gewachsenes Korpus von Schriften bereits der Interpretation bedarf, die durch die Kirchenväter und die späteren Theologen geleistet wurde. Zudem entstand seit der Ausbildung der gemeindlichen Strukturen im zweiten Jahrhundert ein eigenes Kirchenrecht,568 das auf der Basis sakraler Legitimation die Strukturen der kirchlichen Gemeinschaft auf Erden immer neu definierte, durch Verfügungen der Bischöfe und Päpste, durch Beschlüsse von Synoden und Konzilien. Dieser immer unübersichtlicher werdenden Überlieferung suchte man schon früh durch Rechtssammlungen Herr zu werden. Das betraf zunächst vor allem die Beschlüsse (canones) der acht ökumenischen bzw. als allgemeingültig akzeptierten Konzilien: Nikaia I (325), Konstantinopel I (381), Ephesos (431), Chalkedon (451), Konstantinopel II und III (553 bzw. 680/81), Nikaia II (787) und Konstantinopel IV (869). Schon 451 auf dem Konzil von Chalkedon wurde eine griechischsprachige, in der Ostkirche allgemein anerkannte Sammlung von canones benutzt, die im 6. Jahrhundert durch systematische Kompilationen ersetzt wurde, durch die 50-Titelsammlung des antiochenischen Anwalts Johannes und durch die jüngere 14-Titelsammlung.569 Schon im 4. Jahrhundert, nach der für Rom bedeutenden Synode von Serdika (Sofia) 343, entstand die älteste westliche Kanonessammlung. Eine größere, umfassendere folgte nach einem Streit zwischen Rom und Karthago 419. Diese nach ihrer Überlieferung so genannte »Freising-Würzburger Sammlung« (oder

568 Feine, Rechtsgeschichte, S. 1. 569 Ebd., S. 90–92.

Die Systematisierung des Kirchenrechts

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Isidoriana antiqua) zerfiel bald jedoch in verschiedene Bestandteile und wurde als Steinbruch benutzt, auf dem verschiedene andere Kompilationen aufbauten. Zu den einflussreichsten neueren Sammlungen gehörte die Dionysiana, die Dionysius Exiguus zwischen 498 und 501 in Rom vor allem durch die Übersetzung griechischer Konzilskanones und die Ergänzung von 50 »Apostelkanones« zusammentrug.570 Auch in Nordafrika und in Spanien führte unter anderem die Tradition, die Beschlüsse früherer Synoden auf späteren Versammlungen bestätigen zu lassen, wie dies etwa für die Synoden von Karthago (419) und Braga (561) belegt ist, im 5., 6. und 7. Jahrhundert zur Erstellung von Kanonessammlungen. Die weiteste Verbreitung erfuhr die um 633 entstandene Hispana (vulgata), die in der Überlieferung fälschlich mit Isidor von Sevilla in Verbindung gebracht und Ende des 7. Jahrhunderts noch einmal systematisch bearbeitet wurde. Neben den Konzilien und Synoden spielte aber schon früh die Autorität der Bischöfe für die Entwicklung des Kirchenrechts eine wichtige Rolle, auch in der Ostkirche. Gestützt auf eine Verfügung Kaiser Gratians von 378 über die geistliche Gerichtsbarkeit der römischen Bischöfe im Westen des Römischen Reiches, hat Papst Siricius (384–399) die Verfügungen des apostolischen Stuhls, die Dekretalen, mit den Konzilskanones gleichgesetzt und für alle Kleriker als verbindlich erklärt. Diese gingen so schon früh auch in den Kanonessammlungen ein, wobei Dionysius Exiguus in die Dionysiana erstmals eine chronologisch geordnete Zusammenstellung der päpstlichen Dekretalen aufnahm, die von Siricius bis Anastasius II. († 498) reicht, und damit den Späteren nachdrücklich die Gleichwertigkeit von Dekretalen und Konzilsgesetzgebung vor Augen führte. Die Dionysiana setzte sich im Laufe der Entwicklung gegen die anderen Sammlungen durch und wurde 802 unter Karl d. Gr. auf einer Reichsversammlung in Aachen neben der Hispana (oder Isidoriana) auch im Frankenreich als grundlegende Rechtssammlung akzeptiert.571 Die Dionysiana oder Dionysio-Hadriana, wie sie wegen der Übergabe des Textes durch Hadrian I. an Karl d. Gr. 772 auch bezeichnet wird, erfuhr jedoch im Frankenreich nur eine begrenzte Aufnahme, zumal sie durch irische Kompilationen Konkurrenz erhielt. Die Situation wurde durch die aus dem irisch-angelsächsischen Bereich stammenden, aber auch im Frankenreich fortgeführten Bußbücher kompliziert, die ebenfalls kirchenrechtliche Bestimmungen enthalten. Zudem hatten die Reichs- und Teilreichssynoden der Merowingerzeit dauerhaftes Kirchenrecht geschaffen, das seit dem 9. Jahrhundert durch weitere Beschlüsse ergänzt wurde; und auf Bistumsebene wurden die Beschlüsse der Synoden durch eigene Statuten umgesetzt und ergänzt. Schließlich griffen ins570 Schwarz, Kanonessammlungen, S. 110–13. 571 Feine, Rechtsgeschichte, S. 94.

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Geistliches und weltliches Recht

besondere die karolingischen Herrscher mit ihrer Kapitulariengesetzgebung in den kirchlichen Rechtsbereich ein. Diese unklare Situation löste – zusammen mit königlichen Übergriffen auf Kirchengut, mit der Einsetzung von Laienäbten und der verstärkten Übernahme weltlicher Aufgaben durch den Reichsepiskopat – das Bedürfnis neuer kirchlicher Rechtssammlungen aus, in die auch verfälschte oder erfundene Privilegien, Dekretalen und Konzilsbeschlüsse aufgenommen wurden. Ein Beispiel dafür ist die Sammlung eines »Benedictus Levita«, nach eigenen Angaben Diakon der Mainzer Kirche, der vorgeblich im Auftrag von Erzbischof Otgar († 847) einer Zusammenstellung von Kapitularien zahlreiche Texte aus anderen Quellen hinzufügte.572 In diesem Kontext wurde auch die Hispana zunächst in Autun überarbeitet, dann aber Mitte des 9. Jahrhunderts zu einer Sammlung mit umfangreichem gefälschtem Material umgestaltet, die unter Bezug auf Isidor von Sevilla und einen spanischen Autor des 5. Jahrhunderts, Marius Mercator, einem »Isidor Mercator« zugeschrieben ist. Diese sogenannten »Pseudo-Isidorischen Dekretalen« geben sich als vollständige Sammlung des geltenden Kirchenrechts und enthalten neben dem Material der veränderten gallischen Hispana unter anderem einige wenige echte und 105 gefälschte Papstbriefe von Clemens I. bis Gregor II. (um 90–731) sowie die wohl im 9. Jahrhundert im Frankenreich produzierte »Konstantinische Schenkung« (Donatio oder Constitutum Constantini).573 Die meisten dieser Fälschungen sind nicht komplett erfunden, sondern stützen sich partiell oder ganz auf ältere Vorlagen, die auf eine neue Weise kompiliert wurden. Im Hintergrund dieser Kompilation und ihrer Fälschungen stand das Bestreben, die Stellung der Bischöfe gegenüber den Erzbischöfen und ihren Provinzialsynoden sowie gegenüber weltlichen Eingriffen zu stärken; zugleich sollten alle größeren Streitfälle in Rom entschieden und die Synoden letztlich vom Papst kontrolliert werden. Obwohl die »Pseudo-Isidorischen Dekretalen« wohl um 845/51 in Reims entstanden,574 wurden sie schon bald durch die Päpste benutzt, 853 durch Leo IV. und seit 863 durch Nikolaus I. Faktische Bedeutung erlangten sie insbesondere seit dem Investiturstreit und gingen unter anderem in die kirchenrechtliche Sammlung Gratians ein. Auch wenn schon Erzbischof Hinkmar von Reims die Echtheit einiger Stücke infragestellte, wurden grundsätzliche Zweifel erst im 15. Jahrhundert formuliert, so bei Nikolaus von Kues († 1464) und dem Kirchenrechtler Juan de Torquemada († 1468), und der endgültige Nachweis der Fälschungen erfolgte erst Anfang des 17. Jahrhunderts.

572 Lukas, Sammlung, S. 2. 573 Zu Datierung und Entstehung u. a. Fried, Herkunft, bes. S. 604. 574 Feine, Kirchengeschichte, S. 155; Knibbs, Ebo, bes. S. 181.

Die Systematisierung des Kirchenrechts

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Der Bedarf an kirchlichen Rechtssammlungen war damit aber noch nicht gedeckt; vielmehr wurden seit der Karolingerzeit immer neue Versuche unternommen, das überlieferte Material zu sammeln und zu ordnen. So sammelte z. B. der Abt Regino von Prüm († 915) in zwei Büchern »Über die Angelegenheiten der Synoden und die kirchliche Ordnung« (De causis synodalibus et disciplinis ecclesiasticis) zahlreiche Bestimmungen über die konkrete Verwaltung der Bistümer, und auf dieser Grundlage wie auf der anderer Texte schuf um 1025 Bischof Burchard von Worms ein umfassendes kirchenrechtliches »Handbuch«, das Collectarium oder Decretum. Es handelt in 20 Büchern auch Fragen der Bußpraxis und der Seelsorge ab575 und erfuhr im 11. Jahrhundert in Deutschland, Italien und Frankreich weite Verbreitung. Auf Burchard baute seinerseits Bischof Ivo von Chartres († 1115) auf, der wohl zwischen 1094 und 1096 drei Sammlungen anlegte: die Collectio trium partium (»dreiteilige Sammlung«), die unter anderem eine chronologische Zusammenstellung von Dekretalen und Konzilsbeschlüssen enthält; das systematisch geordnete Decretum sowie die für den praktischen Gebrauch bestimmte Panormia in acht Büchern. Auch die Werke Ivos wurden vielfach rezipiert; die Panormia erschien 1499 in Basel sogar im Druck.576 Methodisch brachte in dieser Zeit die Wiederbelebung der Logik Fortschritte. So stellte z. B. Bernold von Konstanz († 1100) in einem Werk über das Verhalten gegenüber Exkommunizierten Regeln für die Interpretation kanonisch-rechtlicher Texte auf. So heißt es in seiner kleinen Schrift: »Zögere nicht, nicht nur Auszüge aus den kanonischen Regeln, sondern ihre gesamten Beschreibungen sorgfältig zu betrachten und miteinander zu vergleichen, um zu ihrer vollständigen Kenntnis zu gelangen. Denn wenn man jedes Kapitel in seinem Kontext betrachtet, wird meist hinreichend klar, was vom einzeln Untersuchten kaum oder nie abzuleiten ist. […] Der Vergleich verschiedener Statuten miteinander hilft uns sehr, weil oft das eine das andere erläutert. Die Betrachtung aber der Zeiten, Orte und Personen erlaubt uns oft ein Verständnis dafür, dass die Unterschiede in den Statuten weder absurd noch gegensätzlich scheinen, wenn man die Unterschiede der Zeiten, Orte oder Personen berücksichtigt. […] Das jedenfalls ist eifrig zu untersuchen und fest im Gedächtnis zu halten, was die heiligen Väter gewissermaßen nur für die Zwecke ihrer Zeit regelten und was sie als dauerhaft gültig erachteten«.577

Neben einer Prüfung der Authentizität kirchenrechtlicher Regelungen waren dies Grundsätze, die – bei erfolgreicher Anwendung – eine sinnvolle Sichtung des immer umfangreicheren Materials erlaubten. Ein Durchbruch zu einem grundlegenden kirchenrechtlichen System war damit allerdings noch nicht erzielt. 575 Zu Buch XIX, Kanon 5 s. Kynast, Tradition. 576 Feine, Rechtsgeschichte, S. 159. 577 Bernold, De excommunicatis, S. 180–81.

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Geistliches und weltliches Recht

Einen Abschluss der Entwicklung bildete dann aber das Wirken des mehrfach erwähnten Kamaldulensermönchs und Magisters der Theologie, Gratian († vor 1160), in Bologna. Um 1140 kompilierte er eine »Konkordanz der sich widersprechenden kirchenrechtlichen Satzungen« (Concordantia discordantium canonum), die bald als Decretum Gratiani bezeichnet wurde. Sie vereint Bibelstellen mit Auszügen aus den Kirchenvätern, Konzilsbeschlüssen, früheren Gesetzessammlungen und kanonistischen Werken. Diese stellte Gratian in 101 Distinktionen zu den verschiedenen kirchlichen Ämtern und Problemen, in 36 in Quaestionen untergliederten Rechtsfällen (causae) aus dem Prozess-, Vermögens- und Ordensrecht sowie in fünf Distinktionen zum Gottesdienst und zur Wirkung der Sakramente zusammen.578 Dabei gab er, wie der Titel seines Werks andeutet, nicht nur die Aussagen der oftmals widersprüchlichen Überlieferung wieder, sondern suchte mit Hilfe der neuen Methoden sowohl Abelards wie auch Bernolds die Probleme zu formulieren und eine Lösung aufzuzeigen. So heißt es z. B. in der vorhin schon einmal angesprochenen ersten Distinktion: »(Gratian) Zwei Dinge lenken das Menschengeschlecht, das Naturrecht und die Sitten. Das Naturrecht besteht aus den Vorschriften im Gesetz und Evangelium, die jedermann befehlen, andere so zu behandeln, wie er selbst behandelt werden will, und verbieten, anderen anzutun, was ihm selbst nicht geschehen soll. Daher sagt Christus im Evangelium: ›Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten‹. Deshalb sagt Isidor im fünften Buch der Etymologien [c. 2]: […] ›Alle Gesetze sind entweder von göttlichem oder menschlichem Recht, Gottes Gesetz ist in der Natur niedergelegt, das menschliche in den Sitten. Die letzteren sind veränderlich, da sich ja die Völker nach verschiedenen Sitten richten. Das Gesetz Gottes ist fas [göttliche Ordnung], das Recht der Menschen heißt ius. Das Recht, den Acker eines anderen zu überqueren, stammt von fas, nicht von ius.‹ (Gratian) Aus den Worten dieser Belegstelle (auctoritas) geht der Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Recht hervor: Die göttliche Ordnung (fas) wird als göttliches oder natürliches Gesetz bezeichnet; unter menschlichem Gesetz verstehen wir dagegen die als Recht aufgezeichneten oder (mündlich) überlieferten Sitten«.579

Ähnlich wie hier werden auch an anderen Stellen die Autoritäten zitiert und kommentiert, Fragen abgeleitet und einer Lösung zugeführt. So behandelt z. B. die 23. causa in der ersten Quaestio das Problem, »ob Kriegführen [militare] gegen die evangelischen Gebote verstößt«.580 Dabei werden zunächst generelle Stellungnahmen gegen die Kriegführung durch Christen zitiert, aus der Bibel und von Kirchenvätern wie Origines. Denen werden dann Ausführungen Augustins und Gregors d. Gr. entgegengestellt. Am Ende folgert Gratian, 578 Corpus Iuris, hrsg. Friedberg, 1; Köbler, Bilder, S. 124. 579 Corpus Iuris, hrsg. Friedberg, Sp. 1; vgl. Piltz, Welt, S. 81–82. 580 Corpus Iuris, hrsg. Friedberg, pars II, causa XXIII, qu. 1, Sp. 889.

Die Systematisierung des Kirchenrechts

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»dass Kriegführen keine Sünde ist und dass die Regeln der Geduld durch die Vorbereitung des Herzens, nicht aber durch die körperliche Zurschaustellung einzuhalten sind«.581

Damit kann er dann zur Frage überleiten, was ein gerechter Krieg ist. Die Kompilation Gratians war eine private Sammlung, gewann jedoch durch ihren klaren Aufbau und ihre Methode mehr und mehr an Einfluss und schließlich sogar offiziellen Charakter. So wurde sie bald wie andere juristische Text ihrerseits diskutiert und kommentiert. Die maßgebliche Glossierung entstand um 1216 durch Johannes Teutonicus († 1245), einen Schüler des Juristen Azo Portius († 1230) und späteren Domherrn in Halberstadt. Das Decretum Gratiani wurde dann durch Zusammenstellungen päpstlicher Rechtsverfügungen, der Dekretalen, ergänzt. Den Anfang machten die Dekretalen Gregors IX. von 1234, der Liber extra, der auf ältere Kompilationen zurückgriff. 1298 folgte der Liber sextus Bonifaz’ VIII., der die nach 1234 erlassenen Dekretalen ergänzte, während die Verfügungen der Zeit Clemens’ V. bis zum Konzil von Vienne (1311–1312) mit Zustimmung Johannes’ XXII. 1317 als Clementinen dem kanonischen Recht hinzugefügt wurden. Einen gewissen Abschluss markierten dann 1325 die Extravagantes Johannes’ XXII. Erst mit einem größeren zeitlichen Abstand folgten dann 1501–1503, nach einer Sichtung der Überlieferung, noch die Dekretalen weiterer Päpste als Extravagantes communes.582 Wurde das Decretum durch die »Dekretisten« kommentiert und glossiert, nahmen sich bald eigenständige Kommentatoren auch der Dekretalen an; sie wurden als »Dekretalisten« bezeichnet. Diese Systematisierung des kanonischen Rechts, die zugleich eine Annäherung an die Normen des Römischen Rechts bedeutete, stieß zumindest anfangs auf heftige Kritik. So bemerkte etwa schon Bernhard von Clairvaux, man würde an der Kurie ständig Gesetze verlesen, diese stammten aber von Justinian und nicht von Gott, was nicht richtig wäre. Ähnlich argumentierte auch der Propst des am Inn gelegenen Chorherrenstifts Reichersberg, Gerhoch, um 1155/56 in einem Brieftraktat »gegen die Neuerungen dieser Zeit« (Liber de novitatibus huius temporis), das er an Papst Hadrian IV. adressierte. Das Römische Recht sollte angewandt werden dürfen, wo es nicht dem Kirchenrecht widersprach; der Rat der Legisten sollte eingeholt werden können, aber nicht das Urteil beeinflussen. Ihre Spitzfindigkeiten verglich Gerhoch mit dem Quaken der sich aufblasenden Frösche oder sogar mit Stechmücken und beschrieb sie als eine Plage, von der die Kirche befreit werden müsste. Damit wandte er sich wahrscheinlich gegen die Kanonisten am päpstlichen Hofe und gegen diejenigen Kleriker, die sich trotz verschiedener Konzilsdekrete weiterhin 581 Ebd., Sp. 894. 582 García y García, Rechtsfakultäten, S. 347.

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Geistliches und weltliches Recht

mit dem Römischen Recht auseinandersetzten, während er gegen die weltlichen Juristen wenig einzuwenden hatte.583 Obwohl er mit seinem Traktat keine Resonanz fand, macht seine Kritik doch deutlich, dass die Entwicklung des weltlichen Rechts im 12. Jahrhundert schon weiter fortgeschritten war, auch wenn dies vor allem für den Bereich des Römischen Rechts, weniger für die Volks- und Gewohnheitsrechte galt.

II.

Die überkommenen weltlichen Rechtssysteme: Gewohnheitsrecht und Römisches Recht

Im Bereich des weltlichen Rechts konnte das Mittelalter auf eine reiche antike Tradition zurückgreifen, die in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts durch Kaiser Justinian zusammengefasst und kodifiziert wurde. Diese Kompilation hatte jedoch zunächst – bis zum 11. Jahrhundert – im Westen keine weitergehenden Folgen und wurde kaum rezipiert. Eine Ausnahme bilden nur einige der im Mittelmeerraum der Völkerwanderungszeit entstandenen Rechtssammlungen, die sich an der Gesetzgebung der Kaiser orientierten und weiteren Einfluss erlangen konnten, insbesondere die »Gesetze der Westgoten« (Leges Visigothorum). Auch andere Volksrechte des früheren Mittelalters lassen römisch-rechtliche Einwirkungen erkennen, erlangten aber geringere Bedeutung. Das gilt insbesondere für die fränkische Lex Salica (das »salfränkische Gesetz«), deren praktische Anwendung kaum fassbar wird, ebenso aber auch für die anderen im Frankenreich entstandenen Leges, die Lex Ribuaria, Lex Alamannorum und Lex Baiuvariorum (also die Gesetze der ribuarischen Franken, der Alamannen und Bayern). Ihre Verbreitung in verschiedenen Fassungen und vielen Handschriften belegt eher ein gelehrtes Interesse oder eine Form herrscherlicher Repräsentation als faktische Umsetzung, zumal diese durch die allgemeinen Rahmenbedingungen im Frankenreich ohnehin erschwert war. Die von Karl d. Gr. angeregte Aufzeichnung der Volksrechte der Friesen, Sachsen und Thüringer blieb sogar nahezu ohne jede Wirkung; sie sind heute nur noch in wenigen, ein oder zwei, Handschriften überliefert. Von größerer Bedeutung war dagegen zunächst die direkte königliche Gesetzgebung in den Kapitularien Karls d. Gr. und seiner Nachfolger. Sie stellten allerdings oftmals auf den Einzelfall bezogene Anweisungen und Ermahnungen dar, bei denen es weniger um eine allgemeine Rechtssetzung als vielmehr um »die Herstellung einer christlichen Lebensordnung« ging.584 Daher ist es kaum verwunderlich, dass die Kapitularien nach dem 583 Stelzer, Gelehrtes Recht, S. 13–15. 584 Kroeschell, Recht, Sp. 511.

Gewohnheitsrecht und Römisches Recht

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allmählichen Ende dieser Form königlicher Gesetzgebung in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts kaum mehr Beachtung fanden, auch wenn Abt Ansegis von Fontanelle bereits 827 eine Sammlung der Kapitularien in vier Büchern vorgelegt hatte, die vor allem kirchenrechtlich einige Bedeutung erlangte.585 Die schwache Stellung der späten Karolinger und die weiteren politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen führten im 10. und 11. Jahrhundert zu einem deutlichen Rückgang der Rechtsaufzeichnungen, der auch durch die nicht gerade zahlreich erhaltenen Herrscherurkunden nicht ausgeglichen wird. Eine Wandlung brachte dann der seit der Mitte des 11. Jahrhunderts in allen Regionen Europas fassbare demographische, soziale und intellektuelle Wandel, der sich unter anderem auch in der »Renaissance des 12. Jahrhunderts« manifestierte. Die unruhige politische Situation wurde durch zahlreiche Friedenseinungen, durch Gottesfrieden und Landfrieden, stabilisiert; und die verschiedenen sozialen Gruppen auf dem Land und in den entstehenden Städten erhielten nicht nur königliche, sondern auch fürstliche und herrschaftliche Privilegien, die ihre Rechte definierten und ausweiteten. Auch die Könige und Kaiser griffen verstärkt in die Rechtsentwicklung ein, nicht nur, indem sie Reichsfrieden auf den Weg brachten, sondern auch durch die Orientierung ihrer Gesetzgebung am Römischen Recht. Das Römische Recht wurde, wie schon im Zusammenhang mit der Frühgeschichte der Universität Bologna dargestellt, seit dem Ausgang des 11. Jahrhundert in Oberitalien, zunächst vor allem in Bologna, »wiederentdeckt«, d. h. wieder intensiver studiert und erstmals mit den scholastischen Methoden der Zeit kommentiert. Dabei wurde die Einteilung der Kodifikation Justinians von größter Bedeutung, für die zwischen den Digesten (»Problemlösungen«), dem eigentlichen Kern, dem Codex, den Institutionen (»Unterweisungen«) sowie den als Ergänzungen verstandenen Novellen oder Authenticae, 134 im 6. Jahrhundert entstandenen Kaisergesetzen in lateinischer Sprache, unterschieden wurde. Während die Digesten und der Codex Justiniani jeweils noch weiter in drei bzw. zwei Teile unterteilt wurden, ordneten die Glossatoren des Römischen Rechts 97 der Novellen in neun Sammlungen neu bzw. nahmen Zusammenfassungen der Novellen in den Codex auf. Die Novellen oder Authenticae wurden im Laufe der mittelalterlichen Entwicklung durch rechtliche Verfügungen und Konstitutionen der Kaiser ergänzt.586 Insbesondere die Digesten standen im Zentrum der Vorlesungen in Bologna, da sie grundlegende juristische Probleme in der Sicht der römischen Rechtsgelehrten abhandeln und Begriffe wie Gesetz, (privates und öffentliches) Recht, Natur- und Völkerrecht definieren. Eine wichtige Rolle spielte aber auch der 585 Feine, Rechtsgeschichte, S. 153. 586 García y García, Rechtsfakultäten, S. 347.

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Geistliches und weltliches Recht

Codex Justinianus, der vor allem Ergänzungen zum Römischen Recht aus der Zeit der christlichen Kaiser enthält und nacheinander die Trinität, die Kirche mit ihrem Besitz, ihren Rechten und ihrer Hierarchie, Verordnungen zum Verhalten gegenüber Ketzern und Heiden, Vorschriften für weltliche Amtsträger und Beispiele für die Rechtsprechung der Kaiser behandelt. Die Klarheit der Formulierungen des Corpus iuris civilis, der Gesamtheit der Kodifikation Justinians, regte die Erneuerer der Rechtswissenschaften in Bologna, Pepo, Irnerius und ihre Schüler, dazu an, die aristotelische Logik und Wissenschaftstheorie auf ihren Gegenstand anzuwenden. So wurden die Rechtsfälle nach ihren verschiedenen Gattungen und Arten klassifiziert und die Grundlagen begrifflich klar geschieden. So bestimmte z. B. Irnerius die Gerechtigkeit im Rahmen der vier Kardinaltugenden (zu denen noch Klugheit, Tapferkeit und Mäßigung gehören), und eine Gesetzesstelle über die Entnahme von Wasser wurde mit Hilfe eines Syllogismus kommentiert.587 Die enge Beziehung dieses neu zugänglich gewordenen Rechtssystems zum Kaisertum ließ die römisch-deutschen Herrscher schon früh aufmerksam werden. So entstanden die erwähnten Kontakte Heinrichs IV. und V. zu Pepo und Irnerius, ebenso kam es zur Authentica »Habita« (1155) und zur Beratung Friedrichs I. durch Bologneser Juristen auf dem Reichstag zu Roncaglia 1158.588 Auch wenn die Beschäftigung mit dem Römischen Recht im westlichen Europa, vor allem in England und Frankreich, nicht gern gesehen und partiell sogar verboten wurde, entwickelte sich die Auseinandersetzung mit seinen grundlegenden Texten vor allem an den Universitäten weiter und erlangte auch auf andere Rechtskreise Einfluss. Im 13. Jahrhundert bildeten dann die Rechtsbücher eine wichtige Neuerung, allen voran der bekannte »Sachsenspiegel« des Eike von Repgow (um 1220/1235). Eike, der nur in sechs Urkunden der Zeit von 1209 bis 1233 belegt ist und aus einer kleinen anhaltinischen Adelsfamilie stammt, die Vasallen der Erzbischöfe von Magdeburg waren, ging mit seiner privaten Sammlung in mehrfacher Hinsicht neue Wege. Er stellte regionales, sächsisches, Recht zusammen, setzte dieses aber mit dem Reichsrecht in Beziehung, und er formulierte erstmals ein Prosawerk in deutscher Sprache.589 Wie aus der Vorrede hervorgeht, lag der Text ursprünglich in lateinischer Fassung vor, wurde dann aber von Eike auf Bitten des Grafen Hoyer von Falkenstein in Deutsche übertragen. Da sich kein lateinischer »Sachsenspiegel« erhalten hat, wurde diese Feststellung immer wieder infrage gestellt, doch hat die Forschung inzwischen in einem lateinischen Buch über das Lehnrecht, im Auctor vetus de beneficiis (dem »alten Autor über die Lehen«), eine 587 Piltz, Welt, S. 73–76. 588 Dazu Dilcher, Entstehung, S. 63–64. 589 Lieberwirth, Sachsenspiegel, Sp. 1240; allgemein s. Lück, Sachsenspiegel.

Gewohnheitsrecht und Römisches Recht

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mögliche lateinische Urfassung oder zumindest eine davon abgeleitete Bearbeitung eines Teils des »Sachsenspiegels« identifiziert.590 Eike setzt sich sowohl mit dem bäuerlichen Rechtsbereich als auch mit den Rechtsbeziehungen der Feudalherren auseinander, so dass ein Teil dem Landrecht, der andere aber dem Lehnrecht gewidmet ist. Darüber hinaus berücksichtigt er neben dem Reichsrecht die verschiedenen Sonderrechte, einmal die der slawischen (wendischen) Bevölkerung und der verschiedenen Stämme, zum anderen die der Kleriker, der Juden, der Reisenden und anderer Gruppen. Die Bestimmungen für den ländlichen Raum regeln das Rechtsleben im Dorf, ehe- und erbrechtliche Probleme, das Gerichtsverfahren und die Strafen, bau- und verkehrsrechtliche Fragen und vieles mehr. So wird z. B. festgelegt, dass ein Reisender für sein erschöpftes Pferd auch von einem fremden Feld Korn schneiden kann, soweit er dieses erreicht, wenn er mit einem Fuß auf dem Weg steht – das Mitnehmen des Korns ist ihm allerdings verboten. Für den Bau von Häusern wird unter anderem vorgeschrieben, dass das Wasser des Daches nicht in den Hof eines anderen abgeleitet werden darf; Haus und Hof sollen eingezäunt sein; und von Feuerstellen wie dem Backofen bzw. von Aborten soll ein hinreichender Abstand (von drei Fuß) zum Zaun bestehen. Weiter wird z. B. bestimmt, dass der Eintritt in ein Kloster die völlige Lösung aus land- und lehnrechtlichen Bindungen nach sich zieht, dass ein Pilger auch im Falle des Fernbleibens vom Gericht nicht mit Bestrafung rechnen muss und dass Aussätzige kein Erbe oder Lehen empfangen dürfen.591 Die Entstehungszeit des Textes lässt sich aus dem Inhalt bestimmen: So ist das Privileg Friedrichs II. für die geistlichen Fürsten von 1220 noch aufgenommen, während jeder Hinweis auf die Erhebung des welfischen Hausgutes um Braunschweig und Lüneburg zum Herzogtum im Jahr 1235 fehlt. Allerdings ist dies nicht die Datierung der »endgültigen« Fassung. Eike hat selbst noch eine weitere Bearbeitung des »Sachsenspiegels« vorgenommen, und die vierte, abschließende Textversion, die die Grundlage der handschriftlichen Verbreitung bildet, entstand um 1270. Danach wurden noch die Bilder hinzugefügt, durch die sich die berühmten Bilderhandschriften des »Sachsenspiegels« auszeichnen, und einige Änderungen vorgenommen, die in die Drucke seit dem 15. Jahrhundert eingingen. Bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts erreichte der »Sachsenspiegel« in Auszügen oder vollständigen Handschriften viele Städte im Raum von Hamburg bis Augsburg und von Köln bis Breslau und Krakau. Zusammen mit dem Magdeburger Recht wurde er schließlich weiter nach Ostmittel- und Osteuropa verbreitet, wo er – wie auch in einigen Bereichen wie dem Wasserrecht in Deutschland – bis ins 19. Jahrhundert Anwendung fand. Bald setzte auch schon 590 Oppitz, Auctor. 591 Sachsenspiegel, hrsg. Fansa, S. 25–26, 30–31.

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Geistliches und weltliches Recht

die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Rechtsbuch ein, denn im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts entstand die erste Glosse zum »Sachsenspiegel«.592 Der »Sachsenspiegel« wirkte vielfach vorbildlich, auch für die um 1275/76 entstandene Kompilation des »Kaiserrechts«, den »Schwabenspiegel«. Dieser im Umkreis der Augsburger Franziskaner entstandene Text setzt die mit dem etwas älteren »Deutschenspiegel« begonnene Umarbeitung des »Sachsenspiegels« für die oberdeutschen Verhältnisse fort und führt sie auf der Grundlage einer oberdeutschen Übersetzung zu Ende. Dabei baut der Bearbeiter bewusst auf dem kaiserlichen Recht auf und beruft sich dafür auf die gelehrten Juristen, nicht auf das Gewohnheitsrecht. Dies hat dazu geführt, dass der »Schwabenspiegel« – diese Bezeichnung ist erst im 17. Jahrhundert aufgekommen – in den Handschriften vielfach als »kaiserliches Rechtsbuch« erscheint. Zugleich werden aber auch kanonisch-rechtliche Einflüsse aufgenommen, z. B. die kurialistisch geprägte Zweischwerterlehre und kirchliche Wuchervorstellungen, ebenso wie biblische Grundsätze eingearbeitet sind. Weiter gewinnen im Verfahrensrecht Beweise durch Zeugen und Urkunden gegenüber dem »Sachsenspiegel« an Gewicht, und die Vasallen werden im Lehnrecht des »Schwabenspiegels« bessergestellt. Insgesamt sind die verschiedenen Vorlagen des Texts weniger intensiv als beim »Sachsenspiegel« zu einem Ganzen verarbeitet, was jedoch einer weiten Rezeption nicht im Wege stand. Noch im 14. Jahrhundert entstanden Übersetzungen ins Lateinische, Altfranzösische und Tschechische; für Lüneburg erfolgte sogar eine »Rück«-Übersetzung ins Niederdeutsche. Die Bestimmungen des Texts gingen im 14. und 15. Jahrhundert in zahlreiche weitere städtische und ländliche Rechte des oberdeutschen Raums ein. Einige Auszüge wurden selbst dem Magdeburg-Breslauer Schöffenrecht hinzugefügt.593 In den heute noch rund 350 Handschriften liegen jedoch zahlreiche Bearbeitungen vor, da der »Schwabenspiegel« oft nicht einfach nur abgeschrieben, sondern vielfach verändert wurde. Dabei kann man grob zwischen Kurz-, Lang-, Normal- und systematischen Fassungen unterscheiden – letztere sind noch einmal systematisch umgeordnet.594 Offenbar kam diese Kompilation somit einem weitreichenden Bedürfnis nach einem grundlegenden Rechtstext entgegen. Auch in anderen europäischen Ländern entstanden in dieser Zeit private Sammlungen des althergebrachten Rechts, so in Frankreich verschiedene regionale coutumes, Aufzeichnungen des Gewohnheitsrechts. Ein Beispiel dafür sind die in der Forschung immer wieder zitierten Coutumes de Beauvoisis, das Gewohnheitsrecht der Grafschaft Beauvais in Nordfrankreich, des Philippe de 592 Lieberwirth, Sachsenspiegel, Sp. 1241–42. 593 Zum Verhältnis u. a. Carls, Beobachtungen. 594 Nehlsen-von Stryk, Schwabenspiegel, Sp. 1603–04.

Gewohnheitsrecht und Römisches Recht

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Beaumanoir aus den 1280er Jahren. Philippe, ein Jurist, war 1279–1283 bailli, also Amtsträger, des Grafen von Beauvais (Clermont) und stand dann bis zu seinem Tod 1296 im Dienst der französischen Könige Philipp III. und IV.595 Seine Kompilation des regionalen Gewohnheitsrechts richtet sich an einen breiten Leserkreis und ist wohl auch deshalb in französischer Sprache verfasst. Sie ist zwar nicht sehr systematisch angelegt, diskutiert aber ein weites Spektrum rechtlicher Fragen, zu Rechtsverfahren wie zum konkreten Recht der Grafschaft. Dazu kommen Kapitel über das Eigentumsrecht, über den Charakter von Gewohnheiten, über Gewalt und List, über Schiedssprüche und die Anwendung von Gnade trotz strenger Vorschriften des Gesetzes. Zudem werden Fragen der Vormundschaft und der Verantwortung für den Schutz geistlicher Einrichtungen sowie die Unterscheidung zwischen hoher und niederer Gerichtsbarkeit diskutiert.596 Das Römische und das kanonische Recht haben auf den Text bestenfalls mittelbar eingewirkt; auch andere Gewohnheitsrechte sind nur indirekt eingeflossen. Die Coutumes de Beauvoisis können aber gerade durch die Verbindung regionaler und allgemeiner Probleme als beispielhaft gelten. Diese und andere Texte gewannen im Laufe des späteren Mittelalters durch die Entwicklung des gelehrten Rechts, vor allem des Prozessrechts, an Bedeutung. Dessen Normen entsprachen auch die spätmittelalterlichen Rechtsaufzeichnungen im ländlichen Raum, die Weistümer, die bei grundherrlichen oder territorialen Konflikten formuliert und häufig in Form notariell beglaubigter Protokolle von Zeugenbefragungen niedergelegt wurden. Die Tradition der Rechtsbücher wurde auch in den Städten des späten Mittelalters aufgenommen. Das städtische Recht gründete sich auf zwei unterschiedliche Wurzeln: auf die Verleihung von Rechten und Privilegien durch den (oder die) Stadtherren sowie auf die innerstädtische Rechtssetzung, das »Willkürrecht«. Die städtischen Rechte wurden im Laufe der Entwicklung oftmals in größeren Sammlungen kompiliert, auch mehrfach. Wie dies z. B. der Beginn des Lübischen Stadtrechts deutlich macht, geschah dies auch, um dieses Recht an andere Städte weitergeben zu können: »Wir übergeben Euch die Rechte unserer Stadt, damit Ihr sie unverletzlich haltet. Höheres Recht ist es, jene durch etwas Besseres zu vermehren, doch die gegebenen Gesetze dürft Ihr niemals vermindern«.597

Neben das dauerhafter angelegte Stadtrecht traten weitere Satzungen, die zum Teil beim einmal im Jahr zu wiederholenden Bürgereid verlesen, zum Teil auf 595 Les coutumes, übers. Akehurst, S. xv. 596 Ebd., S. xx. 597 Das mittelniederdeutsche Stadtrecht, hrsg. Korlén, S. 83; übers. Quellen, hrsg. Sprandel, S. 15.

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Geistliches und weltliches Recht

mehrfach im Jahr stattfindenden Versammlungen erneuert wurden, wie dies z. B. für die Burspraken des norddeutschen Raums gilt. Diese Satzungen, die Entscheidungen des Rats oder der Schöffen, aber auch die Rechtsgeschäfte der Bürger wurden vielfach in eigenen Registern oder Büchern festgehalten, so dass sich eine Reihe verschiedener Stadtbücher entwickelte, denen als Rechtsquellen große Bedeutung zukommt. Seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts gewann schließlich auch in den Städten das gelehrte Recht mehr und mehr an Einfluss. So wurde z. B. in Frankfurt 1464 zum ersten Mal ein Jurist zum Schöffen gewählt, und zwar allein aufgrund seines Doktorgrades; und das Freiburger Stadtrecht wurde 1520 durch den Universitätsjuristen und Stadtschreiber Ulrich Zasius erneuert.598

III.

Die Juristenausbildung an den Universitäten

Wie schon einmal betont, spielten die Rechtsschulen in Bologna eine zentrale Rolle bei der Ausbildung der universitären Strukturen, von den Korporationen der Scholaren (und Magister) über die Nationen bis hin zu den Fakultäten. Die Universität Bologna war damit an erster Stelle trotz der anderen Fächer das studium generale, das man aufsuchte, um die Rechte zu studieren, wie man nach Paris ging, um Philosophie oder Theologie zu hören. Die Formen der Ausbildung und der Modus der Prüfungen in Bologna wurden so auch für andere Rechtsschulen vorbildlich. Allerdings machte Padua Bologna als Zentrum von Rechtsstudien schon bald Konkurrenz und konnte es dem Ruf nach zum Ende des Mittelalters hin wohl sogar noch übertreffen. Auch andere oberitalienische Universitäten wie Pavia und Perugia gewannen für die Juristenausbildung an Bedeutung, ebenso im südfranzösischen Raum Montpellier, Toulouse und (das päpstliche) Avignon. Paris spielte dagegen nur eine untergeordnete Rolle, da hier das Studium des Römischen Rechts 1219 durch Papst Honorius III. verboten worden war – wohl vor allem auf Betreiben des französischen Königs Philipp II. Augustus, der das französische Gewohnheitsrecht und damit auch seine eigene Stellung durch das kaiserliche Recht bedroht sah –,599 so dass es in Paris deshalb nur eine kanonischrechtliche Fakultät gab. Im nordfranzösischen Raum konnte vor allem Orléans Juristen aus verschiedenen Ländern anziehen, ebenso Angers. Dazu kam in Brabant das 1425 gegründete Louvain (Leuven). Im Reich konnten für das Rechtsstudium nur Prag und Köln überregionalen Einfluss ausüben, in Prag entstand 1373 sogar eine eigenständige Juristenuniversität nach Bologneser 598 Köbler, Bilder, S. 236–27. 599 Vgl. Rashdall, Universities, 1, S. 322, Anm. 2.

Die Juristenausbildung an den Universitäten

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Vorbild. Daneben übten Erfurt, Rostock und Greifswald eine gewisse Anziehungskraft auf die Juristen aus Skandinavien und dem Baltikum aus.600 Im europäischen Südwesten gewann die Juristenausbildung im kastilischen Salamanca, in aragonesischen Lérida und im portugiesischen Lissabon-Coimbra einige Bedeutung, während in Oxford und Cambridge zwar sowohl das kanonische wie das Römische Recht gelehrt wurden, aber das Kirchenrecht spätestens im 15. Jahrhundert ein deutliches Übergewicht gewonnen hatte. In Schottland, an den Universitäten von St. Andrews, Glasgow und Aberdeen, entstanden zwar im 15. Jahrhundert mit den Universitäten auch juristische Fakultäten, doch entwickelten sie sich nur langsam, da die meisten schottischen Studenten zur Ausbildung weiterhin auf den Kontinent gingen. Das Studium des Kirchenrechts verbreitete sich ohnehin nur nach und nach von Bologna aus in die anderen Länder und wurde vor allem in Nordfrankreich, England und im Rheinland intensiver betrieben. Nur dort entstanden eigentlichen Sinn Schulen für das kanonische Recht,601 wobei die Magister allerdings die päpstlichen Dekretalen zumeist erst erheblich später als in Bologna in den Lehrbetrieb aufnahmen. Unterschiede gab es auch im Bereich des weltlichen Rechts, zumal regionale Ausrichtungen eine gewisse Rolle spielten. So nahm man sich in Padua verstärkt des lombardischen Rechts und der verschiedenen Stadtrechte an. In Nordfrankreich fanden die lokalen Gewohnheitsrechte Berücksichtigung, während der Süden starker auf schriftliche Traditionen ausgerichtet war. In Orléans trat sogar die Auseinandersetzung mit dem Römischen Recht in Form der vom Bologneser Juristen Accursius im 13. Jahrhundert entwickelten »Regel-Kommentierung« der glossa ordinaria hinter das lokale Gewohnheitsrecht zurück. In Spanien hatte wiederum im Recht das volkssprachliche Element eine größere Bedeutung als anderswo, da seit Alfons dem Weisen zahlreiche juristische Kompilationen in kastilischer Sprache verfasst wurden, von den lokalen Rechten, den Fueros, bis hin zum von Alfons begonnen und im 14. Jahrhundert abgeschlossenen königlichen Gesetzeswerk, den Siete Partidas (den »Sieben Teilen«).602 Im Zentrum des Unterrichts an den Universitäten stand die Kommentierung der verschiedenen Rechtssammlungen. Dafür entwickelten sich unterschiedliche Formen, so dass zwischen Glossatoren und Postglossatoren und bei Letzteren noch zwischen einer italienischen und einer französischen Ausrichtung (mos italicus, mos gallicus) differenziert werden muss.603 Die Glossatoren setzten sich mit den vollständigen Rechtssammlungen auseinander, indem sie am Text ent600 601 602 603

Coing, Fakultät, S. 50. García y García, Rechtsfakultäten, S. 344. Krauss, Zeilen, S. 23–24. Zur späteren Entwicklung s. Lepsius, Mos.

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Geistliches und weltliches Recht

lang gingen und einzelne Worte mit Anmerkungen, Glossen, versahen. Ähnlich wie bei den Theologen wurden die Glossen sowohl zwischen den Zeilen wie auch am Rand eingefügt, als Interlinear- und Marginalglossen. Dabei war die Worterklärung nur der Anfang der Auslegung, die jeweils auch den Sinn der rechtlichen Regelungen erfassen sollte. Auf diese Weise entwickelten sich umfangreiche Apparate zu den einzelnen Rechtssammlungen, von denen einige als glossa ordiniaria oder auch glossa magna wegen ihrer Ausführlichkeit und ihrer Wirkungsgeschichte besondere Bedeutung erlangten. Im Bereich des Römischen Rechts galt dies, wie erwähnt, für die Glossierung durch Accursius († 1263), der das gesamte Corpus iuris civilis mit über 96.000 Glossen kommentierte,604 für das Decretum Gratiani für die Glossierung durch Johannes Teutonicus, die zwischen 1238 und 1245 noch durch Bartholomäus von Brixen ergänzt und verändert wurde. Für die Dekretalen und andere kirchenrechtliche Sammlungen erlangten unter anderem die Glossen von Johannes Andreae († 1348) größeren Einfluss. Schließlich erfuhren auch andere weltliche Rechtssammlungen eine Glossierung, so etwa die lombardischen Gesetze durch Carolo de Tocco ebenso wie der Liber feudorum, eine lehnrechtliche Sammlung, deren Glosse lange fälschlich mit Accursius verbunden wurde.605 Die Postglossatoren schlossen an diese Arbeit an, bedienten sich jedoch in stärkerem Maße der neuen Methoden, die durch die Aristoteles-Rezeption aufgekommen waren. Dabei trat die Diskussion der Texte zugunsten der rationalen Auseinandersetzung mit juristischen Problemen zurück, so dass Traktate zu einzelnen Themen bzw. umfassende Kommentare zu einzelnen Rechtssammlungen oder sogar zum gesamten Corpus iuris civilis oder canonici an Bedeutung gewannen. Zu den wichtigsten Postglossatoren zählten die Italiener Bartolus von Saxoferrato († 1357) und Baldus de Ubaldis († 1400) sowie der Franzose Pierre de Belleperche († 1308); im Bereich des Kirchenrechts sind neben Johannes Andreae vor allem Heinrich von Segusio, der Kardinalbischof von Ostia (Hostiensis, † 1271), Guillaume Durant († 1296) und Niccolò dei Tudeschi († 1453) zu nennen. Die Postglossatoren gingen insofern über die Arbeit ihrer Vorgänger hinaus, als sie in ihrem Bereich jeweils erst dazu beitrugen, ein einheitliches Rechtssystem aufzubauen. Wenn sie dabei Lücken feststellten, suchten sie sie mit Hilfe ihrer logischen Methoden und durch eine neue Interpretation der Textstellen zu schließen. Da diese Form der »Postglossierung« während des 14. und 15. Jahrhunderts in Italien im Vordergrund stand, erhielt sie die Bezeichnung mos italicus. Einen neuen, ebenfalls von Italien ausgehenden Anstoß zur Auseinandersetzung mit den Rechtsquellen gaben jedoch die Humanisten, die die philologisch-histori604 Lepsius, Accursius. ˇ erný, Libri, S. 346. 605 C

Die Juristenausbildung an den Universitäten

253

sche Methode in die Rechtswissenschaften einführten. Weil sich dies im Frankreich des 16. Jahrhunderts, unter anderem durch das Wirken des Andreas Alciatus († 1550),606 zu einer eigenen »Schule« verdichtete, setzte sich für diese Methode die Kennzeichnung als mos gallicus durch. Beide Schulen der Postglossatoren blieben bis ins 18. Jahrhundert einflussreich.607 Für den Unterricht wurden die Rechtsquellen in einzelne Abschnitte oder Punkte (puncta) eingeteilt, wobei insgesamt jeweils der gesamte Text kommentiert und diskutiert werden sollte. Aus Bologna hat sich die älteste Liste solcher puncta erhalten, aus dem Jahre 1252; andere Listen entstammen dem 14. und 15. Jahrhundert. Der »Stoff« der Rechtssammlungen wurde dabei auf die grundlegenden »ordentlichen« und auf die »kursorischen« bzw. »außerordentlichen« Vorlesungen verteilt. So wurden z. B. in Bologna nach den Statuten von 1317 im Römischen Recht der Codex Justiniani und der erste Teil der Digesten sowie im kanonischen Recht das Decretum Gratiani und die Dekretalen Gregors IX. in ordentlichen Vorlesungen behandelt, während man sich den anderen Teilen von Corpus iuris civilis und canonici jeweils nur in außerordentlichen Vorlesungen zuwandte. Diese Einteilung wechselte von Universität zu Universität, wobei z. B. in Paris im Kirchenrecht nur das Decretum ordentlichen Vorlesungen vorbehalten blieb, während in Avignon nach den Statuten von 1503 große Teile von Römischem und Kirchenrecht über den Tag verteilt in dieser Form kommentiert wurden.608 Heinrich von Segusio hat die Auseinandersetzung mit einem Rechtstext in seiner Summa aurea in sechs Schritten zusammengefasst. Zunächst erfolgte die Darstellung des Rechtsfalls (casus), dann schlossen sich die Lesung und Erläuterung des Textes (littera) sowie der Hinweis auf parallele Rechtstexte (similia) an. In einem vierten Schritt wurden Gegenargumente (contraria) gesammelt und mit Hilfe von Begriffsklärungen aufgelöst, in einem fünften aus dem Text abgeleitete Probleme behandelt. Abschließend wurden die wichtigsten inhaltlichen Ergebnisse (notabilia) der Vorlesung noch einmal zusammengefasst und in den Kontext des Rechts eingeordnet.609 Dabei war es den Dozenten ausdrücklich verboten, eine Textstelle auszulassen oder mit einer anderen in der Reihenfolge zu vertauschen. Nach der Durchsetzung der Glossen mussten jeweils Text und Glosse vorgelesen werden, auch wenn, wie dies die Statuten von Perugia von 1457 ausdrücklich festlegen, die Scholaren sich gegen diese Lesung aussprachen. Mit der Ausbildung von »Standard-Kommentaren« aus dem Kreis der Postglossatoren wurden immer mehr Texte verbindlich. So schreiben z. B. die Hei606 607 608 609

Belloni, Alciatus. García y García, Rechtsfakultäten, S. 345–46. Coing, Fakultät, S. 71. García y García, Rechtsfakultäten, S. 350–51.

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Geistliches und weltliches Recht

delberger Statuten von 1398 den Dekretalisten vor, dass sie neben dem Text und der Glosse noch die Lectura Papst Innozenz’ IV., die Ergänzungen des Hostiensis und Johannes’ Andreae vorlesen mussten, dann sollten sie unmittelbar zu den contraria und notabilia übergehen. Teils erfolgten diese Vorlesungen so langsam, dass die Scholaren mitschreiben konnten; teils, so etwa nach den Statuten von Angers aus den Jahren 1398 und 1410, waren die Studenten dagegen gehalten Rechtstexte und Glossen selbst in die Vorlesung mitzubringen. Das Studienjahr setzte in Bologna – und nach seinem Vorbild ähnlich an anderen Universitäten – am 10. Oktober ein und wurde mit Unterbrechungen von zwei Wochen bzw. drei Tagen zu Ostern und zu Pfingsten bis in den August des folgenden Jahres fortgeführt. Außer an 58 in den Statuten festgelegten kirchlichen Festtagen sollten während dieser Frist täglich Vorlesungen stattfinden, an Sonntagen vor allem Repetitionen und Disputationen. In diesem Rahmen legten die Statuten vielfach fest, innerhalb welcher Zeit die Lektüre bestimmter Rechtsquellen abzuschließen war. So sollte z. B. nach den Statuten von Montpellier von 1339 der Codex Justiniani in einem, das Decretum in zwei Jahren abgeschlossen sein, nach denen von Bordeaux von 1443 das Corpus iuris civilis wie das Corpus iuris canonici in jeweils drei Jahren. Die Einhaltung dieser zeitlichen Rahmenbedingungen erwies sich als Problem, so dass sich die Professoren teilweise – wie in Avignon seit 1303 – sogar eidlich verpflichten mussten, ihre Vorlesungen innerhalb der vorgegebenen Fristen abzuschließen. Die Einteilung der Rechtstexte in puncta bot in diesem Zusammenhang bessere Kontrollmöglichkeiten, konnte damit doch festgelegt werden, welche Abschnitte bis zu welchem Teil des Studienjahrs bewältigt werden mussten.610 Neben den Vorlesungen gab es grundsätzlich nur von den Doktoren geleitete Disputationen, in denen aber auch alle Anwesenden zu Rechtsproblemen Argumente einbringen konnten, sowie – teilweise tägliche – Repetitorien, die den Stoff wiederholten, zusammenfassten oder sogar überprüften. In Bologna gab es im Prinzip nur einen Abschluss, den Titel des Doktors oder (in späterer Bezeichnung) die laurea; dafür waren fünf Vorlesungen zu einzelnen Kapiteln einer Rechtsquelle sowie sechs über ganze Sammlungen vorgeschrieben. Anders als bei den Theologen (oder auch in Deutschland und Frankreich) gab es in Bologna kein eigenes Bakkalaureat, vielmehr wurden die fortgeschrittenen Scholaren als Bakkalaureare bezeichnet. Seit dem Ende des 13. Jahrhundert erhielten sie ihren Doktorgrad in zwei Verfahren vor dem gesamten Doktorenkollegium, durch eine Prüfung im eigentlichen Sinne, mit der die Lehrbefugnis erworben wurde, und durch die eher formale conventio, in der die Verleihung des Doktortitels erfolgte. Die in zwei Kollegien der Legisten und Kanonisten zusammengefassten Doktoren der Bologneser Universität hatten im lateinischen Westen einen besonderen 610 Coing, Fakultät, S. 72–74.

Juristen im »öffentlichen Leben« des späteren Mittelalters

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Rang,611 doch brachte der Doktorgrad auch sonst vielfach einen sozialen Aufstieg mit sich.

IV.

Juristen im »öffentlichen Leben« des späteren Mittelalters

Die Ausbildung von Juristen fand im späteren Mittelalter nicht nur an den Universitäten statt, sondern auch an eigenen Rechtsschulen, die nicht den Charakter eines studium generale hatten. Dass dies nicht nur einen Ausnahmefall darstellt, macht eine Bestimmung Papst Johannes’ XXII. für die römische Universität von 1318 deutlich, nach der die Kandidaten für eine Lehrbefugnis zwar ein Gesamtstudium von sechs Jahren nachweisen, davon aber nur zwei Jahre an einem studium generale verbracht haben mussten.612 Insbesondere in Oberitalien waren viele der Rechtsschulen älter als die Universitäten, und auch im Laufe des 13. Jahrhunderts beschäftigten die städtische Autoritäten Juristen, die Vorlesungen halten sollten, ohne dass dies in Verbindung mit einer Universität geschah. So sollten z. B. der Podestà und der Capitano del Popolo von Perugia nach einem Beschluss von 1285, also mehr als 20 Jahre vor der Gründung der Universität (1308), dafür jährlich im Mai einen Juristen einstellen. Ähnliches lässt sich im 14. Jahrhundert für Ferrara, Florenz, Treviso und Siena sowie in Frankreich für Nîmes und Caen feststellen. Zudem bestanden wohl auch neben den Universitäten eigene Notariatsschulen. Für das kanonische Recht spielten neben den Universitäten die Ordensstudien eine besondere Rolle, in Deutschland z. B. das der Dominikaner in Köln (vor der Gründung der Universität 1388) oder das der Franziskaner in Magdeburg. In Spanien entstanden am Ende des 15. Jahrhunderts eigenständige Kollegien, die unabhängig von den Universitäten akademische Grade verliehen, so 1476/1477 in Siguenza und 1499/1508 das einflussreiche Kolleg in Alcala de Henares. Dort wurde in erster Linie Theologie gelehrt, daneben aber ebenso das Kirchenrecht.613 Die Ausbildung im englischen common law erfolgte ebenfalls an eigenen Rechtsschulen, den inns of court. 1292 wies Eduard I. die Richter am vor allem für Bodeneigentum zuständigen court of common pleas in Westminster an, für ausreichenden Nachwuchs zu sorgen, um den Bedarf der Grafschaften zu decken. Seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts lassen sich »Auszubildende« nachweisen, die auf besonderen Plätzen an den Sitzungen des Gerichts teilnahmen, um Erfahrungen zu sammeln; sie mieteten Unterkünfte an, aus denen die inns of court als Ausbildungsstätten entstanden, Lincoln’s, Gray’s, Middle und Inner 611 García y García, Rechtsfakultäten, S. 351. 612 Schwarz, Kurienuniversität, S. 44. 613 Coing, Fakultät, S. 50–51.

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Geistliches und weltliches Recht

Temple. Im 15. Jahrhundert hatte sich ein eigener Ausbildungsgang entwickelt, der vom Zuhören über verschiedene Stufen zur Praxis führte, nach 16 Jahren abgeschlossen war und die Möglichkeit des Aufstiegs zu einem Richter an einem der königlichen Gerichte oder zu einem der »Barone« des Schatzamts eröffnete.614 Die verschiedenen außeruniversitären Ausbildungsstätten für Juristen belegen das allgemeine Interesse an juristischen Fachleuten und zugleich die hohe Wertschätzung, die diesen entgegengebracht wurde. Überall gewannen juristische Ratgeber an Einfluss, da im Zeichen immer stärkerer Verschriftlichung des diplomatischen Austauschs wie der inneren Beziehungen in den entstehenden Territorialstaaten viel davon abhing, wie die schriftlichen Vereinbarungen formuliert waren. Die Forschung hat für diese Männer den Begriff der »gelehrten Räte« geprägt. So standen z. B. die politisch einflussreichen Juristen wie Gregor Heimburg († 1472), Heinrich Leubing, Peter Knorr, Martin Mair († 1481) oder Johann von Lieser auf die eine oder andere Weise in Beziehung zum Hof Kaiser Friedrichs III.615 Gregor Heimburg und Martin Mair waren zeitweilig jedoch auch in den Diensten des böhmischen Königs Georg von Podiebrad, der einem drohenden Häresieprozess – er wurde von den Hussiten unterstützt – 1464 durch einen europäischen Friedensplan entgegenzutreten suchte, der wohl maßgeblich von Juristen, so von Antonio Marini, mitformuliert war.616 Auch andere geistliche und weltliche Fürsten zogen gelehrte Juristen an ihren Hof, um mit ihrer Hilfe ihre Stellung zu stärken. Ähnlich eröffnete das Studium des Kirchenrechts vielen Scholaren den Weg zu einer kirchlichen Karriere, zumal das Theologiestudium wegen seiner langen Dauer und der damit verbundenen hohen Kosten auch im kirchlichen Bereich nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden konnte. Mit einem kanonistischen Abschluss gelang dagegen auch Mitgliedern bürgerlicher Familien der Aufstieg auf die insbesondere im Reich vielfach dem Adel vorbehaltenen Bischofsstühle. Ein Beispiel ist der gelehrte Brandenburger Bischof Stephan Bodecker († 1459), der aus einfachen bürgerlichen Verhältnissen stammte und in Leipzig studiert hatte. Ausgebildete Juristen spielten damit auch in der Politik und damit in den historischen Entwicklungen des ausgehenden Mittelalters eine immer wichtigere Rolle.

614 Brown, Governance, S. 135–36. 615 Zu Heimburg und Mair s. Watanabe, Reform. 616 Majer, Höhne, Einigungsbestrebungen, S. 43–45.

12. Geschichtsbild und Geschichtsschreibung

Die artes liberales, die Medizin, die Theologie sowie das geistliche und weltliche Recht waren Disziplinen, die an der Universität in eigenen Fakultäten vertreten waren und auch sonst im Kanon der mittelalterlichen Bildung eine eigenständige Rolle spielten. In diesem und den folgenden Kapiteln sollen Disziplinen vorgestellt werden, die sich innerhalb der Lehrpläne mittelalterlicher Bildungsinstitutionen nur schwer verorten lassen, auch wenn sie am ehesten mit den sieben freien Künsten in Verbindung zu bringen oder ihnen parallel zu setzen sind, nämlich Geschichte, politische Theorie und die »Fachprosa« (vor allem die artes mechanicae, die sieben mechanischen Künste). Insbesondere für die Geschichte stellt sich die Frage, ob sie im mittelalterlichen Verständnis überhaupt zum Kreis der Wissenschaften zu zählen ist. Es gab aber schon im Frühmittelalter eigene theoretische Vorstellungen zu Geschichte und Geschichtsschreibung, auch wenn sie sich von den modernen Ansätzen zu einer Geschichtstheorie deutlich unterscheiden. Diese bauten lange Zeit auf in der Patristik nach antiken Vorbildern entwickelten Grundlagen auf, die erst seit dem 12. Jahrhundert stärker reflektiert wurden.617 Mit der Existenz einer eigenständigen mittelalterlichen Geschichtstheorie aber kann man auch die Frage nach dem wissenschaftlichen Charakter von »Geschichtsschreibung« vorsichtig bejahen, und damit gehören Geschichtsschreibung und Geschichtsbild auch in den Kontext mittelalterlicher Bildung und Wissenschaft. Für das mittelalterliche Verständnis von historia waren zunächst wiederum die Überlegungen bei Augustinus und Isidor von Sevilla grundlegend. Isidor stellt in seinen Etymologien die historia in den Kontext der Grammatik, weil sie, wie es bei ihm heißt, »das, was der Erinnerung würdig ist, in schriftlicher Form niederlegt«.618 Damit folgte er Augustins Bestimmung der Grammatik, nach der diese alles umschloss, was eine schriftliche Überlieferung wert war. Allerdings war mit dieser Definition nicht etwa eine Disziplin »Geschichte« der Grammatik 617 Goetz, »Geschichte«, S. 211–12. 618 Isidori Etymologiarum Libri, I,41,2 vgl. Goetz, »Geschichte«, S. 171.

258

Geschichtsbild und Geschichtsschreibung

untergeordnet worden. Vielmehr war nach Augustin und Isidor die Grammatik gleichermaßen für Geschichtswerke wie für alle anderen schriftlichen Zeugnisse »zuständig«. Ein ähnliches Verhältnis bestand im antiken und mittelalterlichen Verständnis auch zwischen Rhetorik und Geschichte. So bestimmt z. B. Isidor die historia im Kontext der Rhetorik als Gegensatz zur fabula und zum argumentum: »Denn Geschichten sind wahre Dinge, die geschehen sind; Argumente sind diejenigen [Dinge], die zwar nicht geschehen sind, aber geschehen könnten; Fabeln aber sind diejenigen [Dinge], die weder geschehen sind noch geschehen können, weil sie gegen die Natur sind«.619

Geschichte wird also bei Isidor als Darstellungsform begriffen, die sich auf wahre Ereignisse bezieht, und ist als solche Gegenstand der Rhetorik. Auch damit schließt Isidor wiederum an ältere Positionen an, so an Cicero und Quintilian, die Geschichte als Darlegung (expositio) vergangenen Geschehens bestimmten. In diesem Sinne findet sich Geschichte noch am Anfang des 12. Jahrhunderts in der bereits einmal behandelten Lehrallegorie des Honorius Augustodunensis († nach 1130) »Über das Exil und die Heimat der Seele oder über die Artes« (De animae exilio et patria alias de artibus) in der »Stadt« der Rhetorik, zusammen mit Fabeln und Büchern der Rednerkunst und der Ethik.620 Tatsächlich war es die Rhetorik, die zu einer größeren Bedeutung von Geschichte im Rahmen der mittelalterlichen Bildung beitrug. Während die Grammatik mit der Sprache und einem ersten Zugang zu historischem Wissen nur die Rahmenbedingungen bestimmte, bot die Rhetorik wichtige Stilmittel und grundlegende Prinzipien an, so neben der Betonung der moralisch-didaktischen Komponente von Geschichtsschreibung den Grundsatz der Unterscheidung zwischen Falschem und Wahrem.621 Auch dies bedeutet aber keine Zu- oder Unterordnung der Geschichte, sondern eher eine Hilfsfunktion der Rhetorik für eine andere Fragestellung, ähnlich wie die anderen artes liberales, die Logik und das Quadrivium, der Geschichtsschreibung im einzelnen gute Dienste leisten konnten, etwa für die in Arithmetik und Astronomie verankerte Chronologie oder für die Komputistik. Auch damit war jedoch nicht zugleich eine eigenständige und den anderen artes gleichwertige Disziplin »Geschichte« konstituiert. Vielmehr weist keiner der schon einmal vorgestellten Lehrpläne und keine mittelalterliche »Systematik« der Wissenschaften Geschichte als eigenes Fach aus. Auch die eigene mittelalterliche Theorie der Geschichte muss deshalb in einem anderen Kontext gesehen und gesucht werden. 619 Isidori Etymologiarum Libri, I,44,5 vgl. Goetz, »Geschichte«, S. 172. 620 Boehm, Ort, S. 663–64. 621 Goetz, »Geschichte«, S. 175.

Geschichtsbild und Geschichtsschreibung

259

Der Begriff »Geschichte« als Bezeichnung für die Gesamtheit des historischen Geschehens ist erst im 18. Jahrhundert entstanden. Das althochdeutsche (gi)skehan meinte zunächst »eilen«, dann erst »geschehen«, wobei das Substantiv auf ein einzelnes Geschehnis bezogen blieb und erst im ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit auf eine Abfolge von Ereignissen hinweisen konnte. Der lateinische Begriff historia dagegen, auf dem die meisten anderen Volkssprachen aufbauen, leitet sich aus dem Griechischen ab, aus dem Substantiv für ’ιστορɛιν, fragen, erforschen, berichten, das zunächst das aus der Erfahrung gewonnene Wissen, dann enger die Geschichtsschreibung und das Geschichtswerk bezeichnet. Diese Bedeutung war auch dem Mittelalter geläufig, wenn z. B. Isidor feststellt: »Bei den Alten schrieb nämlich niemand Geschichte, außer dem, der dabei war und das, was zu beschreiben war, gesehen hatte«.622 Deshalb meinte historia auch für den lateinischen Westen nicht das faktisch Geschehene, sondern das Geschichtswerk, die Geschichtserzählung. Die mittelalterliche Geschichtstheorie ist damit in erster Linie Erzähltheorie oder Theorie der Geschichtsschreibung. Die Normen dafür sind schon im Zusammenhang der Beziehungen zu den artes genannt worden: Sie umfassen das Streben nach Wahrheit und Unparteilichkeit, die Konzentration auf die Ereignisse, die der Erinnerung wert sind, sowie einen moralischen Anspruch. In diesem Sinne hat Beda im Prolog seiner »Kirchengeschichte des englischen Volkes« (Historia ecclesiastica gentis Anglorum) ein »wahres Gesetz der Geschichtsschreibung«, eine recht modern anmutende vera lex historiae formuliert: »Ich bitte den Leser demütig, uns es nicht anzurechnen, wenn er in dem, was wir geschrieben haben, etwas anderes als die Wahrheit niedergelegt findet, da wir, was das wahre Gesetz der Geschichtsschreibung ist, uns einfach bemüht haben, das, was wir aus verbreiteter Überlieferung gesammelt haben, zur Unterrichtung der Nachwelt aufzuzeichnen«.623

Diese Vorstellungen werden gewissermaßen ergänzt durch den historia-Begriff der Theologen, wie ihn z. B. Hugo von St. Victor herausarbeitete, der historia im Wesentlichen mit dem ersten, dem buchstäblichen Schriftsinn identifizierte und dabei auf die Bestimmung in den artes zurückgriff. Dadurch entstand ein enger Zusammenhang zwischen Bibelexegese und Geschichtsschreibung: historia wurde als wörtliche Auslegung der biblischen Überlieferung zu einem Teil der Theologie, zu einer Methode, die innerhalb der Theologie anzuwenden war und so keinen eigenständigen Charakter erlangen konnte.624 Davon ausgehend, konnten die Geschichtsschreiber die Theorie der Bibelexegese auch auf die allgemeine Geschichtsschreibung übertragen, die – zumindest als Weltchronistik – 622 Isidori Etymologiarum Libri, I,41,1. 623 Beda, Kirchengeschichte, 1, S. 20–21. 624 Boehm, Ort, S. 688.

260

Geschichtsbild und Geschichtsschreibung

deshalb nicht zufällig oft mit der biblischen Geschichte ansetzt und zudem Weltgeschichte als Heilsgeschichte versteht.625

I.

Die Formen der mittelalterlichen Geschichtsschreibung

Historia war für das lateinische Mittelalter, wie aus den Überlegungen zum Begriff folgt, das Geschichtswerk schlechthin, das – so etwa bei Isidor von Sevilla – längere Zeiträume abdeckte und idealer Weise einer chronologischen Ordnung folgte. Ungeachtet dessen finden sich aber auch immer wieder Ansätze für eine Unterscheidung verschiedener Formen von Geschichtsschreibung. Schon Isidor unterscheidet z. B. in den Etymologien nach den grundlegenden »Zeiteinheiten« zwischen Tagebüchern (diaria oder ephemeris), Monatsbüchern (kalendaria) und Jahrbüchern (annales).626 Entsprechend vielfältig sind die Quellenbegriffe für Geschichtswerke. So ist in den Texten z. B. die Rede von historia, chronica, chronicon, chronographia, annales, gesta, res gestae und vita (also von Geschichten, Chroniken, Annalen, Taten und Lebensbeschreibungen). Daneben finden sich seit dem Hochmittelalter Titel wie fundatio, genealogia, catalogus und narratio (Gründungsgeschichte, Genealogie, Katalog und Erzählung), jeweils in Verbindung mit konkreten Institutionen, Familien, Personen und Ereignissen. Schließlich gibt es eine Reihe von Werken, bei denen die Bezeichnung liber (Buch) entweder mit einer allgemeineren Charakterisierung im Genetiv verbunden ist, als liber historiarum bzw. chronicorum, oder einen konkreten historischen Bezug enthält, wie beim Liber de bello Saxonico aus der Zeit des Investiturstreits. Seit dem 12. Jahrhundert gewannen überdies stärker auf den Inhalt bezogene und literarische Titel an Bedeutung, wie z. B. bei der Hystoria Constantinopolitana, dem Bericht Gunthers von Pairis über die Eroberung Konstantinopel durch den Vierten Kreuzzug, oder beim Speculum historiale (dem »historischen Spiegel«) des Vincenz von Beauvais. Um diese Vielfalt von Quellenbegriffen zu ordnen, bietet es sich an, zumindest einige Bezeichnungen wie z. B. Historie, Chronik und Annalen für die Definition von Gattungen zu verwenden.627 Allerdings erschwert die Vielfalt der Geschichtsschreibung eine klare Abgrenzung,628 und im Mittelalter selbst waren entsprechende Ansätze wenig erfolgreich. So differenzierte z. B. Gervasius von Tilbury um 1200 zwischen Historien und Chroniken (oder Annalen), indem er 625 626 627 628

Goetz, »Geschichte«, S. 210–11. Ebd., S. 183. Schmale, Funktion, S. 105. Goetz, Geschichtsschreibung, S. 111–12.

Die Formen der mittelalterlichen Geschichtsschreibung

261

ihnen eine unterschiedliche Ausführlichkeit und jeweils anderen Stil und anderes Niveau zuschrieb, doch hob er zugleich hervor, dass Mischformen die Regel waren, weil viele Geschichtsschreiber ihre Grenzen überschreiten würden.629 Das lässt sich an vielen Beispielen verdeutlichen. So hat das mit seinem modernen Namen als »Annalen« bezeichnete Geschichtswerk des Lampert von Hersfeld aus dem 11. Jahrhundert nur in seinen älteren Teilen den Charakter von Annalen, während die »zeitgeschichtlichen« Teile weitaus ausführlicher und dichter sind und als historia gekennzeichnet werden müssen. Auch die Hamburger Kirchengeschichte Adams von Bremen ist wenig einheitlich. Bietet der erste Teil so etwas wie einen Bischofs-Katalog, schließen sich Elemente der Historie und der Lebensbeschreibung an. Ähnliches gilt für die sinnvolle Unterscheidung zwischen der mit der Schöpfung einsetzenden und mit dem Jüngsten Gericht endenden Weltchronik und der konkreten »Zeitgeschichte«, wie sie z. B. mit den beiden großen Werken Ottos von Freising aus der Mitte des 12. Jahrhunderts vorliegen, der »Chronik« und den »Taten Friedrichs« (Gesta Friderici). Obwohl eine Differenzierung naheliegt, hat Otto beide Werke gleichermaßen als historia verstanden.630 Bei den modernen Begriffsbildungen muss man sich folglich immer klarmachen, dass sie nur teilweise auf mittelalterlichen Kategorien fußen und teilweise Unterscheidungen treffen, die den Zeitgenossen so nicht bewusst waren. Geht man von Ansätzen der Literaturwissenschaft aus, bilden die literarischen Gattungen keine feststehenden Normen, die immer wieder erneuert werden müssen, sondern vielmehr nur einen durch wechselnde Intentionen bestimmten Rahmen, der jeweils der aktuellen Situation angepasst wird. In diesem Sinne lässt sich auch die erwähnte Begriffsbildung bei Gervasius von Tilbury für eine Unterscheidung verschiedener Gattungen von Geschichtsschreibung nutzen, insofern deutlich zwischen zwei verschiedenen Zugängen unterschieden wird.631 Denn nach Gervasius geht es den Verfassern von Chroniken, den chronici, darum, die Abfolge der Tage, Monate und Jahre mit den Handlungen berühmter Persönlichkeiten in Verbindung zu bringen, während die Autoren der Historien, die historici, die Taten, die Einstellung und Lebensführung der behandelten Personen in den Mittelpunkt stellen und sie ausführlich und stilistisch anspruchsvoll charakterisieren und würdigen. Bei den chronici steht somit die zeitliche Abfolge im Vordergrund, bei den historici dagegen die angemessene Darstellung der Ereignisse. Auf dieser Grundlage kann aus der Perspektive der modernen Geschichtswissenschaft auch zwischen chronographia und historiographia unterschieden 629 Melville, System, S. 310. 630 Goetz, »Geschichte«, S. 189. 631 Schmale, Funktion, S. 108–09.

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Geschichtsbild und Geschichtsschreibung

werden. So hebt die chronographia den linearen Zeitablauf und die genaue Zuordnung der einzelnen Ereignisse hervor, während die historiographia besonderen Wert auf die sprachlich und inhaltlich ausgestaltete Darstellung der Zusammenhänge legt.632 Zum Bereich der chronographia gehören zum einen jene Geschichtswerke, die das Ganze der historischen Entwicklung, Welt- oder Universalgeschichte, oder zumindest einen abgeschlossenen Teil davon, z. B. das christliche Zeitalter (aetas), darstellen, zum anderen die verschiedenen chronica (oft mit diesem Plural von chronicon bezeichnet) und die Annalen, die oft einen zeitgeschichtlichen Abschnitt aus der universalen Geschichte herausgreifen. Der Vorrang der zeitlichen Abfolge zeigt sich z. B. bei den Annalen daran, dass der in den Manuskripten teilweise fast tabellarisch angeordneten Jahreszählung vielfach keine Einträge folgen; auch sonst sind die historischen Ereignisse zumeist nur knapp angedeutet. Ähnliches gilt auch für »Chronographien« im engeren Sinne, auch wenn dies viele der modernen Editionen wegen der Auslassung der inhaltlich nicht ergänzten Jahreszahlen nicht erkennen lassen. Dabei wurden die Jahre teilweise weit im Voraus eingetragen, jeweils mit demselben knappen Raum für die Angaben zu den historischen Ereignissen. Im Fall der Melker Annalen reichen die 1123 angelegten Jahreslisten sogar bis ins 14. Jahrhundert. Zur Gattung der historiographia gehören dagegen alle Geschichtswerke, die nicht nur bei der Auflistung und Beschreibung des Vergangenen stehenbleiben, sondern sich um die Darstellung von Zusammenhängen und um Interpretationen bemühen, oftmals angebunden an die Lebensgeschichte führender Persönlichkeiten innerhalb bestimmter Institutionen, von Königen, Fürsten, Bischöfen, Äbten usw. Über den erzählenden Charakter der historiographia hinaus gibt es allerdings wenige Gemeinsamkeiten, die die als historia bezeichneten Werke miteinander verbinden, wenn z. B. die bereits erwähnte Weltchronik Ottos von Freising, die »Geschichte der beiden Staaten« (Historia de duabus civitatibus), damit derselben Gattung angehört wie die »Geschichte der Welfen« (Historia Welforum) oder ein ebenfalls als historia bezeichnetes liturgisches officium für den Festtag eines Heiligen.633 Der Begriff umfasst somit ein weites Spektrum von Geschichtserzählungen, das von Werken zu einzelnen Ereignissen bis hin zu denen über die handelnden Personen innerhalb von Familien und Institutionen reicht. Wenn man von den ursprünglichen Titeln ausgeht, nicht von den Bezeichnungen, die im Laufe der Rezeptions- oder Forschungsgeschichte entstanden, ergeben sich als Untergattungen von historia Formen wie das chronicon, die gesta oder res gestae, vita und catalogus. Bilden im chronicon die zeitlichen Abschnitte immer noch das wichtigste Gliederungselement, stehen bei den anderen Formen einzelne Personen 632 Melville, System, S. 311–14. 633 Schmale, Funktion, S. 110–11.

Die Formen der mittelalterlichen Geschichtsschreibung

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oder Gruppen von Personen im Vordergrund, wobei diese teilweise wiederum mit Institutionen verbunden waren, mit Reichen, Bistümern oder Klöstern. Ein besonderes Beispiel dafür bietet die »Sachsengeschichte« Widukinds von Corvey, die Res gestae Saxonum, bei der als handelndes Subjekt eine Personengruppe erscheint, die als »Stamm« gewissermaßen institutionell auf sich selbst bezogen ist. Die Vitenliteratur bildet zumindest für das frühere Mittelalter einen weiteren Grenzfall, insofern die Gattung der vita bis ins 12. Jahrhundert im Wesentlichen dem geistlichen Bereich, den Heiligen oder heiligmäßig lebenden Personen, vorbehalten blieb und dabei – anders noch als z. B. bei den antiken Herrscherbiographien – das Allgemeine, Topische, in den Vordergrund stellte.634 Das erste Beispiel für eine Lebensbeschreibung aus dem lateinischen Westen, die nicht einem Märtyrer galt, ist die um 400 entstandene Vita Sancti Martini des Sulpitius Severus. Sie bietet trotz ihres moralisch-erbaulichen Charakters noch ausgewählte Informationen zur Lebensgeschichte Martins,635 doch gewannen nach ihrem Vorbild (und dem der anderen Martin-Schriften des Sulpitius) topische Elemente und Wundergeschichten in späteren Viten mehr und mehr an Bedeutung, so sehr, dass die Forschung vielfach Hagiographie als eigene Gattung begriffen hat, in der die Lebensbeschreibungen nicht mehr individuell, sondern vielmehr als »Heiligenlegenden« verstanden werden müssen. Allerdings gehörten die Viten im mittelalterlichen Verständnis ebenfalls zur Geschichtsschreibung und sollten unabhängig von der geistlich-spirituellen Intention ihrer Urheber auch als solche behandelt werden.636 Denn auch die anderen Geschichtswerke sollen das Wirken Gottes in der Geschichte verdeutlichen,637 und die Heiligen sind in mittelalterlicher Vorstellung in Nachfolge der Patriarchen, Propheten, Apostel und Märtyrer diejenigen Menschen, in denen Gott nach dem Abschluss der in der Bibel fassbaren göttlichen Offenbarung heilsgeschichtlich wirksam wird. Dazu kommt, dass die hagiographischen Quellen seit einiger Zeit über ihren faktischen Gehalt hinaus als wichtige Zeugnisse für zeitgenössische Einstellungen und Mentalitäten herangezogen und interpretiert werden. Obwohl die Ereignisgeschichte in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung durch Personen dominiert ist und vielfach Herrscherjahre zur Datierung verwandt werden, haben dagegen die Lebensbeschreibungen von nicht oder noch nicht als heilig verehrten Personen vor allem im frühen und hohen Mittelalter eine untergeordnete Rolle gespielt. So bilden die Viten Karls d. Gr. und Ludwigs des Frommen von Einhard 634 635 636 637

Lotter, Methodisches, bes. S. 307. Ebd., S. 316. Schmale, Funktion, S. 113. Lotter, Methodisches, S. 313; Werner, Gott, u. a. S. 20–23.

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bzw. vom sogenannten »Astronomus« oder auch von Thegan eine Ausnahme. Viten einzelner Herrscher oder hoher Amtsträger gewannen erst im 11. und 12. Jahrhundert an Bedeutung, mit der Vita Heinrici IV., die eher als »eine Totenklage in Briefform« bezeichnet werden muss,638 und mit – allerdings im Titel schon wieder als gesta bezeichneten – Lebensbeschreibungen wie der des französischen Königs Ludwig VII. oder des englischen Königs Stephan. Ein grundlegender Wandel trat erst im späteren Mittelalter ein, als die Viten auch stärker durch Autobiographien ergänzt wurden, etwa durch den Bericht Karls IV. über seine frühen Lebensjahre, die Vita Caroli IV., oder durch die vielzitierten Mémoires des burgundisch-französischen Rats, Diplomaten und Staatsmanns Philippe de Commynes († 1511), bei dem allerdings wiederum eigene Erlebnisse durch seine Kenntnisse der allgemeinen Situation ergänzt sind. Frühe Vertreter dieser Gattung waren die Autobiographien zweier Gelehrter des 12. Jahrhunderts, Guiberts von Nogent († 1124) und Pierre Abelards. Die Unterscheidung von chronographia und historiographia betrifft die Art und Weise der Darstellung, doch lassen sich Geschichtswerke auch inhaltlich differenzieren, unter anderem nach ihrem Bezug zur jeweiligen Gegenwart. So kann man zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsgeschichte unterscheiden. Während die Vergangenheitsgeschichte – abweichend vom bei Isidor von Sevilla angedeuteten antiken Verständnis von historia – wesentlich auf älteren Werken aufbaut und diese kompiliert, konzentriert sich die Gegenwartsgeschichte in der Regel auf die Ereignisse in der Lebenszeit des Autors, der dabei mindestens teilweise auf eigene Eindrücke zurückgreifen kann, nicht aber auf ältere Bearbeitungen des Themas.639 Ähnlich wie für chronographia und historiographia lassen sich dabei aber vielfach Mischformen feststellen, die zum Teil auch durch die eingeschränkten Informationsmöglichkeiten der Autoren erklärbar sind. Eng damit in Zusammenhang steht eine weitere inhaltliche Differenzierung, die von den Gegenständen der Geschichtswerke ausgeht. So lassen sich neben den Viten Weltchroniken, Reichs-, Volks-, Landes-, Stadt-, Bistums-, Klosterund Kreuzzugsgeschichtsschreibung unterscheiden, wobei auch diese Formen vielfach nicht rein vorkommen. Für die christliche Weltchronistik bildete die Überzeugung, dass die alttestamentarische Überlieferung älter sei als die der heidnischen Dichter und Philosophen, einen wesentlichen Ausgangspunkt. So stellte der Biograph Kaiser Konstantins, der Bischof Eusebius von Caesarea, in seinen bis 325 reichenden »Zeittafeln« (chronicorum canones) die biblische Geschichte den antiken Reichen und Dynastien gegenüber. Sein Werk wurde vom Kirchenvater Hieronymus ins Lateinische übertragen und bis zum Jahr 378 fortgeführt. Es erfuhr in dieser Form weite Verbreitung und 638 Schmale, Funktion, S. 116. 639 Goetz, Geschichtsschreibung, S. 112.

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wurde unter anderem vom spanischen Priester Paulus Orosius aufgenommen, der in seinen »Geschichten gegen die Heiden« (Historiae adversus paganos) die Ereignisse vom Sündenfall bis zum Jahr 417 darstellte und sie im Sinne Augustins mit der biblischen Heilsgeschichte konfrontierte. Das Geschichtswerk des Orosius, das grundlegend für die mittelalterliche Geschichtsschreibung wurde,640 fand vielfache Fortsetzung und Nachahmung, und das aus der christlichen Spätantike überkommene Geschichtsbild wurde dann vor allem durch Isidor von Sevilla für den »Schulgebrauch« systematisiert. Auf dieser Tradition baut selbst noch die mehrfach erwähnte Weltchronik Ottos von Freising aus der Mitte des 12. Jahrhunderts auf. Eine gewisse Wandlung trat dann allerdings im späteren Mittelalter ein, als der Dominikaner und päpstliche Pönitentiar Martin von Troppau (Martinus Polonus, † 1278) eine Papst- und Kaiserchronik als Nachschlagewerk für Theologen und Juristen kompilierte.641 Zusammen mit einer darauf aufbauenden Kompilation eines süddeutschen Franziskaners, den »Blüten der Zeiten« (Flores temporum), bildete das Werk Martins seinerseits die Grundlage zahlreicher Fortsetzungen und weiterer Kompilationen, die oft pauschal als »MartinsChroniken« bezeichnet werden und teilweise eine ausgefeilte graphische Umsetzung erfuhren.642 Diese Geschichtswerke schließen insofern an frühere synchronistische Überblicke an, als für die einzelnen Epochen jeweils Päpste und Kaiser in knappen Biographien gegenübergestellt sind. Sie kamen wohl einem weit verbreiteten, »populären« Interesse an Geschichte entgegen und dürfen deshalb nicht so negativ beurteilt werden, wie dies lange geschehen ist.643 So lässt sich kaum behaupten, dass die »Martins-Chroniken« das Interesse an Geschichte eher vermindert hätten und auch selbst kein ernsthaftes Interesse an Geschichte erkennen ließen. Vielmehr zeigt gerade die weite Verbreitung ein wachsendes Interesse an historischen Zusammenhängen auch jenseits der klerikalen gebildeten Schichten. Zudem vermitteln diese Werke ähnlich wie die von der älteren Forschung abgewertete Hagiographie interessante Einsichten in mittelalterliche Einstellungen und Vorstellungen, und sie bildeten ihrerseits noch im Zeitalter des Humanismus die Grundlage für weiterführende Werke. Von den anderen inhaltlich zu differenzierenden Gattungen der Geschichtsschreibung nahmen die Volks- oder hier genauer »Staatsvolkgeschichten«644 im ostgotischen Italien ihren Anfang, als sich Cassiodor noch in spätantik-römischer Tradition der Geschichte der Goten annahm. Darstellungen der Geschichte 640 641 642 643 644

Werner, Gott, S. 8–10. Goetz, Geschichtsschreibung, S. 116. S. z. B. Melville, Geschichte, S. 75–76. So etwa Grundmann, Geschichtsschreibung, S. 23. Nach Schmale, Funktion, S. 126.

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Geschichtsbild und Geschichtsschreibung

der Franken durch Gregor von Tours, der Westgoten durch Isidor von Sevilla, der Angelsachsen durch Beda und der Langobarden durch Paulus Diaconus († um 799) folgten. Sie fanden unter anderem in den »Reichsannalen« der Karolingerzeit und in der altenglischen Angelsachsenchronik eine Fortsetzung. Im Spätmittelalter entstanden dann in gewisser Anknüpfung daran erste Formen von »Nationalgeschichtsschreibung«, die sich häufig durch Rückgriffe auf eine weit zurückliegende »Vorgeschichte« auszeichnet.645 Auch die Historiographie der geistlichen Institutionen erfuhr vielfältige Veränderungen. So entstanden die ersten Bistumsgeschichten wohl vor allem aufgrund der besonderen Situation im Westfrankenreich. Ausgangspunkt war zwar noch die Metzer Bischofsgeschichte des Paulus Diaconus aus dem 8. Jahrhundert, doch setzte die Entwicklung verstärkt im 10. Jahrhundert ein, unter anderem mit der Reimser Kirchengeschichte des Flodoard.646 Im Reich eröffnete die Hamburger Kirchengeschichte Adams von Bremen eine Reihe ähnlicher Werke im norddeutschen Raum, für Hildesheim, Halberstadt, Magdeburg und Merseburg. Seit dem 13. Jahrhundert entwickelte sich dann eine eigene Historiographie der Städte, in Deutschland zunächst vor allem im Rheinland.647 Im Laufe des Spätmittelalters kam es dann vielfach zu einer weiteren Vermischung der Formen. So enthält z. B. die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Straßburg entstandene PapstKaiser-Chronik des Fritsche Klosener zugleich Elemente einer Stadt- und Landesgeschichte.

II.

Die Entwicklung der mittelalterlichen Geschichtsschreibung

Schon die formale Vielgestaltigkeit erschwert den Überblick über die mittelalterlichen Geschichtswerke, doch kommt noch die Vielzahl der Texte hinzu. Zudem ist ein relativ großer Anteil unzureichend ediert oder liegt sogar noch überhaupt nicht in modernen Editionen vor. Allgemeine Beobachtungen haben daher notwendig einen vorläufigen Charakter, auch wenn die Lage für das frühere Mittelalter übersichtlicher ist als für die spätere Zeit. Einflussreich war zunächst die christliche Weltchronistik, die mit den Werken des Eusebius von Cäsarea, des Hieronymus und des Orosius weite Verbreitung fand; daneben entstand eine eigene historiographische Überlieferung bei den germanischen Völkern, die teilweise, wie in der altnordischen Literatur, mündlich und volkssprachlich bewahrt und erst seit dem 12. Jahrhundert niedergeschrieben wurde, teilweise, wie bei der Gotengeschichte Cassiodors, die allerdings nur in der Be645 Kersken, Geschichtsschreibung, S. 786–816. 646 Schmale, Funktion, S. 136. 647 Ebd., S. 137–38.

Die Entwicklung der mittelalterlichen Geschichtsschreibung

267

arbeitung durch Jordanes erhalten ist, sowie bei der Frankengeschichte Gregors von Tours, die weitgehend zeitgeschichtlich orientiert war,648 einen schriftlichen Niederschlag in lateinischer Sprache fand. Allerdings begründete dies in der Regel keine kontinuierliche Tradition. So wurde das Werk Gregors in der späteren Merowingerzeit durch die unter dem Namen Fredegars überlieferten Aufzeichnungen nur unvollkommen fortgesetzt, und erst die Missions- und Reformbemühungen der Karolingerzeit brachten einen neuen »Aufschwung«. So entstand bald nach der Königserhebung Pippins 752 durch einen seiner Verwandten eine Bearbeitung der Fredegar-Texte als Historia vel gesta Francorum (»Geschichte oder Taten der Franken«), die sogar fast wie eine Hauschronik der Karolinger fortgeführt wurde; und unter Karl d. Gr. entwickelten sich die Klosterannalen und die fränkischen Reichsannalen. Diese Tendenz setzte sich mit der Karlsbiographie Einhards sowie mit den vier Büchern »Geschichten« (Historiae) Nithards fort, die als im Auftrag Karls des Kahlen entstandene »Gegenwartsgeschichte« die Entwicklung vom Tode Karls d. Gr. 814 bis kurz vor den Vertrag von Verdun 843 schildern.649 Einhard und Nithard waren Laien, deren literarische Interessen vor dem Hintergrund der Bildungsreform Karls d. Gr. und der von Alkuin begründeten Hofschule verstanden werden müssen. Mehr und mehr blieb jedoch die schriftliche Darstellung von Geschichte erneut dem Klerus vorbehalten, war literarische Bildung von Laien die Ausnahme. So stammen schon die Geschichtswerke der späteren Karolingerzeit wieder vor allem von Geistlichen, so etwa die Weltchroniken Frechulfs von Lisieux von 829, eine Kompilation der Geschichte von Adam bis in die Zeit Gregors d.Gr. und der langobardischen Herrschaftsbildung, die Ados von Vienne († 874) sowie die des 899 abgesetzten Abts Regino von Prüm, die die Zeit von Christi Geburt bis ins Jahr 906 abdeckt. Dazu kamen die Metzer Bistumsgeschichte des Paulus Diaconus, umfangreiche hagiographische Aktivitäten sowie eine geistliche Geschichtsdichtung.650 Ähnliche Entwicklungen lassen sich im angelsächsischen Bereich beobachten. Frühen christlich-keltischen Geschichtswerken, die unter den Namen Gildas und Nennius erhalten sind, folgte neben älteren Herrschergenealogien im angelsächsischen Bereich vor allem das überragende Werk Bedas, das neben der »Kirchengeschichte des englischen Volkes« (Historia ecclesiastica gentis anglorum) eine Geschichte der Äbte von Wearmouth und Jarrrow (Historia Abbatum), zwei Arbeiten zur Chronologie, die kleinere Weltchroniken enthalten, sowie zwei Biographien des hl. Cuthbert umfasst.651 Ähnlich wie im Frankenreich begrün648 649 650 651

Heinzelmann, Gregor, S. 96. Brunhölzl, Geschichte, 1, S. 400–02. Grundmann, Geschichtsschreibung, S. 19–20, 52–55. Gransden, Writing, S. 14–15.

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Geschichtsbild und Geschichtsschreibung

dete Bedas Wirken keine historiographische Tradition. Der Anstoß ging in England vielmehr Ende des 9. Jahrhundert vom westsächsischen König Alfred d. Gr. (†899) aus, der sich unter dem Eindruck der Wikingereinfälle um Reformen bemühte, unter anderem auch um die Erneuerung der in England stärkeren volkssprachlichen Tradition. So wurde in seiner Zeit unter anderem Orosius’ »Geschichte gegen die Heiden« ins Altenglische übersetzt, und mit der ab 892 in verschiedenen Klöstern fortgeführten Angelsachsenchronik, die in der Zeit von Christi Geburt einsetzt, lagen volkssprachliche Annalen vor. Diese wurden mit anderen Materialien auch zu einer Lebensbeschreibung Alfreds kompiliert, die zu Recht mit dem Namen Assers, des Bischofs von Sherborne († 909/10), verbunden wird.652 Anfang des 10. Jahrhunderts führten die Wikinger-, Ungarn- und Sarazeneneinfälle auf dem Kontinent in verschiedenen Regionen zu einer Unterbrechung der historiographischen Tätigkeit. Nachdem zunächst vielfach nur knappe Annalen geführt wurden, begann jedoch in der Zeit Ottos I. wieder eine reichere Geschichtsschreibung. So wurde die Chronik Reginos von Prüm bis 967 durch Adalbert von Weißenburg fortgesetzt, und mit der Sachsengeschichte Widukinds von Corvey und den Werken Luitprands von Cremona liegen aussagekräftige Berichte über das ottonische Kaisertum vor. Um 1000 entstand dann mit der Chronik Thietmars von Merseburg ein weiteres bedeutendes Werk zur Reichsgeschichte, das zugleich schon dem mit Adam von Bremen im Reich fassbaren Typus der Bistumsgeschichte vorgreift, nachdem die Geschichte einzelner Bistümer zunächst im Westfrankenreich behandelt worden war.653 Dort entstanden im 10. und 11. Jahrhundert nur wenige »Historien«, so die Richers von Reims, die die Jahre 888–998, und die Raoul Glabers († um 1046), die die Jahre 900–1044 behandeln. Beide waren von antiken Vorbildern beeinflusst, Richer insbesondere von Sallust.654 Weltchroniken entstanden zunächst weder im Ost- noch im Westfrankenreich, doch führte in Deutschland die Herrschaft des ersten Saliers, Konrads II., zur Erneuerung der Herrscherbiographie. So schrieb Konrads Kaplan Wipo zwischen 1040 und 1046 seine Gesta Chuonradi Imperatoris (»Taten Kaiser Konrads). Nach einer Unterbrechung durch den Investiturstreit, der seinerseits zahlreiche Geschichtswerke anregte, etwa die erwähnten »Annalen« Lamperts von Hersfeld oder den Liber ad amicum (das »Buch an einen Freund«) des Bischofs Bonizo von Sutri (um 1085/86),655 schrieb im deutschen Raum erst Otto von Freising wieder 1157 eine Herrscherbiographie, die »Taten Friedrichs«, nachdem nach der Wahl Friedrichs I. 1152 jene negative 652 653 654 655

Whitelock, Asser, bes. S. 20–21. Grundmann, Geschichtsschreibung, S. 55–57. Van Caenegem, Quellenkunde, S. 35. Goetz, Geschichtsschreibung, S. 203–04, 321–36.

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Stimmung umgeschlagen war, die nach dem Misserfolg des Zweiten Kreuzzugs von 1147/1149 geherrscht hatte. Schon zwei Jahrzehnte zuvor hatte einer der französischen Könige, Ludwig VI., seinen Biographen gefunden, den Abt Suger von St. Denis († 1151); und um 1150 entstand die Lebensbeschreibung des wenig erfolgreichen englischen Königs Stephan, die Gesta Stephani. Überhaupt erlebte das 12. Jahrhundert eine Blüte der Geschichtsschreibung, zumal auf dem Kontinent erstmals auch volkssprachliche Texte eine Rolle spielten, zunächst vielfach in Versform. Das gilt für den Roman de Rou, die Geschichte der normannischen Herzöge seit Rollo, des Dichters Wace ebenso wie für die anonyme Regensburger Kaiserchronik, die beide um 1160 entstanden.656 Zugleich waren an der lateinischen Historiographie wieder Laien beteiligt, so z. B. der kaiserliche Pfalzrichter Otto Morena und sein Sohn Acerbus im staufisch beeinflussten Oberitalien, die mit der Geschichte Lodis von 1153 bis 1164 auch die Friedrichs I. schilderten. In Deutschland wurde in dieser Zeit z. B. die »Kölner Königschronik« (Chronica regia Coloniensis) in mehreren Fortsetzungen von 1175 bis 1249 geführt und vermittelt wichtige Eindrücke zur Reichsgeschichte, während die englische Politik in umfangreichen chronikalischen Werken von Roger von Hoveden, Wilhelm von Newburgh, Matthäus Parisiensis und anderen fassbar wird.657 Der Übergang zum späteren Mittelalter ist vor allem durch das Aufkommen einer stärker auf die einzelnen nationes hin orientierten Historiographie gekennzeichnet. Während in England z. B. die Chronica maiora des Matthäus Parisiensis noch bewusst Nachrichten aus der gesamten lateinischen Christenheit vereint, die ihn nicht zuletzt über die Gäste seines Klosters, St. Albans, und ein Netzwerk von Beziehungen erreicht hatten,658 gewann die nationalgeschichtliche Konzeption in England seit dem Ende des 13. Jahrhunderts an Bedeutung.659 Ähnliches lässt sich für die anderen europäischen Regionen beobachten, wenn auch teilweise mit gewisser zeitlicher Verzögerung. So begründeten z. B. John Barbour († 1395) und Johannes von Fordun († 1385/87) am Ende des 14. Jahrhunderts eine schottische Nationalgeschichtsschreibung, gegründet auf das durch die Unabhängigkeitskriege gegen England gewachsene Nationalbewusstsein. Diese wurde dann im 15. Jahrhundert unter anderem durch das Scotichronicon des Walter Bower († 1449), Abt von Inchcolme, fortgesetzt, das bis zum 16. Jahrhundert »die erste und einzige vollständige Darstellung der schottischen Geschichte« blieb und bezeichnenderweise auch eine Gründungssage ein656 657 658 659

Van Caenegem, Quellenkunde, S. 32–33. Grundmann, Geschichtsschreibung, S. 61–63. Gransden, Writing, S. 360. Kersken, Geschichtsschreibung, S. 248.

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schloss.660 Auch die Länder des ostmitteleuropäischen Raums schlossen sich diesen nationalgeschichtlichen Tendenzen an, so in Polen unter anderem mit der anonymen »Chronik der Fürsten von Polen« (Chronica principum Polonie), die die Geschichte des Landes bis 1382 führt und dem Herzog von (Schlesien-)Brieg gewidmet ist,661 sowie im 15. Jahrhundert mit den Schriften des Johannes Długosz († 1480). Einen ebenso bedeutenden Anteil gewann jetzt aber auch die städtische Geschichtsschreibung, die sich, wie angedeutet, teilweise mit den Weltchroniken verband.662 Das gilt z. B. für Geschichtswerke des Hanseraums, die teilweise von Mitgliedern der Bettelorden verfasst wurden, die traditionell eng mit den Städten verbunden waren. So behandelt z. B. auch der Lübecker Dominikaner Hermann Korner, der mit seiner Chronica novella die dem Franziskaner-Lesemeister Detmar zugeschriebene Chronik fortsetzte, den gesamten Verlauf der Weltgeschichte. Zum Teil wurde auch die Landesgeschichte in den universalhistorischen Kontext eingebettet, etwa in der »Thüringischen Weltchronik« des Johannes Rothe († 1434).663 Dazu kamen weitere, eigenständige Weltchroniken, unter anderem die des Dominikaners und Erzbischofs von Florenz, Antonino Pierozzi († 1459), die ebenso wie die Weltchronik des Tübinger Universitätskanzlers Johannes Nauclerus († 1510) und die tabellarische, »lineare« Übersicht des westfälischen Augustiner-Eremiten Werner Rolewinck († 1502) auch im Druck verbreitet wurde.664

III.

Linearer Geschichtsverlauf und Endzeiterwartung: die Entwicklung der Geschichtsbilder

Grundlage aller angeführten Geschichtswerke war die christliche Geschichtstheorie, die von dem schon durch die Bibel vorgegebenen linearen Verlauf der Entwicklung ausging, von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht. Dabei spielte anfangs die Abwehr apokalyptischer Vorstellungen eine entscheidende Rolle, die auf die Verzögerung der Wiederkehr (Parusie) Christi mit einer radikalen Ablehnung von Welt und Geschichte reagierten. Dagegen suchten die Kirchenväter die Kontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Testament nachzuweisen und gleichzeitig das revolutionäre Element in den Endzeitvorstellungen zu entschärfen. Dabei wurde die Geschichte des Römischen Reichs in die Konzeption 660 661 662 663 664

Ebd., S. 368–71. Ebd., S. 516–19. Vgl. u. a. Graus, Patze, Zusammenfassungen, S. 842. Honemann, Rothe, S. 497. Melville, Geschichte, S. 79; allgemein vgl. von den Brincken, Rezeption, bes. S. 233–35.

Linearer Geschichtsverlauf und Endzeiterwartung

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der Heilsgeschichte integriert – das Erscheinen Christi in der Epoche des Augustus war kein Zufall –, und seine Bedeutung für die Ausbreitung des Christentums wurde anerkannt.665 Dies spiegelte sich auch in der Geschichtsschreibung. So betonte z. B. Orosius in seinen »Geschichten gegen die Heiden« noch stärker als Augustinus die Bedeutung des Römischen Reichs für die Heilsgeschichte. Dabei übernahm er von den älteren Bibelexegeten die Deutung der Traumvisionen Nebukadnezars und Daniels, nach der eine vierteilige Gestalt bzw. vier Raubtiere mit den Reichen der Assyrer, Perser, Makedonier und Römer gleichzusetzen waren. Die Weltgeschichte war danach als eine Abfolge dieser vier Weltreiche zu verstehen, von denen das Römische das letzte bildete. Mit seinem Ende war auch das Ende der Geschichte und die Zeit des Jüngsten Gerichts erreicht.666 Diese Vorstellung konkurrierte mit der der sechs Weltalter, die die Weltgeschichte als Heilsgeschichte in sechs Phasen gliederte, die mit den sechs menschlichen Lebensaltern und den sechs Tagen der Schöpfung gleichgesetzt wurden. Maßgeblich dafür wurden die Überlegungen Augustins in Buch 22 seiner Schrift »Über den Gottesstaat« (De civitate Dei), der die sechs Weltalter mit Adam, der Sintflut, Abraham, David, der Babylonischen Gefangenschaft und Christus beginnen ließ.667 Weil das sechste Weltalter das letzte war – das siebente entsprach dem siebenten Schöpfungstag und damit dem himmlischen Frieden nach dem Jüngsten Gericht – , sahen sich die mittelalterlichen Geschichtsdenker vielfach kurz vor dem Ende der Welt oder sogar in den letzten Auseinandersetzungen, die dieses Ende einleiteten, wobei auch das mögliche Ende des – nach allgemeiner Vorstellungen erst auf die Franken, dann auf die Deutschen übertragenen – Römischen Reiches eine Rolle spielte. Augustinus hatte sich in Buch 20 von De civitate Dei ausführlich mit der »Weissagung vom Jüngsten Gericht« beschäftigt und sich dabei mit Nachdruck gegen die Berechenbarkeit des Weltendes gewandt. So stellte er unter anderem zusammenfassend fest: »Niemand kann also leugnen oder bezweifeln, dass durch Jesus Christus das Jüngste Gericht, wie es in den heiligen Schriften vorherverkündet ist, abgehalten werden wird. […] Bei diesem Gericht also oder um die Zeit seines Eintretens wird sich das zutragen, wovor wir hier vernommen haben, die Ankunft Elias, des Thisbiters, das Gläubigwerden der Juden, die Verfolgung durch den Antichrist, die Erscheinung Christi zum Gericht, die Auferstehung der Toten, die Scheidung der Guten und der Bösen, der Brand und die Erneuerung der Welt. All das wird kommen, man muss es glauben, aber wie und in

665 Funkenstein, Heilsplan, S. 115. 666 Goetz, Geschichtstheologie, S. 71–79. 667 U. a. Grundmann, Geschichtsschreibung, S. 18.

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welcher Reihenfolge, das wird dereinst die Erfahrung besser lehren, als es jetzt der Menschengeist, dem volle Klarheit versagt bleibt, zu erfassen imstande ist«.668

Diese klare Stellungnahme Augustins hielt aber die Späteren nicht davon ab, Vorhersagen über das Weltende zu machen, vor allem auf der Grundlage der Offenbarung Johannis, der Apokalypse, die ähnlich wie die anderen Bücher der Bibel immer wieder kommentiert und interpretiert wurde. So verfasste z. B. um 780 der im nordspanischen Königreich Asturien lebende monastische Schriftsteller Beatus von Liébana († nach 798) einen umfangreichen ApokalypsenKommentar in zwölf Büchern, der seinerseits auf ältere Vorbilder zurückgriff und in der Erwartung entstand, das sechste Weltalter würde im Jahre 800 ein Ende finden.669 Die Auseinandersetzung mit der erwarteten Endzeit fand jedoch auch in eigenständigen Schriften statt. Eine der einflussreichsten war das um 950 entstandene Werk des Adso von Montier-en-Der († 992), »Über das Kommen und die Zeit des Antichrists« (De ortu et tempore Antichristi). Adso verband darin die Vorstellung über die heilsgeschichtliche Bedeutung des Römischen Reiches mit der Geschichte der fränkischen Teilreiche, in denen nach seiner Interpretation das Römische Reich fortlebte. Der letzte der Frankenkönige, denen grundsätzlich die Herrschaft über das Römische Imperium zukam, sollte nach Adsos Vorhersage dereinst noch einmal das gesamte Römische Reich beherrschen und schließlich seine Krone und sein Zepter in Jerusalem am Ölberg niederlegen. Dann werde das Zeitalter des Antichrist anbrechen. Diese insgesamt sehr einflussreiche Deutung wurde später auf die französischen Könige übertragen.670 Von weitreichender Wirkung waren auch die Vorstellungen, die der süditalienische Abt und Eremit Joachim von Fiore († 1202) in seinen Schriften entwickelte, unter anderem im Liber de Concordia Novi ac Veteris Testamenti (»Buch der Einheit des Neuen und Alten Testaments«) und in seinem Kommentar zur Offenbarung Johannis. Im Liber de concordia fordert er seine Zeitgenossen auf, sich auf die Wirren des nahenden Weltendes geistlich-moralisch vorzubereiten. Den Ablauf der Ereignisse aber glaubt er aus der Heiligen Schrift und aus einer Gesamtschau der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht ableiten zu können.671 Seinen Ausgangspunkt bildet eine Darstellung der vielfachen, vor allem numerischen Übereinstimmungen zwischen Altem und Neuem Testament. Beim generationsweisen Vergleich zwischen israelitischer und Kirchengeschichte setzt er dort mit den Päpsten fort, wo die »Generationen« des Neuen Testaments enden. Den Unterschied zwischen Altem 668 669 670 671

Augustinus, De Civitate, 2, XX,30; übers. nach Thimme, 2, S. 672. Prelog, Beatus, Sp. 1746. Werner, Adso, Sp. 170. West, Zimdars-Swartz, Joachim, S. 41.

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und Neuem Testament vergleicht er mit dem Unterschied zwischen Erde und Himmel, Mond und Sonne sowie Fleisch und Geist. Dabei kommt der Offenbarung Johannis besondere Bedeutung zu, weil sie für ihn die Geschichte der Kirche spiegelt.672 Dies gilt aber auch für die Trinität als Ganze. Die Einheit der Geschichte wird sowohl in den sieben Weltaltern wie auch in der Einheit der drei Personen der Dreifaltigkeit fassbar. Denn die drei Personen der Trinität, Vater, Sohn und Heiliger Geist, stehen ihrerseits für drei Epochen (status), die sich der Zeit des Alten und des Neuen Testaments sowie einem künftigen, bald nach der Zeit Joachims beginnenden, dritten Zeitalter zuordnen lassen.673 Da Joachim auch Angaben über die Zahl der Generationen in den drei Zeitalter macht, begann man bald, den Übergang von Zeitalter des Sohnes zu dem des Heiligen Geistes zu errechnen, zumal seine Ideen rasch Verbreitung fanden, auch in weiteren, ihm zugeschriebenen Schriften. Als das von seinen Anhängern berechnete Jahr 1260 verging, ohne dass sich ein Zeichen für eine neue Epoche einstellte, verloren Joachims Ideen jedoch erheblich an Einfluss.674 Das war allerdings nicht das Ende eschatologischer Hoffnungen und Erwartungen. So hofften die Zeitgenossen der Mitte des 13. Jahrhunderts auf eine Rückkehr des 1250 verstorbenen Kaisers, Friedrichs II., und nahmen an, er würde – in der Formulierung von Ernst Kantorowicz – eines Tages wiederkommen, »um das römische Reich der Deutschen in Pracht und Herrlichkeit wiedererstehen zu lassen. Dann würde er mit dem Frieden die Gerechtigkeit bringen, würde die Heerscharen über das Meer zum Heiligen Lande führen und am dürren Baum den Schild aufhängen und die Krone der Welt niederlegen«.675

Die einst von Adso von Montier-en-Der formulierte Vorstellung eines Endkaisers, der am Ende der Zeiten seine Krone in Jerusalem niederlegen wird, wurde somit auf Friedrich II. übertragen. Bald sah man ihn jedoch im Kyffhäuser auf das Ende der Zeiten warten, und seit 1519 trat sein Großvater, Friedrich I. Barbarossa, an seine Stelle. Eschatologische Vorstellungen spielten daneben auch in vielen anderen Zusammenhängen eine Rolle. Das Ende der Geschichte wurde insbesondere in der auf die Heilsgeschichte ausgerichteten Weltchronistik immer wieder behandelt; neben der Vergangenheits- und Gegenwartsgeschichte spielte somit auch die Zukunft eine Rolle. So setzte sich z. B. schon Isidor von Sevilla in seiner später in den Etymologien aufgegangenen Chronica maiora mit der Dauer des sechsten Weltalters auseinander, beharrte aber mit Augustinus darauf, dass diese nicht näher bestimmbar 672 673 674 675

Ebd., S. 47–49. Ebd., S. 58–60. Ebd., S. 102. Kantorowicz, Kaiser, 1, S. 631.

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sei. Während für ihn so der Tag des Jüngsten Gerichts in unbestimmbare Ferne rückt, hebt er die Notwendigkeit für jeden einzelnen hervor, sich auf das individuelle Ende vorzubereiten.676 Ähnlich an Augustinus orientiert sind auch Bedas Liber de temporibus (»Buch über die Zeiten«) und De temporum ratione (»Über das Wesen der Zeiten«). So werden entsprechende Vorzeichen für das kommende Ende der Geschichte genannt, nämlich die Bekehrung der Juden durch die Wiederkehr der Propheten Henoch und Elias und daran anschließend das Wüten des Antichrist, allerdings nicht das Ende des Römischen Reichs. Beda weicht auch insofern von älteren Vorlagen ab, als er nicht von der jüdischen Herkunft des Antichrists ausgeht. Vielmehr ist dieser bei ihm eine Gestalt eher teuflischen Ursprungs, die dann durch Christus oder den Erzengel Michael getötet werden wird. Die der Offenbarung Johannis zu entnehmende dreieinhalbjährige Zeit der Verfolgung kann seiner Auffassung nach nicht schon der Frist vom Auftreten des Antichrists bis zum Jüngsten Gericht entsprechen, da wir sonst den Tag des Gerichts genau bestimmen könnten. Er schlägt dafür allerdings dann mit Hieronymus doch eine zusätzliche Zeit der Ruhe von 45 Tagen vor, die möglicherweise die Geduld der Heiligen auf die Probe stellen soll.677 Mit seiner Ablehnung einer Berechenbarkeit der Wiederkehr Christi gab Beda aber die Linie der weiteren Entwicklung vor: Bis ins 14. Jahrhundert wurde in den Weltchroniken kein Versuch unternommen, das Datum der Parusie mit Hilfe der Weltalter oder auf anderem Wege zu bestimmen. Wenn Beda überhaupt das Weltende in seine Darstellung aufnahm, geschah dies in der Absicht, der Unbeständigkeit der weltlichen Geschichte die göttliche Ewigkeit entgegenzustellen. Diese Vorstellung wurde dann im Hochmittelalter durch Otto von Freising weiterentwickelt,678 im achten Buch seiner schon im Titel an Augustinus anknüpfenden Weltchronik, der Historia de duabus civitatibus. Der Ansatzpunkt für ihn ist die schwierige Lage des auf die Deutschen übergegangenen Römischen Reiches in der Zeit Konrads III., die nach Ottos Auffassung insbesondere daraus resultiert, dass die von Augustinus geforderte Einheit der beiden »Staaten« im Investiturstreit auseinandergebrochen sei.679 So sieht er das Ende des letzten der großen Weltreiche gekommen, hofft jedoch, dass das Aufkommen der Reformorden des 12. Jahrhunderts das Weltende hinausschieben werde, zumal die Mönche für ihn durch ihre Lebensweise weitab von den Wechselfällen der Welt in gewissem Sinne schon die Ruhe des siebenten Weltalters genießen.

676 677 678 679

Haeusler, Ende, S. 25–26. Beda, De temporum ratione, 69, S. 538–40; übers. Wallis, S. 241–43. Haeusler, Ende, S. 27–31. Lehner, Endzeitentwürfe, S. 51–55.

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Auch Otto setzt den Antichrist mit dem Teufel in Verbindung, ohne aber wie Adso von Montier-en-Der und andere so etwas wie einen Lebenslauf für diesen zu entwickeln. Aus einem der Paulusbriefe (2 Thess. 2,3) übernimmt er den Abfall (discessio) als eines der Vorzeichen des nahenden Weltendes, den er in dreifacher Hinsicht für möglich hält: als Abfall vom Glauben und von der römischen Kirche sowie als Verfall der iustitia, der Gerechtigkeit, des Römischen Reiches, der sich vor allem im nachlassenden Respekt vor den Herrschern äußert.680 Allerdings kommt dem letzten Kaiser entgegen den Vorstellungen Adsos für Otto im Zusammenhang der Verfolgung durch den Antichrist eine negative Rolle zu, denn er wird sich an dessen Kampf gegen das Gute beteiligen. Der Antichrist zeichnet sich bei ihm vor allem durch seinen Hochmut (superbia) aus, der ihn als Gegenbild Christi beherrscht, sowie durch seine negativen Überredungskünste, mit denen er jene »Weisen« gewinnen werde, die sich der Vernunft zugewandt hätten; eine Feststellung, mit der Otto wohl gegen die nicht nur in Paris einflussreichen Vertreter einer dialektisch geprägten Theologie polemisiert.681 Nach der durch die Bibelstellen vorgegebenen dreieinhalbjährigen Verfolgung wird dann jedoch der Antichrist durch Gott getötet. Dabei ist diese Zeit, so Otto, »von dem allbarmherzigen Richter wegen der Grausamkeit der Verfolgung um der Auserwählten willen […] so kurz bemessen«. Es folgt die Bekehrung der Juden und »eine Zeit für die Buße, deren Dauer kein Sterblicher kennt […]; dann kommt unzweifelhaft der Untergang des verworfenen Staates und der Aufstieg des Staates Christi, und der Tag des Herrn bricht an«.682

In Bedas und Ottos Tradition entwickelte sich die Weltchronistik im hohen und späten Mittelalter endgültig zu einem weit verbreiteten Genus, das – wie angesprochen – teilweise auch regionale oder sogar lokale Anbindung nicht ausschloss und vielfach das Ende der Welt diskutierte. Ein Beispiel dafür ist noch der Liber chronicarum, das »Buch der Chroniken und Geschichten«, des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel, das 1493 erstmals im Druck erschien, in deutscher wie in lateinischer Sprache. Darin ist zwar dem sechsten Zeitalter weitaus der meiste Raum gewidmet, mehr als die Hälfte des Bandes, doch setzt sich Schedel auch in einem kurzen eigenen Kapitel mit dem siebenten Weltalter auseinander.683 Stützt er sich sonst auf das 1484 erschienene Supplementum Chronicarum des Jacopo Filippo Foresti, ist die Geschichte der Endzeit wesentlich und teilweise wörtlich aus Bedas De temporum ratione übernommen. Dabei stellt Schedel allerdings die wesentlichen Elemente flüchtig und teilweise 680 681 682 683

Otto von Freising, Chronica, VIII,2, S. 588–91. Haeusler, Ende, S. 33–38. Otto von Freising, Chronica, VIII,6–7, S. 596–97. Hartmann Schedel, Register, Bl. 259v–262v.

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in der falschen Reihenfolge zusammen, und Henoch und Elias werden, wie bei einer Kompilation aus verschiedenen Vorlagen, sogar zweimal vorgestellt.684 Bleibt Schedels Chronik damit weitgehend traditionell, findet sich in anderen hoch- und spätmittelalterlichen Werken zum Teil ein von den sonst gängigen Vorstellungen abweichendes Schema der Weltalter, z. B. bei Giovanni Codagnello, der wohl in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts als Notar in Piacenza tätig war. Seine umfangreiche »Chronik« ist eine Kompilation zur Weltgeschichte von der Schöpfung bis 1235. Er bezieht sich in einem einleitenden Abschnitt auf die bei Hesiod und im Buch Daniel vorgenommene Einteilung der Geschichte in vier Weltalter, die einer »Hierarchie der Metalle« folgt, also in das goldene, das silberne, das bronzene und das eiserne Zeitalter. Das goldene Weltalter reicht für Codagnello von der Schöpfung bis zur Sintflut und das silberne bis Abraham, in Analogie zu den ersten beiden Perioden in der traditionellen Einteilung. Dann werden die drei Perioden bis zu Christi Geburt als bronzenes Weltalter zusammengefasst, während die letzte, die eiserne Epoche, wieder mit dem sechsten Weltalter identisch ist,685 aber auch mit dem vierten und letzten Weltreich, dem Römischen Reich, in Verbindung gebracht wird. Wie dies schon aus der »Hierarchie der Metalle« erkennbar ist, sieht Codagnello in der Weltgeschichte einen stetigen, vor allem moralischen Abstieg. Seine gegenwartskritische Haltung steht zugleich in enger Beziehung zu seiner feindlichen Haltung gegenüber den Staufern, insbesondere gegenüber Friedrich II. So erscheint in einem Einschub zur fränkischen Geschichte eine Herrscherreihe des Römischen Reiches, nach der die Kaiser zunächst aus Sachsen, dann aus Bayern und schließlich zum Ende des letzten Weltalters aus Schwaben stammen würden. Unter dem letzten Kaiser aus Suebia werde das Reich jede Bedeutung verlieren, insbesondere, weil dieser Kaiser nicht mehr selbst in Schwaben geboren werde – eine klare Anspielung auf den in Unteritalien geborenen Friedrich II. Allerdings geht Codagnello nicht so weit, Friedrich mit dem Antichrist zu identifizieren; vielmehr wird nach seiner Vorstellung das Römische Reich in verschiedene Teile zerfallen und dann nach und nach durch den von den Juden als Pseudomessias verehrten Antichrist erobert werden.686 Das vorherrschende mittelalterliche Geschichtsbild war somit nicht nur durch den heilsgeschichtlich bedingten linearen Verlauf der Geschichte bestimmt, sondern ebenso von konkreten eschatologischen Vorstellungen über das Ende der Welt, die im Laufe der Entwicklung vielfach ergänzt und ausgeschmückt wurden. Erweiterungen und Interpretationen erfuhren jedoch auch viele andere Stellen der biblischen Geschichte, etwa die Geschichte der Söhne Noahs, bei 684 Haeusler, Ende, S. 139. 685 Text bei Holder-Egger, Werke, S. 312. 686 Haeusler, Ende, S. 51–54.

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der das unziemliche Verhalten Chams und die Verfluchung seiner Nachfahren, der Kanaaniter, durch Noah als Erklärung für die Unfreiheit eines Teils der Menschheit herangezogen wurde, gewissermaßen als zweiter Sündenfall. Stammten von Cham somit die Knechte ab, wurden die in der angeschlossenen Völkertafel aufgelisteten, von Noah gesegneten, Nachfahren Schems und Japhets zu führenden Völkern und Eroberern bzw. im späteren Verständnis zu Freien und Rittern (Gen 9, 25–27, und 10).687 Vielfache Aufmerksamkeit fand auch der biblische Bericht über den Turmbau zu Babel, der nach eher traditioneller Rezeption im früheren Mittelalter einen Ausbau der Theorien vor allem seit dem 12. Jahrhundert und danach neue Deutungen unter humanistischen Vorzeichen erfuhr. Fehlt im früheren Mittelalter, etwa bei Beda,688 eine Diskussion über die Entstehung der verschiedenen Völker und Sprachen durch den Turmbau zu Babel fast völlig, lassen sich im 12. Jahrhundert zwei gegenläufige Tendenzen beobachten. So war einerseits der universalgeschichtliche Kontext von untergeordneter Bedeutung, weil man mit der für Bildung und Wissenschaft immer noch grundlegenden lateinischen Sprache über ein verbindendes, für die wissenschaftliche Diskussion geeignetes und allumfassendes Medium verfügte. Das regionale oder nationale Geschichtsbewusstsein suchte andererseits nur das eigene Volk oder auch die eigene Sprache historisch zu legitimieren. Davon unabhängig findet sich der heilgeschichtliche Ansatz vor allem im deutschen Raum.689 In diesen Kontext gehört wiederum das Werk Ottos von Freising, der sowohl an die Geschichte von den Söhnen Noahs wie auch an den Turmbau zu Babel anknüpft, ohne diesem allerdings größere Bedeutung für die weitere Entwicklung beizumessen. Otto nennt jedoch die 72 Sprachen, die infolge des Turmbaus entstanden, und verweist in augustinischer Tradition auf den Vorrang der drei wichtigsten, des Hebräischen, des Griechischen und des Lateinischen. Letzteres steht für ihn deutlich über den Volkssprachen, etwa dem Deutschen oder dem Französischen, deren Gebrauch für ihn nicht der fortbestehenden Einheit des Reiches widersprach.690 Dies sollte sich im späteren Mittelalter grundlegend wandeln: Nun spielten die Volkssprachen eine immer wichtigere Rolle, auch für die literarische Auseinandersetzung. Damit begann die vorhin angesprochene, bereits national geprägte Geschichtsschreibung, die die eigenen Völker und Sprachen verteidigte, ihre Anfänge in einem offenen »Wettlauf«691 immer weiter zurückverlegte und ihren Rang durch bedeutendere Ahnen zu steigern suchte. Dies zeigte sich z. B. bei den 687 688 689 690 691

Borst, Turmbau, S. 120, 673. Ebd., S. 481–83. Ebd., S. 729. Ebd., S. 662–64. Ebd., S. 920.

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Abb. 5: Petrus de Ebulo, Liber ad honorem Augusti, Bern, Burgerbibliothek, Cod. 120.II, fol. 146r; Ausschnitt der Abbildung, Tankred von Lecce unter dem Rad der Fortuna. [https://www.e-codice s.unifr.ch/de/bbb/0120-2/146r, hier bearbeitet]

führenden deutschen Herrscherfamilien, bei Luxemburgern und Habsburgern.692 So hat z. B. Karl IV. 1355/57 auf seiner Burg Karlstein eine Genealogie an die Wand zeichnen lassen, die mit Noah beginnt und über Cham – da offenbar die anderen Linien nicht genug »hergaben« – zunächst zu Nimrod führt, auf den als Erbauer des Turms zu Babel hingewiesen wird. Daran schließen sich unter anderem die Trojaner und die Franken, Chlodwig und Karl d. Gr. an. Der Boden für die habsburgischen Vorstellungen wurde durch den Zisterzienserabt Johann von Viktring († 1345) in seinem »Buch gewisser Geschichten« (Liber certarum his692 Vgl. auch Spieß, Identitäten, S. 19, 25.

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toriarum) bereitet, der die österreichische Geschichte in einen universalhistorischen Zusammenhang seit Adam integrierte. Der oberrheinische Chronist Matthias von Neuenburg († 1370) führte schließlich den »Nachweis«, dass die Habsburger unmittelbar von den alten Römern, sogar vom namensgebenden »Romanus« selbst, abstammten.693 Abweichungen vom dabei wie in anderen Darstellungen gewahrten linearen Geschichtsbild gab es kaum. Allerdings blieb daneben in antiker Tradition das Bild vom Kreislauf der Dinge lebendig, symbolisiert durch das »Rad der Fortuna«, wie es z. B. im Liber ad honorem Augusti (»Buch zu Ehren des Kaisers«) des Petrus von Ebulo auf Kaiser Heinrich VI. und seinen sizilianischen Gegenspieler Tankred von Lecce bezogen ist. Augustinus hatte die antiken Vorstellungen über einen »Kreislauf der Zeiten« und die »Wiederkehr des ewig Gleichen« entschieden abgelehnt, auch wenn er sie im biblischen Kontext für das Menschenleben nicht ganz ausschließen konnte.694 In diesem Sinne muss auch das »Rad der Fortuna« verstanden werden, Indem diese ihr Rad dreht, ändert sie zwar das Leben der Menschen, kann aber auf die von Gott für ewig vorherbestimmte Entwicklung keinen Einfluss nehmen. Das »Rad der Fortuna« wurde insbesondere seit dem 12. Jahrhundert in der Geschichtsschreibung häufiger verwandt, um die Wandelbarkeit des Schicksals von Herrscherfamilien aufzuzeigen.695 Die Vorstellung eines »Kreislaufs der Verfassungen«, wie sie Aristoteles in seiner »Politik« formuliert, war dagegen dem vor allem auf die Monarchie fokussierten Mittelalter fremd.

693 Borst, Turmbau, S. 843–44. 694 Demandt, Metaphern, S. 245. 695 Miltenburg, Fortuna, Sp. 665.

13. Die politischen Theorien

Rechtswissenschaften und Geschichtsschreibung stehen in engem Zusammenhang mit einem weiteren Themenfeld, dem der »Politischen Theorien«, die sich noch schwerer als die beiden genannten Disziplinen in den Bildungskanon der mittelalterlichen Schulen und Universitäten einordnen lassen. Denn an den Universitäten waren sie zwar durch die Aristoteles-Rezeption, insbesondere seit der Übersetzung der aristotelischen »Politik« durch Wilhelm von Moerbeke 1260/1265, an der Artistenfakultät verankert, wo dieser Text zusammen mit der 1246/1247 von Robert Grosseteste übertragenen »Nikomachischen Ethik« innerhalb der Moralphilosophie diskutiert wurde. Doch trugen auch die Juristen mit ihren Schriften wesentlich zur Ausbildung theoretischer Vorstellungen über Politik und Gesellschaft bei, und manche Fragen wurden zudem im theologischen Kontext behandelt. Für die früh- und hochmittelalterliche Entwicklung erweist sich eine Zuordnung als noch schwieriger, denn relevante Ansätze müssen sehr unterschiedlichen Zeugnissen entnommen werden, von historiographischen und literarischen Texten bis hin zu Gesetzen und Urkunden. Es gehört zur menschlichen Natur, die Macht sowie die Grundlagen und Formen ihrer Ausübung zu hinterfragen, ebenso wie den Ursprung und die bindende Kraft des Rechts.696 Auch wenn das Mittelalter in der Entwicklung von Antworten auf die damit aufgeworfenen Fragen eine entscheidende Rolle hatte, darf das nicht über das Faktum hinwegtäuschen, dass sich die mittelalterlichen Autoren, die dazu Stellung genommen haben, selbst kaum als politische Denker, sondern als Theologen, Philosophen oder Juristen verstanden haben und dass es weder eine eigenständige Disziplin »Politische Theorie« noch eine eigenständige, alle relevanten Aspekte diskutierende, Literaturgattung zur politischen Theorie gab.697 Vielmehr hat sich die gewisse Einheitlichkeit dieses »Fachs« erst durch die moderne Forschung ergeben.

696 Ullmann, History, S. 12. 697 Canning, History, S. xi.

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Die politischen Theorien

Ein entscheidender erster Impuls ging vom monumentalen Werk Otto von Gierkes über »Das deutsche Genossenschaftsrecht« aus, das zwischen 1868 und 1881 in drei Bänden erschien und von dem der englische Rechtshistoriker Frederick Maitland im Jahre 1900 einen ins Englische übertragenen Auszug aus dem dritten Band unter dem Titel »Political Theories of the Middle Ages« veröffentlichte. Damit war erstmals das reiche mittelalterliche Denken über Politik und Gesellschaft in das Bewusstsein der modernen Forschung getreten, doch folgte bald ein bis heute nützlicher umfangreicher Überblick, die sechs Bände der »History of Mediaeval Political Theory in the West« der Brüder R. W. und A. J. Carlyle.698 Inzwischen ist die mittelalterliche politische Theorie, die man mit Joseph Canning im weiteren Sinne als Gesamtheit der »ideas concerning the nature, organisation, government and ends of society« bestimmen kann, ein fest etablierter Begriff.699 Die mittelalterliche Entwicklung (der Zeit vom 4. bis zum 15. Jahrhundert) beginnt mit den christlichen Vorstellungen über Herrschaft in Spätantike und Frühmittelalter. Daran schließen die politischen Ideen der Karolinger-, Ottonenund Salierzeit, die Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft von Papst und Kaiser im Investiturstreit sowie die aus der Rezeption der antiken Grundlagen entwickelten Vorstellungen des 12. und 13. Jahrhunderts an. Einen Neuansatz markieren die politischen Theorien des 14. und 15. Jahrhunderts, die durch den erneuerten Konflikt von weltlicher und geistlicher Macht, den Ausbau der Territorien und die vielfältigen innerkirchlichen Probleme wie das »Große abendländische Schisma«, das Wirken zweier Päpste in Rom und Avignon, und die als Antwort entstehende Konzilsbewegung geprägt waren.700 Da ein chronologischer Durchgang durch die politische Theorie des Mittelalters den Rahmen eines Kapitels sprengen würde, sollen im Folgenden einige ausgewählte Probleme behandelt werden, die einen exemplarischen Eindruck vom mittelalterlichen Denken geben können und durch die Forschung bereits gut aufgearbeitet wurden. Dazu zählen zunächst die Vorstellungen über das Kaisertum und über Herrscher allgemein. Im Laufe der mittelalterlichen Entwicklung gewann in diesem Kontext eine eigene Literaturgattung besondere Bedeutung, die den Herrschenden das Idealbild eines christlichen Fürsten vor Augen führte, die Gattung der »Fürstenspiegel«. Die immer noch grundlegende Studie zu den hoch- und spätmittelalterlichen Fürstenspiegeln ist die 1938 erschienene, inzwischen schon »klassische« Arbeit von Wilhelm Berges,701 auch wenn seither 698 699 700 701

Burns, Introduction, S. 4–5. Canning, History, S. x. Vgl. den Aufbau ebd. Berges, Fürstenspiegel.

Kaisertheorien, das »nationale« Königtum und die Fürstenspiegel-Literatur

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mehrere größere Untersuchungen zu einzelnen Texten bzw. Gruppen von Texten erschienen. In diesen Kontext gehört auch die Erforschung des besonderen Charakters des (west)europäischen Königtums, die unter anderem durch das berühmte, erstmals 1957 erschienene Buch von Ernst H. Kantorowicz über »Die zwei Körper des Königs« vorangebracht wurde.702 Obwohl die Monarchie für nahezu alle politischen Theoretiker des Mittelalters die beste aller denkbaren Staatsformen war und vielfach in hierarchischen Strukturen gedacht wurde, gab es doch daneben auch das konkurrierende, auf dem genossenschaftlichen Prinzip begründete Modell des Aufbaus der Herrschaft von unten nach oben. Die mittelalterlichen politischen Theorien betreffen aber nicht nur die Grundlagen und Formen von Herrschaft, sondern zahlreiche andere Aspekte wie den Aufbau der Gesellschaft und die Aufgaben ihrer verschiedenen Gruppen, unter anderem dargestellt in eigenen »Ständespiegeln«, die Rolle intellektueller Tätigkeit in Relation zur Handarbeit oder auch die Bedeutung und den Charakter von Krieg und Frieden. Das Mittelalter war nach Dietrich Kurze »in der abendländischen Geschichte die erste Periode […], in der kontinuierlich, überregional und mit wachsender Intensität sowie bei aller Differenziertheit mit weitgehendem Grundkonsens über Krieg und Frieden nachgedacht wurde«.703

Auch in diesem Bereich entstanden daher eigenständige Schriften, und die Forschung hat sich seit einigen Jahrzehnten verstärkt einzelner Texte und Probleme angenommen. In diesem Kapitel sollen daher drei Aspekte mittelalterlicher politischer Theorie herausgegriffen werden, die miteinander in Verbindung stehen und zugleich einen gewissen Überblick über die zeitliche Abfolge erlauben. Der erste Abschnitt wird einen Überblick über die Theorien zu Kaiser- und Königtum sowie über die Fürstenspiegel-Literatur geben. Danach sollen einige ausgewählte spätmittelalterlichen Modelle von Herrschaft behandelt werden, monarchische und repräsentative; und zuletzt werden einige der Vorstellungen über Krieg und Frieden im Zentrum stehen.

I.

Kaisertheorien, das »nationale« Königtum und die Fürstenspiegel-Literatur

Am Anfang der politischen Entwicklung des Mittelalters standen die Völkerwanderungs-Königreiche, die sich auf dem Boden des Weströmischen Reiches bildeten, und somit war das christliche Königtum zunächst die am weitesten 702 Kantorowicz. 703 Kurze, Krieg, S. 8.

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Die politischen Theorien

verbreitete Form von Herrschaft, die immer wieder reflektiert wurde, verbunden mit Vorstellungen wie der vom Gottesgnadentum oder der von der Schutzfunktion des Herrschers für seine Untertanen. Schon das so entstehende theokratische, priesterähnliche Königtum aber, dessen Charakter bei den Karolingern durch die Weihe und Salbung Pippins durch Papst Stephan II. 754 noch verstärkt wurde, entwickelte sich vor dem Hintergrund der im Römischen Reich, für die römischen Kaiser, formulierten Herrschaftstheorien. Diese gewannen dann durch die Kaiserkrönung Karls d.Gr. durch Papst Leo III. im Jahre 800 im Westen wieder an zusätzlicher Aktualität. In Karls Vorstellungen verbanden sich zwei auch im Folgenden wirksame Komponenten, das romorientierte und das hegemoniale Kaisertum. Indem Karl das Motto von der Erneuerung des Römischen Reiches (der Renovatio romani imperii) nach der Kaiserkrönung seinem Siegel hinzufügte und Aachen als ein neues Rom konzipierte, schloss er bewusst an die (west-)römische Tradition an. Zugleich verstand er aber die Franken als das eigentliche »Staatsvolk« und verzichtete wohl bewusst auf den Titel eines römischen Kaisers (imperator Romanorum), sondern nannte sich nur Kaiser und Verwalter des römischen Reiches (magnus pacificus imperator Romanum gubernans imperium), unter Beibehaltung seines Königtums über Franken und Langobarden (et[iam …] rex Francorum atque Langobardorum).704 Die »romfreie« Definition des Kaisertums durch die Herrschaft über mehrere Königreiche blieb vor allem in den westeuropäischen Ländern lebendig, so bei den spanischen wie wohl auch bei den englischen Herrschern des 8. bis 11. Jahrhunderts, die mehrere Königreiche in ihrer Hand vereinten.705 Obwohl Karls Sohn, Ludwig der Fromme, die fränkische und die christliche Komponente seiner Herrschaft gegenüber der römischen betonte, unter anderem durch das Siegel-Motto einer Erneuerung des fränkischen Reiches (Renovatio regni Francorum), gewann das römische Element des (westlichen) Kaisertums im Folgenden mehr und mehr an Bedeutung. Zwar konkurrierte das romorientierte Kaisertum auch nach der Krönung Ottos d. Gr. 962 durch Papst Johannes XII. noch mit anderen Vorstellungen, etwa mit dem des (ebenfalls in antiker Tradition stehenden) Heerkaisertums, das z. B. der Chronist Widukind von Corvey nach dem Sieg gegen die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld 955 für Otto reklamierte.706 Doch verstanden sich insbesondere der Sohn und der Enkel Ottos, Otto II. und III., vor allem als römische Kaiser, und Otto III. ging sogar so weit, Rom als 704 Zuerst im Mai 801, MGH, Diplomata, Karolinger, 1, 197, S. 265; zum Kontext u. a. Classen, Romanum gubernans imperium. 705 Schulze, Grundstrukturen, S. 260–64. 706 Ebd., S. 264–65.

Kaisertheorien, das »nationale« Königtum und die Fürstenspiegel-Literatur

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»Haupt der Welt« (caput mundi) zu seinen »Regierungssitz« zu wählen.707 Die neue Dynastie der Salier verband schließlich bereits ihr Königtum mit dem Anspruch auf den kaiserlichen Titel, indem sich zuerst Konrad II. und nach ihm Heinrich III. vor der Kaiserkrönung als römischer König (rex Romanorum) bezeichneten. Die ottonischen und salischen Kaiser stellten wohl auch deshalb Rom stärker in den Mittelpunkt ihres Selbstverständnisses, weil sie zugleich die Oberherrschaft über die Kirche beanspruchten. Es waren dann jedoch zuerst die von Heinrich III. eingesetzten Reformpäpste, die diesen Anspruch infragestellten. Einen ersten Höhepunkt erreichten die päpstlichen Forderungen unter Papst Gregor VII., der 1075 in seinem nur für interne Zwecke bestimmten, sogenannten »Diktat des Papstes« (Dictatus papae) in 27 Thesen die päpstliche Gegenposition formulierte. So stellte er unter anderem fest, »dass er [der Papst] allein die kaiserlichen Insignien benutzen darf, […], dass es ihm erlaubt ist, Kaiser abzusetzen, [… und] dass er die Untertanen übler Männer von ihrem Lehenseid lösen kann«.708

Der sich anschließende Streit über die Rolle des Königs und Kaisers bei der Einsetzung von Bischöfen, der Investiturstreit, löste eine Fülle theoretischer Äußerungen aus, die die Positionen beider Seiten ausarbeiteten und erweiterten. So zog z. B. Petrus Crassus in seiner 1080/84 entstandenen »Verteidigung König Heinrichs IV.« (Defensio Heinrici IV. Regis) auch Passagen aus dem Römischen Recht heran, um die besonderen Aufgaben des Kaisers gegenüber der Kirche zu rechtfertigen.709 Die Debatten setzen sich auch nach dem formalen Ende des Investiturstreits im Wormser Konkordat von 1122 fort. Zu den bedeutenderen spätmittelalterlichen Theoretikern des Kaisertums zählt unter anderem Alexander von Roes († v. 1300), der in seinem Memoriale 1281 die drei »Universalgewalten«, imperium, sacerdotium und studium (weltliche und geistliche Gewalt, Bildung) drei Völkern zuweisen wollte, den Deutschen, den Italienern und den Franzosen, die für das Ganze kooperieren müssten,710 und der auch für seine Zeit auf dem Vorrang des Kaisertums beharrte. Die Theorie des romorientierten Kaisertums fand auch in Rom selbst Aufnahme, und zwei Anführer stadtrömischer Bewegungen, Arnold von Brescia im 12. und Cola di Rienzo im 14. Jahrhundert, suchten das Kaisertum unabhängig von den Päpsten auf die römisch-deutschen Herrscher zu übertragen.

707 708 709 710

Vgl. Dormeier, Renovatio. Register Gregors VII., 1, II,55a, Nr. 8, 12, 27, S. 204, 208. Canning, History, S. 101. Alexander von Roes, Memoriale, 33, S. 58–59.

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Die politischen Theorien

Während in diesem Kontext immer wieder die antiken Grundlagen an Bedeutung gewannen, bildete sich mit den Fürstenspiegeln – ungeachtet einiger orientalischer und antiker Vorläufer – eine eigenständige mittelalterliche Tradition von Herrschaftsvorstellungen aus. Im frühen Mittelalter richteten sie sich allein an Könige, während sich für andere weltliche Amtsträger eine eigene Literaturgattung entwickelte, die der »Laienspiegel«. Bei den Fürstenspiegeln handelte es sich allgemein um selbstständige Schriften oder in sich geschlossene Teile eines Werks, mit denen Herrschern oder Regenten die Normen ihres Handelns vor Augen geführt werden sollten, teils als unmittelbare, persönliche Ermahnung, teils als Diskussion gesellschaftlicher Zusammenhänge. Sie machen die Unterschiede zwischen Norm und Realität deutlich und lassen sich insgesamt klar von anderen Texten zur politischen Theorie abgrenzen,711 auch wenn allen die Auseinandersetzung mit der politischen Ethik gemeinsam ist. Ein wichtiger Ausgangspunkt waren die Teile des Alten Testaments, die ihrerseits so etwas wie einen Fürstenspiegel bilden (5. Buch Mose, 17, 14–20) oder zumindest beispielhaft das Wirken von Herrschern vorführen. Dazu kamen die herrschaftslegitimierenden Teile des Neuen Testaments und die hellenistischrömischen Vorstellungen über einen idealen Herrscher, die ihrerseits unter anderem durch die Stoa beeinflusst waren. Auf dieser Grundlage hatten bereits die Kirchenväter christliche Staats- und Herrschaftsvorstellungen entwickelt, unter anderem Augustin in De civitate Dei712 und Gregor d. Gr. Einflussreich wurden auch die Texte aus dem westgotischen Spanien, so die »Etymologien« Isidors mit seinem Verständnis des Wortes rex, das den Herrscher an das Recht band und ihn auf die Tugenden der Frömmigkeit und Gerechtigkeit (pietas, iustitia) verwies, sowie ein früher Laienspiegel des Bischofs Martin von Braga, die »Regel für ein ehrenhaftes Leben« (Formula vitae honestae). Erste Ansätze für die spätere Fürstenspiegelliteratur werden dann im Frankenreich des 6. bis 8. Jahrhunderts fassbar, in der Zeit der Merowinger und der frühen Karolinger, und zwar in Gestalt von Mahnbriefen geistlicher Autoren an die Frankenherrscher. Das früheste Beispiel ist bereits ein Brief des Bischofs Remigius von Reims an Chlodwig; schließlich wandten sich vor 800 noch zwei angelsächsisch-irische Geistliche an Karl d.Gr., unter anderem Cathwulf um 775 mit einem für sich stehenden Brieftraktat.713 Den Verfassern ging es darum, die besondere Stellung des Königtums und seinen Beispielcharakter hervorzuheben; dabei entwickelten sie eine eigene Tugendlehre für die Herrscher, bei der die Gerechtigkeit (iustitia oder aequitas) mit der Frömmigkeit (pietas) verbunden und der König in der Tradition der Kirchenväter als Diener, Bild und Stellver711 Anton, Fürstenspiegel, Sp. 1041. 712 Augustinus, De civitate Dei, V,24. 713 Story, Cathwulf, S. 1.

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treter Gottes begriffen wird. An diese Tradition schloss sich auch Alkuin an, der in kunstvoll gestalteten Mahnbriefen (litterae ammonitoriae) an die angelsächsischen Herrscher und die Söhne Karls d.Gr. das aus antiken, christlichen und insularen Vorstellungen abgeleitete Idealbild eines Herrschers zeichnete, das er in Karl selbst verwirklicht sah. Alkuin bereitete damit in gewissem Sinne den eigentlichen Fürstenspiegeln den Weg, denn bald darauf, um 811/814, entstand der erste »voll ausgearbeitete« Fürstenspiegel,714 die Via regia (der »Königweg«) des Smaragdus, Abt von StMihiel, die er zunächst für Ludwig den Frommen in seiner Zeit als Unterkönig in Aquitanien schrieb und dann zwischen 814 und 822 für Pippin von Aquitanien, den zweiten Sohn Ludwigs, ergänzte. Stand dabei die Tugendlehre im Vordergrund, war ein zweiter, 831 verfasster Fürstenspiegel für Pippin von Aquitanien, der des Bischofs Jonas von Orléans, wesentlich von konziliaren Vorstellungen beeinflusst. Ausgehend von seiner Redaktion der Beschlüsse der Pariser Synode von 829, übernahm Jonas in seinem Werk »Über die Ausbildung des Königs« (De institutione regia) die unter anderem auf Paulus zurückgehende Vorstellung von der Kirche bzw. der Sozialgemeinschaft als einem Körper715 und bestimmte die Stellung des Königtums nach dem Alten Testament und im Sinne Isidors. Weitere Fürstenspiegel schlossen sich an, das »Buch über die christlichen Herrscher«, der Liber de rectoribus christianis, des Sedulius Scottus von 858/859 und die Schriften des Erzbischofs Hinkmar von Reims. Hinkmar wandte sich zunächst 873 mit seinem Werk »Über die Person des Königs und den königlichen Dienst« (De regis persona et regio ministerio) an den König des Westfrankenreichs, Karl den Kahlen, dann 882 an dessen Enkel Karlmann sowie schließlich an Karl III. Während sich Sedulius an die Vorstellungen vom Herrscher als »Statthalter Gottes« anschloss und in ihm damit auch den Herrn der Landeskirche sah, griff Hinkmar stärker auf die von Jonas von Orléans eingeführten konziliaren Vorstellungen zurück, zog aber auch spätrömische Gesetze und Sueton heran. Dabei betonte er die theokratische Stellung des Königtums716 und suchte in Nachfolge Augustins eine Lehre des gerechten Kriegs zu formulieren. Mit Hinkmar bricht die Tradition der Fürstenspiegel zunächst für fast drei Jahrhunderte ab; ein neuer Anstoß kam von einem Text, den man im strengen Sinne nicht als Fürstenspiegel bezeichnen kann, eher als gesellschaftliche Morallehre,717 vom Policraticus des Engländers Johann von Salisbury von 1159. Zwar spielen bei Johann unter anderem auch die schon in der Karolingerzeit herangezogenen alttestamentarischen Stellen eine Rolle, doch kam ein neues, im 714 715 716 717

Anton, Fürstenspiegel, Sp. 1043. Wemple, Claudius, S. 222, 228. Vgl. Nelson, Kingship, S. 217. Anton, Fürstenspiegel, Sp. 1045.

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Folgenden sehr einflussreiches Element hinzu, die organologische Staatsvorstellung. So definiert er – mit Verweis auf seine Plutarch zugeschriebene Vorlage – das Gemeinwesen (die res publica) als »gewissen Körper, der durch göttliches Gnadengeschenk belebt wird, der sich nach dem Willen der höchsten Gerechtigkeit (aequitas) bewegt und den die Vernunft wie ein Steuer lenkt«.718 Im Anschluss an die von Cicero entwickelte Offizienlehre weist Johann dabei den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bestimmte Aufgaben zu, die denen bestimmter Organe und Körperteile entsprechen. Der Priesterschaft, dem sacerdotium, kommt dabei die Rolle der Seele zu, im weiten mittelalterlichen Verständnis dieses Begriffs, da sie die Teilnahme der Menschen am Leben erst ermöglicht. Wenn Johann in diesem Zusammenhang auch die zuerst Ende des 5. Jahrhunderts von Papst Gelasius I. entwickelte Lehre von den zwei Schwertern, dem weltlichen und dem geistlichen, einführt, will er damit jedoch keineswegs den Vorrang der geistlichen Gewalt bekräftigen. Vielmehr betont er die unterschiedlichen Aufgaben (officia) der beiden Gewalten und die Übertragung der Leitungsfunktionen an das Haupt, den König, der somit für ihn ebenfalls Herr über die Kirche ist. Auch für Johann ist der König als Haupt des als Körper verstandenen Gemeinwesens so etwas wie das irdische Abbild Gottes.719 Das bedeutet, dass Majestätsverbrechen einem Sakrileg gleichkommen, dass die Gewalt des Herrschers über Leben und Tod von Gott ausgeht und dass der Fürst von den Bindungen der Gesetze gelöst ist, weil er mit seinem Urteil und seinem Willen die göttliche Gerechtigkeit, die aequitas, repräsentiert. In diesem Sinne ist der Fürst zugleich der Verteidiger der Schwachen und verpflichtet, für die Einhaltung der »Offizienordnung«, für die angemessene Erfüllung der den einzelnen Gruppen übertragenen Aufgaben, zu sorgen. Er kann sich dabei der beiden Arme des Gemeinwesens bedienen, der Ritter und der Amtsträger; und auch die anderen sozialen Gruppen erfüllen dafür wichtige Funktionen, bis hinab zu den Bauern als den »Füßen des Gemeinwesens«. Bei allen seinen Überlegungen stützte sich Johann nach seinen eigenen Angaben auf eine Plutarch zugeschriebene Schrift über die Erziehung des späteren Kaisers Traian, die Institutio Traiani, eine Aussage, die in der Forschung zu einem bis heute nicht abgeschlossenen Streit geführt hat. Da sich vor dem 12. Jahrhundert von dieser Schrift keine Spuren finden, haben einige angenommen, der Text sei eine Erfindung Johanns, während andere die reale Existenz einer Vorlage annehmen, die Entstehung der Schrift aber ins frühe Mittelalter

718 John of Salisbury, Policraticus, V,2, S. 282; übers. Berges, Fürstenspiegel, S. 139. 719 Berges, Fürstenspiegel, S. 140.

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oder auch genauer, mit einigen Vorbehalten, ins westgotische Spanien verlegen.720 Selbst wenn sich so der Ursprung der bei Johann entwickelten organologischen Vorstellungen nicht eindeutig ermitteln lässt, gewannen sie erheblichen Einfluss auf die späteren hoch- und spätmittelalterlichen Fürstenspiegel. Zwar war der 1180/1183 für den späteren Kaiser Heinrich VI. verfasste »Königsspiegel« (Speculum regum) des Gottfried von Viterbo mit seiner Orientierung an der Translationstheorie und an der Kaiseridee noch stark an älteren Vorstellungen orientiert. Doch bald darauf, um 1200, übernahm Helinand von Froidmont Johanns Theorien in das als Fürstenspiegel zu verstehende Kapitel in Buch 11 seiner Universalgeschichte mit dem Titel »Gesetz über die Einsetzung eines Königs« (Lex de rege constituendo), das zu Unrecht lange als auf Anregung König Philipps II. Augustus entstandener, eigenständiger Text gesehen wurde, aber tatsächlich Teil eines Kommentars zum 2.–5. Buch Mose ist. Dieses Kapitel wurde von Vincenz von Beauvais umgearbeitet und unter dem Titel »Über das Gute der fürstlichen Herrschaft« (De bono regimine principis) weiter rezipiert.721 Dies fand seine Fortsetzung in weiteren französischen Fürstenspiegeln, etwa in der »Erziehung des Königs und der Fürsten« (Eruditio regum et principum) des Gilbert von Tournai von 1259 sowie in dem bereits scholastisch geprägten »Über die Herrschaft der Fürsten« (De regimine principum) des Ägidius Romanus, das dieser 1277/1279 für den französischen Thronfolger, den späteren Philipp IV., schrieb.722 Ägidius konnte dabei seinerseits auf der gleichnamigen Schrift des Thomas von Aquin aufbauen, die dieser um 1255 für den König von Zypern verfasst hatte und die unter anderem im Anschluss an die aristotelische »Politik« die Frage nach der besten Staatsform aufwirft. Thomas entscheidet sich im Einklang mit nahezu allen anderen mittelalterlichen Autoren für den relativen Vorrang der Monarchie und verweist dafür auf die Tatsache, dass diese im Vergleich mit den beiden anderen positiv gewerteten Verfassungen, Aristokratie und Politie, besser geeignet sei, den Frieden und die Einheit des Gemeinwesens zu wahren.723 Zudem habe auch in der Natur das Eine immer den Vorrang, die Vernunft regiere die Kräfte der Seele, eine Königin das Volk der Bienen und Gott das Universum. Da andererseits die Tyrannis als Verfallsform der Monarchie weit schlimmere Folgen nach sich zieht als die Verfallsformen der beiden anderen bei Aristoteles diskutierten Verfassungsformen, muss man aber zugleich Vorkehrungen gegen einen möglichen Umschlag der Monarchie in eine Tyrannis treffen. Dazu zählt, dass man schon für die 720 721 722 723

Vgl. Kerner, Randbemerkungen; Institutio Traiani, S. 1–6. Geertsma, Helinand. Anton, Fürstenspiegel, Sp. 1045–46. Berges, Fürstenspiegel, S. 201.

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Die politischen Theorien

Königswahl nur solche Kandidaten vorsehen sollte, von denen keine tyrannische Politik zu erwarten war. Zudem sollte die Macht des Königs so weit eingegrenzt werden, dass zum Missbrauch wenig Raum blieb. Unabhängig davon nimmt Thomas aber – anders als etwa Johann von Salisbury – eindeutig gegen den Tyrannenmord Stellung. Die Unterdrückten dürfen sich gegen einen Tyrannen nach ihm nur rechtlicher Mittel bedienen, der Abwahl oder der Appellation an einen höhergestellten Herrscher. Thomas integriert dabei das Gemeinwesen in eine Hierarchie der Zwecke, bei der das Gemeinwohl vor dem Einzelwohl steht, aber auch der höchste Zweck menschlichen Daseins, die Erwerbung des ewigen Heils, nicht vernachlässigt werden darf. Thomas’ Fürstenspiegel blieb unvollendet, fand aber zusammen mit der Fortsetzung durch Tolomeo von Lucca, der auch die Verfassung der Stadtrepubliken Norditaliens berücksichtigte,724 in der lateinischen Christenheit weitere Aufnahme. Noch stärker war dies der Fall beim Fürstenspiegel des Ägidius Romanus, der noch heute in mehreren hundert Handschriften überliefert ist und bis ins 15. Jahrhundert – teilweise mehrfach – ins Französische, Italienische, Kastilische, Katalanische, Portugiesische, Mittelhoch- und Mittelniederdeutsche, Englische, Schwedische und sogar Hebräische übersetzt wurde und so auch vielfach weiterwirkte. So hat z. B. um 1404/1407 Christine de Pizan ihren Livre de Corps de Policie, ihr »Buch vom politischen Körper«, wesentlich an der französischen Übersetzung des Werks des Ägidius Romanus (wie an der des Policraticus) orientiert. Mit De regimine principum hat Ägidius der Aristoteles-Rezeption in der politischen Theorie endgültig zum Durchbruch verholfen. Zugleich hat er die Grundsätze der aristotelischen »Politik« mit den organologischen Vorstellungen Johanns von Salisbury zusammengeführt. Von Thomas übernimmt er die Rechtsvorstellungen und die Hierarchie der Zwecke. An dieser Hierarchie soll sich auch die Politik orientieren, die nach Ägidius als Tugend menschliche Klugheit erfordert. So wendet sich der kluge Herrscher der Vergangenheit zu, um mit Hilfe der Logik für die Gegenwart und die Zukunft Schlüsse daraus zu ziehen, und er hört auf den Rat der Großen, der Alten und Weisen. Die nach Ägidius notwendig auf guten Gesetzen und Gewohnheiten aufbauende gute Herrschaft setzt einen Fürsten voraus, der hinreichend in religiöser, moralischer, sozialer und körperlicher Hinsicht gebildet ist und darüber hinaus auch über Bildung in unserem Sinne, über Kenntnisse in den verschiedenen Disziplinen, verfügt.725 Um Wohlstand und Frieden zu verwirklichen und dem Allgemeinwohl zu dienen, muss der König sein Volk erst auf seine Ziele vorbereiten, bevor er mit der Umsetzung beginnt; die Untertanen dagegen sollen nicht blind gehorchen, 724 Blythe, Ptolemy. 725 Vgl. Berges, Fürstenspiegel, S. 222–23.

Kaisertheorien, das »nationale« Königtum und die Fürstenspiegel-Literatur

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sondern sich aus Einsicht freiwillig für den allgemeinen Nutzen einsetzen. Ägidius folgt Thomas in der Bewertung der Monarchie, tritt jedoch gegen ihn (und Aristoteles) für eine Erbfolge ein. So wird sich nach Ägidius ein Herrscher dann mehr für ein Reich einsetzen, wenn er weiß, dass dies auch seiner Familie zugutekommt. Bei einer Wahlmonarchie dagegen könnten die aus neuen Familien Gewählten sich leichter zu Tyrannen entwickeln, weil ihnen die Erziehung zum Herrscher fehlt; und schließlich wird auch das Volk leichter den Mitgliedern der Familie gehorchen, an die es gewöhnt ist.726 Ägidius’ Plädoyer für die Erbmonarchie, das er noch durch die positive Bewertung der Promogenitur ergänzt, zeigt ganz deutlich den Rahmen auf, in dem sein Fürstenspiegel entstand. Während er sich mehr als zwanzig Jahre später, 1301, gegen die französischen Interessen für eine starke Stellung des Papsttums aussprach, war er 1277/1279 noch ein Partisan der kapetingischen Dynastie. Ähnlich waren auch viele andere Fürstenspiegel des ausgehenden Mittelalters wesentlich durch den jeweiligen »nationalen« Standpunkt bestimmt. Neben französischen gilt dies auch für spanische, englische und nordeuropäische Werke wie den kastilischen Fürstenspiegel des Juan Manuel von 1327/1330 oder den schwedischen Fürstenspiegel aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Dazu kamen Schriften für einzelne Landesherren und die Werke der Humanisten. Insbesondere im europäischen Westen, in Frankreich, England und Spanien, hatte sich seit dem hohen Mittelalter ein Bewusstsein der besonderen Stellung des Königtums entwickelt, das sich gegen die Vorstellung einer unter Papst und Kaiser vereinten (lateinischen) Christenheit abgrenzte. Das äußerte sich zunächst in der Übernahme kaiserlicher Symbole oder sogar des Kaisertitels vor allem durch west- und südeuropäische Herrscher. So übernahm z. B. Roger II. von Sizilien nach seiner mit päpstlicher Anerkennung erfolgten Erhebung zu König eine geschlossene Krone, die der der Kaiser ähnelte; Galbert von Brügge stilisierte Ludwig VI. als »Kaiser von Frankreich« (imperator Franciae); und Johann von Salisbury schrieb über Heinrich II. von England in einem Brief, er strebe seinem Großvater (Heinrich I.) nach, der nach Johann »in seinem Land König, päpstlicher Legat, Patriarch, Kaiser und alles, was er wollte«, gewesen sei.727 In der weiteren Entwicklung formulierten dann die königlichen Juristen, vor allem in Frankreich, ein Konzept von Souveränität, das auch von den mit dem Kaisertum konkurrierenden Päpsten akzeptiert wurde. So verwies bereits Innozenz III. 1202 in der Dekretale Per Venerabilem auf die besondere Stellung des französischen Königs: »Jener König erkennt in weltlichen Dingen keinen Höheren an« (rex ipse superiorem in temporalibus minime

726 Ebd., S. 225–26. 727 John of Salisbury, Opuscula, Ep. CCXXXIX, Sp. 271.

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Die politischen Theorien

recognoscat).728 Im Laufe des späteren 13. Jahrhunderts entwickelte sich bei den französischen und süditalienischen Juristen dafür die maßgebliche Formel: »Der König ist der Kaiser in seinem Königreich« (rex in regno suo est imperator).729 Zur selben Zeit leugneten führende Theoretiker jede Abhängigkeit vom Kaisertum. So verwies für Frankreich Guillaume Durant darauf, dass der Kaiser zwar über allen anderen Herrschern stehe, doch dies gelte nicht für sein Land. In Spanien war man »spiegelbildlich« derselben Meinung oder betonte, dass schließlich die Spanier selbst, ohne Hilfe durch das Kaisertum, ihr Land von den Mauren zurückerobert hatten. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts übernahmen zudem drei Länder den Reichsapfel, der seit Karl dem Kahlen den Weltherrschaftsanspruch der Kaiser symbolisierte, Aragón, Ungarn und Böhmen. Änderungen der Vorstellungswelt vollzogen sich aber auch »nach innen«. In England und Frankreich wie auch in Ungarn, Böhmen und Polen löste sich der Begriff der Krone des Königreichs (corona regni) vom Königtum und bezeichnete immer häufiger die Gesamtheit des jeweiligen Reiches, seiner Rechte und Besitzungen, die es im Verständnis der Zeitgenossen unabhängig von der Person des Königs zu verteidigen galt.730 Eine ähnliche Entwicklung hat Ernst Kantorowicz in seinem berühmten Buch über »Die zwei Körper des Königs« beschrieben, vor allem für die westeuropäischen Königreiche. Sein Ausgangspunkt war die Stellungnahme eines englischen Juristen der Zeit Elisabeths I., Edmund Plowden, um 1560, die erstmals eine ausdrückliche Beschreibung dieser Theorie enthält: »For the King has in him two Bodies, viz. a Body natural, and a Body politic. His Body natural (if it is considered in himself), is a Body mortal, subject to all Infirmities that come by Nature or Accident, to the Imbecility of Infancy or old Age, and to the like Defects that happen to the natural Bodies of other People. But his Body politic is a Body that cannot be seen or handled, consisting of Policy and Government, and constituted for the Direction of the People, and the Management of the public weal, and this Body is utterly void of Infancy, and old Age, and other natural Defects and Imbecilities, which the Body natural is subject to, and for this Cause, what the King does in his Body politic, cannot be invalidated or frustrated by any Disability in his natural Body«.731

Kantorowicz hat diese Vorstellungen bis ins frühe und hohe Mittelalter zurückverfolgt und dabei auf die verschiedenen Aspekte verwiesen, die mit dem Königtum verbunden wurden, unter anderem auf die früh- und hochmittelalterliche Identifikation mit Christus oder mit dem Gesetz.

728 729 730 731

Text u. a. bei Molitor, Decretale, S. 245; cf. Tierney, Tria Iudicia, S. 49. Jostkleigrewe, Rex, bes. S. 53–54. Hellmann, Nachwort, S. 550. Plowden, Commentaries, S. 212a–213; vgl. Kantorowicz, King’s Two Bodies, S. 7.

Kaisertheorien, das »nationale« Königtum und die Fürstenspiegel-Literatur

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Eine Rolle spielen in diesem Zusammenhang ebenfalls die Vergleiche des Gemeinwesens mit dem corpus mysticum der Kirche und genossenschaftliche Elemente. So gilt z. B. für die überpersönliche Gemeinschaft oder Genossenschaft (universitas), dass sie »unsterblich« und unveränderlich ist, wie auch einer der Bologneser Juristen, Pietro de Ancharano († 1416), in seinem Kommentar zu den Dekretalen feststellte: »Die universitas ist heute genauso, wie sie in hundert Jahren sein wird. […] Es wäre deshalb absurd, zu sagen, dass eine universitas schuldig werden kann, unter Einschluss der Kinder, Jugendlichen, Frauen und anderer; und aus diesen Gründen schloss [Papst] Innozenz [IV.], dass man eine universitas nicht exkommunizieren kann«.732

Die entscheidende Ursache dafür lag nach Auffassung der Juristen, unter anderem nach Bartolus de Saxoferrato († 1357), in der Sukzessivität, dem Wechsel der Mitglieder einer solchen Korporation. Es ist diese Abfolge einzelner Personen, die auch zur Feststellung führt, dass der Herrscher niemals stirbt. So stellte z. B. Bartolus in seinem Kommentar zum Codex Justiniani fest, dass der Fürst auf uneigentliche Weise als ewig verstanden werden kann, denn »den Kaiser kann man in Bezug auf sein Amt, das kein Ende haben soll, immerwährend nennen«.733 Ein wichtiger Aspekt war in diesem Zusammenhang auch die dynastische Kontinuität. In England wie in Frankreich setzte sich etwa zur selben Zeit, im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts, 1270/1272 bei der Erhebung Eduards I. und Philipps III., der Gedanke durch, dass der neue König seinem Vorgänger nicht erst nach der Krönung, sondern unmittelbar nach dessen Tod nachfolgte und schon sofort die vollen Herrschaftsrechte wahrnehmen konnte. In beiden Fällen war damit zugleich eine faktische Anerkennung der Primogenitur, der Nachfolge des ältesten Sohnes, verbunden.734 Zusammen mit der Fiktion von der Krone als immaterieller und damit ebenfalls unsterblicher Verkörperung aller königlichen Herrschaftsrechte sowie mit der Theorie von der »Unsterblichkeit« von Würden (dignitas non moritur),735 wie sie sich auch in den Grabdarstellungen des ausgehenden Mittelalters manifestiert, die den toten Amtsinhaber als Verstorbenen und zugleich mit seinen vollen Insignien zeigen,736 entstand so die Vorstellung, dass der König niemals sterben könne. Dies beruhte auch auf der Idee vom König als einer Ein-PersonenGenossenschaft, so dass sich damit endgültig die Grundlagen für die Theorie von den zwei Körpern des Königs ausgebildet hatten, die die Stellung des Königtums stärken sollte. Zugleich aber enthielt dieses Konzept auch ein repräsentatives 732 733 734 735 736

Nach dem Textauszug bei Kantorowicz, King’s Two Bodies, S. 308, Anm. 83. Nach dem Textauszug ebd., S. 315, Anm. 6. U. a. Brown, Governance, S. 7–8. Vgl. Canning, Kantorowicz, S. 118–19. Kantorowicz, King’s Two Bodies, S. 435.

294

Die politischen Theorien

Element, da der Monarch als »politischer Körper« ebenfalls als Repräsentant der Gemeinschaft seiner Untertanen verstanden werden konnte.

II.

Die Monarchie und repräsentative Konzepte des späteren Mittelalters

Anders als dies aus der Perspektive des ancien régime der Frühen Neuzeit scheinen könnte, waren die mittelalterlichen Herrscher nie »absolut«, sondern immer auf die Zusammenarbeit mit ihren Untertanen verwiesen, auch wenn dabei vor allem den Großen des Reiches eine zentrale Rolle zukam. Grundsätzlich hatten die Könige mit dem Rat ihrer getreuen Untertanen zu regieren, wobei sich seit dem 13./14. Jahrhundert verschiedene Formen ausbildeten, der enge, oft persönlich ausgewählte Rat des Herrschers, und der »große Rat«, der alle weltlichen und geistlichen Großen des Reiches umfassen musste. Aus dem Rat entstand im England des 13. und 14. Jahrhunderts auch das Parlament. Jean Gerson hat z. B. am Anfang des 15. Jahrhunderts in seiner Reformschrift Vivat Rex (»Es lebe der König«) den König ohne kluge Ratgeber mit einem Kopf auf einem Körper ohne Augen, Ohren und Nase verglichen und gefordert, dass sich der König nicht nur beraten lassen, sondern auch dem Rat folgen, ihn vertraulich behandeln und in die Tat umsetzen solle. Nicole Oresme hatte bereits um die Mitte des 14. Jahrhunderts in seinen Kommentaren zur aristotelischen »Politik« und zur »Nikomachischen Ethik« eine Reihe von Anforderungen an gute Ratgeber formuliert. Sie sollen nicht gewohnt sein, zu lügen, sondern offen sprechen; sie müssen größte Erfahrung und Klugheit besitzen und dürfen deshalb nicht mehr jung sein; und sie sollen mit Blick auf das jeweilige Ziel konkrete Ratschläge geben.737 Bei alledem spielte zumindest mittelbar der Gedanke eine Rolle, dass die Berater des Königs in gewissem Sinne Repräsentanten aller seiner Untertanen waren, wie dies etwa die englischen Barone im 13. Jahrhundert in ihrem Kampf gegen den König betonten, als sie sich selbst als Vertreter der »Gemeinschaft des Königreichs« (communitas regni) bezeichneten. Von besonderer Bedeutung war in diesem Kontext eine juristische Maxime, die sich zunächst im Römischen Recht findet, unter anderem im Kontext von Vormundschaftsregelungen,738 dann aber auch ins Kirchenrecht überging: »Was alle betrifft, muss von allen behandelt und gebilligt werden« (quod omnes tangit ab omnibus tractari et approbari debet). Obwohl eine eindeutige Formulierung erst am Ende des von

737 Quillet, Community, S. 548–50. 738 Hauck, Quod omnes, S. 399.

Die Monarchie und repräsentative Konzepte des späteren Mittelalters

295

Bonifaz VIII. 1298 promulgierten Liber Sextus erscheint,739 finden sich Anklänge daran bereits im Decretum Gratiani im Kontext der Bischofswahl.740 Eine ähnliche Regel wurde z. B. auch durch Bernhard von Clairvaux herangezogen, als er in einem Brief an das dortige Kapitel zur Bischofswahl in Sens Stellung nahm. Im 13. Jahrhundert fand dann diese Maxime auch allgemeiner Eingang in das weltliche Recht; so berief z. B. der englische König Eduard I. 1295 mit dieser Begründung ein Parlament ein.741 Diese und ähnliche Vorstellungen fanden in der politischen Theorie in zwei Phasen des späteren Mittelalters einen Niederschlag: im Umfeld der letzten Auseinandersetzungen zwischen Kaisertum und Papsttum im 14. und in der konziliaren Bewegung im 15. Jahrhundert. Eine zentrale Rolle spielte dafür zunächst Marsilius von Padua, der mit seinem 1324 entstandenen »Verteidiger des Friedens« (Defensor Pacis) auf die unruhigen Verhältnisse im Italien seiner Zeit reagierte. Die Hauptursache sah er in der weltlichen Macht des Papsttums, die er durch andere Kräfte ersetzen wollte. Dabei bestimmte er die Gemeinschaft der Bürger, die universitas civium, als eigentlichen menschlichen Gesetzgeber, legislator humanus. So heißt es bei ihm: »Gesetzgeber oder erste und spezifische bewirkende Ursache des Gesetzes ist das Volk oder die Gesamtheit der Bürger oder deren gewichtigeren Teil (valencior pars) durch ihre Abstimmung oder Willensäußerung, die in der Vollversammlung der Bürger in einer Debatte zum Ausdruck gekommen ist; diese Mehrheit schreibt vor oder bestimmt unter zeitlicher Buße oder Strafe, dass im Zusammenleben der Menschen etwas getan oder unterlassen werden soll«.742

Wie der Hinweis auf den gewichtigeren Teil (valencior pars) der Bürger deutlich macht, dachte sich Marsilius den menschlichen Gesetzgeber genauer als Vertretung der Bürger durch eine ausgewählte Gruppe von Amtsträgern, von »klugen Männern«, die nach seinen Vorstellungen durch die Gesamtheit gewählt werden und sie repräsentieren sollten. Dies kann sich auch auf eine Person beschränken, auf den Fürsten, meint also keine »Volkssouveränität«. Insbesondere in einer späteren Schrift, die schon nach der Flucht des Marsilius an den Hof des römisch-deutschen Königs, Ludwig des Bayern, in München, entstand, im Defensor minor (»kleineren Verteidiger«), erscheint der gewichtigere Teil der Bürger oftmals gleichwertig mit dem Kaiser.743

739 740 741 742

Corpus Iuris, hrsg. Friedberg, 2, Sexti Decretalium lib. V, tit. XII, xxix, Sp. 1122. Ebd., 1, d. LXII, c. xxvi, Sp. 243. Monahan, Consent, S. 98–99. Korrigiert nach Marsilius von Padua, Verteidiger, I, xii.3, S. 118–19; vgl. Quillet, Consent, S. 558–59. 743 Quillet, Consent, S. 560.

296

Die politischen Theorien

Wilhelm von Ockham, der wenige Jahre danach nach München kam, hat zwar die Vorstellungen des Marsilius aus nominalistischer Perspektive abgelehnt, insofern er glaubte, dass die Strukturen einer Gemeinschaft nichts zur Gesamtheit ihrer Mitglieder hinzufügten und die Gemeinschaft somit auch nicht so etwas wie eine juristische Person bilden würde. Doch hat er zugleich den repräsentativen Charakter verschiedener Institutionen, des Kaisertums wie des Papsttums und der Konzilien, nicht geleugnet. Ockham wie Marsilius haben so dazu beigetragen, den Ausweg zu finden, der aus der Krise des »Großen abendländischen Schismas« herausführen sollte, das die lateinische Christenheit seit 1378 in Anhänger der Päpste in Rom und Avignon spaltete. Dieser Ausweg führte letztlich über das Konstanzer Konzil (1414–1418), das im Dekret Haec Sancta (nach den Anfangsworten: Haec sancta synodus, »diese heilige Synode«) den Vorrang des Konzils vor dem Papsttum formulierte und damit eine intensive Debatte über die Verfassung der Kirche auslöste, die zugleich immer auch auf die weltlichen Herrschaftsformen übertragbar war. So formulierte ebenso einer der Teilnehmer des Basler Konzils, der Spanier Juan de Segovia († n. 1456), zunächst einmal 1439 – mit einem Verweis auf die aristotelische Politik – eindeutig den Vorrang des Konzils vor dem Papst: »Durch die Konzilien [als allgemeine Vertretungen der Kirche …] werden die Dekrete allgemeingültig festgelegt; […] der Papst ist der erste Diener der Kirche; […] deshalb ist er vor allen anderen Dingen gehalten, den Dekreten der allgemeinen Konzilien zu gehorchen und sie auszuführen«.744

Wie Juan de Segovia bald darauf deutlich machte, dürfte die Kirche deshalb aber nicht als Aristokratie verstanden werden. Vielmehr sprach er sich eindeutig für das monarchische Prinzip auch in der Kirche aus. Unter dem Eindruck der Entwicklung in den folgenden Jahren suchte er schließlich monarchische und repräsentative Elemente miteinander zu verbinden. Die Führungsrolle des Konzils sollte nunmehr die die monarchische Herrschaft nicht einschränken, sondern verbessern.745 Zu dieser Zeit, um 1450, hatten allerdings auch die Verteidiger der papalen Monarchie Stellung bezogen, unter ihnen ein weiterer Spanier, Juan de Torquemada († 1468). Sie formulierten Grundsätze für die päpstliche Herrschaft, wie sie im 17. Jahrhundert auch von den Theoretikern des Absolutismus für das Königtum gefordert wurden. So hat sich Torquemada in seiner »Summe über die Kirche« (Summa de ecclesia) allgemein gegen die repräsentativen Vorstellungen gewandt, wenn er schreibt:

744 Engl. übers. Auszug bei Black, Monarchy, S. 44. 745 Ebd., S. 45.

Die Theorien über Krieg und Frieden

297

»Es gibt keinen Zweifel, dass der Fürst Teil der öffentlichen Gemeinschaft (universitas reipublicae) ist, […[ und obwohl er nicht all die Eigenschaften und Rechte besitzt, die alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft besitzen, […] steht er doch durch seine Jurisdiktionsgewalt über allen, über der gesamten Gemeinschaft«.746

Die Konzentration auf ein Haupt dient danach dem Wohl der Gemeinschaft, insbesondere dem inneren Frieden.

III.

Die Theorien über Krieg und Frieden

Die mittelalterliche Geschichte war zwar insgesamt nicht mehr durch Kriege und Unfrieden geprägt als die Antike oder auch die Frühe Neuzeit, doch boten der verklärte Rückblick auf die geordneten Verhältnisse im Römischen Reich, auf die Pax Romana, und die Wahrnehmung der Unruhe in der eigenen Zeit immer wieder den Anlass, über Krieg und Frieden zu reflektieren. Anders als in der Antike wurde so auch in eigenen Traktaten über die damit verbundenen Probleme nachgedacht. In verschiedenen textlichen Zusammenhängen wurden die Zeitgenossen nicht nur über Ursachen und Zusammenhänge belehrt, sondern erhielten – ähnlich wie in den Fürstenspiegeln – Verhaltensnormen vorgestellt, die Möglichkeiten boten, in konkreten Situationen Handlungsoptionen auszuloten und zu entwickeln.747 Die Stellung des Christentums zum Krieg war zunächst durch die Tatsache besonders problematisch, dass das alttestamentarische fünfte Gebot, »Du sollst nicht töten«, im Neuen Testament durch das Gebot zur christlichen Nächstenliebe noch verstärkt worden war und dass die frühen Christen allen staatlichen Institutionen des Römischen Reiches, also auch dem Heer und dem Soldatentum, ablehnend gegenübergestanden hatten. Eine Wende zeichnete sich am Anfang des 4. Jahrhunderts ab, mit der Taufe des Kaisers Konstantin. In diese Zeit fällt ein ungewöhnlicher und unklarer Synodalbeschluss, der einer Synode zu Arles im Jahre 314, nach dem es den Christen bei Strafe der Exkommunikation verboten wurde, in Friedenszeiten die Waffen fortzuwerfen. Die späteren Kommentatoren, unter anderem Ivo von Chartres († 1115), verstanden darunter ein Verbot der Desertion und ersetzten Friedens- durch Kriegszeiten, doch hat die Forschung bis heute nicht abschließend klären können, ob mit dem Beschluss ursprünglich eine Beschränkung der Christen auf Polizeifunktionen, auf Kriegsdienst nur in Zeiten eines friedvollen Verhältnisses zum römischen Staat oder etwas anderes gemeint war.748 746 Auszüge ebd. S. 69 (übers.), 170–71 (latein.). 747 Kurze, Krieg, S. 9. 748 Ebd., S. 11.

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Die politischen Theorien

Wesentlicher für die weitere Entwicklung wurden die Stellungnahmen der Kirchenväter. Während sich im 3. Jahrhundert Origines und Cyprian noch ablehnend geäußert hatten, war es der Mailänder Kirchenvater und Bischof Ambrosius (374–379), der insbesondere in De officiis ministrorum (»Von den Pflichten der Kirchendiener«) die Bedingungen umriss, unter denen sich auch Christen, allerdings nicht die Priester, des Schwerts bedienen dürfen. An erster Stelle geht es darum, Gerechtigkeit zu wahren; wer tapfer ist, sollte sich auch klug, zurückhaltend und milde verhalten. So sollten sich die Kämpfer nicht durch Haboder Machtgier leiten lassen. Unter diesen Bedingungen ist es nicht nur erlaubt, sich selbst zu schützen, sondern auch die Heimat, die Freiheit, das Haus, die Kinder oder die Verbündeten zu verteidigen.749 In der Rechtfertigung militärischer Gewalt greift Ambrosius auf die Vorstellungen der antiken Staatstheoretiker zurück, mit fast wörtlichen Entlehnungen aus den Schriften Ciceros, bezieht sich aber zugleich auf die alttestamentarischen Vorbilder sowie auf den für ihn erst wahrhaft tapferen innerseelischen Kampf des Gottesstreiters gegen die Versuchungen durch den Teufel. Von noch größerer Bedeutung als die Stellungnahme des Ambrosius waren jedoch die ausführlichen Überlegungen Augustins, der an mehreren Stellen den Soldatenstand rechtfertigte und dafür den ebenfalls bei Cicero angelegten Begriff des gerechten Kriegs präzisierte und christlichen Vorstellungen anpasste. Zentral war dafür vor allem das 19. Buch seines De civitate Dei, in dem die Notwendigkeit des Kriegführens vor dem Hintergrund eines durchweg negativen Bilds der eigenen Gegenwart entwickelt wird. Dabei ist sich Augustinus der fürchterlichen Folgen der Kriege, auch der gerechten Kriege, bewusst. »Doch so sagt man, der Weise wird nur gerechte Kriege führen. Als ob er nicht, wenn er menschlich fühlt, noch viel mehr über die Notwendigkeit gerechter Kriege trauern müsste. […] Nur die Ungerechtigkeit der gegnerischen Seite zwingt ja den Weisen zu gerechter Kriegführung. […] Wer also diese großen, schauerlichen, verheerenden Übel leidvoll betrachtet, der gestehe, dass sie ein Elend sind. Wer dagegen ohne Seelenschmerz sie über sich ergehen lässt oder auch nur an sie denkt, […] ist umso elender, weil er sein menschliches Empfinden verloren hat«.750

Was denn ein gerechter Krieg ist, bestimmt Augustin an anderen Stellen, unter anderem in seiner Schrift Contra Faustum. Entscheidend ist dafür – wie bei anderen Autoren – die Verteidigung bzw. die Wiedergewinnung verlorenen Gutes oder Gebietes; dies rechtfertigt auch ein Vorgehen gegen Staaten, die sich für die unrechtmäßigen Handlungen ihrer Untertanen nicht zum Ausgleich bereitfinden. Allerdings darf die Entscheidung über die Kriegführung nicht bei den Individuen liegen, vielmehr bedarf es dafür der Autorität eines Fürsten. 749 Ambrosius, De Officiis, I, xxvii, 129, und xxxii, 176, S. 76, 93; deutsch S. 72, 95. 750 Augustinus, De Civitate, 2, XIX,7; deutsch Thimme, 2, S. 541–42.

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Dabei führt Augustin eine Form des gerechten Krieges ein, die der Interpretation breiten Raum lässt, den von Gott geführten Krieg, der nicht ungerecht sein kann.751 Überhaupt geht er in der Akzeptanz von Krieg und Soldatentum viel weiter als alle seine christlichen Vorgänger. So verweist er in einem Brief an den römischen General Bonifatius auf eine Stelle des Lukas-Evangeliums und interpretiert sie in dem Sinne, dass Johannes der Täufer bekehrungswilligen Soldaten gesagt habe, dass sie in ihrem Stand verbleiben könnten, sich aber (unrechter) Gewalt enthalten und mit ihrem Sold begnügen, also nicht plündern, sollten. Wenn nur die Friedfertigen selig sind, so muss das auch und gerade im Kriege gelten. So schreibt er an Bonifatius, »sei also im Kriege friedfertig (esto ergo bellando pacificus), damit du jene, die du bekämpfst, durch den Sieg zum Nutzen des Friedens hinführst […]«.752 Dahinter steht eine bereits auf Plato zurückgehende, für die Späteren aber endgültig durch Augustin in De civitate Dei formulierte Erkenntnis: »Friede ist [….] das erwünschte Ende des Krieges. Denn jedermann erstrebt durch Kriegführung Frieden, keiner durch Friedensschluss Krieg. Auch die, welche den Frieden, in dem sie leben, stören wollen, hassen ja nicht den Frieden als solchen, sondern wollen nur einen anderen, der ihren Wünschen entspricht«.753

In diesem Zusammenhang entwickelt Augustinus eine eigene Friedensontologie, die für die Späteren ebenfalls vorbildlich wurde. Das Streben nach Frieden ist danach so etwas wie ein Naturgesetz, auch wenn dieser Frieden auf sehr verschiedenen Ebenen erstrebt werden kann. »Sogar die Räuber wollen mit ihren Spießgesellen Frieden haben, um den Frieden der anderen umso grimmiger und erfolgreicher anzugreifen«,754 und selbst ein Einzelner muss immer noch mit sich in Frieden leben. Auch wenn, so Augustinus, »der Friede der Gottlosen, wenn man ihn mit dem Frieden der Gerechten vergleicht, nicht Friede genannt zu werden« verdient755 und der einzige wahre Friede der ewige Friede des Gottesstaates ist, ergibt sich damit eine grundlegende, positive Bestimmung des (irdischen) Friedens als »geordnete Eintracht«. »Der Friede des Staates [besteht] in der geordneten Eintracht der Bürger im Befehlen und Gehorchen, der Friede des himmlischen Staates in der bestgeordneten, einträchtigsten Gemeinschaft des Gottesgenusses und des gegenseitigen Genusses in Gott, der

751 752 753 754 755

Kurze, Krieg, S. 17. Augustinus, Epistolae 185–270, 189,4 S. 133. Augustinus, De Civitate, 2, XIX,12; deutsch Thimme, 2, S. 547. Ebd., S. 547–48. Ebd., S. 550.

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Die politischen Theorien

Friede aller Dinge in der Ruhe der Ordnung [tranquillitas ordinis]. Ordnung ist aber die Verteilung gleicher und ungleicher Dinge, die jedem den gebührenden Platz anweist«.756

Damit hatte Augustinus die Grundlagen des mittelalterlichen Denkens über Krieg und Frieden formuliert, die dann jeweils erläutert, ergänzt, weiter ausgeführt, modifiziert oder sogar auch einmal korrigiert werden sollten. Im früheren Mittelalter war es zunächst wiederum Isidor von Sevilla, der in seinen »Etymologien« zu Krieg und Frieden Stellung nahm und dabei das Wort für Frieden, pax, etymologisch korrekt, aber in völlig anderem Kontext als Augustinus, auf pactum zurückführte, also auf die Vereinbarung zwischen den kriegführenden Parteien, wie für ihn bellum (Krieg) als Verkürzung von duellum auf die Auseinandersetzung zweier Gegner verwies.757 Der innere Unfriede vor allem im Westfrankenreich des 10. und 11. Jahrhunderts führte dann zur Gottesfriedensbewegung, die vielfältige Anstöße zur Auseinandersetzung der Kirche mit dem Krieg gab, ebenso wie die beginnende Reconquista und die von den Päpsten geleitete Abwehr der Sarazenen in Italien zur Entstehung des Kreuzzugsgedankens beitrugen. Die einschlägigen Synodalbeschlüsse und die päpstlichen Verfügungen gingen schließlich um 1140 zusammen mit den biblischen Autoritäten und den Stellungnahmen der Kirchenväter in die große kirchenrechtliche Sammlung Gratians ein, der, wie angesprochen, in seinem Decretum in der causa 23 die Problematik von Krieg und Frieden behandelt.758 Diese ausführliche Zusammenstellung wurde wiederum durch die Dekretisten kommentiert, die sich gründlich mit dem Begriff des gerechten Krieges auseinandersetzten und dabei zwar wenig zu den Teilnehmern am Krieg aussagten, auch nicht zu den Mitgliedern der geistlichen Ritterorden, doch wesentlich zur juristischen Fundierung des Begriffs der öffentlichen Gewalt beitrugen, als Gegenpol zur feudalen Ordnung. Es ging ihnen vor allem um die Autorität, Kriege führen zu können, wobei sie verschiedene Bereiche der Rechtshoheit innerhalb der christlichen Gemeinschaft unterschieden und auch Stadtstaaten und Lehnfürstentümern einen eigenen rechtlichen Rang zuwiesen.759 Einer der ersten Dekretisten war Rufinus, der zum Bischof von Assisi und später zum Erzbischof von Sorrent aufstieg († v. 1193) und um 1160 Glossen und eine Summa zum Decretum verfasste. Er hob die Sonderstellung der causa 23, also der Problematik von Krieg und Frieden, innerhalb des Kirchenrechts hervor und suchte Gratians Bestimmung des gerechten Krieges zu klären und zum Durchbruch zu verhelfen. Wie die späteren Kommentatoren legte er besonderen 756 757 758 759

Augustinus, De Civitate, 2, XIX,13; deutsch Thimme, 2, S. 552. Isidor, Etymologiarum Libri 2, XVIII, 1; vgl. Kurze, Krieg, S. 18–19. Corpus Iuris, hrsg. Friedberg, 1, II, c. XXIII, Sp. 889–965. Russell, Just War, S. 126.

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Wert auf die Notwendigkeit einer ausreichenden, »ordentlichen« Autorität (ordinaria potestas) für die Erklärung eines Krieges, wobei er insbesondere die den Krieg auslösende Schuld der einen Partei betonte und den gerechten Krieg als letztes Mittel zur Durchsetzung von Rechten einer benachteiligten Partei verstand.760 Um 1180 verfasste er dann eine Schrift »Über das Gute des Friedens« (De bono pacis), die sich an die älteren Theorien, vor allem die Augustins, anschloss. So behandelt Rufinus darin nacheinander die verschiedenen »Stufen« des Friedens: den Frieden Gottes mit sich selbst, den der Trinität, den Gottes mit den Menschen, den des Teufels, den der Engel und den der Menschen untereinander. Der Frieden der Menschen untereinander wird noch einmal in drei Arten unterteilt, den Frieden Ägyptens, Babylons und Jerusalems, die entweder dem teuflischen oder dem göttlichen Frieden nahestehen. Rufinus ordnete damit die Friedensvorstellungen in das Schema der himmlischen und irdischen Hierarchien ein, das dem lateinischen Westen durch die Übersetzung der Schriften des Ps.-Dionysius Areopagita vertraut geworden war.761 Krieg und Frieden blieben auch in der folgenden Zeit Gegenstand der theoretischen Diskussion, etwa bei den Dekretalisten, den Kommentatoren der päpstlichen Dekretalen, und in zahlreichen Kreuzzugs- und Friedenspredigten. Daneben bezogen ebenso die Theologen und Philosophen des späteren Mittelalters zu diesen Fragen Stellung, nicht zuletzt Thomas von Aquin, der in der Summa Theologica die Definition des gerechten Krieges weiter präzisierte.762 Dabei diskutiert er unter anderem die Frage, ob Kriegslisten und Hinterhalte erlaubt sind. Er kommt zum Ergebnis, dass es zwar verboten ist, gegen einmal gegebene Versprechen zu verstoßen, weil selbst im Krieg das Recht seine Gültigkeit behält, dass aber auch im gerechten Krieg die eigenen Absichten gegenüber dem Gegner verborgen werden müssen, um Erfolg zu haben, und dass insbesondere die Beratungen der Anführer geheim zu halten sind.763 Ein Beispiel für die zunehmende Bedeutung praktischer Fragen in der relevanten Literatur bietet auch der Traktat des Honoré Bouvet (fälschlich auch Bonet, † 1405/10), »Der Baum der Schlachten« (L’arbre de batailles). Seine auf den Werken des Juristen Johannes von Legnano aufbauende Schrift war eine zum praktischen Gebrauch der Teilnehmer wie der Opfer des Krieges bestimmtes, volkssprachlich geschriebenes Handbuch, das um 1386/1390 in Avignon vor dem Hintergrund des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich entstand. Darin behandelte er unter anderem die Frage, »ob ein Engländer, der 760 761 762 763

Ebd., S. 87. Kurze, Krieg, S. 27–28. Thomas von Aquin, Summa, II,2, qu. 40, art. I, 3, S. 242. Ebd., art. III, 3, S. 245.

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Die politischen Theorien

seinen in Paris studierenden Sohn besuchen kommt, gefangen genommen werden soll«,764 und kam zum Ergebnis, dass nur ein Betrüger oder Spion inhaftiert werden sollte. Das Denken über Krieg und Frieden fand aber andererseits auch in die praktische Politik Eingang, wie dies unter anderem der bereits einmal angesprochene europäische Friedensplan des böhmischen Königs Georg von Podiebrad von 1464 deutlich macht, der seinen Ursprung bei den gelehrten Mitgliedern der Kanzlei Georgs, dem Franzosen Antoine Marini oder dem Deutschen Martin Mair, haben dürfte. Sein Ziel war ein Friede zwischen den Reichen der lateinischen Christenheit, um dann umso effektiver gegen die osmanische Expansion vorgehen zu können. Der Kern des Vorschlags war die Einrichtung einer nach dem Vorbild der Konzilien organisierten Versammlung, die zunächst für fünf Jahre in Basel, dann in Frankreich und dann in Italien tagen und Vertreter aller Fürsten umfassen sollte. An der Spitze standen der französische König, die deutschen Herrscher, der Doge von Venedig und der kastilische König, deren »Nationen« jeweils eine Stimme zukam, während die Entscheidung in den »Nationen« schon zuvor durch das Mehrheitsprinzip fallen sollte. Dazu heißt es weiter im Text des Friedensplans: »Diese Versammlung soll ihren eigenen und besonderen Rat haben, dessen Präsident N als Vater und Haupt sein soll, und wir, die anderen christlichen Könige und Fürsten, sollen ihre Mitglieder sein. Das genannte Kollegium soll ebenso freiwillige und einschließende Rechtshoheit mit reiner und vermischter Autorität über alle von uns und unsere Untertanen haben wie auch über jene, die sich ihm freiwillig unterwerfen, wie die gegenwärtige Versammlung oder ihre Mehrheit entscheiden und verfügen kann«.765

Waren damit Institutionen vorgesehen, wie sie mit Vollversammlung und Sicherheitsrat heute in der UNO verwirklicht sind – nicht zufällig hat die UNESCO 1964 eine viersprachige Übersetzung des dort als »Weltfriedensplan« bezeichneten Vertragsentwurfs gefördert –, sollte ein Teil der Versammlung auch als »internationaler Gerichtshof« arbeiten, denn »die Pflege des Friedens ist undenkbar ohne Gerechtigkeit, und die Gerechtigkeit [ebenso] ohne diesen; und durch Gerechtigkeit wird Frieden gewonnen und erhalten«.766 Der als Häretiker bedrohte Podiebrad war nicht der Einzige, der die christlichen Fürsten einigen wollte, um sich dann – allerdings nicht zufällig ohne päpstliche Beteiligung – gegen die Feinde der Christenheit zu wenden. So suchte z. B. Papst Paul II. 1468 zumindest einen italienischen Frieden herbeizuführen,

764 Honoré Bonet, Arbre, ch. lxxxviii, S. 194–96; vgl. Kurze, Krieg, S. 30. 765 Georg von Podiebrad, Peace Organization, 16, S. 77. 766 Ebd., 9, S. 75.

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die Pax Paolina, um die inneritalienischen Auseinandersetzungen zu beenden und die vorhandenen Kräfte besser gegen die Osmanen einsetzen zu können.767 Als dieser Frieden tatsächlich verkündigt wurde, am Himmelfahrtstag des Jahres 1468, fand dies auch eine publizistische Resonanz, unter anderem in einem ungewöhnlichen »Dialog« zwischen dem Kastellan der Engelsburg in Rom, dem spanischen Kardinal Rodrigo Sánchez de Arévalo († 1470), und einem seiner Gefangenen, dem Humanisten Bartolomeo Sacchi, genannt Platina († 1481), der 1475, unter dem Nachfolger Pauls II., d. h. unter Sixtus IV., zum ersten Präfekten der vatikanischen Bibliothek aufsteigen sollte. Beide einigten sich darauf, jeweils die gegenteilige Position zu verteidigen. Während Platina, als der jüngere »und von Natur aus aggressivere«, für den Frieden Stellung nahm (pro pace), entschied sich Arévalo, die Fehler des irdischen Friedens aufzuzeigen und damit den Krieg zu verteidigen (pro bello).768 Platinas deutlich kürzerer Beitrag zur Debatte zeichnet sich, verständlich auch angesichts seiner besonderen Lage, weniger durch Details als vielmehr durch seine humanistische Beredsamkeit aus. Arévalo bietet dagegen den ganzen Apparat seiner scholastischen Gelehrsamkeit auf. So zeichnet Platina mit acht oder neun Thesen ein Bild der Schrecken des Krieges und hebt den Nutzen des Friedens hervor: »Nichts Heilbringenderes und Eigentümlicheres hat uns unser Erlöser, als er die Erde verließ, zurückgelassen, als den Frieden; und an ihn erinnert er mit Nachdruck: Meinen Frieden, sagte er, gebe ich Euch. […] Er wusste nämlich, dass wir auf diesem Weg seinen Spuren sehr leicht folgen würden, weil das Wesen eines guten und glücklichen Lebens in der Tugend, woher der Frieden kommt, begründet ist. Und er wusste auch, dass die, die den Krieg wünschen, Nächstenliebe, Glauben, […] Menschlichkeit, Gnade […] und die hochheiligen Gebote wegen der Machtsteigerung und der Herrschaft verachten werden«.769

Dem stellt Arévalo zweimal zehn Thesen entgegen, die er mit zahlreichen Zitaten aus der christlichen und der mittelalterlichen Tradition belegt und deren Aussagen schon aus dem recht umständlichen Titel folgen, den er seinem Teil gegeben hat: »Plädoyer für den Krieg. Es werden Nutzen und Notwendigkeit der kriegerischen Übung erörtert, die auch gegen Schuldvorwurf verteidigt wird. Es wird gezeigt, wie schwierig der Zustand der Ruhe unter den Menschen ist, den man gemeinhin Frieden nennt, und es wird dargelegt, was ein wahrer, des Lobes würdiger und wünschenswerter

767 Kurze, Zeitgenossen, S. 72–76. 768 Ebd., S. 90. 769 Platina, De laudibus pacis, 24; Benziger, Theorie, II, S. 18; übers. ebd. III, S. 17.

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Die politischen Theorien

Friede ist. Über Nachteile und Laster, die aus der langen, untätigen Sicherheit des Friedens resultieren […]«.770

Beide Autoren malen dabei ihre Positionen nicht nur in Schwarz und Weiß. Platina sieht durchaus Gründe, zur Verteidigung z. B. vom Heim und Herd Krieg zu führen, und Arévalo versteht in augustinischer Tradition den wahren, göttlichen Frieden durchaus als höchstes Gut, der bei »den Menschen Einigkeit und geistige Übereinstimmung ohne Widerspruch« voraussetzen würde,771 wie man sie auf Erden nicht finden könne. Ihre Debatte fasst somit noch einmal die mittelalterlichen Diskussionen über Krieg und Frieden zusammen. Zugleich repräsentiert der eine, Arévalo, mit seiner enzyklopädischen Gelehrsamkeit, stärker die mittelalterliche Bildungsgeschichte, während der andere, Platina, als Humanist Vertreter jener geistigen Bewegung ist, die seit dem 15. Jahrhundert die europäische Bildungslandschaft umgestaltete.

770 Sánchez de Arévalo, Commendatio armorum, Titel; Benziger, Theorie, II, S. 22; übers. ebd., III, S. 20. 771 Ebd., II,1; Benziger, Theorie, II, S. 64; übers. ebd., III, S. 53.

14. Die mittelalterliche Fachliteratur

Der bisher umrissene Fächerkanon deckt sich weitgehend mit den Inhalten der universitären Lehre und Fachdisziplinen, auch wenn Geschichtsschreibung und Politische Theorie nur mittelbar in die artes liberales integriert werden konnten. Im Kontext der Gliederung des Wissens, der Lehrpläne und Studienordnungen, wurde aber bereits darauf hingewiesen, dass es daneben noch weitere, oft eher praktisch orientierte Wissensbereiche gab, die zuerst bei Hugo von St. Victor als artes mechanicae zusammengefasst wurden. Sie bildeten zwar anders als die artes liberales keine feste, weitgehend unveränderlich strukturierte Gruppe von Wissensgebieten. Dennoch bildete sich im späteren Mittelalter so etwas wie ein verbindlicher Kanon aus, der zunehmend auch mit volkssprachlichen Texten abgedeckt wurde. Die Erforschung dieser »mittelalterlichen Fachliteratur« bzw. »Fachprosa« ist in Deutschland maßgeblich durch Gerhard Eis geprägt worden.772 Sie widmet sich gleichermaßen deutschsprachigen Texten zu den artes liberales wie zu den artes mechanicae und einer dritten Gruppe von Wissensgebieten, den »verbotenen Künsten« oder artes magicae. Nachdem die artes liberales schon ausführlich behandelt wurden, sollen die beiden anderen Wissensgebiete mit einigen Beispielen vorgestellt werden. Die artes mechanicae wurden selten systematisch zusammenhängend dargestellt. In den Welt und Natur gewidmeten Überblickswerken des hohen und späten Mittelalters finden immer nur einzelne Themen Behandlung. Das gilt z. B. das für die verschiedenen volkssprachlichen Bearbeitungen des auf dem Elucidarium und der Schrift Imago mundi des Honorius Augustodunensis aufbauenden Lucidarius. Die ältere deutschsprachige Fassung bietet – neben ausführlichen Abschnitten zu Kirche, Glauben, Jüngstem Gericht und weiteren theologischen Aspekten – im Teil zum Reich Gottes einige Ausführungen zur Geographie (zur Aufteilung der Welt, zu Indien und seinen Bewohnern, zu Mesopotamien, Syrien, Europa und Afrika sowie zu den Inseln im Meer), zum

772 Eis, Fachliteratur; ders., Forschungen.

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Die mittelalterliche Fachliteratur

Wetter und zu Geburt und Tod der Menschen.773 In der kleinen, sogenannten »Mainauer Naturlehre« aus der Zeit um 1300 werden dagegen neben der Kosmologie, der Planetenbewegung, Sonnen- und Mondfinsternissen und der Kalenderberechnung medizinische Aspekte wie die Konstitutionenlehre, die die Elemente, die Qualitäten und die menschlichen Konstitutionstypen parallel setzt, und die ( jahreszeitliche) Diätetik angesprochen.774 Konrad von Megenbergs »Buch der Natur«, das wiederum auf dem Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpré aufbaut, setzt sich im ersten Buch mit dem Menschen in seiner gemainen Natur, also medizinischen Fragen, auseinander, im fünften mit den Kräutern und ihren Wirkungen und mit siebenten Buch mit dem gesmaid, also den Metallen und ihrer Verarbeitung.775 Weitere Bücher sind der Kosmologie, der Biologie (Tieren auf dem Land, Vögeln, Meerestieren, Schlangen, Würmern und Insekten sowie Bäumen – insbesondere fruchtbaren Bäumen) und den Edelsteinen gewidmet. Diese Überblickswerke behandeln also unter anderem Heil- und Tierkunde, Geographie und Handwerk. Damit sind einige Teile der artes mechanicae angesprochen, auch wenn das gesamte Feld noch einmal deutlich größer ist, wie schon die Einteilung bei Hugo von St. Victor deutlich gemacht hat. Wenn man versucht, die spätmittelalterliche Entwicklung zu überblicken, lassen sich (1) Handwerk (und Baukunst), (2) das Militär- und Kriegswesen, (3) Handel, Geographie und Seefahrt (sowie Rechenkunst), (4) Haushalt und Ackerbau, (5) Tiere und Wald (mit Jagd und Tierheilkunde), (6) (einfache) Medizin und (7) Theater, »Hofkünste« und Spiel als Disziplinen der »mechanischen Künste« fassen.776 Aber diese Gliederung ist eher eine moderne Zusammenfassung und Rekonstruktion der Fächer, die man dieser Kategorie zuordnen kann; und sicher lassen sich insbesondere Werke zu einzelnen Themen nicht immer eindeutig zuweisen. Hugo von St. Victor hatte von den artes liberales wie von den artes mechanicae einen weiteren Wissensbereich abgetrennt, der nach ihm nicht den Menschen nutzt, sondern sie durch Bösartigkeit und Lüge vom göttlichen Glauben wegführt, den der Magie, die ein »falsches Geschäft« verfolgt.777 Genauer unterscheidet er dabei fünf Teilbereiche, Prophezeiungen (mantica oder divinatio), irreführende Vorherberechnungen (mathematica vana), Loswerfen (sortilegia), üble Zauberei (maleficia) sowie Täuschungen (praestigia). Trotz seines schlechten Rufs und kirchlicher Verbote entwickelte sich auch dieser Bereich des Wissens kontinuierlich weiter; und vielfach gingen auch von den magischen Disziplinen Impulse für die Entstehung der modernen Naturwissenschaften aus. Analog zu 773 774 775 776 777

Lucidarius, hrsg. Heidlauf, S. 9–18, 25–31. Mosimann, Naturlehre, S. 214–15, 243. Konrad von Megenberg, Buch, hrsg. Pfeiffer, S. 3–54, 378–426, 474–81. Eis, Fachliteratur, S. 1. Fürbeth, Schrifftum, S. XI.

Handwerk und Baukunst

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den artes liberales und den artes mechanicae bildete sich dafür wiederum ein Siebenerschema der artes magicae. Eine traditionelle Einteilung findet sich zum Beispiel beim Arzt und Literaten Johannes Hartlieb († 1468) in seinem »Buch aller verbotenen Künste«, das er nach kurz 1456 für den Markgrafen Johann von Brandenburg verfasste. Dort nennt er (1) nigromantia, die »schwarze Kunst«, die unter anderem Beschwörungen, Opferhandlungen, Astrologie und Einsatz von Talismanen umfasst; (2) geomantia, »Erdzauberei«, darunter Losorakel, Telepathie; (3) hydromantia, »Wasserzauberei«, mit der Konsultation von Quellen, Missbrauch von Weihwasser, Bleigießen, das Werfen von Münzen in Brunnen; (4) aeromantia, »Luftzauberei«, darunter die Interpretation des Vogelflugs und der Erscheinung von Kometen und Meteoriten, auch Vogelopfer; (5) pyromantia, »Feuerzauberei«, die Deutung von Flammen und Rauch sowie die Nutzung von Spiegeln und Kristallen einschließend; (6) chiromantia, »Zauberei mit der Hand«, mit der Handlesekunst und Deutung der Physiognomie; und (7) spatulamantia, »Zauberei mit Tierknochen«.778 Hartlieb war aber keineswegs ein Anhänger dieser »verbotenen Künste«, sondern wollte mit seinem Werk dringend vor der praktischen Anwendung dieser Disziplinen warnen. Diese seien – im Anschluss an Theorien von Augustin und Thomas von Aquin – immer schon, ob direkt oder indirekt, ein Pakt mit Dämonen. Dies hielt viele Gelehrte des Mittelalters nicht davon ab, sich mit magischen Praktiken, Astrologie oder Alchemie zu beschäftigen. Letztere soll deshalb zusammen mit der Magie neben einigen der artes mechanicae in diesem Kapitel abschließend behandelt werden.

I.

Handwerk und Baukunst

Das Handwerk gehört zu den elementaren Disziplinen der artes mechanicae. Bei Hugo von St. Victor mit den Schwerpunkten Textil- und Waffenherstellung noch auf zwei »Künste« verteilt, steht es häufig in den disziplinären Einteilungen an erster Stelle. Trotz der sich im späteren Mittelalter formierenden klaren Differenzierung von Ausbildungsstufen (Lehrling, Geselle, Meister), die in den Ordnungen der Handwerke festgeschrieben wurden, gab es kaum theoretische Schriften über die Inhalte des in der Ausbildung vermittelten Wissens. Vieles wurde mündlich weitergegeben und beruhte auf der Erfahrung der einzelnen Handwerker, was sich auch in der Entwicklung des Schiffbaus nachvollziehen lässt, bei dem sich neue Formen (wie der Übergang von der Klinker- zur Kraweeltechnik) nur sehr langsam und mit regionalen Differenzen durchsetzten. So 778 Johann Hartlieb, Buch, Kap. 22, 38, 54, 67, 80, 98, 115, S. 15, 27, 36, 43, 49, 58, 67; vgl. Fürbeth, Hartlieb, Sp. 416.

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Die mittelalterliche Fachliteratur

kann es nicht verwundern, dass sich die mittelalterliche Fachliteratur zu den Handwerken auf relativ wenige Werke beschränkt. Eine Besonderheit sind die bildlichen Darstellungen von Handwerkern in den Hausbüchern der Nürnberger Zwölfbrüderstiftungen. Der Nürnberger Kaufmann Konrad Mendel gründete 1388 eine karitative Einrichtung, die jeweils zwölf arme, alte Handwerker der Stadt aufnehmen sollte und bis 1806 fortbestand. 1425/26 wurde ein Hausbuch angelegt, in dem jeder Bewohner des »Altenheims« eine ganzseitige Porträtseite erhielt. Es zeigt diese bei der Arbeit zusammen mit ihren Werkzeugen und gibt so einen Eindruck von den Berufen und ihren Techniken. Eine vergleichbare Stiftung erfolgte Anfang des 16. Jahrhunderts durch Matthäus Landauer, auch dafür wurde 1511 ein Hausbuch mit Handwerkerbildnissen angelegt.779 In den drei erhaltenen Manuskripten der Mendelschen Stiftung finden sich auf 857 Bildseiten 765 großformatige Darstellungen von Handwerkern. Die erste Abbildung zeigt nach dem beigefügten Text den fünften Bruder mit Namen Hanß, einen Säger oder Zimmermann, der ein auf einem Bock aufgelegtes Brett der Länge nach durchschneidet. Die dabei verwandte Schlitzsäge ist ein spezielles Instrument, das einen zweiter Säger erfordert, der am unteren Griff der Säge angreifen muss, auf der Zeichnung allerdings nicht dargestellt ist. Bei der folgenden Abbildung ist der Name des (sechsten) Bruders nicht mehr vollständig lesbar, es handelte sich aber um einen Schuster, der in seiner Werkstatt gezeigt wird. Er ist dabei, mit Hilfe einer Ahle einen Schuh herzustellen. Auf einem Tisch davor liegen verschiedene, teils zugeschnittene Lederstücke zusammen mit einem Schustermesser. Auf der geöffneten Fensterklappe wird offenbar ein Paar Schuhe zum Verkauf angeboten, ein weiteres Paar ist an der Wand abgelegt.780 Auch die anderen Darstellungen sind ähnlich detailliert und erlauben Rückschlüsse auf die verschiedenen Berufsgruppen. Abhängig vom Beruf finden sich meist ein oder mehrere Werkzeuge, so etwa bei der Darstellung des Steinmetzen Cunrad eine Spitzhacke, ein Winkel, eine Setzwaage und eine Holzschablone.781 Ein komplexeres, aber weniger konkret auf das Handwerk, sondern auf die Gesellschaft als Ganzes bezogenes Bild bieten die spätmittelalterlichen Ständespiegel. Einen Ausgangspunkt bildete die allegorische, moraldidaktische Deutung des Schachspiels, wie sie um 1320 der Genueser Dominikaner Jacobus de Cessolis in seinem Werk De ludo scaccorum (»Über das Schachspiel«) vornahm. Die mit den Schachfiguren verbundenen Stände und Berufsgruppen wurden 779 Digitalisiert im Rahmen eines DFG-Projekts der Stadtbibliothek im Bildungscampus Nürnberg unter der Leitung von C. Sauer, mit ausführlicher Beschreibung und digitaler Erschließung, online: https://hausbuecher.nuernberg.de/ (letzte Einsicht 21. 1. 2022); zu den Hausbüchern s. Classen, Craftmanship, S. 33–34. 780 Stadtbibliothek im Bildungscampus Nürnberg, Amb. 317.2o (Mendel I), fol. 1r-v. 781 Ebd., fol. 4v.

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darin mit ihren (moralischen) Verpflichtungen vorgestellt, auch Spieler und Gauner fanden Berücksichtigung. Das »Schachzabelbuch« wurde mindestens viermal in Versen, dreimal in Prosa ins Deutsche übertragen.782 Einer der spätmittelalterlichen Ständespiegel stammt von dem spanischen Gelehrten und Kardinal Rodrigo Sánchez de Arévalo († 1470), das Speculum humanae vitae. Sein Werk fand weite Aufnahme, wurde vom Ulmer Stadtarzt Heinrich Steinhöwel († 1479) ins Deutsche übersetzt und bearbeitet und in dieser Fassung zwischen 1375 und 1388 dreimal gedruckt.783 Im von Steinhöwel erweiterten ersten Buch über die weltlichen Stände finden sich auch einige Kapitel zum Handwerk, die nach einer allgemeineren Einleitung wesentlich auf dem Schema der artes mechanicae aufbauen. Die Handwerke werden als Tätigkeitsbereiche der einfachen Leute nach wollen werck, […] waffen oder schmid werck, voͤ r schiffung oder fart, ackerbau, jaͤ gerey, ertzney unde freuden spil differenziert. Das sind jedoch nur die großen Kategorien; schon unter das wollen werck fallen manigerley kunsten, so Weben, Kämmen, Spinnen, Nähen, Nadelarbeit wie die der Kürschner, Schneider, Schuhmacher und anderer, die mit Leinen, Flachs, Wolle, Fellen und ähnlichem Material umgehen.784 Ähnliches gilt für die zweite Kategorie, die nicht nur Waffenschmiede umfasst, sondern alle Handwerke, die Metall verarbeiten, also unter anderem Goldschmiede, Münzmeister, Kannengießer, ebenso – etwas überraschend – Steinmetze, Maurer, Zimmerleute und Schreiner. Arévalo (und Steinhöwel) heben daher hervor, dass es ohne das Schmiedehandwerk keine menschliche Gemeinschaft gibt, denn ohne sie gibt es keine Städte, Schlösser, Dörfer, Häuser oder auch Kirchen. Die Goldschmiede und die mit ihnen verwandten Gewerbe wiederum stellen viele schöne Dinge her, so Geschirr und Schmuck für den Gottesdienst und für die Menschen. Mit den Waffen und Harnischen der Waffenschmiede können das Vaterland geschützt und die Feinde vertrieben werden. Wer von den Handwerkern den gemeinen Nutzen über den Eigennutz stellt, ist selig und wird gut von der Arbeit seiner Hände leben können. Allerdings gibt es auch Betrug und mangelnde Sorgfalt, wenn etwa verrostetes Eisen als neu verkauft wird. Arévalo nimmt hier die vorbildlichen Goldschmiede aus, die keine Mittel benutzen, um Gold ansehnlicher zu machen, kein Gold »strecken« und kein Glas als Edelstein ausgeben, wie das im fernen Indien geschieht. Auch die Schlosser und die Kannengießer halten sich im Idealfall an die Vorschriften, auch wenn das Handwerk oft der Reformen bedarf.785

782 783 784 785

Merten, Schachzabelbücher, Sp. 825. Zapf, Steinhöwel, Sp. 1718. Sánchez, Speculum, dt. Steinhöwel, fol. 53v. Ebd., fol. 60v–61v.

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Kritik findet sich auch in anderen im weiteren Sinne der Gattung der Ständespiegel zuzuordnenden Texten wie im satirisch-didaktischen Gedicht »Des Teufels Netz« aus dem früheren 15. Jahrhundert. Darin beantwortet der Teufel die Fragen eines Einsiedlers, ob und wie die verschiedenen geistlichen und weltlichen Stände in seinem Netz gefangen sind. Über den Metzger sagt der Teufel unter anderem: »Ich muss euch davon etwas sagen, / so er das Fleisch ab von dem Bein tut nagen / und die Würst’ denn haken will, / so nimmt er Lungen und Leber viel, / Milz, Gurgeln und die kroes / das hakt er als in ein geschmoes, / Kein Schwein möcht das wohl essen, / Das müssen denn die Leute fressen, / Wenn er die Würst’ draus macht. […] / So will ich euch noch mehr sagen, / hat er denn Kälber- oder Lämmerfleisch feil, / dem tut er an schandbar Unheil, / er tut’s aufblasen mit dem Maule, / und hängt’s dorthin an eine Säule. / So kommt einer hergelaufen / Und will ein Stück Fleisch kaufen, / Das gefällt ihm so wohl / Und ist denn innen hohl […]«.786

Die Liste der Vorwürfe allein gegen die Metzger erstreckt sich insgesamt über 150 Verse. Auch für die anderen Handwerke ließe sich das beliebig fortsetzen. Selbst wenn die Kritik deutlich überzogen ist und der Autor mit Hilfe des Texts an die Leser appellieren will, sich vor dem beschriebenen Verhalten zu hüten, wird dahinter auch die Alltags-Wirklichkeit im Handwerk des 15. Jahrhunderts deutlich. So werden in zahllosen Beispielen Arbeitstechniken, die genutzten Materialien und Werkzeuge beschrieben.787 Für einige besondere Handwerke gab es daneben auch detailliertere Anleitungen und Darstellungen. So führt das bereits aus dem 12. Jahrhundert stammende, Theophilus zugeschriebene Werk De diversis artibus (»Über verschiedene Künste) in drei Büchern aus praktischer Perspektive in das Kunsthandwerk ein. Der Autor bezieht bewusst die Kenntnisse, Materialien und Techniken verschiedener Länder mit ein. So nennt er die Farben Griechenlands, Emaille und Niello aus Russland, Guss und Gravuren aus Arabien, goldene Verzierungen oder Bearbeitungen von Edelsteinen aus Italien, kunstvolle Fenster aus Frankreich und feine Metall-, Holz- und Steinarbeiten aus Deutschland.788 Im ersten Buch beginnt er mit der Mischung von Farben für Darstellungen auf verschiedenen Materialien, unter anderem auf Wänden und in Büchern. Das zweite Buch ist der Herstellung und Bearbeitung von Glas gewidmet, so auch der Herstellung von Glasfenstern. Im dritten Buch wird die Metallherstellung beschrieben, angefangen von der Ausstattung einer Werkstatt, über die Bearbeitung von Gold und Silber, die Herstellung von Niello, Emaille und Messing, bis hin zum Bau von Orgeln und dem Gießen von Glocken. 786 Übers. nach Des Teufels Netz, hrsg. Barack, S. 300 und 302. 787 Classen, Craftmanship, S. 30. 788 Theophilus, De Artibus, hrsg. Dodwell, S. 4.

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Im späteren Mittelalter fand dann die Metallgewinnung und -verarbeitung größeres Interesse. Im deutschen Sprachraum befasste sich erstmals Ulrich Rülein von Calw in seinem um 1500 erschienen nutzlich bergbuchleyn in Dialogform mit der Suche nach und dem Abbau von Erzen sowie weiteren Aspekten des Bergbaus.789 Diese Themen fanden im Werk des Humanisten, Arztes, Apotheker, Pädagogen und Philosophen Georg Agricola († 1555) ausführlichere Darstellung. Er hatte nach einem Studium der alten Sprachen in Leipzig seit 1518 an der Stadtschule in Zwickau unterrichtet und dort neben Latein, Griechisch und Hebräisch auch praktische Fächer wie Acker- und Weinbau, Bau- und Militärwesen und Pharmakologie eingeführt. Nach weiteren Studien in Italien wurde er Stadtarzt in Joachimsthal und danach in Chemnitz, zugleich setzte er sich – wohl auch auf mehreren Reisen – intensiv mit den Naturwissenschaften und dem Bergbau auseinander.790 So entstand sein Erstlingswerk, Bermannus sive De re metallica (Das Gespräch vom Bergwesen), das 1530 in Basel erschien. Erst nach seinem Tod wurde dann 1556 sein bekannteres Werk De re metallica veröffentlicht. Agricola beginnt – für einen Arzt nicht überraschend – im Bermannus mit dem Nutzen von Mineralien für die Heilkunde. So sind auch zwei der drei fiktiven Gesprächspartner, Nicolaus Ancon und Johann Naevius (Neefe), berühmte Ärzte, die auf dem Markt von Joachimsthal auf Anton Bermann, Gelehrter, Militär und Bergmann, treffen. Dieser beschreibt zunächst die verschiedenen Bergbauregionen in Sachsen, Böhmen, Schlesien und im Harz und ihre Entwicklung, um sich dann dem Abbau der Metalle und den dabei verwandten Hilfsmitteln zuzuwenden. Dabei verweist er auf die Formen des Vorkommens von Silber, Blei, Kupfer, Wismut, Gold und anderen Metallen. Eine Reihe von Abschnitten sind Erden- und Tonarten und den daraus gewonnenen Farben gewidmet.791 Praktische Erfahrungen prägten im späteren Mittelalter auch die Literatur zur Baukunst. Matthäus Roritzer († um 1495) war ein Regensburger Dombaumeister, der an St. Lorenz in Nürnberg, an der Frauenkirche in Esslingen und am Eichstädter Dom mitarbeitete und in Regensburg auch eine eigene Druckerei betrieb. Auf Bitten Wilhelms von Reichenau, des Bischofs von Eichstädt, veröffentlichte er 1486/1488 drei kleinere Schriften zum Kathedralenbau.792 So erschien zunächst ein Büchlein über die Fialen, die schlanken, kleinen Türme an Domen, dann auf nur zwei Blättern ein Traktat über Dreiecksgiebel (wimperge). 1487/1488 folgte die Geometria deutsch, die auch für den Aufgabenbereich städtischer Hand789 790 791 792

Zapf, Rülein, Sp. 1567. Pieper, Agricola. Agricola, Bermannus, S. 90–94. Zapf, Roritzer, Sp. 1214.

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werker geeignet war. Sie enthält Berechnungen von Winkeln, Quadraten und anderen geometrischen Figuren sowie Beispiele für die Bestimmung von Mittelpunkt und Umfang von Kreisen. Ähnlich praxisnah war auch das Baumeisterbuch, das der seit 1461 als Nürnberg Stadtbaumeister tätige Endres Tucher (II.) zwischen 1464 und 1470 anlegte und das seinen Nachfolgern zur Orientierung dienen sollte. Den Rahmen bildet ein Jahreskalender, in den die Tätigkeiten des Stadtbaumeisters eingebunden sind, die Instandhaltung von bestimmten Bauwerken oder die Anlage von Abrechnungen.793 Daneben werden aber auch allgemeine Aufgaben wie die Brandbekämpfung behandelt; es gibt eine Übersicht über städtische Immobilien, über Brunnen und Wasserleitungen sowie über Vorschriften für die einzelnen Gewerke und die Entlohnung von Handwerkern. Die Übersicht über die wichtigsten jährlichen Aufgaben des Baumeisters beginnt mit dem Hinweis, dass er täglich und häufig bei den Arbeitern sein solle, um ihre Anwesenheit zu überprüfen, sie zu beaufsichtigen und zu fragen, ob sie Material benötigen, das alles furdert ser wol die arbeit. Tucher fährt fort: Auch soll der stat paumeister zu zeitten umb den statgraben aussen und sunderlichen vor der stat thoren und desgleichen inwendig gerings um die statmeur reitten oder geen und do sehen, das man nit geferlichen schutte zu nahent den thoren, auch das er der schrancken und prucken vor den thoren warneme […].794

Diese Kontrolle der Stadtbefestigungen und der Zugänge zur Stadt wurde durch andere Kontrollgänge ergänzt. So sollten mindestens einmal jährlich die Steinbrüche überprüft werden, um Gefahren zu vermeiden, zu sehen, wo als nächstes Steine gewonnen werden konnten, und den Steinbrechern zusätzliches »Trinkgeld« zu geben. Zum Herbstanfang sollten alle Schlösser in der Stadtbefestigung gereinigt und geschmiert und weitere Wartungsarbeiten vorgenommen werden. Der Zustand der Brücken musste besehen und dafür gesorgt werden, dass das Wasser ohne Hindernisse hindurchfließen konnte.795 Generell waren Maßnahmen zu ergreifen, dass es im Winter nicht in der Stadt zu Überschwemmungen kam. Eine grundlegendere Darstellung zur Baukunst hatte schon ein gutes Jahrzehnt zuvor Leon Battista Alberti mit seinen »Zehn Büchern über Architektur« (De re aedificatoria, 1443/1452) vorgelegt. Alberti, 1404 in Genua als Mitglied einer exilierten florentinischen Familie geboren, war einer der »Väter« der Renaissance. Nach Studien in Padua und Bologna schloss er sich 1432 in Rom dem Kreis von Humanisten um Papst Eugen IV. an und kam 1434 mit diesem nach Florenz, wo er sich mit Brunelleschi und Donatello austauschte. Nach seiner 793 Malm, Tucher, Endres, Sp. 794. 794 Tucher, Baumeisterbuch, S. 247. 795 Ebd., S. 250.

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Rückkehr nach Rom 1443 wirkte er an der Kurie erneut als Abbreviator, setzte sich aber zugleich für die Restaurierung und den Erhalt antiker Gebäude ein. Seine Erfahrungen brachte er auch in die »Zehn Bücher über Architektur« ein. Sein Vorbild war das im Mittelalter verbreitete, auch in zehn Bücher geteilte Traktat Vitruvs über Architektur, das er mit seiner Schrift gewissermaßen kommentierte. Seine Beobachtungen an den antiken Bauten führten ihn aber auch zu Korrekturen, und er veränderte bewusst die Anordnung der behandelten Aspekte, indem er sich an den schon von Vitruv formulierten Prinzipien Konstruktion, Funktion und Schönheit orientierte. So folgen nach dem ersten Buch zur Planung zunächst zwei Bücher zu Baustoffen und Konstruktion (II–III), dann zwei Bücher zu öffentlichen und privaten, sakralen wie weltlichen, Gebäuden (IV–V) und schließlich vier Bücher zur Verzierung dieser Gebäudetypen (VI– IX). Den Abschluss bildet ein Buch zur Restaurierung und Erhaltung von Gebäuden (X). Obwohl sich das Werk eher an die Bauherren als an die Architekten richtete – denn diesen war Vieles sicher aus der Praxis vertraut –, geht Alberti auf zahlreiche Details ein. Im ersten Buch »Über die Risse« (De lineamentis) beginnt er mit den grundlegenden Aspekten von »Gegend, Grund, Teilung, Wand, Decke, Öffnung«. Schon die Gegend ist bestimmend für die Anlage des geplanten Baus, ebenso wie der zur Verfügung stehende, ummauerte Grund und wie dieser an Wege angeschlossen ist. Zudem muss eine Teilung des Areals vorgenommen werden, um verschiedene Funktionsbereiche zu unterscheiden. Die Wände wiederum sind die tragenden Elemente des Baus, die dessen Räume konstituieren, während das Dach nicht nur das Haus, sondern auch Umherwandernde gegen Regen schützen soll. Die Öffnungen bestimmen schließlich Ein- und Ausgänge für die Bewohner des Hauses.796 Entsprechend behandeln die folgenden Abschnitte die Auswahl der (richtigen) Gegend für den Bau, die Anlage des Grundstücks und dessen Aufteilung sowie die Gestaltung der Wände und Decken sowie der Fenster und Türen. Zusätzlich werden Treppen, Ruheplätze, die Ableitung von Rauch und Feuer, Lage und Öffnung des Herdes, der Brunnen und Kloaken diskutiert. Alberti bestimmt seine eigene Leistung am Anfang des sechsten Buchs, wenn er schreibt: »Mit welcher Gewissenhaftigkeit ich in den vorangehenden fünf Büchern die Risse, die Baustoffe und das Handwerk behandelte, sodann alles, was sich auf die Errichtung von öffentlichen und privaten, sowohl sakralen als profanen Gebäuden zu beziehen schien, um sie gegen die Unbill der Witterung widerstandsfähig zu machen, und daß sie auch ihre örtliche und zeitliche Bestimmung sowie ihren Zweck erfüllen, sich der Ansicht der Menschen und der Dinge gemäß anzupassen, davon konntest Du Dich selbst über796 Alberti, De re aedificaria, fol. [a iv] r.

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zeugen, so daß Du eine bessere Behandlung von derlei Sachen kaum wünschen dürfest. Doch manchmal hatte ich eine größere Mühe, als ich bei Beginn der Arbeit mir gewünscht hätte. […] Andererseits rief mich die Absicht, die mich bei Inangriffnahme dieses Werkes leitete, wieder zurück, es weiterzuführen und bestärkte mich darin. Denn ich bedauerte […], daß so viele und ausgezeichnete Denkmäler durch die Mißgunst der Zeiten und Menschen untergegangen seien, daß wir kaum den Vitruv allein aus dem ganzen Schiffbruche gerettet haben, einen zweifellos äußerst unterrichteten Schriftsteller, aber leider von der Zeit so mitgenommen und verstümmelt, daß an vielen Stellen Vieles fehlt und man an vielen das meiste vermißt. Dazu kommt noch, daß er so ungebildet schrieb, daß ihn die Lateiner für einen Griechen, die Griechen hingegen für einen Lateiner hielten […]«.797

Alberti sieht sich daher als legitimen Bewahrer und Fortsetzer der antiken Tradition, die er sich, wie er schreibt, nicht nur durch Arbeit und Studium, sondern durch seinen »glühenden Wissendurst« und seinen Fleiß zu erschließen suchte, insbesondere durch die intensive Beschäftigung mit den antiken Bauwerken, deren Vermessung und zeichnerische Aufnahme. Eine besondere Ergänzung stellen auch die im zehnten Buch gesammelten Hinweise zur Restaurierung der antiken Gebäude und weiteren Beobachtungen, so über Probleme mit dem Wasser, Tieren oder der Raumtemperatur, dar. Albertis Werk fand weite Aufnahme und wurde früh gedruckt.

II.

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Im Speculum humanae vitae des Rodrigo Sánchez de Arévalo bzw. in seiner Übersetzung durch Heinrich Steinhöwel findet sich auch ein Kapitel über die Kaufleute. Der Handel wird dabei als notwendige Voraussetzung der menschlichen Gemeinschaft beschrieben. Mit Hinweis auf die »Politik« des Aristoteles werden drei Formen von Handel unterschieden: die Fahrt über das Meer, die mit der Schifffahrt verbunden ist (marelaria), die Fahrt über Land, die mit Maultieren, Eseln oder anderen Tieren und Waren erfolgt (oneraria), sowie die Beteiligung am Handel mit Geld (assistencia). Handel dient danach dem gemeinen Nutzen, zumal er auch zur Einmütigkeit führt, Kriege beenden und Frieden festigen kann. Allerdings darf er nicht aus Geiz betrieben werden, so dass man auch finden kann, dass Handel zur Sünde führt. So wird die Ware oft zu Unrecht gelobt, ist schadhaft, leichter als versprochen oder unzulässig vermischt. Zum eigenen Seelenheil muss man sich hüten, sich immer nur am Gewinn zu orientieren.798

797 Ebd., fol. [m vi] r; übers. Alberti, Zehn Bücher, S. 290. 798 Sánchez, Speculum, dt. Steinhöwel, fol. 71v–72v.

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Wie in den anderen Ständespiegeln steht dabei wiederum die moralisch-didaktische Intention des Verfassers an erster Stelle. Daneben gab es jedoch auch Werke, die praktische Hinweise für Kaufleute zusammenstellten. Das vielleicht bekannteste Werk ist La Pratica della Mercatura von Francesco Balducci Pegolotti, der Informationen aus seiner eigenen kaufmännischen Tätigkeit im Bankhaus der Bardi in Florenz wohl zwischen 1310 und 1340 verarbeitete. Pegolotti sammelte auch Erfahrungen auf Reisen, so bei Aufenthalten in Antwerpen und London, wo er 1318 bis 1321 die Niederlassung der Bardi leitete, sowie insbesondere in Famagusta auf Zypern, wo er von 1324 bis etwa 1329 und erneut von 1335 bis etwa 1339 tätig war.799 Er konnte dabei auf einen ähnlichen, etwas älteren Text zurückgreifen, die Memoria de tucte le mercantie, eine wohl in Pisa entstandenen Schrift, an der er sich aber nur in einigen wenigen Teilen orientierte, sowie auf eine Liste von Maklergebühren aus Pisa, Statuten der Florentiner Tuchhändlergilde und anderes mehr.800 Insgesamt gibt die Pratica einen vielfältigen Eindruck von den Handelsinteressen der Florentiner und insbesondere des Hauses der Bardi, in dessen Auftrag sie möglicherweise entstand. Pegolotti beginnt mit einer Zusammenstellung von Maßen, Münzen und wichtigen Begriffen nicht nur in verschiedenen europäischen Sprachen vom Englischen und Flämischen bis zum Griechischen, sondern auch für Nordafrika, den Schwarzmeerraum und Persien. Dazu zählen auch die Bezeichnungen für Schiffstypen, Läden und Märkte, mit einem Hinweis auf den Handelsweg über Damiette und Kairo in den Indischen Ozean.801 Überhaupt machen die Beschreibungen der Handelswege den größeren Teil des Werks aus. Zuerst wird die längste Reise, von Tana (Asow) im Mündungsgebiet des Don bis nach China (Gattaio = Cathay), beschrieben, genauer bis Bejing (Gamalecco). Pegolotti gibt dafür die Reisedauer zwischen verschiedenen Stationen und abhängig von den Reittieren (Esel, Pferd, Kamel) an und stellt praktische Hinweise zusammen. So soll man sich einen Bart wachsen lassen und in Tana einen Dolmetscher engagieren. Auch wenn dieser Weg zu den sichersten zählt, soll man in größerer Begleitung reisen. Weitere Routen führen über Kaffa, Trapezunt und Konstantinopel nach Westen (bis Marseille und Flandern), in die Türkei, nach Persien, Syrien, Ägypten und Zypern. Immer wieder nennt Pegolotti Umrechnungen für Maße und Münzen, listet Zollsätze sowie Preise der Waren und Kosten des Warentransports. Schon in der Beschreibung der ersten Route verweist er auf das chinesische Papiergeld.802 Den Abschluss bilden allgemeine praktische Hinweise, so auf 799 800 801 802

Pegolotti, Pratica, S. xviii–xxii. Ebd., S. xxvi–xxxvi. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21.

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Goldprägungen, große und kleine Silbermünzen, die verschiedenen Gewürze und ihre Verpackung, den Wert von Edelsteinen, Maße für Pfeffer, Zucker und andere Luxuswaren, das Chartern von Schiffen sowie Formen der Abrechnung.803 Gerade die Notwendigkeit, über den »Stoff« der artes liberales hinaus für Kaufleute geeignete mathematische Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, führte zu eigenständigen Darstellungen zu Arithmetik und Geometrie. Ein Beispiel ist die Behennde unnd hübsche Rechnung auff allen Kauffmannschafften des Johannes Widmann aus Eger, die zwischen 1489 und 1526 viermal gedruckt wurde.804 Widmann konnte bei seinen Beispielen bereits auf ältere Sammlungen wie den Trienter Algorismus (um 1475), das Bamberger Rechenbuch (Blockbuch) von 1471/1482 und das Bamberger Rechenbuch von 1483 zurückgreifen, die allerdings noch stärker auf die kaufmännische Praxis orientiert waren. Er führt im ersten Teil des Werks die indisch-arabischen Ziffern ein und behandelt die Grundrechenarten, Quadratwurzeln, Brüche und Beispiele für die Tolletrechnung, die die Berechnung von Warenpreisen erleichterte, indem man den Rückgriff auf die kleinsten Gewichtseinheiten durch die tabellarische Zuordnung von Geldwerten und Waren vermied. Ein zweiter Teil setzt sich mit Proportionen und besonderen Fragen der kaufmännischen Rechnung auseinander, ein dritter mit Problemen der Geometrie wie der Figurenlehre und der Erdvermessung; Widman bietet daneben auch Rechenaufgaben zur Unterhaltung.805 Der zweite Teil konzentriert sich zunächst insbesondere auf Aufgaben zur Relation von Waren, Zahl, Gewicht und Maß, dann zum Gesellschaftshandel und zum Handel mit Luxuswaren, schließlich auch zu Wechseln sowie zur Prägung und zum Feingehalt von Gold- und Silbermünzen.806 Wie der umfangreiche Nachlass des von Prato aus tätigen Kaufmanns Francesco di Marco Datini († 1410) – neben rund 550 Handlungsbüchern handelt es sich um 150.000 Briefe, 300 Partnerschaftsverträge, 400 Versicherungsverträge, 6.000 Wechsel und anderes mehr – deutlich macht, konnten die Kaufleute im späteren Mittelalter ihre Geschäfte zumindest ab einem gewissen Vermögen im Wesentlichen von ihrem Kontoren aus leiten. Datini hatte sein erstes Kapital in Avignon im Handel mit Waffen und Luxuswaren erworben, bevor er sich in Prato niederließ und sein weitgespanntes Netz von Handelsbeziehungen im Mittelmeerraum aufbaute, und später reisten andere, um seine Geschäfte zu betreiben. Wie schon die Beschreibung von Reisewegen und -zielen in der Pratica della Mercatura erkennen ließ, waren Reisen ein wesentlicher Bestandteil kaufmännischer Tätigkeit. Die dafür erforderlichen Kenntnisse wurden insbesondere in 803 804 805 806

Ebd., S. 328. Titel nach der Ausgabe von 1526, Widmann, Rechnung. Jahn, Widmann, Sp. 1067. Übersicht bei Widmann, Rechnung, fol. 5r-v.

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Gesellschaften ausgetauscht und teilweise schriftlich festgehalten. Es haben sich jedoch nur relativ wenige Reiseberichte von Kaufleuten erhalten. Das heute wohl bekannteste Beispiel ist der Reisebericht des Venezianers Marco Polo († 1324), der unter den Titeln Divisament dou monde (»Aufteilung der Welt« oder auch Libro delle meraviglie del mondo (»Buch von den Wundern der Welt«) auch in Übersetzungen weite Verbreitung fand. Marcos Vater und Onkel, die Kaufleute Niccolò und Matteo (Maffeo) Polo, waren bereits zwischen 1260 und 1269 über das Wolgagebiet und Buchara an den Hof des Mongolenherrschers Kubilai Khan in Khanbaliq (Beijing) gereist und hatten von diesem neben einem Geleitbrief eine Botschaft an den Papst erhalten. Diese diplomatische Mission spielte auch bei der erneuten Reise eine Rolle, da Niccolò und Matteo Polo – nun zusammen mit Marco – ein päpstliches Schreiben und Geschenke mit sich führten. 1271 reisten sie von Akkon aus über Persien und die Seidenstraße zum Großkhan, der sie bei ihrer Ankunft 1275 freundlich aufnahm. Marco Polo wurde mit niederen Aufgaben am Hof betraut und reiste mehrfach durch China. 1291 nutzten die Polos eine diplomatische Mission der Mongolen nach Persien, um als Begleiter einer mongolischen Prinzessin, die den Khan des Il-Khanats, Arghun, heiraten sollte, nach Westen zurückzureisen. Der Bericht über die Reise Marco Polos stammt nicht – wie das auch sonst bei Reiseberichten der Fall sein konnte – aus seiner eigenen Feder, sondern wurde aufgrund seiner Berichte von dem Pisaner Literaten Rustichello in altfranzösischer Sprache niedergeschrieben, dem Marco Polo nach seiner Gefangennahme in einem Krieg zwischen Venedig und Genua 1298 im genuesischen Gefängnis begegnete. Der Anteil Rustichellos ist unklar; ein Wechsel von erster und dritter Person deutet auf eine Kompilation verschiedener Teile. Der Bericht zeichnet das Mongolenreich in den hellsten Farben. Während die Reise der Polos nur im Prolog geschildert wird, bietet Le Divisament dou monde ausführliche Informationen zum Alltagsleben der Mongolen und Chinesen, über Städte, Gebräuche und Erzeugnisse. Vor allem der Hof und die Verwaltung Kubilai Khans werden besonders gelobt.807 Genuesische und venezianische Kaufleute reisten während des 13. und 14. Jahrhunderts in relativ großer Zahl in die mongolischen Herrschaftsgebiete sowie nach Indien und nach China. Die politische Lage, insbesondere die Expansion des Osmanischen Reichs und die Schwächung der genuesischen und venezianischen Stützpunkte Kaffa (auf der Krim) und Tana, führte dann zu einem Rückgang des Asien-Handels auf dem Landweg. Fernreisen wurden nicht nur von Kaufleuten, sondern auch von Pilgern, Missionaren und Diplomaten unternommen. Schon innerhalb Europas reisten viele Pilger auf dem Weg zu den heiligen Stätten in Rom, Santiago de Compostela und anderenorts, dazu kam 807 Reichert, Erfahrung, S. 193–97.

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Jerusalem als das Ziel vieler adliger und reicher Pilger. Gerade aus diesem Kontext haben sich zahlreiche Reise- oder genauer Pilgerberichte erhalten, die zugleich späteren Reisenden Informationen bieten und den Lesern einen Mitvollzug der Reise ermöglichen sollten. Daneben finden sich einige wenige Texte, die der Gattung der Apodemik, der »Kunst des Reisens«, zugeordnet werden können und allgemeine Hinweise zu Jerusalemreisen bieten. So stellte der fränkische Ritter Anselm von Eyb eine detaillierte Übersicht über die Pilgerziele und Ablassstätten im Heiligen Land zusammen, nachdem er 1468 selbst im Gefolge Graf Eberhards des Älteren von Württemberg an einer Jerusalem-Wallfahrt teilgenommen hatte.808 Einen anderen Fokus hat die »Reiseinstruction« des Bernhard von Breitenbach aus dem Jahr 1483, die er nach seiner eigenen Reise für den Grafen von Hanau-Lichtenberg verfasste.809 Bernhard beginnt zunächst mit Empfehlungen für die Reisekleidung, beschreibt dann den Reiseweg von Mainz nach Venedig sowie die Verhandlungen mit den Patronen der Schiffe, die die Pilger gut ins Heilige Land und zurückbringen sollten. Dazu gehörte eine angemessene Verpflegung mit Wein, gutem Brot und frischem Wasser sowie die Übernahme aller anfallenden Zölle, Eselund Geleitgelder, während die Kosten für Dolmetscher von den Pilgern getragen werden mussten. Die Patrone sollten nicht zu viele Pilger mitnehmen, damit genügend Platz blieb, und sollten nicht noch selbst Handel treiben. Die Pilger sollten sich zu Venedig mit passender Kleidung, Schuhen, Strohmatten, Polstern, Kissen, Decken und kleinen und großen Tüchern ausstatten. Jeder solle ein Fläschchen für Wasser mit sich führen, aber nicht aus Glas, da das bei einem Sturz vom Esel – die Pilger erhielten von den Amtsträgern vor Ort keine Pferde als Reittiere – zerbrechen würde. Zudem bedürfe es zusätzlicher Lebensmittel wie Hirse, Erbsen, Reis und Hühner, Butter, Käse, Schinken, Zitronen, Oliven und »Zwieback«. Die Hühner konnten in einem Korb an Bord gehalten werden. Zusätzlich solle man Schüsseln, Zinnbecher, eiserne und hölzerne Löffel sowie Kerzen mitbringen.810 Es folgt eine Beschreibung der Reise, die über die Peloponnes, Rhodos und Zypern nach Jaffa führen sollte. In Jaffa mussten sich die Patrone um Geleit für die Pilgergruppe bemühen, die zeitweilig in gewissen schlechten Unterkünften warten musste; dann ging die Reise auf Eseln und Maultieren nach Jerusalem. Dort mussten die Pilger absteigen und zu Fuß in die Stadt gehen, zunächst zur Grabeskirche, dann zum Spital, dem Haus der Franziskaner in Jerusalem, in dem die meisten Pilger untergebracht waren. Bernhard schließt mit weiteren Hin808 Anselm von Eyb, Pilgerbuch, S. 175. 809 Bernhard von Breitenbach, Reiseinstruction, S. 120. 810 Ebd., S. 129–33.

Handel, Geographie und Reisen

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weisen auf die Einkäufe in Venedig. Da das Essen des Patrons durchweg ungekocht sei, solle man sich besser selbst versorgen.811 Für die Pilger nach Santiago de Compostela legte der Servitenmönch Hermann Künig van Vach wohl ebenfalls nach einer Pilgerreise 1495 einen Pilgerführer in Reimform vor, der zwischen 1495/1496 und 1521 mehrfach gedruckt wurde. Er beschreibt die Reisewege und nennt vertrauenswürdige Gastwirte.812 Bauten die älteren Reiseberichte – wie der weit verbreitete, fiktive und bis nach Indien, China und Südostasien ausgreifende Bericht des »Jean de Mandeville« –813 mehr oder weniger auf den Berichten früherer Pilger und der Literatur auf, schlugen sich im 15. und 16. Jahrhundert verstärkt eigene Beobachtungen und zusätzliche neue Informationen im Text nieder. So berichtete der niederrheinische Adlige Arnold von Harff nicht nur über die Ablässe an den zahlreich von ihm besuchten Pilgerstätten – zwischen 1496 und 1498 reiste er zunächst nach Rom, dann über Venedig, Ägypten und den Sinai ins Heilige Land, schließlich über Istanbul und den Balkan nach Santiago de Compostela –, sondern beschrieb unter anderem die Herrschaft der Mamluken in Ägypten und fügte mehrere kleine Glossare bei, so für Arabisch, Hebräisch, Albanisch und Baskisch, die den Reisenden die Verständigung in der Fremde erleichtern sollten.814 Schon die Pilgerreisen lassen somit nicht nur die Fürsorge für das Seelenheil, sondern auch das Interesse am Neuen und an unbekannten Regionen erkennen. Das galt umso mehr für Reisen aus persönlichem Interesse oder auch im Auftrag Dritter. In Italien wuchs das Interesse an den Hinterlassenschaften der Antike, wie es auch in den Beschreibungen antiker Monumente und Ruinen sowie Rekonstruktionsversuchen in Flavio Biondos Roma instaurata (um 1445) fassbar wird. Ein literarisch interessierter Papst wie Pius II. (der Humanist Enea Silvio Piccolomini) ließ sich so, trotz einer Krankheit, noch in seinen letzten Lebensjahren zu den historischen Stätten in der Umgebung Roms, nach Tusculum, Alba und Ostia, bringen. Mit dem beginnenden »Zeitalter der Entdeckungen« wuchs auch das Interesse an der Literatur zu Fernreisen. Teilweise erschienen die Berichte in mehreren Sprachen und ebenso in Sammlungen. Ein frühes Beispiel ist die Sammlung Paesi novamente retrovati des Fracanzano de Montalboddo von 1507, die 1508 auch in deutscher Sprache gedruckt wurde.815 Sie vereint die Berichte über die portugiesischen Entdeckungsfahrten entlang der afrikanischen Küste mit denen über 811 812 813 814 815

Ebd., S. 142. Malm, Künig van Vach, Sp. 1076. Sarnowsky, Erkundung, S. 10–11. Ebd., S. 18–19. Ankenbauer, Versprachlichung; online-Edition (2012): http://diglib.hab.de/edoc/ed000145 /start.htm (letzte Einsicht: 31. 1. 2022).

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Die mittelalterliche Fachliteratur

die Indienfahrten Vasco da Gamas und Pedro Álvares Cabrals sowie über die Fahrten von Kolumbus und Amerigo Vespucci in der Karibik und Südamerika. Ein nur wenig später in mehreren Sprachen veröffentlichter Reisebericht war der des Ludovico de Varthema. Wie andere Reisende vor ihm vermischt er seine eigenen Erfahrungen mit Informationen aus der Literatur und mündlichen Mitteilungen Anderer. Wohl um 1502 zunächst in Ägypten und im Heiligen Land unterwegs, gab er sich in Damaskus als muslimischer Krieger aus und begleitete Pilger auf der Fahrt nach Mekka.816 Über Aden will er dann zweimal Indien erreicht haben. An der südindischen Malabarküste traf er auf die Portugiesen und nahm 1506 an der Seeschlacht bei Cannanore teil, trat als Faktor der Handelsniederlassung in Cochin in portugiesische Dienste und kehrte 1508 nach Europa zurück. Angeblich will er über Südindien hinaus bis nach Malakka, Java und zu den Molukken gereist sein, doch passen seine Angaben nicht zu den Reisezeiten, die durch die Monsunwinde eingehalten werden mussten, und manche Information ist aus der Literatur übernommen. So wird über Java berichtet, es gäbe dort viel Seide, feine Edelsteine, viel Gold und Kupfer, reichlich Getreide (das könnte sich höchstens auf Reis beziehen) und viele Früchte. Varthema übernimmt auch die antike »Wander-Anekdote«, dort würden alte Menschen an »Menschenfresser« verkauft, um ihre Körper nicht dem Verfall preiszugeben.817 Varthemas Bericht macht deutlich, wie sehr sich auch um 1500 faktische Reiseberichte noch mit literarischen Erfindungen vermischen konnten.

III.

Landwirtschaft und Tierkunde

Wie andere Berufe wird das spätmittelalterliche Landleben auch im Speculum humanae vitae des Rodrigo Sánchez de Arévalo (und Heinrich Steinhöwels Übersetzung) thematisiert. Grundthema der Ausführungen sind gleichermaßen der Nutzen der Landwirtschaft wie die Beschwerungen, Mühen und die Arbeit, die die Bauern auf sich nehmen müssen. Gott hat den Menschen den Ackerbau gegeben, doch ihnen gleichzeitig gesagt: In dem schwaiß deines angesichtes solt du mit deynem brot gespeiset werden.818 Jeder muss sich also selbst dafür einsetzen, Äcker, Wiesen und Gärten anzubauen und fruchtbar zu halten; das ist selig und vertreibt alles Übel. Der Ackerbau steht dabei nach Arévalo auch für alle anderen menschlichen Tätigkeiten, selbst wenn der Bauer wie kein anderer Mensch Gott Dank sagt. Zugleich gibt es viele Probleme:

816 Sarnowsky, Erkundung, S. 41–42. 817 Sarnowsky, König, S. 102. 818 Sánchez, Speculum, dt. Steinhöwel, fol. 49r.

Landwirtschaft und Tierkunde

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Abb. 6: Ludovico de Varthema, Itinerario nello Egypto, nella Soria, nella Arabia deserta & felice, nella Persia, nella India & nela Ethyopia. Le fede, el vivere & costumi delle prefate Provincie. Novamente impresso, Roma: Stephano Guillireti, Hercule de’ Nani 1510 [italienische Ausgabe], Titelbild. [wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Ludovico_de_Varthema]

»O wie viele unnütze und verlorene Feldarbeiten verbringt der Bauer mit angstvollen Sorgen. Und so er das ganze Jahr um und um obersten Fleiß getan hat, so nimmt das wütende Unwetter in einer Stunde alle seine Arbeit hinweg. Ist aber gutes Wetter und hinreichende Zeit, je mehr du denn gesät hast, desto mehr musst du Kraniche, Tauben und Schneegänse in dem Feld fü[rcht]en, und Mäuse und Ratten wirst du über deinen Willen zu Gästen haben, wie alle Ackerleute wissen«.819

819 Übers. nach ebd., fol. 51r.

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Die mittelalterliche Fachliteratur

Einen Eindruck von der ländlichen Alltagsgeschichte geben zudem die Vorwürfe an die Bauern, sie würden bei Zehnten und Naturalzinsen betrügen, die Marksteine versetzen, ihren Herren gegenüber »widerspenstig« sein, wie die Kaufleute auf die Märkte fahren und die Arbeit an Knechte weitergeben, um sich selbst in fremde Dinge einschalten zu können. Spätestens seit dem 13. Jahrhundert macht sich ein verstärktes Interesse der Gelehrten an der Landwirtschaft bemerkbar. So schrieb z. B. der Engländer Walter of Henley um 1286 ein Lehrbuch über Agronomie in französischer Sprache (Le Dite de Hosebondrie), das weite Rezeption fand. Darin gab er z. B. Ochsen aus Kostengründen den Vorzug gegenüber den Pferden – was angesichts der weiten Verbreitung des Buches wohl den Rückgang des Einsatzes von Pferden in der englischen Landwirtschaft seit dem 13. Jahrhundert erklärt. Die Beliebtheit des Textes resultierte wohl auch daraus, dass Walter Ratschläge für die Führung von Landgütern erteilte und dabei unter anderem eine exakte Buchführung empfahl.820 In Bezug auf seine Empfehlungen für den Ackerbau betonte er das Gewicht der eigenen Erfahrung. So schrieb er: »Wollt Ihr es sehen? Wenn die Saat aufgegangen ist, dann geht ans Ende einer Furche und überschaut den Acker in seiner ganzen Länge, und ihr werdet feststellen, ob ich die Wahrheit gesagt habe«.821

Walter diskutiert auch ausführlich die Problematik des Fruchtwechsels, d. h. die Frage, welche Vor- und Nachteile Zwei- und Dreifelderwirtschaft bringen. Eine wichtige Rolle spielte daneben aber in den Abhandlungen auch immer wieder das Unterpflügen der Pflanzenreste. So heißt es in der Seneschaucy, einem weiteren englischen Traktat über die Landwirtschaft aus dem 13. Jahrhundert: »Kein Gut sollte auch nur einen Stoppel verkaufen. Schneidet nur gerade so viel Stroh, wie ihr zum Eindecken der Häuser benötigt. Alles andere soll wieder dem Boden zugutekommen. […] Schneidet das Korn hoch und lasst es an Ort und Stelle verfaulen. Bleibt euch nicht benötigtes Stroh und Heu, so breitet es auf Feldern und Wiesen aus, um Kompost zu erzeugen«.822

Walter of Henley empfahl noch ein anderes Vorgehen zur Steigerung der Erträge: »Besorgt euch am Michaelstag [29. September] Korn von anderswo her und benutzt es als Saatgut. Von diesen Körnern, die auf dem Boden eines anderen gewachsen sind, wird eure Ernte besser ausfallen. […] Lasst die beiden Landstücke am selben Tag pflügen und sät auf dem einen zugekauftes, auf dem anderen selbst gezogenes Korn. Zur Zeit der Ernte werdet ihr dann sehen, dass es sich so verhält«.823

820 821 822 823

Gimpel, Revolution, S. 61. Walter of Henley, hrsg. Oschinsky, S. 320–21; übers. bei Gimpel, Revolution, S. 62. Ebd., S. 270–71, 278–79; übers. S. 66. Ebd., S. 324–25; übers. S. 65–66.

Landwirtschaft und Tierkunde

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Inwieweit die Ratschläge Walters und der Seneschaucy Verbreitung fanden und tatsächlich zu besseren Ernten führten, ist unklar. Sicher dürfte Manches noch heute für eine nachhaltige Landwirtschaft von Interesse sein. Zu zahlreichen weiteren Problemfeldern der Landwirtschaft entstanden eigene Abhandlungen, die meist auf die Praxis bezogen waren oder aus ihr erwuchsen. So sollte die im Deutschordensland Preußen um 1400 für den in der Einleitung als vorbildlichen Fürsten gelobten Hochmeister Konrad von Jungingen entstandene Geometria Culmensis, die in einer deutschen und einer lateinischen Fassung erhalten ist, die Abmessung von Feldern erleichtern. Zwei Teile behandeln zunächst dreieckige Felder und ihre Umrechnung in rechteckige Felder, der dritte ist dann Letzteren gewidmet. Das als Lehrbuch konzipierte Werk bietet neben den theoretischen Grundlagen zahlreiche Beispielrechnungen.824 Schon aus dem 13. Jahrhundert stammt das Pelzbuch des Gottfried von Franken (vom Verb pelzen für das Pfropfen von Obstbäumen), das zuerst in lateinischer Sprache angelegt, dann aber in deutscher Sprache verbreitet und bis ins 19. Jahrhundert weit rezipiert wurde. Die drei ersten Traktate sind dem Obstanbau gewidmet, so der Pflege der Obstbäume und der Lagerung der Früchte, die weiteren vier Traktate behandeln den Weinbau, darunter die Weinlese und die verschiedenen Verwendungen für Wein.825 Gottfried konnte sich für sein Werk schon auf ältere Schriften zum Thema stützen, so auf ein »Büchlein, wie man Bäume zweien soll« des Meister Richard. In den weiteren Kontext der Landwirtschaft gehört auch die Tierheilkunde. Von besonderer Bedeutung waren dabei Werke zur tiermedizinischen Behandlung von Pferden wie das Rossarzneibuch des Meister Albrant, der am Hof Kaiser Friedrichs II. im Marstall (Pferdestall) und als Schmied wirkte. Er beschreibt aus der Praxis, wie sich 36 Erkrankungen von Pferden mit relativ einfachen Mitteln behandeln lassen. Das Rossarzneibuch fand vielleicht gerade aufgrund dieser Praxisnähe weite Verbreitung, seit etwa 1485 auch im Druck.826 Daneben entstand aufgrund der Interessen des Adels eine umfangreiche Jagdliteratur. So verfassten Kaspar von Spaur und Wolfgang Hohenleitner, beide in Diensten Kaiser Maximilians I., nach dessen Vorstellungen ein Jagdbuch, das vor allem Probleme der Jagd im Hochgebirge behandelte. Besondere Berühmtheit erlangte – nicht zuletzt in der Forschung – das der Falkenjagd und Falkenzucht gewidmete Jagdbuch Kaiser Friedrichs II. (De arte venandi cum avibus), das auch in einer Bearbeitung durch Friedrichs Sohn Manfred und einer

824 Lechtermann, Geometria, Sp. 1257–58. 825 Eis, Fachliteratur, S. 26; Malm, Gottfried, Sp. 546. 826 Eis, Fachliteratur, S. 31; Malm, Meister Albrant, Sp. 354–55.

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Die mittelalterliche Fachliteratur

französischen Übersetzung erhalten ist.827 Die ersten beiden Bücher beschäftigen sich mit den verschiedenen Vogelarten, insbesondere mit Greifvögeln, das dritte Buch ist der Abrichtung der Beizvögel gewidmet. Im vierten bis sechsten Buch geht es dann um die Beizarten und besonderen Eigenschaften der Greifvögel. Friedrich greift dabei zwar auf ältere Literatur wie die Schrift des Aristoteles »Über die Tiere« (De animalibus) und Werke der Schule von Salerno zurück, stützt sich aber ebenso auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen sowie auf Informationen aus der arabischen Tradition. Sein hoher Anspruch dürfte seine Zeitgenossen wohl überfordert haben, denn im späteren Mittelalter fanden vor allem kürzere, volkssprachliche Fachschriften zur Jagd mit Vögeln wie die »Ältere Habichtslehre« oder das »Beizbüchlein« Verbreitung.

IV.

Magie und Alchemie

Neben den Werken zu den artes mechanicae entstand auch ein eigenes Schrifttum zu den »verbotenen Künsten«, das teilweise kritisch, teilweise positiv mit den artes magicae umging. Zu den kritischen Stimmen gehörte der eingangs genannte Johannes Hartlieb. Er behauptete in seinem Werk, dass sich Hexen in Tiere verwandeln oder fliegen könnten. Gerade im späteren Mittelalter stellten die Inquisitoren umfangreiche Handbücher zum Umgang mit Magie und Hexerei zusammen. Der Konstanzer Jurist Ulrich Molitor beschränkt sich z. B. in seinem Werk »Von den Unholden und Hexen« (De lamiis et phitonicis mulieribus tractatus), das 1489 zunächst in Latein im Druck erschien, allein auf Frauen.828 Dabei diskutiert er einem fiktiven Gespräch mit Erzherzog Sigismund von Österreich über neun grundlegende Fragen verschiedene Arten von Hexerei und die dafür zu verhängenden Todesstrafen. Hexen setzte er mit Ketzerinnen gleich, und obwohl er nicht an die eigenständige Wirksamkeit der Zauber glaubte, war für ihn der Pakt der Hexen mit dem Teufel real und Rechtfertigung für die Todesstrafe. Die ersten beiden Quaestionen seiner Schrift betreffen die mögliche Macht der Hexen, Unwetter und Naturkatastrophen herbeizurufen bzw. Menschen zu schaden. Molitor behandelt weiter physische Veränderungen an Menschen, die Fähigkeit, auf einem Stab, einem Wolf oder einem anderen Tier zu reiten, und den Beischlaf mit dem Teufel.829 Die einflussreichste inquisitorische Schrift über Hexen und Hexerei war aber zweifellos der »Hexenhammer« des Dominikaners Heinrich Institoris (Kramer) (und wohl auch seines Mitbruders Jakob Sprenger), der erstmals 1486/1487 ge827 Zapf, Friedrich II., Sp. 347. 828 Eis, Fachliteratur, S. 44. 829 S. die Übersicht Ulrich Molitor, De laniis, fol. a2 v-a3 r.

Magie und Alchemie

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druckt wurde und weite Verbreitung fand. Er behandelt in drei Teilen zunächst die Grundlagen der Zauberei, Teufel, Hexen und göttliche Duldung. Der zweite Teil stellt verschiedene Formen und Wirkungen von Hexerei vor, der dritte Grundlagen und Formen der Bestrafung vor geistlichen und weltlichen Gerichten. In der ersten Quaestio geht es um die Frage, ob die Behauptung der Existenz von Hexen »gut katholisch sei« oder ob ihre Leugnung »durchaus für ketzerisch gelten müsse«.830 Dabei wendet sich Institoris gegen die Auffassung, Dämonen und Hexenwerk würden nur in der Vorstellung der Menschen existieren. Für ihn ergibt sich aus der Heiligen Schrift, dem Kirchenrecht wie aus den Werken der Theologen und Philosophen, dass diese keine Phantasiegebilde sind. Schon die Leugnung ihrer Existenz ist häretisch. Wie Institoris in der zwölften Quaestio ausführt, lässt Gott für die Vollkommenheit des Universums bzw. aufgrund des Sündenfalls das Böse zu, damit gegen die Bestrebungen derer, die das Böse tun, Gutes geschaffen wird.831 Er listet dafür zahlreiche Beispiel für die Einwirkung von Zauber auf, nicht zuletzt im Bereich der (männlichen) Sexualität. Während Institoris’ Schrift mit der Beschreibung von Gefahren zu noch mehr Hexenverfolgungen führte, verfolgte Nicole Oresme schon im 14. Jahrhundert einen völlig anderen Ansatz. In seiner Schrift De causis mirabilium versuchte er, eigene Erfahrungen zur Widerlegung des Wunderglaubens und des Glaubens an magische Praktiken zu nutzen. So hebt er hervor, dass wir dazu neigen, negative persönliche Erlebnisse mit großen Katastrophen zu assoziieren und Verbindungen dazwischen zu ziehen. Entsprechend berichtet er von einem Adligen, der nach einer Nachricht über die Folgen eines Meteorabsturzes, der im Glauben des einfachen Volkes den Tod eines Fürsten ankündigen sollte, tatsächlich erkrankte und starb. Oresme erzählt auch von einer Jugenderfahrung, dass ein Träumender, dessen Hand in kaltes Wasser gehalten worden sei, geglaubt habe, er sei in einem Fluss; und vielleicht aufgrund literarischer Vorbilder weiß er von einem Jungen, der allein mit einer elementaren Kenntnis der Mathematik schwierige Probleme gelöst hat.832 Oresme geht es darum, zu zeigen, dass es durchaus Dinge gibt, die auf Wunder oder Zauber hinzuweisen scheinen, dass diese aber immer rational erklärbar sind. Dieser rationale Zugang war aber die Ausnahme. Vorstellungen über die Wirksamkeit von Magie und einzelner magischer Künste waren weit verbreitet. Das spiegelt sich bereits im Aberglauben und zahlreichen abergläubischen Praktiken. Auf dem Land fürchten sich z. B. die Bauern vor Dämonen und Gespenstern im Stall, die dem Vieh schaden, oder vor Hexen, die sich als Katzen

830 Heinrich Institoris, Malleus, fol. [a5 vb]; übers. Hexenhammer, 1, S. 1. 831 Ebd., fol. ef 1 va-b; bzw. S. 163. 832 Nicole Oresme, Marvels, S. 191–92, 248–49, 267–68, 301–2; zusammenfassend ebd., S. 81–85.

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Die mittelalterliche Fachliteratur

oder Kröten in die Ställe schleichen könnten.833 Entsprechend musste man Vorkehrungen dagegen treffen. Viele dieser magischen Praktiken finden sich in den 1509 begonnenen, 1533 endgültig abgeschlossenen »Drei Büchern über okkulte Philosophie« (De occulta philosophia libri tres) des gelehrten Theologen, Juristen, Arztes und Philosophen Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim. Sein Werk beginnt mit Magie in der Welt der natürlichen Dinge, von den vier Elementen über die Himmelskörper bis hin zu den Eigenschaften der Seele und den Einflüssen von Beschwörungen und Schrift.834 Das zweite Buch beschäftigt sich mit den Zahlen und mit astrologischen Fragen, das dritte mit dem Zusammenhang von Religion und Magie – Agrippa verbindet dabei die griechische und römische Tradition mit der jüdischen Mystik der Kabbalah. Der Aufbau ergibt sich aus der Bestimmung der Magie im 2. Kapitel des ersten Buchs. Sie ist für ihn »die perfekteste und höchste Wissenschaft, höhere und heiligere Philosophie und schließlich die absolute Vollendung aller edlen Philosophie«,835 die in Naturlehre, Mathematik und Theologie gegliedert sei. Eine eigene Ausprägung erfuhr im späteren Mittelalter die Alchemie, die damit zur Entwicklung der klassischen Naturwissenschaften beitrug.836 Sie verband strukturiertes Wissen mit magischen und religiösen Elementen. Die alchemistische Tradition des Westens wurde durch das 1144 ins Lateinische übertragene Testamentum des Morienus Romanus (den Liber de compositione alchimie) angestoßen. Der Übersetzer Robert von Chester stellte dem Werk zwei Vorreden voran, die die Anfänge der Alchemie mit drei »Philosophen« verbanden, mit Enoch, Noah und Merkur-Hermes, der Äygpten nach der Sintflut regiert haben soll und nicht nur König, sondern zugleich Philosoph und Prophet gewesen sei. Auf Letzteren werden die freien und die mechanischen Künste sowie die Alchemie zurückgeführt, die er durch göttliche Inspiration erhielt.837 Hermes (Trismegistus) gab am Ende seines Lebens sein Wissen an Spätere weiter, so dass es schließlich auch an Morienus weitervermittelt wurde. Die enge Verbindung zwischen Alchemie und Religion findet sich ebenso in den Pretiosa Margarita des Petrus Bonus, eines Arztes aus Ferrara, von 1330. Für ihn sind alle Transmutationen der Alchemisten natürlich – diese können Silber und Gold wie aus den Minen herstellen –, doch einige der Vorgänge geschehen supra naturam, auf wunderbare Weise, letztlich als Folge göttlichen Eingreifens.838 In der umfangreichen alchemistischen Literatur des späteren Mittelalters spielen vorgebliche oder tatsächliche Transmutationen eine wesentliche Rolle. So 833 834 835 836 837 838

Geramb, Stall, Sp. 580–82. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, Occulta Philosophia, S. 76–78 (Inhalt). Ebd., S. 86. Dazu allgemein Thorndike, History. Crisciani, Alchemy, S. 22–23. Ebd., S. 25–26.

Magie und Alchemie

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hat sich z. B. ein kurzer, dem Mediziner Arnald von Villanova zugeschriebener Traktat über die Gewinnung der vier Elemente aus der Destillation menschlichen Bluts erhalten, der im 16. Jahrhundert mehrfach gedruckt wurde.839 Der Text beschreibt das Vorgehen detailliert, die Entnahme des Bluts sowie die langsame Erwärmung zur Gewinnung der Elemente, und führt Anwendungen an. Obwohl die Ergebnisse sachlich falsch sind, zeigt sich hier wie in anderen alchemistischen Traktaten ein hohes Interesse an »Experimenten« und praktischer Umsetzung theoretischer Erkenntnisse. Ähnlich gibt ein als Ortolanus bekannter Autor der Mitte des 14. Jahrhunderts in seinem an die Tradition des Hermes Trismegistus anschließenden Werk an, dass er aus Essig reinen Wein hergestellt hat, der für weitere nützliche Flüssigkeiten als Basis diente, und er hätte so in komplizierten Prozessen »rote Erde« – also Gold – gewonnen. Interessant ist sein Hinweis, bestimmte, scheinbar gleich verlaufende alchemistische Prozesse seien in Wirklichkeit verschieden, so dass es wiederholter Experimente bedürfe, um die richtigen Proportionen der benutzten Stoffe zu ermitteln. Wenn der Alchimist die Natur der Metalle und die Ursachen der Mineralien kenne, könne er Fehler schnell korrigieren.840 Artes mechanicae und artes magicae bildeten somit eigene Wissensbereiche, die insbesondere im späteren Mittelalter in den Texten der Zeit vielgestaltig und umfangreich diskutiert wurden. Sie gehörten zwar nicht zu den an den Universitäten gelehrten und behandelten Wissenschaftsdisziplinen, waren aber mit diesen auf verschiedene Weise verbunden. Das gilt nicht nur für die Beziehung zu den artes liberales, deren Regeln – nicht zuletzt aus Logik, Arithmetik und Geometrie – auch für die anderen artes Anwendung fanden und deren Themen durch diese Ergänzung und Erweiterung erfuhren. Vielmehr bestanden auch Verbindungen zu Medizin, Theologie und Geschichtsschreibung. Die Autoren der vorgestellten Texte bewegten sich zumeist in beiden Bereichen, schrieben ihre Werke nach einem universitären Studium und auch aufgrund von Erfahrungen in den verschiedenen Disziplinen. Dabei gewann die Beschäftigung mit Bildung und Wissenschaft im Laufe des Mittelalters immer mehr an Bedeutung. Angefangen von den Schulen in den Klöstern des früheren Mittelalters, entstanden über die Jahrhunderte zahlreiche weitere Bildungsinstitutionen, von den Kathedralschulen und Universitäten bis zu den städtischen und höfischen Einrichtungen des 15. Jahrhunderts. Die aus der Antike und aus der islamischen Kultur überlieferten Texte und Wissensinhalte wurden dabei sukzessive rezipiert – mit einem Höhepunkt im 12. und 13. Jahrhundert –, diskutiert und durch eigene Erkenntnisse und Vorstellungen ergänzt und erweitert. Schon der Lehrplan der artes liberales deckte nur einen 839 Thorndike, History, 3, S. 78–80. 840 Ebd., S. 187.

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Die mittelalterliche Fachliteratur

Teil der behandelten Fächer ab. Innerhalb der Artistenfakultät kamen unter anderem Moralphilosophie und Metaphysik hinzu. Die Rechte und die Medizin formierten sich in eigenen Fakultäten, und Wissensgebiete wie die politische Theorie und die Historiographie entwickelten sich unabhängig davon weiter. Die Ausbildung der artes mechanicae und der artes magicae ist also ein Teil des Prozesses, der im Laufe des Mittelalters nicht nur eine Vielzahl neuer Texte zugänglich machte oder entstehen ließ, sondern zu einer wachsenden Differenzierung in Bildung und Wissenschaft führte. Zwar gab es immer noch »Universalgelehrte«, die sich in verschiedenen Disziplinen bewährten, doch wurde das Wissen zunehmend spezialisierter und für den Einzelnen kaum noch überschaubar. Auch wenn die heutigen Wissenschaften zumeist erst im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts ihre grundlegende Gestalt erhielten, legte die mittelalterliche Entwicklung wichtige Grundlagen für die Diversität im modernen Wissenschaftsbetrieb und wirkt in vielen Bereichen fort.

Mittelalterliche Quellen und Literatur

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V. Zapf, Art. Friedrich II. von Hohenstaufen, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, hrsg. W. Achnitz, 6: Das wissensvermittelnde Schrifttum bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts, Berlin 2014, Sp. 343–54. V. Zapf, Art. Hrabanus Maurus, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, hrsg. W. Achnitz, 1: Das geistliche Schrifttum von den Anfängen bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts, Berlin 2011, Sp. 75–84. V. Zapf, Art. Roritzer, Matthäus, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, hrsg. W. Achnitz, 7: Das wissensvermittelnde Schrifttum im 15. Jahrhundert, Berlin 2015, Sp. 1213–19. V. Zapf, Art. Rülein, Ulrich von Calw, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, hrsg. W. Achnitz, 7: Das wissensvermittelnde Schrifttum im 15. Jahrhundert, Berlin 2015, Sp. 1566–73. V. Zapf, Art. Steinhöwel, Heinrich, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, hrsg. W. Achnitz, 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen, Berlin 2013, Sp. 1709–25.

Register Erfasst sind Personen, anonyme Werke und Orte. Bis zum 14. Jahrhundert sind die Personen nach ihren »Rufnamen« aufgenommen, ab dem 15. Jahrhundert, wo möglich, nach Familien- oder Beinamen. Die Namensform folgt bei bekannteren Personen in der Regel der im Deutschen üblichen Schreibweise, sonst, wo möglich, der jeweiligen Landessprache. Die vollständigen römischen Namensformen sind in Klammern ergänzt. Abkürzungen: B Bischof / Eb Erzbischof / Hl Heilige(r) / K Kaiser / Kg König / Kl Kloster / Ko Konzil(ien) / P Papst. Abelard (Petrus Abaelardus) 55, 61–64, 66, 77, 157, 163, 165, 218f., 242, 264 Aberdeen 251 Abbo von Fleury 176 Acerbus 269 Accursius 251f. Adalbero Eb Reims 56 Adalbert von Metz 57 Adalbert von Prag 60 Adalbert von Weißenburg 268 Adelbold von Utrecht 172 Adam von Bremen 60, 261, 266, 268 Adelard von Bath 69, 168, 173, 180 Adelhelm von Laon 54f. Aden 320 Ado von Vienne 267 Adomnán 32 Adso von Montier-en-Der 272f., 275 Ägidius Romanus (Aegidius Colonna) 158f., 193, 195, 197f., 203, 206, 233, 289–91 »Ältere Habichtslehre« 324 Aesop 158 Aethelberht Kg Kent 33 Aethelberht von York 47f. Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 326 Agricola, Georg 311 Agricola, Rudolf 115 Al-Bitruji s. Alpetragius Al-Farghani 181

Al-Khwarizmi 136, 173, 180f. Alain de Lille (Alanus ab Insulis) 133, 158, 236 Alba 319 Alberich 57 Albert von Sachsen 88, 136, 138, 166, 199, 202, 204, 207, 210 Alberti, Leon Battista 113f., 312–14 Albertus Magnus 99, 138, 195, 203, 206, 208, 214, 217, 226f., 230, 234 Albrant (Meister) 323 Albrecht II. römisch-deutscher Kg 140 Albrecht III. Herzog Österreich 89 Alcala de Henares 255 Alchfrith Kg. Northumbrien 33 Alciatus, Andreas 253 Aldhelm von Malmesbury 36f., 39, 48 Alexander IV. P 87 Alexander 163 Alexander von Aphrodisias 163 Alexander de Villa Dei 133, 135, 137, 151, 158, 173 Alexander Neckham 83, 178 Alexander von Roes 285 Alexander Stavensby 97 Alexandria 169 Alfanus Eb Salerno 67 Alfarabi 159 Alfons VIII. Kg Kastilien 86 Alfons IX. Kg León 71, 87 Alfons X. Kg Kastilien 87, 251

356 Alfonsinische Tafeln 209 Alfred Kg Wessex 72, 268 Algazel (al-Ghaza¯lı¯) 197 Alkindi (al-Kindı¯) 197 Alkuin 25, 48f., 54, 124–27, 144, 147f., 152, 160, 162, 176, 178, 188, 217, 221, 267, 287 Alna (Aulne) Kl 58 Alpetragius (Al-Bitruji) 68, 205f. Ambrosius von Mailand 48, 178, 216, 298 Anastasius II. P 239 Anatomia Ricardi 186 Ancon, Nicolaus 311 Andreas von St. Victor 220 Angelsachsenchronik 266, 268 Angers 85, 250, 254 Annegray Kl 37 Ansegis von Fontanelle Abt 245 Anselm von Besate 155 Anselm von Canterbury 165, 224f., 227, 229 Anselm von Laon 55, 57, 61, 63, 65, 218 Antonius von Padua 100 Apollonius von Perge 169, 177 Apuleius (von Madaura) 22 Arator 48, 133 Archimedes (von Syrakus) 122, 169 Arezzo 85 Argenteuil Kl 62 Arghun Khan des Il-Khanats 317 Arévalo, Rodrigo Sánchez de 303f., 309, 314, 320f. Aristarch(os) (von Samos) 169 Aristoteles 15, 48, 54, 57, 65, 68, 80f., 96f., 99, 113, 121, 128, 133–36, 138, 144, 148, 158–65, 181f., 194–97, 199–201, 203–05, 208f., 212, 214f., 219, 223, 225–34, 252, 279, 281, 290f., 324 Arles 297 Arnald von Villanova 327 Arnold von Brescia 285 Ars Ambrosiana 146 Ars dictaminis / dictandi 154–56, 158 Artold Eb Reims 56 Asperius (Asporius) 30 Asser B Sherborne 268 »Astronomus« 264

Register

Athalarich Kg Ostgoten 153 Athanasius 48 Athen 12, 19, 23, 53 Auctor vetus de beneficiis 246f. Augsburg 247 Augustinus 19f., 30, 47f., 52, 73, 120–22, 124, 153, 160–62, 178, 216, 220, 223, 226, 231, 242, 257f., 271–74, 279, 286f., 298– 301, 304, 307 Augustinus von Canterbury 33f. Authentica(e) 74, 245f. Auxerre 149, 160 Avempace (Ibn Badga) 203f. Averroes (Ibn Rushd) 68, 138, 196–200, 203, 212, 228 Avicenna (Ibn Sı¯na¯) 197, 205, 211f. 226f., 230 Avignon 250, 253f., 296, 316 Az-Zarqali 180f. Azo Portius 243 Balduin IV. Kg Jerusalem 66 Baldus de Ubaldis 252 Bamberg 95f., 110 »Bamberger Rechenbuch« 316 Bangor Kl 28, 37 Bardi 315 Bartholomäus von Brixen 252 Bartolus von Saxoferrato 252, 293 Basel 296, 302 Basilius d. Gr. 20f., 23, 48 Beatus von Liébana 272 Bec Kl 218, 224 Beda (Venerabilis) 33, 35f., 47f., 55, 124f., 133, 150–51, 171, 173–76, 178, 182, 217, 221, 259, 266f., 274f., 277 »Beizbüchlein« 324 Bejing 315, 317 Benedict Biscop 34f., 47 »Benedictus Levita« 240 Benedikt von Aniane 42 Benedikt von Nursia 11, 19, 21, 23–24, 35, 39, 42, 188 Benno B Osnabrück 61 Berengar von Tours 218 Berges, Wilhelm 282

357

Register

Berminter, Hermann 108 Bernardus Silvestris 133, 158, 184 Bernhard von Chartres 64–66 Bernhard von Clairvaux 62, 109, 219, 243, 295 Bernhard von Laon 54 Bernold von Konstanz 241f. Bernward B Hildesheim 60 Bertharius 187 Biondo, Flavio 319 Bobbio Kl 38, 146 Bodecker, Stephan 256 Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius) 48, 54, 57, 59, 66, 113f., 121f., 125, 128, 133–35, 137, 144f., 150, 158, 160–62, 165, 170, 172, 177 Boethius von Dacia 134 Bologna 69, 71–77, 82, 85, 87f., 90, 97f., 101, 212, 235, 242, 246, 250f., 253f., 293, 312 Bonaventura (Giovanni Fidanza) 16, 100, 138, 197, 217, 226, 231 Bonifatius (Winfrid) 37, 40f., 46, 146 Bonifatius General 299 Bonifaz VIII. 243, 295 Bonizo von Sutri 268 Bordeaux 254 Bourges 88 Bracciolini, Poggio 113 Braga 239 Brandenburg (Bistum) 256 Braunschweig 105f. Bregenz 38 Breitenbach, Bernhard von 318f. Breslau 247f. Brigit Hl 31f. Brun Eb Köln 58f., 95 Brun von Querfurt 60 Brunelleschi, Filippo 312 Brunetto Latini 157f. Bruno, Giordano 193 Brunhilde fränkische Königin 38 Brunhölzl, Franz 30, 56 Bruni, Leonardo 113 Buchara 317 Bugenhagen, Johannes 106

Burchard von Worms Bußbücher 31

241

Cabral, Pedro Álvares 320 Caelius Aurelianus 188 Caen 88, 255 Caesarius von Arles 21 Cäsarius, Johannes 115 Cambridge 71, 83, 85, 91, 103, 251 Cannanore 320 Canning, Joseph 282 Canterbury 33f., 47, 83, 128, 218, 224 Carlyle, A. J. 282 Carlyle, R. W. 282 Cassian (Johannes Cassianus) 21, 216 Cassiodor (Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator) 24–26, 30, 52, 122–24, 128, 151, 153f., 170, 174, 177, 187f., 221, 265f. Categoriae Decem 160, 162 Cathwulf 286 Cato (Marcus Porcius Cato d. J.) 158 Cellán 39 Cellarius, Christoph 11 Celtis, Konrad 141 Chalcidius 161, 169, 178 Chalkedon Ko 21, 238 Cham 277f. Chartres 57, 64f., 150 Chemnitz 311 Chlodwig fränkischer K 278, 286 Christine de Pizan 290 Christophorus Hl 59, 127f. Cicero (Marcus Tullius Cicero) 20, 48, 60, 66, 96, 112–15, 121f., 125, 135, 144, 158f., 162, 235, 258, 288, 298 Chrodegang von Metz 51 Chronica principum Polonie 270 Clagett, Marshall 191 Clemens I. P 240 Clemens IV. P 227 Clemens V. P 243 Clemens VII. P (Avignon) 89 Cluny Kl 20, 42, 62 Cochin 320 Codex Justiniani 245f., 252–54, 293

358 Cölestin I P 26 Cogitosus 31f. Coimbra 251 Cola di Rienzo 285 Colman B Lindisfarne 33 Commodus K 185 Computus 174 Conjugationes verborum 146 Consuetudines 42 Constantinus Africanus 67–69, 187–89, 211 Constitutum (Donatio) Constantini 240 Copernicus, Nicolaus 13, 177, 181, 192, 211 Copho von Salerno 186 Corbeil 61f., 64 Cornificius 156 Corpus iuris canonici 252–54 Corpus iuris civilis vgl. Codex Justiniani Cuthbert Hl 35f., 267 Cyprian (von Karthago) 298 Da Vinci, Leonardo 192 Damaskus 320 Damiette 315 Dante Alighieri 155, 157 Datini, Francesco di Marco 316 David von Dinant 80 De institutione principum 14 De latitudinibus formarum 200 De mensura astrolabii 180 De modis significandi 151 De mundi colestis terrestrique constitutione 178f. De utilitatibus astrolabii 180 Declinationes nominum 146, 148 »Des Teufels Netz« 310 Descartes, René 193, 225 Desiderius von Montecassino (Viktor III. P) 67 Detmar 101, 270 Deventer 111 (Ps.) Dionysius Areopagita 53, 144f., 221, 223, 226, 301 Dionysius Exiguus 27, 35, 239 Dioskurides (Pedanius Dioskurides) 186–88

Register

Dioscuridus Langobardus 187 Disticha Catonis 55 Dominikus von Guzmàn 96–98 Dominus quae pars 148 Domitian K 140 Donatello 312 Donatio Constantini s. Constitutum Constantini Donatus (Aelius Donatus) 30, 48, 55, 118, 122f., 125, 133–35, 143, 145–51 Dortmund 101 Duhem, Pierre 191–93, 199 Dulmen, Johann von 107 Durham 34 Eberhard d. Ä. Graf von Württemberg 318 Eberhard von Béthune 133, 135, 137, 151 Eberhardus Alemannus 158 Ecgfrith Kg Northumbrien 34 Eckehard Rufus 60 Eduard I. Kg England 85, 255, 293, 295 Edwin Kg Northumbrien 33 Egbert Eb York 47f. Ehlers, Joachim 10, 60 Eichstädt 311 Eike von Repgow 237, 246–48 Einhard 41, 49, 51, 106, 267 Eis, Gerhard 305 Ekkehard von St. Gallen 45, 154 Eleonore Kaiserin 140f. Elisabeth I. Kgin England 292 Enoch 326 Ephesos Ko 238 Erasistratos von Keos 169 Erfurt 88f., 95, 114, 137, 251 Esslingen 107–09, 311 Étienne Tempier B Paris 198 Eucherius von Lyon 22 Eugen IV. P 312 Eugenius Vulgaris 155 Euklid (von Alexandria) 122, 135f., 169, 173 Eusebius von Cäsarea 26, 264, 266 Eutyches 52, 149–50 Exeter Kl 37 Extravagantes communes 243

359

Register

Eyb, Anselm von

318

Fabri, Nikolaus 115 Felix Hl. 35 Ferdinand III. Kg Kastilien 87 Ferrara 111, 255, 326 Ferrières Kl 49 Flavigny Kl 49 Flavius Josephus 26 Flodoard von Reims 56f., 59, 266 Florenz 101, 111f., 255, 312, 315 Flores Temporum 265 Foílleán 39 Fontaine Kl 38 Foresti, Jacopo Filippo 275 Fosse Kl 39 Frankfurt a. M. 250 Frankfurt a. O. 115 Franciscus de Marchia 206f. Franziskus von Assisi 100 Frechulf von Lisieux 267 Fredegar 267 Freiburg 115, 250 Friedrich I. K 73f., 246, 268f., 273 Friedrich II. K 68–71, 76, 86, 247, 273, 276, 323f. Friedrich III. K 139f., 256 Friedrich I. Pfalzgraf 138 Fritsche Klosener 266 Fritzlar Kl 40 Fueros 251 Fulbert von Chartres 57, 64, 218 Fulco Eb Reims 56 Fulda Kl 40f., 49., 51, 126, 147 Fursey 39 Galbert von Brügge 291 Galen (Galenos von Pergamon) 69, 169, 185–88, 211 Galilei, Galileo 192f., 204 Gallus Hl 38 Gama, Vasco da 320 Gelasius I. P 288 Genua 101, 312, 317 Geometria Culmensis 323 Georg von Podiebrad Kg Böhmen 256, 302

Gerald von Wales (Giraldus Cambrensis) 83 Gerannus 56 Gerbert von Aurillac (Sylvester II. P) 56f., 64, 67, 171–73, 217 Gerhard von Cremona 68, 173, 177, 186 Gerhard Groote 110f. Gerhoch von Reichersberg 243f. Gerson, Jean 294 Gervasius von Tilbury 260f. Gesta Stephani 269 Gierke, Otto von 282 Gildas 267 Gilbert von Tournai 289 Gilbertus Anglicus 211f. Gilbertus Porretanus (de la Porrée) 65f. Giovanni Codagnello 276 Glasgow 251 Glossa ordinaria (Bibel) 218 Glossa ordinaria (Recht) 251f. Göttingen 105 Gottfried von Franken 323 Gottfried von Vinsauf 137, 158 Gottfried von Viterbo 289 Gottschalk der Sachse 52, 149 Grant, Edward 191 Gratian Ks 239 Gratian 75, 132, 235, 240, 242f., 252f., 295, 300 Gregor d. Gr. P 33, 48f., 122f., 217, 220, 242, 267, 286 Gregor II. P 40, 240 Gregor VII. P 285 Gregor IX. P 81, 134, 196f., 243, 253 Gregor von Tours 266f. Greifswald 251 Gresemund von Meschede d. Ä. 114 Gresemund von Meschede d. J. 114 Griesbach, Walter 108 Guarino de’ Guarini 111f., 139 Guericke, Otto von 210 Guibert von Nogent 264 Guillaume Durant 252, 292 Gunther von Pairis 260 Gutenberg, Johannes 12

360 Hadrian I. P 239 Hadrian IV. P 243 Hadrian Abt 36f., 47 Haec Sancta 296 Haimo von Auxerre 54 Halberstadt 103, 243, 266 Hamburg 104–06, 247 Hannover 104 Hanß 308 Harff, Arnold van 319 Hartlieb, Johannes 307, 324 Harvey, William 185 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 16 Heidelberg 88f., 137f., 253f. Heilbronn 107 Heimburg, Gregor 256 Heinrich II. K 59f. Heinrich III. K 285 Heinrich IV. K 73, 246, 285 Heinrich V. K 73, 246 Heinrich VI. K 278f., 289 Heinrich I. Kg England 291 Heinrich II. Kg England 82, 291 Heinrich III. Kg England 84 Heinrich Eb Trier 59 Heinrich rector scolarum 108 Heinrich von Langenstein 89 Heinrich von Segusio (Hostiensis) 252–54 Heinrich Totting von Oyta 89 Heiricus von Auxerre 39, 54 Helmstedt 104 Heloïse 62 Helinand von Froidmont 289 Henneberg, Berthold von Eb Mainz 115 Henri d’Andeli 133f., 157f. Heraklides von Pontus 179 Herbord de Lippia 137 Herder, Johann Gottfried 14 Heribert Eb Köln 59 Hermann von Kärnten 173 Hermann Korner 101, 270 Hermann von Lerbeck 101 Hermes (Trismegistus) 326f. Hermogenes von Tarsus 152 Herophilos (von Chalkedon) 169 Herrad von Landsberg 130

Register

Hertford 34 Hesiod 276 Hieronymus (Sophronius Eusebius Hieronymus) 28, 30, 48, 145, 218, 220, 264, 266, 274 Hilarius (von Poitiers) 30, 48 Hild Äbtissin 33 Hildegard von Bingen 182f. Hildesheim 103, 105, 266 Hinkmar von Laon 52 Hinkmar Eb Reims 287 Hinderbach, Johann 140 Hipparch(os) (von Nikäa) 169, 177f. Hippo Regius (Bône) 20 Hippokrates von Kos 128, 187f., 211 Hirsau Kl 42 Hispana vulgata ([Ps.] Isidoriana) 239f. Hisperica famina 30, 36 Historia vel gesta Francorum 267 Historia Welforum 262 Hohenleitner, Wolfgang 323 Homer 144 Honoratus von Arles 21 Honoré Bouvet 301 Honorius III. P 76, 81f., 87, 250 Honorius Augustodunensis 128f., 178, 182, 258, 305 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 22, 57, 59, 61, 133 Hoyer von Falkenstein 246 Hrabanus Maurus (Eb Mainz) 41, 49, 51f., 126f., 147, 178, 183, 217, 221 Hucbald von St. Amand 56 Hugo Kg Italien 58 Hugo von St. Cher 98, 220f. Hugo von St. Victor 129f., 219f., 225, 259, 305–07 Hugo von Trimberg 96 Humboldt, Wilhelm 14 Ianua quae pars 148 Ibn Badga s. Avempace Ibn Rushd s. Averroes Ibn Sı¯na¯ s. Avicenna Ingolstadt 115, 141 Innozenz III. P 78, 83, 291

Register

Innozenz IV. P 254 Institoris (Kramer), Heinrich 324f. Institutio Traiani 288f. Iona (Hy) Kl 27f., 32 Irnerius (Guarnerius) 73, 246 Isidor von Sevilla (Eb) 23, 25, 30, 35, 47, 51, 55, 123–27, 133, 145, 150–51, 154, 170f., 174, 178, 217, 221, 239f., 242, 257–60, 264, 266, 273f., 287, 300 Israel (Mönch) 59 Ivo von Chartres 75, 241, 297 Jacobus de Cessolis 308 Jaffa 318 Jakob Domscholaster 96 Jakob von Venedig 163 Jakob Püterich von Reichertshausen 94 Jakob von Soest 101 Jarrow Kl 34f., 47 Jean maître 97 »Jean de Mandeville« 319 Jeger, Georg 108 Jerusalem 66, 183, 272, 318 Joachim von Fiore 11, 272f. Joachimsthal 311 Johann Kg England 83 Johann Markgraf Brandenburg 307 Johann B Auxerre 57 Johann von Salisbury 64–66, 78, 150–51, 156f., 163, 165, 287–91 Johann von Sevilla 68, 181 Johann von Viktring 278 Johannes XII. P 284 Johannes XXI. P s. Petrus Hispanus Johannes XXII. P 243, 255 Johannes Andreae 252, 254 Johannes von Antiochia 238 Johannes Buridan 136–38, 201f., 207f., 211, 215 Johannes Capreolus 233 Johannes Długosz 270 Johannes Duns Scotus 138, 204, 232–34 Johannes von Fordun 269 Johannes de Garlandia 133 Johannes de Hollandria 137 Johannes de Legnano 301f.

361 Johannes Nederhoff 101 Johannes Peckham 136 Johannes Philoponus 163, 203, 205 Johannes de Sacrobosco 136, 208 Johannes de Saxonia 209 Johannes von St. Gilles 98 Johannes Scotus Eriugena 52–54, 129, 145, 149, 160, 162, 179, 182, 221–23, 225 Johannes Teutonicus 243, 252 John Barbour 269 John Lutterell 234 Jonas 37 Jonas von Orléans 287 Jordan von Sachsen 98f. Jordanes 267 Juan Manuel 291 Jungingen, Konrad von Hochmeister Deutscher Orden 323 Justinian I. K Byzanz 12, 73, 244 Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis) 57, 59, 133 Kaffa 315, 317 Kairo 315 Kaiserchronik, Regensburger 269 Kant, Immanuel 225 Kantorowicz, Ernst H. 273, 283, 292 Karl Martell 39 Karl d. Gr. K 26, 41f., 46, 48–51, 72, 106, 125f., 147, 152, 176, 239, 244, 263, 267, 278, 284, 286f. Karl d. Kahle westfränkischer Kg 52–54, 267, 287, 292 Karl III. K 287 Karl IV. K 71, 88f., 264, 278 Karl von Anjou Kg Sizilien 86 Karlmann 287 Karlmann fränkischer Kg 51 Karlstein 278 Karthago 238f. Kildare Kl 32 Kitzingen Kl 40 Kepler, Johannes 183 Klemens von Alexandrien 120 Knorr, Peter 256 Koberger (Drucker) 12

362 Koeler, Hieronymus d. Ä. 109f. Köln 59, 88f., 95, 115, 137, 173, 226f., 247, 250, 255 Königschronik, Kölner 269 Kolumban der Ältere (Colum Cille) 27, 31–32 Kolumban der Jüngere 28, 37f., 39, 146 Kolumbus 320 Konrad 96 Konrad II. K 268, 285 Konrad III. römisch-deutscher Kg 156, 274 Konrad von Megenberg 306 Konrad Mendel 308 Konstantin d. Gr. K 57, 264, 297 Konstantinopel (Istanbul) 11, 315, 319 Konstantinopel I–IV Ko 238 Konstanz 296 Koyré, Alexandre 192f. Krakau 92, 247 Kroeschell, Karl 236 Kubilai Khan 317 Küng von Vach, Hermann 319 Kuhn, Thomas 193 Kurze, Dietrich 283 Ladislaus Posthumus Kg Böhmen Ungarn 140 Lagny a. d. Marne Kl 39 Laktanz (Lucius Caecilius Firmianus Lactantius) 48 Lambert von St. Omer 183 Lampert von Hersfeld 261, 268 Landauer, Matthäus 308 Lanfranc von Bec 218, 224 Laon 52, 54f. Laudes regiae 156 Leander Eb Sevilla 123 Leobgith (Lioba) Äbtissin 40 Leibniz, Gottfried Wilhelm 193, 225 Leipzig 88 Leo III. P 284 Leo IV. P 240 Lérida 251 Lérins Kl 21f., 38, 46 Leubing, Heinrich 256

Register

Lex Visigothorum 244 Lex Salica 244 Lex Ribuaria 244 Lex Alamannorum 244 Lex Baiuvariorum 244 Liber antidotarius magnus 187 Liber de astrolabio 179 Liber de bello Saxonico 260 Lieser, Johann von 256 Lincoln 83f., 135 Lindisfarne Kl 32, 35f. Lissabon 251 Liudger B Münster 48 Livius (Titus Livius) 96, 115 Lobbes Kl 58 Lodi 269 Löwen (Leuven, Louvain) 88, 250 London 33, 180 Lothar I. K 52 Lothar westfränkischer König 56 Lucidarius 305 Ludwig der Fromme K 42, 51, 263, 284, 287 Ludwig der Deutsche ostfränk. Kg. 52 Ludwig IV. K 234, 295 Ludwig VI. Kg Frankreich 269, 291 Ludwig VII. Kg Frankreich 264 Ludwig IX. Kg Frankreich 81 Ludwig XI. Kg Frankreich 138 Lübeck 101, 103, 105–07 Lübisches Recht 249 Lüneburg 104, 106 Lüttich 52, 58f. Luitprand Kg Langobarden 156 Luitprand von Cremona 268 Lukan (Marcus Annaeus Lucanus) 48, 57, 59, 133 Lupus von Ferrières 41 Luther, Martin 110 Luxeuil Kl 38, 46 Lyon 12 Macrobius (Macrobius Ambrosius Theodosius) 120, 133, 145, 178 Magdeburg 59, 103, 255, 266 Magdeburger Recht 247f. Maier, Anneliese 193

363

Register

Mailand 101, 156 Mailduf (Maildubh) 36 »Mainauer Naturlehre« 306 Mainz 12, 41, 51, 53, 114f., 318 Mair, Martin 256, 302 Maitland, Frederick 282 Malakka 320 Malmesbury Kl 36 Manegold von Lautenbach 55, 218 Manfred Kg Sizilien 86, 323 Mantua 111 Marbod von Rennes 154, 158 Marco Polo 317 Marini, Antonio 256, 302 Marius Mercator 240 Marseille 21, 180, 315 Marsili, Luigi 112 Marsilius von Inghen 138 Marsilius von Padua 295f. Martianus Capella 55, 59, 66, 114, 119f., 125, 128, 150, 154, 158, 162, 178, 183 Martin IV. P 104 Martin von Braga 286 Martin von Tours 21, 263 Martin von Troppau (Martinus Polonus) 265 Martinus Scotus 54f. Marx, Karl 9 Matteo Polo 317 Matthäus Parisiensis 269 Matthias von Neuenburg 279 Maximilian I. K 138, 140f., 323 Medicina Plinii 187 Meinwerk B Paderborn 60 Mekka 320 Melker Annalen 262 Melrose Kl 36 Melun 61–64 Memoria de tucte le mercantie 315 Merkur 326 Merseburg 266 Metz 51, 56, 149 Michael von Cesena 234 Michael von Ephesus 163 Michael Scotus 68 Minden 101, 103

Molitor, Ulrich 324 Monkwearmouth Kl 34f., 47 Montalboddo, Fracanzano de 319f. Montecassino Kl 11, 23, 40, 67, 187, 227 Montefeltro, Federigo da Herzog Urbino 112 Montefeltro, Guidobaldo da 112 Montpellier 250, 254 Moody, Ernest A. 191 More, Henry 210 Morelli, Giovanni di Pagolo 113 Morienus Romanus 326 Moses Maimonides 197 München 234, 295 Münster 103 Muirchú 32 Murbach Kl 39 Murdoch, John E. 191 Murethach 54, 149 Naevius (Neefe); Johannes 311 Nauclerus, Johannes 270 Neapel 70f., 76, 86, 155, 227 Nennius 267 Newdorfer, Johann 110 Newton, Isaac 193, 210 Niccolò Polo 317 Nicole Oresme 136, 193, 200, 202, 209–11, 294, 325 Nietzsche, Friedrich 10 Nikaia I–II Ko 27, 238 Nikolaus I. P 240 Nikolaus von Kues (Cusanus) 240 Nikomachus von Gerasa 170 Nîmes 255 Nimrod 278 Nithard 267 Nivelles Kl 39 Noah 277f., 326 Northampton 84 Notker der Deutsche 128 Notker der Stammler 45 Nürnberg 12, 94, 109f., 308, 311f. Nursling Kl 37, 146 Ochsenfurt Kl

40

364 Odofredus 72f. Ohrdruf Kl 40 Ohtrich von Magdeburg 60 Ordericus Vitalis 69 Origines 216, 242, 296 Orléans 57, 85, 133, 250f. Ortolanus 327 Osnabrück 103 Ostia 319 Oswald von Wolkenstein 94 Oswiu Kg. Northumbrien 33 Otfrid von Weißenburg 41 Otgar Eb Mainz 240 Otto d. Gr. K 56, 58f., 268, 284 Otto II. K 60, 284 Otto III. K 57, 284f. Otto von Freising 261f., 265, 268, 274f., 277 Otto Morena 269 Otwin B Hildesheim 60 Ovid (Publius Ovidius Naso) 20, 114, 135, 158 Oxford 71f., 72, 82–85, 91f., 103, 132, 135, 200, 231–33, 251 Pachomius 20 Paderborn 103 Padua 71, 76, 85, 90, 250f., 312 Palencia 86f. Palladius 26 Paris 12, 57, 61f., 65, 69, 71, 77–82, 85, 87, 89–92, 97f., 100f., 129, 132f., 137, 157, 192, 195f., 198f., 207, 209, 214f., 219, 225–28, 231f., 250, 253, 287, 302 Parma 48 Patricius (Patrick) 26, 31f., 39 Paraklet 62 Paul II. P 302f. Paulinus von Aquileja 49 Paulus Hl 53, 275, 287 Paulus Diaconus 147, 266f. Paulus Orosius 265f., 268, 271 Pavia 109, 250 Pegolotti, Francesco Balducci 315f. Pepo (Peppo) 72f., 246 Péronne Kl 39

Register

Persius (Aulus Persius Flaccus) 150 Perugia 250, 253, 255 Petrarca, Francesco 112 Petrus Abaelardus s. Abelard Petrus Bonus 326 Petrus Cantor 77, 220 Petrus Comestor 77, 220 Petrus Crassus 285 Petrus Damiani 128, 217 Petrus von Ebulo 278f. Petrus Elias 148, 151 Petrus Hispanus (Johannes XXI. P) 135, 137f., 164, 166, 198 Petrus Johannes Olivi 206f. Petrus Lombardus 66, 77, 132, 143, 206, 213, 219, 226, 233 Petrus von Pisa 49, 147f. Petrus Venerabilis 62 Peurbach, Georg von 141 Pfungen Kl 39 Philipp II. Augustus K Frankreich 78, 250, 289 Philipp III. Kg Frankreich 249, 293 Philipp IV. Kg Frankreich 249, 289 Philippe de Beaumanoir 248f. Philippe de Commynes 264 Phocas (Phocas Grammaticus) 149–50 Piacenza 276 Piccolomini, Enea Silvio 139f., 319 Pierozzi, Antonino 270 Pierre d’Ailly 210 Pierre de Belleperche 252 Pietro de Ancharano 293 Pippin d. Mittlere 40 Pippin fränkischer Kg 51, 267, 284 Pippin von Aquitanien 287 Pirmin 38f. Pisa 315 Platina (Bartolomeo Sacchi) 303f. Plato 12, 19, 133, 161, 169, 177, 181, 183f., 192, 205, 222, 231 Plinius d. Ä. (Gaius Plinius Secundus Maior) 48, 153, 168, 178, 187 Plowden, Edmund 292 Poeta quae pars 148 Poitiers 88

Register

Porphyrius 56, 64, 133, 135, 148, 160f. Prag 88–90, 137, 250 Prato 316 Prinz, Friedrich 22 Priscian (Priscianus Caesariensis) 48, 52, 55, 102, 119, 125, 133–35, 143, 145–52 Prosper (Prosper Tiro von Aquitanien) 48 Ptolemaios (Klaudios Ptolemaios) 169, 176–79, 181f., 208 Pythagoras (von Samos) 170 Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 115, 118, 122, 140f., 151–52, 258 Radulf von Lüttich 173 Ragimbold von Chartres 59, 173 Raimund 180 Raimund Eb Toledo 68 Raoul Glaber 268 Rather von Verona 58f. Ratramnus von Corbie 162 Ravenna 72f. Reading 83 Regensburg 128, 226, 311 Regimen sanitatis Salernitanum 189 Reginald von Orléans 98 Regino von Prüm 241, 267f. Regula Magistri 23 Regulae 146f. Reichenau Kl 38, 187 »Reichsannalen«, fränkische 266 Reims 55, 172, 240 Reinhard Domscholaster 96 Reisch, Gregor 143 Remigius von Auxerre 54, 56, 150, 182 Remigius B Reims 286 Reval (Tallinn) 105 Rhagius Aesticampianus, Johannes 115 Richard Billingham 137 Richard von St. Vanne 57 Richard von St. Victor 225 Richer von Reims 56, 268 Ripoll Kl 57 Ripon Kl 33, 36, 40 Robert Eb Trier 59 Robert von Chester 180, 326

365 Robert de Courçon 79, 134 Robert Grosseteste 84, 135, 232, 281 Rochester 33 Rörig, Fritz 107 Roger II. K Sizilien 291 Roger Bacon 204, 208, 226, 231f. Roger von Hoveden 269 Roger von Wendover 83 Roland von Cremona 98 Rolewinck, Werner 270 Rollo Herzog Normandie 269 Rom 26f., 33f., 72, 88, 227, 238f., 284f., 296, 312, 317, 319 Roncaglia 246 Roritzer, Matthäus 311 Roscelin von Compiègne 61, 165 Rostock 104, 106, 251 Rothe, Johannes 270 Rothenburg 110 Rudolf IV. Herzog Österreich 88 Rülein von Calw, Ulrich 311 Rufinus von Sorrent 300f. Rustichello da Pisa 317 Sacchi, Bartolomeo s. Platina Salamanca 71, 87, 251 Salerno 67–70, 72, 86, 186f., 188f., 211, 324 Salernus 187 Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 61, 114f., 268 Salutati, Coluccio 95, 112f. Salzburg 39 Sánchez de Arévalo, Rodrigo s. Arévalo, Rodrigo Sánchez de Santiago de Compostela 317, 319 Schedel, Hartmann 275f. Schlick, Kaspar 139 Schopenhauer, Arthur 10 Schwabenspiegel 248 Schweinfurt 110 Sedulius (Caelius Sedulius) 133 Sedulius Scottus 52, 149, 287 Segovia, Juan de 296 Seneca (Lucius Annaeus Seneca) 113, 168 Seneschaucy 322f. Serdika (Sofia) 238

366 Sherborne 36 Sidonius Apollinaris 153f., 158 Siena 77, 85, 255 Siete Partidas 87, 251 Siger von Brabant 196 Sigibert fränkischer Kg 37f. Sigismund Herzog von Tirol 139 Siguenza 255 Simeon von Durham 48 Simplicius (Simplikios von Kilikien) 209 Siricus P 239 Sixtus IV. P 303 Smaragd von St. Mihiel-sur-Meuse 149, 287 Soissons 62 Sokrates 22 Sophismata 166 Spaur, Kaspar von 323 Spengler, Lazarus 110 Speyer 59, 108, 128 Sprenger, Jakob 324f. St. Albans Kl 269 St. Andrews 251 St. Blasien Kl 42 St. Denis Kl 62 St. Gallen Kl 38, 45, 128, 148 St. Josse-sur-Mer Kl 49 St. Martin in Tours Kl 49 Statius (Caecilius Statius) 61 Stefan von Tournai 150 Steinhöwel, Heinrich 309, 314, 320f. Stephan II. P 284 Stephan Kg England 264, 268 Stephen Langton Eb Canterbury 220 Stettin 105f. Stralsund 103f., 107 Sturmi Abt 40 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 51, 115 Sugar von St. Denis 269 Sulpitius Severus 22, 263 Summa Theologica 218 Sylvester II. P s. Gerbert von Aurillac Symmachus (Quintus Aurelius Symmachus) 153f.

Register

Taddeo Alderotti 212 Tana 315, 37 Tankred von Lecce 279 Tauberbischofsheim Kl 40 Terenz (Publius Terentius Afer) 22, 114f., 133 Thabit ibn Qurra 177, 210 Thanet Kl 40 Thangmar 60 Thiedhelm von Bremen 60 Theoderich Kg Ostgoten 24, 48, 121f. Thegan 264 Theodosius K 72 Theodor II. Eb Mailand 156 Theodor von Mopsuestia 31 Theodor von Tarsus Eb Canterbury 34, 36f., 47 Theodulf von Orléans 49, 125 Theon von Smyrna 169 Theophilus 310 Theorica planetarum 208f. Theuderich Kg Frankenreich 38 Thierry (Theoderich) von Chartres 65f., 183 Thietmar von Merseburg 60, 268 Thomas von Aquin 99, 138, 159, 195, 197f., 203f., 206, 213–15, 223–34, 236, 289f., 291, 301, 307 Thomas Bradwardine 136, 200, 204 Thomas von Cantimore Thomas von Erfurt 134 Thomas Manlefelt (Maulevelt) 137 Thorndike, Lynn 191 Thorner Annalist 101 Toledanische Tafeln 209 Toledo 68, 163, 177, 181, 209 Tolomeo von Lucca 290 Torquemada, Juan de 240, 296f. Toulouse 12, 71, 81, 97f. Tours 21, 49, 57, 147 Trajan K 288 Trapezunt 315 Treviso 255 »Trienter Algorismus« 316 Troja 72, 278 Troyes Kl 49

367

Register

Tucher, Endres (II.) 312 Tudeschi, Niccolò de 252 Tübingen 88, 115 Tusculum 319 Tuto Domscholaster 95 Ulm 109 Ulpian (Domitius Ulpianus) Urban IV. P 227 Urban V. P 88 Urban VI. P 89 Urso von Kalabrien 211

235

Valerianus 22 Valerius Maximus 114f. Valladolid 87 Varthema, Ludovico de 320 Venedig 72, 101, 111, 317–19 Vercelli 85 Vergerio, Pietro Paolo 113 Vergil (Publius Vergilius Maro) 20, 48, 55, 57, 59, 61, 114f., 133, 135, 150, 158 Verona 58f. Vespucci, Amerigo 320 Vetus Latina 28 Vicenza 85 Vincenz von Beauvais 260, 289 Virgil von Salzburg 39 Virgilius Maro 30 Vitorius Marcellus 140 Vitruv (Marcus Pollio Vitruvius) 117, 313f. Vittorino de’ Rambaldoni da Feltre 111, 139 Vivariense Kl 24, 26, 154 Vulgata 49 Wace 269 Walahfrid Strabo 41, 147, 187, 217 Walcher von Malvern 180

Walter Bower 269 Walter of Henley 322f. Walter Map 156 Walther von Speyer 59, 127f. Wassenhove, Joos von 112 Weißenburg Kl 39 Westminster 255 Whitby 33, 39 Wibald von Stablo-Corvey 156 Widmann, Johannes 316 Widukind von Corvey 263, 268, 284 Wien 88–90, 109, 135f., 141 Wigbert Eb Magdeburg 60 Wilfrid von York 33–35, 39f. Wilhelm Herzog von Aquitanien 42 Wilhelm B Eichstädt 311 Wilhelm von Champeaux 61–63 Wilhelm von Conches 66, 183, 225 Wilhelm von Moerbeke 158f., 186, 281 Wilhelm von Newburgh 269 Wilhelm von Ockham 137f., 166, 206f., 213, 215, 232–34, 236, 296 Wilhelm von Tyrus 66 Willibrord 40, 48 Wimborne Kl 40 Wimpfeling, Jakob 114 Winfrid s. Bonifatius Wipo 268 Wismar 103f., 107 Wolfgang B Regensburg 59 Worms 59 Wulfad Eb Bourges 54 Wyle, Niklas von 109, 114, 141 York

34, 47f.

Zasius, Ulrich 250 Zürich 109 Zwickau 311