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German Pages 273 [274] Year 2017
Werner Jaeger: Wissenschaft, Bildung, Politik
Philologus
Zeitschrift für antike Literatur und ihre Rezeption / A Journal for Ancient Literature and its Reception
Supplemente / Supplementary Volumes Herausgegeben von / Edited by Sabine Föllinger, Therese Fuhrer, Jan Stenger, Martin Vöhler, Katharina Volk
Band 9
Werner Jaeger: Wissenschaft, Bildung, Politik Herausgegeben von Colin Guthrie King und Roberto Lo Presti
Gedruckt mit Mitteln, die das August-Boeckh-Antike-Zentrum und die Alexander von Humboldt-Professur für Altertumswissenschaften und Wissenschaftsgeschichte zur Verfügung gestellt haben.
ISBN 978-3-11-054803-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054898-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054810-5 ISSN 2199-0255 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort In diesem Band, der teils aus Beiträgen zu einer gleichnamigen Konferenz in Berlin im September 2013 hervorgeht und auch weitere und ergänzende Beiträge enthält, werden Aspekte von Werner Jaegers philosophiehistorischem Werk sowie von seinem bildungstheoretischem Wirken evaluiert. Das Ziel der Tagung sowie dieses Bandes ist es, zu differenzierten Urteilen über die durchaus gemischte Bilanz von Jaegers Werk und Wirken zu kommen. Die Wissenschaftsgeschichte (zumal des 19. Jahrhunderts) wird oft als Heldengeschichte geschrieben; wir waren darum bemüht, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Für die überaus großzügige Unterstützung dieses Unternehmens müssen wir uns bei vielen herzlich bedanken. Insbesondere: ohne die finanzielle und wissenschaftliche Unterstützung der De Gruyter-Stiftung, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, des August-Boeckh-Antike-Zentrums (ABAZ) und der Alexander von Humboldt-Stiftung hätten die Tagung und dieser Band das Licht der Welt nie erblickt. Deshalb ist es den Heraugebern eine angenehme Pflicht, den genannten Institutionen an dieser Stelle herzlich zu danken. Unser herzlicher Dank gilt auch Frau Dorothea Keller, die uns bei der redaktionellen Bearbeitung des Manuskripts sehr geholfen hat, sowie den Herren Patrick Kappacher und Benedek Kruchio, deren Zuarbeit am ABAZ für das Gelingen auch dieses Projekts entscheidend war. Zuletzt und mit größtem Nachdruck möchten wir dem Herausgebergremium der Supplemente-Reihe von Philologus für die Aufnahme unseres Bandes in diese Reihe danken. Colin Guthrie King & Roberto Lo Presti Providence & Berlin, 31. März 2017
Inhalt Vorwort
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Colin Guthrie King Einführung 1 Manfred Landfester Werner Jaegers Konzepte von Wissenschaft und Bildung als Ausdruck des Zeitgeistes 5 Wolfgang Rösler Werner Jaeger und der Nationalsozialismus
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Stefan Kipf Paideia und die Folgen – Die Bedeutung des Dritten Humanismus für den altsprachlichen Unterricht nach 1945 83 Giuseppe Cambiano Werner Jaeger and the Presocratics Dorothea Frede Jaegers Platon
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Mirjam E. Kotwick The Entwicklungsgeschichte of a Text: On Werner Jaeger’s edition of Aristotle’s Metaphysics 171 Roberto Lo Presti und Philip van der Eijk 209 Werner Jaeger und die antike Medizin Christoph Markschies Werner Jaegers Blicke auf das antike Christentum Sachregister Namenregister
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Colin Guthrie King
Einführung
In einem vielbeachteten Aufsatz des US-amerikanischen Indologen Sheldon Pollock wurde vor nicht allzu langer Zeit eine Krise der Philologie beschrieben, die für ein Verständnis von Werner Jaeger und dem Schicksal seines Werkes einige wichtige Hinweise gibt.¹ Unter dem fragenden Titel „Future Philology?“ erzählt Pollock eine Art Verfallsgeschichte der Philologie als wissenschaftlicher Disziplin und gibt zugleich ein Programm für deren Rettung in der „harten Welt“ eines ökonomisierenden Wissenschaftsmanagements vor. Das verhängnisvolle Ereignis in ihrer Geschichte verortet Pollock in einer goldenen Zeit und an einem wundersamen Ort: in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dort und damals sei die Klassische Philologie auf ihrem Zenit gewesen: „one of the hardest sciences on offer, the centerpiece of education, the sharpest exponent if not the originator of „critical“ thinking, and the paradigm of other sciences such as evolutionary biology“ (Pollock (2009) 931). Den Beginn ihres Verfalls datiert Pollock mit der beißenden Rezension des jungen Wilamowitz von Nietzsches Geburt der Tragödie. Nietzsche steht in gewisser Hinsicht, laut Pollock, für alles, was Philologie hätte sein können: humanistisch, bildungsorientiert, im Dienst einer lebendigen Kultur und in deren Mitte.Wilamowitz dagegen stellt den „kalten Teufel des Wissens“ dar und exemplifiziert einen verwissenschaftlichten und lebensleeren Umgang mit Texten, der in der Diagnose von Pollock die Disziplin heute – in ihrem letzten Verfallsstadium – charakterisiert. Dieses Bild ist romantisierend und wissenschaftshistorisch schief: Die Entidealisierung der Antike durch positiv verfahrende Wissenschaft war lange vor Wilamowitz in vollem Gange, und kann als Paradigma kaum nur seinem Wirken zugeschrieben werden. Es ist zudem unklar, inwiefern die Verwissenschaftlichung der Antike mit ihrem kulturellen Bedeutungsverlust zusammenhängt, wie und wann auch immer man diesen ausmachen möchte. Im Übrigen muss man feststellen, dass Nietzsches Schriften zwar eine Kritik der Antike und der Wissenschaft, aber keine klar formulierte Alternative zum wissenschaftlichen Leitbild der Klassischen Philologie bereithalten. Doch ist es richtig, eine Spannung zwischen den Normen der Wissenschaft und der Bildung in gerade dieser Zeit in der Wissenschaftsgeschichte der Philologie auszumachen. Im Falle von Werner Jaeger gibt genau dieser Kontext vielleicht den Schlüssel für ein Verständnis seines Werks und Werdegangs.
Pollock (2009) 931– 961. DOI 10.1515/9783110548983-001
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Colin Guthrie King
Das Buch, für das Jaeger über Fachkreise hinaus bekannt geworden ist, kann als normativ konzipierter Versuch gelten, die Altertumswissenschaften für das Leben nützlich zu machen. Allerdings erscheint seine Paideia heute nicht nur alt und veraltet, sondern in manchen Passagen unerträglich. Auf einer einzigen Seite des 1933 geschriebenen Vorworts kommt das Wort „Kampf“ zweimal vor. Jaeger benutzt den Ausdruck zum Beispiel in folgendem denkwürdigen Satz: „Die Darstellung wendet sich nicht nur an die gelehrte Welt sondern an alle, die in dem Kampfe unserer Zeit um den Bestand unserer mehrtausendjährigen Kultur heute wieder den Zugang zum Griechentum suchen.“² Das griechische Bildungskonzept und griechische Bildungspraktiken seien aufgrund „rassischer Verwandtschaft“ naheliegende Vorbilder im besagten „Kampf“.³ Griechenland sei zwar in mancher Hinsicht fremd, „aber zwischen dieser Art des Andersseins und derjenigen, die wir gegenüber den ausgesprochen rasse- und geistesfremden Völkern des Orients empfinden“, bestehe ein großer Unterschied.⁴ Diese unerträglichen Äußerungen macht Jaeger in Zusammenhang mit einer abstrusen Theorie der Kultur, die besagt, dass nur denjenigen „Völkern“ Kultur zugesprochen werden dürfe, die über den Begriff „Kultur“ verfügten. Kultur sei zudem durch Natur, näherhin durch Rasse bedingt: „wir gehen … von der rassemäßigen Formanlage des griechischen Geistes aus“.⁵ Gerade in dieser Theorie sollten wir Schüler der Griechen sein, denn die Griechen hätten „einen angeborenen Sinn für das,was der ‚Natur‘ entspricht“.⁶ Der Anschluss an zeitgenössische nationalsozialistische Rhetorik ist unüberhörbar. Zum Glück sind Einleitung und Vorwort zu Jaegers Paideia für die Substanz des Buches belanglos; das Buch hat aber auch andere Schwächen. Als ein Beispiel der Historiographie der antiken Philosophie können die Bände zwei und drei, die fast ausschließlich Platon zum Gegenstand haben, auch nicht mit Wohlwollen als gute Forschung gelten: sie enthalten eine Mischung aus Nacherzählungen von Texten und einer Art spekulativer Interpretation, die von ungedeckten Vorannahmen etwa in Bezug auf „antikes“ und „modernes“ Denken liberal Gebrauch macht. Der Versuch, durch die Auslegung von Platon normative Empfehlungen für die politische und kulturelle Gegenwart zu formulieren, erinnert an einen anderen ausgewanderten deutschen Geisteswissenschaftler: Leo Strauss. Doch im Vergleich zu Strauss agiert Jaeger in diesem Modus der Interpretation eher ungeschickt.
Jaeger (1934) i. Ebenda, 4. Ebenda. Ebenda, 9. Ebenda, 10.
Einführung
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Dieser Befund ist nicht neu, aber für Historiker der antiken Philosophie und Wissenschaft immer noch enttäuschend, denn mit seinen Arbeiten zu Aristoteles – insbesondere mit seiner Dissertation über die Rekonstruktion des Zusammenhangs der aristotelischen Metaphysik – hat Jaeger Arbeit geleistet, die viel besser ist als ihr Ruf. Hier findet man immer noch hilfreiche Interpretationen, die gestützt werden durch gut dokumentierte und genaue Lektüre; und viele von diesen können auch dann überzeugend sein, wenn man das entwicklungsgeschichtliche Modell für die Aristotelesinterpretation ablehnt. Wenn seine Arbeiten in diesem Bereich heute weitgehend ungelesen bleiben, liegt das eher an einem Wechsel in den philosophischen Vorannahmen der Aristoteles-Exegese. Als Aristoteles im Laufe der 1960er Jahre vor dem Hintergrund der analytischen Philosophie zu einem primär dialektischen und d. h. mitunter auf einzelne Positionen reagierenden Philosophen wurde, erschien eine zentrale Aufgabe von Jaegers Interpretation, nämlich die Kohärenz seines Denkens genetisch und historisch zu erklären, obsolet. Zu Recht hat man das Genetische in Jaegers Aristotelesdeutung problematisiert; aber für diejenigen, die Aristoteles auch historisch und philologisch verstehen möchten, ist eine Auseinandersetzung mit Jaegers Werken nicht nur sinnvoll, sondern gehört immer noch mit zum Besten, was es gibt. Auch in anderen Hinsichten war Jaeger innovativ: etwa in seiner Erweiterung des Studiums der antiken Philosophie, um auch die Wissenschaftsgeschichte der antiken Medizin einzuschließen, oder auch in seiner Integration christlicher und hellenistischer Autoren in das Studium der Antike. Auch nach seiner Emigration in die USA blieb Jaeger nicht unbekannt. Das gibt Fragen über seine relative Wirkungslosigkeit im US-amerikanischen Umfeld auf. Steht es im Zeichen des allgemeinen Verfalls der Philologie als Leitdisziplin, wie Pollock uns glauben machen möchte? Oder waren vielmehr die Werte jener Wissenschaft, die Jaeger in seiner wissenschaftlichen Sozialisierung in Berlin erwarb, einfach nicht mehr in den angelsächsischen Kontext übertragbar? Will man Jaegers Karriere sozialhistorisch erfassen, so scheint es darin ein doppeltes Scheitern zu geben. Als junger Wissenschaftler im auserwählten privaten Kreis um Wilamowitz und leitend in den wichtigsten Wissenschaftsinstitutionen seiner Zeit musste er nicht nur deren Demontage durch die Nationalsozialisten erleben, sondern auch seinen Lebensabend in einer Kultur fristen, die dem Beruf des Altertumswissenschaftlers nie besonders viel Anerkennung geschenkt hat. Man vergleiche sein Schicksal in den Vereinigten Staaten mit jenem seines Akademiekollegen Albert Einstein. William Calder fand in seinen Studien zur Berufungspolitik in der Klassischen Philologie einen weiteren Grund für Jaegers ausbleibende Wirkung, trotz prominenter Stellung in Harvard: als Schüler von ihm hatte man auf dem US-amerikanischen Markt
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nicht die besten Karrieremöglichkeiten.⁷ Als Leser seiner Schriften in Englisch und in Deutsch fällt einem vergleichenden Leser etwas anderes auf: wie hölzern und umständlich sein Englisch wirkt im Vergleich zu seinem zwar ausschweifenden, aber durchaus präzisen deutschen Schreibstil. Wie auch immer man den Fall Jaeger rekonstruiert, bleibt durch das Studium seiner Schriften noch einiges zu lernen über das wechselseitige Verhältnis von Altertumswissenschaft, Bildung und Politik beim Ausklang des sehr langen 19. Jahrhunderts. Auch nach den verdienstvollen Beiträgen in dem von William Calder herausgegebenen Band Werner Jaeger Reconsidered können die politischen Umstände von Jaegers Versuch, als Bildungspolitiker aufzutreten, näher geprüft werden. Auch das noch Anschlussfähige in seinen Beiträgen zur Geschichte der antiken Philosophie und Wissenschaft kann gesucht werden. Dies ist kein Beitrag zur Denkmalpflege, sondern eine prüfende Bestandaufnahme – die gerade dort nötig ist, wo die Bilanz einer Forschungspersönlichkeit so vielfältig und durchmischt ist wie im Falle Jaegers.
Literaturverzeichnis Calder (1992): William Calder M. III (Hg.), Werner Jaeger Reconsidered (Proceedings of the second Oldfather conference, held on the campus of the university of Illinois at Urbana-Champaign, April 26 – 28, 1990), Atlanta. Jaeger (1934): Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 1, Berlin. Pollock (2009): Sheldon Pollock, „Future philology? The Fate of a Soft Science in a Hard World“, Critical Inquiry 35.4, 931 – 961.
Siehe Calder (1992).
Manfred Landfester
Werner Jaegers Konzepte von Wissenschaft und Bildung als Ausdruck des Zeitgeistes 1 Die Kulturkrise vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933¹ Als Werner Jaeger 1907 sein Studium der Klassischen Philologie und Philosophie in Marburg begann, wucherte in Deutschland eine diffuse Kulturkrisenstimmung, die auch in die Felder der Wissenschaft und höheren Bildung eingedrungen war und von dem Bewusstsein bestimmt wurde, dass das herrschende und in den Altertumswissenschaften entwickelte Wissenschaftsmodell des Historismus mit seinem positivistischen Realismus und der Relativierung und Neutralisierung der Werte der Antike sowie der in die Gefangenschaft des Historismus mit seinem Realismus geratene Humanismus ein wesentlicher Teil der Krise seien, weil die antike Tradition und der Umgang mit ihr keinen Beitrag zur Gestaltung der Lebenswirklichkeit der Gegenwart leisten könnten. Der antiklassizistische Stolz des Historismus, „vor allem die Alten herabsteigen zu machen von dem phantastischen Kothurn, auf dem sie der Masse des Publikums erscheinen, sie in die reale Welt, wo gehaßt und geliebt, gesägt und gehämmert, phantasiert und geschwindelt wird, den Lesern zu versetzen“ (Mommsen an seinen Freund Wilhelm Henzen 26.11.1854),² wurde jetzt zum Ziel der Polemik und der Kritik. Geburtshelfer dieses Krisengefühls war der Baseler Klassische Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche, der in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874) die Altertumswissenschaften mit ihrem Historismus und die Praxis der humanistischen Bildung mit ihrer Orientierung am Historismus verhöhnt hatte.³ Er verspottete den Realismus des Historismus als Trivialität und die historistische Wissenschaftspraxis mit der unendlichen und ziellosen Vermehrung von methodisch gesichertem Wissen als nutzlos für das Leben: „Jene naiven Historiker nennen ‚Objectivität‘ das Messen vergangener Meinungen und Thaten an den Allerwelts-Meinungen des Augenblicks: hier finden sie den Kanon aller Wahrheiten; ihre Arbeit ist, die Vergan-
Oexle (2007) 11– 116. Rebenich (2002) 90. Henrichs (1995) 455. DOI 10.1515/9783110548983-002
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genheit der zeitgemässen Trivialität anzupassen.“⁴ Und gegen die Trivialität des Historismus und die Nutzlosigkeit ihres Wissens setzte er auf eine Wissenschaft, die sich auf die besondere Größe ihrer Gegenstände besinnen solle, um damit dem Leben zu dienen: „Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.“⁵ Einen Ausweg aus dem Dilemma des Historismus und Humanismus wies Nietzsche mit seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872),⁶ mit der er dem Historismus untreu und zum Philosophen geworden war. An die Stelle des modernen historistischen Humanismus und des alten Humanismus der deutschen Klassik forderte er eine neue Klassizität der Griechen ein, die bestimmt war von der Polarität des Apollinischen und Dionysischen als Ausdruck des griechischen Geistes. Die Wirkung Nietzsches war zunächst gering. Erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurden seine Denkmotive zu Faktoren des Krisenbewusstseins und beflügelten vor allem die junge Generation, die die historischen Wissenschaften zu Lebenswissenschaften (Bildungswissenschaften/Weltanschauungswissenschaften) umbilden wollte. Obwohl das Krisenbewusstsein wesentlich bestimmt war durch den Geltungsverlust der antiken Traditionen, wurden deren Anwälte selbst, die Altertumswissenschaftler und Humanisten, von diesem Krisengefühl kaum angesteckt. Sie waren unter dem Schutzschirm ihres staatlich garantierten Bildungsideals und der auch international anerkannten außergewöhnlichen Leistungsfähigkeit des historistischen Wissenschaftssystems, die sich in der umfangreichen Vermehrung positivistischen ‚objektiven‘ Wissens dokumentierte, immun gegen neue Konzepte in Wissenschaft und Bildung. Die Kulturkrisenstimmung der Jahrhundertwende wurde dann unter dem Eindruck der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und ihrer politischen Folgen mit der Ablösung der Monarchie durch eine parlamentarische Demokratie von einem politischen und gesellschaftlichen Krisengefühl überlagert und dadurch noch verstärkt. Die Auflösung etablierter kultureller, weltanschaulicher, gesellschaftlicher und politischer Traditionen und Formen wurde als Kern der Krise bestimmt. Die Ursache dafür war die enge Symbiose von Politik, Gesellschaft und Kultur, die in allen kriegführenden Ländern das Bewusstsein der Intellektuellen bestimmte. Der Erste Weltkrieg wurde nicht nur als ein Kampf um die Macht in Europa, sondern auch als ein Kampf der Verfassungssysteme und Kulturen verstanden. Rasant setzte sich nicht nur der politische, sondern auch der kulturelle Chauvinismus durch, und binnen Kurzem brach die internationale
Nietzsche (1980) 289. Nietzsche (1980) 245. Nietzsche (1994b) 95 – 238.
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Gelehrtenrepublik zusammen. An der nationalistischen Aufwallung war in Deutschland beinahe die Gesamtheit der Hochschullehrer beteiligt. Auf deutscher Seite wie auch bei den westeuropäischen Gegnern entstand ein kulturelles wie politisches Überlegenheitsgefühl, in Deutschland vor allem konzentriert auf die Wissenschaft, das zugrundeliegende humanistische Bildungssystem, die klassische Literatur sowie auf die militärische Leistungsfähigkeit und die Überlegenheit des halbkonstitutionellen deutschen monarchisch gestützten Verfassungssystems (mit der Begrenzung demokratischer Elemente) über die konstitutionellen parlamentarischen Demokratien Westeuropas. Großen Anteil an dem kulturellen Überlegenheitsgefühl hatte das Bewusstsein, dass wesentliche deutsche Kulturleistungen durch die Rezeption der Antike bedingt seien. Damit wurde die Vorstellung des Neuhumanismus erneuert, nach der die ‚Nachahmung‘ der Griechen den Vorrang deutscher Kultur in Europa begründet hätte. Auf deutscher Seite wurde der Kampf der Kulturen begrifflich zu einem Kampf zwischen deutscher idealistischer Kultur und westlicher dekadenter Zivilisation. Aus der engen Verzahnung von Kultur, militärischer Leistungsfähigkeit und Politik folgte, dass angesichts einer seit 1916/17 möglichen Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg sich ein komplexes Krisengefühl ausbreitete und sich in allen Schichten einnistete, das dann, als das Undenkbare wirklich eintrat, gesteigert wurde durch die politische Revolution mit dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie (Oktoberverfassung von 1918) und durch die anschließenden Revolten im November 1918. Alle Traditionen, nicht nur die politischen und die gesellschaftlichen, sondern auch die kulturellen, erschienen brüchig und in Frage gestellt. Man deutete die Erschütterungen durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und durch die folgende politische Revolution als Epochenschwelle, die man auch pathetisch übertreibend als „Weltenwende“ oder„welthistorische Krisis“ stilisierte.⁷ Diese gesteigerte Krisenstimmung wurde bis zum Ende der Weimarer Republik zum Dauerzustand und konnte apokalyptische Formen annehmen. Typisch war die Diagnose der Zeit durch Hugo von Hofmannsthal:⁸ Die Unruhe ist nach wie vor allgemein, der Zweifel und die Verworrenheit eher im Wachsen als im Abnehmen. Die materiellen Auswirkungen der Katastrophe, durch die wir gegangen sind, bleiben ungeheuer; aber wir gewahren, daß die geistigen noch furchtbarer und noch folgenreicher sind. Wir versuchen uns zur Klarheit durchzuringen, zu erkennen, was dahingestürzt und was noch aufrecht ist; aber der ordnende Sinn in uns selber, der allein zu solchen Urteilen fähig wäre, ist im tiefsten beschädigt.
Giesecke-Teubner u. Norden (1919) III. Hofmannsthal (1928) 99.
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Mit den weichen Begriffen wie „Werteverfall“, „Kulturverfall“, „Orientierungslosigkeit“, „Amerikanisierung“ (im Sinne von Oberflächlichkeit der Bildung und Kultur), „Dekadenz“ und „Materialismus“ wurden die Verirrungen der Moderne schlagwortartig erfasst.
2 Die Kulturkrise und der Untergang des Abendlandes Diese Krisenstimmung wurde der geeignete Nährboden für die Geschichtsphilosophie Oswald Spenglers in der Schrift Der Untergang des Abendlandes (1918/22), die das traditionelle lineare Geschichtsverständnis mit der Vorstellung der europäischen Geschichte als einer zusammenhängenden „Kette von Ursachen und Wirkungen“ von der Antike bis zur Gegenwart durch eine zyklische Geschichtstheorie einer Weltgeschichte mit der Vorstellung von acht autonomen Kulturen ohne Wirkungszusammenhang und nach dem biologischen Muster von Wachstum und Verfall ersetzte. Indem er dabei die europäische Geschichte in zwei autonome Epochen, in eine antike Epoche (1100 v.Chr. bis 500/900 n.Chr.) und eine abendländische Epoche (ab 500/900 bis zu ihrem natürlichen Ende in der Gegenwart) gliederte, die nicht durch „Einfluß, Fortdauer und Fortwirkung“⁹ bestimmt waren und von denen die aktuelle abendländische Epoche in der Gegenwart zu ihrem „natürlichen“ „Untergang“ ohne Einwirkung durch die Träger der Kultur kam, büßte die Antike nicht nur ihre Bedeutung für die zu Ende gehende abendländische Geschichte ein, sondern erst recht für jede neue Epoche. Der Ablehnung der Geschichtsgläubigen stand die begeisterte Zustimmung derer gegenüber, die sich von der Last der Geschichte befreit fühlten und auf eine Zukunft ohne Herkunft setzten.
3 Die Überwindung des Historismus durch eine neue Hermeneutik Die Krise wirkte aber nicht nur lähmend, sondern setzte auch neue Ideen frei. So wurde der Antihistorismus angefeuert durch die aktuelle wissenschaftstheoretische Diskussion, die geprägt war von dem radikalen Unterschied von Naturwissenschaften und historischen Wissenschaften. Hatte sich der Historismus durch
Spengler (1918/22) 617.
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seinen Objektivitätsanspruch erkenntnistheoretisch den Naturwissenschaften angeglichen, so wurde dieser Anspruch jetzt aufgekündigt. Die historischen Wissenschaften wurden zu einem Wissenschaftstyp, für den die Subjektivität der Erkenntnis ein positives Merkmal war. Verantwortlich für diese antihistoristische Entwicklung waren vor allem Wilhelm Dilthey (Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883; Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, 1906; Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 1910), Georg Simmel (Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 1892), dann die Neukantianer Wilhelm Windelband (Geschichte und Naturwissenschaft, 1894) und Heinrich Rickert (Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1896). Allerdings gab es keine klaren Lösungen. Stattdessen vagabundierten mehr oder weniger systematisch miteinander verbundene Begriffe in der Theoriediskussion, die auch in der geisteswissenschaftlichen Praxis eingesetzt wurden. Folgenreich war vor allem Dilthey, der mit der Opposition Erklären und Verstehen die Unterschiede von Natur- und Geisteswissenschaften erfasste und mit dem Begriff des Verstehens die spezifische Form historischer Erkenntnis bestimmte: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“¹⁰ Der Begriff des Erklärens konnte auch durch den Begriff des Erkennens ersetzt werden. „Die Natur erkennen wir, aber verstehen sie nicht. Das Reich des Geistes verstehen wir, aber der Gedanke durchdringt und erschöpft es niemals.“¹¹ Der Verstehensbegriff wurde durch den Erlebnisbegriff (Erlebnis/Erleben/Nacherleben/Intuition/Anschauung/Schau) erläutert. Es waren gerade diese Begriffe, die die Rückkehr der Subjektivität in den Erkenntnisprozess förderten. Fundamentale Bedeutung erhielt in diesen Zusammenhängen die Rückkehr des Wertebegriffs in die historischen Wissenschaften der Literatur und Kunst. Gegenstand der Wissenschaft sollte „das Wertvolle“, „das Große, das Bedeutende“¹² sein. Indem die Werke der Literatur und Kunst wieder Ausdruck von Werten wurden, konnten sie ihre Vorbildhaftigkeit und Klassizität zurückgewinnen, die sie durch den Historismus mit seiner Werteneutralität eingebüßt hatten. Die historischen Literatur- und Kunstwissenschaften wurden dadurch zu Wissenschaften von Werten und ihrer Geltung, zu Lebenswissenschaften. Die Unbestimmtheit der meisten Begriffe und ihre extreme Definitionsabhängigkeit, dazu die eher offene und mäandrierende Art der Theoriebildung Diltheys, erschwerten allerdings einen rationalen Diskurs, was die Erfolgsgeschichte einiger Begriffe nur begünstigte. Die Begriffe, herabgesunken zu Schlagwörtern, entwickelten eine eigene Dynamik. Der Umgang mit ihnen ver-
Dilthey (1982b) 144. Dilthey (1982c) 360. Schefold (2005) 13.
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schleierte dabei häufig die wissenschaftliche Problematik. So blieb etwa ungeklärt, welchen Beitrag die Wissenschaft zur Bestimmung von Werten und ihrer Geltung leisten kann. Der Versuch des Soziologen Max Weber, den Wertebegriff aus der Wissenschaft zu verbannen, blieb weitgehend folgenlos. Er war der Meinung, „daß es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.“¹³ Es ist „intellektuelle Rechtschaffenheit: einzusehen, daß Tatsachenfeststellungen, Feststellung mathematischer oder logischer Sachverhalte oder der inneren Struktur von Kulturgütern einerseits, und andererseits die Beantwortung der Frage nach dem Wert der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte und danach: wie man innerhalb der Kulturgemeinschaft und der politischen Verbände handeln solle, – daß dies beides ganz und gar heterogene Probleme sind.“¹⁴ „Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, daß ‚Weltanschauungen‘ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren.“¹⁵ „Die Geltung solcher Werte zu beurteilen ist Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber nicht Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft.“¹⁶ Zwar waren die Einwände Webers hermeneutisch zutreffend, aber sie blieben weitgehend folgenlos; vielmehr provozierten sie entschiedenen Widerspruch. Im Zeichen der neuen Hermeneutik profilierten sich zunächst vor allem Stefan George und seine Anhänger als Gegner und Verächter des Historismus.¹⁷ Sie setzten nicht mehr auf die historische Rekonstruktion als Mittel der ‚objektiven‘ Erkenntnis des „Griechentums“, sondern auf ‚Intuition‘, ‚Erleben‘, ‚Erlebnis‘, ‚Gefühl‘, ‚Anschauung‘, ‚Erleuchtung‘ oder ‚Schau‘ als alternative subjektive und zugleich irrationale Formen der ‚Erkenntnis‘. Allerdings erkannten einige Georgeaner bald, dass sie mit diesem Wissenschaftsverständnis keine Chance hatten, ihr Ziel zu erreichen, sich im Rahmen der Wissenschaften an den Universitäten durchzusetzen. Heinrich Friedemann wies in seiner Dissertation über Platon
Weber (1985a) 148; Germer (1994) 92. Weber (1985b) 601– 602. Weber (1985a) 154; Germer (1994) 95. Weber (1985a) 152; Germer 92– 93. Kolk (2012) 585 – 606.
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(1914) zumindest theoretisch einen Weg aus diesem Dilemma, indem er dem historistischen Wissen als Vorbereitung des Verstehens durch Intuition propädeutischen Wert beimaß. Das historistische Wissen wurde als „weg zur pforte“ des „geistigen Lebens“ gewertet: „Wie das leben selber der sammlung von tatsachen entgleitet und sich nur dem glühenden herzen bietet, so ist auch das griechentum mit wissen nicht zu fassen.Wissen schafft den weg zur pforte, den einlass gewährt nur die verwandtschaft des geistigen lebens.“ Und diese Verwandtschaft wird erkannt oder erfasst durch intuitives Nacherleben. Dieses Nacherleben hat Folgen für das Leben, denn die Metapher „einlass“ bedeutet Einlass ins Leben: „So will auch diese rede ein bild, nicht nur ein wissen sein, nicht kenntnis mehren sondern das leben verwandeln, wo es noch fähig ist wahrhaft platonisch zu werden: gedachtes geschautes verdichten zu werk und tat.“¹⁸ Die neue Wissenschaft als „Führer zur Tat“ wurde zur Bildungs- und Lebenswissenschaft. George selbst hat bei aller Skepsis gegenüber dem Wert des Historismus Friedemanns Rettung des Positivismus zwar mehr oder weniger deutlich unterstützt und die positivistische Quellenarbeit als Mittel wissenschaftlicher Diskursfähigkeit anerkannt, aber auch immer wieder vor einer Überbewertung philologischer Arbeit gewarnt, so auch in dem Gedicht An Gundolf (1899),¹⁹ in dem das historische Wissen zugunsten der Darstellung durch die Dichtung abgewertet wurde: „Warum so viel in fernen menschen forschen und in sagen lesen […] / Wenn selber du ein wort erfinden kannst.“ Auf jeden Fall wies Friedemann mit der Unterscheidung von traditionellem historistischem Wissen und neuem intuitivem Verstehen den Georgeanern einen Weg, sich im Bereich der traditionellen Wissenschaftskultur der Universitäten einzunisten. Und es gelang nach dem Weltkrieg eine Unterwanderung der Universitäten. Friedrich Gundolf hatte bereits 1916 eine außerordentliche Professur in Germanistik in Heidelberg übernommen, wo er auch 1920 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Und an derselben Universität konnte sich Edgar Salin für das Fach Nationalökonomie mit der Schrift Platon und die griechische Utopie (1921) habilitieren und sich darin auf Grundüberzeugungen des Georgekreises berufen.²⁰ Allerdings gab es auch erhebliche Widerstände. Nun machten die Georgeaner in der Tat den Hütern der bewährten auf Rationalität und Argumentation aufbauenden Wissenschaftspraxis die Abwehr bisweilen zu leicht, da sie das historische Wissen nicht immer zur Kontrolle und Korrektur ihrer Intuitionen einsetzten und die bewährte wissenschaftliche Redlichkeit ihrer ‚Erleuchtung‘ opferten.
Friedemann (1914) 139. Groppe (1997) 627– 629; Stiewe (2011) 138 – 145. Böschenstein u. a. (2005).
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4 Der neue Philhellenismus 4.1 Der Irrgarten der Weltanschauungen Unter dem Eindruck der Kulturkrisenstimmung und zu ihrer Überwindung kam es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zur Entfesselung des weltanschaulichen Denkens, die zu ganz heterogenen, vor allem idealistischen und utopischen Weltanschauungslehren führte. Es setzte ein offener Wettbewerb neuer und bisher wenig erfolgreicher oder unterdrückter Weltanschauungen ein. Die alten Modelle hatten ausgespielt. Die neuen Lehren verstanden sich entweder als reaktualisierte traditionelle Modelle oder als Gegenmodelle zu traditionellen historisch begründeten Mustern. Was da aus der Pandorabüchse der Weltanschauungen als Heilmittel zur Überwindung der Krise angeboten wurde, war äußerst schillernd, versetzt meistens mit antiken Anleihen. Es konkurrierten u. a. synkretistische religiöse Weltanschauungen mit antikem hermetischem Hintergrund sowie orientalische, dezidiert antieuropäische Weisheitslehren buddhistischer und hinduistischer Prägung miteinander. Zum Angebot gehörten etwa der Monismus von Ernst Haeckel, die Theosophie von Helena Petrowna Blavatsky (mit Isis unveiled, 1875, und mit The Secret Doctrine, 3 Bde., 1888 – 1897), die Anthroposophie von Rudolf Steiner, Die Schule der Weisheit von Hermann Graf Keyserling, die Lebensreformbewegung als Gesellschaftreform,²¹ vor allem aber der Sozialismus in unterschiedlichen Spielarten, aber auch expressionistische und futuristische Modelle. Außerdem formierten sich generationsspezifische Rückgriffe auf die Antike, so die Jugendkulturbewegung um den Schulreformator Gustav Wyneken in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf ²² und die Jugendbewegung des Wandervogels ²³. Ihnen allen war der Traum von einem neuen Menschen gemeinsam. Angesichts der Fülle heterogener Weltanschauungslehrern als Ausdruck eines Wertepluralismus stellte Wilhelm Dilthey bereits 1903 ratlos die Frage: „wo sind die Mittel, die Anarchie der Überzeugungen, die hereinzubrechen droht, zu überwinden?“²⁴ Eine bedeutende Rolle in diesem Weltanschauungswettbewerb spielten seit Ende des Jahrhunderts explizite philhellenistische Modelle von unterschiedlicher Art. Einflussreich waren besonders der antiklassizistische Philhellenismus Hugo von Hofmannsthals, der Platonismus des Marburger Neukantianismus sowie der
Sünderhauf (2004) 139 – 239. Groppe (2005). Cancik (2001). Dilthey (1982a) 9.
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Neoklassizismus Stefan Georges und der Georgeaner, der auch wesentlich ein Platonismus war. Andere an der Antike orientierte Zugriffe wie der archaistische Philhellenismus eines Rainer Maria Rilke mit dem Sonett Archaischer Torso Apollos (1908) und der Reise-Philhellenismus eines Gerhart Hauptmann (Griechischer Frühling, 1908) oder eines Hugo von Hofmannsthal (Augenblicke in Griechenland [1908 – 1914], 1924) zeigen das weite Spektrum der neuen Griechenrezeption. Bei allen Unterschieden im Einzelnen waren sich die modernen Philhellenen einig in der Ablehnung des Historismus als eines Mittels zur Erkenntnis der Antike und in dem Bekenntnis zu dem Stammvater des Antihistorismus Friedrich Nietzsche. Geradezu modisch wurden Modelle, die Nietzsches neue Klassizität der Griechen in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik mit der Polarität des Apollinischen im Sinne von Maß, Form und Harmonie und des Dionysischen im Sinne von Entgrenzung, Orgiasmus und Ekstase als Zauberformel für das Verständnis der griechischen Kultur entdeckten und produktiv adaptierten, dabei häufig dem Phänomen des Dionysischen als Merkmal der griechischen Kultur den Vorzug gaben. Zwar hatte der Historismus mit der Erschließung einer unendlichen Fülle von Sachverhalten und Tatsachen die Kenntnis dieser ‚dionysischen‘ Phänomene gefördert, aber nach seinem Selbstverständnis hatte er kein Interesse daran, sie als besonderes Merkmal für das Verständnis der griechischen Kultur einzusetzen. Das taten die Außenseiter der Altertumswissenschaften und die wissenschaftlich Verfemten. Auf sie stützte sich Hofmannsthal ausdrücklich. So zählte er Johann Jakob Bachofen, Jacob Burckhardt, Fustel de Coulanges und Erwin Rohde unter die „großen Intellektuellen des letzten Jahrhunderts, die uns eine dunklere und wildere Antike enthüllt haben“, „unvergleichliche Interpreten des dunklen Untergrundes der griechischen Seele, starke Fackeln, die eine Gräberwelt aufleuchten ließen.“ ²⁵ Sie alle hatten das Ihre dazu beigetragen, den Glauben an die Idealität der Griechen im Sinne des Neuhumanismus zu erschüttern und die alte Sehnsucht nach den Griechen zu vertreiben. Da diese in der Mehrzahl – mit Nietzsche an der Spitze – im Namen der Wissenschaft aus dem Reich der Wissenschaft verstoßen waren, nahmen die Altertumswissenschaftler und Humanisten den neuen Philhellenismus kaum wahr oder lehnten ihn kategorisch ab. Zwar wurde diese Ausgrenzung im Namen des Historismus ausgesprochen, da sich der neue Philhellenismus nicht um die ‚objektiven‘ Erkenntnisse der Wissenschaft geschert habe, aber sie war auch wesentlich begründet durch den Verrat Nietzsches und Burckhardts am Griechenbild des Klassizismus, denn die innere emotionale Bindung der Altertumswissenschaftler an den Klassizismus
Hofmannsthal (1924) Kap.1.
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hatte sich unter der Oberfläche gehalten. Gerade Wilamowitz zeigte diesen Widerspruch seit seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche, dem er den Abfall von Winckelmanns Griechenbild vorgeworfen hatte. In seinem Herzen war er ein Klassizist geblieben, für den „das reine beglückende Anschauen des in seiner Wahrheit und Schönheit Verstandenen“ höchstes Ziel der Wissenschaft blieb²⁶ und der für diese „Wahrheit und Schönheit“ auch immer wieder warb. Unter solchen Voraussetzungen befremdete die traditionellen Anwälte der Antike der Antiklassizismus eines Hugo von Hofmannsthal, der mit der Rezeption der fremden ‚dionysischen‘ Antike in der Elektra (nach der Elektra des Sophokles) (1903) einen Gegenentwurf zu der nach dem Modell Winckelmanns gestalteten ‚apollinischen‘ Iphigenie Johann Wolfgang von Goethes in der Iphigenie auf Tauris auf die Bühne brachte, dessen ‚dionysischer‘ Charakter in der Vertonung als Oper von Richard Strauss (1909) noch einmal verstärkt wurde. Das ‚Dionysische‘ wurde zum Pathologischen. Und die „hysterische und ekstatische“, „gleichermaßen grausam-archaische wie neurotisch-moderne“ Elektra wurde zum Beispiel für die Zerrissenheit des modernen Lebens²⁷ und dadurch Ausdruck der modernen Sinnkrise.
4.2 Der Platonismus im Rahmen des Marburger Neukantianismus Der Platonismus des Marburger Neukantianismus trug durch Hermann Cohen und Paul Natorp direkt und indirekt wesentlich zur Entwicklung des modernen pädagogischen Platonismus bei, der durch die Georgeaner und Jaeger regelrecht pädagogische Mode wurde. Unabhängig von der im Schatten Nietzsches stehenden Rezeption der Antike führte der Neukantianismus gegen den Historismus zur Erneuerung des Platonismus. Der Neukantianismus gab sich nicht damit zufrieden, dass die antike Philosophie zur Philosophiegeschichte herabgesunken war und dass Platon im Laufe des Jahrhunderts in die unphilosophischen Niederungen positivistischer Textkonstitution abgedriftet war und dabei sein geistiges Potential für die Gegenwart eingebüßt hatte. In Marburg stand Platon – so die Erfahrung des 18jährigen Jaeger im ersten Semester – im Mittelpunkt des geistigen Lebens der Universität. Unter dem Einfluss dieses Platonismus vollzog sich die „Wendung“ Jaegers zur Philosophie.²⁸ Der zeitgenössischen Wahrnehmung nach
Wilamowitz (1921) 1; Stiewe (2011) 180. Riedel (2000) 278. Jaeger (1960) XIII.
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war der Platonismus zwar bestimmt durch die Erkenntnistheorie auf der Grundlage der platonischen Ideenlehre,²⁹ aber Natorp hatte auch eine auf der Erkenntnistheorie gründende Sozialpädagogik entworfen, mit der er an die pädagogischen Grundvorstellungen Platons in der Politeia anknüpfte.³⁰ In der Bindung des Staates an die Idee des Guten erkannte er das Besondere der Philosophie Platons. Für Natorp war Platon der „tiefste Pädagog des Altertums.“ ³¹ Damit erneuerte er ausdrücklich das Urteil Jean-Jacques Rousseaus in Émile ou De l’éducation (1762) (B.1) über Platons Politeia: „C’est le plus beau traité d’éducation qu’on ait jammais fait.“ Ein solches Urteil verhinderte aber nicht eine grundlegende Kritik an Platon,³² nämlich an der Beschränkung des „Erziehungsplans“ auf die „regierende Klasse“. Gegen den Historismus forderte Natorp programmatisch die Erneuerung der modernen Kultur durch die Rezeption der griechischen Kultur:³³ In der That nicht darin allein erkennen wir den Grund, unsere höhere Allgemeinbildung auf die Kenntnis der alten und vorzugsweise der griechischen Kultur geradezu zu gründen, daß sie eine der historischen Quellen unserer Kultur und zwar eine der hauptsächlichsten ist; sondern darin zugleich, daß genau die inhaltlichen Grundelemente, aus denen die menschliche Kultur, wie wir sie auf dem heute erreichten Standpunkt überhaupt nur zu begreifen vermögen, sich aufbaut und gleichsam konstruieren läßt, nirgends so rein, so einfach und zugleich so vollzählig zu Tage liegen wie in ihr. Man darf ruhig sagen, daß ihr darin eine typische Bedeutung zukomme. […] [Wir sehen daher] die Vollendung menschheitlicher Kultur [nicht] hinter uns, in dem verlorenen Paradies der Griechenwelt, sondern sie liegt, als die ewige Aufgabe des Menschengeschlechts, allzeit vor uns; aber die erzeugenden Kräfte dieser menschheitlichen Kultur, so wie wir sie bisher zu begreifen vermögen, sind an keiner anderen Epoche ihrer Entwicklung in gleicher Reinheit und Ursprünglichkeit aufzuweisen und zur Erkenntnis zu bringen, wie an der Kultur der Griechen.
Natorps Aktualisierung der platonischen Philosophie gab der Rezeption Platons neue Impulse. Jaeger fand hier seinen Weg zu einer philosophischen Philologie bzw. zu einer philologischen Philosophie. Und unter dem wissenschaftlichen Schutzschild von Natorp konnten die Georgeaner Heinrich Friedemann³⁴ und Kurt Hildebrandt³⁵ durch ihre philosophischen Dissertationen ihr Platonverständnis wissenschaftlich legitimieren und die Platonrezeption im George-Kreis steuern.
Natorp (1903). Natorp (1899); Natorp (1922); Follak (2005) 53 – 115. Natorp (1901) 10. Natorp 1899, 158 – 159. Natorp (1901) 11– 12. Friedemann (1914). Hildebrandt (1922).
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4.3 Der Neoklassizismus und Platonismus Stefan Georges und der Georgeaner³⁶ Der Philhellenismus Stefan Georges und seines Kreises – u. a. mit Friedrich Wolters, Friedrich Gundolf, Kurt Hildebrandt, Kurt Singer und Heinrich Friedemann – bedeutete eine Reaktualisierung des neuhumanistischen Griechenbildes und war daher konsequent antihistoristisch eingestellt. Im Unterschied zu Hofmannsthals Präferenzen für die ‚dionysische‘ Antike, die für einen idealistischen Humanismus nicht recht verwertbar war, hatten George und die Georgeaner wesentlichen Anteil an der Entstehung eines neuen idealistischen Humanismus und leiteten wieder die „Ehrfurcht“ vor den Griechen ein, die der Historismus verloren hatte. Zwar war der George-Kreis keineswegs homogen, aber er erhielt durch seinen charismatischen Führer George einen ideologischen Zusammenhalt. Mit George kehrten die Griechen eines Winckelmann, eines Goethe und eines Wilhelm von Humboldt wieder zurück. Das waren die alten ‚apollinischen‘ Griechen des Neuhumanismus. Aus ihnen wurden jetzt die neuen ‚apollinischen‘ Griechen Nietzsches, die die ‚dionysischen‘ Kräfte des Griechentums gebändigt hatten. Zum Interpreten des Griechenverständnisses Georges im Sinne Nietzsches wurde Gundolf:³⁷ „Alles bei George drängt zur gestalt, ja zur organisation. Für ihn sind die Griechen nicht so sehr das volk der Titanen und der dionysische taumel als die ausbildner der vollendeten leiblichkeit: wobei er freilich weiss“ – und hier paraphrasiert Gundolf Nietzsche³⁸ – „wie sehr zu diesem höchsten vorausgegangenes ringen nötig war und wie sehr gestalt und schönheit erst preis furchtbarer kämpfe und überwältigungen ist. […] George kommt vom chaos zur form.“ Gestalt gewann dieses Griechentum für George in der griechischen Skulptur, die als die „bisher reinste Form des ‚ewigen Menschentums‘ „ zu gelten habe.³⁹ Dabei erhielten die archaischen Statuen, repräsentiert v. a. durch die sog. Ägineten, die Skulpturen des Aphaia-Tempels in Ägina aus der Zeit um 500 v.Chr. (München, Glyptothek), eine herausragende Bedeutung, mit ihnen auch die spätarchaische Dichtung (Pindar, Aischylos)⁴⁰ und schließlich auch der Philosoph Platon. Die ‚apollinischen‘ Begriffe Nietzsches „Schönheit“ und „Maß“ wurden zentrale Begriffe, mit Verweis auf die griechische Kalokagathia als vollkommene Einheit von Körper/Leib und Geist/Seele.
Seubert (2010). Gundolf (1910) 26 – 27. Nietzsche (1994 120 – 123. Sünderhauf (2004) 219. Stiewe (2011) 105.
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Programmatische schwärmerische und enthusiastische Äußerungen vor allem von George selbst in den Blättern für die Kunst über die Art und Funktion des Griechentums erhielten für den Kreis dogmatische Bedeutung. Dieses sollte Medium der Erneuerung der Bildung werden:⁴¹ Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel: dass unsre jugend jezt das leben nicht mehr niedrig sondern glühend anzusehen beginnt: dass sie im leiblichen und geistigen nach schönen maassen sucht: dass sie von der schwärmerei für seichte allgemeine bildung und beglückung sich ebenso gelöst hat als von verjährter lanzknechtischer barbarei: dass sie die steife gradheit sowie das geduckte lastentragende der umlebenden als hässlich vermeidet und freien hauptes schön durch das leben schreiten will: dass sie schliesslich auch ihr volkstum gross und nicht im beschränkten sinne eines stammes auffasst: darin finde man den umschwung des deutschen wesens bei der jahrhundertwende.
Als „Losung“ galt „Hellas ewig unsre liebe“ (Teppich des Lebens, Vorspiel VII, vor August 1899). Dieses Suchen „im leiblichen und geistigen nach schönen maassen“ bildete auch die Grundlage des allerdings nicht von George gezeichneten Merkspruchs Das Hellenische Wunder, ⁴² der mit pathetischer Konnotation die GriechenRezeption des Klassizismus als eine „durchdringung, befruchtung, eine Heilige Heirat“ zwischen Griechen und Deutschen bezeichnete. Indem das Griechentum zur normativen Lebensform einer neuen deutschen Jugend wurde,⁴³ erhielt es als Medium der Bildung eine zentrale Bedeutung der ästhetischen und kulturreformerischen Bewegung der Georgeaner. Mit ihrer Konzeption des Griechentums besetzten die Georgeaner altes humanistisches Terrain neu. Sie übten damit seit der Jahrhundertwende eine heterogene Wirkung aus und polarisierten gleichzeitig den öffentlichen Diskurs. Dieser allgemeine und eher abstrakte Philhellenismus wurde ideologisch durch einen Platonismus aufgerüstet.⁴⁴ Dabei musste man sich von der zwiespältigen Bewertung Platons durch Nietzsche lösen. Vorbereitet wurde der neue Platonismus durch George selbst, der sich seit etwa 1907, dem Erscheinungsjahr des Siebenten Ring, zunehmend als Wiedergänger Platons, als ein Plato redivivus, stilisierte oder als solcher stilisiert wurde. Sein Freundeskreis verstand sich zunächst auf Anregung von Wolters nach der Politeia Platons als „Der Staat“, woraus später das „Geheime Deutschland“ wurde. Die Gesprächskultur des Kreises spiegelte die Gesprächskultur der platonisch-
Blätter für die Kunst (1897) 4. Blätter für die Kunst (1910) 2. Gert Mattenklott (2001). Rebenich (2008).
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sokratischen Dialoge.⁴⁵ Und der Erkenntnisprozess des Philosophierens wurde am Beispiel der Platonischen Ideenschau zur erlebnishaften Schau.⁴⁶ Dieser neue Platonismus erhielt seine wissenschaftliche Grundierung durch die Platon-Dissertation von Friedemann,⁴⁷ der, gleichaltrig mit Jaeger, zwar in Marburg bei Natorp studiert hatte, aber gegen diesen ein neues Platonbild entworfen hatte. Diese Dissertation, wenige Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschienen und damit kurz vor der Baseler Antrittsvorlesung Jaegers (18. Dezember 1914), erhielt dogmatische Bedeutung für die Georgeaner und steuerte ihr Selbstverständnis. Platon wurde als Dichter gefeiert, dessen Denken nicht so sehr durch die Vernunft, als vielmehr durch die μανία (manía), durch den dichterischen ‚Wahnsinn‘ bestimmt war. Platon wurde „der sänger und seher“.⁴⁸ Und der Entwurf seines Staates in der Politeia wurde verstanden als „kultische Gemeinschaft“ von Philosophenkönig und Jüngern, die durch den Eros zusammengehalten wird. Platons Schrift Politeia wurde unter dem Leitbegriff der Paideia/Erziehung zur Programmschrift eines neuen politischen Denkens. PlatonSokrates, der Dichter, Erzieher, Staatsdenker und ‚Erotiker‘, wurde der „unvergängliche vater geistigen reiches.“⁴⁹ Friedemanns Platonbuch leitete einen neuen pädagogischen Platonismus ein, dem dann in den Zwanziger Jahren Jaeger verpflichtet war.
5 Die Altertumswissenschaften und der Humanismus in der Zeit der Kulturkrise 5.1 Bis zum ersten Weltkrieg Obwohl die Altertumswissenschaften und der Humanismus als Teil der Krise galten, hatten diese lange und beharrlich dem zeittypischen Krisengefühl widerstanden. Die Gründe lagen einmal in der Geltung des historistischen Wissenschaftsideals, außerdem nicht unwesentlich in den dominanten Wissenschaftlern, die dem Historismus ein Gesicht gegeben hatten, an Mommsen und seinem Schwiegersohn Wilamowitz, die durch ihre Leistung und ihre Persönlichkeit regelrecht einschüchternd wirkten, zum andern an den Gegnern des
Mattenklott (2001) 243 – 244. Hildebrandt (1911) 91; Groppe (2002) 39. Friedemann (1914). Friedemann (1914) 138. Friedemann (1914) 138.
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Historismus und den Leitfiguren des neuen Denkens, namentlich an Friedrich Nietzsche und Jacob Burckhardt, die ihr wissenschaftliches Prestige nach dem Verständnis der Historisten verspielt hatten. Mit Nietzsches philosophischer Deutung des Griechentums in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) hatte der 21jährige gerade promovierte Wilamowitz im Namen der historistischen Wissenschaft hochmütig in einem Pamphlet abgerechnet und ihn aus der Wissenschaft exkommuniziert (1872/73), und Burckhardt, einem Erzfeind Mommsens, hatte er postum bescheinigt, dass seine Griechische Culturgeschichte (1898 – 1902) „für die Wissenschaft nicht existiert“, weil sie „veraltet“ sei.⁵⁰ Und da viele auch noch bei Wilamowitz in die Lehre gegangen waren, war dieser zum wissenschaftlichen Übervater geworden. Ein Bekenntnis zu den Schlüsselfiguren des Antihistorismus hielt man für wissenschaftlichen Selbstmord und zugleich für Vatermord. Auch der Humanismus war gegen das Krisenvirus immun. Er hatte sich unter dem wissenschaftlichen Protektorat des Historismus gut eingerichtet und durch die programmatische Implementierung realistischer Bildungsinhalte seine bewährte Anpassungsfähigkeit bewiesen, so dass vorübergehend für Entspannung an der Bildungsfront gesorgt schien. Diese realistischen Bildungsinhalte waren durch den Historismus sichtbar geworden, der den Realismus der Antike zu Lasten des alten Idealismus entdeckt hatte und den Wilamowitz durch sein Griechisches Lesebuch (1902) für eine modernisierte humanistische Bildung stark gemacht hatte. So war die humanistische Bildung als höhere Allgemeinbildung trotz der Einschränkungen seit der Preußischen Schulkonferenz von 1900 nicht wirklich gefährdet. Wenn auch Wissenschaft und Humanismus zunächst kein Krisenbewusstsein entwickelten, so nahmen sie seit der Jahrhundertwende, als die Kritik an Wissenschaft und Humanismus anschwoll, doch immer häufiger den Antihistorismus wenigstens wahr, ohne allerdings seine Ursachen zu erkennen oder auf ihn zu reagieren. So erkannte der bedeutende Berliner Klassische Philologe Hermann Diels⁵¹ in Nietzsche den „Bekämpfer der Wissenschaft“ und plädierte gegen den modischen Trend, die historischen Wissenschaften in Bildungswissenschaften zu transformieren, entschieden für „die gelehrte Forschung um ihrer selbst willen ohne praktische und pädagogische Nebenabsichten.“ Aber trotz der Abschottung drang der Antihistorismus in das geistige Umfeld des Historismus ein. Das geschah vor allem in Berlin, der Kapitale des Historismus durch die Universität und vor allem durch die Akademie, einen Großbetrieb des
Griechische Tragödien (1900) 6 – 7. Diels (1902), 30 – 31; 42.
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Historismus. Hier berührten sich schon räumlich der expansiv-subversive Antihistorismus Nietzsches und der Nietzscheaner – mit den Georgeanern an der Spitze – und der Historismus, für den nicht nur in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, sondern auch in der allgemeinen kulturellen Öffentlichkeit Wilamowitz durch Vorträge und durch Aufführung griechischer Tragödien stand. Dieser geriet daher seit der Jahrhundertwende zunehmend ins Visier der Antihistoristen. Als Jaeger nach einem einsemestrigen Studium in Marburg seit dem Wintersemester 1907/8 sein Studium in Berlin als Schüler von Wilamowitz fortsetzte, konnte er diese antihistoristischen Tendenzen nicht ignorieren. So veröffentlichte 1908 Ludwig Hatvany das Pamphlet Die Wissenschaft vom Nicht Wissenswerten, eine literarisch gelungene Satire auf die historistische Philologie in Lehre und Forschung in Berlin mit ihren älteren und jüngeren Protagonisten Adolf Kirchhoff, Johannes Vahlen (unter dem Pseudonym Woepke), Diels und Wilamowitz. Grundlage der Satire waren Hatvanys Erfahrungen während seines einsemestrigen Studiums in Berlin (SS 1906), für das sich der nach einem Studium in Budapest und Freiburg 1905 in historistischer Klassischer Philologie promovierte österreichische Ungar einschrieb, um sich für die wissenschaftliche Karriere zu qualifizieren. Seine frühere Skepsis gegenüber dem Sinn historistischer Philologie kam aber erst angesichts der Vorlesungspraxis in Berlin voll zum Durchbruch. Er verzichtete auf eine weitere wissenschaftliche Qualifizierung zu Gunsten der Satire. Indem er in Übereinstimmung mit Kategorien des modernen Dichtungsverständnisses eines Dilthey und George den Erlebnis- und Kunstcharakter der Literatur sowie den Genuss des Lesers zum Maßstab des Verständnisses machte, hatte er leichtes Spiel, mit der Praxis des historistischen Umgangs mit Literatur abzurechnen:⁵² […] zum Teufel mit […] all jenen Trödlern der Wissenschaft, Dichternervenspaltern, Dokumentenschnüfflern, Radizesrasplern! Die ganze Bande muß ich mir erst vom Hals schaffen, damit ich an den Dichter selbst gelange, ihn von Angesicht zu Angesicht sehe, sein Lachen höre.
Während das Pamphlet in der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit begeistert und mit Befriedigung aufgenommen wurde, gab es in den Altertumswissenschaften keine nennenswerten öffentlichen und veröffentlichten Reaktionen, auch keine entrüsteten. Hatte Hatvany in seiner Satire Wilamowitz noch einigermaßen geschont, so gingen die Georgeaner seit 1910 aggressiv mit Wilamowitz um, als sie sich mit der Hatvany (1908) 4.
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Gründung des Jahrbuchs für die geistige Bewegung, einer exklusiven Zeitschrift zu aktuellen Problemen der Literatur und Kunst, der Philosophie, der Geschichte und der Wissenschaften, u. a. als Speerspitze des Antihistorismus formierten.⁵³ Es setzte eine wissenschaftliche Fehde ein, die bis zum Tode von Wilamowitz andauerte. Es war der Georgeaner Hildebrandt, ausgebildeter Mediziner und Psychiater, zunächst autodidaktischer Philosoph, dann 1922 in Philosophie promoviert, der sie einleitete und auch am Leben erhielt.⁵⁴ Er hatte im 16. Lebensjahr bei der Lektüre von Nietzsches Geburt der Tragödie „einen Erweckungsrausch empfunden“, und danach war ihm – trotz Nietzsches Vorbehalten gegen PlatonSokrates – „Platon zum Erlebnis“ geworden. Vorbelastet durch das Pamphlet des jungen Philologen Wilamowitz (1872/73) gegen Nietzsches Geburt der Tragödie (1872) rechnete als späte Rache Hildebrandt 1910 in dem Jahrbuch für die geistige Bewegung ⁵⁵ in dem Rezensionsaufsatz Hellas und Wilamowitz. Zum Ethos der Tragödie mit Wilamowitz ab, als er bei seinen Tragödienstudien die seit 1899 erschienenen Tragödienübersetzungen des Philologen⁵⁶ auf ihr dem „Ethos der Tragödie“ angemessenes Verständnis überprüfte und sie wegen der Trivialisierung und Banalisierung des „Ethos der Tragödie“ für misslungen verhöhnte. Mit dem Begriff des Trivialen schloss Hildebrandt an Nietzsche an, der den Historisten, – in der Polemik Nietzsches: den ‚naiven Historikern‘– vorgeworfen hatte, „die Vergangenheit der zeitgemäßen Trivialität anzupassen.“⁵⁷ Eine solche Philologie sei nicht die Bewahrerin „göttlichen erbguts“, sondern „unfromme gelehrsamkeit“, sie sei „frevelhaft gegen Hellas“. Nicht sie stehe „an der pforte von Hellas“, sondern „Winckelmann, Herder, Goethe, Jean Paul, Hölderlin: In ihnen wirkten Dionysos und Apollo selbst, und darum sollen uns noch ihre irrtümer heiliger sein als unfromme gelehrsamkeit.“⁵⁸ Der Aufsatz, in verkürzter Form zuvor in den Grenzboten, einer meinungsbildenden national-liberalen Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst erschienen,⁵⁹ erregte in der literarischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit eine erhebliche Aufmerksamkeit, da sich ein philosophischer und altertumswissenschaftlicher Laie mit dem anerkannten König der Griechischen Philologie in einer außerordentlich aggressiven Form anlegte. Hildebrandt schickte den ganzen Band des Jahrbuchs sofort nach Erscheinen an Wilamowitz
Kolk (1998) 362– 375. Goldsmith (1985) 600 – 610. Hildebrandt (1910b). Griechische Tragödien (1899). Nietzsche (1980) 289. Hildebrandt (1910b) 70, 117. Hildebrandt (1910a).
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und verschärfte in seinem Begleitschreiben noch einmal den Ton: „[…] so sehr ich Ihre geistige Potenz bewundere, so verhasst sind mir Ihre geistigen Ziele.“⁶⁰ Mit dieser Polemik hatte Hildebrandt nicht nur „einen großen Gelehrten tief verletzt und empört“,⁶¹ sondern die Auseinandersetzung Georges und der Georgeaner mit dem Historismus um das richtige Verständnis der griechischen Antike hatte jetzt auch die wissenschaftliche Öffentlichkeit erreicht. Allerdings blieben zustimmende öffentliche Reaktionen angesichts des Prestiges von Wilamowitz aus, aber immerhin gab es positive mündliche und briefliche Reaktionen, vor allem aus dem Kreis der Kollegen, die nicht mehr bedingungslos zum Historismus standen und auch mit George als Dichter und neuidealistischem Denker sympathisierten. So teilten offensichtlich einige Kollegen von Wilamowitz das Urteil Hildebrandts über die Übersetzungen von Wilamowitz,⁶² so der Germanist und mit Wilamowitz befreundete Gustav Roethe, der George „als den größten Dichter der Zeit“ ansah und der die Promotion des bekennenden Georgeaners Gundolf mit der Arbeit Caesar in der deutschen Literatur (1903) gefördert hatte, dann auch der dem Historismus distanziert gegenüberstehende Historiker Hans Delbrück, Inhaber des Lehrstuhls von Heinrich von Treitschke, der Germanist Erich Schmidt, der den Wettstreit mit Wilamowitz um das prestigeträchtige Rektorat für das Jubiläumsjahr 1909/10 gewann, die Philosophen Max Dessoir und Georg Simmel „und andere“. Solche Zustimmungen zeigten, dass sowohl der Historismus als auch Wilamowitz selbst nicht mehr unumstritten war und dass George nicht mehr als exzentrischer Sonderling wahrgenommen wurde. Die Universität war infiziert von dem neuen Geist. Aus der Zunft der Altertumswissenschaftler schrieb immerhin der Münchener Gräzist Otto Crusius „einen impulsiv und herzhaft zustimmenden Brief“,⁶³ ging aber bald auf Distanz, als er erfuhr, dass Hildebrandt kein junger Zunftkollege, sondern Mediziner war. Dass Georgeaner ihre Freude an dem Pamphlet hatten, versteht sich von selbst. Besonders Gundolf war begeistert von der Polemik. Er schrieb Hildebrandt noch oft weitere „geistreiche Urteile und Scherze über Wilamowitz und verlangte, daß er noch im diesseitigen Leben seine Strafe haben müsse.“⁶⁴ Der Antihistorismus war in der Burg des Historismus angekommen. Unter dem Eindruck des Erfolgs des neuen Denkens in den Wissenschaften wich man gelegentlich doch ab von der Generallinie, den neuen Geist als Mode abzutun und guten Gewissens zu ignorieren. So empfahl von den Universitäts
Goldsmith (1985) 589. Hildebrandt (1965) 55. Hildebrandt (1965) 57. Hildebrandt (1965) 56 Anm. 13. Hildebrandt (1965) 55 Anm. 11.
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philologen der Gießener Otto Immisch, die „Gedankengänge und Neigungen der modernen Seele“ zur Kenntnis zu nehmen, um im Namen der Wahrheit „aufklärend und berichtigend“ zu wirken.⁶⁵ Gönnerhaft bescheinigte ihm daher Hildebrandt, dass er „ehrlich bemüht“ sei, „die neue Bewegung und die alte Methode der Philologie zum Ruhme der Antike zu vereinen.“⁶⁶
5.2 Seit dem Ersten Weltkrieg Es waren vor allem die begabtesten Schüler von Wilamowitz, die unter dem Eindruck des Erlebnisses des Ersten Weltkriegs in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist von dem umfassenden Krisenvirus erfasst wurden und dazu beitrugen, dass die Krise in Wissenschaft und Humanismus jetzt wahrgenommen wurde.⁶⁷ Jaeger, der unter dem Eindruck der Wissenschaftskrise ohnehin schon 1914 das Konzept einer neuen Philologie entworfen hatte, geriet in eine existentielle Krise, die er dann durch seine rastlose Tätigkeit nach dem Krieg mit der Weiterentwicklung der neuen Philologie und der Erneuerung des Humanismus überwand. Sein Brief vom 24. Juli 1917 an seinen Lehrer Wilamowitz zeigt diese existentielle Krise:⁶⁸ Von Woche zu Woche reißt dieser Krieg tiefer die Fundamente auf, darauf das Leben bisher gebaut war, und je prinzipieller und quälender ich persönlich als junger Mensch die Probleme durchleben und kämpfen muß, je weniger ich irgendwo Festes um mich und in mir gewahr werde, desto mehr verfalle ich dem Schweigen. […] Wenn ich hoffen darf, des inneren Widerstreits einmal glücklich mich [zu] entledigen durch eine feste Stellungnahme in der Welt, zu der ich mich durcharbeite, dann hoffe ich auch, in diesen Jahren des inneren Krieges u. des endlosen Lernens u. Belehrtwerdens etwas Nützliches erlebt zu haben.
Ähnlich wurde für Paul Friedländer, ebenfalls Schüler von Wilamowitz, der Krieg zu einem Schlüsselerlebnis. In einem Brief vom 4. Juli 1921 an seinen Lehrer formulierte er die Folgen der Krise für sein Wissenschaftsverständnis. In diesem Brief bekannte er seinen Verrat am Historismus und machte dabei Wilamowitz regelrecht zum Beichtvater:⁶⁹
Immisch (1911) 11. Hildbrandt (1930/33) 194. Vogt (1985). Calder (1983) 168. Calder (1980) 94– 96.
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Viel von dem Besten was ich habe, habe ich durch Sie. Aber was ich jetzt geworden bin – und das ist nun die Kehrseite – bin ich in vielen Jahren im Kampf gegen Sie oder vielleicht besser gegen den Wilamowitz in mir geworden. Hätte ich mich Ihnen früher nicht so stark ergeben, so wäre die Lösung nicht so schmerzlich gewesen. […] Soll ich die Namen nennen die diese Wendung brachten, so sind das (‚natürlich‘ werden Sie mit Recht bei den meisten sagen): Nietzsche, der seit meiner Jugend allmählich in mich eindringend meinen Gesamtblick auf das Leben bestimmte, dann im Besonderen meine Ansicht vom ‚Historischen‘ formen half. Dann Wölfflin und hinter ihm Burckhardt, die eine mir ganz neue in der Philologie mir nicht gebotene Forderung an das Begreifen eines ‚Werkes‘ stellten und in der bildenden Kunst die Erfüllung wiesen […]. Es sind noch andere verwandelnde Kräfte zu nennen, im allgemeinen die ‚Philosophie‘. Und in den letzten Jahren ist es [Stefan] George der die größte Erschütterung und die stärkste Umlagerung aller Kräfte gebracht hat. […] Vor allem aber weiß ich, daß die Philologie über der Mikroskopie des Einzelnen und dem Aufsuchen von Beziehungen […] arg versäumt hat nach dem Ganzen eines ‚Werkes‘ [und] einer ‚Gestalt‘ zu fragen. […] Dann aber hat der Krieg mich doch sehr verwandelt und ich konnte nicht wie andere 1919 da einsetzen wo ich 1914 aufgehört hatte. Ich stelle jetzt viel höhere Anforderungen an die Notwendigkeit die die Dinge für mich haben müssen. Auch möchte ich nichts mehr sagen was nicht in sich rund ist und Gewicht hat, möchte nicht Miscellen und Aufsätze schreiben weil gerade der Zufall mir irgend eine Beobachtung in den Weg geworfen hat.
Was Jaeger noch unterlassen hatte und was er auch später nicht tat, das holte Friedländer hier nach: Er nannte namentlich seine neuen geistigen Vorbilder und bekannte sich zu ihnen. Nicht nur die Altertumswissenschaftler verloren ihre alte Selbstsicherheit und gerieten in eine Sinnkrise, sondern auch die Träger der humanistischen Bildung, was bei der häufigen Personenidentität von Wissenschaftlern und Humanisten nicht überraschen kann. Allerdings war das Bewusstsein einer Krise im Humanismus stärker ausgebildet als in der Wissenschaft, weil für die aktuelle politische Krise der Nachkriegszeit mit Vorliebe die Bildung, und damit vor allem die humanistische Bildung, verantwortlich gemacht wurde. Dazu hatte sie selbst erheblich beigetragen, weil sie sich zu Beginn des Weltkrieges als Garantin der politischen und militärischen Überlegenheit Deutschlands eingebracht hatte. Dieser Anspruch der Bildung wurde nach der militärischen Niederlage und politischen Revolution zur schweren Erblast. Jetzt stand die humanistische Bildung als Allgemeinbildung, vor allem das Griechische als ihr „Herzstück“⁷⁰, auf dem Prüfstand, weil diese Bildung jetzt von den alten Gegnern in die Verantwortung für die Situation genommen wurde und zum Sündenbock wurde. Hier rächte sich die Überfrachtung der Bildung mit Ansprüchen, die sie nicht erfüllen konnte. Aber diese Überfrachtung entsprach der zeittypischen Überschätzung der Leistungen der Bildung für Gesellschaft und Staat. Dadurch geriet die Bildung 1918/1919 sofort
Giesecke-Teubner (1919) 3.
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ins Zentrum politischen Handelns. Carl Heinrich Becker, ursprünglich Orientalist mit dauerhafter Sympathie für die Georgeaner, seit 1919 Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium, 1921 und von 1925 – 1930 Kultusminister, forderte als wichtigstes „Heilmittel der gegenwärtigen Krise“ eine neue Erziehung, die wichtiger erschien als alle „politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen.“⁷¹ Als notwendige Bildung wurde vor allem eine neue nationale und politische Bildung gefordert. Dafür sollte nicht nur die Schule, sondern auch die Universität Verantwortung übernehmen. Bedroht war die humanistische Bildung aber nicht nur wegen ihres vermeintlichen Versagens, sondern auch weil sie den traditionellen staatlichen Schutz verloren hatte. Mit der Revolution war auch die Bildungspolitik in die Zuständigkeit des Reichstags und damit der weltanschaulich disparaten und unberechenbaren kontroversen Parteipolitik gefallen. Vor allem sah man in den sozialistischen Parteien zu Recht einen Gegner, und das um so mehr, als der neue Reichspräsident stolz darauf war, in „den Anschauungen des Sozialismus“ „aufgewachsen“ zu sein. Bisher war der Bildungssektor dem Zugriff des Reichstags entzogen und eine Angelegenheit der recht autonom handelnden Institutionen der Reichsverwaltung gewesen, die zwar dem Kaiser gegenüber verantwortlich war, aber trotz gelegentlicher Steuerungsversuche von dessen Seite für eine Kontinuität der Bildung gesorgt hatte. Jetzt war dieser Schutzschirm fortgefallen. Institutionell war unmittelbar vor allem die humanistische Bildung gefährdet, mittelbar aber auch die Altertumswissenschaften, deren starke Stellung in der Universität wesentlich eine Folge ihrer Verbindung mit den Bildungsinstitutionen war. Eine drohende Reichsschulkonferenz verhieß auch nichts Gutes. Auf jeden Fall formierten sich die Gegner und rüsteten auf. Die Bedrohung wurde im Lager des Humanismus als Herausforderung akzeptiert. Die Hüter der Tradition fanden schnell ihre Sprache wieder. Da hatten sie in ihren Vorgängern ein Vorbild, denn auch im 19. Jahrhundert war die humanistische Bildung kein Selbstläufer, sondern musste immer wieder gegen ihre Verächter legitimiert werden. Vielfältige Initiativen zur Rettung des Gymnasiums formierten sich jetzt zu einer gesamtdeutschen Bewegung. Eine regelrechte Kampagnenmaschine lief in kurzer Zeit an. So wurde bereits am 6. Januar 1919 ein Reichsausschuß zum Schutze des humanistischen Gymnasiums gegründet, dessen Entschließung zur Rettung des Gymnasiums bis zum 1. Mai von 100.000 Unterzeichnern befürwortet wurde;⁷² in vielen Städten entstanden nach einzelnen früheren Gründungen seit Anfang des Jahrhunderts jetzt vermehrt neue Vereini-
Preuße (1988) 104. Giesecke-Teubner (1919) 214.
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gungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, die auf lokaler Ebene öffentlich tätig wurden; auch die humanistischen Gymnasien selbst machten sich öffentlich bemerkbar. Außerdem entwickelten sich in den Universitäten und im Umfeld der Universitäten unterschiedliche Aktivitäten, die der Sicherung der humanistischen Tradition dienten. Schon 1919 erschien auf Initiative des Verlegers Christian Alfred Giesecke-Teubner der Sammelband Das Gymnasium und die neue Zeit, der 88 „Fürsprachen und Forderungen für seine Erhaltung und seine Zukunft“ präsentierte, sowohl von professionellen Anhängern der humanistischen Bildung wie von Professoren der Klassischen Philologie, Schulräten und Gymnasialdirektoren als auch von Wissenschaftlern unterschiedlicher geistes- und naturwissenschaftlicher Disziplinen, außerdem von Vertretern der Kunst, des Theaters, der höheren Staatsverwaltung, der Ingenieurwissenschaften, der Kirche, der Gerichte und des Bankwesens. Als Gegenstück der Wissenschaftler erschien noch im selben Jahr der Band Vom Altertum zur Gegenwart, der – so der Untertitel – „die Kulturzusammenhänge in den Hauptepochen und auf den Hauptgebieten“ von der Antike bis zur Gegenwart in 29 Skizzen plakativ formulierte und aus dem Wirkungszusammenhang zwischen Antike und Gegenwart die Geltung der Antike für die Gegenwart einforderte.⁷³ Mit dieser Funktion wurde der Band zur „Gegenrede“ zu Spenglers Geschichtsmodell im Untergang des Abendlandes, das die Kontinuität der Geschichte von der Antike bis in die Gegenwart leugnete und damit auch die Möglichkeit der Zukunftsbedeutung der Antike ausschloss:⁷⁴ Die Zukunft muß lehren, ob die im vorliegenden Werke vertretene Anschauung, daß die Kultur der europäischen Menschheit einer Kette gleicht, deren Glieder ineinander greifen, nicht doch den Vorzug vor der anderen verdient, daß die von eherner Notwendigkeit geschmiedete Kette zerreißt und an ihre Stelle eine fadenartige Parallelität auftauchender und versinkender Kulturphänomene treten läßt.
Der humanistische Diskurs der Zwanziger Jahre entwickelte sich dann verdeckt oder offen im Horizont und als Gegenrede von Spenglers Geschichtsphilosophie.⁷⁵ Aufgeboten zum Nachweis des Wirkungszusammenhangs zwischen Antike und Moderne wurden bewährte Leistungsträger der Wissenschaften, jüngere wie ältere. Eingeleitet wurde der Band durch Jaegers programmatischen Vortrag aus dem Winter 1919 Der Humanismus als Tradition und Erlebnis. ⁷⁶ Die übrigen 25 Beiträge behandelten die „Zusammenhänge im allgemeinen“ und „auf den ein
Giesecke-Teubner u. Norden (1919). Giesecke-Teubner u. Norden (1919) VII. S. oben Kap. 2. Jaeger (1960) 17– 30.
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zelnen Gebieten“ der Kultur, von Staat, Wirtschaft, Recht, Bildung, Sprache, Geschichte über Literatur, Kunst, Religion, Philosophie bis zu Mathematik, Physik, Astronomie, Geographie, Biologie, Chemie, Medizin und Technik. An den Bemühungen, mit der Krise konstruktiv umzugehen, war Wilamowitz nicht mehr beteiligt, obwohl er sich besonders seit seiner Berufung an die Berliner Universität im Jahre 1897 für die Geltung der Altertumswissenschaften in der Gegenwart und für ihre Bedeutung in der Bildung massiv und erfolgreich eingesetzt hatte. Er stellte sich, wie auch etliche Angehörige seiner Generation, trotzig gegen die neue politische und geistige Situation der Zeit:⁷⁷ Ich habe die Selbstzerstörung, Selbstentmannung meines Volkes erleben müssen. In der Ochlokratie und unter den feigen und feilen Schmeichlern, die sie in allen Ständen findet, ist für einen alten Mann, der sich seine Preußenehre von keinem Gott und keinem Menschen aus dem Herzen reißen läßt, kein Platz mehr. Er hat nur abzusterben. Aber das Reich der ewigen Formen, das Platon erschlossen hat, ist unzerstörbar, und ihm dienen wir mit unserer Wissenschaft: in seinen reinen Äther dringen die Miasmen der Verwesung nicht; […] Unter dem Zeichen Platons werde ich fechten, solange ich atme.
Und unter dem Zeichen seines Wissenschaftsverständnisses wurde er in den Zwanziger Jahren noch einmal außergewöhnlich produktiv⁷⁸ und setzte sich in der Universität gegen die neue Wissenschaft zur Wehr. So verhinderte er 1920 zusammen mit sechs weiteren Kollegen durch eine Art Sondervotum die Berufung des Georgeaners Gundolf auf einen germanistischen Lehrstuhl in Berlin mit der Begründung, dieser sei kein Wissenschaftler. Zwar konnte er noch als Emeritus 1927, zusammen mit seinem Nachfolger Jaeger, mit derselben Begründung die Habilitation in Philosophie seines Intimfeindes Hildebrandt gegen starke Widerstände in der Fakultät vereiteln, aber nicht dessen Ernennung zum Honorarprofessor für Philosophie durch den georgeanisch gesinnten Kultusminister Becker. Wilamowitz und der Historismus waren unzeitgemäß geworden. Wilamowitz erkannte das auch selbst. So schrieb er mit leichter Selbstironie in einem Brief vom 26. Februar 1931 an Stenzel, einen wissenschaftlichen Freund Jaegers: „Ich gehöre ja wohl noch in das gescholtene Jahrhundert des Historismus.“⁷⁹
Wilamowitz (1919) Nachwort. Henrichs (1995) 448 – 449. Calder (1979) 95 – 96.
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6 Werner Jaeger im Banne der Krise Jaeger war der erste aus der Zunft der Klassischen Philologen, der die Kritik des Antihistorismus vor dem Ersten Weltkrieg ernstnahm und auf sie mit der Konzeption einer neuen Philologie als Geistesgeschichte antwortete. Sein programmatischer Entwurf in der Baseler Antrittsvorlesung von 1914 wurde nach einer Revision im Jahre 1919 in der Zeit der Weimarer Republik wirksam und sicherte der Klassischen Philologie eine neue Modernität. Daneben wurde Jaeger in dieser Zeit zu einer Schlüsselfigur bei der Überwindung der Humanismus-Krise und gab dem Humanismus eine neue Chance. Jaegers Konzeptionen einer neuen Philologie und eines neuen Humanismus bedeuteten eine Reaktualisierung neuhumanistischer Positionen durch Elemente des aktuellen zeitgenössischen geistigen Umfeldes. Zu Ideengebern wurden vor allem Nietzsche, Burckhardt, Dilthey sowie George und die Georgeaner. Dabei stand er mit der Bewegung der Georgeaner in einer dauernden, aber eher verdeckten Konkurrenz um Anerkennung und Geltung.
6.1 Die Konzeption der neuen Philologie als Weltanschauungsphilologie in der Baseler Antrittsvorlesung (1914) Wenn auch die Kulturkrisenstimmung der Jahrhundertwende keine unmittelbare Wirkung auf das Studium Jaegers hatte, so war doch die Aufnahme des Studiums der Klassischen Philologie zusammen mit dem Studium der Philosophie,vor allem der Philosophie Platons, in Marburg ein Zeichen dafür, dass der Historismus, der sich dezidiert antiphilosophisch oder zumindest philosophiefern durchgesetzt hatte, seinen „existentiellen“⁸⁰ Bedürfnissen nicht genügte. Jaeger suchte nicht den antiken Realismus, sondern im Sinne eines idealistischen Humanismus die Antike wieder als Medium der Bildung, einen antiken „Führer“ für das Leben.⁸¹ Einen solchen Führer konnte der Historismus nicht aufbieten, da er den Idealismus des Neuhumanismus dem Realismus geopfert hatte. Aber Jaeger konnte sich nicht mit der in Marburg ohne historisches Netz betriebenen Philosophie anfreunden und wechselte bereits nach einem Semester nach Berlin, angelockt durch das Prestige und die Werke des Erzhistoristen Wilamowitz, dem das Philosophische fremd war, und bald gefangen von dessen Charisma. Die in Marburg sichtbar gewordene Spannung zwischen der historistischen Wissenschaft und Jaeger (1960) XI. Jaeger (1960) XIII.
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dem Humanismus wurde unter der beherrschenden Gestalt von Wilamowitz verdeckt, bestimmte aber die weitere Entwicklung Jaegers und entwickelte sich begrifflich zur Auseinandersetzung zwischen Philologie und Philosophie. Dabei nahm Jaeger in den nächsten Jahren die antihistoristische Bewegung, die Fülle von heterogenen und miteinander konkurrierenden Weltanschauungen um einen Platz in der Bildung sowie die Konzepte einer neuen Wissenschaft und ihre Verbindung mit der Bildung wahr. Und ausgerechnet er, von Wilamowitz überschwänglich als außergewöhnliche wissenschaftliche Begabung – „unsere große Hoffnung“⁸² – im Sinne des Historismus gelobt, schwor dem Historismus als erster der aufstrebenden Wissenschaftler öffentlich ab. Das geschah in der Vorlesung Philologie und Historie ⁸³, die Jaeger beim Antritt seiner außerordentlichen Professur in Basel am 18. Dezember 1914 hielt, räumlich getrennt von Wilamowitz und dem Zentrum des Historismus. Bemerkenswert waren Ort und Anlass, denn am selben Ort, der Aula des Museums in Basel, hatte am 28. Mai 1869 Nietzsche als außerordentlicher Professor für Klassische Philologie, frei vom Druck seines Leipziger Lehrers und Förderers Friedrich Ritschl, seine Antrittsvorlesung Homer und die Klassische Philologie (1869)⁸⁴ gehalten, die seinen Antihistorismus eingeleitet hatte und die mit der Umkehrung eines Satzes von Seneca (Epistulae morales 108,23) als Resümee endete: philosophia facta est quae philologia fuit (Zur Philosophie ist geworden, was Philologie gewesen ist). Auch sie bedeutete eine Art Vatermord, verübt an seinem Lehrer Ritschl, einem Frontmann des Historismus, der den 24 Jahre alten unpromovierten und unhabilitierten Nietzsche 1868 als wissenschaftliche Jahrhundertbegabung im Sinne des Historismus der Baseler Universität für eine Professur der Klassischen Philologie empfohlen hatte.⁸⁵ 45 Jahre später stand Jaeger im Alter von 26 Jahren nach Promotion und Habilitation an derselben Stelle und versuchte den Historismus aus der Krise zu führen, indem er der Klassischen Philologie ein neues Wissenschaftskonzept verordnete und dabei der Philologie wieder eine idealistische philosophische Grundlage gab, die ihr in der Zeit des Neuhumanismus Prestige verschafft hatte. Die Philologie wurde zur Geistesgeschichte. In dieser Funktion steuerte sie auch seinen neuen Humanismus. Die Konzeption war bestimmt durch die Herauslösung der Klassischen Philologie aus den Altertumswissenschaften als Geschichtswissenschaften, durch ihre spezifischen Objekte und ihre Funktion als eine von der Geschichtswissenschaft kategorial verschiedene Wissenschaft. Jaegers Ziel war, das verschüttete
Henrichs (1995) 452. Jaeger (1960) 1– 16. Nietzsche (1994) 9 – 30. Nietzsche (1994) 379 – 393.
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und durch den Historismus verlorengegangene idealistische neuhumanistische Bildungspotential der Antike zu reaktivieren, ohne den Historismus aufzugeben. Dabei usurpierte er zentrale Begriffe aus dem aktuellen Diskurs über die Grundlagen und Leistungen der Geisteswissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften. So übertrug er die Opposition vom „Erklären/Erkennen“ der Naturwissenschaften und „Verstehen“ der Geisteswissenschaften auf die von ihm eingeführte Polarität der Geschichtswissenschaft mit ihrem „Erklären/Erkennen“ und der Philologie mit ihrem „Verstehen“, die auf dem unterschiedlichen Umgang mit den antiken Texten beruhte. Mit dem Verstehensbegriff verband er in Übereinstimmung mit der neuen Hermeneutik der Geisteswissenschaften gegen den Historismus den Wertebegriff.⁸⁶ Während für die Geschichtswissenschaft die Texte Quellen für „Tatsachen“ sind, repräsentieren sie für die Philologie geistige „Werte“, und zwar „gewisse unvergängliche Werte der alten Kultur“⁸⁷ und begründen die Sonderstellung und auch den Vorrang der Philologie. Bei diesen Werten handelt es sich um „urbildliche“ „Schöpfungen des Menschengeschlechts“, „die die griechische Kultur zu reiner und ewiger Grundgestalt alles wahrhaft Menschlichen und Menschheitlichen geformt hat.“⁸⁸ Im Verstehen werden sie als Werte „anerkannt“ und „angeeignet“ und üben dadurch eine „erzieherische Wirkung“ aus.⁸⁹ Durch die neue Konzeption wurde die Philologie zu einer idealistisch humanistischen Wissenschaft, zu einer Bildungs- und Lebenswissenschaft, die wieder das „Große“ als Gegenstand der Wissenschaft sicherte und die Restituierung des Klassikbegriffs bedeutete. Die griechische Literatur der „klassischen“ Zeit, insbesondere die Dichtung und Philosophie, erhielten ihre Klassizität zurück. Das war ganz im Sinne Nietzsches und der modernen Nietzscheaner, unter ihnen vor allem der Georgeaner, durch die die ‚klassischen‘ Werke eine neue Klassizität gewonnen hatten. Mit der Anerkennung der Klassizität der griechischen Literatur erhielt diese Literatur den Charakter einer „Religion“⁹⁰, die, ganz im Sinne von Leitbegriffen der Georgeaner, „Verehrung“ und „Ehrfurcht“ einforderte, wie sie „dem Andächtigen vor dem Heiligtum“ ziemen,⁹¹ und die Philologie bzw. den Philologen zu ihrer „Priesterin und Wächterin“ machte.⁹² So erhielt die Philologie dieselbe Aufgabe,
S. oben Kap. 3. Jaeger (1960) 13. Jaeger (1960) 15. Jaeger (1960) 15, 13. Jaeger (1960) 16. Jaeger (1960) 29. Jaeger (1960) 15.
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die die Georgeaner ihrem Führer George als Dichter mit auf die Antike zurückgehenden Bezeichnungen wie Führer, Seher, Prophet, Priester zugewiesen hatten und die die Georgeaner auch für ihre Tätigkeit als Vertreter einer neuen Wissenschaft beanspruchten.⁹³ Das Verstehen der „unbegreiflich hohen Werke“ (Goethe, Faust I, 249) bezeichnete Jaeger⁹⁴ mit dem modischen, besonders von den Georgeanern eingesetzten hermeneutischen Begriff der „Schau“, der eine lange Vorgeschichte hat, nicht nur platonisch als Ideenschau (Schau des Schönen: Platon, Symposion 209e–212e) und aristotelisch als νόησις (noesis) im Sinne einer Erkenntnis durch unmittelbares „Erblicken“ und „Erfassen“ des ‚Wesens‘ von geistigen Werten, sondern auch mystisch mit antiintellektualistischer Tendenz: „Unmittelbar haucht das Leben das Leben an.“⁹⁵ Wenn auch das Verstehen als Schau das höchste Ziel der neuen Philologie war, so waren die Erkenntnisse des Historismus doch nicht wertlos. Das historische „Erkennen“, das „ganze historische Erkenntnismaterial“ war ein „Gerüst“⁹⁶, ein „Hilfsbau“, eine Voraussetzung zum Verstehen der Werte, dem „höchsten Ziel“ der neuen Philologie, und „zur höchsten Verlebendigung und Veranschaulichung der Überlieferung und ihrer ideellen Werte.“⁹⁷ Der Weg der Philologie führte also vom niedrigwertigen „Erkennen“ historischer Tatsachen zum höherwertigen „Verstehen“ der „ideellen Werte“. Hermeneutisch war allerdings die Verbindung des Historismus (Erkennen) mit dem Humanismus (Verstehen) zu einer neuen Philologie waghalsig, da vom Erkennen historischer Sachverhalte kein direkter Weg zu aktuellen Werten und Normen führt, wie Weber erkannt hatte.⁹⁸ Die Bewertung historistischen Wissens als eines nur propädeutischen Wissens teilte Jaeger mit den wissenschaftlich ambitionierten Georgeanern, so mit Hildebrandt, der in seiner Auseinandersetzung mit Wilamowitz behauptet hatte, dass Platon „mit bloßem Wissen nicht beizukommen“ sei,⁹⁹ vor allem aber mit Friedemann, der in der zu Beginn des Ersten Weltkrieges und damit kurz vor der Antrittsvorlesung erschienenen PlatonDissertation¹⁰⁰ formuliert hatte, dass „das griechentum“ „mit wissen nicht zu fassen“ sei. „Wissen schafft den weg zur pforte, den einlass gewährt nur die
Aurnhammer u. a. (2012) 517– 522. Jaeger (1960) 14. Jaeger (1960) 15. Jaeger (1960) 14. Jaeger (1960) 13. S. oben Kap. 3. Hildebrandt (1910b) 149. Friedemann (1914) 139.
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verwandtschaft des geistigen lebens.“ Zwar forderte Jaeger wie die Georgeaner als Aufgabe der Wissenschaft die „Verlebendigung und Veranschaulichung der Überlieferung und ihrer ideellen Werte“¹⁰¹ zur Überwindung der „intellektualistischen Einöde“¹⁰², aber anders als der Georgeaner Hildebrandt¹⁰³ schreckte er in der hermeneutischen Praxis jedoch davor zurück.
6.2 Die Entwicklung der neuen Philologie zur Paideia-Philologie Angesichts der radikalen politischen Veränderung sowie der massiven Angriffe und des Abgesangs auf die anerkannten und wirkenden geistigen antiken Traditionen als Potential für die Gegenwart erkannte Jaeger nach Kriegsende schnell, dass die Rettung und Sicherung dieser Tradition gegen ihren Geltungsverlust zugunsten nationaler Traditionen und außereuropäischer „östlicher“ Weisheitslehren¹⁰⁴ nicht nur über eine Neukonzeption der Philologie, sondern auch über eine Erneuerung des Humanismus führen müsse. Für die Erneuerung der Philologie hatte er bereits 1914 plädiert. Diese Konzeption übernahm er mit einer kaum bemerkbaren, aber wichtigen Revision nach dem Weltkrieg, durch die er die Philologie als historische Wissenschaft rettete und sich von den Georgeanern absetzte. Gegenüber der Antrittsvorlesung gliederte er in dem Vortrag Der Humanismus als Tradition und Erlebnis (1919)¹⁰⁵ den Verstehensbegriff aus der Philologie aus und machte die Philologie durch Rehabilitierung des Erkenntnisbegriffs in Übereinstimmung mit der Wissenschaftstradition wieder zu einer rein historischen Wissenschaft. Damit hob er ihre Sonderstellung in den historischen Wissenschaften wieder auf. Die Erkenntnisse des Historismus wurden daher als Teil der historischen Erkenntnis der Antike anerkannt. Der Erkenntnisbegriff wurde der Kernbegriff der Philologie, der das historische Verständnis der Antike in all ihren Äußerungen erschloss. Der Verstehensbegriff wurde – und darin liegt die Revision – nicht mehr der Philologie, sondern dem Humanismus als Weltanschauungslehre zugeordnet. So wurde das Verstehen charakterisiert als etwas,was über „die geschichtliche Betrachtung“ „hinausgeht“ und was unter Verwendung des Erlebnisbegriffs von Dilthey und von den Geor-
Jaeger (1960) 13. Jaeger (1960) 104. Hildebrandt (1911) 91, Groppe (2002) 39. Jaeger (1960) 185. Jaeger (1960) 17– 30.
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geanern als „Intuition und Erlebnis“, als „Glauben“¹⁰⁶ bezeichnet wurde: „Jede wissenschaftliche Betrachtung […] baut das geschichtliche Leben von unten, von den erdigen Bestandteilen und bodenfesten Wurzeln her auf und steigt schließlich hinauf zu den geistigen Blüten des Volksbaumes, den Leistungen der großen Einzelnen, der Repräsentanten der Nation und ihres Stils. Die Wissenschaft, welche so vorgeht, kann von dieser Grundlage aus niemals zu einem geschichtlich beweisbaren Werturteil kommen, das die tatsächlich vorhandene Ausnahmestellung eines vereinzelten geschichtlichen Komplexes wie der griechischen Kultur für das Wertbewußtsein der Nachwelt axiomatisch begründet.“¹⁰⁷ Das war ganz im Sinne Webers eine hermeneutisch korrekte Lösung. In Übereinstimmung mit dieser Veränderung bestimmte er in weiteren Vorträgen das Verhältnis zwischen Philologie als historischer Wissenschaft und Humanismus als Weltanschauungslehre. In seiner begrifflich unpräzisen Sprache wies Jaeger der Philologie die „wissenschaftliche Erkenntnis der antiken Kultur“ zu und beanspruchte gleichzeitig für sie – gegen die Georgeaner als konkurrierende Humanisten – die Zuständigkeit für den Humanismus: Der Philologie falle „zwangsläufig“ „alle humanistische Initiative“ zu.¹⁰⁸ Ohne die richtige historische Erkenntnis war für ihn ein Humanismus nicht denkbar. Zum Schlüsselbegriff der neuen Philologie und des neuen Humanismus wurde der Paideia-Begriff. Für die Philologie setzte er gegen den alten Historismus auf eine historische Wissenschaft, die auf die Erkenntnis eines einheitsstiftenden Prinzips der antiken, insbesondere der griechischen geistigen Kultur sowie ihres Wertes setzte statt auf die ufer- und endlose wertfreie enzyklopädische Vermehrung des Tatsachenwissens. Die griechische Kultur wurde zu einem „System der παιδεία“¹⁰⁹ und die Philologie zu einer Paideia-Philologie. Deren Aufgabe bestand darin, „das Ganze“ der griechischen „geistigen Kultur“¹¹⁰ bzw. die „Gesamttendenz des griechischen Geistes“¹¹¹ zu erkennen. Dieses Ganze war für Jaeger die Paideia als „Menschenbildung“, repräsentiert durch die Literatur: „In dieser Literatur lebt die Geisteswelt der Antike als ein ideelles Ganzes fort. Sie stellt eine geschichtlich-geistige Einheit, eine organisch entfaltete, in sich vollkommene Bildungswelt, einen Stufenbau der menschlichen Werte dar.“¹¹² Das „System“ der Paideia mit der Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze des Staates wurde
Jaeger (1960) 26. Jaeger (1960) 26. Jaeger (1960) 167. Jaeger (1960) 47. Jaeger (1960) 44. Jaeger (1960) 142. Jaeger (1960) 160.
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der höchste Wert der Antike. Damit wurde die Paideia primär politisch definiert, was durch den griechischen Sprachgebrauch von παιδεία nicht gedeckt wurde. Das „System“ der Paideia leitete Jaeger aus dem Selbstverständnis der „geistigen Führer und Repräsentanten“ der griechischen Kultur, „der Dichter, Philosophen und Gesetzgeber“, ab, die sich „ganz als Lehrer und Erzieher ihres Volkes“ fühlten. „Der Erziehertrieb ist offenbar ein Grundzug des griechischen Ethos.“¹¹³ Die Konzentration auf den Paideiabegriff als einen das Griechentum erschließenden Begriff führte Jaeger dann zu Platon, dessen Philosophie als Paideia verstanden wurde und der dadurch zum Repräsentanten der griechischen Paideia wurde.¹¹⁴ Mit der Konstruktion der Paideia als eines ‚ideellen Ganzen‘ rehabilitierte Jaeger wissenschaftstheoretisch den philosophisch-ideengeschichtlichen Anspruch der neuhumanistischen Philologie eines Friedrich August Wolf und August Boeckh, über die Einzeltatsachen der griechischen Antike das ‚Wesen‘ oder den ‚Geist‘ des Griechentums zu erfassen. Dieser neuhumanistische Zugriff war durch das Wissenschaftsideal des Historismus verlorengegangen, das in der Vermehrung ‚objektiven‘ und zugleich heterogenen Wissens bestand und in den Einzeltatsachen nichts Allgemeines suchte. Dieses historistische Ideal hatte zur Vertreibung der Philosophie aus der Philologie geführt. Jaegers Versuch, das Griechentum durch ein charakteristisches Prinzip zu erfassen, blieb hermeneutisch freilich ein riskantes Unternehmen, da es von der problematischen Voraussetzung ausging, dass eine Kultur auf ein einziges Prinzip reduziert werden könne.Verschärft wurde das Problem der Reduktion noch dadurch, dass der Inhalt des Begriffes im Wesentlichen durch die Politeia Platons bestimmt wurde. Indem Jaeger die Paideia mit den Form-Begriffen „System“, „ Stufenbau“ oder „Architektonik“¹¹⁵ charakterisierte, wurden Platon und mit ihm die ‚Griechen‘ in der Sprache Nietzsches zu reinen ‚apollinischen‘ Griechen in der Tradition des Neuhumanismus. In diesem Griechenbild hatte das ‚Dionysische‘ keinen Platz. Der Rigorismus Jaegers, Platons Philosophie auf eine ‚apollinisch‘ verstandene Paideia zu reduzieren, übertraf den Reduktionismus der Georgeaner, die im Wettbewerb um das ‚richtige‘ Verständnis der Paideia Platons ausdrücklich ‚dionysische‘ Aspekte einsetzten, so die ‚Erotik‘ des Symposion und des Phaidros sowie die künstlerisch-dichterische Darbietung der Dialoge unter dem Aspekt der Mania, des dichterischen ‚Wahnsinns‘.
Jaeger (1960) 45. Jaeger (1960) 158 – 177. Jaeger (1960) 150 – 151.
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In welcher Weise Jaeger dazu beigetragen hat, die Loslösung vom Historismus einzuleiten, ist im Einzelnen schwer zu erkennen. Manifest ist zumindest, dass der Antihistorismus als Antwort auf die Krise schlagartig 1919 innerhalb der Altertumswissenschaften wissenschaftsfähig wurde. Zu den ersten öffentlichen Renegaten des Historismus gehörte Paul Friedländer, der sich offensichtlich unter dem Eindruck von Jaegers Baseler Antrittsvorlesung und von Gedanken Georges in dem Aufsatz Die Idee des Gymnasiums (1919)¹¹⁶ zu Nietzsches Ideen über das Griechentum gegen die „Krankheiten“ des Historismus bekannte. Ein Bekenntnis zur „monumentalischen Historie“ Nietzsches mit der Konzentration auf die großen Gestalten als wirkungsmächtigen Potenzen, die von den Georgeanern bereits reaktiviert waren, verbunden mit der Wiedergewinnung von Werten, die zu „Enthusiasmus und Ehrfurcht“ führen, zeigte das neue antihistoristische Denken. Und die Vorstellung, dass die „Triebe“ der „griechischen Schöpfung“, „die dionysische Wildheit des komischen Spiels, die tiefe Erschütterung des tragischen [Spiels], die Leidenschaft des Eros“, „in strenge Form gebunden und gebändigt sind“, zeigte, dass Nietzsches Kategorien des ‚Dionysischen‘ und ‚Apollinischen‘ nicht mehr wissenschaftlich verfemt waren. Sie behielten für Friedländer ihre Geltung.¹¹⁷ Friedländers späteres Platonwerk¹¹⁸ ist zwar ironischerweise Wilamowitz gewidmet, aber im Geiste der Stichwortgeber Nietzsche und George konzipiert.
6.3 Der neue Humanismus als Paideia-Humanismus¹¹⁹ Da Jaeger erkannte, dass die Herausforderungen der Zeit eher auf der Ebene des Humanismus lagen, konzentrierte er seine Energie vor allem auf dessen Erneuerung. Zentrum des neuen Humanismus wurde für Jaeger seit 1920 der Paideiabegriff, vorgestellt zum ersten Mal in Berlin in dem Vortrag Humanismus und Jugendbildung am 27. November 1920.¹²⁰ Er war hellenozentrisch statt griechischrömisch, idealistisch statt realistisch, deutsch-national und gleichermaßen „übernational“¹²¹ statt deutsch-nationalistisch, außerdem politisch sowie elitär (als Medium der Bildung der gesellschaftlichen Eliten). Eingefordert wurde die Geltung der griechischen Tradition, weil ihre „unbegreiflich hohen Werke“ mit der
Friedländer (1919). Friedländer (1925) 8. Friedländer (1928/30). Näf (1990), Schmidt (2003), Stiewe (2011). Jaeger (1960) 41– 67. Jaeger (1960) 162– 163.
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Darstellung der „Urphänomene“¹²² des menschlichen Lebens einen unvergleichlichen Wert darstellen würden. Mit diesen „Urphänomenen“ hätten sie die geistige Prägung des Abendlandes bis in die Gegenwart bestimmt und so aufgrund des Traditionszusammenhangs („Wurzelverbundenheit“)¹²³ – und nicht im Sinne der Georgeaner und des Neuhumanismus aufgrund einer vergleichbaren „hohe[n] Schöpferkraft“¹²⁴ – eine geistige Verwandtschaft zwischen Antike und Gegenwart geschaffen. Diese „Wurzelverbundenheit“ sichere die erzieherische Wirkung dieser Tradition, die durch den Akt des Erlebnisses, „durch die spontane innere Ergriffenheit des Empfangenden“, erreicht werde.¹²⁵ Ganz in der Konsequenz der Paideia-Philologie wurde seit Mitte des Jahrzehnts die platonische Paideia zum Kern des neuen Humanismus: „[…] im Mittelpunkt steht unbestritten Plato für uns. Plato hat eine Auferstehung erlebt wie kein zweiter großer Vertreter des Altertums. Er steht eben wie kein zweiter im Brennpunkt unserer Auseinandersetzung mit der Antike überhaupt, denn er ist der umfassendste politische, dichterische und philosophische Repräsentant derjenigen Gestaltungskräfte, die für die lebendige Dauer der Antike im Aufbau unserer Kulturwelt bis heute ausschlaggebend sind und immer bleiben werden: der menschenbildnerischen Schöpferkräfte des griechischen Genius.“¹²⁶ Diese Kräfte machen „das Wunder der griechischen Form“¹²⁷ aus. „So wird Plato uns nicht nur der ewige Führer zur Philosophie und Wissenschaft in ihrem wahren und geistigen Sinne, sondern er ist uns der Erzieher zum Staat und zum bewußten Lebensaufbau, der gesetzgebende Schöpfer und Hüter des europäischen Kulturgedankens.“¹²⁸ Der Hymnus auf die Paideia und Platon ist durchsetzt von Denkmotiven Georges und seiner geistigen Vorfahren, die auch sprachlich manifest sind: Jaegers „Wunder der griechischen Form“ nimmt Georges Merkspruch „Das Hellenische Wunder“ auf. Sein „griechischer Genius“ ist ein idealistischer Wiedergänger aus der Sprache und dem Denken Friedrich Schillers (Gedicht: Der griechische Genius), Friedrich Hölderlins (Hymne an den Genius Griechenlands) und Friedrich Nietzsches¹²⁹. Platon als „Führer“ der Philosophie war das Gegenstück zu George als „Führer“ der Dichtung.
Jaeger (1960) 55. Jaeger (1960) 30. Stiewe (2011) 162. Jaeger (1960) 26. Jaeger (1960) 168. Jaeger (1960) 173. Jaeger (1960) 176 – 177. Nietzsche (1994) 127, 290.
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Indem Jaeger eine Erneuerung der modernen Kultur ausschließlich aus dem Geist der griechischen Paideia mit der Erziehung des politischen Menschen für möglich hielt, suchte er mit ihr ein geistiges Bollwerk gegen konkurrierende moderne Weltanschauungslehren zu errichten. Sein Humanismus mit der Lehre von der Macht und Unausweichlichkeit der antiken Tradition wurde damit die Antithese zur geschichtsphilosophischen Theorie Spenglers vom unaufhebbaren Traditionsbruch zwischen Antike und Gegenwart.¹³⁰ Jaeger wurde seit 1919 schnell zu einer Schlüsselfigur der humanistischen Sammlungsbewegung. Sein idealistischer Humanismus wurde als ein Medium der geistigen Aufrüstung binnen Kurzem ein großer Erfolg in Teilen der jüngeren Generation der Klassischen Philologen und Humanisten. Bereits sein erster programmatischer Vortrag Humanismus und Jugendbildung hatte die Wirkung einer Erweckungspredigt. Als der 20jährige Student der Klassischen Philologie Wolfgang Schadewaldt, Schüler von Wilamowitz, Jaeger in Berlin hörte, steckten ihn „der persönliche Zauber“ und das humanistisch-erzieherische Sendungsbewusstsein an,¹³¹ mit dem Jaeger in georgischer Emphase des strahls von Hellas ¹³² schloss:¹³³ Wir hoffen, daß aus unserer Jugend dort Führer erwachsen, die weder zu bloßen Gelehrten und Buchmenschen, noch zu Technikern und Spezialisten, noch zu Literaten und Ästheten gezüchtet sind, sondern erzogen zur Sicherheit im Stehen und Gehen, jener höchsten Stärke des Griechentums, zu klarem Urteilen und Denken, zur Erkenntnis des Allgemeinen im Besonderen und des Gegenwärtigen aus dem Vergangenen, zum Wollen gerechter und uneigennütziger Ziele […] und Glauben an die unzerstörbare Macht des Geistes.
Es gelang Jaeger, das Selbstwertgefühl der Jüngeren zu erhöhen, indem er sie als Anwälte der antiken Erzieher und Führer „kraft“ ihres „Charisma“¹³⁴ selbst zu Erziehern und Führern ernannte. Die Philologen als Heilsbringer! Aus den Prügelknaben und Sündenböcken für die Krise der Nation sollten sie die Führer der Nation werden. Hier wirkte wohl der zeittypische und religiös konnotierte Charisma-Begriff in Verbindung mit dem Führer- und Erzieherbegriff des GeorgeKreises.
S. oben Kap. 2. Schadewaldt (1970) 707; Flashar (2015) 419 – 420. S. oben Kap. 4.3. Jaeger (1960) 67. Jaeger (1960) 54.
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7 Der neue Humanismus und Die Antike Jaegers Einsatz für einen neuen Humanismus führte 1925 zur Gründung der Zeitschrift Die Antike (mit 350 Abonnenten 1925)¹³⁵, die er als ein humanistisches Organ der Altertumswissenschaften verstand. Aufgabe der Zeitschrift sollte nicht sein, die „wissenschaftliche Erkenntnis“ des Altertums zu erweitern, sondern das „Große“ des Altertums mit ihren „überdauernden Menschheitswerten“ für das Geistesleben der Gegenwart fruchtbar zu machen.“¹³⁶ Damit setzte er die Klassizität der Antike wie selbstverständlich voraus. Diese zu vermitteln gegen eine „wahllose mechanische Popularisierung der wissenschaftlichen Ergebnisse“ und gegen eine „äußerliche Vereinfachung und Trivialisierung des Gegenstandes“¹³⁷ in der Art des Historismus, gehörte zum Programm der Antike. So knüpfte er mit dem Begriff der Trivialisierung an das Vokabular Nietzsches und der Georgeaner an, das vor allem Hildebrandt als Waffe gegen Wilamowitz eingesetzt hatte.¹³⁸ Und ausgerechnet im ersten Beitrag des ersten Bandes, einem Text – nach dem Urteil Jaegers – in „recht literatenhaft-stephan georgischer“ Manier,¹³⁹ wollte Friedländer zeigen,¹⁴⁰ dass die griechische Tragödie nicht trivial, nicht „gemein“ ist: „[…] so zeigt Tragödie das Tragische, das in uns angelegt, aber verkümmert, unvollendet, unentfaltet ist, in Reinheit und Ganzheit. So rettet die Tragödie das Leben, daß es nicht gemein werde.“ Das Besondere an der Antike war nicht so sehr, dass sich Altertumswissenschaftler und Humanisten hier mit Denkmotiven Georges profilieren konnten, als vielmehr, dass die Zeitschrift als eine Werbeschrift für den neuen Humanismus gegen den verwandten Humanismus der Georgeaner konzipiert war. Sie war Ausdruck für die Konkurrenz zwischen Jaeger und den Georgeanern. Ohne direkt die Konkurrenten zu nennen, setzte sich Jaeger gegen sie ab:¹⁴¹ Solange uns der bestimmende Repräsentant, der Dichter und geistige Führer fehlt, bleibt uns die letzte Sicherheit der Erkenntnis des ‚Klassischen‘ auch im Vergangenen, Ererbten unerreichbar. Das Altertum soll deshalb in der neuen Zeitschrift nicht in irgendwelche dogmatische Beleuchtung gerückt, sondern es sollen zunächst einfach in reichem Wechsel Werke, Menschen, Schicksale und Umwelt der Antike dargestellt werden.
Mensching (1991) 93. Jaeger (1925) 1, 4. Jaeger (1925) 3. S. oben 5.1. Mensching 1991, 95/97. Friedländer (1925) 6. Jaeger (1925) 3.
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Die Kernsätze waren gegen George und die Georgeaner gerichtet: Was Jaeger in der Gegenwart vermisste, einen geistigen Führer, den sahen die Georgeaner in George. Diese Spitze gegen die Georgeaner verstärkte Jaeger in dem Prospekt, in dem für die neue Zeitschrift geworben wurde, paradoxerweise in der Sprache der Georgeaner: es gebe heute keinen Dichter, der uns die Antike „verleibliche“.¹⁴² Und was Jaeger nicht erstrebte, allerdings durch die Reduktion des Griechentums auf den Paideia-Gedanken faktisch erreichte, die „dogmatische Beleuchtung“, sie war charakteristisch für die Georgeaner. Ausdruck der Konkurrenz durch Absetzung und Anlehnung waren auch die Buchkunst und die Textform der Antike. Mit der Ausstattung in Typographie (Format, Satzspiegel, Durchschuss, Überschriften), Papierqualität und Textform antwortete Jaeger auf die Buchkunst der Georgeaner. Während er in der Typographie anstatt der typographischen Exzentrik Georges auf bewährte, allerdings für wissenschaftliche Bücher untypische künstlerische Elemente der Buchkunst setzte, verwies die hochwertige Papierqualität auf die Bücher Georges. Vor allem die Textform der Aufsätze spiegelte die Praxis der Georgeaner, die in Nietzsches Geburt der Tragödie ihr Vorbild hatte. Sie sprengte die strenge wissenschaftliche Konvention auf, indem sie auf Anmerkungen, Literaturangaben und präzise Quellenangaben verzichtete sowie die griechischen und lateinischen Quellen nur durch deutsche Übersetzungen vorstellte. Auf diese Weise entsprach Die Antike „dem Bedürfnis des gebildeten Deutschen.“¹⁴³ Dass die antiken Quellen nur in der Übersetzung wiedergegeben wurden, entsprach zwar der Praxis der Georgeaner, war aber nicht deren Bekenntnis zum eigenen Wert einer deutschen Übersetzung zuzurechnen, sondern eher eine praktische Notmaßnahme mit schlechtem wissenschaftlichen und humanistischen Gewissen, damit auch Leser ohne Griechischkenntnisse erreicht werden konnten. Die Georgeaner nahmen Die Antike in ihrer Besonderheit sofort wahr und sahen in deren Programm der „neubelebung der antike“ auch eine Öffnung zu den Zielen des Kreises;¹⁴⁴ allerdings erkannten sie auch, dass die Zeitschrift kein Organ des George-Kreises werden wollte, dass sie im Gegenteil den Philologen eine Plattform bieten sollte, „der Georgeschen Bewegung den Wind aus den Segeln“ zu nehmen.¹⁴⁵ Angesichts der Vorbehalte Jaegers gegen jegliche „dogmatische Beleuchtung“ entstand im Kreis eine Diskussion über mögliche Mitarbeit an der Zeitschrift oder ihren Boykott. George selbst, der Führer und Meister, sollte nach
Hildebrandt (1930/31) 198. Jaeger (1925) 1. Groppe (1997) 648. Hildebrandt (1965) 189 – 190. Anm. 27.
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dem Wunsch von Wolters entscheiden: „wie soll man sich […] verhalten? Ich bin für völlige enthaltsamkeit aber andere freunde meinten man solle die zeitschrift durch die besten beiträge von unserer seite einfach umstempeln und die absicht der philologen umkehren.“¹⁴⁶ Der Rat Georges ist unbekannt. Beiträge von Mitgliedern des Kreises sind freilich nicht erschienen.
8 Der Streit um die Deutungshoheit über Platon Obwohl Jaeger schon seit seiner Baseler Antrittsvorlesung in Denkmotiven und in der Sprache den Georgeanern selektiv verpflichtet war, verwies er öffentlich nie auf solche Verbindungen, sondern setzte sich immer wieder indirekt von den Georgeanern ab. Er sah bei seinem Einsatz für die Erneuerung der Antike in ihnen keine Bundesgenossen, sondern Konkurrenten und Gegner. Diese sahen ihn vor allem wegen seines humanistischen Idealismus als potentiellen Mitstreiter, der als Nachfolger von Wilamowitz und als neuer Princeps philologorum in Berlin unter ständiger Beobachtung der Georgeaner stand. Als er „seine Vorlesung nach dem Weltkrieg [wohl die Platon-Vorlesung in Berlin im WS 1921/22] […] mit einem GeorgeGedicht“ begann, hielten die Studenten ihn „für einen Anhänger Georges.“ Aber dieser erste Eindruck trog, denn – so die Vermutung Hildebrandts¹⁴⁷ – obwohl Jaeger Georges Dichtung „schätzte“, ging sein Streben „auf eigene geistige Herrschaft“. Zu direkten Berührungen und Auseinandersetzungen mit den Georgeanern kam es dann im Zuge der Entdeckung Platons als der zentralen Gestalt des neuen Humanismus. Es wurde ein Streit um die Deutungshoheit über Platon. Den Kampf um Platon hatten die Georgeaner als einen Kampf gegen den Platon des Historismus begonnen und konzentrierten sich dabei seit dem Erscheinen des PlatonBuchs von Wilamowitz (1919) auf diesen als ihren Erzfeind. Hildebrandt, inzwischen philosophisch durch eine Promotion mit einer Platon-Arbeit¹⁴⁸ in Marburg bei Paul Natorp nobilitiert, erneuerte in einer Rezension des Buches die alte Fehde um die Tragödienübersetzungen von Wilamowitz¹⁴⁹ und sah in dem neuen Buch „überall die Mühe, Erlebnisse der höchsten Sphäre in die Niederung bürgerlichseelischer Konflikte hinabzuziehen“,¹⁵⁰ das daher „an Banalität und Kleinbürger-
Groppe (1997) 648. Hildebrandt (1965) 189 Anm. 27. Hildebrandt (1922). S. oben 5.1. Hildebrandt (1921) 270.
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Sentiment seinesgleichen“ suche.¹⁵¹ Gundolf hatte seine Freude an dieser Polemik und verspottete das Platonbuch als „Platon für Dienstmädchen.“¹⁵² Stattdessen sahen die Georgeaner in Platon den „König eines geistigen Reiches“,¹⁵³ vor allem den Dichter, Erzieher und ‚Erotiker‘, dessen Geistesart durch den Paideia-Begriff bestimmt war. In die Nähe des georgeanischen Platon geriet Jaeger zum ersten Mal in seinem Aristoteles-Buch.¹⁵⁴ Dort bestimmte er bei der Analyse des Lehrer-Schüler-Verhältnisses von Platon und Aristoteles umrissartig das „Wesen“ „platonischer Geistesart“.¹⁵⁵ Platon wurde als Dichter, Künstler und Prophet wahrgenommen, sein Philosophieren insgesamt als „bildnerische“ „Gestaltung“ bezeichnet, gesteuert nicht durch rationale Erkenntnis, sondern im „Erlebnis“ durch Schau, für die Jaeger den Neologismus „Schaunis“ einsetzte, der der eigenwilligen Sprachgestaltung der Georgeaner verwandt war. Platon als Erzieher war hier noch kein Thema. Das änderte sich offensichtlich erst in seiner Platonvorlesung im WS 1926/ 27, in der er die Paideia zum ersten Mal ins Zentrum seines Platonverständnisses stellte, wie Wolters, seit 1923 Ordinarius für Geschichte in Kiel, nach einem Aufenthalt in Berlin seinem „Meister“ George in einem Brief vom 14. Februar 1927¹⁵⁶ triumphierend mitteilte. Dort schrieb er, der parteiische Anwalt georgeanischen Denkens, dass in diesem winter Jaeger in seinem Platokolleg zum ersten male völlig umgeschwenkt ist, Plato plötzlich als grossen staatsdenker und -schöpfer, den erzieher der jugend aus dem göttlichen eros usw. darstellt und das heisst: Friedemann und Hildebrandt ausschreibt, ohne sie zu nennen – auch Nietzsche wurde nur ein mal in einem nebensatz gestreift, aber sein gut um so eifriger ausgemünzt.
Damit setzte ein offener Kampf um die Deutungshoheit über Platon sowie um den πρῶτος εὑρετής (prótos heuretés), den „Erfinder“ der neuen Platondeutung ein, die zu einem Streit zwischen philosophischer und philologischer Deutung wurde. In demselben Brief schrieb Wolters, wie er seinen eng mit Jaeger wissenschaftlich verbundenen philosophischen Kollegen Julius Stenzel nach seinem Vortrag im Januar 1927 in Kiel über Platon als Erzieher zum Staate, möglicherweise einem
Hildebrandt 1930/31, 201– 202. Hildebrandt (1965) 55 Anm. 11. Hildebrandt (1921) 270. Jaeger (1923). Jaeger (1923) 10. Groppe (1997) 644, Philipp (2008) 218 – 220.
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Konzentrat des kurz danach erschienenen Buches Platon der Erzieher,¹⁵⁷ „kurz und bündig“ gesagt habe: ‚Na endlich!‘ Auf seine verwunderte frage, ‚wieso‘, sagte ich ihm dass er und Jaeger ja nun das von Platon lehrten was wir schon seit Jahrzehnten lehren, worauf er murmelte: ja er und Jaeger seien unabhängig jezt zu dieser meinung gelangt. Ich schaute ihn an und sagte: ‚Also wir siegen!‘ worauf er kleinlaut antwortete: ‚es scheint so‘. Aber es liess ihm keine ruhe und am sonntag kam er zu mir und suchte mir zu beweisen, dass doch ein gewisser unterschied zwischen unserer und der philologischen auffassung von Platon herrsche. Ich gab ihm das gern zu: indem die philologen glaubten die welt noch einmal mit Platons Dialektik retten zu können, während wir dieses mittel nach 2000 jahren für erschöpft hielten und bessere losung und lockung [= den platonisierenden George] für die jugend hätten. So schlich er davon. – Nun möchten sie die gestohlenen gedanken für sich allein fruchtbar machen, da nur Philologen über Platon reden und urteilen können – so sagt Jaeger. Es wird zeit sein den Friedemann wieder zu drucken [was 1931 mit einem Nachwort von Kurt Hildebrandt geschah], Meister, und jenen in einem kurzen vorwort die maske abzureissen.
Das Letztere gelang freilich nicht, denn in der wissenschaftlichen und humanistischen Öffentlichkeit wurde Jaegers Georgeanismus nicht wirklich wahrgenommen. Und als der Kampf um Platon 1927 im Zusammenhang mit dem Habilitationsgesuch Hildebrandts für das Fach Philosophie zu einer hitzigen und kontroversen universitären Angelegenheit wurde, blieb Jaegers Verhalten undurchsichtig. Jaeger verhinderte zusammen mit Wilamowitz, der als Emeritus nur mit beratender Stimme, allerdings „mit Leidenschaft“ an den Sitzungen teilnahm, dessen Habilitation mit der Arbeit Platons Weltverneinung und Weltbejahung, ¹⁵⁸ indem er ihm fachliche Kenntnisse absprach und ihn als „Dilettanten“ „ohne wissenschaftliche Schulung“ bezeichnete.¹⁵⁹ Letztlich führte diese Verhinderung aber zum Erfolg, denn sie brachte Hildebrandt durch Verfügung des den Georgeanern geistig nahestehenden Kultusministers Becker 1928 eine Honorarprofessur für Philosophie ein.¹⁶⁰ Der Kampf um Platon war ein Kompetenzstreit zwischen Philologen und Philosophen bzw. Nicht-Philologen geworden. Dabei beharrten die Philologen auf ihrem Deutungsmonopol. Kennzeichnend war die Diskussion anlässlich der Habilitation Hildebrandts in Berlin, über die der offensichtlich gut informierte Hildebrandt selbst berichtete: Auf die negativen Beurteilungen durch Jaeger und Wilamowitz erwiderte Spranger den Philologen,¹⁶¹
Stenzel (1928). Hildebrandt (1965) 189. Groppe (1997) 648, Tilitzki (2002) 336. Hildebrandt (1965) 189, Groppe (1997) 557– 560. Hildebrandt (1965) 189.
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bei derartigen philologischen Ansprüchen würde kein Philosoph je über Platon arbeiten dürfen. ‚Das ist es ja, was wir wollen‘, antwortete Wilamowitz aufrichtig. (Spranger hat mir schon vorher erzählt, in Leipzig habe er gern über Platon gelesen. In Berlin dürfe er sich das nicht erlauben). Sombart warf ein: ‚Und wenn Platon selbst käme, würde man ihn bei solchen Anschauungen abweisen‘. Worauf ihm erwidert wurde, immerhin habe Platon solide Kenntnisse in der Mathematik gehabt. […] Die Fakultät verschloß sich nicht der Einsicht, daß die Einwände nicht sachlich waren.
Der Kompetenzstreit war aber nur ein Scheingefecht. Jaegers Konzept der Paideia war ein philosophisches Konzept und war durchaus im Grundsätzlichen und in Einzelheiten verwandt mit dem Konzept der Georgeaner. Die Gemeinsamkeiten blendete Jaeger aus, er hob offensichtlich ab auf die spezifische Kompetenz der Philologie zur Erkenntnis Platons im Zusammenhang der Geschichte und des Aufbaus des griechischen Geistes. Eine direkte Auseinandersetzung mit den Georgeanern vermied er. „Wenn er früher Friedemanns Buch gelobt hatte, so schwieg er jetzt von ihm, von Wilhelm Andreae, von Kurt Singer, von Salin.“¹⁶² Hildebrandt dagegen belebte die Auseinandersetzung noch einmal in dem Aufsatz „Das neue Platonbild“¹⁶³ in den Blättern für deutsche Philosophie durch eine Polemik gegen Jaegers Ansprüche, der Entdecker des Paideia-Prinzips zu sein, gegen das Monopol der Philologie auf die Platon-Deutung, vor allem aber gegen seinen engen PaideiaBegriff ohne Eros und Sokrates. Darüber „entrüstete“ sich Jaeger und „drohte“ den Blättern für deutsche Philosophie „mit Entzug seiner Mitarbeit.“¹⁶⁴ Die Auseinandersetzung zwischen Georgeanern und Jaeger war keine Auseinandersetzung zwischen Philosophen und Philologen, sondern vor allem eine solche um die philosophische Deutung der platonischen Paideia, an der sich Jaeger selbst erst später im Rahmen seiner Paideia ¹⁶⁵ wieder beteiligte. Dabei differenzierte er auch den Paideiabegriff und ordnete ihm z. B. bei der Analyse des Symposion auch den Erosbegriff ganz im Sinne und in der Metaphorik der Georgeaner zu: „Die Vermählung von Eros und Paideia ist der Grundgedanke des Symposion.“¹⁶⁶ Denkmotive und Sprache blieben insgesamt weiterhin den Georgeanern verpflichtet.
Hildebrandt (1965) 190. Hildebrandt (1930/31). Hildebrandt (1965) 190. Jaeger (1933 – 1947). Jaeger (1933 – 1947) Bd. 2,248.
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9 Die Bedeutung Jaegers für die Überwindung der Krise In der Zeit der Weimarer Republik wurde Werner Jaeger durch ein neues Konzept der Klassischen Philologie und des Humanismus zu einer bedeutenden Figur der Wissenschafts- und Bildungsgeschichte. Mit seinen Konzepten antwortete er als erster auf die Krise der historischen Wissenschaften als Historismus und des Humanismus als realistischer Bildung. Diese Krise, wie üblich primär ein Gefühlsund Bewusstseinsphänomen, entstand als Kulturkrise im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und wurde überlagert von der politischen Krise, die durch die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die politische Revolution mit der Gründung der Demokratie eingeleitet wurde. Wie kein anderer Altertumswissenschaftler erkannte Jaeger die Zeichen der Krise als Gefährdung für die Geltung der Wissenschaft und des Humanismus. Gegen die Wissenschaftskrise des Historismus setzte er als Sechsundzwanzigjähriger mit seiner Baseler Antrittsvorlesung von 1914 auf ein Wissenschaftsmodell, mit dem er der Literatur der Antike ihre Idealität und Klassizität sicherte sowie ihre Bedeutung für die Lebenspraxis der Gegenwart garantierte. Darin fühlte er sich den Zielen der ideengeschichtlich orientierten neuhumanistischen Wissenschaft verpflichtet, die er unter veränderten Voraussetzungen mit modernen hermeneutischen Mitteln und Begriffen insbesondere von Nietzsche, Dilthey und den Georgeanern reaktualisierte. All dies hat er ganz selektiv ins eigene Denken und Sprechen integriert. Dabei hat er den Historismus zu retten versucht, indem er ihn als Vorbereitung oder Teil der Erkenntnis des Geistes der Antike und insbesondere seines geistigen Zentrums der Antike, der Paideia, wertete. Diese Aussage hatte aber nur eine verbale Bedeutung; für die Erkenntnis der Paideia als eines geistigen Zentrums benötigte er selbst den Historismus nicht mehr, wie seine große Monographie Paideia ¹⁶⁷ zeigt. Zwar hat Jaeger mit seinem programmatischen Konzept wichtige Impulse für eine Geistes- und Ideengeschichte der Antike gegeben und hat auch Jüngeren geholfen, sich vom Historismus zu lösen, aber die ältere Generation stand dieser ideengeschichtlichen Philologie mit der Konzentration auf „die höchsten Werte, Gestalten und Formen“ skeptisch, ratlos oder ablehnend gegenüber und bezeichnete sie – so Eduard Schwartz – als „Seuche“, „die in unsere Wissenschaft kriecht.“¹⁶⁸ Sie blieb dem Historismus treu, meist aus Gewohnheit, bisweilen aber auch aus Trotz gegen die neue politische und geistige Situation der
Jaeger (1934– 1947). Preuße (1988) 138.
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Zeit. Aber auch in der jüngeren Generation fand Jaeger keine durchschlagende Anerkennung in den Fachwissenschaften, denn sein rigoroser Versuch, die gesamte griechische Kultur unter einem einheitlichen Prinzip, der Paideia, zu verstehen, wurde zu Recht als ein dogmatischer Reduktionismus auf Kosten der Vielfalt und Heterogenität griechischer geistiger Äußerungen wahrgenommen. Allerdings erhielt sein Griechenbild in der Paideia in der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit bis in die frühe zweite Nachkriegszeit hinein beinahe kanonische Bedeutung, wie die Übersetzungen des Werkes in die gängigen Kultursprachen dokumentieren. Erfolgreicher war Jaeger jedoch mit seiner idealistischen Bildungstheorie. Diese bestimmte, flankiert durch die verwandte Theorie seines Berliner Pädagogik- und Philosophie-Kollegen Eduard Spranger, maßgeblich den humanistischen Diskurs in der Zeit der Weimarer Republik, der, begonnen unmittelbar nach Kriegsende, in Preußen im Zusammenhang mit der Schulreform von 1924/25 (Richertsche Schulreform) anschwoll.¹⁶⁹ Diese Reform sicherte gegen alle Befürchtungen in dem maßgeblich von der traditionell Humanismus-feindlichen SPD geführten Preußen das Gymnasium als Schulform mit den alten Sprachen, wenn auch deren Umfang zum Verdruss vor allem der Altphilologen reduziert wurde. Da die preußische Reform Vorbild für die meisten anderen Länder des Deutschen Reichs wurde, gelang noch einmal eine Konsolidierung der alten Sprachen im Bildungswesen. Die humanistische Bildung war noch einmal glimpflich davongekommen. Allerdings fand das Paideia-Konzept keine uneingeschränkte Zustimmung, denn es vertrug sich weder so recht mit der kulturkundlichen Ausrichtung der Schulreform noch mit dem teilweise verwandten realistischen Humanismus, einem Humanismus für „Nüchterne“, für die die Kenntnis der antiken „Fahrstuhlanlage auf dem Palatin“ (Hans Lamer)¹⁷⁰ Vorrang hatte vor dem Glauben an das Klassische der Antike. Sie konnten mit der neuen Zeitschrift Die Antike so wenig anfangen wie der alte Wilamowitz:¹⁷¹ Immer wenn ich Die Antike lese, geht mir ein Mühlrad im Kopfe herum, aber Mehl mahlt das Mühlrad nicht, für mich nicht. […] Ich habe mit dem Wort ‚klassisch‘, das mir ein Greuel ist, nie etwas anfangen können, und so erwarte ich auch nicht, daß andere es tun. Aber nichts für ungut, wie der Berliner sagt, oder zu meiner Zeit gesagt hat, die vorbei ist.
Aber bereits die unmittelbar folgende Umsetzung des Reformprogramms in den Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens von 1925 verwies auf das
Preuße (1988) 128 – 144. Preuße (1988) 131. Henrichs (1995) 447.
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neue Humanismus-Konzept. Der neue Humanismus setzte sich im bildungspolitischen und bildungstheoretischen Diskurs durch, wie schließlich der Altsprachliche Lehrplan für das deutsche humanistische Gymnasium des Deutschen Altphilologenverbandes von 1930 zeigte. Und als der Altphilologenverband im September 1933 Leitsätze zur Neugestaltung des humanistischen Bildungsgedankens auf dem Gymnasium formulierte, wurde der Kern des Humanismuskonzepts mit einigen Anpassungen an den Nationalsozialismus erneuert und konnte sogar in Lehrplänen bis 1938 überleben. Ausdrückliche Kollaborationsangebote blieben allerdings folgen- und chancenlos, da der neue Humanismus entweder zu zentralen Ideologemen des Nationalsozialismus keine Beziehung hatte oder ihnen sogar widersprach und daher von vornherein abgelehnt oder auch bekämpft wurde.¹⁷²
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Werner Jaeger nahm mit dem Wintersemester 1921/22 seine Lehrtätigkeit in Berlin als Nachfolger von Wilamowitz auf. Er war an den Ort zurückgekehrt, an dem er studiert,¹ promoviert und sich habilitiert hatte. Wilamowitz hatte ihn nach der Habilitation als ein Talent bezeichnet, „wie ich (und Diels ebenso) es bisher unter unsern Schülern nicht gehabt haben.“ ² Jaeger war im Sommer 1921 33 Jahre alt geworden. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ein Extraordinariat in Basel (1914) und einen Lehrstuhl in Kiel (seit 1915³) innegehabt, dazu einen Ruf nach Hamburg abgelehnt.⁴ Nachdem dann 1923 auch sein großes, als bahnbrechend empfundenes Buch über Aristoteles (mit dem Untertitel: Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung) erschienen war, und nach seiner Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften im folgenden Jahr befand sich Jaeger auf der Höhe seines wissenschaftlichen Ruhmes, der auch weit über die Grenzen Deutschlands ausstrahlte. Einen Eindruck von der Fülle ausländischer Ehrungen in den folgenden Jahren vermitteln die ihn betreffenden Personalia-Einträge in der seit 1925 erscheinenden Rezensionszeitschrift Gnomon, die er selbst gegründet hatte: Erwähnt sind die Würde eines Ehrendoktors der Universität Manchester (1926), die Wahl in die British Academy als korrespondierendes Mitglied (1927), die Ernennung zum Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Lund (1928), die Wahl zum Ehrenmitglied der Society for the Promotion of Hellenic Studies in London (1931) und die Ernennung zum Ehrendoktor der Universität Cambridge (1932). In Deutschland nutzte Jaeger das Prestige seiner Stellung ab Mitte der zwanziger Jahre zu einer dichten Serie von Gründungen, die seine wissenschaftlichen und bildungspolitischen Ziele zu fördern bestimmt waren. Zu nennen sind zum einen die Initiierung von Vereinigungen – „Gesellschaft für antike Kultur“
Abgesehen von seinem ersten Semester, das er in Marburg verbracht hatte. In einem Brief an Walter F. Otto (bei Calder 1992b, 3). Aus diesem Jahr stammt ein Porträt (Lithographie) Jaegers von Max Liebermann (im Internet: http://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Jaeger#mediaviewer/File:Liebermann_Werner_Jaeger.jpg [Stand 28.10. 2016]). Leistungen und Karriere Jaegers vor der Übernahme des Berliner Lehrstuhles sind dargestellt von Mensching (1989) 60 – 80 und Calder (1992b) 2– 6. Sein wissenschaftliches Werk bis zum Jahre 1923 wird aus zeitgenössischer Sicht in dem Wahlvorschlag für die Aufnahme in die Preußische Akademie gewürdigt, der u. a. von Wilamowitz, Norden und Eduard Meyer unterzeichnet ist (abgedruckt in Kirsten 1985, Nr. 67). DOI 10.1515/9783110548983-003
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(1924), „Deutscher Altphilologenverband“ (1925; im Folgenden DAV)⁵ – sowie von „Fachtagungen der klassischen Altertumswissenschaft“ (erste Tagung 1925 in Weimar), zum anderen die Gründung einer Zeitschrift – Die Antike (erster Jahrgang 1925) –, eines speziellen Rezensionsorgans – des schon genannten Gnomon – und einer vornehmlich für Arbeiten seiner Schüler bestimmten Schriftenreihe – Neue Philologische Untersuchungen (die ersten drei Hefte erschienen 1926) –. Zumal die vierte „Fachtagung“ zum Thema „Das Problem des Klassischen und die Antike“, die 1930 in Naumburg stattfand und deren Vorträge mit einer Einführung Jaegers publiziert wurden, hatte eine unerhörte Wirkung, die nicht auf die Altertumswissenschaften beschränkt war.⁶ Ein junger Gast auf der Tagung, der damals noch ganz am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere stand, war der 30-jährige Hans-Georg Gadamer. Er beschreibt die Ausstrahlung Jaegers:⁷ Was mich an der Naumburger Szene verwunderte, war die geradezu maßlose Autorität, die Werner Jaeger genoß. Glänzende Philologen wie Eduard Fraenkel oder Friedländer blickten bei jedem Satz ihres eigenen Vortrags fragend und besorgt auf Jaeger, der nach außen hin wirklich nicht wie ein Despot wirkte.
In dieser Zeit stand Jaeger auf dem Gipfel seines Ansehens und Einflusses, nachdem zu seinem wissenschaftlichen Ruhm auch noch jenes philologische Imperium hinzugekommen war, das, wie gerade ausgeführt, im Wesentlichen ja erst vor kurzem, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, Gestalt angenommen hatte. Und auch trug eben die persönliche Faszination, die von Jaeger ausging, nicht unwesentlich zu seiner herausgehobenen Stellung bei.⁸ Diese war intakt
Die Gründung erfolgte in Kooperation von Fachvertretern von Universität und Schule unter maßgeblicher Mitwirkung Jaegers, dessen inhaltliche Vorstellungen von Anfang an auf große Resonanz in dem neuen Verband stießen. Näheres bei Burck/Clasen/Fritsch (1987) 5 – 7. Dazu Landfester (1995). Der Aufsatz ist im Ganzen wichtig für die zugrunde liegenden Motive und den inneren Zusammenhang des Programms, das Jaeger in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren verfolgte. Gadamer (2012) 47– 48. Gadamer gibt irrtümlich an, die Naumburger Tagung habe 1929 stattgefunden. Jaegers gewinnende Ausstrahlung teilte sich auch im Berliner Institut mit, wie Solmsen (1989) 128 – 129 ausführt: „Once for all it must be said that to those not personally acquainted with Jaeger, it is impossible to convey the magnetism and charm of his personality. One aspect that stands out and in which he differed from all others – from Wilamowitz, Norden, Fraenkel, Regenbogen und Deubner – was his patience and quiet, unhurried tempo. This was as characteristic of his teaching as of conversations in his office. In his lecture courses and even more in seminar and proseminar, he seldom presented firm and fixed opinions. Calling on him in his office, one found him invariably relaxed and ready to give unstintingly of his time. He listened patiently to everything that was brought up,waiting to the end before he came forward with an opinion or perhaps a decision of his
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auch noch zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zu Beginn des Jahres 1933. Dreieinhalb Jahre später verließ Jaeger Deutschland, nachdem er zum 1. Oktober 1936 einen Ruf an die Universität Chicago angenommen hatte. Ein wesentlicher Faktor bei dieser Entwicklung erwuchs im Jahre 1931 aus einer Veränderung in den privaten Lebensverhältnissen von Jaeger: der Trennung und Scheidung von seiner ersten Frau Theodora (Dora), geb. Dammholz, mit der er seit 1914 verheiratet gewesen war und mit der er drei Kinder hatte,⁹ und, noch im selben Jahr, der Verheiratung (am 29. Dezember 1931) mit der Studentin Ruth, geb. Heinitz. Aus ihrer Ehe ging eine Tochter,Theresa (geb. am 19. Oktober 1935), hervor. Ruth Jaeger war nach späterer nationalsozialistischer Gesetzesterminologie „Jüdischer Mischling ersten Grades“, d. h. sog. Halbjüdin.¹⁰ Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten resultierte aus dieser Konstellation zwar einstweilen keine konkrete Bedrohung, doch musste nach der unerwartet raschen Etablierung eines nationalsozialistischen Staates und mit der Verschärfung von dessen judenfeindlicher Politik, zu der es in den folgenden Jahren kontinuierlich kam, dann doch mit Entwicklungen gerechnet werden, denen rechtzeitig zuvorzukommen sich empfahl. In der Tat wurden in dem Jahr, das auf die Übersiedlung Jaegers und seiner Familie nach Amerika folgte, 1937, auch Professoren wegen „nichtarischer“ Ehepartner von der Universität vertrie-
own. (These decisions were never apodictic or authoritarian but were always accompanied by convincing arguments.) He noticed a great deal about the colleague or (much more frequently) student who came to consult him. No change in temperament, enthusiasm, or (speaking more generally) physical and mental condition escaped him. He also sensed likes and dislikes between individuals in the Institut für Altertumskunde without having received a hint about them. No less astonishing was his capacity to understand human problems and conditions, many of which one would consider quite foreign to his own experience. The understanding and the sympathy that accompanied it proved comforting and often helped a person to shake off his discouragement.“ Die Hintergründe der Scheidung wurden von Wilamowitz, so dessen Tochter Hildegard in ihren Erinnerungen, als skandalös empfunden (Wilamowitz-Moellendorff 1974, 163): „In den Tagen kam Frau Jäger zu meiner Mutter, er [der Vater] konnte es gar nicht abwarten, bis meine Mutter wieder zu ihm kam. Als sie die Nachricht von der Ehescheidung mit Prof. Jäger brachte, sagte mein Vater ‚Bis dahin habe ich ihn gegen alle andern immer noch verteidigt, nun sehe ich doch, er ist ein Schuft‘“. Eine Vermutung über den Grund der Entrüstung bei Calder (2002– 2003) 180 Anm. 16. Zum weiteren Schicksal von Theodora Jaeger s. u. Anm. 17. Ihr Vater war Leiter des Mosse-Stifts, eines interkonfessionellen Waisenhauses im Berliner Bezirk Wilmersdorf; ihr Bruder Ernst Heinitz, der als junger Richter 1933 sogleich entlassen wurde und nach Italien emigrierte (Näheres bei Jescheck 1999), lehrte nach dem Krieg an der Freien Universität Berlin. Als Rektor ernannte er 1963 John F. Kennedy bei dessen legendärem Besuch in West-Berlin zwei Jahre nach dem Mauerbau („Ich bin ein Berliner!“) zum Ehrenbürger der Universität.
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ben.¹¹ Die Grundlage dafür stellte das Deutsche Beamtengesetz vom 26. Januar 1937 bereit, dessen § 59 festlegte, dass ein Beamter zu entlassen sei, „wenn sich nach seiner Ernennung herausstellt, dass er oder sein Ehegatte nicht deutschen oder artverwandten Blutes ist.“ Dies wurde willkürlich auch auf „Altfälle“ angewandt, bei denen sowohl Ernennung als auch Eheschließung vor 1933 lagen. In der kürzlich erschienenen Geschichte der Berliner Universität wird in dem Unterabschnitt, der diese Entwicklung behandelt („Die letzte Phase antisemitisch motivierter Entlassungen“) denn auch ausdrücklich festgestellt:¹² Dagegen kam der Altphilologe Werner Jaeger (1888 – 1961), der in zweiter Ehe mit einer „Halbjüdin“ verheiratet war, durch seine 1936 erfolgte Emigration in die USA mit großer Wahrscheinlichkeit einer Entlassung zuvor.
In der Situation, in der Jaeger über einen Weggang aus Deutschland nachzudenken begann – aus dem Folgenden wird deutlich werden, dass dies ab dem letzten Viertel des Jahres 1933 der Fall gewesen sein dürfte –, wurde wichtig, dass er (ganz unabhängig von der neuen, bis vor kurzem unvorstellbaren Entwicklung, die ihn nun an eine Auswanderung denken ließ) früher als andere deutsche Forscher der damaligen Zeit damit begonnen hatte, sich in seinen wissenschaftlichen Kontakten auf die englischsprachige Welt hin zu orientieren und sich kommunikativ entsprechend zu präparieren. Davon berichtet Marie Norden in ihren (an ihre Kinder adressierten) Erinnerungen (das Folgende bezieht sich auf die Mitte der zwanziger Jahre):¹³
Rudolf Helm, Professor in Rostock, dessen Emeritierung 1937 aus Altersgründen ohnehin erfolgt wäre, wurde nach seinen Angaben zusätzlich mit dem Hinweis auf seine jüdische Ehefrau konfrontiert und nach erfolgter Emeritierung unverzüglich aus dem Dozentenverzeichnis der Universität Rostock gestrichen (Buddrus/Fritzlar 2007, 183 – 184; vgl. den Eintrag über Helm im Catalogus Professorum Rostochiensium (im Internet: http://cpr.uni-rostock.de/nav? path=left.search.simple.searchresult-simple.docdetail&id=cpr_person_00001140&offset=1&resultid=53up79pg06sai415 l7i3&fromWF=false&tab=data [Stand 23.12. 2014]). Im Fall von Ernst Kapp, Professor in Hamburg, war „nichtarische“ Abstammung seiner Frau ausschließlicher Grund, ihn 1937 als 49-jährigen aus dem Dienst zu entfernen (Obermayer 2014, 307– 310; die wesentlichen Fakten bereits bei Lohse 1991, 783 – 784). Kinas (2012) 356. Das sog. „Blutschutzgesetz“ vom 15. September 1935 hatte dagegen Jaeger noch nicht unmittelbar bedroht (anders Obermayer 2014, 30). Norden (1942– 1944) 29. (In diesen Jahren – Eduard Norden war 1941 verstorben – schrieb Marie Norden die erst 1993 publizierten Erinnerungen nieder; vgl. Mensching 1993, 67 Anm. 1.) Das Ehrendoktorat der Universität Manchester, von dem die Verfasserin in merklich verschnupftem Ton spricht, erhielt Jaeger 1926, den Ruf nach Chicago bereits 1935 (s. u. Anm. 85).
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Als Euer Vater von Prof. Conway in Manchester zu Vorträgen aufgefordert, sie aber ablehnte, trat Jaeger ein, und holte sich darauf den Ehrendoktor. Er befasste sich energisch vorher mit der englischen Sprache, führte dies auch weiter fort mit einer Engländerin, wie nützlich sollte es für ihn werden, als er im Jahre 1936 den Ruf nach Chicago erhielt und annahm […].
Jaeger hatte die Verbindungen in die USA schon einige Zeit vorher intensiviert, vor allem im Jahre 1934, für dessen zweite Hälfte er einer Einladung als „Sather Professor“ nach Berkeley folgte.¹⁴ Die Abhaltung der „Sather Lectures“¹⁵ ließ ihm genug Zeit für ausgedehnte Reisetätigkeit: Allein für die Zeit von November bis Anfang Dezember (dem vorgesehenen Zeitpunkt der Abreise aus den USA), über die Angaben vorliegen, ergibt sich, dass Vorträge in Stanford und Los Angeles vereinbart und weitere Einladungen nach Baltimore, Cornell und Harvard ausgesprochen waren, von denen er jene nach Baltimore aus Zeitgründen gar nicht mehr annehmen zu können meinte.¹⁶ Es ist ein geradezu zwingender Schluss, dass er im Zuge seines halbjährigen Aufenthaltes in den USA von seinen Besorgnissen und seiner Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in Deutschland gesprochen hat und dass daraus eine Weichenstellung für die weitere Entwicklung resultierte. Im Verlauf des Jahres 1935 muss dann für Jaeger durch die Verschärfung der einschlägigen nationalsozialistischen Gesetzgebung – das „Reichsbürgergesetz“ erweiterte den Personenkreis der zu entlassenden Beamten noch einmal ganz wesentlich gegenüber dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von 1933 – endgültig klar geworden sein, dass die Spirale antijüdischer Verfolgung und Drangsalierung sich weiterbewegte und keine Hoffnung auf Änderung bestand. Somit muss der Ruf nach Chicago, den er noch im selben Jahr erhielt, von ihm als erlösend empfunden worden sein. Die familiäre Situation hatte sich im selben Jahr insofern beträchtlich verändert, als an dessen Anfang Jaegers erste Frau Theodora verstorben war – erschütternderweise in einer Nervenheilanstalt¹⁷ – und seine drei Kinder aus
Die 1912 eingerichtete, renommierte Gastprofessur war nach ihrem Stifter, einem Bankier, benannt. Jaeger nahm den – von ihm so bezeichneten – „Ruf“, wie er in den Personalnachrichten des Gnomon mitteilen ließ (10, 1934, 112), „für die Dauer des Semesters von August bis Dezember 1934“ an. Die Vorlesung Jaegers behandelte das Thema „Demosthenes: the Origin and Growth of his Policy“. Sie erschien, wie bei den „Sather Lectures“ üblich, 1938 als Buch, ein Jahr später auch auf Deutsch (Jaeger 1939). Aus der Korrespondenz Jaegers rekonstruiert von Mensching (1991) 107. – Rätselhaft, dass Calder (1996) 213 es so darstellt, als sei der Aufenthalt in Berkeley anlässlich der „Sather Lectures“ die erste Station Jaegers in den USA nach seiner Emigration gewesen. Theodora Jaeger hatte aufgrund des Scheiterns ihrer Ehe eine schwere Depression erlitten, die sich zu einer dauernden Erkrankung auswuchs. Mit ihrem Tod endete eine vierjährige Leidens-
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dieser Ehe nun definitiv in die neue Familie ihres Vaters integriert wurden.¹⁸ Somit waren es sechs Personen, die im folgenden Jahr in die USA übersiedelten.¹⁹ Der zuvor aus den Umständen abgeleitete Grund für den Wegzug aus Deutschland ist von Jaeger in vorliegenden Zeugnissen nie angesprochen worden, auch nicht im Nachhinein, d. h. nach dem Krieg. Begreiflicherweise betrachtete er die Konstellation seiner Ehe mit einer „Halbjüdin“ als seine Privatangelegenheit. Sich dazu zu äußern hätte u. U. eine Erörterung über theoretisch mögliche Handlungsoptionen wie eine Scheidung nach sich gezogen. Das wollte Jaeger offenbar im Ansatz ausschließen. Sein Schweigen erscheint somit als Akt von Weisheit. Wo er sich äußerte, beschränkte er sich darauf, allgemein Konflikte anzusprechen, die aus der nationalsozialistischen Herrschaft erwuchsen, und verwies dabei allenfalls auf die Behinderung seiner akademischen Tätigkeit. Ihm Nahestehende wussten freilich um die Komplexität der Gründe. Beides vermittelt die folgende Erinnerung seines Schülers Johannes Götte:²⁰ […] als er uns, seine Schüler der zweiten Generation sozusagen – zur ersten gehörten Solmsen,Walzer, Schadewaldt –, zum letzten Male zu sich eingeladen hatte, um Abschied zu
geschichte. Näheres zu diesem erst neuerdings bekannt gewordenen, da von den Zeitgenossen mit Diskretion behandelten Sachverhalt bei Rösler (2017) 259 – 260. Die menschlich nicht einfache neue Familienkonstellation muss gerade von Ruth Jaeger mit großem Einfühlungsvermögen und nachhaltigem Erfolg bewältigt worden sein. Die Anzeige ihres Todes werden mehr als ein halbes Jahrhundert später neben dem Bruder Ernst Heinitz auch „die Kinder“ zu viert unterzeichnen (im Berliner Tagesspiegel vom 2. August 1992; abgebildet in Meis/ Optendrenk 2009, 70). Günstig mag sich ausgewirkt haben, dass der Altersunterschied nicht sehr groß war und eher dem zwischen Geschwistern entsprach. Ruth Jaeger wurde am 17. Juni 1911 geboren (das – in der Forschungsliteratur ungenannt bleibende – Geburtsdatum ist hier dem vom regierungsamtlichen Census Bureau der USA veröffentlichten und im Internet zugänglichen Datenmaterial entnommen: http://www.locateancestors.com/ruth-jaeger/ [Stand 25.12. 2015]; es handelt sich um diejenige unter mehreren aufgeführten Trägerinnen von Vor- und Nachnamen, die in Watertown bei Boston gelebt hatte [vgl. Meis/Optendrenk 2009, 64– 69]; dass sie dort auch starb, geht aus der erwähnten Todesanzeige hervor). Bei der Übersiedlung in die USA im Sommer 1936 (s. u. Anm. 86) war sie also gerade 25 Jahre alt (s. auch Meis/Optendrenk 2009, 64– 65). Zu diesem Zeitpunkt war Erhard, das älteste Kind Jaegers, bereits zum – nach Abschaffung während der Weimarer Republik soeben (1935) wieder eingeführten – Wehrdienst einberufen, also mindestens 18 Jahre alt. Allerdings folgte Erhard Jaeger, den seine Einberufung zunächst in Deutschland festhielt, erst mit gewisser Verzögerung, nachdem es mit Hilfe des deutschen Konsuls in Chicago gelungen war, seine Entlassung zu erreichen. Später nahm er als amerikanischer Offizier im Nachrichtendienst (First Lieutenant in Intelligence) am Zweiten Weltkrieg teil. Diese Einzelheiten zitiert Hallett (1992) 55 aus der von Ruth Jaeger verfassten biographischen Skizze über Jaeger in einem Buch von Karl J. R. Arndt et al., Germans in Boston, Boston 1981, 19 – 22, das im Original nicht zugänglich war. Götte (1993) 221.
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nehmen, sagte er: „Bitte, meine Freunde, glauben Sie nicht, ich sei ein autómolos! Aber Sie sehen ja selbst, hier in Deutschland, in Berlin, wo ich so lange Zeit fruchtbar und mit viel Freude gelehrt habe, kann ich unter dem nationalsozialistischen Regime nicht mehr wirken, wenn ich mir selbst und meinem Ziele treu bleiben will.“ Wir sahen es und mußten ihm, auch unsererseits schweren Herzens, zustimmen.²¹
Götte rekapituliert dann aber auch noch die konkreten Gründe, wie sie sich ihm darstellten. Jaeger sei nach 1933 mehr und mehr Anfeindungen ausgesetzt gewesen, einmal deswegen, weil seine Schüler, die Privatdozenten Dr. Friedrich Solmsen und Dr. Richard Walzer, ‚Nichtarier‘ waren und auch seine Frau nur ‚halbarisch‘ war, zum anderen, weil Jaeger dem Nationalsozialismus und seiner Ideologie keine Zugeständnisse machte.
Mit dem Weggang Jaegers aus Deutschland und dem Neubeginn in den USA war eine folgerichtige Entwicklung zum Abschluss gelangt, die, so muss es bis hierher scheinen, geradlinig auf diesen Ausgang hingesteuert hatte: Vor allem die Lebenskonstellation, die 1931 durch die Ehe Jaegers mit Ruth Heinitz entstanden war, hatte, wie sich aufdrängt, alles Weitere vorgegeben. Um so irritierender ist nun aber, dass Jaeger sich auf der anderen Seite, ganz entgegen der Feststellung von Götte, den massiven Vorwurf zugezogen hat, er habe sich 1933 in eine geistige Nähe zum Nationalsozialismus begeben. Was es damit auf sich hat, soll im Folgenden – gemäß dem Titel dieses Beitrages – in differenzierter Rekonstruktion und Analyse geklärt werden. In der vorausliegenden Zeit, vor 1933, gibt es nichts, was auf eine diesbezügliche Anfälligkeit Jaegers hindeuten würde. Seine Berufung nach Berlin war mit ungewöhnlich großem Einsatz von dem Staatssekretär im preußischen Kultusministerium Carl Heinrich Becker gefördert worden, mit dem sich sogar eine enge persönliche Freundschaft entwickelte.²² Im Gefolge dieser Freundschaft bewohnten beide zwei benachbarte Grundstücke am Steglitzer Fichtenberg, einem noch heute noblen Wohnquartier im Südwesten Berlins. Becker, seit 1925 dann sogar preußischer Kultusminister im Kabinett des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun, war selbst parteilos, verfolgte jedoch hochschulpolitisch einen demokratischen Reformkurs, der ihm die dezidierte Gegnerschaft der
Noch abstrakter ist die eigene Darstellung Jaegers in Jaeger (1960) 484– 485. Auch Ruth Jaeger befolgte naheliegenderweise die Zurückhaltung ihres Mannes; im Sommer 1988 teilt sie in einem Brief an Uvo Hölscher mit, Jaeger sei „aus freiem Entschluß emigriert, weil es ihm unmöglich gewesen sei, weiterhin in Hitlerdeutschland zu leben“ (zitiert von Schmidt, in Borchardt/Jaeger 2007, 290 – 291). Nahestehende wie Schadewaldt und Solmsen hielten sich ebenfalls an diese Diskretion (Calder 1983, 111– 112). Die Dokumente in Calder/Schrage (2009).
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konservativen Professorenschaft der älteren Generation, z. B. eines Wilamowitz, eintrug. Offenbar sah Becker in Jaeger einen Mann seiner politischen Richtung. Die Teilung der Professorenschaft in eine ältere, konservativere Gruppe, die ihre Prägung noch im Kaiserreich erfahren hatte, und eine der Jüngeren, die in den – wenn auch instabilen – politischen Verhältnissen der Weimarer Republik verankert waren, bestand auch in der Berliner Klassischen Philologie, wo, wie Solmsen im Rückblick berichtet,²³ Jaeger und Deubner zumeist gemeinsame Positionen gegenüber Wilamowitz und Norden vertraten. Als dunkler Fleck auf seiner Biographie gilt ein gut sechs Seiten langer Beitrag von Jaeger in Heft 3 des ersten Jahrganges der im Frühjahr 1933 von dem nationalsozialistischen Bildungsideologen Ernst Krieck gegründeten und in der Folgezeit herausgegebenen Zeitschrift Volk im Werden. Er hat den Titel „Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike“. Jaeger hatte während der zwanziger Jahre sein Programm eines neuen, am Konzept der Paideia ausgerichteten Humanismus entwickelt (für den sich rasch die Bezeichnung „Dritter Humanismus“ durchsetzte).²⁴ Nach Flashar stand dieses Programm 1923 in den Grundzügen fest.²⁵ Zumindest seit dem Spätsommer 1931²⁶ arbeitete Jaeger mit größter Intensität am ersten Band des Werkes, in dem er die Geschichte der griechischen Literatur von Homer bis Demosthenes (mit dem später der dritte Band endet), eben im Sinne des Paideia-Konzepts, als Entfaltung eines der griechischen Kultur innewohnenden Bildungsprogramms darzustellen gedachte. Den Begriff Paideia, der dem Werk auch den Namen geben sollte, verstand Jaeger im Unterschied zu dem am Individuum orientierten Bildungsbegriff des Neuhumanismus dezidiert politisch. Jaeger definiert Erziehung im Einleitungskapitel sogleich als „Sache der Gemeinschaft“ (2): Nirgendwo kommt der bestimmende Einfluß der Gemeinschaft auf ihre Glieder stärker zur Geltung als in ihrem Bestreben, die beständig aus ihr hervorwachsenden neuen Individuen durch Erziehung bewußt in ihrem Sinne zu formen.
Solmsen (1989) 134. Die Bezeichnung stammt nicht von Jaeger selbst, wurde aber von ihm übernommen (Landfester 1999, 877– 878; Fritsch 2001a, 119 – 131; Schmidt 2003, 197– 200 und in Borchardt/Jaeger 2007, 208 – 209, 290 – 292). Vgl. auch die aus fachfernerer Sicht gegebenen Darstellungen von Mehring (1999) und, entwicklungsgeschichtlich sehr weit ausholend, Stiewe (2011). Flashar (2015) 421– 426. Die Zeitangabe ist erschlossen aus folgender Aussage Jaegers im Brief an Borchardt vom 19.11. 1931: „[…] mitten aus der Arbeit an meinem Buche heraus mußte ich mich Anfang Oktober noch einmal in die Fluten der Dekanatgeschäfte [sic] stürzen […]“ (Borchardt/Jaeger 2007, 42).
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Ein entsprechendes Bestreben sieht er in exemplarischer Weise in der Kultur der Griechen angelegt (14): Die Prägung des Einzelnen durch die Form der Gemeinschaft, die wir als das Wesen der Erziehung erkannten, geht bei den Griechen in immer zunehmender Bewußtheit von einem solchen Bild des Menschen aus […].
Dies mache die „weltgeschichtliche Bedeutung der Griechen als Erzieher“ aus (8). Daraus folgt für das Werk, das diese Einleitung zu eröffnen bestimmt war (16): „Eine Geschichte der griechischen Literatur, abgekapselt von der sozialen Gemeinschaft, aus der ihre Werke hervorgegangen, an die sie gerichtet und von der sie getragen sind, ist für uns nicht mehr möglich.“ Jaeger arbeitete, wie gesagt, zumindest seit dem Spätsommer 1931 intensiv an Paideia, Bd. 1. Dazu lehnte er alle Vortragseinladungen ab. Bald übernahm Ruth Jaeger die diesbezügliche Korrespondenz:²⁷ Nach unserer Heirat [Ende 1931] benutzte ich sein großes Vertrauen in mich dazu, jede Bitte um einen Vortrag, einen Artikel etc. sogleich in seinem Namen (von mir getippt, aber von ihm unterschrieben) abzulehnen.
Doch verhinderte die große Arbeitsbelastung nicht, dass Jaeger von einem Buch Kenntnis nahm, das 1932 erschien: Ernst Krieck, Nationalpolitische Erziehung. ²⁸ In dieser Kampfschrift ist die folgende Entwicklung bereits vorausgesetzt (9): Der symbolische Name des Kommenden heißt: das Dritte Reich. Sein Sieg schreitet fort in dem Maße, als der Gegner auf allen Gebieten überwunden und das revolutionäre Prinzip in Bewußtsein, Haltung und Lebensordnung durchgedrungen ist.
Für diese Zukunft entwirft der Autor das Programm einer nationalsozialistischen Erziehung,²⁹ in dem „Jugendbünde“ eine wichtige Rolle spielen (36): Die Jugendbünde aber sind die erzieherischen Vorstufen der politischen und wehrhaften Männerbünde […]. Durch sie wird dem künftigen Staat eine Auslese, eine tragende Schicht vorbereitet, die mit erhöhter Pflichtleistung an Staat und Volkstum erhöhte politische Berechtigung erhält. Den Wehrverbänden und den ihnen verwandten oder angegliederten Jugendbünden wohnt die nationalpolitische Erziehung als ihr eigentlichster Sinn ein. Die nationalsozialistische Massenbewegung besitzt in ihren Wehrverbänden und Jugendbünden nicht nur das Rückgrat, die tragende Auslese und Zuchtform, sondern auch das Formprinzip
Mensching (1991) 116 Anm. 216; vgl. ebd. 106, dazu 115 Anm. 203. Krieck (1932). Eine detaillierte Einführung findet sich bei Rittner (2012) 387– 421.
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des künftigen Staates nach seiner politischen und allgemein wehrhaften Seite hin, den Kern seiner Machtbildung und die Vorform seiner politischen Ausleseschicht. Hier vor allem muss Rasse aus Anlage und Zucht Wirklichkeit, sieghafte Form und Richtung werden.
Man liest dieses im nationalsozialistischen Jargon geschriebene Buch mit Widerwillen (das Zitat ist noch in einem vergleichsweise moderaten Ton gehalten), und man fragt sich, was Jaeger – zumal in der schwierigen Arbeitssituation, in der er sich befand – veranlasst hat, anstatt es zu ignorieren, mit seinem Autor sogar in einen Dialog zu treten. Denn eben dies geschieht in Jaegers Artikel in der von Krieck herausgegebenen Zeitschrift, deren Titel – Volk im Werden – die erziehungspolitische Perspektive ihres Gründers exakt widergibt. Jaeger geht zunächst auf Angriffe von nationalsozialistischer Seite gegen den traditionellen Humanismus³⁰ ein, für die er durchaus Verständnis aufbringt (43 – 44). Dessen Ziel sei die ästhetische und formale Selbstbildung des Individuums gewesen. „Eine Verbindung mit dem Leben der Gemeinschaft war nicht vorhanden oder nur lose hergestellt“ (44). Der tiefere Grund für diese Einseitigkeit gehe nicht etwa bereits auf die Antike selbst zurück, sondern habe „in dem gänzlich unpolitischen Charakter unserer klassischen deutschen Kultur der Weimarer Zeit“ gelegen (ebd.). Jaeger wird im Folgenden dann sein Programm als Angebot präsentieren, das die Defizite des traditionellen Humanismus zu überwinden geeignet ist (45): Das neue Geschichtsbild geht überall aus von einem neuen Durchstoßen durch die Schicht des äußerlich Tatsachenmäßigen zu der eigentlichen Wesensstruktur des antiken Menschen. Da steht in erster Linie die Erkenntnis, daß der antike Mensch in allen entscheidenden Phasen seines geschichtlichen Lebens der politische Mensch ist.
Darauf beruhe „seine ‚humanitas‘, weil der Staat noch den gesamten Umkreis des Lebens und Geistes umspannt“ (ebd.). Jaeger kann dazu sogar ein passendes Zitat aus dem Buch von Krieck anführen (ebd.): Uns ersteht jetzt als Vorbild und zur Erhellung unseres eigenen Weges der Mensch griechischer Zucht, musischer und wehrhafter Erziehung im Zusammenhang frühgriechischer Polisordnungen, weil er aus unseren eigenen Nöten und Bewegungen heraus verstehbar und darum ‚gegenwärtig‘ ist³¹.
Krieck bezieht sich in seinem Buch auch sonst gelegentlich auf die griechische Antike. Zwar stellt er fest (30 – 31), dass dem „Deutschtum“ Zu deren Zielrichtung vgl. Fritsch (2001b) 154– 157; Kuhlmann (2006) 421– 425. Bei Krieck (1932) 7: „wird“.
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mit dem altnordischen […] Schrifttum ein eindringliches und plastisches […] Bild verwandten Rassetums […] gegeben ist, das in mindestens ebenso hohem Grad wie das Griechentum die Bedeutung eines Vorbildes für uns besitzt […].
Doch gewinnt er das historische Modell für die Jugendbünde, deren Wiederbelebung er propagiert, dann ganz überwiegend aus der griechischen Kultur. Die Richtung weist ihm Hermann Usener mit seiner Abhandlung „Über vergleichende Sitten- und Rechtsgeschichte“³² (auf die Krieck ausdrücklich Bezug nimmt [52]): Ehedem hat die heranwachsende männliche Jugend in festgeschlossenen, straff gebundenen Vereinen sich selbst zu Ordnung und Sittlichkeit erzogen. Wir begegnen dieser Einrichtung, soweit wir nachkommen können, überall bei den europäischen Völkern […].
Usener demonstriert das Funktionieren dieser Institution vor allem an den attischen Epheben,³³ woraus wiederum Krieck unter Verwendung eigener Zutaten folgende Beschreibung und Übertragung gewinnt (58 – 59): Wie im Erziehungswesen der altgriechischen Polis wird der junge Mensch als Ganzes erfaßt von der gymnastischen und der musischen Seite her, also durch ein System von Übungen, das ihm die Prägung, die charakterliche Haltung geben soll. […] Der Jugendbund ist damit gleicherweise Wehrverband im kleinen, vielmehr erzieherische Vorstufe eines solchen, wie auch musisch-kultischer Chor mit enger Gemeinschaftsbindung. […] So wird der Jugendbund Träger eines hohen und erlesenen geistigen Gehaltes, aufnahmebereit für die Schöpfungen erzieherischer Dichtung und Musik, womit die Haltung der Jungen geprägt, ihr Rasse- und Volksbewußtsein ausgerichtet wird, indem sie diese Werte als geistigen Dauerbesitz in sich aufnehmen.
Man muss hier anmerken, dass der eigene Bildungshintergrund von Krieck, jedenfalls für solche historischen Exkurse, kaum zureichend war.³⁴ Er hatte kein Studium absolviert, sondern war über den Beruf des Volksschullehrers, in den er nach dem Besuch von Realschule und Lehrerseminar im Alter von 18 Jahren eintrat, und eine dann parallel zum Beruf betriebene autodidaktische Weiterbildung sowie die Tätigkeit als Publizist und Schriftsteller über bildungspolitische und pädagogische Themen 1928 auf eine Stelle an der Pädagogischen Akademie Frankfurt a. M. berufen worden. Eine Pädagogische Akademie war eine in den zwanziger Jahren neugeschaffene Stätte der Lehrerbildung, für die sich übrigens besonders der preußische Kultusminister Becker eingesetzt hatte und aus der
Usener (1907). Usener (1907) 121– 124. Zur Biographie (bis zum Beginn der dreißiger Jahre) und zur intellektuellen Entwicklung von Krieck s. Giesecke (1999) 33 – 44.
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später die Institution der Pädagogischen Hochschule hervorging. Kriecks pädagogische Werke waren zunächst in politisch-ideologischer Hinsicht unauffällig gewesen. Für seine Philosophie der Erziehung von 1922, in der er ein Verständnis von Erziehung ausarbeitete, das nicht auf einer individualpädagogischen Konstellation, den Rollen von Erzieher und Zögling, aufbaut, sondern auf Erziehungsleistungen, die in und von Gemeinschaften erbracht werden, erhielt er ein Jahr später sogar die Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg. Krieck entwickelte sich erst Anfang der dreißiger Jahre zum nationalsozialistischen Bildungsideologen und -agitator, wobei allerdings die Verbindungslinien, die zwischen den Grundgedanken des gerade erwähnten Buches von 1922 und dem Programm einer bündischen Formierung der Jugend in jenem von 1932 liegen, deutlich sind.³⁵ 1931 wurde er nach einem Zwischenfall, der Zweifel an seiner demokratischen Gesinnung aufkommen ließ, an die Pädagogische Akademie Dortmund strafversetzt und 1932 – Anfang des Jahres war er Mitglied der NSDAP geworden – in Verbindung mit eben dem Werk, das Jaegers Aufmerksamkeit erregte, unter Einleitung eines Disziplinarverfahrens beurlaubt; jedoch konnte er nach dem sog. „Preußenschlag“, der Absetzung der preußischen Regierung unter Ministerpräsident Braun im Juli 1932, wieder nach Frankfurt zurückkehren.³⁶ Nicht lange nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde er am 25. April 1933 als Professor für Pädagogik an die Frankfurter Universität berufen und bereits am folgenden Tag zu deren Rektor gewählt.³⁷ Zum 1. April 1934 folgte er
Krieck stand zunächst Ideen der Jugendbewegung, insbesondere der nach dem Ersten Weltkrieg aufkommenden Bündischen Jugend nahe (ein frühes Zeugnis bei Niemeyer 2013, 132), an die später die Hitlerjugend einerseits anknüpfte (Krieck bezeichnete sie als „jüngste Welle der Jugendbewegung“ [1932, 51]), von der sie sich anderseits aber, im engeren Sinne der NS-Ideologie, auch wieder nachdrücklich abgrenzte (Krieck, ebd. 48 – 51). Vgl. Niemeyer (2013) 192– 205. Zu den Ereignissen der Jahre 1931 und 1932 s. Giesecke (1999) 44– 46, dazu auch die ergänzenden Angaben in der Krieck-Biographie in Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv (www.munzinger.de/document/00000002778 [Stand 30.10. 2016]). S. den Krieck-Artikel auf USE, der universitätsgeschichtlichen Internetseite der Johann Wolfgang Goethe-Universität: http://use.uni-frankfurt.de/ton/guerel-krieck (Stand 1. 2. 2015). – Karl Reinhardt erinnerte sich später (1947, als er den Text abfasste, der dann aber erst 1955 gedruckt wurde; hier zitiert nach Reinhardt 1960, 389), wie er nach Ostern 1933 von einer Reise nach Süditalien zurückkehrte: „An der Universität war der Herausgeber des Revolverblättchens ‚Volk im Werden‘, der Pädagoge Krieck, der Kopf der Volksschullehrerschaft, eine programmentwerfende Null, auf den vorübergehend – nichts passiert bei Pädagogen leichter – einmal der treffliche Kultusminister Becker hereingefallen war, einstimmig bei sieben Enthaltungen (ein paar waren verreist) zum Rektor gewählt worden. Seine Photographie, in Großformat, mit Hakenkreuz und Eichenlaub geschmückt, stand in den Schaufenstern der Buchläden, die hergerichtet waren wie zu einer Goethehundertjahrfeier“. Die Bemerkung zu Becker gründet sich darauf, dass dieser es war, der seinerzeit Krieck an die Pädagogische Akademie Frankfurt berufen hatte. – Es ist der Er-
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einem Ruf an die Universität Heidelberg als Professor für Philosophie und Pädagogik und amtierte 1937/38 auch dort als Rektor.³⁸ Nachdem die Positionen von Krieck und die von Jaeger dazu angestellten Überlegungen skizziert worden sind, muss endlich die Frage, was Jaeger veranlasst hat, mit Krieck in einen Dialog zu treten, wiederaufgenommen und versuchsweise beantwortet werden. Wie sich zeigen wird, ist es erforderlich, den zeitlichen Ablauf der Ereignisse genau zu erfassen und auch die zu erschließende Bewusstseinslage der beteiligten Personen in die Betrachtung einzubeziehen. Kriecks optimistische Erwartung in dem Buch von 1932, das Dritte Reich werde kommen, ging schon im folgenden Jahr in Erfüllung, beginnend mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Krieck muss danach das Erscheinen der von ihm zweifellos länger geplanten Zeitschrift energisch vorangetrieben haben. Das erste Heft von Volk im Werden ist offenkundig im April 1933 erschienen, von Krieck auf S. 1 mit einer Eingangsbetrachtung „Die große Stunde Deutschlands“ eröffnet, die mit dem Satz beginnt: „Der März 1933 hat den Dammbruch gebracht […].“ Krieck bezieht sich damit auf die Ereignisse am 21. und 23. März, zunächst den „Tag von Potsdam“, als die konstituierende Sitzung des neuen Reichstages von dem neuberufenen Reichspropagandaminister Goebbels zur Inszenierung einer Vereinigungsfeier des nationalkonservativen Lagers mit Hindenburg an der Spitze und der Partei Hitlers benutzt wurde, und, zwei Tage später, die Annahme des Ermächtigungsgesetzes, wodurch die verfassungsmäßige Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive für vier Jahre aufgehoben wurde. Krieck stellt am Ende seiner Betrachtung fest: „Hinter der politischen Entscheidung, die gefallen ist, hat sich nun die neue Front der deutschen Kulturpolitik zu formen. Hier ist die Entscheidung noch nicht gefallen […].“ Jaeger scheint dies als Anstoß zur Eröffnung einer Diskussion verstanden zu haben, an der teilzunehmen auch Nichtnationalsozialisten eingeladen waren, und in der Tat ist sein Aufsatz ja auch in Kriecks Zeitschrift erschienen. Allerdings zeigt ein Blick in die folgenden Hefte von Volk im Werden, dass die Zeitschrift weitestgehend der internen nationalsozialistischen Diskussion diente. Man wird Jaeger zubilligen
wähnung wert, dass Krieck sich in seiner Frankfurter Rektoratsrede vom 23. Mai 1933 für die Einführung einer „Dozentenakademie“ für den Hochschullehrernachwuchs einsetzte und damit eine Einrichtung mit initiierte, die in der Folgezeit in Verbindung mit einem vorgeschalteten „Gemeinschafts-“ oder „Dozentenlager“ zu einem wesentlichen Steuerungsinstrument der nationalsozialistischen Hochschulpolitik wurde (dazu Losemann 1980, 87– 88). Über die Heidelberger Zeit und die Gründe von Kriecks vorzeitigem Rücktritt vom Rektorenamt s. Giesecke (1999) 53 – 59.
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müssen, dass er, als er seinen Beitrag übersandte, noch nicht wissen konnte, in was für eine Gesellschaft er sich damit begab. Zu berücksichtigen ist unbedingt auch folgender Sachverhalt: Als Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, mit nur zwei weiteren Nationalsozialisten neben sich im elfköpfigen Kabinett (einer von ihnen Göring als Minister ohne Geschäftsbereich), war den wenigsten Zeitgenossen die Tragweite dieses Ereignisses bewusst. Die Rechtskonservativen um Papen und Hindenburg waren sich sicher, den Kurs der Politik weiter bestimmen zu können. Doch machte Göring von seiner Macht als preußischer Innenminister, der er geblieben war, schon im Februar regen Gebrauch. Am einschneidendsten war die Aufstellung einer 50.000 Mann starken bewaffneten Hilfspolizei, die sich aus Mitgliedern der SA, der SS und des „Stahlhelm“ rekrutierte. Die reguläre Polizei wurde angewiesen, mit diesen Kräften das beste Einvernehmen herzustellen. Der Reichstagsbrand am 27. Februar ergab dann die Gelegenheit, dieses staatliche Gewaltpotential massiv zum Einsatz zu bringen. Gestützt auf die einen Tag später von Hindenburg unterzeichnete „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“, die elementare Grundrechte außer Kraft setzte, überrollte eine Verhaftungswelle das Land, die Tausende von politischen Gegnern erfasste, was für die Betroffenen Haft, Verhör, oft auch Folter bedeutete. Begleitet von Gewaltaktionen gegen Oppositionelle und antijüdischen Ausschreitungen vergingen die folgenden vier Wochen bis zum „Tag von Potsdam“ und zur Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes. Für den 1. April 1933 wurde zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Eine die eigene materielle Existenz unmittelbar gefährdende Bedrohung bedeutete dann für die hiervon Betroffenen das „Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April, das die Entlassung jüdischer Beamter festlegte. Doch dauerte es danach noch einige Monate, bis der Vollzug tatsächlich einsetzte und das Ganze in seiner Tragweite erfahren wurde. Dass mit der Ernennung Hitlers nichts Geringeres als eine fundamentale Zäsur vollzogen worden war und dass die judenfeindliche Programmatik in Mein Kampf alles andere als „Propagandagerede“ darstellte,³⁹ wurde nur zögerlich realisiert. Man nahm die Gefahr vielfach nicht ernst und ließ sich die auf Hitler projizierten Hoffnungen – energische Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Not, dazu nationale „Erneuerung“ – nicht nehmen. Es sind gerade zwei Beispiele bedeutender Klassischer Philologen, die das auf erschütternde Weise belegen. Eduard Norden, der später in der Folge der Rassegesetzgebung in die Emigration getrieben wurde, kommentierte (nach einem Bericht des – gerade schon in Zusammenhang mit Jaeger erwähnten – Johannes Götte) in seiner Vorlesung am
Sie als solches missverstanden zu haben, räumte Norden später ein (Götte 1993, 280).
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31. Januar 1933, dem Tag nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Hindenburg, zur Verblüffung des Auditoriums die politische Situation durch einen abgewandelten Ennius-Vers: unus homo nobis audendo restituit rem, „ein einziger Mensch hat uns durch sein Wagen den Staat wiederhergestellt.“ Diese Äußerung pflegt (seit Götte) als direkte Verbeugung Nordens vor Hitler verstanden zu werden, doch, so ergibt genauere Analyse, ist das abgewandelte Zitat unbedingt auf Hindenburg zu beziehen,⁴⁰ was jedoch an einer positiven Einschätzung Hitlers, die es im gegebenen Zusammenhang ebenfalls, allerdings implizit, zum Ausdruck bringt, nichts ändert.⁴¹ Felix Jacoby, der dann schon bald aufgrund der Rassegesetze vorzeitig aus seinem Amt gezwungen und später ebenfalls in die Emigration getrieben wurde, eröffnete im Sommersemester 1933 seine Horaz-Vorlesung an der Universität Kiel sinngemäß mit folgenden Worten: Er habe seit 1927 Hitler gewählt und preise sich glücklich, im Jahr der nationalen Erhebung über den Dichter des Augustus lesen zu dürfen. Dieser sei die einzige Gestalt der Weltgeschichte, die man mit Hitler vergleichen könne.⁴² Auch für Jaeger dürfte gelten, dass er die Tragweite der in rasendem Tempo ablaufenden aktuellen Vorgänge noch nicht zur Gänze erfasst hatte, als er, vermutlich noch im April 1933, auf das vermeintliche Angebot Kriecks zur Diskussion in Volk im Werden reagierte und seinen – wahrscheinlich schnell geschriebenen – Beitrag einreichte. Man kann nun annehmen, dass er in Krieck einen ebenso
Hitler war gerade erst am Vortag ernannt worden; er hatte in der Funktion des Reichskanzlers noch gar nichts unternommen, geschweige denn gewagt. Hindenburg dagegen, der sich in der andauernden Staatskrise dazu durchgerungen hatte, den von ihm lange abgelehnten „böhmischen Gefreiten“, den Anführer der Partei, die die stärkste Fraktion im Reichstag stellte, zum Reichskanzler zu ernennen, hatte gehandelt. So betrachtet, entbehrt das abgewandelte Zitat, das sich bei Ennius auf den römischen Feldherrn Quintus Fabius Maximus, den „Cunctator“, bezieht und dessen viertes Wort dementsprechend cunctando, „durch sein Zögern“, lautet, nicht eines subtilen Witzes: Hindenburg, auch er einst ein bedeutender Feldherr („der Sieger von Tannenberg“, 1914), hatte sein Zögern aufgegeben und Wagemut gezeigt. Vollends unfassbar ist dann die Äußerung Nordens in einem Brief an seinen Schüler Köstermann (überliefert von Mensching 1992, 122), immerhin schon vom 22. April 1934. Nachdem er zuvor seine Lage illusionslos geschildert und Sorge um das künftige Los seiner Kinder zum Ausdruck gebracht hat, fährt er fort: „Aber was ist am Einzelnen gelegen,wenn nur das Volksganze gefestigt wird. Ich denke manchmal an die Horazode O navis. Den Steuermann Hitler liebe ich, trotz allem, wie Sie.“ Hinter Norden lag inzwischen die Erfahrung von mehr als einem Jahr nationalsozialistischer Herrschaft. Berichtet aus eigener Erinnerung von Georg Picht (1977) 199 – 200. Zu Zweifeln, die an der Glaubwürdigkeit der Jacoby zugeschriebenen Äußerung erhoben wurden, s. Wittram (2004) 102– 104 und Chambers (2009) 18 – 20. Sie erwuchsen vor allem aus einzelnen auf die Goldwaage gelegten Formulierungen des Zitats. Doch bedient sich Picht der direkten Rede offenkundig als einer darstellerischen Form, der Anspruch einer wörtlichen Authentizität ist damit nicht erhoben.
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einflussreichen wie potentiell bereitwilligen Verbündeten zu gewinnen hoffte, der dann als Anwalt sowohl für sein, Jaegers, humanistisches Konzept als auch für ein darauf gegründetes Modell des altsprachlichen Unterrichts eintreten könnte. Auch wenn ihm der plump agitatorische Charakter des Auftretens von Krieck in dem Buch von 1932 nicht entgangen sein kann, mochte die Hoffnung berechtigt erscheinen, dass ein Autor, der in einer nationalsozialistischen Programmschrift ohne Abwertung und Polemik auf die Antike Bezug nahm,⁴³ geeignet und bereit sein könnte, diese Flanke abzusichern. Vielleicht würde er sich ja sogar geehrt fühlen. Man musste ihm, begleitet von gewissen Gesten der Übereinstimmung, nur zeigen, dass Jaegers Konzept seinen eigenen Vorstellungen im Grunde entsprach und er sich ohne Risiko darauf einlassen konnte. Neben einer solchen, rein taktisch motivierten Annäherung an Krieck kommt allerdings auch die Möglichkeit in Betracht, dass Jaeger sogar Anlass zu haben glaubte, in Krieck mehr als nur ein Werkzeug, nämlich einen ihm in wesentlicher Hinsicht Gleichgesinnten zu sehen. Auch wenn sich das, wie vorweg gesagt sei, nicht eindeutig nachweisen lässt, ist der folgende, in der Forschung zu Jaeger anscheinend unbemerkt gebliebene Sachverhalt, aus dem diese Möglichkeit erwächst, so interessant, ja verblüffend, dass er kurz dargestellt zu werden verdient. Krieck war auf das antike Griechenland bereits in den zwanziger Jahren in drei kürzeren Publikationen, gleichwohl aber, im Verhältnis zu deren Umfang, recht ausführlich eingegangen.⁴⁴ Während er in den Schriften Musische Erziehung (1928) und Staat und Kultur (1929) in tendenziell vergleichbarer Weise wie im Buch Nationalpolitische Erziehung die Institution der Jugendbünde und deren musische Dimension behandelt,⁴⁵ hatte er bereits 1924 in ein schmales Bändchen mit dem Titel Dichtung und Erziehung einen Exkurs zur griechischen Dichtung von Homer bis zur Tragödie aufgenommen, der deren politisch-lehrhafte Funktion betont und anerkennt.⁴⁶ Dort findet sich der erstaunliche Satz: „Im homerischen Epos ist die
Im August 1933 verfasste Krieck für die späteren Auflagen ein Vorwort, das in seinem letzten Satz noch einen weiteren Antikebezug herstellte (beim folgenden Zitat ist hinzuzudenken: „dank der Führerschaft Adolf Hitlers“): „So wird aus dem deutschen Volke der platonische Zucht- und Erziehungsstaat auf der Grundlage eines rassisch-völkischen Weltbildes und im Zusammenhang eines neu erstehenden Geschichtsbildes errichtet werden.“ Das Werk gelangte bis zur 25. Auflage (1943), mit der das „75.–80. Tsd.“ an Exemplaren erreicht wurde. Krieck ließ diese Arbeiten 1933 mit politisch aktualisierenden Vorworten neu erscheinen (s. Krieck 1933 bzw. 2. Aufl. von Krieck 1924). Krieck (1928) 12– 19 (= Krieck 1933, 17– 27); Krieck (1929) 59 – 76 (= Krieck 1933, 32– 46). Das Thema wird in den beiden Schriften von unterschiedlichen Ausgangspunkten her in Angriff genommen, worauf aber hier nicht näher einzugehen ist. Krieck (1924) 102– 110 (in der 2. Aufl.: 67– 72).
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erzieherische Funktion ganz unverkennbar […].“⁴⁷ Das hätte – wenige Jahre später – auch Jaeger im ersten Band von Paideia schreiben können, wo dafür ein Abschnitt „Homer als Erzieher“ überschrieben ist.⁴⁸ Schwerlich ist Jaeger selbst auf diese Abhandlung Kriecks aufmerksam geworden, aber dass ihm z. B. ein Gewährsmann aus den Reihen des DAV einen entsprechenden Hinweis gegeben haben könnte, als er 1933 etwas für Volk im Werden zu schreiben erwog und darüber auch mit anderen sprach, ist nicht ganz abwegig.⁴⁹ Als Jaegers Aufsatz zum Druck akzeptiert und erst recht als er, wie sich rekonstruieren lässt, ungefähr Mitte Juli 1933 publiziert worden war, schien, was die erhoffte Wirkung angeht, Optimismus gerechtfertigt. Es fällt auf, dass der Artikel nun vom DAV gewissermaßen übernommen wurde und so etwas wie offiziösen Charakter erhielt, woran Jaeger selbst als 2. Vorsitzender natürlich Anteil hatte.⁵⁰ Als einziger Referenztext neben dem „Altsprachlichen Lehrplan für das deutsche humanistische Gymnasium“, den der DAV 1930 vorgelegt hatte,⁵¹ wurde er im Anhang zu den im Sommer 1933 vom Vorstand erarbeiteten Leitsätzen des Verbandes „Zur Neugestaltung des humanistischen Bildungsgedankens auf dem
Krieck (1924) 104 (in der 2. Aufl.: 68). Jaeger (1934) 63. Möglicherweise war die Neuauflage der Krieck’schen Schrift zu dem anzunehmenden Zeitpunkt auch bereits erschienen oder mindestens angekündigt. Der 1. Vorsitzende des DAV Emil Kroymann hatte seinerseits bereits am 13. April in einem Rundschreiben „die Vorsitzenden der Landesverbände ersucht, auf einer kurzen Tagung über das Thema: ‚Die alten Sprachen und die nationale Erhebung‘ als wesentlichste Punkte: Nationalbewußtsein, Gemeinschaftswille, Opferbereitschaft, Führergedanke, Wehrhaftigkeit, Frömmigkeit, wirkliches Wissen und Können herauszustellen und zu prüfen, in welchem Sinne der altsprachliche Unterricht der Verwirklichung dieser Gedanken dienen kann und will, und zwar grundsätzlich durch bewußte Menschenformung und sachlich durch die Vertiefung in das Werk der Antike, das nationale Selbstbehauptung, Macht der Staatsidee, Bedeutung der Führerpersönlichkeit in den großen Männern des Altertums, heroischen Idealismus und geistige Lebenshaltung im Kampfe gegen Materialismus und mechanisch-technische Verflachung predigt“ (Mitteilungen des DAV 7, 1933, Heft 2, 12). Von dieser Initiative muss Jaeger als 2. Vorsitzender des DAVgewusst haben. Der Gedanke drängt sich auf, dass die beiderseitigen Aktivitäten, Kroymanns Initiative und Jaegers Artikel, abgestimmt gewesen sein könnten. Der Vortrag, den der Vorsitzende des Landesverbandes Berlin-Brandenburg-Grenzmark Paul Babick, Kroymanns Anregung folgend, dann unter dem von Kroymann vorgegebenen Titel am 10. Juni 1933 in der Berliner Universität hielt, ist im selben Heft der Mitteilungen publiziert (3 – 12). Es handelt sich um das Dokument einer bedrückenden Unterwürfigkeit gegenüber den neuen Machthabern. An der Themenliste Kroymanns fällt auf, dass die Rassethematik nicht vorkommt. Babick hingegen, zwei Monate später, widmet sich ihr ausführlich (8 – 9). Es handelt sich also nicht um einen amtlichen Lehrplan, wie der Begriff heute ausschließlich verwendet wird. Die 35-seitige Ausarbeitung erschien als Separatpublikation bei Weidmann in Berlin.
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Gymnasium“ aufgeführt. Bereits vorher, „Anfang Juli“, waren die beiden Vorsitzenden des Verbandes, der pensionierte Gymnasialdirektor Kroymann und Jaeger, vom preußischen Kultusminister Bernhard Rust (selbst ehedem Lehrer für alte Sprachen und Deutsch am Ratsgymnasium in Hannover)⁵² empfangen worden, dem sie, wie es in den Mitteilungen des DAV sibyllinisch heißt, die „die Altphilologenschaft bewegenden Fragen“ vortragen durften.⁵³ Auf der Vertreterversammlung des DAV am 30. September 1933 kommt es zum letzten Auftritt Jaegers in dieser Angelegenheit. Er erläutert noch einmal Inhalt und Funktion der „Leitsätze“⁵⁴ und arbeitet in einer Kommission mit, die am
Zum Aufstieg von Rust und zu seinem Wirken als Minister, ab 1934 zusätzlich auch als Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, s. Nagel (2012) pass. So der Bericht des 1. Geschäftsführers des DAV A. Krause („Zur Lage“) in den Mitteilungen des DAV 7 (1933) Heft 2, 12. Dabei dürfte es, wie der Zusammenhang im Bericht von Krause nahelegt, zuvörderst um die Frage gegangen sein, ob die Schulform des Gymnasiums gefährdet sei. Im Ganzen ergibt sich für die Ereignisse ab Anfang Juli der folgende Ablauf: Am Beginn steht das Gespräch mit Rust. Jaegers Artikel erscheint Mitte Juli, war aber natürlich vorher schon im Manuskript dem Vorstand des DAV zur Kenntnis gebracht worden. Deshalb kann Krause, etwas missverständlich, berichten, die von Jaeger in seinem Aufsatz ausgeführten Gedanken seien Anfang Juli in dem Gespräch mit Rust vorgetragen worden. (Den gleichen Zusammenhang, doch in entgegengesetzter Reihenfolge nimmt Irmscher 1965/66, 238 an, danach Fritsch 2001b, 161: Jaeger habe das „Fazit“ aus dem Gespräch mit Rust in seinem Artikel in Volk im Werden veröffentlicht. Dies aber entspricht weder der Genese noch dem Inhalt,wie gerade behandelt, und erst recht nicht dem Schicksal des Artikels, von dem sogleich die Rede sein wird. Vielmehr scheint sich Rust bei dem Treffen, im Einklang mit dem Bericht von Krause, im Wesentlichen auf das Anhören der beiden Verbandsvertreter beschränkt und sich eigener Festlegungen weitgehend enthalten zu haben. Erst dadurch ermöglichte er es dann Krieck, sich in seiner Antwort an Jaeger autoritativ als Stimme der nationalsozialistischen Bildungspolitik – „Unser Verhältnis zu Griechen und Römern“ – in Szene zu setzen. Vollends aus der Luft gegriffen ist, was Calder 1989, 357 [und entsprechend 1990, 221] über das Ergebnis des Gesprächs mit Rust im Juli 1933 mitzuteilen weiß: Auf Rusts Verlangen „legte Jaeger, gemeinsam mit dem Verbandspräsidenten Kroymann, den deutschen Latein- und Griechischlehrern das Programm vor, das die neue Regierung von ihnen erwartete. Das heißt: Jaeger willigte ein, für das neue Regime gegenüber seinen Berufsgenossen als Sprachrohr zu fungieren.“) Da die „Leitsätze“ in ihrer ersten Fassung (sie wurden später, Ende September, noch überarbeitet) bereits auf Jaegers Artikel mit Heft- und Seitenangabe verweisen, sind sie nach dessen Erscheinen, aber nicht wesentlich später abgeschlossen worden. Denn sie sind im selben Heft der Mitteilungen des DAV erstmals abgedruckt (1– 3) – nicht erst im Deutschen Philologen-Blatt vom 13.9.1933 (so der bei Fritsch 2001b, 161 u. 178 entstehende Eindruck) –, in dem auch der gerade herangezogene Bericht von Krause steht, der im Ganzen die Situation im Sommer 1933 nicht lange nach dem Gespräch mit Rust voraussetzt (auf diesen Zeitpunkt verweist auch die Stellung des Heftes – als Nr. 2 – innerhalb des Jahrgangs, der dann im Herbst mit dem Doppelheft 3/4 [vgl. Anm. 54, dazu Anm. 81] abgeschlossen wurde). Auch diesmal berichtet A. Krause, Mitteilungen des DAV 7 (1933) Heft 3/4, 8 – 9: „In der Aussprache gibt W. Jaeger grundlegende Erklärungen ab: Nicht innere Umstellung, sondern äußere
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folgenden Tag die endgültige Fassung formuliert.⁵⁵ Dabei wird ein Schlussabsatz hinzugefügt, der die Anpassung an die ideologischen Verhältnisse dokumentiert, die der DAV in den zurückliegenden Monaten durchlaufen hatte: Diese deutsche humanistische Erziehung ist eine im eigentlichen Sinne deutsche Angelegenheit und von allen ausländischen Formen gleichen Namens unterschieden. Sie hat nichts zu tun mit Kosmopolitismus oder mit erneuertem Heidentum. Sie strebt danach, die besten Kräfte des deutschen Menschen zu wecken und auszubilden durch die Beschäftigung mit den artverwandten Völkern des Altertums und ihn dadurch seines eigenen volksgebundenen Wesens nur um so fester zu versichern.
Immerhin ist auch dieses Bekenntnis auf relativ zurückhaltende Weise formuliert. Bei der Eröffnung der Versammlung hatte der 1.Vorsitzende Kroymann eine andere Tonart angeschlagen, wie dem Bericht in den Mitteilungen des DAV zu entnehmen ist: „Mit warmen Worten würdigt er dann das große Werk des nationalsozialistischen Umbruchs und seines gottgesandten Schöpfers und schließt mit einem dreifachen Sieg Heil auf unseren Führer Adolf Hitler.“⁵⁶ Man wüsste gern, wie Jaeger dabei zumute war. Seinen Schülern Solmsen und Walzer war zu Beginn des Monats, am 2. September, aus „rassischen“ Gründen die Lehrbefugnis entzogen worden. Alle Hoffnung, die sich mit Jaegers Artikel verbunden hatte, zerplatzte schon ein Vierteljahr nach seinem Erscheinen und nur einen halben Monat nach der definitiven Verabschiedung der „Leitsätze“. In einer knappen (nur gut eine Seite lang), inhaltlich und argumentativ dürftigen, aber in der Aussage klaren Antwort in Heft 5 des Jahrgangs („Unser Verhältnis zu Griechen und Römern“, 77– 78), die ungefähr Mitte Oktober 1933 erschien, ließ Krieck Jaeger wissen, dass „unser Verhältnis zur Antike“ einer „Zwischenschaltung des Begriffs der ‚Humanität‘ – auch in Gestalt des Dritten Humanismus –“ mit seiner Orientierung am „Literarisch-Ethisch-Ästhetischen“ nicht bedürfe. Unter Einbeziehung auch von Rom und
Umformung sei nötig. Freilich müsse man den Begriff der humanistischen Bildung richtig fassen im Sinne politischer Bildung; so habe Plato den Begriff paideia verstanden: im Gegensatz zu den engen Grenzen der Fachwissenschaften als lebenzugewandte, nationalsozialpolitische Erziehung. Für die Masse seien die Leitsätze zu akademisch; sie seien aber hauptsächlich als Grundlage für Besprechungen an maßgebenden Stellen gedacht. Das Lateinische trete hinter dem Griechischen zurück, weil jenes nicht bedroht sei und dieses in erster Linie als unentbehrlich habe hingestellt werden sollen.“ Beide Versionen in Paralleldruck bei Fritsch (2001b) 178 – 183. Die endgültige Fassung auch in Burck/Clasen/Fritsch (1987) 10 – 12. Mitteilungen des DAV 7 (1933) Heft 3/4, 8.
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in enger Anlehnung an das, was er in seinem Buch von 1932 über die Bedeutung der Jugendbünde ausgeführt hatte, stellte er nunmehr klar: Was uns von der Antike heute angeht, weil es unsere eigene Aufgabe betrifft, ist 1. die Lebensganzheit und Lebensordnung der frühen Polis, 2. die politisch-wehrhafte Zucht der Staatsbürger und der Jugend, insbesondere die römische Staatszucht, 3. die bündisch-körperschaftliche Lebensform der wehrhaften Männer und des Nachwuchses in den aufsteigenden Altersklassen, 4. das gymnastisch-musische Bildungssystem.⁵⁷
Kehrt man nun vom Herbst 1933 wieder zurück zu dem vorauszusetzenden Zeitpunkt der Abfassung von Jaegers Beitrag für Volk im Werden, d. h. in die Zeit des April 1933, könnte eine zurückhaltende Bewertung der Jaeger’schen Aktion vertretbar, ja angebracht erscheinen.⁵⁸ In der Voraussicht auf Veränderungen im deutschen Erziehungswesen, die sich in der gegebenen politischen Situation abzeichneten, aber noch keine konkrete Gestalt annahmen, wollte er mit der ihm eigenen Geschmeidigkeit die Chance nutzen, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt der Antike einen Platz auch unter den neuen Verhältnissen, wenn sie sich denn tatsächlich etablieren und stabilisieren sollten, zu sichern. Dabei konvergierten seine eigenen Interessen und die der Vertreter des altsprachlichen Unterrichts. Das Buch von Krieck als Anknüpfungspunkt und Kriecks Zeitschrift als Diskussionsforum schienen sich als geeignete Instrumente für diese Operation anzubieten. Das alles ist gewiss nicht ohne Anstoß – die rasche, ja überhastete Reaktion schloss die Preisgabe gewachsener Standards und Prinzipien ein, die ehedem als
In den beiden nächsten Jahrgängen von Volk im Werden erschienen dann passenderweise zwei aufeinander bezogene Aufsätze von Wolfgang Aly (1934 und 1935), die mit Sätzen wie den folgenden das Schlusswort zu dem „Dialog“ zwischen Jaeger und Krieck sprachen: „Damit lehnen wir den Leitgedanken des Humanismus ab“ (1934, 229). „Die unzeitgemäße Form des Unterrichtens ist der sogenannte Humanismus. Denn er predigt Menschentum vor Volkstum. Das ist verkehrte Welt“ (1935, 428). Aly, habilitierter Lektor am Philologischen Seminar der Universität Freiburg, der 1931 in die NSDAP eingetreten war, war der „dienstälteste“ Parteigenosse im Lehrkörper seiner Universität (Näheres bei Malitz 2006, 4). Auch bereits bei Krieck klingt an der zitierten Stelle an, dass der Begriff „Humanismus“ als solcher auf nationalsozialistischer Seite starke Aversion auszulösen geeignet war. Das war eine verbreitete Einstellung (vgl. Landfester 2011, 214– 215), gegen die Jaeger und mit ihm der DAV trotz aller Bemühung um eine Neudefinition (wie sie doch Jaeger in seinem Beitrag in Volk im Werden soeben entworfen zu haben meinte) auf verlorenem Posten kämpften. Ein Beispiel einer solchen Bewertung findet sich bei Ludwig (1984) 168: „Jaeger hatte 1933 auch, anscheinend ohne damals den Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft voll wahrzunehmen und wohl auch in Überschätzung seiner persönlichen Wirkungsmöglichkeiten, den Beweis zu führen gesucht, daß seine Auffassung von Humanismus im Sinne einer Erziehung zum heroisch-politischen Menschen sehr gut zu der neuen Ära passe und geeignet sei, die Gymnasien zu einer Stätte der humanistisch-politischen Bildung für den neuen Staat zu machen.“
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verpflichtend gegolten hatten –, doch kann man die Entscheidung, das Risiko einzugehen, aus der gegebenen Situation heraus auch wieder nachvollziehbar finden. Jedenfalls sollte, wer nie in eine derartige Lage geraten ist, mit einer Verurteilung zurückhaltend sein. Doch erfährt, was sich bisher ergeben hat, noch eine Fortsetzung, durch die sich die Bewertung nicht unwesentlich verändert. Ausgangspunkt ist folgender Sachverhalt: William M. Calder hat zusammen mit Maximilian Braun 1996 die Anstreichungen und Randnotizen publiziert, die Paul Friedländer in seinem Exemplar von Jaegers Paideia vorgenommen hat.⁵⁹ Friedländer (1882– 1968), Professor in Marburg und Halle, 1930 auch einer der Vortragenden auf der von Jaeger veranstalteten Naumburger Tagung, wurde 1935 aus dem Amt vertrieben; er emigrierte 1939 in die USA.⁶⁰ Im ersten Band von Paideia wurde er von Beginn an auf Anklänge an nationalsozialistisches Sprach- und Gedankengut aufmerksam. So kontrastiert Jaeger ein, wie er zu verstehen gibt, alles in allem vorhandenes „Nähegefühl rassischer Verwandtschaft“ gegenüber Griechen (und auch Römern) mit der sehr viel ausgeprägteren Distanz („riesengroßer Unterschied“), „die wir gegenüber den⁶¹ ausgesprochen rasse- und geistesfremden Völkern des Orients empfinden“ – Friedländers Kommentar dazu: „die Nähe Hitlers!“⁶² An anderer Stelle räsoniert Jaeger über die Gemeinsamkeit, die Homer und die Griechen der Folgezeit miteinander verbinde, und erkennt „ihren tieferen Grund […] in den verborgenen Erbeigenschaften der Rasse und des Blutes“; unmittelbar darauf ist im gleichen Zusammenhang von „dem für uns nur gefühlsmäßig und intuitiv zu erfassenden Moment des Volkstums und der Rasse“ die Rede. Hierzu merkt Friedländer zwar an: „das Übliche, schon vor 33 Übliche, jetzt angefrischt!“⁶³ Aber Jaeger jedenfalls hatte früher nicht so geschrieben. Zu einer pathetischen Äußerung, in der Jaeger auf die eigene Zeit eingeht – „Doch in dem gegenwärtigen Augenblick, wo unsere gesamte Kultur aufgerüttelt durch ein ungeheures eignes Erleben der Geschichte in eine neue Prüfung ihrer Grundlagen eingetreten ist […]“ –, findet sich der lapidare Kommentar „Nazi!“.⁶⁴ Den noch verfänglicheren Satz Calder/Braun (1996). Notizen Friedländers befinden sich in allen drei Bänden des Werkes (Jaeger 1934, 1944 und 1947), überwiegend aber im ersten Band. Über die komplizierten Abläufe bis zum Eintreffen Friedländers in den USA am 20. August 1939 s. die erschöpfende Rekonstruktion von Obermayer (2014) 601– 643, durch die Mensching (2003) überholt ist. Nach dem Artikel muss gedanklich ein „uns“ eingeschoben werden. Jaeger (1934) 4, Friedländer in Calder/Braun (1996) 218. Friedländer bezieht sich durch Unterstreichung nur auf das zweite, die Völker des Orients betreffende Zitat; das erste ist hier um der Vollständigkeit des Gedankens willen hinzugefügt. Jaeger (1934) 88, Friedländer in Calder/Braun (1996) 221. Jaeger (1934) 19, Friedländer in Calder/Braun (1996) 219.
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„Es wird das Ziel des modernen Führerstaates sein müssen, diesen neuen Weg zu finden, der zwischen der demokratisch unterbauten Führerstellung des Perikles und der rein militärisch gestützten Alleinherrschaft des Dionysios hindurchführt“ – hierzu notierte Friedländer: „tell it Hitler! Ecco!“⁶⁵ – entfernte Jaeger stillschweigend in der zweiten Auflage von 1936, dem Jahr seines Wegganges in die USA. Er tat dies, wie nahe liegt, in dem vorauseilenden Bestreben, sich nun nicht mehr mit einer politischen Zielvorstellung zu exponieren, die nach amerikanischen Maßstäben leicht als inkorrekt empfunden werden konnte.⁶⁶ Nur wortlos bzw. mit dem Zusatz „NB!“ unterstrichen hat Friedländer die folgenden beiden Stellen in Paideia I, die den gewonnenen Eindruck vertiefen:⁶⁷ „Wir gehen dazu wohl am besten von der rassemäßigen Formanlage des griechischen Geistes aus“⁶⁸ – gemeint ist: um „die Stellung des griechischen Geistes in der Bildungsgeschichte des Menschen […] in prinzipieller Schärfe [zu] erfassen“ – und „In
Jaeger (1934) 511, Friedländer in Calder/Braun (1996) 235. Eine der ersten Arbeiten, die Jaeger in den USA verfasste, war dann der Aufsatz „Greeks and Jews. The First Greek Records of Jewish Religion and Civilization“ (Jaeger 1938a). Mit diesem Hinweis verbindet sich, wie betont sei, nicht die Unterstellung, dass auch hier taktische Überlegungen mitgespielt haben. Doch verdient das Faktum im gegebenen Zusammenhang erwähnt zu werden. Jaeger veröffentlichte einen Teil der Ergebnisse unter dem Titel „Theophrast und der älteste griechische Bericht über die Juden“ auch auf deutsch als „Exkurs II“ zum TheophrastKapitel seines Buches Diokles von Karystos (Jaeger 1938b, 134– 153). Da Friedländer bei der Emigration in die USA seine Privatbibliothek mitnehmen durfte (Calder/Braun 1996, 214; Obermayer 2014, 643), stellt sich die Frage, wo und damit auch wann er seine Notizen in den ersten Band von Paideia eingetragen hat – nach Obermayer, ebd. 27 Anm. 83, „mit hoher Wahrscheinlichkeit noch vor Friedländers erzwungenem Entpflichtungsgesuch (3.11. 1935)“. Da Friedländer seine Kritik an nationalsozialistischem Gedankengut bei Jaeger mit größter Offenheit, mitunter auch sarkastisch formuliert – was ihn in Deutschland bei einer Verkettung unglücklicher Umstände, wenn der Band in falsche Hände geraten wäre, in zusätzliche Gefahr gebracht hätte –, liegt indes die Annahme näher, dass er solcher Gefährdung wohl wissend aus dem Weg ging und die Eintragungen erst in den USA vornahm (wie bei den ebenfalls annotierten Bänden 2 und 3, die ja erst später erschienen [s. o. Anm. 59 bzw. u. Anm. 77]).Vom ersten Band, so wäre weiter zu präzisieren, hätte er die 1. – und nicht die inzwischen erschienene 2. – Aufl. benutzt, da er sie besaß und mitgebracht hatte. In ihr war die von ihm mit ätzender Ironie missbilligte Stelle (s. o. Anm. 65) noch enthalten, die Jaeger in der inzwischen erschienenen 2. Aufl. getilgt hatte. Zu dem hier vertretenen Spätansatz passt, dass Jaeger in zwei Randbemerkungen (Calder/ Braun 1996, 223 und 235 [letztere ist oben zitiert]) ins Englische fällt, mithin in die Sprache seiner neuen Heimat, was demgegenüber bei einer Abfassung in Deutschland völlig unmotiviert gewesen wäre. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass er einmal die Übersetzung des ersten Bandes von Paideia von Highet erwähnt (Calder/Braun 1996, 221), die erst 1939 erschien; man müsste also einen späteren Nachtrag konstruieren, um mit diesem Problem fertigzuwerden. Jaeger (1934) 9, Friedländer in Calder/Braun (1996) 218.
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diesen Worten liegt das ureigenste Lebensgefühl des Griechen ausgesprochen, in dem wir uns ihm art- und rasseverwandt fühlen, der Heroismus.“⁶⁹ Um die von Friedländer gemachten Beobachtungen bewerten zu können, muss man wissen und berücksichtigen, dass Jaeger den in diesem Zusammenhang zentralen Begriff der Rasse auch noch an weiteren Stellen von Paideia, Bd. 1, benutzt.⁷⁰ Allerdings ist zwischen verschiedenen Verwendungen zu differenzieren. So spricht Jaeger vom „Rassenzuchtgedanken“ (bzw. vom „Rassen- und Zuchtwahlgedanken“) des griechischen Adels und von seiner Gefährdung, die Theognis geißelt, wenn er „seine Stimme gegen törichte und gesinnungslose Standesgenossen“ erhebt, „die glauben ihrem herabgekommenen Besitz durch Heirat mit den Töchtern reicher Plebejer aufhelfen zu können oder ihre Töchter den Söhnen von Emporkömmlingen geben“, und er paraphrasiert dazu die Verse, in denen Theognis die Widersprüchlichkeit solchen Verhaltens daran veranschaulicht, dass man doch bei der Schaf-, Esel- und Pferdezucht genau darauf achtet, edle Zuchttiere auszuwählen.⁷¹ Hier zieht ersichtlich die Wiedergabe der vom antiken Autor hergestellten Analogie zwischen standesbewusster, sorgfältiger Partnerwahl zum Ziel der Erzeugung echtbürtiger Nachkommen und der Züchtung edler Tierrassen die Anwendung des Begriffs Rasse auf Menschen nach sich. An einer späteren Stelle des Bandes ist entsprechend vom „aristokratischen Rassestandpunkt“ die Rede.⁷² Jaeger hatte aber auch bereits in der Anfangspartie des Bandes emphatisch festgestellt: „Die Geschichte der griechischen Bildung, dieser für die ganze Welt bedeutsame Vorgang der Gestaltwerdung der nationalen Persönlichkeit des Hellenentums, beginnt mit der Entstehung eines bestimmten Bildes des höheren Menschen, zu dem die Auslese der Rasse emporgezüchtet wird, in der althellenischen Adelswelt.“⁷³ Auch die Kennzeichnung der Dorer in Sparta als „Herrenrasse“⁷⁴ wird man als zeitverhaftete Ausdrucksweise mit rein historischem Bezug hinnehmen. Dass Ähnliches, wenn auch mit stark zurückgehender Tendenz, auch in den Bänden 2 und 3 begegnet,⁷⁵ welche Jaeger doch
Jaeger (1934) 36, Friedländer in Calder/Braun (1996) 219. Für die Analyse von Jaegers Sprachgebrauch leistet die 2010 herausgegebene elektronische Edition von Paideia nützliche Dienste. Jaeger (1934) 270 – 271 (Thgn. 183 – 190). Jaeger (1934) 365. Jaeger (1934) 25. Auch in diesem Zusammenhang fehlt nicht der Hinweis auf die Analogie der Züchtung edler Tierrassen (ebd. 24). Jaeger (1934) 139. Vgl. Jaeger (1944) 271 (in der Politeia kein Interesse Platons am „Gesamtvolk als Rasse“) und 324– 330 (mit „Rassenauslese und Erziehung der Besten“ überschriebener Abschnitt – von Friedländer stirnrunzelnd mit einem Fragezeichen versehen [in Calder /Braun 1996, 245] –, der die im Vergleich mit dem hier abermals erwähnten Theognis noch weit radikalere Auslese potentieller
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unter Bedingungen verfasste, die eine bewusste Annäherung an nationalsozialistisches Denken ganz und gar ausschlossen,⁷⁶ legt den Eindruck nahe, dass er gegenüber einer solchen – für uns Heutige schwer erträglichen – Wortwahl an und für sich eine gewisse Unempfindlichkeit ausgebildet hatte.⁷⁷ Mit diesen Äußerungen wird also ungeachtet ihres Vokabulars die Grenze zu einer nationalsozialistisch infizierten Rassenideologie noch nicht überschritten, weshalb, wie sich vermuten lässt, auch Friedländer über sie hinweggegangen ist. Doch liegt diese Überschreitung, wie gesehen, manifest an den von Friedländer beanstandeten Stellen vor, besonders dort, wo sich mit der Attestierung einer „unsererseits“ bestehenden Rassenverwandtschaft (mit den Griechen) bzw. Rassenferne (gegenüber den Völkern des Orients) zugleich Wertung bzw. Abwertung ausgedrückt findet.⁷⁸
Eltern einer künftigen Führungselite im Staat Platons behandelt; innerhalb weniger Seiten werden außer „Rassenauslese“ noch die Komposita „Rassenmischung“, „Herrenrasse“, „Rassenethik“, „Rassenzüchtung“, „Rassenpolitik“ und „Rassenadel“ verwendet). In Jaeger (1947) vgl. 131– 144 (nach Isokrates erreicht, so Jaeger 132– 133, 140 – 141, die „griechische Rasse“ ungeachtet der andauernden politischen Zersplitterung die neue Stufe eines auf gemeinsame Kultur und Bildung gegründeten griechischen Nationalbewusstseins) und 230 – 241 („Xenophons soldatisch-aristokratische Neigungen“ [237] fanden einerseits in Persien, andererseits in Sparta Entsprechungen, wobei seine Beobachtungen sich nach Jaegers Darstellung [231– 233, 240] auch an den jeweiligen Rassen orientierten). Jaeger bezeichnet sein Buch über Diokles von Karystos von 1938 in der auf „September 1937“ datierten Vorrede als „eine Vorarbeit zum zweiten Band meiner ‚Paideia‘“ (Jaeger 1938b, V). Demnach hat er den zweiten Band von Paideia, der nach einer Einführung in das 4. Jahrhundert mit einem Kapitel zur griechischen Medizin beginnt (speziell ihm kam die erwähnte Vorarbeit zugute), ganz nach seiner Übersiedlung in die USA geschrieben. Möglich ist freilich auch, dass er das vorgesehene Erscheinen jedenfalls des zweiten Bandes in Deutschland, zu dem es 1944 kam, für den Fall als gefährdet ansah, dass er den Stil des ersten allzu radikal verändern würde. Da er mit offizieller Genehmigung in die USA übersiedelt war, konnte er weiter bei de Gruyter publizieren (vgl. Jaeger 1938b und 1939). Mit dem Verlag war zweifellos schon Anfang der dreißiger Jahre oder noch früher ein Vertrag über die Publikation des gesamten Werkes geschlossen worden, der sukzessive erfüllt wurde. Bd. 3 erschien dann erst nach Kriegsende (1947). Auf weitere Stellen in der Einleitung von Paideia, Bd. 1, an denen sich eine Abwertung der kulturellen Leistung der orientalischen Völker artikuliert, verweist Ulf (2001) 329 – 330. In Anbetracht der mittlerweile gewonnenen Erkenntnisse über orientalische Einflüsse auf die Formung der griechischen Kultur in archaischer Zeit – als Wegbereiter sind vor allem Walter Burkert und Martin West zu nennen – liest man die Darlegungen Jaegers auch unabhängig von den Anleihen an seinerzeitige Rassenideologie mit Irritation. Doch verbietet es sich, ihm den seinerzeitigen defizitären Wissensstand anzulasten. Zur wissenschafts- und ideologiegeschichtlichen Dimension der Frage in größerem Zusammenhang s. Burkert (1984) 7– 14.
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Nicht weniger alarmierend ist dazu Folgendes: Die soeben zitierte Äußerungen über den „gegenwärtigen Augenblick, wo unsere gesamte Kultur aufgerüttelt durch ein ungeheures eignes Erleben der Geschichte in eine neue Prüfung ihrer Grundlagen eingetreten ist“, die sich unverhohlen auf die erfolgte Machtübernahme Hitlers bezieht, steht auf S. 19, also in der Einleitung des Bandes, an dem Jaeger doch mindestens seit dem Spätsommer 1931 intensiv arbeitete. Andererseits stimmt der Zusammenhang, in dem diese Äußerung fällt, gedanklich auf das engste mit dem Anfang des Aufsatzes von Jaeger in Kriecks Zeitschrift überein, wo er über die „durch die nationale Umwälzung gestellte Aufgabe des Neubaues der deutschen Erziehung“ und die erforderliche Besinnung „auf die erzieherischen Grundkräfte, die die geschichtliche Substanz unseres Volkes uns […] bietet“, spricht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Jaeger in dem Aufsatz da, wo er seine eigene humanistische Konzeption als eine solche vorstellt, die die von Krieck erhobenen Anforderungen ganz und gar erfülle, anfügt, dass er eine entsprechende Darstellung, eben Paideia, Bd. 1, „noch vor Ende dieses Jahres“ vorlegen werde. Auch wenn der Band das Erscheinungsjahr 1934 auf dem Titelblatt trägt, waren erste Exemplare schon Ende 1933 gedruckt.⁷⁹ Die Ankündigung wurde also exakt umgesetzt. Daraus ergibt sich, dass der erste Band von Paideia in der Gestalt, in der er letztlich erschien, beginnend bereits mit der Einleitung, eng mit Jaegers Absichten im Jahre 1933 in Verbindung stand. Offenkundig erfuhr er – wie nahe liegt: ab dem Zeitpunkt, als Jaegers Artikel zur Publikation angenommen worden war – zusammen mit der Abfassung des noch Ausstehenden in denjenigen Teilen des Manuskripts, die an sich bereits fertig waren, an geeigneten Stellen eine aktualisierende Überarbeitung, gewissermaßen ein Update, und zwar gerade auch in der für die Leserlenkung besonders wichtigen Anfangspartie des Buches.⁸⁰ Der Zweck lässt sich dem Aufsatz Jaegers in Volk im Werden leicht entnehmen: Ent-
Dies ergibt sich daraus, dass Borchardt am 28.12.1933 einen Brief an die Feuilleton-Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung entwarf, in dem er darum bittet, den Band, den er „soeben als Geschenk des Verfassers“ erhalten habe, anzeigen zu dürfen (Schmidt 2007, 172– 173). Der Entwurf eines Briefes, in dem Borchardt Jaeger seine Lektüre-Eindrücke mitteilt, ist nicht datiert (Schmidt, ebd. 69 – 70). Auch beim Copyright auf der Rückseite des Titelblatts erscheint die Jahreszahl 1933. Letzteres trifft auch auf die in den Anm. 62, 63, 64 und 69 genannten Stellen zu. Dagegen steht der (in der 2. Aufl. getilgte) Satz über „das Ziel des modernen Führerstaates“, der ebenso deutlich die Machtübernahme Hitlers voraussetzt, erst auf der drittletzten Seite von Bd. 1, wurde also überhaupt erst 1933 verfasst. Kalkuliertheit und Gelingen der Jaeger’schen Strategie bezeugt noch Jahrzehnte später der evangelische Pfarrer Matthias Engelke, der 2003/2004 die Pfarrstelle in Jaegers Heimatort Lobberich übernahm, sich durch die Lektüre von Jaegers Paideia über den „großen Sohn“ der Gemeinde sachkundig machen wollte und der dann, in Unkenntnis der Umstände, zu seinem Befremden darauf aufmerksam wurde, dass „schon auf den ersten paar Seiten so oft von Rasse gesprochen“ wird (in Meis/Optendrenk 2009, 81).
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sprechend der dort gegebenen Ankündigung musste dafür Sorge getragen werden, dass die geweckten Erwartungen, und sei es nur vordergründig und äußerlich, auch eingelöst wurden. Ein besonderes Problem war dabei, dass Jaeger in der ursprünglichen Konzeption von Paideia keinen Anlass gehabt hatte, auf den Aspekt der „Rasse“ einzugehen, der nun jedoch, mit der nationalsozialistischen Machtübernahme, auf einmal im Zentrum der Staatsideologie stand.⁸¹ Deshalb musste besonders hier energisch „nachgebessert“ werden, was Jaeger, wie die betreffenden Stellen zeigen, denn auch unverzüglich in Angriff nahm. Als darauf durch Kriecks abweisende Reaktion die Hoffnung Jaegers zerplatzte und die dem Werk zugedachte Funktion unerreichbar war, befand sich wohl Paideia, Bd. 1, schon im Druck oder stand unmittelbar vor der nicht mehr anzuhaltenden Drucklegung.⁸² So blieb die zugedachte, aber am Ende verfehlte Funktion in den Text eingeschrieben.⁸³ Über den Anpassungsdruck, der von den neuen politischen Verhältnissen auf die Altertumswissenschaften ausging, s. Landfester (2011) 213 – 216. Das Problem, mit dem Jaeger konfrontiert war, war durchaus ein generelles; vgl. Kuhlmann (2006) 424: „Für die Nationalsozialisten war nun höchst suspekt, dass von humanistisch-altertumskundlicher Seite der Rasse überhaupt kein Wert an sich beigemessen wurde.“ Es war insofern zweifellos kein Zufall, dass in den Mitteilungen des DAV nun jedoch binnen kurzem ein einschlägiger Aufsatz erschien (Scharold 1934), dessen Verfasser sich am Schluss seiner Ausführungen geflissentlich gegen den Verdacht verwahrt, dass „diese rassischen Probleme […] aus bloßem historischem Interesse in der Schule betrachtet werden“ sollten (12). Mit größtem Nachdruck und in immer neuen Anläufen samt HitlerZitat schärft er vielmehr ein, dass es ihm dabei um „Erziehung zum Rassenbewußtsein und Rassenstolz“ gehe (ebd.). Den DAV als Vereinigung konnte das freilich nicht retten: Das Doppelheft mit diesem Aufsatz war der letzte Faszikel des Periodikums, der noch erschien; der Verband selbst wurde bald darauf „gleichgeschaltet“ und in den Nationalsozialistischen Lehrerbund eingegliedert (vgl. Burck/Clasen/Fritsch 1987, 12– 17). Kriecks Absage erschien, wie gesagt Mitte Oktober, das Vorwort zu Paideia, Bd. 1, ist mit der Zeitangabe „Oktober 1933“ versehen. Unnötig zu betonen, dass eine öffentliche Kritik an Jaegers Avancen gegenüber dem Nationalsozialismus in Paideia, Bd. 1, auch wenn sie mit größter Zurückhaltung artikuliert worden wäre, in Deutschland selbst ausgeschlossen war. Snell, den es innerlich gedrängt haben mag, in seiner Rezension des Buches auch dazu etwas zu sagen, enthält sich jeder für Außenstehende erkennbaren Andeutung (Snell 1935). Aus privater Korrespondenz ist eine verhüllte Äußerung Friedländers in einem Brief an Rudolf Bultmann vom 5. 5.1935 überliefert, in dem er sich über Jaegers Einladung zu den Gifford Lectures mokiert: „Und dies eben jetzt, wo er sich durch seine Paideia I endgültig decouvriert hat“ (bei Obermayer 2014, 605 Anm. 30). Verharmlosend, wenn auch ironisch-distanziert Ernst Abrahamsohn ebenfalls in einem Brief, gerichtet an Paul Oskar Kristeller, vom 10.4.1934: „Hast Du schon Jaeger’s Paideia gelesen? Es sind ganz lustige NS’ismen drin!“; gleicher Haltung verdankt sich ein durch die Parodie eines Wiegenliedes gewonnener Witz, der auf Erwin Panofsky zurückgeht (in einem undatierten Manuskript von Panofsky „Alte Witze“): „Eia, Paideia, was raschelt im Stroh?“ (die Zitate aus Abrahamsohn und Panofsky in Schiller 2005, 132, 138 Anm. 41 u. 42; das zweite nur in englischer Übersetzung, deutsch bei See 2003, 85). Zur
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Jaeger hat dann keinen weiteren Versuch unternommen, sich mit der nationalsozialistischen Bildungspolitik zu arrangieren. Er hatte offenkundig seine Lektion gelernt. Zuvor aber hatte er eine Grenze überschritten, die ein Gelehrter seiner Statur unbedingt hätte beachten müssen: Was im Fall des Artikels in Volk im Werden, der keine wissenschaftliche Arbeit, sondern ein publizistischer Beitrag zur aktuellen bildungspolitischen Diskussion war, als taktischer Schachzug vielleicht hinnehmbar erscheint, durfte keinesfalls auf ein Werk übertragen werden, das Jaeger selbst als „ein Werk geschichtlicher Forschung“ betrachtete und ausdrücklich bezeichnete. Was er tat, war nichts Geringeres als die partielle Preisgabe seiner wissenschaftlichen Integrität zugunsten des Ziels, mit dem überarbeiteten Buch bei nationalsozialistischen Funktionären Akzeptanz zu finden. Jaeger muss sich tatsächlich nach der Machtübernahme durch Hitler für einige Monate, wohl ein gutes halbes Jahr, der Illusion hingegeben haben, es bestünde für ihn die Möglichkeit, mit gewissen Konzessionen die Stellung, die er sich seit Mitte der zwanziger Jahre aufgebaut hatte, und die Rolle, die er in Wissenschafts- und Bildungspolitik spielte, zu erhalten. Dies misslang, und wohl schon im späteren Verlauf des Jahres 1933, als die Entlassungen wirksam wurden (unter den ersten Betroffenen eigene Schüler, die zu großen Hoffnungen berechtigten, aber auch sein Schwager Ernst Heinitz, der als Richter amtierte)⁸⁴, muss ihm immer klarer geworden sein, dass seine Zukunft nicht in Deutschland liegen konnte. So nutzte er dann 1934 den halbjährigen Aufenthalt in den USA dazu, die erforderlichen Kontakte zu knüpfen, erhielt 1935 den Ruf nach Chicago⁸⁵ und übersiedelte im Folgejahr.⁸⁶ Im Grunde musste er Krieck dafür dankbar sein, Freundschaft zwischen Abrahamsohn und Kristeller s. Obermayer (2014) 521– 561; eine offenkundig anekdotische, ohne Quellenangabe referierte Kontextualisierung des Witzes von Panofsky bei See a. O.: Panofsky habe Snell das ausgeliehene Exemplar von Paideia, Bd. 1, mit jener Notiz zurückgegeben. In der Nachkriegszeit beschäftigte sich die Auseinandersetzung mit der anfänglichen Nähe Jaegers zum Nationalsozialismus mehr mit dem Artikel in Volk im Werden als mit den problematischen Partien in Paideia, Bd. 1, die bis zur Publikation der Randnotizen Friedländers auch nicht zusammengestellt waren (Ausnahmen bilden etwa Müller 1978, 106 – 107 und Näf 1992, 137– 139). Aber auch nach Calder/Braun (1996) ist es zur Auswertung der einschlägigen Paideia-Stellen für eine Rekonstruktion ihrer Entstehung samt deren Chronologie nicht gekommen. Dem abzuhelfen ist ein Anliegen dieses Aufsatzes. S. o. Anm. 10. Hallett (1992) 55 („received the invitation to join the Chicago Faculty in 1935“). Weil sich über das Jahr der Übersiedlung in die USA unterschiedliche Angaben in der Literatur finden – Götte schwankt zwischen 1936 und 1937, in der Wiedergabe eines Briefes von Ruth Jaeger an Uvo Hölscher durch Schmidt (s. o. Anm. 21) erscheint, gewiss durch ein Versehen, 1935 –, ist klarzustellen, dass die wesentlichen Belege das Jahr 1936 sichern. Entsprechend ließ Jaeger in den Personalnachrichten des Gnomon mitteilen (12, 1936, 400), er habe den Ruf zum 1. Oktober 1936 angenommen. In ihren Erinnerungen berichtet Marie Norden davon (Norden 1942– 1944, 53 – 56),
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dass er ihn frühzeitig davor bewahrt hatte, sich auf einem Irrweg einzurichten, aus dem er selbst später wohl nicht mehr leicht herausgefunden hätte.
Literaturverzeichnis Aly (1934): Wolfgang Aly, „Das griechisch-römische Altertum im Rahmen der nationalsozialistischen Erziehung“, Volk im Werden 2, 226 – 235. Aly (1935): Wolfgang Aly, „Von der Zukunft des humanistischen Gymnasiums“, Volk im Werden 3, 427 – 433. Borchardt/Jaeger (2007): Rudolf Borchardt u. Werner Jaeger, Briefe und Dokumente 1929 – 1933, hg. v. Ernst A. Schmidt (Schriften der Rudolf Borchardt-Gesellschaft 10), München. Buddrus/Fritzlar (2007): Michael Buddrus u. Sigrid Fritzlar, Die Professoren der Universität Rostock im Dritten Reich, München. Burck/Clasen/Fritsch (1987): Erich Burck, Adolf Clasen u. Andreas Fritsch, Die Geschichte des Deutschen Altphilologenverbandes 1925 – 1985 (Mitteilungsblatt des DAV, Sonderheft). Burkert (1984): Walter Burkert, Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 1), Heidelberg. Calder (1983): William M. Calder III, „Werner Jaeger and Richard Harder: an Erklärung“, Quaderni di Storia 17, 99 – 121; auch in: Calder (1984) 59 – 81. Calder (1984): William M. Calder III, Studies in the Modern History of Classical Scholarship (Antiqua 27), Napoli. Calder (1989): William M. Calder III, „Werner Jaeger“, in: Michael Erbe (Hg.), Berlinische Lebensbilder, Bd. 4: Geisteswissenschaftler, Berlin, 343 – 363. Calder (1990): William M. Calder III, „Werner Jaeger“, in: Ward W. Briggs u. William M. Calder III, Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia, New York/London, 211 – 226. Calder (1992a): William M. Calder III (Hg.), Werner Jaeger reconsidered (Proceedings of the second Oldfather conference, held on the campus of the University of Illinois at Urbana-Champaign, April 26 – 28, 1990), Atlanta. Calder (1992b): William M. Calder III, „12 March 1921: The Berlin Appointment“, in: Calder (1992a) 1 – 24; auch in: Calder (1998) 205 – 227. Calder/Braun (1996): William M. Calder III u. Maximilian Braun, „‚Tell it Hitler! Ecco!‘. Paul Friedländer on Werner Jaeger’s Paideia“, Quaderni di Storia 43, 211 – 248; auch in: Calder (2010) 37 – 70. Calder (1998): William M. Calder III, Men in Their Books (Spudasmata 67), Hildesheim/Zürich/New York.
wie sie und ihr Mann im Sommer 1936 mit Jaeger beim Jubiläum der Harvard University zusammengetroffen und mit ihm nach Europa zurückgefahren seien; „seine Übersiedlung mit der Familie, die ihm von Berlin nachgereist war, zur gemeinsamen Ankunft in Chicago war inzwischen bewerkstelligt.“ Vor allem bestätigt Ruth Jaeger selbst dieses Jahr (in ihrer in Anm. 19 erwähnten biographischen Skizze über Jaeger, zitiert von Hallett 1992, 55): „when he left Germany in 1936.“
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Die Schriften Kriecks von 1924, 1928 und 1929 werden, insofern sie seine intellektuelle Biographie in den zwanziger Jahren dokumentieren, in der vorliegenden Darstellung nach der 1. Aufl. zitiert.
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Paideia und die Folgen – Die Bedeutung des Dritten Humanismus für den altsprachlichen Unterricht nach 1945 Humanismus ist ein heißes Eisen. Diese Bildungsidee, die über Jahrhunderte die pädagogischen Diskurse maßgeblich prägte, ist heute im Bereich von Schule und Universität – wenn nicht zu einem Unwort – so doch zu einem Begriff geworden, den man nur noch mit spitzen Fingern zu berühren scheint. So weiß man in einer zuvörderst sozialwissenschaftlich ausgerichteten Erziehungswissenschaft kaum noch etwas mit diesem Begriff anzufangen, er erhält bestenfalls als vergangene bzw. überwundene historische Größe Aufmerksamkeit. Nur noch wenige Bundesländer berufen sich in ihren Gymnasiallehrplänen auf den Humanismus, selbst in den Rahmenlehrplänen der Fächer Latein und Griechisch bleibt der Begriff Humanismus die Ausnahme. Fast kann man den Eindruck gewinnen, man vermeide – gewissermaßen peinlich berührt – nicht nur den Kontakt mit der eigenen Vergangenheit, sondern wolle daraus auch nichts für die Zukunft gewinnen. Gleichwohl ist Humanismus als i. d. R. positiv besetztes Schlagwort in unserem Alltag durchaus präsent, allerdings ohne Bezug zu einem bestimmten Bildungskonzept, was sich auch daran bemerkbar macht, dass Humanismus allzu gern mit Humanität verwechselt wird. Niemand hat etwas dagegen, Humanist zu sein, sei es als Mitglied des Humanistischen Verbandes, als stolzer Besitzer eines Großen Latinums oder gar eines Graecums. Zu Recht darf man wohl davon ausgehen, „dass der Begriff keine klaren Konturen und Grenzen mehr aufweist, nicht selten nur noch als Appellformel funktioniert, sich dem Menschen gemäß zu verhalten.“¹ Offensichtlich gibt es für dieses definitorische Vakuum schon eine gewisse Tradition. So soll der bedeutende Pädagoge Eduard Spranger bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts resignierend bemerkt haben: „Je älter ich werde, desto weniger weiß ich, was Humanismus ist.“² Man darf daher mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass derzeit nach drei Vorgängern ein vierter Humanismus nicht in Sicht ist, obwohl man sich entsprechende Schwerpunktsetzungen im Fremdsprachenunterricht durchaus vorstellen könnte.³
Tenorth u. Tippelt (2007) 329. Vgl. Fritsch (2001) 241, mit verschiedenen Belegen. Hierzu ausführlich Kipf (2012). DOI 10.1515/9783110548983-004
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Dieses aktuelle bildungstheoretische Vakuum verschafft einen passenden Übergang zum eigentlichen Thema, denn Werner Jaegers erneuerter Humanismus, der nicht zuletzt seit einer Bemerkung des schon erwähnten Eduard Spranger im Jahr 1921 besser unter dem Terminus Dritter Humanismus ⁴ bekannt ist, stellte im Kern den Versuch dar, eine als defizitär empfundene wissenschaftliche und pädagogische Leerstelle mit einer übergreifenden sinnstiftenden Idee zu füllen. Dass diese Idee eines erneuerten Dritten Humanismus in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren eine nicht unbeträchtliche Wirkung an Universität und Schule entfalten konnte, ist bekannt und in der Forschung detailliert belegt.⁵ Weit weniger deutlich ist hingegen, wie die Ideen Jaegers, vor allem in dem von ihm mit Nachdruck adressierten schulischen Bereich, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weiterwirkten. Zwar wird gerne pauschal darauf verwiesen, das der Dritte Humanismus „in den Anfangsjahren des schulischen Wiederaufbaus […] eine bemerkenswerte Spätwirkung“ gezeigt habe.⁶ Was dies jedoch konkret für Fachdidaktik und altsprachlichen Unterricht bedeutete, ist bisher kaum systematisch erforscht. Bevor diese Frage beantwortet werden kann, müssen zunächst die historischen Bedingungen geklärt werden, unter denen Werner Jaeger sein Konzept eines erneuerten Humanismus propagierte, da diese unmittelbare Auswirkungen auf die Fortwirkung auf den altsprachlichen Unterricht nach 1945 hatten.
1 Kulturkunde versus Humanismus In der Weimarer Republik sollte der altsprachliche Unterricht unter politischen Vorgaben erfolgen, die weitgehende Auswirkungen auf seinen didaktischen Stellenwert, sein Selbstverständnis und seine Inhalte haben mussten: Ihm wurde die Aufgabe zugewiesen, im Sinne der sog. Deutsch- bzw. Kulturkunde dazu beizutragen, das Verständnis für die deutsche Kultur zu verbessern und das durch den Ersten Weltkrieg ramponierte Nationalgefühl zu fördern.⁷ Deutsches Bildungsgut sollte (in den sog. kulturkundlichen Fächern Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Religion) die gemeinsame Mitte jeglicher schulischer Bildung darstellen. Die nicht kulturkundlichen Fächer, also z. B. die modernen und alten Sprachen, verfügten unter dieser Prämisse zwangsläufig über keinen spezifischen
Vgl. Fritsch (2001) 226; Spranger verwendete den Begriff auf der 53.Versammlung der deutschen Philologen und Schulmänner am 27.9.1921 in Jena. Hierzu vor allem die Arbeiten von Fritsch (1993, 2001). Ferner Apel und Bittner (1994), Kipf (1999, 2006), Kuhlmann (2006) und Preuße (1988). Maier (1984) 36. Vgl. Kipf (1999) 181– 184.
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Eigenwert, sondern erst durch kulturkundliche Ausrichtung sollten sie zu einem anerkannten Teil des Fächerkanons werden. Dieses neue Prinzip sollte dann ab 1925 mit Hilfe der Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen in Preußen in die Praxis umgesetzt werden. Zwar wurde eine durchaus ansehnliche Zahl von kulturkundlich ausgerichteten Unterrichtsvorschlägen zum Latein- und Griechischunterricht veröffentlicht, darunter auch Schriften wie Mauriz Schusters umfangreiche Monographie Altertum und deutsche Kultur (1926). Gleichwohl machte sich in der schulischen Altphilologenschaft ein wachsendes Unbehagen darüber bemerkbar, dass das eigene Bildungskonzept von der Kulturkunde überlagert und ihres eigentlichen humanistischen Gehalts entkleidet würde. In dieser Situation, in der das Prinzip des Humanismus seine prägende Bedeutung für das höhere Bildungswesen endgültig zu verlieren drohte, hatte das von Jaeger entwickelte Konzept für den altsprachlichen Unterricht ganz erheblich an Bedeutung gewonnen, da es auf wissenschaftlicher Basis ein in sich geschlossenes und daher ungemein attraktives Gesamtkonzept zur Verfügung stellte. Im Gegensatz zu dem von Wilamowitz vertretenen positivistischen Historismus, der den Wert der Antike vor allem am Nachweis ihrer Wirkung abzuleiten versuchte,⁸ stellte Jaeger bekanntlich den bildenden Effekt einer Auseinandersetzung mit der Antike in den Vordergrund. Jaeger, der im Gegensatz zu Wilamowitz auch keinen Zweifel an seiner Verantwortung als Hochschullehrer für den altsprachlichen Unterricht ließ, ging dabei von einem von der Antike ausgehenden Substrat aus, das auch die Gegenwart umfasst; er bezeichnete dieses Substrat als „Kulturbewußtsein, die bewußte Idee der Kultur als höchster und zentraler Wert in der Sphäre alles irdischen Daseins“.⁹ In diesem Zusammenhang verstand er Kultur als „Erziehung zum Menschen“,¹⁰ sichtbar im System der griechischen Paideia. ¹¹ Sie bildet das Kernstück seiner Humanismuskonzeption mit dem Menschen im Mittelpunkt, es in ihr geht um „Bildung als Bildung zum Menschen“ ¹²:¹³ Im Mittelpunkt ihrer Erziehung steht der Mensch, nicht als Berufswesen, als nutzbares Glied einer Zweckgemeinschaft, wie für die soziale Pädagogik unserer Zeit, sondern rein als Mensch. Die griechische Erziehung ist darin schlechthin einzigartig, daß sie alle Rücksicht auf Beruf und praktische Nutzbarkeit ausschaltet […] und daß sie einzig und allein den Menschen zu bilden gebietet. In den Dienst der Menschenbildung stellt sie den ganzen Reichtum der objektiven Kultur: Homer, das Urbild aller menschlichen Existenz, die tragische
Vgl. Preuße (1988) 134. Jaeger (1927) 127. Jaeger (1921) 46. Vgl. Jaeger (1921) 49. Remme (2000) 524. Jaeger (1921) 47.
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Bühne, die das Herz in Furcht und Mitleid erschüttert und reinigt, die Lehren und Sprüche weiser Dichter wie Pindar und Simonides, Solon und Theognis, die Macht der Musik und der Gymnastik, die Körper und Seele ‚rhythmisieren‘, die Disziplin der Rede und des Denkens durch Stil und Wissenschaft. Alle diese formenden Kräfte schließen sich für griechisches Denken zusammen zu einem natürlichen Erziehungssystem […].
Entscheidend für den Ansatz Jaegers ist die Pädagogisierung kultureller Aktivität:¹⁴ Die geistigen Führer und Repräsentanten dieser Kultur, Dichter, Philosophen und Gesetzgeber, fühlen sich ihrerseits ganz als Lehrer und Erzieher ihres Volkes, in deren Händen die schwerste Verantwortung am Ganzen ruht.
Auf dieser Grundlage definierte Jaeger Humanismus folgendermaßen:¹⁵ Humanismus ist 1. der eigentümliche, auf dem Gedanken der reinen Menschenbildung beruhende Kulturbegriff, den die Griechen auf der Höhe ihrer Entwicklung ausgeprägt haben. Er ist für alle Völker des hellenozentrischen Kulturkreises […] klassisch geworden und bezeichnet in diesem Sinne 2. die Kultur- und Bildungs-Synthese dieser Völker mit dem Griechentum, nicht also eine bloße historische und kausale ‚Abhängigkeit‘, sondern die bewußte Idee einer geistigen Durchdringung mit griechischer Kultur, wie sie von den Römern typisch zuerst verwirklicht worden ist.
Humanismus ist somit¹⁶ im strikten Sinne […] eine spezifische Bildungswirkung, die von einem bestimmten Objekt geschichtlich ausgegangen und nach aller geschichtlichen Erfahrung und Tradition an dieses Objekt gebunden ist: das griechische Bildungserlebnis.
Dies führt Jaeger zu einer absolut verstandenen Vorrangstellung der Griechen als Kultur- und damit Erziehungsbringer:¹⁷ Die Griechen sind die Meister der übrigen Völker, weil sie das bewegende Prinzip der abendländischen Geisteswelt entdeckt haben, durch das sie sich von allen anderen Welten, die wir kennen, unterscheidet: Diese causa movens unserer Geschichte ist das Prinzip der Kultur. […] Kultur ist Erziehung zum Menschen.
Jaeger (1921) 47. Jaeger (1925) 114– 115. Jaeger (1925) 14. Jaeger (1921) 46.
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Im Unterschied zum Neuhumanismus des 19. Jahrhunderts, den Jaeger in seinem ästhetischen Idealismus für unpolitisch, ja sogar für eine „Last“¹⁸ hielt,verstand er die Griechen „als Vorbild für ethisches und politisches Handeln im Alltag des 20. Jahrhunderts“.¹⁹ Er²⁰ integrierte die prinzipiellen Fragen seiner politischen Gegenwart nach dem Staat, dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, nach Erziehung und Bildung in seinen theoretischen Ansatz. Zwangsläufig mußten dann seine Antworten für das Griechentum den Fragen seiner Zeit entsprechen.
Jaeger betrachtete den griechischen Menschen als eine Versöhnung von Individuum und Gemeinschaft; Kategorien wie Volk, Staat und Gemeinschaft spielen deshalb eine zentrale Rolle, was allerdings durchaus im Zug der Zeit lag und gerade in bildungspolitischen Debatten keine Ausnahme darstellte. Jaeger erstrebte somit einen ethisch-politisch gefärbten Humanismus, der zu einer elitär fundierten Staatsgesinnung erziehen sollte – eine politische Absicht, die ohne Frage als Antwort auf die ebenfalls staatspädagogischen Ziele der Kulturkunde eingestuft werden kann. Entsprechend bemerkt Jaeger gleich zu Beginn des ersten Bandes der Paideia mit dem ihm eigenen und für uns schwer erträglichen Pathos:²¹ Die größten Werke des Griechentums sind Monumente einer Staatsgesinnung von einzigartiger Großartigkeit, deren Ringen sich in einer lückenlosen Reihe durch alle Stufen der Entwicklung entfaltet vom Heroentum der Gedichte Homers bis zu Platos autoritärem Staat der herrscherlichen Wissenden, in dem Individuum und soziale Gemeinschaft auf dem Boden der Philosophie ihren letzten Kampf ausfechten. Ein künftiger Humanismus muß wesentlich an der Grundtatsache alles griechischen Erziehertums orientiert sein, daß die Humanität, das ‚Menschsein‘, von den Griechen stets wesenhaft an die Eigenschaft des Menschen als politisches Wesen geknüpft worden ist.
Jaeger (1921) 45; Jaeger setzte sich recht kritisch mit dem Neuhumanismus Humboldt’scher Prägung auseinander. So entspreche Humboldts idealistisches Griechenbild in seiner Harmonie und Totalität nicht der historischen Realität, deren Bild die moderne Altertumswissenschaft aufgrund ihrer Forschung entworfen habe. Es könne nicht darum gehen, „von neuem […] zeitlose Idole aufzurichten“ (Jaeger (21936) 15). Jaeger hält den Neuhumanismus für unpolitisch: „Die griechische Erziehung ist nicht eine Summe privater Künste und Veranstaltungen, deren Endziel die selbstgenügsame Vervollkommnung des Individuums bildet. […] Es ist erklärlich, daß der Philhellenismus einer noch unpolitischen Zeit des deutschen Volkes, wie es unsere Klassik war, diesen Weg zunächst weiter verfolgt hat.“ (Jaeger (21936) 16) Wegeler (1996) 55. Preuße (1988) 145. Jaeger (21936) 16.
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So kann man die Paideia eben auch als „prononciert politische Interpretation der griechischen Geistesgeschichte“ verstehen.²² Manfred Landfester hat diese politische Ausrichtung zu Recht als Versuch bewertet, mit den Gegnern des Humanismus fertig zu werden:²³ Die Deuter und Vermittler der Antike hatten sich in einer Art kollektiver Psychose zum politischen Humanismus bekehrt, um den Vorwurf der Humanismusgegner ins Leere laufen zu lassen, die Krise Deutschlands sei das Ergebnis der alten humanistischen Individualbildung.
Der Klassischen Philologie war von Jaeger in diesem Zusammenhang eine besondere Aufgabe zugedacht: Sie sollte „Priesterin und Wächterin“²⁴ dieser Idee sein, ein Anspruch, der nicht ohne Widerspruch bleiben sollte. Diese Ansätze Jaegers wurden nicht nur umgehend, sondern auch nachhaltig kritisiert: In Bezug auf den „paideutischen Humanismus“²⁵ als ewig wiederkehrendes Grundprinzip abendländischer Kultur ließ Bruno Snell in seiner „höchst ungeduldigen Kritik“²⁶ aus dem Jahr 1935 keinen Zweifel daran, dass dieser Konzeption als ideologischer Grundierung der Klassischen Philologie keine Zukunft beschieden sein sollte. Mit Nachdruck kritisierte Snell das Paideia-Prinzip als einseitigen Kulturschematismus und ironisierte ihn entsprechend:²⁷ Der Geist erweist seine Existenz nur im Erziehen, und nach Schopenhauer als Erzieher, nach Rembrandt als Erzieher, Platon als Erzieher tritt jetzt das Griechentum in seiner Gesamtheit und in all seinen Einzelheiten als Erzieher auf.
Auch die politische Färbung des Dritten Humanismus fand bei Snell keine Unterstützung, da er ihn durch politischen Missbrauch gefährdet sah:²⁸ Wie der ästhetische Humanismus sich ausgewiesen hat durch künstlerische Leistungen, so müßte der politische und ethische Humanismus sich ausweisen durch den politischen Einsatz und durch die Tat. […] So genügt es nicht für einen Humanismus, die Antike ‚politisch‘ zu sehen und festzustellen, daß der Grieche ‚politischer Mensch‘ ζῷον πολιτικόν gewesen sei. Einem politischen und ethischen Humanismus ist es sogar ungleich verhängnisvoller, keiner sachlichen Leistung verpflichtet zu sein, denn zum Politischen und Ethischen gehört auf noch wesentlichere Art praktische Verantwortung und konkreter Einsatz. […] Aber ein Hu-
Stiewe (2011) 212. Landfester (1995) 27. Jaeger (1914) 16. Remme (2000) 519. Hölscher (1988) 19. Snell (1935) 46. Snell (1935) 53 – 54.
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manismus mit bloßer ‚Hexis‘ und reinem ‚Ethos‘ ist geradezu unpolitisch, weil er nicht der Politik dient – oder weil er sich jeder Politik dienstbar machen kann; das heißt aber, daß er ständig in Gefahr ist, Literatentum zu werden.
Diese Äußerungen Snells, der bekanntlich dem nationalsozialistischen Regime gegenüber äußerst kritisch eingestellt und nach Hölscher „der wahrhaft humane und unbeschädigte Kopf der Altertumswissenschaft in der Nachkriegszeit“ war,²⁹ sind zu Recht auch als Kritik an Jaegers Versuchen verstanden worden, Einfluss auf nationalsozialistische Politik zu nehmen. Daher kann man davon ausgehen, dass die Paideia, trotz breiter Zustimmung in der Gräzistik,³⁰ bereits kurz nach ihrem Erscheinen wissenschaftlich entscheidend geschwächt war.³¹
2 Paideia und das humanistische Gymnasium Dieses also in Teilen der Fachwissenschaft durchaus umstrittene Konzept einer „Wiederbesinnung auf die unvergänglichen erzieherischen und ethischen Kräfte der Antike“³² stieß jedoch bei der Mehrzahl der Vertreter des gymnasialen Griechisch- und Lateinunterrichts auf große Zustimmung, da man sich damit nun wieder auf den humanistischen Kern der alten Sprachen konzentrieren konnte, der durch die Dominanz der Kultur- bzw. Deutschkunde gefährdet schien. Diese positive Haltung wurde ebenfalls dadurch unterstützt, dass Jaeger im Gegensatz zu seinem Vorgänger Wilamowitz mit Nachdruck die Verantwortung der Wissenschaft für die gymnasiale Bildung betonte: Die Altertumswissenschaft habe nämlich die Pflicht, „das Kapital von Einfluß, das sie, besonders durch die Schulen und Universitäten, bei den gebildeten Schichten besitzt, als wertvollstes Unterpfand ihrer Wirksamkeit zu hüten.“³³ Jaegers Schulbezug war von einer elitären Beschränkung auf nur wenige Auserwählte am altsprachlichen Gymnasium geprägt.³⁴ Daher ist es „begreiflich, daß eine Ideologie, die so hohe Würden
Hölscher (1988) 19; ferner vgl. Joho 2012, 1170 – 1171. und Wegeler (1996) 202– 203. Vgl. Landfester (1995) 36. Zu den unterschiedlichen Reaktionen auf das Paideia-Konzept vgl. Landfester (1995) 29 – 40. Jaeger (1933) 44. Jaeger (1914) 16. Jaeger (1921) 51– 52: „Es hilft nichts, wir müssen eingestehen, daß das höchste Ziel in der überlieferten Form des humanistischen Unterrichts wohl selten erreicht worden ist. […] Der Humanismus in seiner geistbefreienden Kraft, als innere persönliche Renaissance, ist ein Erlebnis, das immer nur wenigen Auserwählten zuteil werden kann. […] Ich bin kein Linguist und Grammatiker in meiner Wissenschaft, um so unverdächtiger bin ich als Zeuge, wenn ich erkläre, daß
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zu vergeben hatte, vor allem von den Erziehern und Lehrern der alten Sprachen damals gern ergriffen wurde“,³⁵ wenngleich diese aristokratische Ausrichtung in der Nachkriegszeit zum Problem werden sollte. Dieser von Jaeger postulierte Zusammenhalt von Schule und Universität erhielt dann im Jahre 1925 durch die Gründung des Deutschen Altphilologenverbandes (DAV) einen neuen institutionellen Rahmen, wobei sich Jaeger von 1925 zehn Jahre lang bis zur Zwangsauflösung des DAV durch die Nationalsozialisten als zweiter Vorsitzender engagierte. In diesem Rahmen wurden vom DAV verschiedene Dokumente veröffentlicht, die vom Geist des Dritten Humanismus geprägt sind und auch für die Zeit nach 1945 bedeutsam werden sollten. So nimmt die „Idee des Humanismus als dem geschichtlich-übergeschichtlichen Form- und Aufbauprinzip der abendländischen Kultur“³⁶ eine zentrale Rolle im vom DAV im Jahr 1927 formulierten Bildungsziel des Humanistischen Gymnasiums ein. Das durch die Kulturkunde bedrohte Gymnasium altsprachlicher Prägung sollte diese Idee³⁷ ins Bewusstsein erheben und die ihr innewohnenden Formkräfte zur Entfaltung des jugendlichen Geistes wirksam machen, auch über die Schule hinaus. […] Diese Formen und Werte sind vornehmlich in den repräsentativen Werken der griechischen und römischen Literatur verkörpert. […] Aus ihnen sie deutend zu entbinden, sie nach Wesen und Ursprung bewußt zu machen und durch diesen Akt des Verstehens und Zueignens die Kräfte des jugendlichen Geistes zu wecken und zu bilden, ist die Hauptaufgabe des altsprachlichen Unterrichts.
Auch der vom DAV im Jahr 1930 veröffentlichte Altsprachliche Lehrplan für das deutsche humanistische Gymnasium wurde von den Latein- und Griechischlehrkräften stark beachtet und trug zur Verbreitung des Dritten Humanismus bei, obgleich er nicht die Funktion einer offiziellen Richtlinie hatte. Dieser Text kann als die direkte Umsetzung des Paideia-Prinzips in den gymnasialen Kontext verstanden werden, wenn es etwa heißt:³⁸ Der klassische Wert des antiken Werkes im erzieherischen Sinne kommt zur lebendigen Wirkung erst dort, wo seine Deutung getragen ist von der doppelten Erkenntnis: a) daß das antike Literaturwerk seinem Wesen nach […] künstlerische Gestaltung ist; b) daß der Schöpfer des großen Literaturwerkes bei den Alten zugleich immer der Erzieher seines Volkes ist.
sich ein echter Humanismus nur aufbauen läßt, wenn Schüler und Lehrer wirklich Griechisch und Lateinisch können.“ Vgl. Näf (1990) 141. Hölscher (1965) 74; vgl. Landfester (1995) 26 – 27. Preuße (1988) 134. Krüger (1930) 207. Deutscher Altphilologenverband (1930) 12.
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Als ein zentrales pädagogisches Ziel wird ebenfalls die Einordnung des einzelnen in die „Staats- und Volksgemeinschaft“³⁹ erstrebt.
3 Dritter Humanismus und Nationalsozialismus Noch bis in die jüngste Zeit hinein wird Jaeger vorgeworfen, wenn nicht Wegbereiter, dann doch „Zuarbeiter“⁴⁰ des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Man nimmt in diesem Zusammenhang direkten Bezug auf Jaegers in der Tat befremdlichen Artikel Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike, den er 1933 in der nationalsozialistischen Zeitschrift Volk im Werden veröffentlichte. Dieser als „Kniefall vor der NS-Diktatur, als Sündenfall des Dritten Humanismus“⁴¹ verstandene Aufsatz darf wohl mit Manfred Fuhrmann zu Recht als Versuch bewertet werden, den Dritten Humanismus den Nationalsozialisten „anzudienen“⁴², ermuntert durch „ihre antidemokratische Einstellung“ und „ihr positives Verhältnis zur Gemeinschaft“.⁴³ Ganz im Sinne der nun vorherrschenden Ideologie wies Jaeger darauf hin, dass der antike Mensch „politisch“ sei, bei den homerischen Helden glaubte er den „Heroismus des Vaterlandsverteidigers“ und in Perikles eine „Führergestalt“⁴⁴ zu erkennen. Die frühe und klassische griechische Literatur sei „eine Galerie unvergleichlicher Denkmäler des heroischpolitischen Menschentums“.⁴⁵ Für diese aus heutiger Position höchst problematische „Anpassung“⁴⁶ gab es aus Jaegers Sicht durchaus nachvollziehbare Gründe, die aber nicht in einer nationalsozialistischen Gesinnung, sondern nicht zuletzt in Jaegers DAV-Position als mit Abstand prominentester Lobbyist der alten Sprachen gesucht werden dürfen: Unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war eine intensive Legitimationsdebatte über den Wert des altsprachlichen Unterrichts entstanden, wobei „die Anhänger des humanistischen Gymnasiums zwischen Furcht vor der totalen Beseitigung dieser Schulform und der Hoffnung auf ihre Sanktionierung durch den neuen Staat“ schwankten.⁴⁷ Jaeger fügte sich in seinem
Deutscher Altphilologenverband (1930) 6. Schiller (2006) 89. Fritsch (2001) 234. Fuhrmann (1984) 152. Fuhrmann (1984) 152. Jaeger (1933) 46. Jaeger (1933) 46 – 47. Vgl. Näf (1990) 129 – 132. Ludwig (1984) 168.
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Artikel einem Zug der Zeit, in der „Apologetik und Anbiederung hervorstechende Grundzüge vieler Publikationen“ waren.⁴⁸ Tatsächlich waren die politischen Signale von Seiten des Nationalsozialismus alles andere als positiv: So hatte Alfred Rosenberg (1893 – 1946) in seinem berüchtigten Mythus des 20. Jahrhunderts die „blutlos-humanistische“ Bildung vernichtend kritisiert, da sie „durch Fernblicke in die Vergangenheit und schematische Gedächtnisschulung den echten Auftrieb des Lebens drosselte“.⁴⁹ Diese Position kann nicht überraschen, da das humanistische Bildungsideal für einen bekennenden Nationalsozialisten eine Provokation darstellte: Humanismus widersprach dem rassisch ausgerichteten Weltbild der Nationalsozialisten diametral und drohte daher „zum Unwort“ zu werden, „da es den individuellen Menschen, die Menschenwürde und gleiche Menschenrechte für alle, unabhängig von völkischer und rassischer Zugehörigkeit, als Ideal andeutet“.⁵⁰ Dies hatte spürbare Folgen für die Diskussion um die künftige Ausrichtung des Unterrichts, die sich nun „auf Fragen der Rasse, der Volksgemeinschaft, der Kampfbereitschaft für Führer, Volk und Vaterland“ verschob.⁵¹ Ganz offensichtlich wollte Jaeger einer durchaus realen Bedrohung durch die Nationalsozialisten entgegenwirken. Dies darf jedoch als politisch naiver Versuch verstanden werden, in deutlicher Überschätzung der eigenen Möglichkeiten Einfluss zu nehmen, „ohne den Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft voll wahrzunehmen“.⁵² So bemerkte Uvo Hölscher anlässlich des 100. Geburtstages Jaegers im Jahr 1988, dass dieser „einen Augenblick lang in dem ehrgeizigen Wahn befangen war, der neuen ‚Bewegung‘ die pädagogische Weltanschauung liefern zu können“.⁵³ Jaegers Versuch zu beweisen,⁵⁴ daß seine Auffassung von Humanismus im Sinne einer Erziehung zum heroisch-politischen Menschen sehr gut zu der neuen Ära passe und geeignet sei, die Gymnasien zu einer Stätte der humanistisch-politischen Bildung für den neuen Staat zu machen,
scheiterte jedoch auf ganzer Linie und markierte das Ende seiner bildungspolitischen Aktivitäten überhaupt.⁵⁵ Der erwähnte Artikel verschwand schnell in der Versenkung, bereits in den 1937 veröffentlichten Humanistischen Reden und Vor-
Fritsch (1982) 22. Alfred Rosenberg (49–501935), 624– 625. Zu Rosenbergs Mythus ausführlich bei Schneider (2000) 199 – 220. Fritsch (2006) 216. Fritsch (2006) 216. Vgl. Fritsch (2001) 236. Hölscher (1988) 19. Ludwig (1984) 168. Vgl. Fritsch (2001) 236.
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trägen taucht er nicht mehr auf. In der Folge kam es dann bekanntlich zur endgültigen publizistischen Eliminierung des Dritten Humanismus, wobei Hans Drexlers Schmähschrift Der Dritte Humanismus. Ein kritischer Epilog aus dem Jahr 1942 besonders hervorzuheben ist. Spätestens seit dieser Zeit galt der Dritte Humanismus nicht nur an der Universität, sondern auch an der Schule als gescheitert, da ja bereits in den neuen Lehrplänen von 1938 die grundsätzliche Distanz des altsprachlichen Unterrichts zu humanistischen Bildungsidealen herausgestellt worden war. Der Dritte Humanismus, so Walter Eberhardt in seiner nazistischen Tendenzschrift Die Antike und Wir von 1935,⁵⁶ ist nicht die Altertumswissenschaft, die wir brauchen. Er ist ‚zu gedanklich, zu wenig vital‘ […]. Er ist nicht getragen von den Kräften unserer deutschen Gegenwart. Im Grunde ist er eine Angelegenheit der verflossenen, liberalen Zeit.
4 Die Lage des altsprachlichen Unterrichts nach 1945 In den fünfziger Jahren war es durch Anknüpfung an die Traditionen des deutschen Humanismus zu einem deutlichen Aufschwung des altsprachlichen Unterrichts gekommen, wobei zunächst ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die Unverzichtbarkeit altsprachlicher Schulbildung herrschte. Diese Situation erwies sich jedoch als wenig stabil: Einerseits führten fast alle bildungspolitischen Reformen, die bis Mitte der sechziger Jahre eingeleitet worden waren, zu nicht unerheblichen Einschränkungen für den altsprachlichen Unterricht, da er sich mit der wachsenden Konkurrenz der modernen Fremdsprachen auseinandersetzen musste: Hierdurch wurde das ‚Flaggschiff‘ altsprachlicher Bildung, das humanistische Gymnasium, als Schulform allmählich marginalisiert. Zusätzlich wurde der altsprachliche Unterricht grundsätzlich in Frage gestellt: Neben dem topischen Vorwurf der mangelnden Orientierung an den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen wurden Gegenwartsferne, methodisch und didaktische Veraltung des Unterrichts sowie die offensichtliche Auslesefunktion der alten Sprachen, insbesondere des Lateinischen, kritisiert. Der altsprachliche Unterricht stand somit im Widerspruch zu einer Schule, die allen Schülerinnen und Schülern gleiche Bildungschancen einräumen sollte. Die Fachvertreter reagierten auf diese Vorwürfe mit z.T. drastischer Kritik an der demokratischen Industriegesellschaft, tadelten trotzig modernen Bildungsutilitarismus und damit einhergehenden
Eberhardt (1935) 5.
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Werteverfall, um gleichzeitig mit pädagogischem Pathos auf den angeblich unbestrittenen Bildungswirkungen des altsprachlichen Unterrichts zu beharren. Kulturpessimismus wurde somit zum identitätsstiftenden Programm in einer Gesellschaft, der man die Vernachlässigung humanistischer Bildung nicht nachzusehen bereit war.⁵⁷
5 Brüche und Kontinuitäten nach 1945 Unter diesen Voraussetzungen zeigen sich Kontinuitäten und Brüche in Bezug auf die Rezeption des Dritten Humanismus, auf die in zwei Abschnitten näher eingegangen wird. 1. Die nach 1945 einsetzende fachwissenschaftliche Diskussion um die künftige Ausrichtung der Klassischen Philologie knüpfte mehr oder weniger nahtlos an den Vorkriegsstand, d. h. an die schon bekannten Jaeger-kritischen Positionen an, wobei der Dritte Humanismus als wissenschaftlich und bildungspolitisch unwirksam betrachtet wurde. So bezeichnete Otto Regenbogen, der in den 30er Jahren zu den prominentesten Anhängern Jaegers gezählt hatte, im Jahr 1947 den Dritten Humanismus mit kaum unterdrückter Resignation als „kleinen Impuls der zwanziger Jahre, der […] durch die politischen Ereignisse in seinen Wirkungen zerschlagen worden ist.“⁵⁸ Auch die weitere inhaltliche Kritik an Jaegers Konzept bewegte sich im bereits bekannten Rahmen, wobei Regenbogen den Begriff des „historischen Humanismus“⁵⁹ verwendete. Wie schon Snell hielt auch Harald Patzer das Paideia-Konzept als „historisches Strukturprinzip“ für fragwürdig. So werde „im abendländischen Kreis […] die lebendige Geschichte zur monotonen Wiederkehr des gleichen Themas, der Tradition, die kaum viel mehr zum Inhalt hat als sich selbst.“⁶⁰ Patzer betrachtete Jaegers Konzept als gescheitert, an Schule und Universität.⁶¹ In vergleichbarer Weise äußerten sich hierzu Bruno Snell (1947/48), Otto Regenbogen (1947), Max Zepf (1951) und Uvo Hölscher (1965), ferner der Philosoph Paul Wilpert (1948) und der Pädagoge Walter Rüegg (1954). Zusätzlich fällt auf, dass Jaeger in zahlreichen Beiträgen im Rahmen der umfangreichen Humanismusdebatten der fünfziger und sechziger Jahre ausgespart blieb (etwa bei Kaegi 1959 und bei Spranger/Haag 1960). Man kann also
Hierzu ausführlich Kipf (2006) 20 – 35. Regenbogen (1947) 466 – 467. Vgl. Regenbogen (1947) 465, Anm. 2; Harald Patzer (1948) 263. Patzer (1948) 267. Vgl. Patzer (1948) 269.
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davon ausgehen, dass das Paideia-Konzept nach 1945 in der wissenschaftlichen Community ohne spürbaren Rückhalt blieb. Gleichwohl erhielten Jaegers Gedanken eine bemerkenswerte, sogar eminent breite Fortwirkung, und zwar durch die Aktivitäten seines wohl prominentesten Schülers Wolfgang Schadewaldt.⁶² Beide stimmen in der Hochschätzung und der dauernden Fortwirkung der Griechen überein: Wie Jaeger glaubte auch Schadewaldt an die unbedingte Bindung der europäischen Kultur an die Griechen, wobei er den Begriff der Entelechie prägte:⁶³ Die griechisch-römische Kultur ist ‚Grundlage‘ unserer Kultur im Sinne der Entelechie – Entelechie als die geprägte Grundform, die sich doch lebendig in fortwährender Um- und Ausgestaltung befindet und eben in dieser beständig lebendigen Fortgestaltung und nur in ihr ihr unverwechselbares Grundwesen ebenso bewahrt wie auch bewährt.
Gleichwohl trennen sich an dieser Stelle die Wege von Lehrer Jaeger und Schüler Schadewaldt, indem Schadewaldt einen weiteren, noch einflussreicheren Begriff in die Diskussion einführte. Für Schadewaldt haben die Griechen „Modelle von größter, einfachster Formklarheit, Faßlichkeit und vor allem Weltgemäßheit hingestellt.“⁶⁴ Mit diesem Modell-Konzept – der Begriff der Paideia spielt dabei übrigens keine Rolle – will Schadewaldt den wissenschaftlich überholten und gesellschaftlich kaum noch vermittelbaren Gedanken einer zur Nachahmung verpflichtenden Vorbildlichkeit der Antike bildungstheoretisch überwinden, und zwar durch das Modell als Impuls zur aktiven, ergebnisoffenen Auseinandersetzung: „Das Modell […] ist […] auf die Sache ausgerichtet, die es instruktiv vereinfachend darstellt, und es will nicht ‚befolgt‘ werden, sondern es entbindet, fordert auf zur Ausgestaltung und weiteren Fortentwicklung.“⁶⁵ Schadewaldt hat diese Position eingängig zusammengefasst: „Nicht ‚Regeln‘ gibt die Antike, sie gibt richtungsweisende Impulse.“⁶⁶ Auf dieser Grundlage verändert sich auch die Funktion der antiken Schriftsteller; sie sind nicht mehr Erzieher nach Jaeger’schem Modell, sondern „Anthropologen“, sie haben „den Menschen und seine Welt mit höchst gesammelter Kraft durchlebt, durchlitten, durchgemacht, durchgeprobt, durchklärt.“⁶⁷ Vgl. Kipf (2006) 104– 108. Schadewaldt (1956) 305. Schadewaldt (1956a) 938; zum in der Literatur weit verbreiteten Gedanken der „Einfachheit“ bzw. „Übersichtlichkeit“ der Antike vgl. u. a. Luther (1953) 575 – 576, Bork (1954) 23, LehmannLeander (1954) 76 und Borucki (1960) 16. Schadewaldt (1956) 305. Schadewaldt (1958) 931. Schadewaldt (1959) 948.
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Dieser Ansatz Schadewaldts erwies sich für die weitere didaktische Begründung des altsprachlichen Unterrichts als ungemein einflussreich und stellt im Kern eine sich der veränderten Gesellschaft öffnende Weiterentwicklung des Paideia-Konzepts dar. Schadewaldts Modellbegriff war für viele Fachvertreter ungemein attraktiv, da die altsprachliche Bildungsprogrammatik nun endlich vom Anspruch der normativen Vorbildlichkeit der Antike befreit schien, gleichzeitig jedoch das Ziel einer überzeitlich gültigen Fundamentalbildung im Sinne einer leitbildstiftenden „geistigen Selbsterhellung“ bzw. einer „Selbstorientierung und Selbstbestimmung des Menschen in unserer Zeit“⁶⁸ nicht aufgegeben werden musste.⁶⁹ Gleichwohl konnten argumentative Schwachstellen nicht ausgeräumt werden, da die Antike auch unter den Auspizien eines Modells „der erste Ausgangspunkt, durchaus mit einem normativen Einschlag“ blieb.⁷⁰ Dabei wurde nach wie vor den Griechen die entscheidende kulturelle Vorrangstellung zugebilligt, in verdächtiger Nähe zum tradierten humanistischen Ideal, was dann zwangsläufig von einem Fundamentalkritiker des altsprachlichen Unterrichts wie Saul B. Robinsohn auch so verstanden und angeprangert wurde.⁷¹ Die altsprachliche Fachdidaktik setzte sich mit dem Modell-Konzept Schadewaldts erst in den siebziger Jahren kritisch auseinander, wobei dann die fruchtbare Kategorie des Denkmodells entwickelt wurde.⁷² 2. Sehr viel deutlicher treten die Kontinuitäten im genuin fachdidaktischen Bereich hervor. Hier spielte vor allem der 1951 wiedergegründete Deutsche Altphilologenverband eine zentrale Rolle, da man inhaltlich direkt an die in den zwanziger Jahren entwickelten Konzepte anknüpfte, und zwar bereits in den ersten einschlägigen Veröffentlichungen des DAV, namentlich in den programmatischen Erklärungen Das Bildungsziel des altsprachlichen Gymnasiums und Das Unterrichtsziel der alten Sprachen aus dem Jahre 1951.⁷³ Diese Erklärungen beruhen auf der im Jahr 1927 publizierten Göttinger Definition und dem vom DAV im Jahr 1930 publizierten Altsprachlichen Lehrplan für das Deutsche humanistische Gymnasium; eindringlich wird im Sinne Jaegers auf die elitär geprägte gesellschaftliche Leitbildfunktion der Antike hingewiesen,⁷⁴ ferner „auf die geformten und form-
Schadewaldt (1956) 305. Vgl. Kipf (2006) 107. Heilmann (1979) 65. Vgl. Kipf (2006) 180. Vgl. Maier (1984) 105 – 130. Vgl. Kipf (2006) 38 – 40. Vgl. Deutscher Altphilologenverband (1951) 383: „Dabei vermitteln die Griechen vornehmlich ein Leitbild der erkennenden und schöpferischen Persönlichkeit, die Römer vornehmlich ein Leitbild des im Bereiche der Geschichte Recht und Ordnung schaffenden Menschen, beide aber
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gebenden Kräfte der Antike, die für den Aufbau der abendländischen Kultur grundlegend und immer wieder befruchtend gewesen sind.“⁷⁵ So kann es nicht verwundern, dass diese vom Dritten Humanismus geprägte Programmatik des DAV in Lehrplänen vielfach rezipiert wurde: So heißt es z. B. im Entwurf eines Bildungsplanes für die Oberschule Wissenschaftlichen Zweiges (1954) in Berlin:⁷⁶ Der altsprachliche Unterricht hat zum Ziel, den jugendlichen Menschen durch die Formkräfte der Antike zu einer in sich gefestigten und geistig selbständigen, der Gemeinschaft verbundenen und von echter Menschlichkeit erfüllten Persönlichkeit zu bilden. Die Formung vollzieht sich in der Begegnung des Schülers mit Schöpfungen der Griechen und Römer von überzeitlichem Wert.
Dabei wird nachdrücklich die Sonderstellung der Griechen betont, wenn es ganz im Sinne des Dritten Humanismus heißt: „Die Griechen treten dem jungen Menschen dabei als die Schöpfer derjenigen Werte entgegen, die das unterscheidende Merkmal aller abendländischen Kulturen sind.“⁷⁷ An anderer Stelle des Plans wird noch expliziter Bezug auf den Dritten Humanismus genommen: So wird bereits im Vorwort den Lehrkräften ans Herz gelegt, im Unterricht neben Winkelmann, Herder und Nietzsche auch Jaegers Paideia zu lesen, und zwar „für die Vergegenwärtigung des deutschen Griechenbildes“.⁷⁸ Auch bei den didaktischen Hinweisen in diesem Bildungsplan lässt die (gleichwohl schlagwortartige) Verwendung eindeutiger Schlüsselbegriffe keine Unklarheit über die Bezugsquelle aufkommen: So sollen die Schüler bei der Lektüre von möglichst zwei Tragödien „erfassen, wie sich die Tragiker als Erzieher ihres Volkes fühlen.“⁷⁹ Ganz offensichtlich ging man davon aus, dass die Griechischlehrkräfte den ideologischen Hintergrund dieser Aufgabe einordnen konnten. Dies soll insgesamt dazu beitragen, dass „der Schüler aus dem griechischen Unterricht ein geschlossenes und vertieftes Bild des Griechentums mitnehmen muß, das als lebendige Kraft durchs
gemeinsam eine ethisch-politische Grundhaltung, die das auf das Gemeinwohl gerichtete Denken und Tun ihrer Besten kennzeichnet.“ Deutscher Altphilologenverband (1951) 383. Diese Erklärungen wurden im Jahre 1958 mit geringfügigen Änderungen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht, und zwar in einer Schrift der bildungspolitisch einflussreichen Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule. Vgl. hierzu ausführlich Kipf (2006) 39 – 40. Senator für Volksbildung (1954) 109. In den Richtlinien für den Unterricht in den alten Sprachen an Gymnasien im Landes Nordrhein-Westfalen (1952) wurden die entsprechenden Passagen des DAV dem Lehrplan vorangestellt (5 – 6). Senator für Volksbildung (1954) 109. Senator für Volksbildung (1954) 118. Senator für Volksbildung (1954) 129.
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Leben begleitet.“⁸⁰ Schließlich wird sogar direkt mit Jaeger argumentiert, wenn etwa der Berliner Lateinlehrer Herbert Hohensee (1907– 1982) im Vorwort zum Lehrplan für den altsprachlichen Unterricht am Canisius-Kolleg unter Verwendung eines Zitats aus dem ersten Band der Paideia bemerkt:⁸¹ Bildung […] ist im Abendland am frühesten und zugleich am reinsten im hellenischen Wesen wirksam geworden: ‚So hoch wir auch die künstlerische, religiöse und politische Bedeutung der früheren Völker schätzen mögen, beginnt doch die Geschichte dessen, was wir als Kultur in unserem bewußten Sinne bezeichnen können, nicht eher als bei den Griechen‘.
Unter direkter Bezugnahme auf Werner Jaegers Aufsatz Humanism and Theology aus dem Jahr 1943 wird ganz deutlich, dass der Dritte Humanismus für Hohensee von aktueller Bedeutung ist, wenngleich er dessen Zukunftsaussichten durchaus skeptisch beurteilt:⁸² Eine Wiedergeburt der Antike vom Bilde des politisch und theologisch gebundenen Menschen her […], versucht der dritte Humanismus unserer Tage. Ob dieser Humanismus in der freien Luft einer neuen westlichen Kultur zu wirklicher Blüte gedeihen wird, ist letztlich eine Frage der Regierenden.
Auch in fachdidaktischen Unterrichtsvorschlägen zeigen sich deutliche Einflüsse des Dritten Humanismus: So soll nun z. B. Herodot unter dem Label „Erzieher“ im griechischen Lektüreunterricht Berücksichtigung finden.⁸³ Die Beschäftigung mit Herodot sollte⁸⁴ ein affektiv ausgerichtetes, die ganze Persönlichkeit umfassendes Bildungserlebnis sein, das Einsichten in grundsätzliche Bedingungen menschlicher Existenz und Geschichte ermöglichen sollte […] Herodot ist nicht nur Geschichtenerzähler, eine Quelle einer Fülle interessanter Realien oder ausschließlich Chronist der Perserkriege, sondern – im Sinne des hier sicherlich nachwirkenden Jaegerschen Paideia-Konzepts – vor allem Erzieher: Die bildende Kraft des allgemein menschlich Gültigen bestimmt Inhalt und Auswahl der Lektüre.
Auch für die Platon-Lektüre, insbesondere die Apologie, spielten die Ausführungen Jaegers im zweiten Buch der Paideia eine nicht unerhebliche Rolle.Wenn Max Krüger in seiner vielgelesenen Methodik auf den didaktischen Wert der platonischen Texte hinweist, dann selbstverständlich unter Verweis auf Werner Jaegers
Senator für Volksbildung (1954) 130. Canisius-Kolleg (1953) 1. Canisius-Kolleg (1953) 3 – 4. Ausführlich hierzu Kipf (1999) 264– 282. Kipf (1999) 275.
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berühmtes Dictum: „Wohl niemand wird meinen, Platon habe unserer Jugend nichts mehr zu bieten. Werner Jaeger hat Sokrates ‚das mächtigste erzieherische Phänomen in der Geschichte des Abendlandes’ genannt.“⁸⁵ Auch Friedrich Walsdorffs Grundlagenartikel zu Sokrates in Platons Apologie aus dem Jahr 1962 fußt in wesentlichen Teilen auf dem zweiten Band der Paideia,⁸⁶ auf den z.T. bis in die neunziger Jahre hinein immer wieder in Schultextausgaben hingewiesen wird.⁸⁷ Eine Distanzierung von Sokrates als Erzieher ist erst zu Beginn der neunziger Jahre spürbar. „Heiligenverehrung wider Willen“ sei nicht mehr gefragt, da dies bei Schülern Abwehr erzeuge.⁸⁸ Die enge Beziehung des DAV zu Jaeger als einem seiner Gründungsväter spielte in den fünfziger Jahren ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle. So wurde auf der ersten Seite des Hefts 2/3 1958 des DAV-Mitteilungsblatts auf eine Ehrung Jaegers an der Universität Tübingen zu dessen 70. Geburtstag aufmerksam gemacht: „Am 30. Juli, dem Tage des 70. Geburtstags, gedachte der DAV mit besonderer Herzlichkeit seines unvergeßlichen Lehrers.“⁸⁹ Der damalige Bundesvorsitzende Erich Haag sprach „dem verehrten Lehrer den Dank der klassischen Philologen der deutschen Gymnasien für seine wegweisende, auch den Gymnasialunterricht so befruchtende Forschung“ aus.⁹⁰ Im Verlauf dieser Veranstaltung würdigte der Berliner Studienrat Arnold Bork (1888 – 1963) Jaegers herausragenden Einfluss. Borks kurze Rede ist ein bemerkenswertes Zeitdokument für die Fortwirkung des Dritten Humanismus, die auf ungebrochener persönlicher Kontinuität beruht. So dankt Bork dem Jubilar Jaeger zunächst im Namen mehrerer Institutionen für seine „lange Berliner Wirksamkeit“ und betont ausdrücklich Jaegers enge Beziehung zum Berliner Gymnasium Steglitz und dessen Schulleiter Fritz Sommer, verbunden „durch den Kampf für das humanistische Bildungsideal“.⁹¹ Mit sichtlichem Stolz verweist Bork auf die positive Entwicklung dieser Schule, an der er selbst bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1953 unterrichtet hatte, und erklärt dies mit den Auswirkungen der spezifischen Verhältnisse der zwanziger Jahre: Diese waren geprägt durch eine Verbin-
Krüger u. Hornig (1959) 229. Vgl. Roloff (1972) 64. Vgl. die Apologie-Ausgabe von Fiedler (21966), 17, in der die Paideia unter „Literatur zur Ergänzung und Vertiefung“ genannt wird. In Eckstein u. Mendner (61992) wird im Lehrerkommentar zur Schulausgabe zu Apologie, Kriton und der Rahmenpartie des Phaidon auf Band 2 der Paideia verwiesen (94). Quack (1993) 8. Vgl. Haag (1958) 1. Haag (1958) 1. Bork (1958) 2.
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dung der Jugendbewegung (in der der Gemeinschaftsgedanke, die Selbsterziehung und reformpädagogische Konzepte bedeutsam waren) mit dem neo-romantischen George-Kreis⁹² und einer allgemeinen Griechenbegeisterung:⁹³ Wenn wir uns die Jahrgänge der Eltern unserer heutigen Gymnasiasten vergegenwärtigen und bedenken, daß sie im allgemeinen im Alter um das 50. Lebensjahr herum stehen, so haben wir damit eine Schicht vor uns, die in den zwanziger Jahren von der Elite der Jugendbewegung gebildet wurde oder sich doch wenigstens von deren Geist und Haltung bestimmen ließ. Es waren jene jungen Menschen, die in liebender Verehrung sich zu Hölderlin und Stefan George bekannten und die das hohe Griechentum in ihrer Weise spontan erlebten, ohne von der Schule dazu gedrängt zu sein.
Nach Bork konnte Werner Jaeger auf eben dieser Grundlage seine folgenreiche Tätigkeit entfalten und zunächst im engeren fachlichen Kreis begeisterte Anhänger für den Dritten Humanismus gewinnen:⁹⁴ Solche in den zwanziger Jahren noch jungen Menschen, dem Erlebnis des Griechentums schon von sich aus hingegeben, waren nun damals Ihre Schüler. Es war eine glückliche Sternenstunde, in der sie einer empfänglichen Schülerschaft begegneten, die von Ihnen nicht nur die vorbildliche philologische Schulung mit ins Leben nahm, sondern auch mit einem neuartigen humanistischen Geist erfüllt wurde, der sie zu Kämpfern für die hellenistische Kultur des Abendlandes werden ließ.
Darüber hinaus weist Bork seinem Lehrer Jaeger eine über die Fachschaft wirkende gesellschaftliche Wirkung zu: So seien seine „grundlegenden Abhandlungen und das krönende Werk, die gewaltige Paideia, […] von den Gebildeten aller Schichten und Richtungen aufgenommen“ worden. Insgesamt glaubt Bork, dass Jaeger eine Generation geformt habe,⁹⁵ die sich heute allem Utilitarismus zum Trotz zum humanistischen Bildungsideal bekennt und ihren Kindern diesen hohen Wert nicht vorenthalten will […]. All diesen Abwegigkeiten gegenüber […] bekennen wir uns zu dem Humanismus, wie er sich tatsächlich historisch im Abendland entwickelt hat […] und dem Sie unter Entdeckung ganz neuer Wesenszüge wieder einen gewaltigen Auftrieb gegeben haben.
Insgesamt reiht sich Bork mit dieser Rede nahtlos in die in dieser Zeit üblichen kulturpessimistischen Äußerungen anderer Altphilologen ein, die Bildungsprag Zur Bedeutung des George-Kreises für den Dritten Humanismus vgl. Fritsch (1993); ferner Stiewe (2008) passim. Bork (1958) 2. Bork (1958) 2. Bork (1958) 2– 3.
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matismus, Werteverlust und industrielle Vermassung beklagten und mit erstaunlichem Sendungsbewusstsein den altsprachlichen Unterricht als Heilmittel gegen die Zeitkrankheiten empfahlen.⁹⁶ So wendet sich Bork in martialischer Sprache, in der immer wieder von „Kampf“ die Rede ist, aggressiv gegen einen „äußere[n] Feind, mit den Begriffen westlicher Verflachung und Verödung einerseits und dem Bilde von der gefahrdrohenden östlichen Steppe andererseits kurz angedeutet“, angesichts einer um sich greifenden Diffusion des Begriffes Humanismus aber auch gegen innere Gegner, wie sie auch von Eduard Spranger beklagt worden war.⁹⁷ Borks Rede hat somit ohne Zweifel exemplarischen Wert, muss jedoch auch vor dem Hintergrund der Biographie des Autors gelesen werden: Letztlich beschreibt Bork auch seinen persönlichen Werdegang als Anhänger des Dritten Humanismus, der durch die Nähe zum George-Kreis, schier grenzenlose Griechenbegeisterung und eine feste Orientierung an Platon geprägt wurde. Dass ausgerechnet Bork diese Festrede hielt, war somit gewiss kein Zufall. Arnold Bork, 1888 in Berlin geboren, hatte in den Jahren 1908 bis 1913 an der Berliner Universität Klassische Philologie studiert und wurde von Wilamowitz mit einer Arbeit zu Aischylos promoviert. Bork unterrichtete dann an verschiedenen Gymnasien in Berlin, Potsdam und Prenzlau. Nach Ende des Krieges wurde Bork Lehrer am Gymnasium Steglitz, wo er bis zu seiner Pensionierung im Oktober 1953 unterrichtete. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die bildungsbezogene Sozialisation Borks:⁹⁸ Ohne zum eigentlichen George-Kreis zu gehören […] hat er sich dessen Geist zugehörig gefühlt und als junger Lehrer in einer ‚georgisch‘ beeinflußten Formation der Jugendbewegung die Rolle eines aufmerksam beobachtenden, vorgehenden und schützenden älteren Freundes gespielt. Literarische Frucht dieser Erfahrungen waren drei Bücher: ‚Lehrer und Schüler von 1924‘[…], ‚Der junge Grieche, Ein Beitrag zur vergleichenden Jugendpsychologie ([…] 1959) und die […] 1962 […] erschienene ‚Praktische Jugendpsychologie für Lehrer und Eltern‘.
Bork verstand dies als „‚freie‘ Form der Jugendforschung aus reiner Anschauung der Phänomene“,⁹⁹ ganz im Gegensatz zur sich damals entfaltenden empirischen Psychologie. Im Zeichen der Jugendbewegung verfasste Bork bereits in den zwanziger Jahren verschiedene Aufsätze, etwa Vom Deutschtum zur Jugendbewegung (1920) oder Lehrerberuf und Jugendbewegung (1923). Überdies pflegte Bork
Vgl. Kipf (2006) 31– 35. Vgl. Bork (1958) 2. Lennert (1963) 3. Lennert (1963) 3.
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persönlichen Umgang mit Eduard Spranger¹⁰⁰ und Otto Regenbogen, die entweder dem Dritten Humanismus nahestanden oder zu ihren Vertretern gehörten. Ganz offensichtlich war Bork begeisterter Gräzist und hatte bereits in den zwanziger Jahren verschiedene fachdidaktische Artikel verfasst, und zwar mit einem deutlich platonischen Einschlag: Die Gestalt des Sokrates im griechischen Unterricht (1926), Der jugendliche Mensch in Platons Werk (1941), Platon als Mensch (1942). Diese Platonbegeisterung Borks – er wurde sogar als „Platonjünger“¹⁰¹ bezeichnet – wird auch immer wieder in Sprangers Briefen thematisiert und später auch in einem Nachruf auf Bork pathetisch bestätigt: „Der Geist, der dem Verewigten in seinem Erdenleben die Wege wies, war der in alle Ewigkeit wirkende platonische Eros, der mit dämonischer Kraft den edlen Menschen zum wirklich Wahren, zum wahrhaft Guten und Schönen zwingt […].“¹⁰² Dabei findet sich auch bei Bork die weit verbreitete Anbiederung an die Nationalsozialisten, wie Andreas Fritsch deutlich herausgestellt hat. Bork versuchte ganz offensichtlich, Griechen und Römer durch die Betonung einer vermeintlichen Rassenverwandtschaft den neuen Machthabern schmackhaft zu machen.¹⁰³ Auch nach 1945 war Bork mit zahlreichen Beiträgen¹⁰⁴ und einer umfangreichen Vortragstätigkeit in Berlin und darüber hinaus öffentlich präsent. So hielt er anlässlich des DAV-Kongresses in Berlin im März 1951 den Festvortrag Griechentum und Abendland (1952), einen programmatischen, vom Dritten Humanismus grundierten Beitrag zur Humanismusdebatte. Auch in anderen Artikeln widmete er sich diesem Thema, so z. B. in Jugend und Humanismus (1954) und in Theodor Litts Angriff auf das humanistische Bildungsideal (1955). In allen Publikationen zeigte er sich dabei als kompromissloser und kämpferisch auftretender Vertreter eines an der Paideia orientierten Schulhumanismus. Trotz aller Bekenntnisse zu Jaeger finden sich an anderer Stelle Äußerungen Borks, die pessimistisch sind im Hinblick auf die weitere Entwicklung des Humanismus: So gäben die noch in den zwanziger Jahren wirksamen Faktoren keine Impulse mehr, da sie an Persönlichkeiten wie Spranger, Jaeger und George ge-
Vgl. Zeidler (1958) 2; hierzu weitere Belege im Briefwechsel zwischen Eduard Spranger und Käthe Hadlich (http://bbf.dipf.de/digitale-bbf/editionen/spranger-hadlich/spranger-hadlich „Stand 21.03. 2017“) . Sommer (1963) 2. Sommer (1963) 1. Fritsch (1993) 168: „Der Berliner Schulmann Arnold Bork vertrat 1934 die Ansicht, ‚daß die Griechen die unserer Rasse gemäße Kultur geschaffen und die rasseverwandten Römer diese als erstes Volk übernommen, weitergebildet und weitergegeben haben.‘“ Ein ausführliches Verzeichnis der Schriften Borks findet sich in: MDAV Berlin 3/1963, 4– 6.
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bunden waren.¹⁰⁵ Zudem zeige sich ein schwerwiegender Generationenkonflikt: Eltern wünschten sich für ihre Kinder eine humanistische Bildung, da sie sich „vielfach aus den erwähnten Schichten der Jugendbewegungs-Elite zusammensetzen, in denen das Erlebnis des Humanismus lebendig geblieben ist.“¹⁰⁶ Auf die Kinder wirkten hingegen gesellschaftliche Kräfte, die er wie alle HumanismusApologeten dieser Zeit als negative Einflüsse begreift, nämlich „Vermassung, Verödung, Verpöbelung“.¹⁰⁷ Bork fordert daher zweierlei: Im Sinne Jaegers die Einheit von Wissenschaft und Humanismus, wobei er zugleich scharfe Kritik an den Kritikern Jaegers übt. Er wünscht einen politisierten Altphilologen,¹⁰⁸ der leidenschaftlichen Anteil an den Problemen der eigenen Zeit nimmt und gewillt ist, mit den Werten, die er vertritt, an ihrer Lösung mitzuarbeiten. Das muß ausdrücklich betont werden, da heute gelegentlich von seltsamen Gegnern Werner Jaegers betont wird, diese Vereinigung von historischer und gegenwartsbezogener Einstellung sei unmöglich. […] Als ob nicht Jaeger selber in seiner Paideia bewiesen hätte, daß beides durchaus vereinbar sei!
Um dem Humanismus wieder eine größere gesellschaftliche Wirkung zu verschaffen, fordert er im Gegensatz zu Jaeger, der altsprachlichen Unterricht als Form der Elitebildung betrachtete, eine „soziale Wendung“. Man solle „das Erlebnis des Altertums in einfacherer Form in weitere Kreise […] tragen – bis zur Begegnung des letzten Volksschülers der höheren Klassen mit antiker Literatur in guten Übersetzungen […].“¹⁰⁹ Borks Ausführungen zeigen ein grundsätzliches Dilemma, das für die Nachwirkung des Dritten Humanismus und seine notwendige Begrenzung charakteristisch war: Selbst ein so überzeugter Jaeger-Humanist wie Bork musste erkennen, dass der Dritte Humanismus keine unmittelbare Wirkung aus sich selbst heraus mehr entfalten konnte, da die Bedingungen der zwanziger Jahre nicht mehr gegeben waren. So fehlten die großen Persönlichkeiten als ideologische Schrittmacher: Ein zweiter George war nicht in Sicht und Spranger zweifelte, was Humanismus sein könnte. Jaegers Möglichkeiten zur Einflussnahme waren durch die räumliche Trennung zu Deutschland erschwert; zusätzlich wollte Jaeger wohl aufgrund seiner Erfahrungen ganz bewusst keinen Einfluss mehr auf die Öffentlichkeit nehmen, wie er schon im Jahr 1948 in einem Brief an Eduard Spranger bemerkte:¹¹⁰
Vgl. Bork (1954) 24– 25. Bork (1954) 25. Bork (1954) 25. Bork (1954) 26. Bork (1954) 27. Overesch (1982) 121.
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Ich habe oft das Gefühl, als ob ich zu den gegenwärtigen Problemen Europas, die die meisten Menschen nur als Europäer und Amerikaner sehen, aus meiner eigenen Erfahrung und Kenntnis heraus etwas zu sagen hätte. Trotz dieses natürlichen Gefühls, habe ich es mir zum Prinzip gemacht, mich nicht in die Angelegenheiten Deutschlands vom Ort meiner gegenwärtigen Tätigkeit einzumischen.
Resigniert tauschte Jaeger „seinen politischen Bildungsbegriff gegen einen religiös fundierten aus …“,¹¹¹ wohl ohne jede Resonanz in Deutschland. So war der Dritte Humanismus im Grunde zu einem antiquarischen Phänomen geworden, das aus der Zeit gefallen war, zumal Impulse von seinem geistigen Haupt nicht mehr zu erwarten waren. Die Weiterwirkung war somit an die Aktivitäten derjenigen gebunden, die in den zwanziger und dreißiger Jahren unter dem direkten Einfluss des Dritten Humanismus persönlich und beruflich sozialisiert worden waren. Neben Bork galt dies für so prominente Schulhumanisten wie Max Krüger (1886 – 1970), Eduard Bornemann (1894 – 1976) sowie Ernst R. Lehmann-Leander (1901– 1981), in deren fachdidaktischen Beiträgen der Einfluss des Dritten Humanismus nachgewiesen werden kann. Das Ende dieser zumindest in den fünfziger Jahren relativ weitreichenden Nachwirkung des Dritten Humanismus war somit vorhersehbar, wenn man von Schadewaldts Modell-Konzept einmal absieht, das sich als prägendes programmatisches Element durchgesetzt hatte und erst in den siebziger Jahren an Einfluss verlor. Mehr war auch nicht zu erwarten, da Werner Jaeger bis zum seinem Tod im Jahr 1961 als notwendiger Impulsgeber (auch bei seinen mehrfachen Deutschlandbesuchen) nicht mehr auftrat. Stattdessen mehrten sich im Laufe der fünfziger Jahre kritische Stimmen, die das Paideia-Konzept für die Schule als nicht mehr zeitgemäß einstuften. So hatte bereits 1955 der prominente Pädagoge (und ehemalige Lateinlehrer) Theodor Litt in seiner Streitschrift Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt dem Humanismus eine scharfe Absage erteilt, da es aufgrund seiner Ausrichtung auf die Innerlichkeit des Menschen, getragen von einer unhistorischen Antikenidealisierung, unvereinbar mit den Anforderungen der modernen Gesellschaft sei. Arnold Bork hatte sich übrigens intensiv mit Litt auseinandergesetzt und ihm energisch vorgehalten, dass „der echte Humanist […] seit den Tagen der Römer und der Renaissance ein von Problemen der Gegenwart erfüllter Kämpfer“ gewesen sei.¹¹² Seine Kritik blieb wohl ohne Erfolg, da Litts Schrift in der Öffentlichkeit breite Aufmerksamkeit erhielt.
Stiewe (2011) 300. Bork (1957) 400.
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Auch in der seit dem Ende der 50er Jahre einsetzenden Debatte um die Studienschule spielte der Dritte Humanismus als theoretische Grundlage keine Rolle mehr; allenfalls war er nur indirekt durch Schadewaldts Modell präsent. Besonders deutlich wurde dieser allgemeine Bedeutungsverlust im Rahmen der Enquete Abschied von der Antike? Eine Enquete über die Rolle des griechisch-lateinischen Geisteserbes in der Bildungsgesellschaft von morgen im Jahr 1964 in der Zeitschrift Wort und Wahrheit. Unter den zahlreichen prominenten Diskutanten berief sich Hartmut von Hentig, der sich in den sechziger Jahren stark für den altsprachlichen Unterricht engagiert hatte,¹¹³ zwar direkt auf Schadewaldt, erteilte aber zugleich dem Vorbild Antike eine Absage, die wie ein Abgesang vom Dritten Humanismus klingt:¹¹⁴ Die Antike behält auch in der heutigen Bildung ihre Funktion als Modell eines menschlichen Lebenszusammenhangs, an dem sich viele Chancen, Gefahren, Bedingungen ablesen lassen, die man in der Komplexheit der modernen Welt nicht mehr erkennen kann; das ist ihre pädagogische Hilfe. Die Antike ist damit zugleich ein Arsenal von Hypothesen und Fragen, die wir kritisch oder heuristisch an unsere Welt herantragen können; das ist ihre Erkenntnishilfe.
So kann man vielleicht auch von Hentigs epochemachendes Werk Platonisches Lehren als direkte Antwort auf die Paideia verstehen, allerdings mit einem völlig veränderten, weiten Humanismusbegriff,¹¹⁵ ohne Antikenidealisierung und mit einem neuen Fokus auf dem Lateinunterricht, der ideologisch stets im Schatten des Griechischen gestanden hatte. Dies lag im Zug der Zeit: Der seit 1964 durch Stundenkürzungen deutlich geschwächte Griechischunterricht verlor in den Wirren der Curriculumreform zu Beginn der siebziger Jahre endgültig seine ideologische Führungsrolle im altsprachlichen Unterricht. So wurde auch Schadewaldts Modellbegriff aufgrund seiner immanent angelegten Griechenidealisierung durch das deutlich neutralere Denkmodell ersetzt. Daher existierte keine Basis mehr, um einem Konzept wie der Paideia in der fachdidaktischen Konzeptionierung des altsprachlichen Unterrichts noch Raum zu geben. Gleichwohl müssen wir davon ausgehen, dass die Paideia in der Unterrichtspraxis der mit ihr
Vgl. Kipf (2006) 51– 54. Von Hentig (1964) 33. Von Hentig (1966) 48: „Humanismus ist eine Methode der Selbstorientierung des Menschen, die ihm anhand der Überlieferung immer wieder Vor-Urteile sichtbar macht, unter denen die Gegenwart steht, und die damit immer wieder die Freiheit schafft, sich zu ihnen zu bekennen oder sich von ihnen zu lösen. Das Kriterium solcher Entscheidung ist die Offenheit zu weiterer Entscheidung, weiterer Erkenntnis, weiterer Erfahrung. Das eigentliche Mittel des Humanismus ist damit die Frage – die Frage nach dem, was fragenswert ist.“
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groß gewordenen Altphilologen noch weiter wirkte. Für diejenigen Lehrkräfte, bei denen der Autor dieses Artikels in den siebziger und frühen achtziger Jahren Griechisch lernte, war Sokrates ohne jede Frage der größte Lehrer des Abendlandes.
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Werner Jaeger and the Presocratics Jaeger produced two written reconstructions of Presocratic thought after his books on Aristotle, a chapter in the first volume of Paideia (1934) and the book-length work, The Theology of the Early Greek Philosophers (1947). Are there continuities between the positions taken in these two works or are matters radically different? The first part of this paper analyzes the features of Presocratic thought which are emphasized by its treatment in a general history of Greek paideia in the context of the polis. This approach will highlight juridical and political dimensions of Presocratic thought which are peculiar to Jaeger’s interpretation. To explain this aspect of Jaeger’s view, it is necessary to explore its relationship to alternative interpretations advanced by the foremost authorities on Presocratic philosophy, above all by Zeller, Tannery, Gomperz and Burnet, all of whom Jaeger targets explicitly in his writing. The second part of the paper deals with the Theology of the Early Greek Philosophers and tries to detect those elements consistent with Jaeger’s previous position, but also those which diverge from it. The sum of these observations brings a very different intellectual context to the question of how Jaeger’s trans-Atlantic migration at the beginning of the Third Reich impacted his perspective. Discussion of Gregory Vlastos’ immediate reception of Jaeger’s interpretations will, in conclusion, shed further light on this issue and permit us to make a general evaluation of Jaeger’s contribution to the study of the Presocratics.
1 Jaeger generally avoids the word ‘Presocratics’, using instead expressions such as ‘Naturphilosophen’ in Paideia or ‘early Greek philosophers’ in Theology, hereby endorsing a usage prevailing in the English-speaking world thanks to John Burnet’s influential work, Early Greek Philosophy. The term ‘Naturphilosophen’ implies that the defining interest of Presocratic philosophers is nature. As a matter of fact Jaeger writes: “Der Ausgangspunkt des naturphilosophischen Denkens des 6. Jhrh. war die Frage nach dem Ursprung, der ‘Physis’, die deshalb der ganzen geistigen Bewegung und der von ihr erzeugten Form der Spekulation den Namen gegeben hat.”¹ By identifying the relevant ‘Grundbegriffe’, Jaeger confers
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a measure of unity on the first Greek philosophical inquiries. He thus adopts a scheme already formulated in antiquity according to which Greek philosophy started by focusing on nature and the external world and only from Socrates onward considered mankind the most important question. In Germany this scheme was expounded above all by Hegel in his complex theory of the opposition between ‘Natur’ and ‘Geist’, and received the authoritative support of Eduard Zeller, the most important historian of Greek philosophy in the nineteenth century. Zeller saw the unbreakable unity of the spiritual and the natural as the distinctive character of Greek mind; in the Christian world, by contrast, the mind attained complete freedom from nature.² This is particularly evident at the beginnings of Greek philosophy:³ Beim Beginn der griechischen Philosophie ist es zunächst die Außenwelt, welche die Aufmerksamkeit auf sich zieht und die Frage nach ihren Ursachen hervorruft; man unternimmt die Lösung dieser Frage ohne vorgängige Untersuchung der menschlichen Erkenntnistätigkeit, und man sucht die Gründe der Erscheinungen in dem, was uns durch die äußere Wahrnehmung bekannt oder ihr wenigstens analog ist. Andererseits aber werden, gerade weil man zwischen der Außenwelt und der Welt des Bewußtseins noch nicht genau unterscheidet, den körperlichen Stoffen und Formen auch wieder Eigenschaften beigelegt und Wirkungen von ihnen entwartet, wie sie in Wahrheit nur geistigen Wesen zukommen. Diese Züge bezeichnen die griechische Philosophie bis auf Anaxagoras herab.
In the second part of his life, Zeller’s position approached Neo-Kantianism, leading him to view early Greek philosophy as a “physikalischer Dogmatismus”, in that it immediately angled its attention towards the knowledge of objective reality, without first mounting an inquiry into the conditions of knowledge.⁴ For early Greek thinkers, the basic question became finding the principle or primordial substance that would explain all perceivable natural phenomena. The Ionians derived all things from matter that lives and moves by its own force, the Pythagoreans assigned this role to numbers, and the Eleatics understood Being as an immovable unity. But none of these theories distinguished incorporeal principles from corporeal phenomena, a view which also persisted in Empedocles. Heraclitus offered a new intervention, envisioning movement as the essential property of this primordial substance, but still identified this substance with the fire. According to Zeller, only Anaxagoras represented a partial exception to the naturalism of the first philosophers, but he too conceived of the mind as a less consequential matter. Not by chance, Zeller concluded his reconstruc-
Zeller (51892) 126, 131– 132. On Zeller’s Hegelian heritage, see Isnardi Parente (1989). Zeller (51892) 137. Zeller (51892) 159, 164, 179; see also 469 – 470 on the Pythagoreans.
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tion of Presocratic thought with Anaxagoras instead of the atomists: with Anaxagoras, early natural philosophy reached both its apex and its end.⁵ Independent from Hegelian or Neo-Kantian influences, the idea that Greek philosophy begins by investigating nature may also be found in Theodor Gomperz and John Burnet. Both emphasize how the Presocratics identify principles with material substances. Gomperz claims that cosmogony freed itself from theogony and that the problem of matter was of central importance not only for the Ionians, but also for Parmenides, in whose doctrine Gomperz found the assertion that matter is permanent and unchangeable.⁶ But his conclusion is less radical than Zeller’s: “Die Lehre des Parmenides hat dem dogmatischen Materialismus einige seiner stärksten Waffen geliefert, aber er ist selbst nicht folgerichtiger Materialist gewesen. […] Das Stoffwesen des Parmenides war ohne Zweifel zugleich ein Geistwesen.”⁷ For his part, Burnet asserts that Milesian scientific thinkers “gave up the hopeless task of describing what was when as yet there was nothing” – as was once the case in ancient cosmogonies – “and asked instead what all things really are now”. From this point, he argues that for the early philosophers “the only things that were real and eternal were the original matter which passed through all these changes”. He maintains that the term physis expresses the idea of a permanent and primary substance and, perhaps following Zeller, that the distinction between matter and spirit was neither felt nor formulated at the time. Reality, self-existent and indestructible, was a body – or even matter – but not in the sense of something opposed to spirit.⁸ Burnet understands Parmenides’ concept of “that which is” primarily as what, in popular language, is called matter or body and is regarded as spatially extended, like a sphere. Therefore we can not, according to Burnet, refer to Parmenides as the “father of idealism”; “on the contrary, all materialism depends on his view of reality.”⁹ The first grounds of Greek science were hence established through observation and experiment. Burnet’s interpretation has been radically challenged, as we know, by Popper. “Of course” – Burnet remarked –¹⁰ the pioneers of Greek thought had no clear idea of the nature of scientific hypothesis, and supposed themselves to be dealing with ultimate reality. That was inevitably before the rise of
Zeller (51892) 172, 174– 175; 197– 198 and 218 – 219 on Anaximander; 382– 383 on the Pythagoreans; 563 – 564 on Parmenides and 646 – 647 on Heraclitus. Gomperz (1896) 37. Gomperz (1896) 146; see also 139 – 140. Burnet (21908) 9 – 11, 15 – 16, 60 – 61 on Anaximander and 160 on Heraclitus. Burnet (21908) 203 and 208. Burnet (21908) 16 – 17; see also 29 – 33 and Popper, Back to the Presocratics (1958/9), republished with additions in Popper (1970).
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Logic. […] It is, therefore, to those men that we owe the conception of an exact science which should ultimately take in the whole world as its object. […] It is still knowledge of the kind foreseen and attempted by the Greeks that they [contemporary scientists] are in search of.
This emphasis on the connection between early Greek philosophy and science was extraneous to Zeller, and Burnet did not indulge in analogies with specific discoveries of modern science. It is instead Gomperz who emphasizes this comparison, e. g. with modern chemistry or evolutionism, pointing out that “die Grenze zwischen Philosophie und Wissenschaft” appears to him “als eine fließende” and that each science carries its philosophy within itself. While discussing the forerunners of modern science, Gomperz asserts that nearly “unsere ganze Geistesbildung ist griechischen Ursprungs”, a claim that presents some concordance with Jaeger’s view.¹¹ For his part, Paul Tannery articulates an even more drastic thesis. He argued that the early Greek thinkers were not philosophers, but savants, i. e. scientists or, following the Aristotelian term, physiologoi. He said that “le noyau des systèmes des anciens physiologues n’ a jamais été une idée mètaphysique, mais la conception générale que chacun d’ eux se formait du monde, d’après l’ensemble de ses connaissances particulières”. The history of the Presocratics should, therefore, investigate their views on particular points of their physics, views which are habitually neglected by the philosophical histories.¹²
2 In the chapter of Paideia concerning these early thinkers, Jaeger carefully avoids any point of contact to modern science. The themes of the ‘Kulturkrise’ and the ‘Streit um die Technik’ as well as discussions provoked in Germany by Oswald Spengler’s post-war book, The Decline of Western Civilization, form the background for Jaeger’s discourse. In these years he wrote numerous essays addressed to a wider audience, where he resuscitated the traditional opposition between ‘Zivilisation’, founded on the power of technology, and ‘Kultur’, which he identified with the Greek ‘Bildung’, i. e. the conscious effort to shape a man to his fullest: in that sense the ancient Greeks were for Jaeger the founders of European culture. Jaeger equates the “Überordnung der Menschenbildung über den ganzen Bereich des Technischen im heutigen Sinne dieses Wortes, der Zivilisation” with
Gomperz (1896) 419 – 422 and for analogies with modern science see for example 38, 45, 47, 196, 264– 5. For a portrait of Gomperz in his intellectual context see Timpanaro (1980). Tannery (21930) 11– 12.
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a “grundsätzliche und klare Scheidung zwischen dem technischen Können und Wissen und der eigentlichen Bildung”, which he claims became the “Grundlage des Humanismus”.¹³ On the contrary, the essential feature of Greek philosophy and more generally of the Greek mind was the clear vision of the permanent order of all events and changes both in nature and the human world. The Platonic idea, the simultaneity of form and norm, is the most accomplished expression of ‘Bildung’ as an all-pervading “thirst for form”. According to Jaeger, this idea also characterized early Greek philosophy:¹⁴ Schon die Kosmosanschauung der ältesten Naturphilosophen ist eine solche Schau im Gegensatz zur rechnenden und experimentierenden Naturwissenschaft unserer Zeit. Sie ist nicht eine bloße Summierung von Einzelbeobachtungen und methodischen Abstraktionen, sondern etwas darüber Hinausgehendes, ein Deuten der Einzelheiten aus einem Bilde, das ihnen ihre Stellung und ihren Sinn als Teil eines Ganzen verleiht.
This encompassing vision gave a metaphysical dimension to the term physis, such that it must be distinguished from the notion of nature in modern physics, even though it represented the beginnings of a rational science of nature. The Greek concept of physis contained two ideas which had not yet been teased apart: the origin itself, which carries thought beyond perceptible phenomena, and all things arising from that origin.¹⁵ In his influential book on Parmenides, Karl Reinhardt had already challenged the priority of the problem of nature in the Presocratics and the supposition that they were unable to distinguish between subject and object. He argued that the core of Parmenides’ philosophy was the discovery of the law of thought, the ‘Denkgesetz’, the logical necessity that enchained Being. Moreover, he claimed that Heraclitus should be treated separately from Milesian cosmology and instead connected to Parmenides, since Heraclitus’ physics was informed by the same logic that provided the solution to the Parmenidean problem of the contraries.¹⁶ But Jaeger did not relinquish Zeller’s view or the positivistic interpretations of the Presocratics in order to endorse Reinhardt’s position, which was connected to the epistemological context of Neo-Kantianism. He tried instead to show that the notion of the world put forward by the Presocratics was construed with concepts pertaining to the human world, above all with con-
Jaeger (1934) 380. See the collection of his essays in Jaeger (1937). For the intellectual context Dessauer (21958). Näf (1992), White (1992) and Cambiano (2010) 19 – 42. Jaeger (1934) 11– 12. Jaeger (1934) 212– 213. See Reinhardt (1985), especially 201– 220, for the claim that logos in Heraclitus means ‘Denkgesetz’ and 250 – 257 on Reinhardt’s rejection of the mystical interpretation of Presocratic thought.
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cepts expressing norms and ideals, such as kosmos, dike, harmonia and logos. In Paideia, he developed a view already formulated in an essay on Solon published in 1926. Here, he established a parallel between Solon’s consciousness of law being immanent in the social life of men and Anaximander’s assertion, in the famous Fragment 1, of justice and retribution being immanent in nature.¹⁷ The same parallel was drawn again in Paideia and extended backwards to Hesiod.¹⁸ The chapter on the Presocratics, entitled ‘Das philosophische Denken und die Entdeckung des Kosmos’, is constructed entirely around this idea. In a certain measure, Jaeger still maintains the framework that Greek philosophy began with natural and not human inquiries, but this idea is substantially modified by his thesis that some elements peculiar to the human world were transferred to theories about the cosmos. In seeking to explain the priority of natural inquiry in Greek philosophy, scholars who attempted to find the sources of Presocratic thought in religious mysticism – for example, Karl Joel, whose work Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geist der Mystik (Jena 1906) drew inspiration from Nietzsche – were deemed by Jaeger to be mistaken. For Jaeger this error was a consequence of restricting the scope of evidence to the history of philosophy; in his opinion, Archilochus and Solon, sharing the milieu of the early Greek philosophers, also contribute to this discussion constructively.¹⁹ Anaximander is the pioneering hero of Jaeger’s chapter. The philosopher’s image of the world is a triumph of the geometrical mind, and his ‘Urprinzip’, the apeiron, is characterized, according to Aristotle, by the epithets ‘immortal’ and ‘unchangeable’, which clearly convey a sense of activity. For Jaeger, this implies the notion that only a God could have these properties and rule the world. According to ancient evidence, Anaximander called the divine or God the apeiron. Jaeger translated Fragment 1 of Anaximander as follows: “Woraus aber dem Seienden sein Ursprung sei, dahinein müsse auch sein Untergang sein nach Schicksalsbestimmung. Denn es müsse eines dem andern (allelois) Strafe und Buße zahlen nach dem Richterspruch der Zeit.” The presence of the term allelois in the manuscript of Simplicius showed that the interpretation of ‘viel Mystisches’ in this fragment, a view also supported by Nietzsche and Rohde, was erroneous. Under their reading, the original sin in need of expiation is the coming into existence of things as individual things.²⁰ The fragment shows instead that the struggle between things is similar to the struggle in a law-court of an Ionian The essay is reprinted in Jaeger (1960), vol. I, 315 – 337: see especially 330 – 332. Jaeger (1934) 195 and 136, 150 for Hesiod. Jaeger (1934) 209. Jaeger (1934) 217, where the limits of Burnet’s interpretation are noted. On the interpretive history of Anaximander’s fragment see Mansfeld (2009), especially 30 – 32.
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polis, together with a judge imposing a penalty. But Anaximander discerned that this eternal atonement works not only in human life, but in the whole world and that both domains are characterized by an immanent ‘Rechtsordnung’. From a modern point of view, this could be interpreted as the precursor of the concept of a universal lawfulness, ‘Gesetzmässigkeit’, in nature, but, as Jaeger specified, “es handelt sich nicht um die bloße Gleichförmigkeit des Kausalablaufs im abstrakten Sinne unserer heutigen Wissenschaft”. According to Jaeger, Anaximander describes a ‘Weltnorm’ rather than a law of nature in the modern sense, i. e. a mere description of facts, since for the philosopher the world presents itself as a Kosmos, a “Rechtsgemeinschaft der Dinge”, and the recognition of this norm in natural events has an immediate religious sensibility. This was the contribution of the early philosophy of nature to the history of Greek paideia. We have no evidence of the use of the term kosmos by Anaximander, but it is used by his immediate successor Anaximenes, and in any case the ‘Kosmosidee’ is contained in the representation of eternal justice ruling the natural world. For Jaeger this idea could only be discovered in the depths of the human mind, not by means of telescopes and observatories. The idea produced a ‘Bruch’, breaking off from traditional religious representations, but at the same time achieved a ‘Durchbruch’, opening a new conception of the divinity of Being. Anaximander’s cosmic justice draws our attention to the fact that the Greek concept of cause, aitia, was originally connected strictly with the concept of guilt, ‘Schuld’, in the context of legal responsibility and was later transferred to physical causality: thus, the problem of causality arose from theodicy.²¹ Jaeger asserted that Pythagoreanism must also be distinguished from modern science: “Mit mathematischer Naturwissenschaft im heutigen Sinne hat die pythagoreische Lehre nichts zu tun.” Theorizing numbers as principles does not mean that natural phenomena are reduced to quantitative ratios, since they also express the qualitative essence of different things, such as heaven or marriage or justice. For the Pythagareans, the world is shaped by harmony as a ratio between numbers, at first comprehended in musical sounds and then extended to the movements of the celestial spheres. The concept of harmony contains a normative idea, to which the notions of proportion, beauty, measure and rhythm are connected.²² Only Xenophanes was left out from this line of thought, because in Jaeger’s opinion he was not a genuine thinker, but a poet, even if his acquaint-
Jaeger (1934) 218 – 220; see also 154– 155. In contrast, Reinhardt (41985) 50, 174– 177 rejected that the term kosmos meant ‘das Weltgefüge’ or ‘Bau der Welt’ for the Milesians, who used it in the plural. Jaeger (1934) 223 – 225.
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ance with the new philosophy of nature that entailed a detachment from polytheism and anthropomorphism allowed him to construe a new concept of divinity.²³ In contrast, the thought of both Parmenides and Heraclitus was deemed but the continuation and development of Anaximander’s view. In Parmenides, a third ‘Grundform’ of Greek thought emerges next to the Milesian philosophy of nature and the Pythagorean speculation on numbers, namely ‘das Logische’. In its perpetual becoming and passing away under the governance of eternal Dike, Anaximander’s Kosmos was understood intuitively rather than conceptually. For Parmenides, logical necessity assumes the function of Anaximander’s Dike. Parmenides’ Dike, in contrast, shields Being from all becoming and passing away and expresses the necessity of Being as an impossibility of contradiction. For Jaeger, Parmenides is the first thinker who consciously posed the question of philosophical method, but in the philosopher’s picture of the transition from opinion to truth he displays a religious pathos that goes beyond ‘das Logische’.²⁴ Jaeger ends his chapter with Heraclitus. Heraclitus too is redeemed from the narrow scope of natural philosophy. Of course, he too adopts the Milesian representations of nature and the Pythagoream concept of harmony, but his starting point is an intuition grounded in human life that brings the notion of war, polemos, to a cosmic scale. The human world is no longer dissolved within the image of nature, but becomes the center of all cosmic forces. For Jaeger, this is confirmed by the function that Heraclitus assigns to the Logos, which is not²⁵ das begriffliche Denken (noein, noema) des Parmenides, dessen reine analytische Logik die bildliche Vorstellung einer inneren seelischen Grenzenlosigkeit ausschließt. Der Logos Heraklits ist eine Erkenntnis, aus der gleichermaßen ‘Reden und Tun’ entspringt.
Heraclitus characterizes Logos as omnipresent because it does not merely have universal logical validity, but also is the highest good for the polis as for the world: laws governs the whole world, just as in the polis. In Jaeger’s view, three connected concentric rings constitute Heraclitus’ thought: an anthropological ring, wrapped by a cosmological ring, which is in turn is enveloped by a theological one. The early philosophy of nature did not yet pose the religious question explicitly, but in developing the idea of cosmos, for which Anaximander had laid the foundation, Heraclitus produced the notion of a divine law (nomos) and a sort of ‘Kosmosreligion’, grounding the norm of the philosopher’s
Jaeger (1934) 231– 232. Jaeger (1934) 236 – 237, 239 – 240. Jaeger (1934) 243; see also 241– 2, where against Reinhardt he emphasizes the dependence of Heraclitus on his predecessors in the use of the term kosmos and also 244– 246.
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life in the cosmic norm. Religious and cosmological thought, at odds with one another in the sixth century BC, were synthesized in Heraclitus.²⁶ In a subsequent chapter on the sophists Jaeger emphasizes that the natural inquiries made by the fifth century BC inheritors of Milesian philosophy became increasingly specialized not only in the work of Democritus, but also of Anaxagoras. Recognizing the Mind as an organizing power, Anaxagoras exhibited an anthropocentric tendency typical of the sophists, but in general developed a mechanical view of nature, without reaching a union of nature and spirit.²⁷
3 Individual facets of Jaeger’s reconstruction of Presocratic thought were not entirely new. Rather, his innovation was a general framework in which human notions of law and order were projected onto the cosmic scale. Zeller, for example, had already remarked that following Anaximenes the Pythagoreans used the word kosmos to denote an ordered world and conceived of the cosmic system as harmonious. This, however, did not mean that they found the scientific principles of their system in human activity. Instead, the perception of musical tones formed the root of their view. Even moral concepts were reduced by the Pythagoreans to mathematical and metaphysical characters: “nicht die Physik wird hier ethisch, sondern die Ethik wird physikalisch behandelt.”²⁸ Likewise, Zeller remarked that logos meant for Heraclitus not only his discourse, but also the truth expressed in it that an eternal order of things exists ruled by the law of contraries. Therefore war, polemos, is ‘das Weltgesetz’, which is also the divine law. But according to Zeller, this law was not distinct from the primordial fire.²⁹ The idea that the Presocratics construed the concepts of kosmos, dike or logos for the world using characteristics of human life is absent in Zeller. Paradoxically, the positivist Gomperz was closer to Jaeger’s perspective. He understood the notion of a universal order of nature in Anaximander as a universal juridical order (‘Rechtsordnung’) and remarked: “Als ‘göttlich’ erschien ihm einzig der anfangslose, kraftbegabte Stoff, der allein ‘unsterblich und nicht alternd’ ist” and this convic-
Jaeger (1934) 247– 8. In this chapter of Paideia there is only a slight reference to Empedocles, who is defined as ‘a philosophical centaur’ because he tried to connect the Orphic belief in the soul to the Ionian philosophy of nature (ib., 229 – 230). Jaeger (1934) 374– 375; see also 428. Zeller (51892) 433 – 434, 467– 469, 473 – 474; see 441 n., where he says that Xen. Mem. I,1,11 shows that the term kosmos was still not commonly used in the fourth century BC. Zeller (51892) 665 – 667; see also 654– 655, 671– 672.
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tion gave Anaximander a sort of satisfaction (‘Befriedigung’) that we can characterize as “sittlich-religiöse”, “ethical-religious”.³⁰ Gomperz also emphasized Heraclitus’ dependence on Anaximander for conceiving a natural order in juridical terms. He moreover acknowledged that Heraclitus was the first to intertwine the life of nature and the life of spirit, assuring that this relationship would no longer remain split and consequently approaching the notion of a single universal law, namely “the absolute rule of causality”. Furthermore Gomperz asserted that Heraclitus called the original principle, i. e. fire, ‘divine’, understanding it as “der Träger der Weltintelligenz…die bewußt gewordene Norm allen Daseins”, even if it should not be understood as a divinity aiming at an end.³¹ Burnet also recalled that the term kosmos, used at first to denote the marshalling of an army and then the ordered constitution of a state,³² was transferred from this to the world because in early days the regularity and constancy of human life was far more clearly seen than the uniformity of nature. Man lived in a charmed circle of law and custom, but the world around him still seemed lawless. That, too, is why, when the regular course of nature was first realized, no better word for it could be found than dike. It is the same metaphor which still lives on in the expression ‘natural law’.
This passage shows clearly that for Burnet the notions of kosmos and dike, though derived from the observation of the human world, did not have a normative meaning in the Jaegerian sense, but coincided with the notion of ‘regularity’ pertaining to the laws of nature. For his peculiar interpretation of the Presocratics, Jaeger might have appealed to Francis Macdonald Cornford’s From Religion to Philosophy (1912), a work inspired by the French school of sociologists and the thought of Émile Durkheim. At the core of this book is the view that the roots of philosophical concepts are religious representations, which in turn reflect the social structure of the community from which they emerge. Philosophy inherits the ideas of God, Soul, Destiny and Law from these collective representations. For Cornford, this was true in Greece both for the ‘scientific’ tendency that culminated in Atomism and for the ‘mystic’ tendency that began with Heraclitus – whom Cornford, like Jaeger later on, treated separately from the Milesians – continued through the Pythagoreans, Parmenides, and Empedocles, and culminated with Plato in “the last and greatest attempt to formulate the mystical faith in rational terms”, by
Gomperz (1896) 46. Gomperz (1896) 52– 53, 61, 63. Burnet (21908) 32, where he, like Zeller, recalls the passage of Xenophon, and 168, where he rejects that logos in Heraclitus meant ‘reason’: it was simply Heraclitus’ own discourse.
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means of his theory of Forms. Obviously each of the two tendencies functions differently:³³ Ionian science supersedes theology, and goes on its own way, without drawing any fresh supply of inspiration from religion, whereas the mystic tradition is continually inspired by living religious faith and tries to translate a certain view of life, of God, and of the soul and its destiny, into terms of a physical system.
Nevertheless in both cases, physis was understood as a material continuum that is alive and divine, “a substance, therefore, invested with mythical properties”. It was “a metaphysical entity; not merely a natural element, but an element endowed with supernatural life and powers, a substance which is also Soul and God”.³⁴ In Cornford’s book, Jaeger could also have found the nexus between cosmology and moral ideas, particularly with regard to Anaximander, who “in moral language” describes the processes of birth and perishing as a “transgression of a moral order” followed by punishment. For Cornford this was a renewal of the religious representations of Destiny and Justice and not a theory “independently deduced from observation of the world and its natural processes”. And like Anaximander, most of the early philosophers regarded “the order of the world not only necessary but right or just because it is a projection of the social constraint imposed by the group upon the individual, and in the constraint ‘must’ and ‘might’ are identical.”³⁵ Notwithstanding these similarities, there is no reference to Cornford’s book – if I am not mistaken – either in Paideia or in Jaeger’s later Theology. However, in 1939, Cornford addressed a letter to Jaeger, inviting him to become his successor in the ‘Lawrence Professorship of Ancient Philosophy’ at Cambridge University, but Jaeger declined.³⁶ Already in the first pages of Paideia, Jaeger contrasted ‘Kultur’ – in his view, ‘Bildung’ patterned after the Greeks – with modern ‘Zivilisation’ and rejected any conflation of true culture with the merely descriptive concept of culture used by anthropologists. Evidently, he could not accept Corn-
Cornford (1991) 158 – 159; see also 214– 215 (with emphasis on Parmenides’ proem), 224– 225 (on Empedocles) and 242 (on Plato). Cornford (1991) xiii, xvi, 7, 123, 134– 138, 187– 188 (on Heraclitus). For the differences between Greek natural philosophy and modern science see his 1936 Cambridge lecture in Cornford (1967) 81– 94. Cornford (1991) 10 – 11, 43 – 71 and 191– 192 on Heraclitus. However Cornford, 188 – 190, emphasized also the differences between Anaximander and Heraclitus, who was thought to belong to the mystical tradition. Calder (1998) 140. Jaeger (1947) 223 n. 39 quotes only Cornford’s 1936 essay on the invention of soul.
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ford’s view, which was grounded in a comparative approach including not only the cultures of the ancient Near East, but also the so-called ‘primitive’ cultures, and which employed categories like totemism or connected the Greek scientific tendency to magic. Jaeger’s reaction to The Greeks and the Irrational (1951) by Eric Dodds, as reported by William Calder, is meaningful. He disapproved of this book, because it “emphasised what was trivial and irrelevant. We study the Greeks to learn about the rational.”³⁷ In contrast, Dodds applied the category of shamanism to several Presocratics. In this practice he had a forerunner in Hermann Diels, who in his 1897 essay on Anaximander introduced precisely this category and, following his teacher Hermann Usener, stressed the relevance of ‘die vergleichende Religionswissenschaft’ for the study of the Presocratics.³⁸ Jaeger, however, was silent on Diels, who had been one of his teachers in Berlin and helped to initiate him into the study of Greek philosophy. We are now in the position to ask about the impact of Jaeger including the Presocratics in a general history of Greek Paideia. First of all, the pivotal Presocratic concepts of kosmos, dike or logos were placed in a wider context, where art, religion and philosophy constituted an inseparable unity. According to Jaeger, leadership during the Presocratic age, “die Führerrolle der Bildung der Nation”, was still indisputably in the hands of the poets, before the lawgivers and politicians.³⁹ However, inclusion had the additional effect of inscribing the Presocratics into a sort of Hegelian teleological history, relegating them, consequently, to a marginal position compared to the main branch of Greek paideia that reached its peak with Plato. Whereas Jaeger emphasized the close link between Pindar’s aristocratic paideia and the educational spirit informing both the Platonic forms and Plato’s ideal of a universal political arete, the philosophy of nature remained entirely outside of this progression.⁴⁰ This can explain Jaeger’s selective treatment of the Presocratics in its omission of the last philosophers of nature. Jaeger appealed to the Hegelian assumption that Minerva’s owl takes flight at twilight, i. e. great spiritual achievements arise at the decline of historically great human communities: “so bringt im Untergang die griechische Adelskultur Pindar hervor, so der griechische Polis-staat Plato und Demosthenes”, says Jaeger.⁴¹ Thus, the importance of the Presocratics could be dimin-
Calder (1998) 284. Diels (1897) especially 233 – 237 = 18 – 22. Jaeger (1934) 206, 317 and 438: “Alle griechischen Dichter waren echte Philosophen in dem Sinne der noch ungeschiedenen Einheit von Denken, Mythos und Religion”. Jaeger (1934) 159 and 310, where Aeschylus is presented as an intermediate link between Pindar and Plato. Jaeger (1934) 291; see also 209 – 210, 385.
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ished, because they were active during periods before decline. But at the same time, his Hegelian, i. e. teleological, view of history helped to keep Jaeger away from Nietzsche’s or Bachofen’s idealization of ‘Frühzeit’, “vor dem Erwachen der ratio … etwa in die mythischen Anfänge, in den Homer oder in das tragische Zeitalter”. Jaeger objected that “diese romantische Verabsolutierung der Frühzeit ist doch unmöglich, denn die Entwicklung des Geistes der Nationen wie der Individuen hat ihr unüberschreitbares Gesetz in sich selbst.”⁴² Jaeger, thus, seemed to position himself outside the imposing plethora of Presocratic studies in Germany in the 1920s.⁴³ His tendency to marginalize early natural philosophy is confirmed by the fact that his chapter in the second volume of Paideia on ancient medicine – a longtime interest – connected Hippocratic medicine to Socrates and Plato rather than to the early philosophy of nature. At first a mere practice, early Greek medicine was only afterwards permeated by the new Milesian outlook on nature, a view grounded in observations and the search for ‘natural’ explanations of phenomena. Without this influence, medicine could never have become “eine methodisch bewußte Kunst und Wissenschaft”.⁴⁴ But extant writings in early medical literature show opposition to these new ideas. Above all, Jaeger supports his view with evidence from On Ancient Medicine and draws a parallel between the opposition to philosophy of nature found in this work and Socrates’ disdain for cosmological and physical speculations and his summons to explore the details particular to human life. If we are looking for some form of empiricism in ancient thought, we should refer to Hippocratic medicine, rather than Ionian natural philosophy:⁴⁵ Eine exakte Naturwissenschaft gab es eben noch nicht. Die Naturphilosophie jener Periode war der Inbegriff des Unexakten. Es gab auch keinen philosophischen Empirismus. Alle grundsätzliche Besinnung auf die Erfahrung auf der Grundlage jeder exakten Wirklichkeitserkenntnis war im Altertum stets mit der Medizin verbunden, die daher eine philosophische Stellung in dem ganzen Geistesleben einnahm. Sie ist es auch, die diese Gedanken der modernen Philosophie vermittelt hat. Der philosophische Empirismus der Neuzeit ist das Kind der griechischen Medizin, nicht der griechischen Philosophie.
Jaeger (1934) 385. See Most (1995). Jaeger (31959) Bd. II,13. Jaeger (31959) Bd. II,70; see also 25 – 27.
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4 After Jaeger fled Germany and settled in the United States, he emphasized theology as the core of early Greek philosophy. Of course, this was not a new theme. In the first volume of Paideia he had already remarked that before the sophists Greek education did not recognize the modern split between culture and religion; it had its roots instead in a religious element.⁴⁶ However, at the center of Paideia I were two facets which were not easy to acclimatize to the United States: the thesis of an essential political dimension of Greek ‘Bildung’ and an élitist, not at all democratic perspective. These words are meaningful: “Für unser heutiges Bewußtsein sind Politik und Moral zwei weithin getrennte Bereiche geworden”, while for the Greeks⁴⁷ ist der Staat überhaupt die einzige Quelle aller sittlichen Normen, und es ist nicht abzusehen, welche andere Ethik es außer der Staatsethik, das heißt außer dem Gesetz der Gemeinschaft, in der der Mensch lebt, noch geben sollte. Eine von ihr unterschiedene Privatmoral ist für den Griechen ein unvollziehbarer Gedanke.
Plato, first and foremost as the author of the Republic, is depicted as intent on the renewal of the State, which is conceived of as the highest norm and form of human life. In the second volume of Paideia, published in the United States in 1942, the political aspects of Plato were no longer in focus. Jaeger preferred to emphasize Plato’s function as the forerunner of Christianity, which absorbed the apex of Greek paideia represented by Plato. Soul and inner life became more relevant than the polis. This marked a substantial depoliticization of Plato’s philosophy. The true aim of the Platonic State is now “der Staat in uns”, i. e. in the soul. At last, theology became the foundation of both ethics and politics, grounded in the idea of the Good coinciding with the supreme Being. Therefore Plato could be acknowledged as “der Theologe der klassischen Welt”, as Augustine had astutely realized.⁴⁸ However Jaeger’s change of perspective did not constitute a break in the development of an essential line of his studies. Since 1908 Wilamowitz had suggested he undertake a critical edition of Gregory of Nyssa’s Contra Eunomium, which Jaeger published in 1921. In his introduction to his Scripta minora from 1960, Jaeger asserted: “War ich auf dem Gymnasium schon ein halber Theologe.” The central problem of his life was the link between
Jaeger (1934) 382. Jaeger (1934) 411– 412. Jaeger (31959) Bd. III,8, 20, 86 – 90.
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antiquity and Christianity. This also became the framework of his book on the theology of the early Greek thinkers, which aimed to oppose the widespread interpretation that Greek philosophy began with a perspective akin to the modern science of nature. His book, rather, foregrounded the theological function of the early cosmologies as an impulse for the philosophical theology of Plato and subsequent ages.⁴⁹ The target of the book on Theology continued to be the scholars whom Jaeger described with the label of ‘positivism’. Whereas Zeller, who despite his increasing interest in the scientific element of the Presocratics was undergirded by a Hegelian framework, was still conscious of the metaphysical implications of Presocratic thought, positivists, like Burnet and Gomperz, focused only on its empirical and scientific character in a modern sense. Jaeger regarded this onesided emphasis as the result of 19th-century scientism’s “horror of everything metaphysical”, leading it to neglect or minimize the theological elements.⁵⁰ Jaeger no longer mentioned Tannery, but there are, of course, differences among the authors whom he grouped under the label of Positivism. Whereas Tannery appealed above all to Comte, Gomperz followed rather the thought of Stuart Mill. The characterization of Burnet as positivist is also very doubtful. In Early Greek Philosophy, he uses the notion of progress in his interpretation of Parmenides’ theory; philosophy after Parmenides, as Burnet writes, “must now cease to be monistic or cease to be corporealist.” But, he continues, it “could not cease to be corporealist; for the incorporeal was still unknown. It therefore ceased to be monistic.” The attempts to reconcile these two ideas, for example by Hippo or Diogenes of Apollonia, were for Burnet “one of the periodical ‘bankruptcies of science’, which mark the close of one chapter in its history and announce the beginning of a new one.” After resolving this struggle, philosophy ceased to be corporealist, and could be monistic once more:⁵¹ Fresh life must be given to the speculative impulse by the raising of new problems, those of knowledge and conduct, before any further progress was possible; and this was done by the ‘Sophists’ and Sokrates. Then, in the hands of Demokritos and Plato, philosophy took a new form, and started on a fresh course.
Jaeger (1960) Bd. I,xxi–xxii. See Jaeger’s letter to Kirsopp Lake (16 January 1042), quoted by Calder (1992), 6 n. 13, where he says: “I had come to Greek philosophy from the theological interests.” On Jaeger’s book Christianity and Greek Paideia (1961) see Keyser (1992), especially 89, where it is rightly remarked that this book “can be seen not as merely volume four of Paideia (or worse, as merely an afterthought) but as the telos or entelechy of the whole of not only Paideia, but of Jaeger’s life.” Jaeger (1947) 7 and 195 n. 25 on Zeller. Burnet (21908) 200, 227– 228, 406.
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In his later work Greek Philosophy (1914), Burnet asserted that he understood ‘philosophy’ as “all Plato meant by it, that is neither mythology, nor positive science”. Even if from the Platonic point of view, “there can be no philosophy where there is no rational science”, philosophy “is not to be identified” with science. Greek philosophy was “based on the faith that reality is divine” and tried to do for men what the mysteries could accomplish only in part. Therefore it “includes most of what we should now call religion”, and this perspective was fully achieved in Socrates and Plato.⁵² And if we read Burnet’s chapter on philosophy in the volume The Legacy of Greece (1921), we see that for Burnet the true past was the Platonic tradition, where fields now divorced, such as philosophy and science, intellect and mysticism, philosophy and the interests of life, were once harmonized.⁵³ The name of Diels was not mentioned in Jaeger’s list of the authors who neglected the theological aspects of Presocratic thought and exclusively dwelled upon its scientific elements. Yet this had been the dominant tenor of a lecture on Anaximander delivered by Diels before his death in 1922. According to Diels, Anaximander belonged entirely to the Ionian tradition and conceived of the apeiron as a material principle. He was not a ‘schwärmerischer Prophet’, but a universal genius who sowed seeds in all fields of science, mathematics, physics, astronomy, geography, anthropology. Diels, like Gomperz, did not hesitate to find analogies and anticipations to modern discoveries in Anaximander’s thought.⁵⁴ Perhaps Jaeger would be amazed at discovering in Nietzsche a similar nexus between the Presocratics and modern science. Of course, in Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Nietzsche affirmed that mysticism is the source of many views of the Presocratics. Already Thales’ claim that water is the principle of all things was for Nietzsche a metaphysical statement originating in the mystical intuition that all is one.⁵⁵ But in his lectures on the Preplatonic philosophers, delivered in Basel, but only published unabridged in 1995, Nietzsche contrasted Presocratic materialism to Plato’s dualism of body and soul. Following above all the Geschichte des Materialismus by Albert Lange, who adhered to a form of Neo-Kantianism, Nietzsche found a more developed expression of the
Burnet (1914) 5, 11– 13, 34. Burnet (1921). Diels (1923) 65 – 76. However the name of Diels was mentioned by Jaeger together with those of Tannery, Heiberg and Gomperz as representatives of the tendency to emphasize the links of the Presocratics with modern science in a review of the third volume of Gomperz’s Griechische Denker (see Jaeger 1960, Bd. II, 119 – 124). Jaeger judged the “neutralere und farblosere Werk” of Zeller more efficacious than that of Gomperz. Nietzsche (1973) 3. A supporter of this interpretation was, above all, Joel (1903).
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ancient materialism in atomic theory, which perpetually overcame “die gesamte anthropomorphische Weltbetrachtung des Mythus” and is “die Grundhypothese der wissenschaftlichen Naturbetrachtung der Alten, die, gründlich fortgesetzt, sich über sich selbst hinaushebt: wie wir dies bei unseren modernen Wissenschaften erlebt haben.” Therefore, materialism has always been extremely useful: “Es ist die nüchternste Betrachtung: sie geht von wirklichen Eigenschaften der Materie aus […]. Die nach den allgemeinsten Gesetzen sich bewegende Materie bringt durch eine blinde Mechanik Folgen hervor, die der Entwurf einer höchsten Weisheit zu sein scheinen.”⁵⁶ Nietzsche too indulged in outlining parallels between Presocratic doctrines and modern views. We can now test whether Jaeger’s reproach of the authors he mentions are well-founded. As for Zeller, we can confirm Jaeger’s critique. Zeller claims that religious elements are either absent in the Presocratics or, when present, they are wholly disconnected from cosmology and natural philosophy. Thus, he interpreted Thales’ saying that all things are full of gods as a simple personification of the living character of all things. Likewise in Zeller’s opinion, the attribution to Anaximenes, as well as to Anaximander and even more to Parmenides, of the assertion that the primordial substance or Being is a divinity seemed unlikely.⁵⁷ Anaxagoras too did not understand the Mind as god, nor were the Mind’s properties befitting a personal and merely spiritual being: even in this respect Anaxagoras’ interest was solely physical.⁵⁸ Zeller acknowledged that the original concern of the Pythagoreans was moral and religious and that their unquestionable belief in the gods followed the footsteps of Xenophanes’ monotheism. But the central point was that the Pythagoreans “aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Theologie gleichfalls mit ihrem philosophischen Prinzip in keine wissenschaftliche Verbindung gebracht haben” and that the object of their science was the same as that of the other Presocratic systems, i. e. “die Naturescheinungen und ihre Gründe”.⁵⁹ Empedocles, in his turn, regarded the four elements, the two forces of Love and Strife, as well as the Sphairos, as gods and with them formulated
Nietzsche (1995) 327 and 334. On his acquaintance with Lange’s book, see Salaquarda (1992). In a Kantian perspective, Nietzsche (1995), 339 – 340 objected that materialism entailed assuming the properties of matter in their immediacy, without a preliminary analysis of the conditions for the possibility of knowledge, a practice he compared to behaving like the baron of Münchhausen. Zeller (51892) 191, 243, 563. Zeller (51892) 996 – 998. Zeller (51892) 456 and 465, see also 370, 375 – 6. He interpreted Xenophanes’ view of god as a form of pantheism nevertheless disconnected from his philosophical views (ib. 524, 533 – 534, 541).
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religious precepts, but according to Zeller “auch diesem reineren Götterglauben fehlt es jedoch an einer wissenschaftlichen Verknüpfung mit seinen philosophischen Ansichten.”⁶⁰ Paradoxically it is Gomperz once again who gave a meaningful place to religion both in the introduction of his work and in a chapter dedicated to Orphic cosmogonies, where he even acknowledged the aforementioned book of Karl Joel. On Anaxagoras he followed Zeller, remarking that the Mind, though not ordinary matter, is still not a divinity.⁶¹ But in several cases, he showed a tendency to connect the religious elements of the Presocratics with their properly philosophical views. For example, he emphasized the unity of Pythagoras’ original system, which only afterward was divided in two courses, the one attuned to the system’s positive and scientific aspects, and the other cultivating its “religious or superstitious” practices and rules. Like Zeller, Gomperz calls Xenophanes a pantheist who worships a supreme Being that wavers between spirit and matter, but contrary to Zeller, he also deems Xenophanes a first-rate man of science. He additionally emphasizes that Empedocles, like his predecessors and contemporaries, was moved by “no less religious impulses than by scientific interests” and that Empedocles’ theology succeeded in blending the two sides of his system in a unitary harmony, since divine beings were considered parts of the physical world.⁶² I think that Jaeger’s judgement of Gomperz’ work was compromised by his prejudiced and simplified view of positivism. On these issues, Burnet seems more akin to Zeller. He too noted the absence of any connection between the philosophical and scientific views of the early thinkers and their religious beliefs, as was the case for Thales, the Pythagoreans, and Empedocles. This claim is informed by Burnet’s view that ritual, more than any doctrine, is the essential element of religious belief. Empedocles, for example, called the elements by the names of divinities, but he did not use them in religious sense: he “did not pray or sacrifice to the elements, and the use of divine names is in the main an accident of the poetical form.” Burnet concludes generally: “All through this period, there seems to have been a gulf between men’s religious beliefs, if they had any, and their cosmological views.”⁶³
Zeller (51892) 816. Also for Heraclitus the divinity or cosmic law is the primordial fire: his view consists of an explicit pantheism, akin to that of Xenophanes (ib. 671– 672). Gomperz (1896) 174. Gomperz (1896) 83 on Pythagoras, 130 – 132 on Xenophanes, 201– 203 on Empedocles. Burnet (21908) 289 and 51 on Thales, 107– 109 on the Pythagoreans, 232 and 264– 165 on Empedocles; but see also 74– 75, 82, 141 on Anaximander, Anaximenes and Xenophanes and 194– 195 on Parmenides.
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5 However, Jaeger claimed to open a new field in his Theology of the Early Greek Philosophers, where he developed his Gifford Lectures delivered at St Andrews in 1936. He opposed the positivist interpretation of the Presocratics, nor did he concur with those who interpreted cosmological thought as “an outgrowth of mysticism and Orphism, something quite irrational.” In Jaeger’s view, theology is a rational enterprise, strictly connected to the importance that Greek thinkers attributed to logos: “To the Greeks God became a problem”,⁶⁴ even though the term ‘theology’ was likely coined by Plato. Jaeger’s first move was to assert that the Milesian naturalists take as a point of departure the given realities of human experience – ta onta, ‘the things which exist’. He explains that the expression ta onta was used “rather commonly, even in later times, to denote a man’s household goods and property; in philosophical language its scope is now widened to include everything that human perception finds in the world”, but no longer describes “the heavenly forces piously reported in the earlier myths”. This, however, does not entail that from the beginning ta onta was a metaphysical term, as in Parmenides. Rather, it was also used in the sense of all natural existence by Heraclitus, Melissus and Empedocles.⁶⁵ But in turn, our translation of the term physis with ‘nature’ “fails to do justice to the Greek meaning and is definitely wrong”. Physis is an abstract formation with the suffix –sis and “denotes quite plainly the act of phynai – the process of growth and emergence […] of the things we find about us”, but also “their source of origin – that from which they have grown, and from which their growth is constantly renewed – in other words, the reality underlying the things of our experience.”⁶⁶ Whereas reducing the meaning of physis only to the sense of ‘primary substance’ supports a naturalistic interpretation of the Presocratics, the wider meaning that includes a sense of origin indeed opens room for a theological dimension. Jaeger maintains his previous attribution to Anaximander of an idea of justice “as an immanently effective norm inherent in reality itself” which is expressed by the term kosmos,⁶⁷ and in doing so he emphasizes the continuity between Anaximander and Heraclitus. With Heraclitus the idea of law appears for the first time in philosophic thought and is regarded as the object of the highest and most universal knowledge. But, as Jaeger writes, “this shift of meaning had
Jaeger Jaeger Jaeger Jaeger
(1947) (1947) (1947) (1947)
V and 4. 18 – 19 and 197 n. 2. 20 and 198 n. 5, for the criticism to Burnet. 35.
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already been foreshadowed by the designation of the world as an ordering-together or kosmos”, an idea which we find in Anaximander.⁶⁸ Jaeger also underscores the nexus of political and social elements with cosmological imagery in Empedocles, but adds an important qualification that is absent in Paideia. Empedocles called his gods all “equal and of the same age”, but not in a quantitative sense pertinent to those “who try to understand the Greek philosophy of nature in terms of modern physics or chemistry.” In Empedocles⁶⁹ the aristocratic order of the older theogonic thought which was all based on difference of rank, age, and genealogy, is superseded now by the democratic equality of all the elementary and moving forces which make up Empedocles’ cosmos. They are, however, bound together by the law of a higher unity to which their individual functions and characters are subordinate. This view suits perfectly Empedocles’ social ideal. But the relationship of the social element in Greek thought to the cosmological was always a reciprocal one: as the universe was understood in terms of political ideas such as dike, nomos, moira, kosmos, equality, so the political structure was derived throughout from the eternal order of the cosmos. It is of deep interest to the historian of the Greek mind to trace the changing social ideals in the development of this mutual relation, and to appreciate the importance for the democratic age, in the second half of the fifth century, of a new cosmo-theogony which expressed the trend of the time to discover the origin of its favourite ideas in the divine nature of the world.
In this long passage, which deserved to be quoted here in full, two aspects must be stressed. The first is the explicit connection of Empedocles’ view to a specific form of government, namely democracy, through the notion of equality. Precisely this feature can explain why Gregory Vlastos’ reading of how the Paideia interprets the Presocratics found favour in the United States. In an article published in 1947, the same year of the Theology, Vlastos pointed out the importance of the notion of cosmic justice as “a conception of nature at large as a harmonious association, whose members observe, or are compelled to observe, the law of the measure”, but remarked that the traditional interpretation of this topic⁷⁰ leaves out the additional postulate of equality; for clearly, it is quite possible to think of harmony and non-encroachment as a relation between unequals. […] But the founders of Greek scientific thought generally made the opposite assumption: they envisaged harmony in terms of equality. Cosmic equality was conceived as the guaranty of cosmic justice: the order of nature is maintained because it is an order of equals. To my knowledge, this has never been established.
Jaeger (1947) 115 – 116. Jaeger (1947) 139 – 149. Vlastos (1970a) 56 – 57. see also Vlastos (1953). On the political analogy in the Presocratics, see also Lloyd (1966) Part II, chap. IV, § 1.
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Clearly Vlastos had not yet encountered Jaeger’s Theology, where he could have found a useful parallel concerning Empedocles. But Vlastos emphasized the importance of equality not only in Empedocles, but also in certain Hippocratic writings and in other Presocratics. In particular, at the end of his paper he examined Anaximander in the light of the previous theories. In him Vlastos found a view of injustice as the encroachment of one power upon another and justice as the restoration of the equilibrium between equals. This signified what Vlastos called ‘the naturalization of justice’, i. e. a “philosophical concept of nature as a selfregulative equilibrium, whose order was strictly immanent, guaranteed through the fixed proportions of its main constituents.” The consequence for this was that “the equality of the constituents of this new commonwealth of nature … meant the abolition of distinctions between two grades of being – divine and mortal, lordly and subservient, noble and mean, of higher and lower honour.”⁷¹ The democratic implications of Vlastos’ interpretation are clear: of the four physiologoi he studied, Heraclitus alone appears estranged from democratic politics. There remains, however, a point in Vlastos’ interpretation which Jaeger could not approve, namely the opposition between this line of Presocratic thought and Plato; for Vlastos, Plato represented the counter-revolution, i. e. the “negation of Anaximander’s egalitarian universe”.⁷² In Jaeger’s book, the political analogy was strictly linked with the theological view of a divine order in the world, as we have seen in the longer quotation above. This is especially apparent in the pages dedicated to Heraclitus, for whom the law of all laws that coincides with the logos according to which everything occurs is something divine. But, whereas in Paideia the theological ring was but one of three concentrics, in the Theology the theological aspects of the scheme come to the forefront: “[Heraclitus’ theology] must rather be thought of as forming with the cosmology an indivisible whole, even if we lay the chief emphasis on the theological side.”⁷³ The theological element existed from the beginning in Ionian natural philosophy and the true root of Heraclitus’ idea of God was in Anaximander’s dike rather than in the God of Xenophanes. Paradoxically Xenophanes, who explicitly dealt with the problem of God, was relegated to a minor role. According to Jaeger, Xenophanes articulated neither a real philosophy of nature nor a positive theology, but limited himself to the destruction of the anthropomorphism responsible for the traditional gods. In his theology nothing is really philosophical or founded on logical proofs. What Jaeg-
Vlastos (1970a) 82 and 85. Vlastos (1970a) 85 – 86. Jaeger (1947) 116 – 117.
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er concedes to Xenophanes is only “an immediate sense of awe at the sublimity of the Divine” and a feeling of reverence.⁷⁴ In detecting the theological core of Presocratic thought, Jaeger focuses chiefly on three factors: their use of terms and epithets which denote gods and the divine; their use of stylistic forms (e. g. hymnodic) which are appropriate for the religious sphere; and their adoption of attitudes which are endowed with a religious character. Once again Anaximander provides the first evidence for these observations. He assumed that the Boundless, from which the world begins, is identical “with none of the given substances, and yet is capable of giving rise to the vast immensity of them all”. Moreover, to the Boundless he gave the epithets ‘immortal’ and ‘indestructible’ and the predicate ‘governing’ and ‘encompassing’ all things.⁷⁵ Now, Aristotle says that the apeiron is the divine, to theion, and Jaeger comments:⁷⁶ The substantivization of the adjective with the definite article shows … that this is introduced as an independent concept, essentially religious in character, and now identified with the rational principle, the Boundless. That this expression is of epoch-making importance in Greek philosophy is clear from the frequency with which we encounter similar statements both in the other pre-Socratics and in later philosophers.
As far as Jaeger knows, “the concept of the Divine as such does not appear before Anaximander.” Referencing a paper of Karl Deichgräber who detected language befitting a religious hymn above all in Anaxagoras and Diogenes of Apollonia, Jaeger claims that this was pioneered by Anaximander.⁷⁷ Additionally, the peculiarities of Heraclitus’ language can be seen as expressions of his religious attitude: his aphoristic and oracular style is in line “with his whole prophetic
Jaeger (1947) 49 and 232 n. 55; see in general 42– 44. See also the drastic statement of Cherniss (1970) 18: “The theology of Xenophanes and the doctrine of metempsychosis arose outside of the main current of Greek philosophy.” Jaeger (1947) 24 and 29. See the criticism of Cherniss (1970) 9 on Jaeger’s view that Anaximander’s system “is in fact a theology, theogony, and theodicy in one.” This conclusion appears to Cherniss “at very least unwarranted, not at all assured by the evidence.” Jaeger (1947) 31 and 203 – 206 n. 44, where he admits, however, that there is little evidence for the use of to theion by the Presocratics. Jaeger (1947) 30. See Deichgräber (1933) and Jaeger (1947) 161 (see also 163 – 164): Anaxagoras, by his use of the epithets ‘infinite’, ‘self-ruling’, ‘unmixed’ and of hymnic style in his statements about Nous, follows “an established stylistic tradition which can be shown to have been followed by almost all the pre-Socratic philosophers” and this is particularly important in the case of Anaxagoras, “for in none of the surviving fragments is there any direct evidence that he ever referred to Mind as the Divine”. Jaeger (1947) 184 finds traces of hymnodic language even in Democritus.
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bearing”. When he proclaims polemos as ‘father of all and king of all’ his “style of predication becomes quite hymn-like”.⁷⁸ Hence the “religious sense of his mission prevails”, since “he is sustained by knowing that he is the bearer of the logos”, whose contents are the divine law and God working as the unity which maintains itself in opposites. Heraclitus’ innovation is “the mystical approach to the concept of unity”.⁷⁹ Particularly revealing for Jaeger’s perspective is his attempt additionally to rescue Parmenides from an exclusively epistemological and metaphysical interpretation. This opposed the view of Reinhardt, who saw in Parmenides only an intellectual impulse without moral and a religious complication. For Jaeger, Parmenides was “quite innocent of our formal logic”, but like the first philosophers he too connected the knowledge of existence – what he calls Being – with the sphere of religion, even though he did not identify Being with God. Jaeger concludes his chapter, significantly entitled ‘Parmenides’ Mystery of Being’, with the following words: “At this time the strongest religious motive for viewing the world philosophically still lies in the concept of unity. But Parmenides gives it new strength by endowing this unity with the properties of completeness, immobility, and limitation.” Hence, Jaeger took notice of the prologue to Parmenides’ poem, which proves that “his mysterious vision in the realm of light is a genuine religious experience.”⁸⁰ Empedocles too in the prologue to his poem presents himself to his countrymen as a religious teacher, even as ‘an immortal god’. This “exaggerated self-assurance” necessarily had a religious root, stemming “from his certainty of a divine salvation which he proclaims and expects for himself – the salvation that comes when the soul is reunited with its divine source.”⁸¹ This permits us to understand the importance of Orphic beliefs on the soul’s immortality and transmigrations not only for the Pythagoreans, but also for Empedocles. In his 1952 review of Jaeger’s book, Gregory Vlastos wrote: ⁸² There is a kind of poetic justice in the fact that Professor Jaeger’s Theology of the Early Greek Philosophers should have been delivered as the Gifford Lectures (1936) at St Andrews where Burnet had held for many years the chair in Greek, for it is the strongest reply Burnet’s thesis has yet received.
Jaeger (1947) 118 and 121. Jaeger (1947) 114– 115, 119, 124. Jaeger (1947) 96, 107– 108. Jaeger (1947) 143 – 144. Vlastos (1970b) 97.
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Even for Vlastos, who considered the Presocratic concept of nature as a self-regulative system “the intellectual foundation of science” and who thought these thinkers could rightly be called “pioneers of the scientific spirit”,⁸³ Burnet’s interpretation of the Presocratics “as mere naturalists, bracketing off their speculations from religious beliefs and feeling”, represented “a very anachronistic view” and a distortion of their thought. There is indeed a religious undercurrent in many things said by the Presocratics, in their use of the term ‘god’ and hymnodic style, as well as in the sense of revelation expressed by Parmenides and Empedocles, as Jaeger rightly emphasized. But Vlastos also deems anachronistic the application of the term ‘theology’ to the Presocratics, since Jaeger himself considers Plato the creator of the idea of theology and notes that Aristotle distinguished the ancient theologians from the philosophers.⁸⁴ But above all, Vlastos maintains that if we are looking for a philosophical theology in the Presocratics, we would properly find it in the speculations of Pherecydes, the Orphics and the Pythagoreans, to which Jaeger devoted only limited space. Among this group, suggests Vlastos, we would encounter a system of thought which “must have served to justify the beliefs and practices of a religious thought. And this is precisely what we do not get in any system of natural inquiry from Anaximander to Democritus.”⁸⁵ What Jaeger neglected was the historical relations between the beliefs of the Presocratics and those of contemporary religion and the connection of these beliefs to forms of cult. According to Vlastos the unique achievement of the Presocratics as religious thinkers was instead that they alone in the Mediterranean world “dared transpose the name and function of divinity into a realm conceived as a rigorous natural order and, therefore, completely purged of miracle and magic”, while “miracle remained a permanent feature of Hebraic as of Greek and later, Christian piety.”⁸⁶ Here a gulf separated Vlastos from Jaeger, who featured the continuity between Greek theology and Christianity as both the presupposition and the aim of his inquiry into Presocratic theology. As Jaeger says explicitly: “The philosophical theology of the early Greek
Vlastos (1970b) 93 and 96 – 97, also against Cornford’s interpretation. Vlastos (1970b) 98 – 99. For a more recent assessment of Presocratic theology, see Broadie (1999), especially 205 – 206, who assumes that there is theology only where we find an explicit reflection on god; therefore neither theogony nor the physical theories of Anaximander, Anaxagoras and Diogenes, “who all apply epithets signifying divinity to their fundamental principle”, are properly theology: “Anaximander’s Infinity is not said to be the first principle because it is divine, but to be divine because it is the primary physical principle.” Vlastos (1970b) 113 and 114– 115, where he says that “there is no good conclusive evidence that either Anaximander or Anaxagoras called their cosmogonic principle ‘god’ or even ‘divine’.” Vlastos (1970b), 119.
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thinkers, as St. Augustine in his De civitate Dei clearly recognised and emphatically enounced, marks the starting point of this gradually developing universal theology”, which through the concepts construed in Greek philosophy reached its peak in the transformation of Christian faith into the form of dogma.⁸⁷
Conclusion Jaeger’s interpretation of the Presocratics was undoubtedly marked by his political and religious commitments, which were formed in the German cultural context of the beginnings of XX Century. But, in spite of both these commitments and the weaknesses already remarked by Vlastos, it is possible to give a more balanced assessment of some still positive aspects of his study of the Presocratics. It is to Jaeger’s credit that he emphasized the need to reconstruct the thought of the Presocratics in a way not insulated from the rest of the contemporary Greek culture. This allowed him to shed light on connections between philosophical language and concepts and the wider background of the political and juridical vocabulary. Above all, he formulated questions concerning the connection between the early Greek thinkers and the religious sphere, even if he did not focus on the multiplicity and variety of Greek religious experiences, but limited his attention, perhaps unilaterally and anachronistically, to the theological dimension. However, this particular line of investigation remains replete with still open questions, as it has recently surfaced for example through the publication of the important Derveni Papyrus (dated perhaps to IV Century BC), where Orphic doctrines are allegorically interpreted by means of language and concepts going back to Presocratic thinkers.
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Dorothea Frede
Jaegers Platon Vorbemerkungen zur Problemlage Jeder, der sich näher mit Jaegers philosophiehistorischem Hauptwerk beschäftigt, seiner Rekonstruktionen von Aristoteles’ Entwicklung,¹ sollte sich eigentlich zugleich vor die Frage gestellt sehen: Wer ist denn eigentlich Jaegers Platon? Denn Platon ist nicht nur der Ausgangspunkt in dem, trotz aller Kritik, bis heute noch immer einflussreichen Werk. Vielmehr bleibt Platon in gewisser Weise durchweg Jaegers Orientierungspunkt, da er davon ausgeht, dass Aristoteles nicht nur anfangs Platoniker und in seiner Entwicklung wesentlich durch die Auseinandersetzung mit Platon geprägt war, sondern dass er in gewisser Weise immer auf dem Boden der platonischen Philosophie geblieben ist. Platon ist daher in Jaegers Rekonstruktion von Aristoteles’ Entwicklung allgegenwärtig. Aus diesem Grund ist es wichtig zu erfahren, worin Jaeger das Wesentliche an Platons Philosophie gesehen hat. Dies zu ermitteln ist jedoch keine einfache Angelegenheit. Denn Jaeger hat keine Monographie über Platons Philosophie als solche verfasst. Zwar ist Platon die Zentralfigur in seinem späteren enzyklopädischen Hauptwerk Paideia. Die Perspektive, aus der Platon dort behandelt wird, ist aber die der Erziehung bzw. der politischen Bildung. Und Jaeger liefert dazu auch keine philosophische Diskussion der Erziehungsvorstellungen Platons und ihrer metaphysischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, sondern vielmehr eine Art Geistesgeschichte des Erziehungsgedankens, die in der archaischen Zeit ansetzt und in Platon ihren Kulminations- und Endpunkt findet. Dieser Thematik gilt auch das Gros von Jaegers Aufsätzen und Vorträgen über Platon, die zugleich dem Anliegen dienen, die Relevanz der platonischen Konzeption von politischer Bildung auch für die Gegenwart deutlich zu machen. Dass dabei Platons Philosophie und ihre Grundzüge nur schattenhaft deutlich werden, erklärt, warum die Nachwelt bis heute zwar immer wieder mit Jaegers Aristoteles befasst ist, aber kaum jemand auf Jaegers Platon rekurriert, zumal Jaegers konservativ geprägtes, seiner eigenen Zeit verhaftetes Bildungsideal seine Anziehungskraft verloren hat. So dürften es vielen ähnlich gehen wie Charles Kahn, der einen Vortrag über Jaegers Platonbild mit folgenden Worten eröffnet hat: „I begin my report with a small confession.When I was invited
Jaeger (1923); Dieser ‚Grundlegung‘ sind Jaegers (1912) Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles vorangegangen. DOI 10.1515/9783110548983-006
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to speak on Jaeger’s portrayal of Plato, I was delighted but momentarily perplexed. I could not recall a single word that Jaeger had written about Plato.“² Angesichts dieser Verlegenheit unterzieht Kahn insbesondere das dreibändige Werk Paideia einer kritischen Würdigung, die dessen Gesamtanliegen ebenso gilt wie dem sich in ihm manifestierenden Verständnis von Politik.³ Den Grund für das mangelnde Interesse an Jaegers Paideia unter Philosophen fasst Kahn dann wie folgt zusammen: In short, Jaeger shows no interest in the fundamental issues of ethics and politics as they are debated by philosophers […]. We must read him as a historian, not as a philosopher. More precisely, Jaeger is an historian of culture whose tools are those of philology – a ‘griechische Geistesgeschichte’.
Kahn unternimmt zwar auch eine positive Würdigung des Anliegens von Paideia, sieht aber eine grundsätzliche Schwäche in Jaegers mangelndem Interesse an politischer und ethischer Theorie, sowohl was Platon wie auch was Jaegers eigene Zeit angeht. Auch konstatiert Kahn eine gewisse Blindheit für politische Realitäten, die für falsche Bewertungen oder ein Übersehen wichtiger Faktoren auf Jaegers Seite verantwortlich sind. So ist z. B. für Kahn der Platon der Politeia kein der Wirklichkeit gegenüber so resignierter Utopist, wie Jaeger meint. Und wenn Jaeger die Nomoi in eine Linie mit der Politeia stellt, so übersieht er etwa die Bedeutung der Tatsache, dass Platon Menschen dort grundsätzlich nicht mehr mit absoluter Macht betrauen will, sondern anstelle von Philosophenkönigen eine Gesetzesherrschaft vorsieht, eine Nomokratie, in der die Menschen nur als Diener und Hüter der Gesetze fungieren. Eine solche, auch im politischen Sinn kritische Würdigung ist hier nicht beabsichtigt.Vielmehr werden zunächst Hinweise aufgenommen, die sich in Paideia darüber finden, was Jaeger als charakteristisch für diejenigen Aspekte in Platons Philosophie ansieht, für die insbesondere die Politeia zentral ist. Anschließend werden Jaegers Ausführungen in der Grundlegung erörtert; denn dabei geht Jaeger von einer Bestandaufnahme von Platons Philosophie zur Zeit von Aristoteles’ Eintritt in die Akademie im Jahr 367 aus, hat also in erster Linie den späteren Platon zum Gegenstand. So lässt sich wie aus Mosaiksteinen ein ungefähres Bild davon zusammensetzen, worin Jaeger das Charakteristische an Platons Philosophie sieht.
Kahn (1992) 72. Kahn (1992) ibid.
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1 Die Darstellung von Platons Entwicklung in Paideia Daran, dass es für Jaeger eine Entwicklung in Platons Philosophie gegeben hat, kann eigentlich aufgrund der Tatsache kein Zweifel bestehen, dass er es sich in der Grundlegung zur Aufgabe gemacht hat, angesichts der überbordenden Literatur über Platons Werdegang im 19. Jh. endlich die Frage der Entwicklung des Aristoteles aufzunehmen, dessen Philosophie man damals immer noch wie einen Monolith behandelte:⁴ Während die Entwicklungsgeschichte Platons die Menschen allmählich blind zu machen droht für den konstruktiven Trieb, der eine der Grundkräfte seines Denkens ausmacht […], hat man sich umgekehrt daran gewöhnt, die Frage nach der Chronologie und Entwicklung der aristotelischen Lehre und ihrer Quellen fast für ein Zeichen philosophischer Verständnislosigkeit zu halten. Denn die Monade, die zeitlos den Keim zu allem Einzelnen in sich trägt, sei eben das System.
In diesem monadischen Systemdenken Aristoteles’ sieht Jaeger wohl nicht zu Unrecht das Erbe der Scholastik, das er selbst durch ein dynamisches Bild ersetzen will, im dem neben Kontinuitäten auch Brüche mit wesentlichen Elementen von Platons Philosophie zu sehen sind. So sagt er über Aristoteles:⁵ Zwischen der ersten, dogmatisch-platonischen Periode seines geistigen Werdegangs und der letzten, vollendeten Form seines Denkens in den Meisterjahren steigt eine Übergangszeit auf und nimmt in zahlreichen Einzelheiten festumrissene Gestalt an, eine Zeit der Loslösung, der Kritik und des Umbaus, die man bisher nicht geahnt hat und die von der endgültigen Form der aristotelischen Philosophie noch deutlich verschieden ist, wenn sie deren Entelechie auch bereits in allen wesentlichen Zügen enthüllt.
Nun versteht Jaeger unter ‚Entwicklung‘ aber eine Art von ‚organischem zu-sichselbst-Kommen‘. So ist zunächst die Frage aufzunehmen, ob er auch für Platon selbst von einer Entwicklung ausgeht, die zugleich ‚Kritik und Umbau‘ enthält. Denn grundsätzlich geht Jaeger von einer Entwicklung der platonischen Philosophie aus dem Geist des Sokrates aus und zeichnet diese in Paideia 2 und 3 auch nach, von den Frühschriften bis zur Politeia und den Nomoi. Zudem stellt er klar,
Jaeger (1923) 2. Jaeger (1923) 126.
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dass er Platon ebenso wenig wie Aristoteles die Errichtung eines festen Lehrgebäudes, eines ‚Systems‘ unterstellt, sondern nur die Absicht,⁶ die wahre Gemeinschaft [zu] verwirklichen als den Rahmen für die Verwirklichung der höchsten menschlichen Tugend. Sein reformatorisches Werk ist beseelt von dem erzieherischen Geist der Sokratik, der nicht nur das Wesen der Dinge schauen, sondern das Gute schaffen will.
Aus diesem Grund geht Jaeger in Paideia zwar auf die Genese von Platons Philosophie aus ihren sokratischen Anfängen ein, beschränkt sich aber weitgehend auf die Darstellung von Platons pädagogischem Anliegen, das seine vollste Manifestation in der Politeia und in den Nomoi findet.Wie seine Diskussion der Nomoi zeigt, sieht Jaeger keine grundsätzlichen Veränderungen in Platons Vorstellung vom besten Staat, sondern nur eine Verschiebung der Perspektive: Das Gute wird durch Gott und das Eine ersetzt (Jaeger (1947) 261). Platons frühere Werke werden dagegen nur in Auswahl und unter dem Aspekt behandelt, inwiefern sie eine Vorbereitung und Vorwegnahme bestimmter Elemente seiner politischen Philosophie enthalten. Trotz dieser Kontinuität meint Jaeger, dass „der Wandel der Dialogform in Sprache, Stil und Komposition vom ‚Laches‘ und ‚Euthyphron‘ bis zu den ‚Gesetzen‘ ein ungeheurer [ist]“ und folgert: „So müssen wir anerkennen, daß nicht nur der Dichter und seine Form, sondern auch der Denker und sein Gedanke sich gewandelt haben“ (Jaeger (1944) 149). Jaeger verwirft aber sowohl die Vorstellung, die frühen Dialoge seien reine intellektuelle Spielereien, wie auch die, sie seien Ausdruck einer rein sokratischen Periode.Vielmehr sieht er sie als Vorstufen zu dem Bau, den die Politeia darstellt:⁷ Die Begründung der wahren Politeia auf dieselben Tugenden nimmt hier ihren Anfang, und das Zentralproblem des ‚Staats‘, das sich später als der Höhepunkt des platonischen Erziehungswerks enthüllen wird, die Erkenntnis der Idee des Guten, wirft seine Strahlen bis in die ersten platonischen Schriften voraus.
Die Schriftkritik im Phaidros wertet Jaeger – in klarer Antizipation der Tübinger Platon-Interpretation − als ein Zeichen dafür, dass die Lehre Platons nur in Andeutungen in den Dialogen enthalten ist. Grundsätzlich ist Platons Philosophie eine ‚philosophische Theologie‘ (Jaeger (1947) 194: ‚theozentrisch‘), die in der Schau ‚des Absoluten‘ kulminiert und nicht aussprechbar ist (ebd. 208 – arrheton,
Jaeger (1944) 139. Jaeger (1944) 152.
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mystagogia). Auch unterstellt er Platon die Überzeugung, dass der Idealstaat nur im Jenseits verwirklicht werden kann. Eine eingehendere Interpretation von Platons Philosophie, was ihren philosophischen Gehalt und dessen Voraussetzungen angeht, insbesondere die Ideenlehre, will Jaeger nicht liefern, sondern er beschränkt sich diesbezüglich auf sehr allgemeine Kennzeichnungen. Diese lassen erkennen, dass er drei Phasen in Platons Philosophie unterscheidet. In der frühen, sokratischen Phase, verwendet Platon die Technik sokratischen Fragens, mit aporetischem Ausgang, um das Bewusstsein für die Problematik zu wecken, die mit dem Begriff der Tugend und ihren verschiedenen Arten verbunden ist. Die mittlere Phase besteht in dem Entwurf der großen Staatsutopie, deren Absicht Jaeger als ‚Erziehungsphilosophie‘ begreift und bei der es Platon in erster Linie um die Bildung der Seele der Philosophenkönige zu tun ist (Jaeger (1944) 338 – 360). Die Problematik der Idee des Guten, ihres Status’ und ihrer Erkennbarkeit wird dabei nur indirekt angesprochen. Über eine Nachzeichnung der Bedingung der Vollkommenheit der gerechten Seele als Manifestation des Guten geht Jaeger nicht hinaus: „Der vollkommene Mensch kann nur in einen vollkommenen Staat hineingeformt werden und umgekehrt: die Bildung eines solchen Staates ist ein Problem der Formung des Menschen.“⁸ Die Ideenlehre betreffend schwankt Jaeger in Paideia zwischen einer subjektiven, idealistischen, und einer objektiven, realistischen Deutung. So spricht er den Ideen zwar objektiven Gehalt zu, zugleich aber auch eine Abhängigkeit vom erkennenden Subjekt, „das den Gegenstand immer als Ganzes in seiner ‚Idea‘, d. h. als geschaute Idee erfaßt.“ (Jaeger (1934) 11) Jaeger spricht von einer „Ontologie, die in der Idee des Guten gipfelt“ und nennt sie die „Metaphysik der Paideia“, erklärt aber zugleich auch, dass dieses „Sein nicht ohne Beziehung zum Menschen und seinem Wollen“ ist. Umgekehrt stellt diese Idee auch das Ziel des Menschen dar:⁹ Die Idee des Guten, die die platonische Ideenwelt mit Sinn und Wert erfüllt, erscheint als das natürliche Ziel alles Strebens; ihre Erkenntnis fordert vom Menschen und seinem Tun eine entsprechende Haltung. Aber dieses Ziel liegt jenseits der unmittelbar gegebenen Erscheinungswelt und ist wie durch mehrfache Verhüllungen vor dem Auge der sinnlichen Menschheit verborgen.
Zugleich behandelt Jaeger die Erkenntnis der Ideen als ‚schöpferischen Akt‘, als eine „innigste Wesensbegründung mit dem Gegenstand“ und postuliert eine „Wahlverwandtschaft zwischen dem empfangenden Ich und der gegenständli-
Jaeger (1944) 339. Jaeger (1947) 11.
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chen Macht, die sich ihm vermählt, eine Art geistigen Zeugungsvorgangs“. Ferner spricht er von einem ‚tieferem Verstehen und genialer Neudeutung bei Platon‘. Die philosophische Bildung ist daher ‚ein höherer Grad des Seins‘ – eine ‚Verähnlichung mit Gott‘ (Jaeger (1947) 20, unter Berufung auf die Bestimmung des Philosophen im Theaitetos). Die Ideenlehre in ihrer klassischen Form, wie sie vom Menon an zutage tritt, wird nur in groben Zügen behandelt (230 – 237). So tadelt Jaeger die ‚modernen Logiker‘¹⁰ dafür, dass sie die Ideen als Allgemeinbegriffe ansehen und das „Mehr, welches in der Idee darüber hinaus noch steckt, als eine bloß störende und problematische Zutat empfinden.“ Dieses ‚Mehr‘ besteht anscheinend darin, dass für Platon „das logisch Allgemeine und das ontologisch Reale absolut eins sind“ (233). Den Fehler, den Aristoteles Platon ankreiden wird, dem Allgemeinen eine unabhängige Existenz zuzuschreiben, hat Platon nach Jaeger nicht begangen, weil Platon beides nicht getrennt, sondern das „Vordringen von den Erscheinungen zum Wesen“ als eine Synopsis, als „Akt geistiger Anschauung“ verstanden hat, die „im Vielen das Eine erfasst“ (234). Zugleich präsentiert Jaeger diese Synopsis als das Ergebnis der dialektischen Untersuchung, weil diese Einsicht der Nachprüfung durch andere nicht entzogen sein darf, und mutmaßt, dass bereits der Menon von „allgemeinen logischen Regeln“ ausgegangen ist. Die Existenz von begrifflich Fassbarem ist dadurch garantiert, dass „der Grieche sich keine Anschauung ohne realen Gegenstand zu denken vermag“ und so „deutet Platon ihr potentiales Vorhandensein in der Seele als ein Schaunis, das ihr in einem früheren Leben zuteil geworden ist“ (237). Gelegentlich vermerkt Jaeger zwar, dass Platon, anders als Aristoteles, die „abstrakte Natur des Allgemeinbegriffs nicht erkannt“ habe (159). Ob Jaeger darin aber einen Fehler sieht, sagt er nicht. Vielmehr scheint er in der Idee eine Sache sui generis zu sehen, die nur durch Nachempfindung des originär Griechischen Denkens zu erfassen ist. Die Idee ist für ihn ‚geschaute Gestalt‘ (Jaeger (1934) 11): „die platonische Idee, die ein völlig einzigartiges, spezifisch griechisches Denkgebilde ist, [gibt] uns für die Geistesbeschaffenheit der Griechen auch auf den anderen Gebieten einen Schlüssel.“ Die Idee sei zugleich ‚bleibende Ordnung‘ und ‚Wesensgesetz des Menschen‘ (13). Dies erklärt zugleich die Art des ‚Humanismus‘, den Jaeger Platon unterstellt: der Mensch ist als ‚allgemeingültiges und verpflichtendes Bild der Gattung‘ zu verstehen und in diesem Sinn ein politisches Wesen.
Wie am Anfang des 20. Jh. noch vielfach üblich, besteht für Jaeger ‚Logik‘ vor allem in der Untersuchung begrifflicher Verhältnisse. Seine Kritik gilt daher nicht der formalen Logik, sondern der idealistischen Platon-Deutung der ‚Marburger Schule‘, vgl. Jaeger (1944) 237 Anm. 20.
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Grundsätzlich ist Jaeger also darauf bedacht, für Platons Ideenlehre eine Unterscheidung und Trennung zwischen geistig Erfasstem und seinem fundamentum in re zu verneinen. Ob dies in Platons Sinn ist, muss dahingestellt bleiben; es sei dazu jedoch auf die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten von Gedanken und den dazugehörigen Objekten etwa im Liniengleichnis verwiesen (Resp. VI 509d−511e). Jaegers ‚Einheitsvorstellungen‘ helfen ihm darüber aber ebenso hinweg wie etwa über die Frage, für welche Arten von Dingen Platon überhaupt Ideen annimmt.¹¹ Wie diese Zusammenfassung zeigt, liegt ein grundsätzliches Problem bei der Rekonstruktion von Jaegers Platon in seiner Neigung zu Generalisierungen und zu einem eklektischen Umgang mit den Texten. Erklärungen, wie das Angedeutete genau zu verstehen ist, sind selten. So wird auch eher vorausgesetzt als erklärt, was es mit Platons Hinwendung zur Mathematik auf sich hat. Denn Jaeger verweist in Paideia zwar auf die Mathematisierung der Ideenlehre in Platons Spätphilosophie und charakterisiert sie als eine Art Geheimlehre. Auf ihre Verträglichkeit mit der ‚klassischen‘ Ideenlehre geht er aber nicht weiter ein und fragt sich auch nicht, ob Platon der Mathematisierung der Weltordnung mehr als einen metaphorischen Sinn geben wollte (Jaeger (1944) 161– 162). Aus diesem Grund ist nicht klar, inwieweit er in dieser ‚Mathematisierung‘ auch nur eine Evolution der platonischen Philosophie sieht, geschweige denn eine fundamentale Veränderung.
2 Die Darstellung von Platons Entwicklung in Jaegers ‚Grundlegung‘ Die Grundlegung (1923) liegt zwar der Paideia zeitlich weit voraus, da sie aber die Rekonstruktion von Aristoteles’ Entwicklung im Ausgang von Platon zum Ziel hat, steht hier nicht der Erziehungsgedanke im Mittelpunkt, sondern die Situation der Akademie zum Zeitpunkt des Eintritts des jungen Aristoteles. In seiner Beschreibung dieser Situation geht Jaeger daher auch kurz auf Besonderheiten von Platons späterer und später Philosophie ein:¹²
Eine Kritik an der Uneindeutigkeit und Unklarheit in Jaegers Darstellung des platonischen Ideenbegriffs in Paideia und ihrem pathetischen Tonfall liefert Follak (2005) 138−142: „Der Begriff der Idee wird bei Jaeger in so vielen Kontexten verwendet, dass er im Grunde semantisch entwertet ist – etwas Irrationales und Religiöses, an das man glauben muss, um an ihm teilzuhaben.“ Auch der Gegenstandsbereich der Ideen bleibt unklar: „ […] es findet sich eine Idee des Staates, aber auch die Idee des Menschen, die Idee als ‚Kosmos der höchsten menschlichen Werte‘.“ Jaeger (1923) 12.
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Die Akademie, in die Aristoteles 367 eintrat, war nicht mehr die der Zeit des Symposion, um dessen Tafel Platon einst im Überschwang des Enthusiasmus die Häupter der Künste und Wissenschaften und die Vertreter der hellenischen Jugend versammelt denken durfte, um aus dem Munde der Seherin das große Mysterium von der Geburt des Geistes aus dem Eros zu vernehmen. Das Wesen der Philosophie Platons deckte sich schon seit langem nicht mehr mit dem Symbol, das sie sich in den Werken der Frühzeit geschaffen hatte, der zentralen Philosophengestalt des Sokrates. Ihr Inhalt und ihre Methode überschritten weit den sokratischen Problemkreis.Was Sokrates dem Platon und der frühplatonischen Schule gewesen war, erfuhr Aristoteles nur noch aus der Lektüre, nicht aus der lebendigen Gegenwart des sokratischen Geistes in der Akademie der 60er Jahre. Phaidon und Gorgias, Politeia und Symposion ragten als die nun schon klassischen Zeugen einer abgeschlossenen Lebensphase des Meisters hoch über der geschäftigen Wirklichkeit des Schulbetriebs wie stille Götter. […] Aber die klassischen Lehren Platons von den Ideen, von Einheit und Vielheit, von Lust und Unlust, vom Staat, von der Seele und der Tugend, waren für die Diskussionen der Schüler keineswegs unantastbare Heiligtümer, sondern wurden unaufhörlich in scharfer Unterscheidung der Begriffe und peinlicher Untersuchung ihrer logischen Tragfähigkeit geprüft, verteidigt und umgemodelt. Das Entscheidende war, dass auch die Schüler an dieser gemeinsamen Denkarbeit Anteil hatten. Die Gestalten und Mythen der Dialoge waren und blieben Platons eigenste, unwiederholbare Schöpfung; dagegen die Begriffsdiskussion ward, neben dem religiösen Zug der Akademie, das eigentlich schulbildende Prinzip, denn nur diese beiden Elemente in Platons Geist waren übertragbar. Je mehr Schüler er anzog, desto größer wurde ihr Übergewicht über die künstlerische Seite seiner Natur. Die Unterdrückung des Dichters durch den Dialektiker in Platon war zwar an sich in der Mischung dieser entgegengesetzten Kräfte begründet, aber vor allem die Schule zog ihn unwiderstehlich in diese Richtung.
Auf die ‚sokratische Frage‘ geht Jaeger in der Grundlegung nur hin und wieder ein. Er sieht es als Tatsache an, dass der junge Platon ein ‚Sokratiker‘ gewesen ist, so wie der junge Aristoteles ein ‚Platoniker‘ war, und dass beide sich nur schwer von ihrem Lehrer gelöst haben. Obwohl Jaeger die Frage der Entwicklung Platons in dieser Hinsicht nicht eigens thematisiert, lassen seine Äußerungen schließen, dass er drei Phasen in Platons Philosophieren unterschieden hat. Eine sokratische, eine mittlere, in der Platon schon seine eigene Lehre entwickelt hat, diese aber noch von Sokrates vortragen lässt, und eine spätere, in der Sokrates allmählich durch andere Sprecher ersetzt wird. Von der sokratischen Phase meint Jaeger, sie sei zurzeit von Aristoteles’ Eintritt in die Schule Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen gewesen:¹³ In der Akademie scheint damals das Problem des platonischen und des geschichtlichen Sokrates zuerst aufgeworfen worden zu sein, weil man sich des Abstandes vom sokratischen Typus mehr und mehr bewusst wurde. Natürlich hat man dem geschichtlichen Sokrates bei diesem ersten Versuch, seinen Anteil von dem Platons zu unterscheiden, zunächst fast alles
Jaeger (1923) 98.
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abgesprochen, was ihm in Platons Dialogen an philosophischen Erkenntnissen beigelegt wird. Später folgte dann eine Gegenwirkung gegen diesen Radikalismus.
Auf eine Merkwürdigkeit, die in derartigen ‚innerakademischen‘ Diskussionen von Platons Philosophie liegt, weist Jaeger nicht hin, die allerdings auch von vielen anderen Interpreten zumeist mit Schweigen übergangen wird. Diese Merkwürdigkeit besteht darin, dass die Mitglieder der Akademie Platon selbst anscheinend in strittigen Fragen nicht konsultiert haben, oder dass er, falls man es versucht hat, dazu keine Erklärungen abgeben wollte. Dies gilt nicht nur für die von Jaeger angesprochenen Diskrepanzen zwischen Sokratischem und Platonischem, sondern auch für andere Fragen zu Platons Philosophie, über die keine Einigkeit unter seinen Schülern bestand. Dazu sei nur auf zwei Beispiele verwiesen: Uneinigkeit bestand offensichtlich über die Frage, ob die Schöpfungsgeschichte des Timaios in einem wörtlichen oder einem allegorischen Sinn gemeint ist.¹⁴ Zumindest Unsicherheit bestand auch in der Frage, wie Platons ‚Selbstkritik‘ im Parmenides zu deuten ist und welche Lösung er für diese Schwierigkeit vorsieht, wie im Text doch gefordert wird (Parm. 129a – 135c).¹⁵ Da Platon weiterhin an seiner Schule gewirkt hat und sie eine kleine Institution war, ist diese Unsicherheit über zentrale Fragen jedenfalls bemerkenswert, so wie es auch bemerkenswert ist, dass viele von Platons Schüler zwar unter den Zuhörern seiner berühmten Vorlesung ‚Über das Gute‘ waren und sich angeblich Notizen gemacht haben, von ihm selbst aber anscheinend keine Auskunft über Sinn des Gesagten gefordert und erhalten haben.¹⁶ Vielleicht gab es in der Akademie die Übereinkunft, dass man Platons Dialoge und Lehre zwar studierte und diskutierte, den Meister aber diesbezüglich nicht mit Fragen behelligte. Eine wichtige Abweichung Platons von Sokrates, auf die Jaeger eingeht, enthält Aristoteles’ Bericht in Metaph. A 6, 987b1– 4. Danach hat Sokrates keine Trennung der Ideen von den Einzeldingen vollzogen, sich aber um Definitionen bemüht und die induktive Methode eingeführt.¹⁷ Platons eigene Kreation war dagegen das, was Jaeger als die ‚klassische‘ Ideenlehre bezeichnet, wie er sie im Phaidon und der Politeia vertritt. Auf diese Theorie geht Jaeger aber auch in der
Während Xenokrates, Platons Schüler von früh an und sein zweiter Nachfolger als Schulhaupt, für eine allegorische Deutung plädiert zu haben scheint, geht Aristoteles von einer wörtlichen Deutung aus und kritisiert sie mit Nachdruck (Cael. I 10, 280a24– 33). So erwähnt Aristoteles verschiedentlich das Problem vom ‚Dritten Menschen‘ (Metaph. A 9, 990b17; Z 13, 1038b35 – 1039a2; SE 22, 178b36 – 39), jedoch ohne einen Verweis darauf, dass Platon dieses Problem selbst im Parmenides eingeführt und anscheinend für lösbar gehalten hat. Vgl. Aristoxenos Harmonica 39.9; Simplicius In Physicam 543,25 – 545,11. Zu diesem Bericht vgl. Steel (2012).
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Grundlegung nicht näher ein, sondern deutet nur schemenhaft an, was er als die Merkmale dieser Lehre angesehen hat: die Unabhängigkeit der Ideen von der Sinnenwelt, eine gewisse Körperfeindlichkeit, sowie die Abhängigkeit der Ideen von der obersten Idee des Guten, die zugleich ‚Sein‘ und ‚Wert‘ ist. Insbesondere der Frage, ob diese ‚klassische‘ Ideenlehre eine einheitliche Theorie war, welche Dialoge sie repräsentieren und welche nicht, geht Jaeger nicht weiter nach. Dass er das nicht tut, beruht wohl auch darauf, dass er sich auf die Phase in Platons Philosophieren zur Zeit von Aristoteles’ Eintritt in die Akademie konzentriert, und damit auf eine Zeit, in der man sich Jaeger zufolge nicht mehr an Sokrates, sondern vielmehr an Pythagoras orientiert hat: „Nicht Sokrates heißt das Vorbild dieses neuen Philosophentums, sondern Pythagoras, Parmenides werden im Protreptikos als die Archegeten genannt (Jaeger (1923) 98).“ Nun behauptet Jaeger nicht, dass die Ideenlehre damit aufgegeben wäre; er sieht sie vielmehr einer bestimmten Verwissenschaftlichung unterzogen: „Sie führt zur stärkeren Betonung des Methodischen und zur Zurückdrängung,wenn auch nicht zur Leugnung des Seinscharakters der Idee.“ (Jaeger (1923) 98) Nun geht es, wie gesagt, Jaeger nicht so sehr um Platon selbst, sondern um die Bedingungen, die der junge Aristoteles vorfand, als er im Jahr 368/7 in Athen sein Studium aufnahm.¹⁸ Dass Aristoteles zunächst ein reiner Platoniker war, gilt für Jaeger als ausgemacht. Denn nur so lasse sich erklären, dass Aristoteles zwanzig Jahre in Platons Schule geblieben ist und diese erst nach dessen Tod verlassen hat:¹⁹ Dem Erlebnis der Welt Platons und dem an ihr vollzogenen Durchbruch zu sich selbst verdankt er die wunderbar gesteigerte Bogenspannung des Intellektes, deren elastische Schnellkraft sein Denken trotz der spezifischen Verschiedenheit zwischen seiner begrenzten und Platons unbegrenzter Genialität zu einer fortgeschritteneren Stufe macht, von der herabzusteigen von nun an so viel heißt wie: das Rad der Ananke rückwärts drehen.
Was steckt nun hinter diesem Urteil, Aristoteles verfüge im Unterschied zu Platons unbegrenzter Genialität nur über eine begrenzte Genialität? Jaeger stellt gleich zu Anfang klar, dass Aristoteles nicht etwa blind und taub für das Wesentliche an Platon war: Absolut verständnislos ist der alte Streit, ob Aristoteles den Platon verstanden habe. Er ringt mit ihm, scheinbar auf gleichem Boden stehend, um die bessere Erkenntnis, aber er überwindet ihn nicht, indem er ihn widerlegt.
Auf die zur Zeit der Abfassung der Grundlegung gängige Sekundärliteratur zu Platon finden sich nur ganz wenige Verweise. Jaeger scheint vielmehr die Platon-Kontroversen seiner Zeit grundsätzlich gemieden zu haben. Jaeger (1923) 9.
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Auch behauptet Jaeger nicht, Aristoteles habe keinen Sinn für das gehabt, „was in Platon Gestaltung, Schaunis, Mythos“ war. Es war Aristoteles nur nicht gegeben, es in dieser Hinsicht Platon gleichzutun. Besonders vermisst Jaeger bei ihm ‚das Anschauliche‘:²⁰ Es war seiner Geistesart nicht verliehen, den weltanschaulichen Gehalt seiner Philosophie zu eindrucksvollen Symbolen zu verdichten wie Platon in seinen Mythen und Gleichnissen […]. Nur an einzelnen Stellen werden wir fast betroffen inne, dass hinter dem subtilen Netzwerk der Begriffe ein Anschauungsganzes in lebendiger Gegenwärtigkeit steht. […] So kommt es, dass beide sich uns nur in der indirekten Form des Begriffs und der Methode mitteilen, in der er um sie ringt, und dass die religiöse und weltanschauliche Kraft seiner Philosophie nur dort in der Geschichte lebendig geworden ist, wo man nicht nur ästhetische Intuitionen suchte, sondern selbst etwas von diesem Ringen wusste.
Jaeger hat also den Anspruch, dass Philosophie religiös und ‚weltanschaulich‘ sein soll. Letzterem Begriff gibt er freilich einen eigenen Sinn: Es geht ihm nicht um persönliche Weltbilder, sondern um eine Art intellektueller Anschauung, um ein philosophisches Welterfassen im Sinn einer „in beherrschenden Wertideen sich konzentrierende Innerlichkeit, die leidenschaftlich am Leben teilnimmt“ (Jaeger (1923) 434). Daher schätzt Jaeger auch besonders Platons visionäres Erfassen des Guten als eines objektiven Prinzips, als übersinnlicher Quelle aller Dinge: „Die geistige Spannweite, die zugleich die Schau der übersinnlichen Wesenheiten im reinen nous […] umfasst“ (Jaeger (1923) 433). Dennoch oder vielleicht auch deshalb meint Jaeger, Aristoteles sei für lange Jahre ganz „im Banne Platons“ gestanden, bis ihn die Arbeit an den Problemen in Platons Philosophie über diese hinausgeführt habe:²¹ Nach anfänglichen Versuchen naiver Nachbildung und Fortsetzung des platonischen Typus folgt eine Periode,wo er zwischen dem bleibenden Wesen des platonischen Erbes und dessen zeitbedingter oder individuell unwiederholbarer Formulierung unterscheiden gelernt hat, die er nun abzustreifen sucht, während er das Wesen treu zu bewahren bemüht ist. Die Philosophie Platons wird ihm jetzt aus einer fertigen Form zur hyle für etwas Neues, Höheres.
Aus dieser Kennzeichnung könnte man nun schließen, dass Jaeger, was Platon angeht, im Wesentlichen ‚Unitarier‘ war. Das trifft jedoch so nicht zu; vielmehr trägt Jaeger in seiner Rekonstruktion der Entwicklung des jungen Aristoteles vor allem der Entwicklung in Platons späteren Jahren Rechnung. Er unterstellt Platon zwar keine Revision seiner Lehre, wohl aber eine erhebliche Umorientierung und Neusetzung von Schwerpunkten. Denn das Vorherrschen von Begriffsdiskussio Jaeger (1923) 414. Jaeger (1923) 11.
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nen und die ‚Unterdrückung von Platons künstlerischer Seite‘ sind nicht gleichbedeutend damit, dass er den Kern seiner Lehre revidiert hat.Wohl aber hatte diese Umorientierung Einfluss auf den jungen Aristoteles. Denn wie Jaeger ausführt, war die Akademie schon vor Aristoteles’ Eintritt zu einer Art ‚wissenschaftlicher Anstalt‘ geworden. Und eben dies schlägt sich in Platons ‚Methodendialogen‘ nieder: „dem Theaitetos, Sophistes, Politikos, Parmenides und Philebos.“²² Es ist für Verständnis des Aristoteles und seines Verhältnisses zu Platon wesentlich, dass man nicht von der verschwommenen Gesamtvorstellung ‚Platon‘ ausgeht, sondern an ihrer Stelle den scharfumgrenzten Begriff der abstrakten, auf das Methodische gerichteten Periode Platons seit 369 (sc. das für die Verfassung des Theaitet nach Sachs²³ angenommene Datum) setzt. Damit war dem Aristoteles eine eindeutige Richtung gewiesen und seiner speziellen Veranlagung ein Feld fruchtbarer eigener Arbeit gewiesen.
3 Veränderungen in der Ideenlehre Der Theaitet stellt für Jaeger eine Art Wasserscheide in Platons Werk dar: denn dort wird seiner Meinung nach der sokratische Philosoph durch ein neues ‚Theoretikerideal‘ ersetzt, der sich nicht um die Menschen kümmert, sondern vielmehr um das, was ‚am Himmel und unter der Erde‘ ist. Dazu hebt Jaeger hervor, dass der Theaitetos unmissverständlich auf den Parmenides und dessen Ideenkritik verweist:²⁴ Der Dialog ist ein Beleg dafür, wie weit die Akademie schon vor Aristoteles in der Kritik der ontologischen und abstrakten Zwittereigenschaften der Ideen gekommen war; eine Scheidung beider konnte auf die Dauer nicht ausbleiben.
Dass der junge Aristoteles der Urheber der Ideenkritik unter den ‚Akademikern‘ gewesen ist, die sich im Parmenides manifestiert, scheidet Jaeger, wie mir scheint, zu Recht aus. Denn es ist undenkbar, dass der siebzehnjährige Aristoteles gleich nach seinem Schuleintritt gewissermaßen mit beiden Beinen in diese Diskussion gesprungen sein oder sich gar zu ihrem Sprecher und Vorreiter gemacht haben sollte. Falls Platon im zweiten Teil des Parmenides mit der Namensgebung ‚Aristoteles‘ und der Kennzeichnung dieses Jungen, der kaum mehr als ‚ja‘ und ‚nein‘ sagen darf, auf seinen aufmüpfigen Schüler Aristoteles abzielen wollte, dann muss dies das Resultat einer späteren Überarbeitung gewesen sein. Denn wie Dionysius von Halikarnass einmal anmerkt, soll Platon seine Dialoge wieder und wieder
Jaeger (1923) 13. Sachs (1914). Jaeger (1923) 14
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überarbeitet haben. „Er hat nie aufgehört, sie bis zu seinem achtzigsten Jahr zu kämmen, ihnen Locken zu drehen und sie auf alle Weise zusammenzuflechten (ktenizon kai bostrychizon kai panta tropon anaplekon).“ (Comp. 25,210) Jaeger ist jedenfalls der Auffassung, dass die innerakademische kritische Auseinandersetzung mit Platons Ideenlehre der Anlass für die Spätdialoge Platons gewesen ist und nicht etwa ihr Ergebnis. Allerdings äußert sich Jaeger, wie bereits oben bemerkt, nicht darüber, ob er Platon eine Lösung für das Problem des sog. ‚Dritten Mann Arguments‘ unterstellt, welches Platon im Parmenides vorstellt. Vielmehr beschränkt sich Jaeger auf die Bemerkung:²⁵ Platon selbst glaubte zwar der Schwierigkeit Herr werden zu können, aber er hat die peinliche logische und ontologische Untersuchung der Ideen, wie sie hier und später geübt wird, prinzipiell als berechtigt anerkannt und dadurch selbst die folgende Entwicklung angebahnt. An den Phaidon oder den Staat und ihre Ideenlehre könnte man schwerlich die aristotelischen Spekulationen anknüpfen.
Auch mit dieser Behauptung scheint mir Jaeger völlig im Recht zu sein, denn die Kritik an Platons Ideenlehre in Metaphysik A und M und in den Fragmenten von Peri Ideon geht weit über die Art der Ideenlehre hinaus, wie sie in Platons mittleren Dialogen zu finden ist. Jaeger bestätigt auch die Anziehungskraft, welche die Akademie auf Gelehrte anderer Provenienz ausübte, wie etwa auf den Mathematiker Theaitetos und den Astronomen und Mathematiker Eudoxos, und räumt ein, dass damit eine Ausweitung der Forschertätigkeit an der Akademie verbunden war, die gerade für den jungen Aristoteles wichtig werden sollte. Auch meint er, dass diese Ausweitung einen Widerhall in Platons Timaios gefunden hat. Gleichwohl sieht Jaeger Platons eigenes Interesse nicht in der Entwicklung einer Universalwissenschaft: „Der Umfang, in dem der Timaios die Ergebnisse der neuen Medizin, Mathematik und Astronomie verwendet, darf nicht darüber täuschen, wie souverän Platon mit dem Stoff umgeht, aus dem er seine Weltschöpfungsgeschichte dichtet.“ (Jaeger (1923) 16– 17) Vielen Ansätzen zu einem differenzierteren Bild des späteren Platon zum Trotz geht Jaeger aber letztlich doch von einen einheitlichen, im Wesentlichen ‚vorkritischen‘ Platon aus und sieht in Aristoteles’ Abweichen davon eine Art von geistigen Abstiegs. So kommentiert er die ‚Intellektualisierung der platonischen Denkgebilde‘:²⁶ Das Beispiel (phronêsis) zeigt, wie sich bei solcher Betrachtungsweise die platonischen ‚Begriffe‘ sich alsbald in ihre analytischen Bestandteile auflösen und dann unwiederbring-
Jaeger (1923) 15 – 16. Jaeger (1923) 387.
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lich dahin sind. Was umfasste phronêsis bei Platon alles, die Idee als Gegenstand und das Schauen der Idee als Erkenntnisvorgang, die theoretische Wendung zur Erkenntnis des Guten und die praktische Erfüllung der Gesinnung und des Tuns mit diesem Schaunis, kurz den ganzen philosophos bios. Die Idee, die anschauliche intelligible Einheit des Mannigfaltigen, die gleichzeitig sittliches Ideal, ästhetische Form, logischer Begriff und wesenhaftes Sein in noch ungeschiedener Einheit war, zersetzt sich in katholou, ousia, morphê, ti ên einai, ohne dass einer dieser Begriffe ihr entfernt an Kapazität gleichkommt. […] Alle die Dinge, die Platons Geist berührt hat, haben etwas von plastischer Rundung, nichts aber widerstrebt so sehr wie sie dem analytischen Trieb des aristotelischen Denkens, welches sich zum platonischen verhält wie der anatomische Atlas zur plastischen Menschengestalt. Für den ästhetischen und religiösen Menschen mag das erschreckend sein. Jedenfalls ist es für Aristoteles charakteristisch.
Dies bestätigt einmal mehr, dass die ‚unbegrenzte Genialität‘ Platons für Jaeger in seiner Fähigkeit zur Zusammenschau, die begrenzte Genialität des Aristoteles in ihrer Zergliederung besteht. Und eben Letzteres kennzeichnet nach Jaeger die Geburtsstunde der Wissenschaft, trotz seines Eingeständnisses, dass die Akademie sich schon zur Zeit von Aristoteles’ Eintritt als Siebzehnjähriger zu einer Art wissenschaftlicher Anstalt gewandelt hatte und dass das Zersetzen und Zergliedern – anscheinend mit Billigung Platons, oder doch ohne seine explizite Missbilligung – bereits zuvor eingesetzt hatte.
4 Platon und die Wissenschaft In Jaegers Augen ist Platon also nicht zum Wissenschaftler mutiert.Vielmehr bleibt sein „ausschließliches Bemühen auf das Seiende gerichtet“ und steht damit in der „Tradition der ousia-Spekulation […], der er durch die Ideenlehre eine neue Wendung gab, ja die er eigentlich überhaupt erst wieder zum Leben erweckte.“ (Jaeger (1923) 17) Und daher meint Jaeger auch, Platon sei zunächst an die Vielheit, die empirische Welt, gar nicht herangekommen, da er nur die Einheit, das Übersinnliche, gesucht habe. Die Richtung seines Forschens gehe von der Erscheinungswelt fort ‚nach oben‘. Auf die dialektische Methode von Zusammenführung und Aufteilung sei Platon „rein durch die Notwendigkeiten der Begriffsspekulationen gekommen“ (18), also nicht durch ein Interesse an empirischen Fragen. Um die Systematisierung der Einzelwesen, unterhalb der Ebene des eidos, sei es ihm dagegen nicht gegangen, vielmehr habe er sich der Erscheinungswelt gegenüber abgrenzen wollen. Auch die durch den Komiker Epikrates karikierte Bemühung der Studenten an Platons Akademie um Eintei-
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lungen in der Pflanzenwelt, etwa durch die Bestimmung der Gattung des Kürbis’,²⁷ hält Jaeger folglich für keinen Ausdruck eines echten naturforscherlichen Interesses an den wahrgenommenen Objekten, sondern er sieht darin nur eine Bestätigung des Interesse an Begriffsverhältnissen (Jaeger (1923) 18). Dass diese von idealistischen Platon-Deutungen des 19. und frühen 20. Jh. beeinflusste Auffassung Platons Spätdialogen gerecht wird, kann man mit Fug bezweifeln. Und dies aus zwei Gründen. Zum einen sprechen philosophische Gründe dagegen, dass Platon nicht von einer Verankerung der begreifbaren Ordnung in der Erscheinungswelt ausging. Von ‚reinen Begriffsverhältnissen‘ könnte man allenfalls für die ‚megista gene‘ – die besonders wichtigen Begriffe im Sophistes und anderswo – sprechen, weil Sein, Identität, Differenz, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Bewegung und Ruhe in der Tat allgemeine Begriffe sind, die überall ihre Anwendung finden und deren Beziehungen man durch Reflexion findet. Aber auch von diesen sagt Platon, sie seien in der Wirklichkeit ‚aufgespalten‘ (Sph. 257c; 258e: katakekermatismena) – und er sieht auch den Philosophen gehalten, sie dort entsprechend zu erfassen, wenngleich er es im Sophistes als die größte Leistung des Philosophen bezeichnet, Licht in das Dunkel der allgemeinen Verhältnisse dieser Begriffe zueinander gebracht zu haben. Neben diesen grundsätzlichen philosophischen Gründen sprechen aber auch bestimmte Texte dagegen, dass Platon gemeint hat, man könne und solle sich rein im Bereich des Begrifflich-Allgemeinen aufhalten. Dagegen spricht z. B. die Beschreibung der Entdeckung der Buchstaben durch den ägyptischen Schreiber-Gott Theuth in Platons Philebos (18b–d). Nach Platons Darstellung hat Theuth nämlich die Buchstaben entdeckt, indem er den Leuten gewissermaßen gut Lutherisch ‚aufs Maul geschaut‘ hat. Es sind gerade die geordneten Einheiten in der unendlichen Vielheit, die Platon dort interessieren, denn es ist die gesprochene Sprache, die sich so klassifizieren und auf 24 Typen von Elementen, d. h. auf die Buchstaben, zurückführen lässt. Das Gleiche gilt für die Musik und die Systeme der verschiedenen Tonarten. Die dihäretische Methode ist folglich keine auf das rein Begriffliche beschränkte Übung.²⁸ Sie dient vielmehr der Erfassung der Wirklichkeit, und zwar auch und gerade der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit.²⁹ Eben darum geht es nämlich im Philebos: Es soll sich zeigen, ob die Lust oder das Wissen derjenige Seelenzustand ist, der den Menschen zu einem glücklichen Leben verhilft. Und dazu, so der Vorschlag des dort ‚wiedererstandenen‘ Sokrates, bedarf es eigentlich der ‚dialektischen‘ Behandlung von Lust und Wissen: man Athenaeus Deipnosophistae II, 59d–f. Auch die Beschreibung der dialektischen Methode von Zusammenfassung und Aufteilung im Phaidros spricht gegen die Annahme, es gehe um reine Begriffszergliederungen, 265d–266c. Zum dialektischen Verfahren im Philebos vgl. Frede (1997) 130 – 167.
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muss sehen, was ihre Einheit konstituiert und welche Art Vielheit sie enthalten, um entscheiden zu können, ob und welche von ihnen gut und schlecht sind. Schon allein dieses ‚praktische‘ Interesse zeigt, dass es Platon nicht um reine Begriffsverhältnisse geht, und die Tatsache, dass die Lust als Wiederherstellung des natürlichen harmonischen Gleichgewichts in Körper und Seele definiert wird, zeigt an, dass die Sinnenwelt hier nicht verlassen wird, sondern es vielmehr um die Struktur geht, auf der die Sinnendinge beruhen. Analoges gilt auch für den Timaios, der ja gerade die Sphären des Veränderlichen und des Unveränderlichen zusammen bringt und erklärt, dass die Menschen für dieses Verständnis von den Göttern mit den Augen ausgestattet worden sind (Tim. 47a–e).³⁰ Jaeger hält dagegen nicht nur an der Vorstellung von zwei Welten bei Platon fest, sondern meint zudem, dass sich daran auch in seinem Spätwerk letztlich nichts geändert hat: „So ernstlich Platon in seiner letzten Periode mit der Frage der doxa gerungen hat, er vermochte von der Idee aus das individuelle Sein der Erfahrung nicht zu erfassen. Die Physik war für ihn eine bloße Anhäufung von eikotes mythoi.“ (Jaeger (1923) 407) Dass Platon für die veränderliche Welt nur ‚wahre und verlässliche Meinungen‘ angenommen hat, ist für den Timaios aus nicht zu bestreiten (37b). Ob er den Menschen aber sicherere Erkenntnisse der unveränderlichen Grundprinzipien zusprechen will, ist ungewiss, wie seine Zurückhaltung in Hinblick auf die tatsächlich herrschenden mathematischen Verhältnisse zeigt. Dieser kritische Einwand ändert nun nichts an der Berechtigung von Jaegers Einschätzung, dass Platon an eine Universalwissenschaft nicht gedacht hat, d. h. er das dialektische Verfahren überall in derselben Weise anwenden und die Einzelwissenschaften in einer einzigen Wissenschaft aufgehen lassen wollte. Man muss vielmehr die jeweilige Materie kennen, um dieses Zergliederungs- und Zusammenführungsverfahren anwenden zu können – und selbst wenn es einen ‚überall erfahrenen Menschen‘ geben sollte, der dazu in der Lage wäre, dies auf allen Gebieten durchzuführen, so würde das dennoch die Unterschiede etwa zwischen Musik, Grammatik und Mathematik nicht aufheben. Wie Jaeger es ausdrückt:³¹ Eine vollständige Durchdringung aller Wissenschaften, die doch jede ein eigenes Formprinzip und eine Seele für sich haben, mit dem Universalgeist einer bestimmten Philosophie ist in Perioden, wo die Forschung lebendig sich entwickelte, niemals Wirklichkeit gewesen.
Zu Platons naturwissenschaftlichem Interesse and ihren empirischen Grundlagen vgl. Johansen (2004) und Schäfer (2005). Jaeger (1923) 19.
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Die Entstehung der aristotelischen Metaphysik führt Jaeger auf eine ‚innere Spannung zwischen intellektuellem Gewissen und religiösem Weltanschauungstrieb‘ zurück, in der er das Neue und Problematische in der philosophischen Persönlichkeit des Aristoteles sieht (403). Dieser Zwiespalt bei Aristoteles entspringe aus dem „Zusammenbruch der wissenschaftlichen Form, in der Platon die neue Realität des Übersinnlichen begründet hatte und in der sich einen Augenblick lang überschwänglichstes Erlebnis des Unerfahrbaren mit exakter Wissenschaft restlos zu decken schien.“ (Jaeger (1923) 404) So meint Jaeger, „die oberste Monade, für Platon die exakteste Norm und der denkgewissteste Gegenstand des Geistes, werde für Aristoteles das letzte und schwierigste der Probleme.“ (ibid. 404) Es ist aber schwer zu sehen, wie die Behauptung einer solchen ‚Deckung‘ bei Platon mit dessen Erklärung über die schwere Fassbarkeit der Idee des Guten vereinbar ist (Resp.VII 517c ‚mogis horatai‘) wie auch mit der Tatsache, dass Platon noch im Philebos sagt, das Gute lasse sich nicht in einer Form fassen, sondern nur als Dreiheit – als Schönheit, Maß und Wahrheit (Phil. 64e–65a). Auch für Aristoteles will Jaeger aber nur von einer ‚teilweisen Durchdringung‘ durch die Metaphysik sprechen. Auch darin ist ihm Recht zu geben, denn Aristoteles sieht zwar in der Metaphysik die Lehre ‚vom Seienden qua Seiendem‘, meint aber nicht, dass damit mehr als das Fundament für die Erfassung der Wirklichkeit in ihren allgemeinen Zügen gegeben ist. Die Eigenständigkeit der einzelnen Wissenschaften, die es mit verschiedenen Arten von Seiendem zu tun haben, wird dadurch nicht aufgehoben, im Gegenteil. Bekanntlich zeichnen sich für Aristoteles die verschiedenen Wissenschaften durch ihre je eigenen Gegenstände aus und nach ihnen richten sich sowohl die Prinzipienforschung wie auch die Methodenlehre. Mit den Texten Platons und Aristoteles’, auf die er sich beruft, nimmt Jaeger es oft nicht so genau, wie sich aus einzelnen Behauptungen nachweisen ließe. So meint er, je nach der platonischen Problemstellung bestehe die Eudaimonie entweder in der arete oder in der hedone oder in der phronesis. Der Philebos zeige, wie sich in der philosophischen Untersuchung bei Platon das Problem der hedone verselbständigt und einen eigenen Kreis gebildet hat, den die Frage nach der phronesis, der arete und der eudaimonia nur tangential berühre. (401) Dabei steht im Philebos doch gerade das Verhältnis von Lust und Vernunft als den Konstituenten der eudaimonia im Mittelpunkt und wird auch einer Lösung zugeführt.³² Außerdem ist es ein altes Thema bei Platon, das erklärt, warum Sokrates hier noch einmal als Gesprächsführer auftritt.
Zur Thematik des Philebos – dem Wettstreit zwischen Lust und Wissen (Phil. 11a–14b) und seiner Lösung (Phil. 59d, 67b) vgl. Frede (1997) 98 – 111; 342– 372.
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Auch sonst spricht Jaeger von einer Verselbstständigung gewisser Fragestellungen in Platons Dialogen wie etwa in der Behandlung der Freundschaft, von der er meint, sie manifestiere sich auch noch in der Separierung der Erörterung der Freundschaft bei Aristoteles (Eth. Nic. VIII, IX). Dass Aristoteles gute sachliche Gründe hat, die Freundschaft nicht als eine Charaktertugend zu behandeln, sie aber durchaus mit ihr verbinden will, berücksichtigt Jaeger dabei nicht. Obwohl Jaeger das Visionäre an Platon immer wieder hervorhebt, lehnt er es doch ab, in ihm eine Art von Mystiker zu sehen. Er betont vielmehr nur den ‚Abstand‘, den man bei Platon gegenüber der gesamten damaligen Wissenschaft spürt. Auch sei Platon durch Sokrates mit dem Element der phronesis in den ‚von griechischer Wissenschaft und Philosophie bis dahin unentdeckten Bereich des absoluten sittlichen Normbewusstseins‘ vertraut gemacht worden, der einen neuen ‚überempirischen Begriff der inneren Anschauung‘ erforderte:³³ Indem Platon die sokratische phronêsis auf ein übersinnliches Sein als Objekt bezog und dieses als ‚Gestalt‘ fasste, führte er zwei weitere Elemente in die sokratische Gedankenwelt ein, die der damaligen Wissenschaft fremd waren. Das eine war das Eidos, das Ergebnis einer langen künstlerischen und visuellen Entwicklung des griechischen Geistes, das andere war die längst abgetane begriffliche ousia-Spekulation, der er durch das Problem des Einen und Vielen neue Nahrung und durch die Konzeption der Ideen einen lebensvoll anschaulichen Inhalt gab.
Jaeger sieht also in der Idee des Guten, mit gewissem Recht, die wichtigste Erbschaft des Sokrates bei Platon und in der Konzeption von Eidos/Idea eine bereits in der griechischen Tradition angelegte Tendenz, die Platon mit der – auf Parmenides zurückgehenden – Seins-Spekulation verband. Es ist keine Frage, dass diese drei Begriffskreise – 1. absolute Norm, 2. Eidos/Idea. 3. Ousia – auch von Aristoteles aufgenommen und in je eigener Weise umgestaltet worden sind. Als 4. Faktor bringt Jaeger noch den von ihm als ‚orphisch‘ bezeichneten Seelenmythos ins Spiel: „dem Platon nach seiner ganzen Lebensstimmung zuneigte und der in dem Nährboden des neuen, übersinnlichen Seinsbegriffs kräftige Wurzeln schlug, getränkt von Platons mythenbildender Phantasie.“ (21) Vor allem diese Seite Platons hat, so Jaeger, ihren Einfluss auf Aristoteles nicht verfehlt:³⁴ […]zunächst gab er sich dem unteilbaren Ganzen dieser unvergleichlichen Welt, wie die Reste seiner ersten Schriften zeigen, mit ungeteilter Seele hin, und gerade die nichtwissenschaftlichen Elemente in Platons Philosophie, das Metaphysische und das Religiöse, haben am tiefsten und dauernd ihre Spur in sein Innerstes eingegraben. […] Seine spätere Pro-
Jaeger (1923) 20. Jaeger (1923) 21– 22.
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blematik erwuchs größtenteils aus dem inneren Widerstreit mit seiner methodisch-wissenschaftlichen Anlage, in die sie ihn versetzten, und ihre Stärke zeigt sich am schönsten darin, dass er sie niemals geopfert hat,während er wissenschaftlich überall über Platon hinausging.
Die Verbindung von Metaphysik und Theologie ist Aristoteles in gewisser Weise geblieben. Denn dass es im Universum wie im Menschen etwas Göttliches gibt – und dass dieses Göttliche, der Unbewegte Beweger, zugleich der Urgrund aller Dinge ist, hebt Aristoteles in der Tat verschiedentlich hervor und stellt für die menschliche Fähigkeit höheren Denkens zumindest eine Verwandtschaft mit dem Göttlichen fest. Auf die Zeugnisse für eine Mathematisierung von Platons Ideenlehre und die Prinzipienlehre des Einen und der Unbestimmten Zweiheit geht Jaeger auch in der Grundlegung nicht weiter ein, wenn er sie auch im Folgenden gelegentlich erwähnt. Auch die sog. Esoterik lässt er daher beiseite, obwohl er mit dieser Thematik aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit der Metaphysik bestens vertraut war.³⁵ Denn die Metaphysik enthält dafür nicht nur die frühesten, sondern auch die umfangreichsten Zeugnisse, vor allem wenn man dazu noch die Fragmente aus Alexander von Aphrodisias’ Kommentar heranzieht. Jaeger sieht aber in der Beschäftigung mit der Mathematik eine besondere Tätigkeit, der Platon zwar Interesse entgegengebracht hat, die aber – von gewissen Anleihen abgesehen − keine besonderen Auswirkungen auf den Kern seiner Philosophie hatte. Von Aristoteles meint Jaeger überdies seltsamerweise: „Für die in der Akademie gepflegten mathematischen Studien fehlte ihm Neigung und Anlage, soweit es sich nicht um das Elementare handelt.“ (19 – 20) Woraus Jaeger das schließt, bleibt unklar. Denn da Aristoteles die Mathematik in den Analytica Posteriora als die paradigmatische strenge Wissenschaft behandelt hat, sind ihre Auswirkungen auf ihn offensichtlich. Der Umgang mit bedeutenden Mathematikern wie Theaitetos, Eudoxos und anderen dürfte allerdings sowohl bei Platon wie bei Aristoteles das Bewusstsein dafür geschärft haben, dass kreative Mathematik Sache einer besonderen Begabung ist.³⁶ Wenn Aristoteles einmal sagt, ein Kind könne Mathematiker werden, weil Mathematik eine abstrakte Wissenschaft ist, die anders als die Philosophie keine Erfahrung erfordert, so meint er sicher nicht, Mathematik sei
Auf Jaeger (1912) wird hier nicht rekurriert, weil er sich dort weitgehend auf Aristoteles konzentriert. Von Theaitetos, dem jüngeren Freund und Kollegen Platons, stammte u. a. die ‚Entdeckung‘ der fünf ‚platonischen‘ regelmäßigen Körper. Eudoxos hat anscheinend für Platon die Aufgabe gelöst, die Bewegungen der Planeten mit Hilfe konzentrischer zusammengesetzter Kreisbahnen darzustellen.
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ein Kinderspiel (Eth. Nic. VI 9, 1142a17). Vielmehr hat er sich, so wie Platon, in Fachfragen auf Fachleute verlassen. Die Entwicklungsgeschichte Platons vom ‚Mythenbildner‘ zum ‚Organisator der Wissenschaften‘ spiegelt sich für Jaeger auch in der Form der Dialoge wider:³⁷ In Platon ist der Gestaltungstrieb ursprünglich das Primäre. Er schreibt nicht um der inhaltlichen Darstellung seiner Lehre willen. Ihn reizt es, den philosophischen Menschen in dem dramatisch fruchtbaren Moment des Suchens und Findens, der Aporie und des Konflikts sichtbar zu machen. […] Philosophie ist, wie Platon sie ursprünglich versteht, nicht ein Feld theoretischer Entdeckungen, sondern Neubildung aller grundlegenden Lebenselemente. Man denke z. B. an das Duell zwischen dem Sokrates des ‚Gorgias‘ mit Kallikles, dem Vertreter der egoistisch-machtpolitischen Staats- und Gesellschaftsauffassung oder an die paradoxe Philosophenschilderung des Theätet. […] Niemals gibt er bloß theoretische Meinungsverschiedenheiten in stilistischer Maske, wie es die Nachahmer tun.
Zur Zeit des Eintritts des jungen Aristoteles in die Akademie waren Platons Dialoge nun nicht mehr das, was sie früher gewesen waren:³⁸ In der Entwicklung der Form Platons ist die Gruppe von Dialogen, die durch den dem Eintritt des Aristoteles in die Akademie gleichzeitigen Thaeätet eingeleitet wird, durch eine Kluft von den früheren getrennt, wie sie inhaltlich eine Verschiebung des Schwergewichts seiner Philosophie nach einer Seite des Methodischen und analytisch Abstrakten ankündigt. Das harmonische Gleichgewicht des künstlerischen und des philosophischen Elements ist in diesen späteren Werken zugunsten des wissenschaftlichen Inhalts gestört. Im Theätet steigen zuerst Disharmonien auf, feineren Ohren vernehmbar. […] Wer auch im Methodischen und in abstrakter Gedankenentwicklung eine Schürzung des Knotens zu empfinden weiß, wird zwar auch hier den Dramatiker in Platon wiederfinden. Aber bei aller Zuspitzung des logischen Aufbaus ist es verdächtig, dass der Theätet den modernen Philosophen meist als das ‚wissenschaftliche Hauptwerk‘ Platons erschienen ist. (24 f.)
Wie man sieht, ist es in Jaegers Augen eigentlich bedauerlich, dass bei Platon schließlich die Systematik über die Dramatik gesiegt hat. Nun lässt sich in der Tat nicht bestreiten, dass in manchen der Spätdialoge das Interesse an Begriffsklärung und Methodenüberlegungen so sehr überwiegt, dass die Dialogform nur noch pro forma aufrechterhalten wird. Im Timaios wird sie ganz aufgegeben, denn nach dem Eingangsgespräch hält Timaios schlicht einen Vortrag. Es ist aber anzumerken, dass auch der überwiegende Teil der Politeia monologischen Charakter hat und von dramatischer Spannung dort nichts mehr zu merken ist. Glaukon und Adeimantos greifen in die Diskussion nur am Anfang des zweiten Buchs aktiv ein. Platon hat sich also schon sehr viel früher, als Jaeger behauptet, die Freiheit Jaeger (1923) 24. Jaeger (1923) 24– 26.
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genommen, den Dialogcharakter zugunsten des Inhalts einzuschränken.³⁹ Das sei nur nebenbei erwähnt, um daran zu erinnern, dass Platon auch in manchem seiner früheren Werke auf Dramatik keinen Wert legt, sondern fortlaufende Erklärungen liefert. Man erinnert sich freilich eher an das Dramatische als an das Undramatische. Dennoch wird man Jaeger zugeben, dass sich Platon zunehmend um Begriffsklärungen bemüht, wie etwa im zweiten Teil des Parmenides, im Sophistes und Politikos, bzw. um das Abschreiten großen Themenkreise, wie im Timaios und in den Nomoi. Wie Jaeger dazu anmerkt: „Das Absterben der großen Kunst des klassischen platonischen Gesprächsthemas war nur eine Frage der Zeit, seine Wurzel war nicht mehr lebendig. An diesem Punkt setzt der junge Aristoteles ein.“ (26) Freilich sei damit zunächst noch keine sachliche Distanz gegeben, sondern Aristoteles hat wie alle ‚Akademiker‘ Dialoge geschrieben und die Dialogform fortgebildet – allerdings in der Form von wissenschaftlichen Dikussionsdialogen, die das wissenschaftliche Leben in der Akademie widerspiegelt. (27) Es war also nicht Aristoteles, der den Verfall des Dialogs zu verantworten hatte, sondern vielmehr Platon selbst, weil „das Wissenschaftliche in Platon seine Form zum Schluss gesprengt und sich dienstbar gemacht hat.“(28) Den Dialogen des jungen Aristoteles wie dem Eudemos und dem Gryllos schreibt Jaeger eine Vielfalt an Formen zu, wie auch das Aufnehmen von Mythen und die Konstruktion elenktischer Gespräche, und schließt aus der Tatsache, dass Alexander von Aphrodisias mit diesen Dialogen nichts anzufangen wusste, dass sie keine Vorformen der aristotelischen Lehre gewesen sind. Überhaupt will Jaeger von einem ‚Abfall‘ des jungen Aristoteles von seinem Lehrer nichts wissen (33 – 34). Vielmehr besteht für Jaeger bei ihm eine starke Affinität zu Platon und er meint, dieser Einfluss habe Jahrzehnte angehalten. Dies gilt auch in religiöser Hinsicht: In der religiösen Bewegung des Hellenismus hätten Aristoteles’ Frühschriften „fast mehr bedeutet als Platons durchaus unerbauliche, unnahbar objektive Kunst“. (31)
5 Der Einfluss Platons auf den jungen Aristoteles: Eudemos und Protreptikos Obwohl Jaeger von starken Veränderungen in Platons Philosophie zum Analytisch-Begrifflichen hin ausgeht, sieht er in Aristoteles’ frühen Werken, Eudemos Auch der Gorgias endet mit einem langen Selbstgespräch des Sokrates, nachdem Kallikles nicht mehr mitspielen will (Gorg. 506c–527e).
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und Protreptikos, keine Zeugnisse für diese Veränderung. Der Eudemos nahm Elemente aus Platons Phaidon auf, da Aristoteles dort für die Unsterblichkeit der Seele plädiert und auch andere Argumente verwendet hat, die stark an den Phaidon erinnern:⁴⁰ Die Welt des Phaidon, Todesbereitschaft und Weltflucht, lebt in der Schrift des jungen Aristoteles wieder auf. Das irdische Leben der Seele in den Fesseln der Leiblichkeit, das der Phaidon mit einem Gefängnis vergleicht, wird ihm zu einer Zeit der Verbannung der Seele aus dem ewigen Vaterland.
Nun übergeht Jaeger bei seiner Rekonstruktion des Eudemos aber nicht nur, dass er selbst anfangs den Geist der Akademie zur Zeit von Aristoteles’ Eintritt in die Akademie ganz anders gekennzeichnet hat und ihn von wissenschaftlich-systematischem Forschungsinteresse geprägt sieht, das sich auch in Platons Spätwerk manifestiert. Davon ist aber in der Rekonstruktion des Eudemos gar keine Rede. Denn Jaeger behandelt ihn als Zeugnis für die ungebrochene Anhängerschaft von Aristoteles an den Platon des Phaidon, auch was die metaphysischen Voraussetzungen angeht. Zudem geht er auf ein wichtiges Problem nur nebenbei ein: Aristoteles’ Dialog kann nämlich deswegen kein wirkliches ‚Frühwerk‘ gewesen sein, weil er erst nach dem Tod von Eudemos im Jahr 354 verfasst worden ist. Zu dieser Zeit war aber Aristoteles bereits 34 Jahre alt und seit siebzehn Jahren Mitglied der Akademie, d. h. er hat philosophisch gesehen längst eigene Wege eingeschlagen. So erscheint Jaegers Unterstellung höchst problematisch, dass Aristoteles hier fraglos noch den Dualismus von Leib und Seele, die Einheit der Seele und ihre persönliche Unsterblichkeit sowie die Wiedererinnerungslehre des Phaidon vertreten haben soll. Denn Jaeger meint, dass Aristoteles’ Eudemos sich nur insofern von Platon unterscheidet, als er die Kontinuität der persönlichen Seele mit dem Bewusstsein verknüpft hat: die Seele erinnert sich zwar nach ihrer Wiedereinkörperung nicht mehr an das, was sie früher erlebt hat, nach ihrem Tod nimmt sie aber die Erinnerung an das Diesseits mit ins Jenseits. Diese Lehren passen jedoch schlecht zu Platons Spätwerk. Denn von der Einheit der Seele kann schon in der Politeia nicht mehr die Rede sein. Kritische Leser fragen sich daher bei der Lektüre des Schlussmythos in Buch X, ob es wirklich die dreigeteilte Seele ist, die den Tod überlebt, und wie das zugehen soll. Zwar vertritt Platon in seinen ‚mittleren‘ Dialogen in dieser Frage keine eindeutige Haltung, wie etwa der Vergleich der Seele mit einem Wagenlenker und zwei Pferden im Phaidros zeigt, die auch den Göttern zugeschrieben werden. Der Ti-
Jaeger (1923) 38.
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maios ist jedoch in dieser Hinsicht eindeutig: nur die Vernunft ist unsterblich, die beiden niedrigeren Seelenteile dagegen vergehen mit dem Körper (Tim. 69c–71e). Auch über die anamnesis-Lehre hört man nach dem Phaidon nichts mehr. Und es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Platon diese Lehre danach nicht mehr vertreten hat. So findet sich in der Politeia keine Andeutung, dass der beschwerliche Weg aus der Höhle etwa durch Wiedererinnerung erleichtert wird. Wozu sollte das sorgfältige Training der Philosophenkönige erforderlich sein – ein Studium von insgesamt 15 Jahren, mit 10 Jahren mathematischer Vorstudien und 5 Jahren Dialektik –, wenn es auch einfacher ginge, weil geschicktes Fragen, wie im Menon oder Phaidon, die Wiedererinnerung an vorgeburtliches Wissen wachrufen kann? Vielmehr scheint es, als habe Platon die dialektische Methode als Ersatz für die anamnesis-Lehre entwickelt. Statt von Wiedererinnerung spricht Sokrates im Phaidros voll Bewunderung von denjenigen, die das dialektische Verfahren beherrschen, und schreibt ihnen einen gottartigen Status zu:⁴¹ Hiervon bin ich ein Liebhaber, Phaidros, von den Zerlegungen und Zusammenfassungen, damit ich imstande bin, zu sprechen und zu denken. Und halte ich einen anderen für fähig, die von Natur gegebene Einheit und Vielheit zu sehen, so folge ich auf seinen Spuren, als wäre er ein Gott. Und ob ich nun die, die das können, richtig bezeichne oder nicht, das weiß Gott, doch nenne ich sie bis zum heutigen Tag Dialektiker.
Und im selben Tenor spricht Platon auch noch im Philebos: ⁴² Es ist ein Geschenk der Götter an die Menschen, oder so scheint es mir jedenfalls. Es wurde einstens durch einen Prometheus mit einem hell strahlenden Feuer vom Himmel herabgeschleudert […]. Die Götter haben uns aufgetragen, auf diese Weise zu forschen, zu lernen und einander zu belehren.
Platon lässt dort keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Suche nach dem Einen und der geordneten Vielheit um das philosophische Verfahren schlechthin handelt. Und schließlich: Im Timaios wird der Seele nur ein formales Gerüst mitgegeben: es ist ein komplexes Gerüst aus Sein, Identität und Verschiedenheit. Dieses Gerüst ist in der Seele der Menschen beim Eintritt in den Körper vorhanden; es gerät zwar bei der Geburt in Unordnung und muss erst wieder in ein harmonisches Verhältnis gebracht werden; von einem darüber hinausgehenden inhaltlichen angeborenen Wissen ist aber nicht die Rede. Diese platonischen Dialoge sind teils vor, teils während Aristoteles’ Studienzeit entstanden. Als er den Eudemos geschrieben hat, müssen sie ihm aber alle Platon Phaidros 266b–c. Platon Philebos 16c–e.
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vorgelegen haben, denn Platon war damals bereits 76 Jahre alt. Aristoteles konnte also eigentlich nicht über die gravierenden Veränderungen bei Platon hinweggesehen haben. Dennoch unterstellt Jaeger den aristotelischen Dialogen das konventionelle, einheitliche Platonbild, vor dem er selbst zuvor gewarnt hat. Dies begründet er damit, dass Aristoteles auch in dieser Zeit, vor allem in religiöser Hinsicht, weiterhin unter dem Einfluss Platons gestanden hat.⁴³ Die Ideenkritik und die Entwicklung der aristotelischen Seelenlehre verlegt Jaeger daher erst in Aristoteles’ sogenannte ‚Wanderjahre‘, also in die Zeit nach Platons Tod. Das ist aber angesichts der Tatsache wenig plausibel, dass die Ideenkritik in Metaphysik A9 noch während Aristoteles’ Akademiezeit verfasst worden sein muss. Denn dort formuliert er seine Kritik an der Ideenlehre noch in der ‚Wir‘-Form und gibt damit zu verstehen, dass er sich selbst dieser Schule zurechnet.⁴⁴ Zugleich zeugt dieses Buch jedoch davon, dass Aristoteles bereits den Grundstock zu seiner eigenen Philosophie gelegt hatte; denn er rekurriert auf seine Unterscheidung der vier Ursachen (Metaph. A 3, 983a24– b6) ebenso wie auf die Kategorienlehre (A 8, 989b11– 12). Auch die beiden ‚exoterischen‘ Schriften Über die Ideen und Über das Gute haben sich offensichtlich kritisch mit der platonischen Ideenlehre und mit der Rolle der Idee des Guten im Besonderen auseinandergesetzt; sie dürften aus derselben, relativ frühen Zeit stammen. Wie steht es dann aber mit Platonischem bei dem ansonsten Platon-kritischen noch jungen Aristoteles? Dazu ist bemerken, dass wir über den Inhalt des Eudemos nur wenig Information haben, außer dass Aristoteles dort eine Art kosmologischen Gottesbeweises vorgeschlagen, der Seele im Angesicht des Todes prophetische Gaben zugesprochen und wohl auch das vom Körper losgelöste Leben der Seele gepriesen hat. Ob es sich dabei aber nur um den Geist handelt, wie beim späteren Aristoteles, ist schwer zu sagen. Wenn dem so wäre, so stimmte Aristoteles darin völlig mit dem Platon des Timaios überein. Und wenn der Eudemos eine Art Trostschrift war, dann mag Aristoteles es überhaupt offen gelassen haben, in welchem Zustand die Seele sich nach ihrer Trennung vom Körper befindet und mit welchen Gegenständen sie es zu tun hat.Von einer anamnesis-Lehre und von Ideen ist jedenfalls in den wenigen eindeutig dem Eudemos zuzuordnenden Fragmenten nicht die Rede.
„Nichts zeigt deutlicher, wie tief Aristoteles im Spiritualismus wurzelt, als daß er auch nach der Preisgabe der Ideenlehre noch eine Zeitlang den Seelenbegriff Platons und mit ihm ohne Zweifel die Unsterblichkeitslehre festhält.“ Jaeger (1923) 166. In seiner Ausgabe der Metaphysik, Oxford 1957 versucht Jaeger dem allerdings entgegenzutreten, indem er in A 9 die ‚Wir‘-Form tilgt und der späteren Version in M 4 angleicht (vgl. dazu Frede (2012) 269 – 270.
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Auch den Protreptikos betreffend, muss man zur Vorsicht raten, obwohl das Material da viel reicher ist (Jaeger (1923) 53 – 102). Jaeger geht davon aus, dass diese an den zyprischen Fürsten Themison adressierte ‚Werbeschrift‘ insofern ganz auf dem Boden der platonischen Auffassung steht, als sie die Philosophie mit dem bios theoretikos gleichsetzt, so dass auch ein Herrscher ‚metaphysische Anfangsgründe‘ zu studieren hat.⁴⁵ Es spricht nun viel dafür, dass Aristoteles damit auf die Schrift Antidosis des Isokrates geantwortet hat (353/2), in der dieser die Vorzüge seiner eigenen, dem praktischen, politischen Leben zugewandten ‚Bildungsphilosophie‘ hervorhebt und Kritik an der angeblich nutzlosen abstrakten Philosophie der Akademie übt.⁴⁶ Angesichts dieses Angriffs musste es Aristoteles daran gelegen sein, die ‚wahre‘ Philosophie mit einer Stimme sprechen zu lassen. Für eine Diskussion strittiger Fragen innerhalb der Akademie war diese Schrift daher nicht der Ort. Auch musste ihm an dem Nachweis gelegen sein, dass der Besitz der höchsten Art von Wissen auch für die Politik und für die Lebensführung überhaupt von größter Bedeutung ist. Das rechtfertigt aber nicht Jaegers Schluss, dass Aristoteles damit die in der Politeia für die Philosophenkönige anvisierte Ausbildung auf der Basis der Idee des Guten im Auge hat. Der Protreptikos setzt vielmehr das metaphysische Prinzipienwissen von Metaphysik A als die letzte für die Menschheit erreichbare Stufe mit dem Wissen vom höchsten Gut gleich. Denn Aristoteles ist daran gelegen, auch die Nützlichkeit des Prinzipienwissens für das Leben hervorzuheben. Von einem Philosophenkönig und dessen erhabenem Wissen von einer jenseitigen Idee des Guten ist nicht die Rede. Das Prinzipienwissen wird vielmehr als die Grundlage der besten für den Menschen erreichbaren Lebensweise und daher zugleich auch der lustvollsten dargestellt.
„In seiner entschiedensten Form bleibt der bios theoretikos ein Postulat des geborenen Forschertums, das nur immer wieder erlebt, aber wohl niemals vor dem gemeinen Menschenverstand gerechtfertigt werden kann.“ Jaeger (1923) 81. Ob das Lob des theoretischen Lebens in Eth. Nic. X auf platonischen Einfluss zurückzuführen ist (73 Anm. 1) ist ebenso fraglich wie die Behauptung, die junge Generation sei „ausschließlich in dieser Lebensferne aufgewachsen und musste sich daher die Frage nach dem Wert des theoretischen Lebens von neuem stellen, so dass „das ursprünglich so reformfreudige platonische Ideal so eine Wendung ins Kontemplativ-Religiöse“ erhält. (83) Für eine viel spätere Datierung des Protreptikos plädiert Schneeweiß (2010) aufgrund des Verweises auf die Grabinschrift des Sardanapal, die angeblich erst nach Alexanders Eroberungen in Griechenland bekannt wurde, also frühestens im Jahr 332. Es fragt sich allerdings, warum Aristoteles so spät und gewissermaßen unter den Augen Alexander d. Gr. eine solche Werbeschrift an einen Kleinfürsten auf Zypern gerichtet haben sollte, der auch nach Schneeweiß’ Rechnung damals erst 16 Jahre alt war. Die angebliche Grabinschrift dürfte eine frühere griechische Erfindung gewesen sein, keine ‚Entdeckung‘ durch Alexander d. Großen (vgl. etwa die ‚Grabinschrift‘ für König Midas bei Platon, Phaidr. 264c–d).
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Aristoteles muss sich nun in diesem Punkt weder in völliger Übereinstimmung noch in scharfem Gegensatz zu Platon gesehen haben. Denn in Platons Spätwerk findet sich kein Philosophenkönig mehr. So weist der Politikos dem Staatsmann die eher bescheidene Aufgabe zu, als ‚königlicher Weber‘ das Gewebe des Staates zusammenzuknüpfen, indem er die Temperamente der Bürger auf die richtige Weise zusammenflicht. (Polit. 305e–311c) Zwar muss der Staatsmann die richtige Ordnung und ihre Prinzipien kennen, dass er aber zugleich auch der Philosoph ist, der sich laut Sophistes auf die Beziehungen zwischen den megista gene versteht, ist eher unwahrscheinlich. (Soph. 253b–254b) Nicht nur das: in den Nomoi verzichtet Platon, wie gesagt, auf ein metaphysisches Herrschaftswissen ganz. Die ‚Hüter der Gesetze‘ müssen zwar über eine gute Bildung verfügen. Sie haben aber weder alle Macht in den Händen, noch sind sie Philosophenkönige. (Leg.VI 751a– 752e) Vielmehr sollen alle Bürger hinreichend gebildet sein, um zu verstehen, dass das Universum ein durch Vernunft geordnetes Ganzes ist. Auch diese Einschränkungen von Platons Seite dürfte Aristoteles nicht entgangen sein. Warum aber empfiehlt er dann einem Fürsten überhaupt einen bios theoretikos? Auf Einzelheiten muss hier verzichtet werden. Wenn Aristoteles im Protreptikos die theoria als Basis des Herrschaftswissens empfiehlt, so dürfte dies den schlichten Hintergrund haben, dass es Aristoteles nicht daran gelegen ist, seinem Adressaten etwa das Studium nur eines Teils der Philosophie zu empfehlen, nämlich den der praktischen Philosophie. Es muss schon die ganze Philosophie sein, einschließlich ihrer ersten Prinzipien. Dass diese ersten Prinzipien sehr abstrakt und schwer zu verstehen sind, will er aber einem Laien nicht in aller Deutlichkeit vor Augen führen. Mit anderen Worten, aus der unbestreitbaren Platon-Nähe dieser Schrift, einschließlich ihrer Sprache, lässt sich nicht schließen, dass Aristoteles in allen Punkten noch ein überzeugter Platoniker war. Insbesondere lässt sich nicht schließen, dass er noch der platonischen Lehre der mittleren Jahre anhing, wie die von der Identität von höchstem Sein und höchstem Gut oder von der Unsterblichkeit der Seele. In gewissem Umfang räumt das auch Jaeger ein, denn er ignoriert ja die Veränderungen der späteren Ideenlehre nicht, insbesondere was die Mathematisierung der Ideenlehre angeht, die sich in der Platon-Kritik in Aristoteles’ Metaphysik widerspiegelt. Auch erwähnt Jaeger Unstimmigkeiten innerhalb der Akademie in dieser Frage (Jaeger (1923) 96 – 97). Dennoch meint er, der Protreptikos enthalte das für Aristoteles an der Arbeit der Akademie Wesentliche. Und damit erklärt er auch, warum das Sokratische im Protreptikos nicht zum Ausdruck
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kommt, sondern vielmehr andere Philosophen wie Pythagoras, Anaxagoras oder Parmenides als Archegeten genannt werden:⁴⁷ In diesem Forscherkreise ist das aristotelische Lebensideal, der theoretikos bios geboren, nicht in der buntbewegten Palästra des Lysis und Charmides, sondern in der kalybe im abgeschiedenen Garten der Akademie. […] Der platonische Sokrates war eine Schöpfung des künstlerischen Gestaltungstriebes gewesen, der Pythagoraskult der Akademie, eines der merkwürdigsten Beispiele religiöser Autosuggestion, war eine Spiegelung der Akademie und ihrer Zahlenmetaphysik in der halb mythischen Persönlichkeit des Pythagoras, den man als den Stifter des bios theoretikos pries und auf den man bald auch die Anschauungen der eigenen Zeit und Schule frei übertrug.
Von einer besonderen Pythagoras- Verehrung kann im Protreptikos aber gar nicht die Rede sein. Zwar verweist Aristoteles auf die Pythagoreer als Zeugen dafür, dass das Studium der Weltordnung als das Wichtigste im Menschenleben anzusehen ist. Entsprechendes schreibt er in Eth. Eud. und Eth. Nic. aber unter anderen auch Anaxagoras zu; zu philosophischen Vorbildern kat’ exochen macht er sie jedoch nicht.⁴⁸ Folglich gibt es keinen Grund, den Protreptikos als besonders Platon-nah und sehr früh, Metaphysik Buch A dagegen als Platon-kritisch in eine wesentlich spätere Zeit zu verlegen und Aristoteles, was seine eigene Philosophie angeht, zum Spätentwickler zu machen, der erst im zarten Alter von 40 Jahren zu seiner eigenen Philosophie gefunden hat. Vielmehr ist der Protreptikos eine allgemein gehaltene Schrift, im Geiste der Akademie aus der Zeit kurz vor Platons Tod, in der Aristoteles sich nicht gescheut hat, auch seine eigene Terminologie zu verwenden und eigene Gedanken vorzustellen, soweit ihm das angemessen erscheint.
6 Die Unvermeidlichkeit des ‚Platonismus‘ Abschließend sei festgestellt, dass Jaeger generell dazu neigt, in seiner Rekonstruktion der Entwicklung des Aristoteles von einem einheitlicheren Platonbild auszugehen als es seiner ursprünglichen Einschätzung der Vielfalt von Platons Philosophie entspricht. Denn er sieht zwar, dass in den Spätdialogen, vor allem im Philebos, mit peras und apeiron eine neuartige Basis für die Ideenlehre eingeführt wird. Weiter-
Jaeger (1923) 98 – 99. In Eth. Nic. werden nur die Pythagoreer, nicht Pythagoras teils zustimmend, teils kritisch angesprochen (I 4, 1096b5 – 6; II 5, 1106b29 – 30; V 8, 1132b21– 28); Anaxagoras dient als Zeuge für die Vorzüge der theoretischen Lebensweise (X 9, 1179a13 – 16). In Eth. Eud. wird auf die Pythagoreer gar nicht, auf Anaxagoras in derselben Weise verwiesen wie in Eth. Nic. X.
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gehende Schlüsse zieht er daraus jedoch nicht. So sieht er z. B. in der Unterscheidung zwischen Werden und Sein im Philebos einen Beleg für die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Werden und dem ‚reinem Sein der Ideenwelt‘: ⁴⁹ Der Genesis setzt der Philebos (53c ff.) zugleich als höchstes Ziel und als vollendeten Gegensatz das reine Sein der Ideenwelt entgegen. Aller Wert, alles Vollkommene, alle Absolutheit ist auf Seiten des Seins, alles Schlechte, Mangelhafte, Bedingte ist beim Werden.
Dabei übersieht Jaeger jedoch, dass an dieser Stelle im Philebos das ‚Sein‘ das Ziel von Werdeprozessen verstanden wird, wie etwa das Beispiel des Schiffsbaus und des Schiffs veranschaulicht. (Phil. 54a) Es gibt also auch im Bereich von Veränderlichem – jedenfalls temporär – harmonisch geordnetes, stabiles Seiendes. Von der Schlechtigkeit des Werdens und der Vollkommenheit ‚transzendenter Ideen‘ ist hier gar nicht die Rede. Auch unterstellt Jaeger Platon aufgrund des Philebos, dass er das ‚reine Philosophieren‘ ebenso wie Aristoteles für eine besonders lustvolle Angelegenheit hält:⁵⁰ Dass in einem Protreptikos, der die platonische Erkenntnis als die wahre Seligkeit nachweisen will, die in der Akademie herkömmliche Auseinandersetzung über das Verhältnis von phronesis und hedone gehört, ist eigentlich selbstverständlich, da die These auf anderem Weg nicht zu beweisen ist […]. Dieses Problem, das schon im Staate und dann im Philebos ausführlich gehandelt worden war, ließ sich bei der Begründung eines Lebensideals des reinen Schauens gar nicht ausschalten.
Jaeger übersieht dabei, dass Platon im Philebos die Lust als Ausgleich für einen Mangel bzw. als eine Wiederherstellung eines harmonischen Gleichgewichts versteht und daher nur im Lernen, nicht im Wissen eine lustvolle Angelegenheit sieht.⁵¹ Eben darin unterscheidet sich Platons Lustbegriff im Philebos von der aristotelischen Konzeption der Lust als ‚ungehinderter Tätigkeit‘ in Eth. Nic. VII 12– 15. Für Jaeger ist es eine ausgemachte Sache, dass Aristoteles zunächst ‚den dualistischen und absolutistischen Standpunkt Platons’ geteilt hat, um sich erst sehr viel später davon abzuwenden. Dass der sehr junge Aristoteles dies zunächst getan hat, ist zwar möglich, über seine Anfangsjahre wissen wir aber schlicht gar nichts. Nicht nur war Platons Lehre Gegenstand von Auseinandersetzungen innerhalb der Akademie, wie auch Jaeger betont, sondern Platon war nicht der einzige Lehrer an der Akademie und zur Zeit von Aristoteles’ Eintritt in die Schule
Jaeger (1923) 47. Jaeger (1923) 67. Jaeger überträgt offensichtlich die Darstellung der Lust in der Politeia IX, wo dem Philosophenkönig 729 mal mehr Lust zugesprochen wird als dem Tyrannen (587a–e) auf den Philebos.
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für längere Zeit in Sizilien. Ob und wie lang Aristoteles ein bedingungsloser Anhänger der Lehre Platons gewesen ist, bleibt daher eine offene Frage. Da Jaeger darauf verzichtet, bei seiner Rekonstruktion der Entwicklung des jungen Aristoteles auf die Veränderungen näher einzugehen, die nach seiner eigenen Darstellung für Platons Philosophie zur Zeit von Aristoteles’ Eintritt in die Akademie charakteristisch waren, lässt sich auch aus der Grundlegung nur schemenhaft rekonstruieren, wie Jaeger die spätere und späte Lehre Platons interpretiert und beurteilt hat. Eines ist Jaeger freilich einzuräumen: Auch Aristoteles selbst hat in seiner Kritik die Ideenlehre des Phaidon und der Politeia nie ganz aus den Augen verloren. Denn seine berühmte Ideenkritik in Metaph. A 9 ist eine seltsame Kombination: Ihr erster Teil gilt weitgehend der frühen Form der Ideenlehre und betrifft deren ‚Abtrennbarkeit‘ und ‚Vorbildhaftigkeit‘. (bis 991b9) Ihr zweiter Teil dagegen gilt der Mathematisierung der Ideenlehre, deren Zusammenhang mit der Ideenlehre bis heute Gegenstand von Kontroversen ist.⁵² In seiner Bearbeitung dieses Textstücks in Met. M gibt Aristoteles aber zu verstehen, dass es sich dabei um zwei verschiedene Theorien handelt, die ursprünglich gar nichts mit einander zu tun hatten: (Met. M 4, 1078a9 – 12) Was nun aber die Ideen angeht, so müssen wir als erstes die Ideenlehre selbst untersuchen, ohne sie mit der Natur der Zahlen in Verbindung zu bringen, sondern so, wie sie am Anfang diejenigen verstanden, die als erste behaupten, es gebe Ideen.
Jaeger ist also in guter, aristotelischer Gesellschaft, wenn er es schwer findet, dem späten Platon etwas anderes als die Ideenlehre seiner frühen Jahre zu unterstellen. Die einzelnen Ur-Disziplinen bei Aristoteles, die für Jaegers Entwicklungsgeschichte zentral sind, und die Frage ihrer Fundierung bei Platon sind hier nicht weiter behandelt worden. Das hätte eine allzu weitläufige Diskussion erfordert. Stattdessen sollte nur der Nachweis erbracht werden, dass Jaeger sich zwar der großen Veränderungen bei Platon bewusst war, von denen die späten Dialoge zeugen, aber gleichwohl doch auch dem traditionellen Platonbild verhaftet geblieben ist. Jaeger steht damit natürlich nicht allein, sondern befindet sich in guter Gesellschaft. Denn so wie Aristoteles sich immer wieder auf die Ideenkonzeption des früheren Platon bezieht, so tun das die meisten von uns auch heute noch. Das liegt nun nicht allein an der Hartnäckigkeit einer einmal etablierten Kanonik, sondern auch daran, dass sich Platon in seinen späteren Werken nicht mehr klar über den Status der Ideen geäußert hat. Inwiefern mit seinen Methodenüberlegungen und der Untersuchung mathematischer Strukturen auch Veränderungen seiner Konzeption des Wesens der Dinge, d. h. der Ideen, einhergegangen ist, ist Vgl. Crubellier (2012).
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daher Sache von Spekulation, in der Aristoteles uns anscheinend nicht sehr viel voraushatte. Daher bleibt Platon für uns in dieser Hinsicht das Rätsel, das er anscheinend auch für seine Zeitgenossen und Mitstreiter war. Wenn hier vielfach kritische Töne an Jaegers Platon angeschlagen worden sind, weil er kein Philosoph nach dem Herzen der meisten Philosophen ist und oft sehr großzügig mit den Texten umgeht, so darf man doch zweierlei nicht aus dem Auge verlieren: Da ist zum einen der Zeitgeist: Vollmundig anmutende Generalisierungen und Beurteilungen liegen Jaegers Zeit näher als der unsrigen. Daher sollte man diese Auswüchse nicht überbewerten und darüber vor allem nicht Jaegers großes Verdienst aus den Augen verlieren. Er hat dem auch zu Anfang des 20. Jh. noch dominanten Bild von Aristoteles als einem ‚Systembildner‘ ein Ende gemacht und in detaillierter Feinarbeit nachgewiesen, dass dessen vielschichtige Texte keine fertigen Lehrmeinungen, sondern vielmehr die Ergebnisse von jahrzehntelangen Forschungen und Reflexionen enthalten, mit Einschüben und Nachträgen, für die Aristoteles nirgends den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Dass Aristoteles’ Leben eine Akademiezeit, Wanderjahre und eine Meisterzeit umfasst, in der er seine eigene Schule geleitet hat, wird niemand bestreiten wollen, auch wenn in dieser Dreiteilung die Gefahr von Stereotypisierungen und problematischen Zuschreibungen liegt, die jeweils durch das eigene Urteil über plausible Entwicklungslinien bestimmt werden. So unterschiedlicher Meinung man daher über die Resultate von Jaegers Untersuchungen im Einzelnen sein kann, sollte man nicht vergessen, dass er Pionierarbeit geleistet hat. Dies wird oft in der Jaeger-Kritik nicht mehr hinreichend berücksichtigt. Zudem hat er auch in vielen seiner einzelnen Beobachtungen bzw.Vermutungen Recht, eine Tatsache, die Interpreten oft entweder nicht mehr zur Kenntnis nehmen oder doch nicht sagen wollen, weil sie das Stigma der Jaeger-Anhängerschaft fürchten. Eine solche ‚Stigmatisierung‘ sollte sich aber auf diejenigen beschränken, die Jaeger unkritisch folgen.
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Mirjam E. Kotwick
The Entwicklungsgeschichte of a Text: On Werner Jaeger’s edition of Aristotle’s Metaphysics Immer nur zu werden, nie zu sein war höchste Bestimmung dieser Schriften. Jaeger 1912
1 Introduction Aristotle’s Metaphysics pervades and marks Werner Jaeger’s academic life like no other work: the first part of his 1911 dissertation contains emendations of passages of the Metaphysics; the second part appears in 1912 as Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles. With this study Jaeger lays the foundation for his own conception of Aristotle’s work and, in particular, of its genesis. Two articles with critical notes on and emendations of the text of the Metaphysics follow in 1917 and 1923. In his 1923 study, Aristoteles, Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, the Metaphysics is portrayed as a work whose divergent parts reveal different stages of Aristotle’s intellectual development. These studies represent crucial steps in Jaeger’s own development as a scholar on the way to his edition of the Metaphysics for the Oxford Classical Texts series, which is published in 1957. And, finally, it is a passage in Metaphysics A 9 on which Jaeger works until his death in 1961—with his article “We say in the Phaedo” appearing posthumously in 1965. In this paper, I will trace Jaeger’s own development as an editor of the Metaphysics with a view to analyzing the principles upon which his edition rests. I will show how Jaeger’s evolutionary interpretation of Aristotle’s thought is crystalized in his edition of the Metaphysics. In short, I argue that Jaeger projects his idea of an Entwicklungsgeschichte onto the history of the text of the Metaphysics. In order to illustrate this, I will first reconstruct the development of Jaeger’s conception of the Metaphysics text and its genesis by going through his relevant publications (sections 2– 4). This will then bring me to Jaeger’s edition of the Metaphysics itself and the question of its editorial foundations (section 5). My investigation will come to a close with an evaluation of Jaeger’s views on the Metaphysics text and his edition from the perspective of more recent developments in the research on the text of the Metaphysics (section 6). DOI 10.1515/9783110548983-007
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2 Jaeger on the compositional genesis of the Metaphysics In 1911, the first part of Jaeger’s dissertation appears under the title Emendationum aristotelearum specimen. This study comprises a concise summary of the arguments laid out in the second part of the dissertation (published as the Studien zur Entstehungsgeschichte),¹ and a series of emendations of passages from various works of Aristotle, most prominently three passages from the Metaphysics. ² The three emendations that Jaeger discusses anticipate the characteristics of his later engagement with the text of the Metaphysics. In the first case, concerning line A 9, 992b7, Jaeger argues for the correction of the words περί τε κινήσεως, εἰ μὲν ἔσται ταῦτα κίνησις, δῆλον ὅτι κινήσεται τὰ εἴδη· (“And regarding movement, if these [sc. the great and the small (?)] are to be movement, evidently the Forms will be moved”)³ into the words περί τε κινήσεως, εἰ μὲν ἔστ’ ἐνθαῦτα κίνησις, δῆλον ὅτι κινήσεται τὰ εἴδη· (“And regarding movement, if there is movement in the sensible world, evidently the Forms will be moved”). Jaeger further defends this textual intervention⁴ in his 1917 article on the text of the Metaphysics,⁵ but he changes his mind and does not accept it in his 1957 edition. The situation is different in the case of the second and third emendations. In Z 8, 1033b17, Jaeger replaces the transmitted σύνοδος with the word σύνολος.⁶ This emendation is certainly correct.⁷ Ross adopts Jaeger’s correction in his 1924 edition.⁸ Jaeger’s third emendation is more controversial. Here, Jaeger regards the phrase ἂν μὴ ᾖ τοῦ συνειλημμένου (Z 10, 1035a23) on the basis of con Jaeger (1911) 1– 7. Jaeger (1911) 8 – 19. Translations of the Metaphysics are by Ross (in Barnes 1984), but modified. Jaeger (1911) 10 – 13 argues that the transmitted reading represents Plato’s concept of matter incorrectly, and that his correction finds support in the paraphrase of the late antique commentator Asclepius (105,23 Hayduck). Jaeger (1917) 482– 483. The relevant sentence (1033b16 – 8) reads φανερὸν δὴ ἐκ τῶν εἰρημένων ὅτι τὸ μὲν ὡς εἶδος ἢ οὐσία λεγόμενον οὐ γίγνεται, ἡ δὲ σύνολος (σύνοδος mss.) ἡ κατὰ ταύτην λεγομένη γίγνεται …/ “It is obvious then from what has been said that the thing, in the sense of form or substance, is not produced, but the concrete thing which gets its name from this is produced…”. Jaeger (1911) 14– 6. The corruption from ΣΥΝΟΛΟΣ to ΣΥΝΟΔΟΣ is a typical error in majuscule script. Cf. Christ (1886) VII. Jaeger does not argue from paleography, however, but from the content of the passage and parallel passages in Aristotle. For a more critical view on Jaeger’s emendation see Apelt (1913) 101. Ross (1924b) 188: “Jaeger is almost certainly right in reading σύνολος.”
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tent and diction as a later addition and deletes it.⁹ Ross does not follow Jaeger in this regard.¹⁰ Jaeger himself in his edition adheres to his assessment of the phrase as a later addition, yet with a significant modification: he puts the words into double-brackets, thereby indicating that Aristotle himself added the words at a later stage.¹¹ These three emendations give us a taste of the divinatio that Jaeger employs on the text of the Metaphysics in subsequent years: his emendations are often ingenious, sometimes compelling and sometimes refuted by Jaeger himself later on. In turning to the second part of Jaeger’s dissertation, we can recognize another specific characteristic of his engagement with the Metaphysics text, namely, his interest in the close ties between text-critical issues and the work’s origin in Aristotle’s way of thinking, writing and teaching.¹² The second part of Jaeger’s dissertation appears in 1912 under the title Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles. Jaeger himself describes his study as the radicalization of a scholarly trend of a growing suspicion against the unified character of the Metaphysics. ¹³ Scholars before him were opposed to the idea of a meaningful unity of the Metaphysics,¹⁴ yet their analysis
Jaeger (1911) 16 – 19. The sentence in question is (Z 10, 1035a21– 25): τῷ μὲν οὖν ἐνέσται ὁ τῶν τοιούτων μερῶν λόγος, τῷ δ’ οὐ δεῖ ἐνεῖναι, ἂν μὴ ᾖ τοῦ συνειλημμένου· διὰ γὰρ τοῦτο ἔνια μὲν ἐκ τούτων ὡς ἀρχῶν ἐστὶν εἰς ἃ φθείρονται, ἔνια δὲ οὐκ ἔστιν. / “Therefore of some things the formula of such parts will be present, but in others it must not be present, where the formula does not refer to the concrete object. For it is for this reason that some things have as their constituent principles parts into which they pass away, while some have not.” Ross (1924b) 198. Frede/Patzig (1988) agree with Ross in not following Jaeger’s suggestion. In his praefatio, Jaeger (1957) xviii introduces the double-brackets as markers of those later additions to the text of the Metaphysics which Aristotle himself is supposed to have made; yet, in this particular case, he is more cautious about the authorship, and so states in the apparatus ad loc.: ἂν … συνειλημμένου nota ab Ar.(?) postea addita vid. In 1960, Jaeger writes in retrospect (1960) XVIII: “Die ständige Arbeit an dem Text, zu dessen Herausgabe ich erst Jahrzehnte später kommen sollte, machte den geistigen Umweg der historischen Erfassung der philosophischen Art und Methode des Aristoteles unumgänglich, nicht bloss für die Metaphysik, sondern für dessen Pragmatien. Es musste von der inneren Form seines Philosophierens ausgegangen werden, aus der die scheinbaren Mängel der überlieferten Textgestalt und Komposition seiner Schriften sich erklären liessen. Sie waren das Produkt langjähriger wiederholter Arbeit an den Problemen und an ihrer uns erhaltenen mündlichen Darstellung für die Lernenden…” On Jaeger’s relation to earlier and contemporary scholars and their methods and debates see Schütrumpf (1990); see also Witt (1996) 73 – 4 and Rapp (2006) 181– 183; on Jaeger’s 1912 study in particular see Schütrumpf (1990) 210 – 213. Jaeger (1912) 2 names as pioneers for his own approach Christian August Brandis, Hermann Bonitz and Albert Schwegler. He describes as ‘Unitarier’ Karl Ludwig Michelet, Wilhelm Brummerstädt and Johann Zahlfleisch (1912) 3.
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and explication of the work’s genesis did not, according to Jaeger’s view on the matter, go far enough.¹⁵ Furthermore, it had come into fashion to athetize whole books from the Metaphysics: ¹⁶ Wilhelm von Christ athetizes book K, for instance, in his 1886 edition of the Metaphysics,¹⁷ whereas Valentin Rose, editor of Aristotle’s fragments (all of which he regards as spurious),¹⁸ declares books Δ, Κ, Λ, M, and N to be inauthentic.¹⁹ It is against this scholarly background that Jaeger sets out to reveal the Metaphysics as a conglomerate of Aristotle’s own lecture notes that were combined into one ‘work’ only after Aristotle’s death. To that end, Jaeger attempts to accomplish two objectives in his study. He first refutes the idea of there being a unified work by drawing attention to those features of the Metaphysics that make it impossible to regard the work as Aristotle’s own composition. In a second step, he explains these features as the result of the work’s genesis within the historical context of Aristotle’s school. Jaeger reconstructs this genesis as follows: over many years of teaching, Aristotle composed and reworked his notes for a variety of lectures on first philosophy;²⁰ some of these lectures Aristotle had already compiled into larger units, but it was only after his death that his teaching material was compiled into a larger composition. The formation of the Metaphysics therefore happened over a longer period of time—first by Aristotle’s students and later by “redactors”, such as Andronicus of Rhodes in the first century BCE. The most prominent features that speak against there being a unified compositional character of the Metaphysics are doublets,²¹ erratic pieces²² and ad-
Jaeger (1912) 4 describes the situation as follows: “Bei Titze [Franz Niklas Titze, 19th century] haben wir schon die völlige Zerstückelung der Metaphysik. Aber seine konstruktiv begabte Zeit forderte von der Kritik nun auch einen Neubau nach dem Abbruch, eine Restauration der ursprünglichen Metaphysik.” (Jaeger 1912) 8 acknowledges also that Brandis already interpreted the Metaphysics genetically (“genetische Auffassung”). Against this background, Jaeger presents himself as a strict analytic dissector, one who is not seduced by tendencies to harmonize genuinely detached parts of the Metaphysics, but who also has in view the historical circumstances and hence genealogy of the Metaphysics. On Jaeger’s self-stylization see Schütrumpf (1990) 214. Jaeger (1912) 10. Christ (1853) and Christ (1886). Rose (1886). Rose (1854). Jaeger (1912) 31 describes it as a “Corpus von Vorlesungsschriften … über verschiedene Problemgebiete der Grundwissenschaft” or (1912) 40 “ein Vorrat von Schriften, die von der Vorlesungstätigkeit, deren Substrat sie waren, durch Spuren unausgesetzter Umarbeitung und Wandlung (…) deutliches Zeugnis ablegen.” Jaeger (1912) 14– 37 and 63 – 89. Jaeger (1912) 38 – 62.
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denda.²³ Let us have a look at what Jaeger understands as a doublet. The Metaphysics contains passages that reappear elsewhere in the corpus Aristotelicum. Clear examples are Metaphysics Δ 2, which is, apart from minor textual differences, identical to Physics B 3,²⁴ and parts of Metaphysics A 9, which reappear (with minor textual changes) as Metaphysics M 4– 5.²⁵ In addition to those evident doublets, Jaeger points to further passages that, according to him, are alternative versions of the same account, written by Aristotle at different occasions and posthumously integrated into the Metaphysics ‘file’. Jaeger’s argument that A 10 is an alternative version of A 7 provides a good case study in which to explore how Jaeger treats these doublets. He points to striking similarities between the two chapters in their wording, structure, and function within book A.²⁶ Metaphysics A consists of two main parts (leaving aside the introductory chapters 1– 2). In the first part (chapters 3 – 6), Aristotle asks whether his predecessors found a cause that goes beyond the four causes he himself stated in the Physics. Aristotle concludes the investigation into earlier thinkers in chapter A 7, where he first recapitulates that none of his predecessors stated a cause that does not fall under the four causes,²⁷ then states that his predecessors expressed their views on causation obscurely (ἀμυδρῶς),²⁸ and finally bridges over to the next two chapters,²⁹ i. e. A 8 – 9, in which he critically engages those aspects of his predecessors’ theories (ἀπορίας) that are relevant for his own view on the matter of first principles.³⁰ Comparing this with A 10, Jaeger points out that in A 10, just as in A 7, Aristotle first states that no predecessor found a cause outside his own four cause Jaeger (1912) 114– 130. Jaeger (1912) 37. Jaeger (1912) 28 – 37. On the temporal priority of the A-passage over the M-passage see Jaeger (1912) 32– 33 and recently Primavesi (2012a) 412– 424. Jaeger (1912) 19: “Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich in A 10 eine zweite Fassung von A 7 erkenne.” Arist. Metaph. A 7, 988a20 – 22: ὅμως δὲ τοσοῦτόν γ’ ἔχομεν ἐξ αὐτῶν, ὅτι τῶν λεγόντων περὶ ἀρχῆς καὶ αἰτίας οὐθεὶς ἔξω τῶν ἐν τοῖς περὶ φύσεως ἡμῖν διωρισμένων εἴρηκεν, … / “but yet we have learnt this much from them, that of those who speak about principle and cause no one has mentioned any principle except those which have been distinguished in our work on nature, …” Cf. also 988b16 – 19. Arist. Metaph. A 7, 988a22– 23: … ἀλλὰ πάντες ἀμυδρῶς μὲν ἐκείνων δέ πως φαίνονται θιγγάνοντες. / “but all evidently have some inkling of them, though only vaguely.” Arist. Metaph. A 7, 988b20 – 21: πῶς δὲ τούτων ἕκαστος εἴρηκε καὶ πῶς ἔχει περὶ τῶν ἀρχῶν, τὰς ἐνδεχομένας ἀπορίας μετὰ τοῦτο διέλθωμεν περὶ αὐτῶν. / “Let us next discuss the possible difficulties with regard to the way in which each of these thinkers has spoken, and with regard to his views about the first principles.” Jaeger (1912) 16.
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scheme,³¹ then says that the earlier thinkers expressed themselves obscurely (ἀμυδρῶς)³² and finally, makes a transition to a further investigation into the problems (ἀπορήσειεν ἄν τις) that their theories pose.³³ In addition, A 10 seems to be silent about Aristotle’s critical discussion of Anaxagoras, Empedocles,³⁴ the Pythagoreans, and especially the Academic theory of Forms in the immediately preceding chapters A 8 – 9. This fact taken together with the striking parallels between A 7 and A 10 lend credence to Jaeger’s thesis. Of course, there are differences between A 7 and A 10, and Jaeger does point to these,³⁵ but he attributes them to the fact that Aristotle wrote the two pieces at different times. An especially important difference is that in A 10 alone we find in the final sentence not only a hint of the critical discussion of Aristotle’s predecessors in— according to Jaeger—A 8 – 9,³⁶ but also a reference to book B (“for perhaps we may get some help towards our later difficulties [= book B]”).³⁷ According to Jaeger, this reference reveals that A 10 was written later than A 7. Rather than seeing in it an indication that this chapter was meant to be the final chapter of book A, Jaeger interprets it as a later version of A 7 that Aristotle himself wrote when he intended to connect book A with B. For Jaeger, in fact, the original book A (without A 10) had been composed as an autonomous piece.³⁸ It was then, as Jaeger Arist. Metaph. A 10, 993a11– 13: Ὅτι μὲν οὖν τὰς εἰρημένας ἐν τοῖς φυσικοῖς αἰτίας ζητεῖν ἐοίκασι πάντες, καὶ τούτων ἐκτὸς οὐδεμίαν ἔχοιμεν ἂν εἰπεῖν, δῆλον καὶ ἐκ τῶν πρότερον εἰρημένων· / “It is evident, then, even from what we have said before, that all men seem to seek the causes named in the Physics, and that we cannot name any beyond these.” Arist. Metaph. A 10, 993a13 – 15: … ἀλλ’ ἀμυδρῶς ταύτας, καὶ τρόπον μέν τινα πᾶσαι πρότερον εἴρηνται τρόπον δέ τινα οὐδαμῶς. / “but they seek these vaguely; and though in a sense they have all been described before, in a sense they have not been described at all.” Arist. Metaph. A 10, 993a24– 27: περὶ μὲν οὖν τῶν τοιούτων δεδήλωται καὶ πρότερον· ὅσα δὲ περὶ τῶν αὐτῶν τούτων ἀπορήσειεν ἄν τις, ἐπανέλθωμεν πάλιν· τάχα γὰρ ἂν ἐξ αὐτῶν εὐπορήσαιμέν τι πρὸς τὰς ὕστερον ἀπορίας. / “On such questions our views have been expressed before; but let us return to enumerate the difficulties that might be raised on these same points; for perhaps we may get some help towards our later difficulties.” Aristotle does refer to Empedocles in A 10, but in a way in which he could have referred to him after A 3 – 6. For another view on the matter see Cooper (2012) 339 – 343. Jaeger (1912) 19 – 20 speaks of different accentuations in the middle parts of A 7 and A 10. On this see Cooper (2012) 351– 354. Jaeger (1912) 17– 18 precisely distinguishes between the two mentions of aporiae in the last sentence of A 10. The words ὅσα δὲ περὶ τῶν αὐτῶν τούτων ἀπορήσειεν ἄν τις, ἐπανέλθωμεν πάλιν· refer to A 8 – 9, whereas the words τάχα γὰρ ἂν ἐξ αὐτῶν εὐπορήσαιμέν τι πρὸς τὰς ὕστερον ἀπορίας refer to book B. See Jaeger (1912) 17: “A 10 scheint dann auf den ersten Blick zu rekapitulieren, um mit dem letzten Satz zu den Problemen des B hinüber zu leiten.” Jaeger (1912) 20: “Andererseits gibt der Hinweis auf das nachfolgende B, der A 7 fehlt, uns den Wink, daß wahrscheinlich diese zweite Fassung zu A 7 erst im Hinblick auf die Anfügung dieses Problembuches entstanden ist, während doch ursprünglich das A eine für sich stehende
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speculates, only a redactor who misunderstood the final sentence of A 10 as a direct segue to book B³⁹ and who therefore placed A 10 at the end of book A.⁴⁰ Jaeger is eager to reveal the disjointedness of the parts of the Metaphysics, yet he defends these disjointed parts as having been written by Aristotle, who did not intend to bring them together in the way they are combined in our Metaphysics. It is for this reason, then, that Jaeger defends the authenticity of those parts of the Metaphysics that previous scholars regarded as spurious. K 1– 8 is an illustrative example of this.⁴¹ Even today the authenticity of K is still discussed among scholars.⁴² Jaeger argues extensively against Natorp’s claims that un-Aristotelian and Platonizing elements in K 1– 8 reveal it to be inauthentic.⁴³ Jaeger further discusses the objection against K’s authenticity put forward by Spengel, whose objection points to the un-Aristotelian particle combination γε-μήν, which appears seven times in K 2,⁴⁴ but nowhere else in the authentic part of Aristotle’s works. Jaeger likewise acknowledges these foreign linguistic traces in K 1– 8, but offers a different explanation for them, which can be seen as characteristic of his views on the Metaphysics as a whole. According to Jaeger, debates about the authenticity of K 1– 8 have to distinguish between the authenticity of its content and its form.⁴⁵ The content, as Jaeger argues by refuting Spengel’s claims, is a lecture by Aristotle.⁴⁶ The form of this lecture, however, together with its un-Aristotelian linguistic features, Jaeger explains by the fact that it had
Abhandlung aus sicherlich sehr früher Zeit gewesen sein muß, wie der Fortgang der Untersuchung erweisen wird.” Originally book B was intended to follow directly upon book A, but then, according to Jaeger, as late as in the first century BCE, α was inserted in between (on the status of book α ἔλαττον ἔλαττον see Jaeger (1912) 114– 118 and below). Jaeger (1912) 20; see also 38. In his exposition of chapter A 10, Cooper (2012) 339 argues against Jaeger’s thesis, taking A 10 as a recapitulation of chapters A 3 – 9 all together. K’s last four chapters (from the final passage of chapter 8, 1065a26, onwards) contain excerpts from the Physics. On K 1– 8 see Jaeger (1912) 63 – 89; on book α see Jaeger (1912) 114– 118. See Kenny 1983 and Rutten 1992, both using stylometric analysis and arguing for K’s authenticity. Aubenque 1985 argues for the inauthenticity of K on the basis of its content, Décarie 1985 for its authenticity, on the basis of style and content. See Natorp (1888); Jaeger (1912) 63 – 86; 86: “Die Bedenken und Einwände Natorps haben wir so wohl ohne Ausnahme behoben. … Wir haben somit das Recht, K 1– 8 als vollgültige Quelle aristotelischer Philosophie zu betrachten.” See Arist. Metaph. K 2, 1060a5, 1060a17, 1060a20, 1060b3, 1060b12, 1061b8, 1062b33. Jaeger (1912) 87. In (1923) 216, Jaeger reaffirms that K 1– 8 is “als Quelle aristotelischer Lehre (…) eine Urkunde von goldener Echtheit.”
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been written out for Aristotle by one of his students.⁴⁷ In Jaeger’s view, K 1– 8 is the manifestation of an Aristotelian lecture that, though differing in some respects from BΓE, can still be described as a doublet or shorter version of BΓE.⁴⁸ Jaeger assumes K 1– 8 to be earlier than BΓE.⁴⁹ Jaeger thus depicts Aristotle as having reworked his lecture notes over and over again, and the notes that have been collected and put together in the Metaphysics after his death included some of those that had been written out by his students.⁵⁰ Jaeger’s analysis of the Metaphysics with its diverse parts and peculiar features is closely connected to his understanding of Aristotle’s method of working and teaching and of what happened to Aristotle’s writings after his death. His particular methodological approach becomes apparent also in Jaeger’s analysis of book α. Jaeger takes book α, just as book Δ and book Λ, as an originally independent piece of Aristotelian philosophy that was added to the Metaphysics rather late. In the case of book α, according to Jaeger, we are dealing with the remnant of a transcript of an Aristotelian lecture written down by Pasicles, the nephew of Aristotle’s student Eudemus of Rhodes.⁵¹ Book α, thereby shares with K 1– 8 the fate of being a lecture transcript written by an Aristotelian student that later became part of the Metaphysics, even if the lecture that is represented by book α was originally an introduction to the Physics. ⁵² In the second part of his Studien zur Entstehungsgeschichte, Jaeger asks about the literary character of the Metaphysics. To that end he contextualizes his observations on the composition of the different parts of the Metaphysics made in the first part of his study by giving an account of the publishing practices in Aristotle’s time.⁵³ The works of Aristotle that have come down to us all bear the mark of the specific purpose for which they were written: teaching in the Lyceum. The recipients of Aristotle’s lectures were the members, and the members only, of the Lyceum. According to Jaeger, Aristotle’s works were ‘pub-
Jaeger (1912) 87: “Aber es finden sich unter diesen Schriftenmassen auch ὑπομνήματα, die von Schülern zu ich weiß nicht welchen Zwecken für den Meister angefertigt worden sind und nachher unter seinem Nachlaß kursieren, teils weil Aristoteles sie unter seinen Vorlesungspapieren aufgenommen hatte, teils weil spätere Redaktion des Nachlasses sie diesem eingegliedert.” That the sequence of BΓE leaves out book Δ shows, according to Jaeger, that Δ is an independent treatise (Jaeger (1912) 118 – 122), which was added to the Metaphysics perhaps only by Andronicus in the first century BCE (see Jaeger 1957 app. ad loc.). Aubenque (1985) argues for the opposite view. Jaeger (1912) 88 – 89. Cf. also Jaeger (1923) 174. I will come back to Jaeger’s dealing with book α below. Jaeger (1912) 131– 148.
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lished’ (ἔκδοσις) whenever Aristotle gave lectures,⁵⁴ and his students circulated their apographa within the school circle. Jaeger stresses that Aristotle’s lecture transcripts as well as the notes taken by the hearers were regarded as “school property”,⁵⁵ and so it easily happened that the notes that students had taken on Aristotle’s lectures were later compiled into a compendium together with Aristotle’s own notes. In any case, it is incorrect in Jaeger’s view to hold that Aristotle’s works such as the Metaphysics were ‘published’ for the first time only after Aristotle’s death. Jaeger’s analysis of the historical circumstances of Aristotle’s teaching furthermore allows him to reveal the genetic disposition of the Metaphysics as the result of Aristotle’s method of writing his lectures in the form of individual methodoi and logoi. ⁵⁶ Jaeger argues that our division of Aristotle’s works into books represents these originally individual treatises, which might share a common σκοπός and therefore might have been grouped together by Aristotle himself, but which were compiled under collective terms such as Ethica, Physica, Metaphysica only after Aristotle’s death. This process of compiling Aristotle’s methodoi together into (collective) works came to a conclusion, according to Jaeger, only in Andronicus’ time (first century BCE).⁵⁷ According to Jaeger’s reconstruction, the Metaphysics consists of 12 originally individual methodoi: A, B, Γ, Δ, E, Z–H, Θ, I, K 1– 8, Λ, M, N.⁵⁸ Jaeger distinguishes three different stages of compilation of these individual methodoi into larger groups. The primary compilation goes back to Aristotle himself, who already connected AΒΓΕ and probably also MN and I. These treatises were all parts of his main lecture course (“Hauptvorlesung”) on being.⁵⁹ Z and H (filling three rolls, but originally composed as one lecture unit) were reconnected in the secondary compilation, executed by Aristotle’s immediate successors. At the same stage, Θ was joined to ZH, and the whole group of ZHΘ was inserted into the ‘Metaphysics’ after E.⁶⁰ Later additions, such as the methodoi Δ, α,
Jaeger (1912) 143: “Aber die Publikation selbst, die ἔκδοσις, bestand bei beiden [Platon und Aristoteles] in der Vorlesung des λόγος durch den Verfasser.” Jaeger (1912) 142 describes it as “Gemeinschaftlichkeit geistiger Arbeit und geistigen ‚Eigentums’ in den geschlossenen Schulen”; on p. 144, he writes, “diese λόγοι sollen ἔσω bleiben, im Hause, am Herde der strengen Wissenschaft: Schuleigentum.” Jaeger (1912) 150 – 155. Jaeger (1912) 155 – 163. Jaeger (1912) 164– 174. Jaeger (1912) 109 – 112. Jaeger (1912) 168 – 169 points to the marks that this compilation process left behind at the end of book E. There, we find a free reproduction of the first sentence of book Z. Although already Christ (1886) VII (considering it a further example of reclamantes, on which see below)
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and K (and most likely Λ), go back to a tertiary compilation stage, executed by (or at the time of) Andronicus of Rhodes, in the first century BCE.⁶¹ In sum, according to the view presented in the Studien zur Entstehungsgeschichte, the Metaphysics is a later compilation of Aristotle’s lecture notes, most of which he originally had composed as independent methodoi. Jaeger points to numerous signs within the Metaphysics that are supposed to show the posthumous composition of the work, but also the authenticity of its parts. He furthermore reconstructs the historical circumstances, such as the writing and publishing practices in Aristotle’s school, which can explain many features of the Metaphysics as it is known to us. With this analysis, on the one hand, Jaeger presents himself as a modern and radical analytic who is free of any wish to depict the separate parts of the Metaphysics as a harmonious unity. On the other hand, Jaeger’s analysis strives for something more. In a sense, Jaeger offers a harmonious interpretation of the work such that he can claim that all its parts are to be regarded as authentic and that many of its peculiarities can be ascribed to Aristotle’s own teaching practice. With his Studien, Jaeger offers brilliant observations on individual passages and also general features of the Metaphysics. Yet Jaeger too quickly draws from his observations conclusions that are often too wide reaching, conclusions which in the end cast suspicions on his reconstruction. It is the boldness with which he claims to be able to explain the genesis of the Metaphysics and to know the precise conditions under which it developed that made scholars immediately question the text-history that he presents in this study.⁶²
3 Jaeger on the transmission of the Metaphysics Jaeger’s early study on the Metaphysics’ genesis focuses on the production of the work by Aristotle, his students and later redactors. Through this approach Jaeger strives to explain many features of the Metaphysics by looking at a very early point of the work’s history. In his 1912 study, he does not (apart from the emen-
pointed to this, it is Jaeger who interprets the final sentence of book E as a redactor’s attempt to connect book E with book Z. In his 1957 edition, Jaeger athetizes book E’s final sentence (as does Ross in 1924). Jaeger (1912) 170 – 174. For example, Paul Shorey (1913) 238 says in response to Jaeger’s interpretation of A 7 and A 10 (see above): “But he often finds such doublets where we probably have nothing more than the natural self-repetition of a hurried metaphysician possessed of some fixed ideas, but uncertain of his goal.”
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dations he discusses in his 1911 dissertation) yet analyze the Metaphysics text as a result of a transmission process that took place in the centuries after Andronicus (and his colleagues) produced the first edition of our Metaphysics. Jaeger does turn to this aspect of the history of the Metaphysics in two subsequent papers, published in 1917 and 1923, both entitled “Emendationen zur Aristotelischen Metaphysik”. In these papers, Jaeger discusses textual problems and suggests emendations, thereby forming his views on the more recent development of the Metaphysics text. His 1917 article deals, after some general remarks on the state of the text of the Metaphysics, with passages from books A–Δ, whereas the 1923 article treats passages from the following books (E–N). These two articles were written in the prospect of bringing forth a new critical editio minor of the Metaphysics for B. G. Teubner⁶³ and can therefore be seen as providing the editorial foundations upon which Jaeger’s later edition rests. In his 1917 article, Jaeger starts off by pointing to the current misconception that our text of the Metaphysics is uniform in character and that the matter of the work’s text is settled.⁶⁴ Jaeger claims that it is possible to reveal the earlier history of the Metaphysics text that lays underneath the uniform Byzantine edition (Π), on which our ‘vulgate’ text of the Metaphysics is based (as represented by the two manuscripts E, Parisinus gr. 1853, and J, Vindobonensis phil. gr. 100). Especially important witnesses for these earlier stages of the Metaphysics text are the ancient commentators, most of all Alexander of Aphrodisias (ca. 200 CE).⁶⁵ The text of the Metaphysics that Alexander used when writing his commentary bears witness to an exemplar that is much older than the Byzantine redaction Π (represented by E and J, and nowadays referred to as the α-version of the Metaphysics), in which Jaeger sees the basis of the text for our manuscripts of the Metaphysics. Jaeger claims that Alexander’s commentary helps us to recognize manuscript Laurentianus 87.12, Ab (representing what is today called the β-version of the Metaphysics), as a faithful witness to the Metaphysics text and, indeed, despite its occasional disfiguration, as an often more authentic witness
Jaeger had been commissioned to prepare a Teubner edition of the Metaphysics in 1916 (see Walzer (1959) 586 – 7 and Renehan (1990) 150). Jaeger (1917) 481: “Aber wie es Aberglaube wäre, von einer äußerlichen Einheitlichkeit der Textform unserer sophokleischen Tragödien auf das Alter und den Wert dieses Textes zu schließen … so ist auch bei Aristoteles diese schon an sich verdächtige Glätte nur trügerischer Schein, den die Textgeschichte aufdecken kann und muß.” Jaeger (1917) 482. With this Jaeger stands in a tradition of Metaphysics editors—whose most important representative is Hermann Bonitz—who proclaim the importance of Alexander’s testimony; yet, it seems that Jaeger was unsatisfied with the former usage of this important source.
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than the vulgate version in E and J.⁶⁶ With this view on the matter, Jaeger intends to uncover the true importance of Ab, whose value was underrated by Bekker and Bonitz.⁶⁷ Jaeger’s 1957 edition will be based on the three manuscripts E, J (together called Π), and Ab, which represent the two distinct branches in which the Metaphysics is transmitted to us. Wilhelm von Christ already regarded the manuscripts E and Ab as main representatives of the two branches of the Metaphysics text.⁶⁸ Yet after Gercke had discovered manuscript J (Vindobonensis phil. gr. 100) in 1892, and with it a second independent witness to the branch that E represents,⁶⁹ Jaeger was the first to collate fully this new independent witness to the Metaphysics and make use of its evidence.⁷⁰ Jaeger finally announces a future study on the relation of Alexander’s commentary and the versions in Π and Ab—a study that, as it turns out, Jaeger never brought to the public.⁷¹ Jaeger will state his view on the matter, however briefly, in the praefatio to the 1957 edition (on which see below). In the remainder of the 1917 article, Jaeger presents “samples of textual criticism” (“Proben der Textkritik”) in order to illustrate how much needs to (and can) be done to improve the Metaphysics text. Jaeger first detects phrases or passages that he explains as later incorporations of glosses, as well as other types of later additions to the text. He then presents newly identified lacunae and other types of corruption in the transmitted texts, for which he proposes sometimes
On the manuscripts of Aristotle’s Metaphysics see Harlfinger (1979) and below. Jaeger (1917) 482: “Erst durch Alexander wurde der Wert eines von der Vulgata sich isolierenden Zweiges der Überlieferung, mit welchem Bekker nicht recht etwas anzufangen wußte, und gegen den selbst Bonitz stets voreingenommen blieb, in das richtige Licht gerückt, der cod. Laur. 87,12 (Ab).” Jaeger is surprisingly silent about Christ, who based his edition of the Metaphysics (1886) solely on E and Ab, taking them as the representatives of the two branches of the transmission. Jaeger did not think very highly of Christ’s edition, calling it an “unimportant Teubner text” (Jaeger (1925b) 177). Christ (1886). Gercke (1892) 147. Jaeger (1917) 490 and Jaeger (1923a) 257– 258. Ross’ edition published in 1924 also made use of a complete collation of J (see Ross (1924a) clv; Ross himself collated parts of J in 1904 and later had it fully collated by S. Eustratiades). Jaeger (1917) 482: “Die nähere Untersuchung des Verhältnisses von Ab zu Alexander und beider zu der byzantinischen Recension Π, die einer anderen Stelle überlassen bleiben soll, beweist den hohen Wert Alexanders als Quelle für die antike … Überlieferung. … Die nächste Aufgabe der Kritik wird sein, Alexander sorgfältig durchzuinterpretiren und den Bestand der Lesarten aufzustellen, keine ganz einfache Sache, da man sich nie an das offen zutage liegende Material in den Lemmata oder den (…) sogenannten direkten Citaten halten darf, vielmehr durch peinliche Interpretation des umfangreichen Commentars erst jedesmal die von ihm vorausgesetzte Lesart feststellen muß.”
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daring, sometimes ingenious solutions. When reflecting on his own work in the introduction to his collected Scripta minora of 1960, Jaeger (1960) XVII describes his attitude as follows: Die Kunst der Emendation schien in der Philologie unserer Tage weitgehend verloren gegangen zu sein, teils weil das Beste durch frühere Generationen schon vorweggenommen war, teils aus Unbegabtheit für diese Dinge und abergläubischer Buchstabentreue, die sich für gesunden Konservatismus hält.
Jaeger’s strong impetus to improve the text by means of emendation and conjecture, which is so characteristic of his 1957 edition, is vivid already in his samples of 1917. In order to get a sense of Jaeger’s method, we should look at an example. In A 4, 985b4– 10, we read the following text:⁷² Aristotle, Metaphysics A 4, 985b4– 10⁷³ Λεύκιππος δὲ καὶ ὁ ἑταῖρος [5] αὐτοῦ Leucippus and his associate Democritus Δημόκριτος στοιχεῖα μὲν τὸ πλῆρες καὶ say that the full and the empty are the elτὸ κενὸν εἶναί [6] φασι, [λέγοντες τὸ ements, [calling the one being and the μὲν ὂν τὸ δὲ μὴ ὄν,] τούτων δὲ τὸ μὲν other non-being], but of these the full [7] πλῆρες καὶ στερεὸν τὸ ὄν, τὸ δὲ and solid being, the empty non-being κενὸν τὸ μὴ [8] ὄν (διὸ καὶ οὐθὲν μᾶλλον (that is why they say that what is is no τὸ ὂν τοῦ μὴ ὄντος εἶναί φασιν, [9] ὅτι more than what is not, because the void οὐδὲ τὸ κενὸν τοῦ σώματος), αἴτια δὲ is no more than the body); and they τῶν ὄντων ταῦτα [10] ὡς ὕλην. make these the material cause of things.
τὸ Ab Bekker Christ Ross, cf. Al.p , –, : οἷον τὸ Ε Bonitz Primavesi | τὸ δὲ κενὸν Ab Ross Jaeger Primavesi, cf. Al.p , (om. et στερεὸν et μανὸν) : τὸ δὲ κενὸν τε καὶ μανὸν Ε (τὸ δὲ κενὸν καὶ μανὸν EsEbVd Jc Christ) : τὸ δὲ κενὸν γε καὶ μανὸν Bekker Bonitz | τὸ κενὸν τοῦ σώματος E Ab Bekker Bonitz Christ Jaeger : τοῦ κενοῦ τὸ σῶμα Schwegler Ross Primavesi, cf. Al.p , – et Ascl.p , – : τὸ κενὸν τοῦ σώματος Zeller Diels || ὡς E edd. : γε ὡς Ab
Jaeger argues that the words τε καὶ μανὸν / “and the rare” (985b7) must be regarded as a later addition, because the term μανὸν (“rare”) is neither in accordance with the Atomistic nor the Aristotelian view on the full and the empty.⁷⁴ Jaeger (1917) discusses this passage on pp. 483 – 488. The Greek text follows Jaeger’s edition. Line numbers are added. The English translation is by Ross, but has been modified. The apparatus displays the readings in E and Ab (i. e. the manuscripts evaluated by Jaeger) and where appropriate additional manuscripts (drawn from the edition by Primavesi 2012b), information on the ancient commentators, and other editors. Jaeger (1917) 483 – 486. As Jaeger points out in 484– 485, the term κενόν cannot be taken as equivalent to μανόν—while the former is deprived of body, the latter presupposes the existence of a body as well as of the κενόν.
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Having looked at the philosophical aspect of the passage, Jaeger then looks at it from a philological perspective. Only E (and its derivatives) transmit the words τε καὶ μανὸν (985b7),⁷⁵ whereas Ab and the texts presupposed by Alexander and Asclepius do not attest to them.⁷⁶ The words τε καὶ μανὸν are thus to be regarded as a later addition to the original text, which is preserved by Ab and indirectly confirmed by the ancient commentators. The words should therefore not be read.⁷⁷ Previous editors (Bekker, Bonitz, Christ) had kept μανὸν;⁷⁸ yet, Ross in his 1924 edition did also follow the reading of Ab.⁷⁹ Concerning the sentence διὸ καὶ οὐθὲν μᾶλλον τὸ ὂν τοῦ μὴ ὄντος εἶναί φασιν, ὅτι οὐδὲ (sc. μᾶλλον) τὸ κενὸν τοῦ σώματος / “that is why they say that what is is no more than what is not, because the void is no more than the body” (985b8 – 9), Jaeger defends the reading as it is found in E and Ab, despite its apparent oddity.⁸⁰ Would we not expect it to read “because the body is no more than the void”?⁸¹ Jaeger’s argument for keeping the text is surprising. He adduces parallel passages from the Metaphysics and the Meteorology to show that the phrase οὐθὲν μᾶλλον / “no more than”, which is to be added in thought in line b9, sometimes actually means οὐθὲν ἔλαττον / “no less than”. Yet Jaeger’s parallel passages are not parallel enough to provide convincing evidence.⁸² Jaeger’s optimism in keeping the transmitted reading is not shared by any of the other Metaphysics editors, who proposed different solutions to the problem (see apparatus above). This is Jaeger’s view on the passage in 1917. In his 1957 edition, he makes one further modification and athetizes the phrase (b6) λέγοντες οἷον τὸ μὲν ὂν τὸ δὲ μὴ ὄν / “calling the one being and the other non-being.” In his apparatus, he briefly gives the following reason for his deletion: “sunt altera recensio verborum τούτων … 7 μὴ ὄν.” Thus Jaeger regards the phrase in question as a (shorter) double version of what is more explicitly said in the following words (b6 – 8): τούτων δὲ τὸ μὲν πλῆρες καὶ στερεὸν τὸ ὄν, τὸ δὲ κενὸν τὸ μὴ ὄν / “of these the full and solid being, the empty non-being.” Jaeger is right in that the phrase
J does not contain the first book of the Metaphysics. See Primavesi (2012a) 390 – 399. Jaeger (1917) 486. Cf. Primavesi (2012a) 446. See the apparatus above. Primavesi (2012b) follows Jaeger’s specific assessment that the words τε καὶ μανὸν are a later addition to the text and prints them in italics and brackets. Jaeger (1917) 486 – 488. Cf. Alex. In Metaph. 36,2– 3. These are Arist. Metaph. A 8, 990a14, Metaph. B 2, 996b33, Meteor. B 2, 356a15 – 16. See Ross (1924a) 139.
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appears like an odd anticipation (and hence reduplication) of what follows, much like a marginal comment that has crept into the text. It was Jaeger who first recognized this oddity. In doing so, he demonstrates a high sensitivity to (often inconspicuous) irregularities in the Metaphysics text—something that is apparent throughout his edition. Yet the conclusion he draws here points to something more. The words “altera recensio”, which he uses to describe the status of the phrase, hints to his larger theory about the history of the Metaphysics text that Jaeger is developing in these years. According to this theory, Aristotle’s lecture notes that were posthumously compiled (to become the Metaphysics) were full of remarks and additions from the frequent re-use for teaching. Such notes go either back to Aristotle himself or to his students and redactors of the text. According to Jaeger, the double versions of phrases or even whole sections in our Metaphysics (see the cases discussed above) lead us back to the text’s original status as one that is in constant flux. It was later redactors or compilers, then, who often included the double versions in the text.⁸³ Jaeger also points to several lacunae in the transmitted text and proposes conjectures for them;⁸⁴ in many cases, he is the first to detect a missing word or phrase in a passage. Yet sometimes Jaeger’s intuition leads him to make claims that seem to lack sufficient evidence. Jaeger’s method in detecting lacunae is often purely philological, that is to say, he refers to Aristotle’s general diction and formulations in parallel passages. For example, Jaeger argues for inserting the preposition ἐν in B 2, 996a23. The text as it is transmitted in our manuscripts reads (996a22– 23): τίνα γὰρ τρόπον οἷόν τε κινήσεως ἀρχὴν εἶναι τοῖς ἀκινήτοις ἢ τὴν τἀγαθοῦ φύσιν, … / “For how can a principle of change or the nature of the good be present in (or: pertain to) unchangeable things…” Jaeger argues that the preposition ἐν is missing in front of τοῖς ἀκινήτοις, and in his edition he prints: … εἶναι τοῖς ἀκινήτοις… With this reading, Aristotle’s question is then how there could be an efficient cause among unmovable things. If that is Aristotle’s question, then it is indeed very reasonable to have him express this thought by the Greek τοῖς ἀκινήτοις. Yet one might argue, as Ross did,⁸⁵ that Aristotle wants to ask how unmovable things could
This view on the matter of doublets that are attested in both branches (E and Ab) of the transmission will in certain ways come into conflict with other views that Jaeger holds about the genesis of the Metaphysics text, on which see below. Jaeger (1917) 491– 498. Ross (1924) 227– 228: “Jaeger argues that Aristotle would not have asked ‘how can unmoved things have a cause of movement?’, and that the meaning must be ‘how can there be among unmoved things one which causes movement in other things?’. He therefore reads ἐν τοῖς ἀκινήτοις, which may have been read by Alexander (…). But the argument in ll. 23 – 27 implies the
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have an efficient cause, and therefore chose the pure dative to express this thought.⁸⁶ Ross reads the text as it is transmitted, without the preposition ἐν.⁸⁷ However, Jaeger does not argue for inserting the ἐν on the grounds of a shift in sense, but on the grounds of the wording in (i) parallel passages in the Metaphysics and (ii) the paraphrase in Alexander’s commentary. Regarding the first set of evidence, he points to the way in which Aristotle expresses the same thought only a few lines below, where he says (996a27– 28): αἱ δὲ πράξεις πᾶσαι μετὰ κινήσεως; ὥστ᾽ ἐν τοῖς ἀκινήτοις οὐκ ἂν ἐνδέχοιτο ταύτην εἶναι τὴν ἀρχὴν …/ “and all actions imply change; so that in unchangeable things this principle could not exist …” Jaeger further points to a similar formulation that Aristotle gives in Λ 7, 1072b1: ὅτι δ᾽ ἔστι τὸ οὗ ἕνεκα ἐν τοῖς ἀκινήτοις, ἡ διαίρεσις δηλοῖ· / “That that for the sake of which is found among the unmovables is shown by making a distinction.” Regarding the second, Jaeger adduces Alexander’s paraphrase of the passage in question. Alexander paraphrases Aristotle’s words as follows (In Metaph. 181,35 – 37 Hayduck): πῶς γὰρ ἂν εἴη ἐν τοῖς ἀγενήτοις καὶ ἀκινήτοις αἴτιον ποιητικὸν καὶ κινητικόν; ἀλλ’ οὐδὲ ἡ τοῦ ἀγαθοῦ φύσις (…) ἐν τούτοις ἐστίν. / “For how could a productive, i. e. a moving cause pertain to things that are ungenerated and unmoved? But neither does the nature of the good, i. e. the end, thatfor-the-sake-of-which pertain to these things.”⁸⁸ One may question whether this evidence is sufficient to claim, as Jaeger does, that Aristotle wrote ἐν τοῖς ἀκινήτοις in line 996a23. Alexander could just have inserted the ἐν, as it is his job as commentator to elaborate on Aristotle’s phrases and expand them in a way that suits his own understanding of them. Although the parallel passages from the Metaphysics that Jaeger cites are strong, one might still argue that the slight difference in sense between these passages was intended. The construction of εἶναι + simple dative smoothly continues the construction in the preceding sentence, where we find ὑπάρχουσι + dative (“pertain to sth.”) (996a21– 22). One might therefore object to Jaeger that he tends to over-correct Aristotle. The view on the Metaphysics that Jaeger displays in his conjectural notes in the 1917 and 1923 articles and which is at the foundation of his 1957 edition can
question ‘how can unmoved things have a final cause?’, an ἐν τοῖς ἀκινήτοις in l. 27 only puts this in another way, ‘how can there be a final cause in the case of unmoved things?’” To put it grammatically, the question is whether the dative is taken as dative of the possessor (‘do unmoved things have an efficient cause?’), or as a locative dative (‘is there an efficient cause among unmoved things?’), which would (in a prose text) require the insertion of a preposition. Yet Ross later translates “be present in unchangeable things”. See Barnes (1984) 1574. Translation by A. Madigan.
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be captured as follows: we do not have a unified text of the Metaphysics that can be restored from our medieval manuscripts by means of recensio. What we have is, on the one hand, the version of a Byzantine edition represented by the manuscripts E and J, which together Jaeger calls Π. This version presents the text more or less as it was revised and edited by the hands of Byzantine scholars. On the other hand, there are traces of an earlier state of the text, attested to by the hitherto underrated codex Ab. In comparison to Π, the Metaphysics text in Ab is in a raw state, but includes some considerate corruption. Jaeger draws this conclusion from the fact that Alexander, bearing witness to an older version of the text, at many instances agrees with Ab, or with a reading that can be reconstructed with the help of Ab.⁸⁹ Jaeger stresses that the text of the Metaphysics poses the problem that the vulgate version of our manuscripts does not bring us any further back in time than to a Byzantine redaction.⁹⁰ Jaeger proposes to meet this challenge with two remedies: first, by evaluating Alexander’s commentary as a witness to a much earlier state of the Metaphysics text; second, by then emending the text to restore the original reading. There is a third remedy, which becomes more apparent in his 1957 edition, but which is implicit in these early writings on the Metaphysics text as well. This third solution is to see the text of the Metaphysics itself as the result of an Entwicklungsgeschichte—an insight that allows Jaeger in turn to explain quite a few of the textual peculiarities of the Metaphysics. ⁹¹
See, for example, the case discussed in Jaeger (1917) 499 – 500. Jaeger (1917) 518: “Es ist ein Wahn, wenn man sich der Hoffnung hingeben wollte, als könnte man in diesen so viel reicher als etwa die Poetik überlieferten Büchern durch eine wenn auch noch so extensive Durchforschung der mittelalterlichen Überlieferung etwas anderes wiedergewinnen als höchstens den Text der byzantinischen Editoren um das X. oder XI saec.” The implicitness of this idea is visible, for example, when Jaeger considers whether or not it is justified to see the intrusions in the Metaphysics text as additions that stem from Aristotle himself, who constantly reworked his lecture notes. See Jaeger (1923a) 270: “Es ist durchweg schwer zu sagen, ob solche Zusätze nachträgliche Randnotizen des Aristoteles selbst sind, was bei der Natur dieser Schriften nicht ausgeschlossen und in vielen Fällen noch nachweisbar ist, oder bloss erklärende Bemerkungen von Lesern.”
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4 Jaeger on the evolution of the Metaphysics in Aristotle’s thought Jaeger’s most influential study on Aristotle is his 1923 book Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung.⁹² In the first chapter (“Problem”), Jaeger describes his study as intrinsically connected to his editorial work on the Metaphysics. Yet he stresses that here philology remains in the background while the primary concern is the reconstruction of the development of Aristotle’s thoughts, which can be brought to light through a close philological analysis of his writings:⁹³ Es wird (…) eine erste und unabweisliche Aufgabe dieses Buches sein, an Hand der Reste der verlorenen Werke und durch die Analyse der wichtigsten Lehrschriften zuerst einmal zu zeigen, daß eine Entwicklung ihnen zugrunde liegt, wie denn die vorliegende Arbeit aus der Interpretation der Lehrschriften und Fragmente anläßlich der Herausgabe der Metaphysik entstanden ist. Die philologische Kritik tritt jedoch unmittelbar in den Dienst philosophischer Fragestellung, weil es sich nicht nur um die Erklärung des äußeren Zustandes der Schriften als solchen handelt, sondern darum, wie sich in ihm die treibende Kraft des aristotelischen Denkens offenbart.
Jaeger’s study rests upon the basic assumption that contradictions in Aristotle’s work point to different stages in the development of the philosopher’s
Jaeger’s study was quickly regarded as a classic, but it also immediately attracted many opponents. Cf. Dodds (1924). The English version of Aristotle. Fundamentals of the History of his Development (transl. by R. Robinson) appeared in 1934. Early critical discussions are, e. g. Shorey (1927); von Arnim (1928); Gohlke (1928) 79 – 89; Mure (1932) 253 – 274; Cherniss (1935). For more recent discussions of Jaeger’s influential approach to Aristotle see Lachtermann (1990), Wians (1996) and Rapp (2006). Jaeger (1923b) 5. Cf. also Jaeger’s assessment in his “Zur Einführung” (1960) XVIII: “…auch in den späteren textkritischen Arbeiten zur Metaphysik, die neben meinem grösseren Buch Aristoteles, Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, einhergingen, waltete dasselbe Verhältnis von Textkritik und Analyse, ja das Buch ist geradezu aus dem Ringen mit den schwierigen Problemen der Textüberlieferung jenes Werkes erwachsen. … Die ständige Arbeit an dem Text, zu dessen Herausgabe ich erst Jahrzehnte später kommen sollte, machte den geistigen Umweg der historischen Erfassung der philosophischen Art und Methode des Aristoteles unumgänglich, nicht bloss für die Metaphysik, sondern für dessen Pragmatien. Es musste von der inneren Form seines Philosophierens ausgegangen werden, aus der die scheinbaren Mängel der überlieferten Textgestalt und Komposition seiner Schriften sich erklären liessen. Sie waren das Produkt langjähriger wiederholter Arbeit an den Problemen und an ihrer uns erhaltenen mündlichen Darstellung für die Lernenden…”.
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thoughts.⁹⁴ According to Jaeger, such an intellectual development becomes especially apparent in Aristotle’s dealing with Plato and the Platonic principles.⁹⁵ Jaeger distinguishes three phases.⁹⁶ In the first phase—of which we can gather information only through the fragments of the dialogue Eudemus and the treatise Protrepticus—Aristotle was a whole-hearted follower of Plato’s doctrine. After Plato’s death, Jaeger identifies a second phase, in which Aristotle begins to depart from his teacher and to criticize the theory of Forms extensively and passionately.⁹⁷ Together with the scarcely preserved dialogue On Philosophy, it is the early parts of the Metaphysics, which Jaeger calls the Urmetaphysik, that provide evidence for Aristotle’s intellectual outlook in this period. Jaeger regards as early books A, α, B,⁹⁸ K 1– 8, M 9 – 10 and N.⁹⁹ In this earlier period, Aristotle regards metaphysics, still within a Platonic frame of mind and including himself among the members of the Academy (“we”),¹⁰⁰ as the study of the supersensible reality (“übersinnliche Wirklichkeit”).¹⁰¹ It is only in the third phase of his intellectual evolution, that Aristotle’s concept of what metaphysics is shifts from a study of transcendental to a study of immanent forms and thereby to a study on the various senses of being and on being qua being.¹⁰² Jaeger finds characteristics of this latest stage in books Ζ, Η, Θ, and M 1– 8, whereas he sees in E 2– 4
Such a developmental approach is in itself readily subject to objection (see Lachtermann (1990) and the discussions in Witt (1996) and Rapp (2006)) and is today rather out of fashion (cf., however, other forms of developmental interpretations of Aristotle’s philosophy defended by G. E. L. Owen, for which see Code (1996) and Witt (1996), or T. H. Irwin, for which see Witt (1996)). What I am concerned with here, however, is how Jaeger’s developmental approach on Aristotle’s thought influenced and shaped his own view on the textual history of the Metaphysics and its transmission. See Jaeger (1923b) 31– 36 and passim. See also Dorothea Frede’s paper in this volume, especially pp. 161– 167. On the problematic implications of this three-phase-model see Rapp (2006) 183 – 186. Jaeger (1923b) 199. According to Jaeger (1923b) 221– 222, parts of book B have been revised and adjusted in the later phase and to the terminology and understanding of the Metaphysics predominant in it. See Jaeger (1923b) 175 – 181, 194– 195, 203 – 204. Jaeger (1923b) 179 – 181. Already in (1912) 32– 33 Jaeger draws attention to the fact that Aristotle more than once includes himself among the adherents of the theory of Forms by using first person plural forms (“we are maintaining the theory of Forms” in 990b9, “we assertors of the Forms” in 990b16). Jaeger sees in this use of words of Aristotle an important clue about his intellectual development. See especially Jaeger (1965). Yet one might ask whether this tells us something about Aristotle’s expected audience rather than about his allegiance with his teacher. Jaeger (1923b) 217– 223. Jaeger (1923b) 223 – 228.
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the intention to provide a link between the two parts that resulted from different phases.¹⁰³ Book Λ, originally composed as an independent lecture (“Einzelvortrag”), contains the complete system of the Metaphysics. Jaeger dates it (with the exception of chapter 8)¹⁰⁴ to the earlier, Platonic phase of the Metaphysics. ¹⁰⁵ The first part deals with sensible reality, the second contains Aristotle’s theology, namely, his replacing of dualism by the “absolute monarchy of mind”.¹⁰⁶ Jaeger further points to passages in Λ that are similar to passages in book N, and concludes that Aristotle used the early book N when composing the lecture Λ.¹⁰⁷ Comparing Jaeger’s claims about the development of the Metaphysics with the results of his 1912 study, the following conceptual difference comes to light.¹⁰⁸ In 1912, Jaeger’s focus is on the genesis of the Metaphysics as a (in part posthumously) combined compilation of Aristotelian lecture notes—and therefore on the history of the text and the ‘book’ of the Metaphysics. In 1923, Jaeger is interested instead in the genesis of the work in respect to the development of Aristotle’s thoughts on being. Rather than asking how and when the different books of the Metaphysics were combined, he is now asking how and when the different thoughts and arguments expressed in them were conceived in Aristotle’s mind. Here, in his 1923 work, Jaeger wants to connect the different strata (“Schichten”) of the Metaphysics with different phases of Aristotle’s intellectual evolution.¹⁰⁹ Although there is a clear shift in perspective, Jaeger’s results of 1923 do have important implications on his editorial work on the text.¹¹⁰ For, Jaeger begins to detect signs of Aristotle’s evolution of thought not just in the different views expressed in various parts of the Metaphysics, but in the very text-material that has
Jaeger (1923b) 211. According to Jaeger (1923b) 367– 373, since Λ 8 assumes a plurality of unmoved movers, the chapter belongs to the last stage of Aristotle’s development (see Frede (1971) 66 – 70). Jaeger (1923b) 230. Jaeger (1934) 227; Jaeger (1923b) 236. Jaeger (1923b) 231– 236. For Jaeger’s own reflections on the relationship of the two studies see (1923b) 172– 173. The results that Jaeger attains by looking at the Metaphysics from these two different perspectives overlap at certain points; e. g. the parts of the Metaphysics that Jaeger in 1912 attributes to the torso of the compilation, such as books A and B, reveal themselves as having been composed early in Aristotle’s career. Since the perspective of the two studies diverges, however, books that turn out to have been composed late can still be an integral part of the Metaphysics compilation, since they were grouped together with early books by Aristotle himself, such as AΒΓ and MN. As pointed out above, Jaeger’s edition of the Metaphysics was originally planned to be finished and appear about this time.
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come down to us. This means, for example, that Jaeger is now interested in identifying passages that can be explained as later additions by Aristotle himself, such as E 1, 1026a23 – 32. According to Jaeger, Aristotle added this passage in order to discuss and possibly remove a contradiction between the two conceptions of metaphysics which he had given so far:¹¹¹ In Γ 1 (and E 1), Aristotle presents first philosophy as the study of being qua being and, due to this universal scope, as distinct from all other special sciences; yet, in E 1, he defines first philosophy by its specific subject matter, namely, unmoved transcendent being, thereby making it a special science after all. Jaeger claims that it is undeniable that these two conceptions of metaphysics come from two very distinct trains of thought (“zwei grundverschiedene Gedankengänge”) – the first conception (metaphysics as special science) reveals its Platonic background, while the second (metaphysics as universal science) is part of the last and most idiosyncratic developmental stage of Aristotle’s thought.¹¹² On Jaeger’s reconstruction, when Aristotle eventually became aware of the discrepancy between the two definitions of Metaphysics, he added E 1, 1026a23 – 32, a passage in which he tries (unsuccessfully from Jaeger’s point of view) to resolve the contradiction by declaring that metaphysics is universal because its particular subject matter is the very ‘first’ object and therefore comprehends all other kinds of being. What matters for my present purpose is not to argue for or against Jaeger’s attribution of supposed contradictions in the Metaphysics to different stages of Aristotle’s intellectual maturation process;¹¹³ rather, I aim to show how Jaeger here links two divergent research areas by connecting his interpretation of two distinct phases in Aristotle’s intellectual development with his own work as a textual critic. Jaeger identifies a passage of text as having been added by Aristotle himself at a later, more mature stage of his thought on metaphysics. And even more, according to Jaeger, this passage displays Aristotle’s awareness of the fact that his own intellectual development entails contradicting positions. In other words, it seems that, in Jaeger’s estimation, Aristotle’s intellectual development came to be reflected in the physical text of the Metaphysics itself. For Jaeger, therefore, the Metaphysics does not just contain arguments that stand in opposition to each other, but its very text brings to light the fact that Aristotle worked on it at different stages in his life. Such a connection between Jaeger’s hypothesis of an Entwicklungsgeschichte of Aristotle’s mind and an Entwicklungsgeschichte of the body of text is, as we will see, one of the most distinct features of Jaeger’s
Jaeger (1923b) 223 – 228. Jaeger (1923b) 227. On this crucial argument see Code (1996) 303 – 308. For an early criticism see Cherniss (1935) 265. See also Witt (1996) and Rapp (2006).
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edition of the Metaphysics. ¹¹⁴ Yet this is only one of two steps that Jaeger takes in applying his concept of Entwicklungsgeschichte onto the text of the Metaphysics.
5 Jaeger’s principles of editing the Metaphysics As Jaeger states in his 1923 paper on the Metaphysics text (see above), the difficulty of the times forced upon him a delay of the publication of his Teubner-edition of the Metaphysics. ¹¹⁵ This unfortunate delay becomes even more painful when in 1924 his English colleague Sir David Ross, who also worked on the Metaphysics text, publishes his new text.¹¹⁶ Jaeger writes two reviews of Ross’s edition, one in German (1925a) and one in English (1925b). Looking at what Jaeger says in response to the editorial work by Ross will help us to clarify Jaeger’s own conception of the task of editing Aristotle’s Metaphysics. In both cases, Jaeger prefaces his review with a statement about his own bearing in the field of editing the Metaphysics. In the English version, he plainly states: “for some years past I have had in readiness a critical edition of the text of the treatise. The need for such an edition is of course not removed by Ross’s work.”¹¹⁷ The important word here is “critical”. Jaeger implies that the edition he is preparing will, in contrast to Ross’s, be a critical edition of the text, that is to say, an edition based on a consideration of all extant manuscripts of the Metaphysics. For after Ross’s edition appears Jaeger abandons his original plan to base his edition on the three most important manuscripts E, J, and Ab, as well as the evidence in
Interestingly enough, Jaeger in his 1957 edition will not include the passage in E 1, 1026a23 – 32 among the passages that he marks (by double-brackets) as later additions by Aristotle himself. Jaeger (1923a) 263: “Ich lege nunmehr meine Beiträge zu den übrigen, z.T. wenig durchforschten Büchern der Metaphysik vor in der Hoffnung, damit einen gewissen Ersatz für die von mir seit Jahren vorbereitete Ausgabe zu bieten, die durch die Zeitverhältnisse am Erscheinen verhindert wird. Sie kann durch die Verzögerung gewiss nur gewinnen, wenn das nonum premature in annum auch unfreiwillig längst an ihr erfüllt ist.” The Teubner-edition had been commissioned in 1916 (Walzer (1959) 586). Jaeger (1925a) 5: “Das Bedürfnis nach einem kritisch begründeten Text [der Metaphysik] … soll befriedigt werden durch die von mir seit Jahren vorbereitete Ausgabe, die durch die Ungunst der Kriegsverhältnisse zunächst unmöglich geworden schien, seither aber wieder aufgenommen werden konnte und in absehbarer Zeit zum Abschluß gebracht werden wird.” Jaeger’s next remark contains a certain irony of fate. He says: “but perhaps he [Ross] is himself undertaking a smaller edition for the Oxford Classical Series.”
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the ancient commentaries (because this was exactly what Ross did).¹¹⁸ He alters his plan so that he would now prepare an editio maior, a full critical edition based on all available manuscripts. It is this new plan of preparing a critical edition that makes Jaeger highlight in his 1925 review the importance of the remaining Metaphysics manuscripts (deteriores), which Ross had not taken into account, and even question the two-branch theory of the transmission of the Metaphysics. ¹¹⁹ Things do not go according to plan, though, since Jaeger’s idea for a critical edition is cancelled out by the temporum iniquitas. ¹²⁰ The other views on the transmission of the Metaphysics that Jaeger expresses in his reviews are less contingent on his changing editorial plans, and are in agreement with his earlier stance on the matter: E and J are both representatives of a Byzantine diorthosis (Π) and present the text in a revised form. Ab, on the other hand, “though extremely faulty … goes back … to an ancient recension which alone offers the right reading in many places.”¹²¹ The exemplar Π contained marginal glosses including some of the readings in Ab. Alexander’s commentary holds a position “intermediate” between the other two versions of text.¹²² In this respect, Jaeger follows Ross’s view, even in his wording.¹²³ In fact, Ross and Jaeger share the view that the separation of the two versions of the text of the Metaphysics happened at a time before Alexander.¹²⁴ However, Ross does not go so far as Jaeger will when the latter claims that Alexander had both versions at his disposal. Between Jaeger’s assessment of Ross’s edition of the Metaphysics and the appearance of his own lay more than 30 years. Within these years, the Second World War takes place, and Jaeger immigrates to the United States;¹²⁵ he com Jaeger (1957) v: fuit tum hoc mihi consilium, ut hos tres codices diligenter conferrem necnon commentaria Alexandri Aphrodisiensis et reliquorum interpretum graecorum quam accuratissime iterum excuterem. Jaeger (1925b) 178: “A ‘critical edition’ of the Metaphysics cannot refuse place to the deteriores any more than an editor of Aeschylus or Sophocles can be found to-day to take his stand solely on the Laurentianus. A reduction of the deteriores to the two traditions mentioned is impossible. … Thus it is hardly open to doubt that the text of the Metaphysics has come to us through more than two channels.” (emphasis added) There is no comparable statement in Jaeger’s German review (1925a). Jaeger (1957) v. Jaeger (1925b) 177. See also Jaeger (1925a) 61. Jaeger (1925b) 177; Jaeger (1925a) 61: “Mischtext.” Ross (1924a) clxi: “Alexander (fl. 200 A.D.) represents a tradition intermediate between the two.” Ross (1924) clxiii: “The facts point to the existence in Alexander’s time of three texts of approximately equal correctness, represented now by EJ, Ab, and Alexander’s commentary.” On Werner Jaeger’s academic life in the US see Malgarini (1992).
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pletes works such as the three volumes of his Paideia and his monograph on Demosthenes. The next publication on the Metaphysics is in 1956, a short article in memory of Giorgio Pasquali, in which Jaeger discusses “contemporary evidence on the text of the first chapters” of the Metaphysics. This discussion sounds the bell for Jaeger’s edition that is to finally appear in the Oxford Classical Text Series in 1957. The short paper and even more so the praefatio of the edition indicate the editorial principles upon which Jaeger’s Metaphysics text rests. Jaeger bases his editio minor,¹²⁶ exactly as his editorial forerunner Ross, on the three direct witnesses E (Parisinus gr. 1853), J (Vindobonensis phil. gr. 100) and Ab (Laurentianus 87.12), with a very occasional look at the later manuscripts T (Vaticanus 256) and S (Laurentianus 81.1).¹²⁷ Jaeger refers to the common ancestor of E and J as Π, which he describes as a Byzantine edition. Ab is, according to Jaeger, the sole witness of another version of the text. He furthermore adduces as indirect witnesses (as Ross did) ancient commentators, most notably Alexander and Asclepius,¹²⁸ and the medieval Latin translation by William of Moerbeke.¹²⁹ In contrast to Ross, Jaeger could make use of the Arabic evidence for the Metaphysics text, since Maurice Bouyges published his critical edition of Averroes’s Long Commentary on the Metaphysics (Tafsīr Mā ba‛ad at-Tabī‛at) in 1938 – 1948 including a list of errores separativi between the Arabic version and the Greek version of the text.¹³⁰ Jaeger’s references to the Arabic evidence are limited to that list.¹³¹ The most significant aspect of Jaeger’s view on the two versions of the Metaphysics, represented by Ab on the one hand, and Π on the other, is his argument that it is possible to trace their origins back as far as to Aristotle’s desk itself. Jaeger holds that Π was revised by Byzantine scholars, yet that it goes back to an ancient Peripatetic edition, whose history Jaeger finds revealed by a scholium in E that is placed at the end of Theophrastus’ ‘Metaphysics’ (which follows Ar-
The term editio minor does not imply a value judgment, but still Renehan (1990): 147 reassures “it has … every right to be pronounced a major edition.” Both T and S belong to the same branch of tradition as E and J. See Harlfinger (1979). In his 1956 article, Jaeger highlights the important role that indirect witnesses play in constituting the Metaphysics text. He discusses passages from the first book of the Metaphysics, where the indirect evidence in Alexander’s commentary, but also in Theophrastus’ writings or even Aristotle’s earlier works (esp. the Protrepticus) help to restore the text. Jaeger’s evaluation of the medieval Latin translations of the Metaphysics is restricted to the one by William of Moerbeke. Since the first critical edition of all four extant Latin translations of the Metaphysics by Gudrun Vuillemin-Diem (published between 1970 and 1995) we know that William used J as his main source manuscript. Cf. Primavesi (2012a) 403 – 405. Bouyges (1952) CLXI–CLXXV. See also Jaeger (1957) xx and Primavesi (2012a) 399 – 403. Primavesi (2012a) 402. Cf. also Walzer (1959) 587– 588.
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istotle’s Metaphysics in E).¹³² The scholium states (among other things) that Andronicus did not know Theophrastus’ ‘Metaphysics’.¹³³ From this statement, Jaeger infers that E stems from an edition that had augmented Andronicus’ edition with Theophrastus’ work.¹³⁴ Therefore, Jaeger calls the edition ‘Andronicum auctum’. He furthermore considers it a likely possibility that book α was added to this version of the Metaphysics together with and as late as Theophrastus’ work, since the name α ἔλαττον – Little Alpha – reveals that it was included in the Metaphysics only after the other books had already received their place and name.¹³⁵ The other version, represented by Ab, contains at the ends of certain books the first words of the following books,¹³⁶ as was first pointed out by Christ.¹³⁷ These so-called reclamantes are traces of an ancient papyrus edition, in which they functioned as catchwords that would help to identify the right roll. This leads Jaeger to conclude that Ab goes back to an edition of a time before the codex had replaced the papyrus roll at about 400 CE.¹³⁸ Regarding Ab’s relationship to the text that Alexander used, Jaeger states that (as was first indicated by Bonitz) Alexander confirms several of the readings in Ab against the reading in E.¹³⁹ This fact, Jaeger points out, cannot be explained by a revision in which Ab would have been adjusted to Alexander’s commentary, because Alexander also oftentimes agrees with E against Ab.¹⁴⁰ From these observations, then, Jaeger concludes that Alexander must have had access to both versions of the text¹⁴¹ —and hence that Ab must be at least as old as the 2nd century AD, but was most likely extant already at the beginning of the common era or even before.¹⁴² The idea that Alexander already used both versions of the Metaphysics text has Jaeger (1957) vi. On the scholium see Gutas (2010) 9 – 25 and 158 – 159. See also Jaeger (1932). For a reevaluation of this view see Hecquet-Devienne (2004). Jaeger (1957) vii. See also Jaeger (1932) 290. I will come back to the problematic implications of this hypothesis below. Jaeger (1912) 181; Jaeger (1957) ix–x; Primavesi (2012a) 390 – 391. Christ (1886) VII. Jaeger (1912) 181; Primavesi (2012a) 393; Kotwick (2016) 4– 5. That this terminus ante quem holds not just for Ab, but the whole of what is now called the β-tradition of the Metaphysics, was first pointed out by Alexandru (2000). Jaeger (1957) ix. Jaeger (1957) ix. Jaeger here does not consider the possibility that someone adjusted Ab to Alexander’s commentary only selectively. On the question of contamination of the β-branch by Alexander’s commentary see Primavesi (2012a) 424– 439 and Kotwick (2016) 207– 241. Jaeger (1957) x: Al certe suo usus iudicio utramque versionem adhibuit. Jaeger (1957) x: si autem Al hac recensione saeculo II usus est, apparet eam initio aetatis Christianae exstitisse, nisi fuit etiam antiquior.
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some rather important implications for Jaeger’s evaluation of Alexander as a witness to the text. For if Alexander could more or less choose between the readings given in (a predecessor of) Ab and in (a predecessor of) Π his testimony to one or the other does not necessarily point us to the older reading but to the reading Alexander liked most. Although Jaeger does not make these implications explicit,¹⁴³ he inevitably decreases the value of the readings testified by Alexander’s commentary. Yet Jaeger finds himself forced to assume that the versions represented by Π and Ab were both extant at Alexander’s time, because he wants to trace both versions back even further in time, that is, to Aristotle’s life time or to a time shortly after his death. In other words, Jaeger fancies the idea that the two Metaphysics versions that have come down to us reflect Aristotle’s teaching methods and in a way the situation on Aristotle’s own desk. As Jaeger argued in 1912, since Aristotle constantly rewrote his lecture notes, it seems almost natural to attribute the phenomenon that our two versions often offer two different, yet viable readings¹⁴⁴ to the fact that more than one version of Aristotle’s lecture notes were found after his death.¹⁴⁵ Jaeger connects the version represented by Ab with the first edition that, as Asclepius informs us, was prepared by Aristotle’s student Eudemus of Rhodes.¹⁴⁶ Eudemus, so Jaeger speculates, used another version of the text than the version Andronicus used and which later would become Π.¹⁴⁷ With this explanation of the two divergent versions of our Metaphysics, Jaeger seems to apply his idea of an Entwicklungsgeschichte of the Metaphysics in Aristotle’s mind not just to the constitution of the Metaphysics as a ‘book,’ as pointed out above, but even to the transmission of the work in (two) different versions, which, according to Jaeger, correspond to the developmental story he tells about the Metaphysics’ origins.
It seems to be implicit when Jaeger (1957) xi writes: quae Al non interpretatur neque legisse videtur, maiorem igitus fidem habebat hoc loco versioni Ab. Jaeger (1957) xi describes the version in Ab as often expressing the same thought as the version in Π, but shorter. Jaeger (1957) xi: sed magis credo potius utramque versionem vere Aristotelis esse, nam consentaneum est eum multa addidisse, cum has σχολάς, ut rei natura fert, iterum et saepius coram discipulis legeret. … nec vero Ab omnibus locis puriorem vel antiquiorem memoriam praebet quam Π, sed complures versiones plus minusve politas vel correctas ἐν κηρῷ ab Aristotele relictas esse veri simile est. See also Jaeger (1957) xvii. Asclepius, In Metaph. 4,4– 16 Hayduck. See also Jaeger (1912) 175, where he had taken a more skeptical view on the evidence given in Asclepius’ commentary: “Was die Kommentatoren von einer Redaktion der Metaphysik durch Eudem wissen, macht einen wenig zuverlässigen Eindruck, wenigstens der Bericht bei Asklepios.” Jaeger (1957) xi.
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By holding that Aristotle’s methods of working and teaching resulted in the existence of more than one version of the same lecture course, Jaeger expands on the view envisioned already in his Aristoteles (1923). He maintains the view that Aristotle’s teaching left traces in the very format of these versions, and so he sees the Metaphysics text as full of parenthetical remarks and examples that Aristotle added over the course of time to his lecture materials.¹⁴⁸ These sentences or paragraphs that Jaeger marks as later, though often authentic, additions to the Metaphysics are one of the most distinct features of Jaeger’s edition. Most significant are the additions that Jaeger claims to have been made by Aristotle himself, which he indicates by means of double brackets (“[[…]]”).¹⁴⁹ A typical example of an addition that Aristotle made himself and in which Jaeger sees the teacher at work is the very first one, given in A 1, 981a11– 12.¹⁵⁰ Aristotle describes it as a matter of art (techne) rather than experience (empeiria) when a doctor recognizes that for all patients of a certain constitution a certain cure has shown to have a healing effect.¹⁵¹ In the text of Π, we find two examples of such classes of patients, marked by a certain constitution: “e. g. to phlegmatic or bilious people when burning with fever.” In the version represented by Ab, this illustrative remark is absent.¹⁵² According to Jaeger, Aristotle included this Jaeger (1957) xi. I already discussed an example of such an addition by Aristotle above, p. 192– 193. On these Jaeger writes in (1923b) 175: “Jede dieser Urkunden eines jahrzehntelang unablässig mit den gleichen Fragen ringenden Nachdenkens repräsentiert einen fruchtbaren Augenblick, eine Stufe der Entwicklung, ein Stadium der Lösung, einen Anlauf zu neuer Formulierung.” Apart from that, Jaeger detects additions, especially in Π, which he does not attribute to Aristotle himself, but rather to the intrusion of marginal glosses added in the course of the transmission by someone other than Aristotle. See Jaeger (1957) x. These additions to Π (which is called the α-version today) are especially interesting in light of Primavesi’s thesis that α contains several later and inauthentic “α-supplements” (see Primavesi (2012a) 439 – 456). On this passage see Jaeger (1957) x–xi and Primavesi (2012a) 436 – 437. Arist. Metaph. A 1,981a10 – 12: τὸ δ᾽ ὅτι πᾶσι τοῖς τοιοῖσδε κατ᾽ εἶδος ἓν ἀφορισθεῖσι, κάμνουσι τηνδὶ τὴν νόσον, συνήνεγκεν, [[οἷον τοῖς φλεγματώδεσιν ἢ χολώδεσι [ἢ] (ἢ del. Jackson) πυρέττουσι καύσῳ,]] τέχνης. / “But to judge that it has done good to all persons of a certain constitution, marked off in one class, when they were ill of this disease, [[e. g. to phlegmatic or bilious people when burning with fever,]]—this is a matter of art.” As to the evidence in Alexander’s commentary, who in fact seems to have found the medical examples in his text (In Metaph. 5,5 – 7 Hayduck), Jaeger says in his praefatio that Alexander non interpretatur neque legisse videtur the examples given in Π. In order to fully understand what Jaeger means here one also has to take into consideration his subsequent explanation that Alexander maiorem igitur fidem habebat hoc loco versioni Ab and his remark in the apparatus criticus ad loc, where he actually states exempla legit Al Ascl. Primavesi (2012a) 436 – 437, disregarding these additional statements, holds that Jaeger wrongly claims that Alexander did not find the line in question in his text. However, what Jaeger actually means is that Alexander,
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explanatory addition at some later time and, presumably, only in the version that later would become the exemplar of Andronicus’ version and hence Π. Jaeger marks 23 such [[…]]-additions in his text:¹⁵³ 19 of them are found in both versions, two of them are found in Π only, and two in Ab only. The diversity in the occurrence of these notably Aristotelian additions raises the question of how we are supposed to imagine that many were included into the text of both versions, but some only in one of the two. If the two versions were distinct already among Aristotle’s lecture material, it seems strange that some of his own later additions were made (by Aristotle himself?) in both versions, whereas others occur only in one of the two. It seems that Jaeger’s enthusiasm for detecting later Aristotelian additions in the text as part of its Entwicklungsgeschichte made him overlook the complications that such detection brings about for the explanation of their origins. In highlighting this difficulty, we are touching upon a more general tension within Jaeger’s theory of the textual history of the Metaphysics, in which he blends his own developmental analysis of Aristotle’s thought with the reconstruction of the text’s history and even its transmission. This tension becomes apparent also at another point of his explanation, even if Jaeger shows himself aware of it and in fact offers a solution to it. In his praefatio, Jaeger pushes the time when book α ἔλαττον was included in the Metaphysics compendium to a point when all the other books were already combined and labeled. Jaeger speculates about whether it may even have been after Andronicus had prepared his standard edition.¹⁵⁴ This speculation, however, immediately raises the question of how it then happened that book α is included in both versions Π and Ab of the Metaphysics. Jaeger has an answer ready: There has been a considerate amount of contamination between the two versions, in the course of which the versions were adjusted to each other as far as book number and content are concerned.¹⁵⁵ However, this explanation is uneconomical. For in order to explain the divergence between the two versions as a result of early separation, Jaeger has to explain their actual congruence as the result of later contamination. What about the evidence provided by Alexander’s commentary, which Jaeger promised to evaluate thoroughly for his edition? It was Bonitz in the middle of
since he had both versions at his disposal, was indeed aware of the existence of the examples in the Π-version, but decided to follow, i. e. to read the text according to the Ab-reading. Cf. the list in Renehan (1990) 155 – 156 n. 30. Jaeger (1957) vii. Cf. my comments above. Jager (1957) xii: exstant et alia vestigia, quae breviorem recensionem [i. e. Eudemus’ version, represented by Ab] ad ampliorem [i. e. the version represented by Π] postea assimulatam esse ostendunt, velut librorum ordo et numerus qui in omnibus nostris codicibus iam idem est.
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the 19th century who made the first important steps toward a proper evaluation of Alexander’s commentary as an indirect witness to the Metaphysics text.¹⁵⁶ Jaeger and Ross continue on this path and pay particular attention to the evidence stored in Alexander’s comments on the text. Many of Jaeger’s, in Walzer’s words, “stimulating and thought provoking suggestions”¹⁵⁷ are in fact inspired by Alexander’s commentary.¹⁵⁸ For example, Jaeger is the first editor who takes seriously Alexander’s testimony to the opening of book α ἔλαττον. Alexander testifies indirectly that his own Metaphysics exemplar reads the conjunction ὅτι as the very first word of book α (α 1, 993a29 – 30).¹⁵⁹ Rather than reading Ἡ περὶ τῆς ἀληθείας θεωρία τῇ μὲν χαλεπὴ τῇ δὲ ῥᾳδία (“The investigation of the truth is in one way hard, in another easy”), as we find it in our manuscripts, Alexander’s text reads ὅτι ἡ περὶ τῆς ἀληθείας θεωρία… (“That the investigation of the truth …”) as the first words of α ἔλαττον. As Jaeger rightly points out in his apparatus criticus, the word ὅτι marks book α as an excerpt,¹⁶⁰ since ὅτι in the initial position of a text signals that it is an excerpt taken from another context.¹⁶¹ We might all agree that it was most likely not Aristotle himself who wrote ὅτι and so it is not the ‘original’ reading, but the evidence in Alexander’s commentary clearly indicates that this was the older reading, which most likely and quite understandably had been deleted in the text of our manuscripts. In taking Alexander’s
In 1847, Bonitz prepared the first edition of the entire commentary transmitted under Alexander’s name. He furthermore was the first editor of the Metaphysics who made ample use of the evidence available in Alexander’s commentary. Walzer (1959) 588. Cf. e. g. A 2, 982b23, A 8, 989b20 – 21, α 1, 993b17, α 1, 993b27, B 2, 996b19 – 20, B 3, 998b21, B 3, 999a19, Γ 4, 1008a25 – 26, Γ 7, 1011b35; Δ 15, 1021a3. I do not include here any examples from the text of books E–M, in which Jaeger’s conjectures are based on the evidence of Ps.-Alexander, i.e. Michael of Ephesus, who is the author of books E–N of “Alexander’s” commentary on the Metaphysics. On this see below. Alex. In Metaph. 138,26 – 28 Hayduck: Γράφεται καὶ χωρὶς τοῦ ὅ τ ι , ἡ περὶ τῆς ἀληθείας θεωρία· καὶ μᾶλλον δοκεῖ ἐκεῖνο ἀρχὴ εἶναι, τὸ δὲ μετὰ τοῦ ‘ὅτι’ οὐκ ἀρχὴ ἀλλ’ ἑπόμενον προειρημένῳ τινί. / “This text is also written without ὅτι, thus: ‘The investigation of the truth’. And this reading seems more clearly to be a beginning [of the book], whereas the one introduced by ὅτι is not a beginning, but a sequel to something said before it.” (transl. by Dooley, but modified.) See also Alex. In Metaph. 137,2– 5 Hayduck. For a more detailed discussion of this passage see Kotwick 2016: 78 – 83. Jaeger 1957: 33 vel excerpta vel notas indicat. There are various examples of this usage of ὅτι in preserved ancient Greek works. For a helpful overview of the different usages of ὅτι at the beginning of a passage see Reis 1999: 49 – 50. For examples see also Kotwick 2016: 82.
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testimony seriously, Jaeger restores the ancient reading and prints ὅτι in his text.¹⁶² Yet there are several cases where one can challenge Jaeger’s appeal to Alexander’s commentary as evidence for a more authentic text. In Γ 4, 1008a25, for example, Jaeger inserts in the Metaphysics text the words καὶ λίθος (“and stone”), which he claims to be testified by Alexander as the reading of his text. According to my view on the passage in Alexander’s commentary, Jaeger’s conclusion is quite daring. In the passage in question, Aristotle examines the absurdities that result from the denial of the principle of non-contradiction by pointing out that it would make everything one and the same—human being, God, trireme.¹⁶³ In Jaeger’s text, “and stone” () is added after trireme. In the apparatus, Jaeger justifies this addition by saying καὶ λίθος ex Alp addidi qui bis sic citat. When looking at the relevant passage in Alexander’s commentary (In Metaph. 295,25 – 26), we see that it is true that Alexander adds “stone” in his free paraphrase, which is not a citation, of this passage from the Metaphysics. Yet this by no means testifies that he read λίθος in his text, for it is his habit as a commentator to expand the examples given in Aristotle’s text. In fact, Alexander adds λίθος also when commenting on an earlier passage of Γ 4 (290,29 – 32), where Aristotle makes the same point by equating trireme, wall, and human being (1007b20 – 21). In that instance, however, Jaeger does not add to his text, although the state of evidence is exactly the same. Another problematic aspect of Jaeger’s usage of Alexander’s commentary deserves mentioning. Jaeger does not sufficiently distinguish between the authentic part of Alexander’s commentary, i. e., books A–Δ, and the inauthentic (in fact only Byzantine) part of the commentary, books E–N, which were written by Michael of Ephesus.¹⁶⁴ This is especially striking because the commentary by Michael was written only in the 12th century AD, that is, about 300 years later than our earliest Metaphysics manuscript J. Therefore, the textual evidence stored in Michael’s commentary is fundamentally different from the evidence in
After having identified book α as an excerpt, Jaeger continues in the apparatus: quod cum scholio de Pasicle huius libelli auctore consentit. With this remark, Jaeger links the excerpt character of the book to the so-called Pasicles-scholium, preserved in E. According to Jaeger 1912: 114– 8, this scholium together with Asclepius’ report that some doubt the authenticity of book α (Ascl. 113,5 – 9) evince that the book is in fact a transcript (ὑπόμνημα) by a student of Aristotle. Yet Vuillemin-Diem 1983 has shown that the scholium, which does not even refer to α but rather to A, is only based on a remark by Asclepius (Ascl. 4,17– 24). Arist. Metaph. Γ 4, 1008a20 – 27. See Byden (2005) 105 – 106.
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Alexander’s authentic commentary, written around 200 CE. Scholars as early as in the 15th century suspected the second part of Alexander’s commentary to be inauthentic.¹⁶⁵ Praechter 1906 showed it to be by Michael of Ephesus,¹⁶⁶ after Freudenthal in 1885 had already argued successfully that Ps.-Alexander did not even have access to the authentic commentary on books E–N.¹⁶⁷ Jaeger must have been aware, then, of the fact that the evidence he adduces as “Al.” on the text of books E–N differs significantly from the evidence of “Al.” on books A–Δ. Still, he adduces Michael’s late evidence in just the same way as Alexander’s,¹⁶⁸ not even mentioning the difference in his praefatio. ¹⁶⁹ On the whole, the evidence provided by Alexander’s commentary is at odds with Jaeger’s application of the Entwicklungsgeschichte to the textual history of the Metaphysics. In his last paper, published posthumously in 1965, Jaeger makes use of Alexander’s testimony on A 9, 991b3 and restores the authentic reading on the basis of Alexander’s comments, thereby reconsidering his decision on the passage in his edition.¹⁷⁰ This reconsideration of Jaeger, however, brings to the surface a tension inherent in his theory: on the one hand, Jaeger believes that the two versions Π and Ab go back to two different versions of Aristotle’s lecture notes, whose split he dates to a time as early as the fourth century BCE. On the other, Alexander in 200 CE had at his disposal (and through his commentary preserves) a more ancient or “purer text”¹⁷¹ of these two versions than our manuscripts. This raises the question of how it comes about that both versions (Π and Ab) share the same incorrect reading (λέγεται), whereas Alexander’s text(s) preserve(s) the correct reading (λέγομεν). If the corruption (λέγομεν ‘corrected’ to λέγεται) is later than Alexander, how do both versions Sepúlveda (1527) f. A.i.r. Praechter (1906) 863 n. 3 and 882– 907. Luna (2001) proved Praechter’s conclusions to be valid. Freudenthal (1885) 3 – 64 argues that the fragments of Alexander’s commentary on book Λ, which are preserved in Averroes’s Metaphysics commentary, are incompatible with the directly preserved commentary on book Λ. See e. g. the cases in Δ 29, 1025a5, H 3, 1044a4; K 6, 1063a37, b4. Jaeger does give some rather scarce hints of this difference in the apparatus of book Λ, where we have both the (Arabic) fragments of Alexander’s authentic commentary and Michael’s commentary. See e. g. the apparatus on Λ 1, 1069a32, where Jaeger makes his reader aware of the difference between the two ‘Alexander’: Al (qui dicitur): om. Al genuinus (sed γρ) apud Averroem et Them… In his 1923 article on the Metaphysics text, Jaeger uses both names, “Alexander” and “Ps.-Alexander”, to refer to Ps.-Alexander (see Jaeger (1923) 260 and 271– 272). Reading ἐν δὲ τῷ Φαίδωνι οὕτω λέγομεν (“In the Phaedo we say such”) instead of ἐν δὲ τῷ Φαίδωνι οὕτω λέγεται (“In the Phaedo it is said such”). In his 1957 edition, Jaeger reads the latter in the text, yet notes “λέγομεν Alexander Asclepius, an recte?” in the apparatus. Jaeger (1956) 408.
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share it? The answer can only be that in both versions—as separate as their transmissions were—the reading had been changed. Such a scenario is certainly possible, yet the hypothesis is uneconomical, since it requires several steps to explain the conjunctive error (Bindefehler) in Π and Ab as the result either of a later contamination between the two or independent corruption. Such an explanation is especially uneconomical when taking into account that the Metaphysics text contains several conjunctive errors between Π and Ab against Alexander’s commentary.¹⁷² However, Jaeger does not (in his unfinished and posthumously published paper) link his defense of the correct reading preserved in Alexander’s commentary and his own stance on the separation of the two versions outlined in his 1957 praefatio. In concluding this survey of Jaeger’s conception of the textual history of the Metaphysics, we can state that Jaeger applies his understanding of Aristotle’s intellectual development to the very format in which the Metaphysics is composed. This is made explicit in part by Jaeger himself.¹⁷³ However, there is a further step in Jaeger’s application, which is more implicit than explicit: the application of the idea of an Entwicklungsgeschichte of the intellectual development of Aristotle’s mind to the transmission process of the two versions of the Metaphysics text. This second step is taken only implicitly, because it conflicts, as pointed out above, with other evidence Jaeger himself adduces.
6 Some remarks on Jaeger’s edition of the Metaphysics from today’s perspective There has been a good deal of progress in the study of the text of the Metaphysics text since Jaeger published his edition in 1957.¹⁷⁴ In 1979, Dieter Harlfinger offered a complete stemma codicum of the manuscripts that contain the Metaphysics. ¹⁷⁵ His research has shown that Ab is not the only representative of what is now called the β-version of the text. There are four further independent manuscripts of the β-text.¹⁷⁶ What Jaeger called the Byzantine edition Π is now refer-
See Kotwick (2016) 99 – 124. Cf. Jaeger (1923b) 5 and Jaeger (1960) XVIII. Short overviews are offered by Byden (2005) 105 – 107, Primavesi (2012a) 387– 412 and Kotwick (2016) 1– 19. Harlfinger (1979). The fragment Y (Parisinus Suppl. 687), the mss. M (Ambrosianus F 113 sup.), Vk (Vaticanus gr. 115) and C (Taurinensis B.VII.23).
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red to as the α-version of the text.¹⁷⁷ In a way, then, Jaeger’s clear separation of two independent and divergent “versions” of the text has been confirmed. Yet his evaluation of these versions has been revised in more than one respect. Whereas Jaeger claims to have further rehabilitated the version of Ab (the β-version) as often preserving the older reading, recent studies, quite to the contrary, see the β-version as a revised version of the text, in which Aristotle’s text had been ‘smoothed out’ from sparse phrases still extant in α.¹⁷⁸ Parallel to this reevaluation of the β-version, the α-version has been taken as the more authentic witness to the text.¹⁷⁹ This is in a way opposite to Jaeger’s view that α is an edition that had been corrected in Byzantine times. On the other hand, Primavesi points to several later additions in the α-version (called “α-supplements”) and thereby speaks of instances of later interventions occurring to the α-version.¹⁸⁰ What about Jaeger’s application of his concept of an Entwicklungsgeschichte of the Metaphysics to the history of the text itself? Today’s reception of Jaeger’s developmental theory is characterized by a great doubt about the validity of such an approach to explaining possible contradictions within Aristotle’s writings. I argued above that Jaeger projects his developmental view on the work’s genesis in Aristotle’s mind onto the textual history of the Metaphysics. Should we then conclude that since the developmental view on Aristotle’s works is to be regarded as invalid, Jaeger’s claim that the two versions of the text go back to different stages in Aristotle’s teaching career is obsolete too? As a final point in this article I would like to provide a more substantive critique of Jaeger’s extremely early dating of the split of the two versions α (Π) and β (Ab). Jaeger’s thesis that the two manuscript versions of the Metaphysics go back to two different versions of Aristotle’s lecture notes met with approval early on. Walzer writes in his 1959 review of Jaeger’s edition: “It is a very attractive guess to derive the two families – through intermediates which most likely
E and J are not the only independent witnesses of the α-version. The α-branch that had been represented by J is to be reconstructed by J and the hyparchetype γ (constituted by eleven independent manuscripts). On this see Primavesi (2012a) 393. Frede/Patzig (1988) 13 – 17 first argued for this view on the basis of book Z. This has been confirmed in respect to book Γ by Cassin/Narcy (1989). Primavesi (2012a) 424– 439, concentrating on book A, adduces Alexander’s commentary as further evidence for the view that the β-version is the result of a revision process. Cassin/Narcy (1989) follow the α-version of the text in Γ wherever possible (and even in those cases, where it seems impossible, or at least not advisable). In his edition of book A, Primavesi (2012b) follows α in most cases of divergence between α and β. Furthermore, and as I argue in Kotwick (2016) 241– 266, Alexander’s commentary also influenced various parts of the α-version.
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we shall never know – from different phases in Aristotle’s lecturing activity.”¹⁸¹ Renehan (1990) 155, after quoting Walzer, states: “Such a revision of lectures is not a merely hypothetical situation; it has happened elsewhere in antiquity.” It seems quite reasonable to hold that in antiquity, just as today, revision was a scholar’s daily task in academic writing. One might raise doubts, however, about how clearly the results of such an authorial revision can be preserved through the long transmission process. And still, what makes Jaeger’s hypothesis highly doubtful indeed is not so much that it is obviously very speculative, but rather that it is inconsistent with the evidence that can be deduced from Alexander’s commentary. As I recently have argued in an extensive study on Alexander of Aphrodisias’ testimony to and influence on the transmission of the Metaphysics, Alexander’s commentary is the terminus post quem for the split of the common ancestor of α and β into these two versions.¹⁸² Since the common ancestor of α and β shows clear traces of contamination by Alexander’s commentary,¹⁸³ the two versions separated only after Alexander’s commentary became influential. Given that the β-version, as Jaeger himself pointed out, goes back to an ancient papyrus edition, which as a medium of literature was outdated by 400 CE, the time span in which the split into α and β could have occurred can be set between 225 and 400 CE. Therefore, Jaeger’s assumption that Aristotle’s intellectual development is intrinsically connected with and even mirrored by the two versions of the Metaphysics text can no longer be sustained. And so we can conclude that Jaeger’s enthusiasm for Entwicklungsgeschichte made him sacrifice Alexander as a textual witness. This holds true in more than one respect. Instead of writing a study on Alexander (as envisioned in 1917), Jaeger concentrated on the reconstruction of Aristotle’s intellectual development and having completed this task he fit Alexander into that same reconstructed picture. Furthermore, this procedure made Jaeger disregard a number of features in Alexander’s commentary that do not match up with Jaeger’s view—such as, for instance, the way that Alexander provides clues to the fact that he used only one text of the Metaphysics. That he knew both versions of the Metaphysics is also very unlikely because there are in total only two instances where Alexander seems to display knowledge about the two distinct readings in α and β in the sense that he knows both readings as clearly distinct versions of the text.¹⁸⁴ But
Walzer (1959) 588. Kotwick (2016). See Kotwick (2016) 178 – 206. See Alex. In Metaph. 347,19 – 25, 348,5 – 8 on Δ 1, 1013a21– 23 and Alex. In Metaph. 145,8 – 12, 19 – 146,4 on α 1, 993b22 – 24. For a detailed discussion of these passages see Kotwick (2016) 266 – 278.
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even these cases by no means force the conclusion that Alexander knew of both α and β. Rather, the evidence in Alexander’s commentary on the whole clearly points to a date of the split at a time after Alexander, rendering Jaeger’s projection of his idea of an Entwicklungsgeschichte onto the text untenable. This allows me to conclude that Jaeger’s edition is characterized in several ways by his own idea of the traceability of the intellectual development of Aristotle’s thought—not just in the content of the various parts of the Metaphysics, but even in the history and transmission of its very text. From today’s perspective, this approach appears untenable. What makes Jaeger’s edition nevertheless so valuable to readers of Aristotle’s Metaphysics—and what I have tried to illustrate by a few examples above—is his instinct for finding and pointing to problems and oddities in the argument and the text, as well as the (sometimes ingenious) way that he offers solutions and emendations for them. Jaeger’s studies on the Metaphysics as a whole points to the many challenges that this work poses to its readers. Most of the modern scholars and readers agree with Jaeger that Aristotle did not intend the Metaphysics as a composition in the form in which it is transmitted by our direct and indirect sources. However, we should not infer from this the bolder claim that it is possible to reconstruct securely the steps of Aristotle’s intellectual development and their expression in the different parts of the Metaphysics.
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Roberto Lo Presti und Philip van der Eijk*
Werner Jaeger und die antike Medizin Werner Jaegers Forschungen im Bereich der griechisch-römischen Medizin stehen in engem Zusammenhang mit seinen wissenschaftlichen Interessen an der antiken Philosophie und mit seinen breiteren bildungsgeschichtlichen und bildungspolitischen Vorstellungen im Rahmen des sog. Dritten Humanismus. Letzteres kommt vor allem in der Bedeutung, die Jaeger der Medizin im zweiten Band seiner Paideia zuschreibt, zum Ausdruck: Dieser wird der zweite Teil unserer Arbeit gewidmet sein. Zuerst aber sei auf Jaegers Beschäftigung mit der antiken Medizin in anderen Publikationen und auch kurz auf seine Rolle als Leiter des Corpus Medicorum Graecorum eingegangen, wobei insbesondere einige Aspekte seiner Interpretationen zur Geschichte der griechischen Medizin erörtert werden, die in der bisherigen Forschung weniger Beachtung gefunden haben.
I I.1 Der Pneuma-Begriff und seine Bedeutung für die antike Medizin und Philosophie Jaegers Interesse an der Schnittstelle zwischen antiker Medizin und (vor allem aristotelischer) Philosophie kommt schon in seiner frühen Schaffensperiode zum Ausdruck. In dem klassischen Aufsatz ‚Das Pneuma im Lykeion‘ (1913) konzentriert sich Jaeger auf die umstrittenen und von der damaligen Aristotelesforschung als marginal und sogar inauthentisch betrachteten psychophysiologischen Schriften De motu animalium und De spiritu, deren Bedeutung er rehabilitieren möchte (und von denen er im selben Jahr im Teubner Verlag eine kritische Ausgabe veröffentlichen wird).¹ Die Untersuchung dieser Schriften steht aber im Rahmen weitergreifender kulturgeschichtlicher Betrachtungen zur Rolle des Pneumabe-
* Der erste Teil dieser Arbeit stammt von Philip van der Eijk und wurde nach der Tagung im September 2013 überarbeitet und erweitert; der zweite Teil stammt von Roberto Lo Presti und stellt die leicht angepasste und gekürzte Fassung seines Aufsatzes „Werner Jaegers Paideia. Die Stellung der antiken Medizin in seiner Auffassung der Geisteswissenschaften“ dar, der als Lo Presti (2013) zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Der Alexander von Humboldt-Stiftung danken wir für die finanzielle Unterstützung des Forschungsvorhabens, aus dem diese Arbeit hervorgegangen ist. Jaeger (1913a). Über Jaegers allgemeinen Ansatz zur aristotelischen Philosophie besonders in Bezug auf die Metaphysik siehe den Aufsatz von Kotwick oben in diesem Band. DOI 10.1515/9783110548983-008
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griffs (der in den beiden Schriften prominent vertreten ist) von den frühesten Anfängen des antiken Denkens bis in die Spätantike und die frühchristliche Zeit. Mit der Geschichte dieses einzelnen Begriffs ist für Jaeger nämlich eine viel umfassendere Geschichte des menschlichen Denkens und Fühlens verbunden, wie aus den folgenden Zitaten hervorgeht:² Das naive Denken vorwissenschaftlicher Naturerfahrung erkennt aus dem Stillstand der Atmung, der die Schwelle zwischen Leben und Tod bildet, das innere Band, welches Leben und Atmen aneinander knüpft. Das unwiederbringlich Entfliehende, mit dem alle Bewegung und die Lust der immer regsamen Empfindung dem sterbenden Körper entweicht, ist der Gott des Lebens, und sein Wesen ist die Kraft des Hauches, das πνεῦμα. Es ist die Seele, und Seele ist Hauch (…). Kaum eine andere Lehre, welche die Philosophie aus der medicinischen Physiologie gezogen hat, wurde für diese Allianz ein stärkeres Bindeglied, aber auch keine für die rationale Psychologie, den Panpsychismus und die ganze Wissenschaft des spätern Altertums so fatal wie die vom Pneuma. Aus dem religiösen Vorstellungsnebel gewisser Volksschichten und aus der Orphik aufsteigend, okkupirte diese Anschauung das Gebiet der ältern Medicin mindestens seit Empedokles, bei dem ein reiner Forschergeist und die Phantastik der kathartischen Religion in einem Hirn beisammen wohnten. Sie griff in die Philosophie hinüber, am stärksten in die Psychologie des Diogenes, Demokrit, Aristoteles, Theophrast, ward dann durch die Stoa zum Weltprincip und zur allesdurchdringenden Gottheit erhoben, um durch die Verbindung hellenistischer Popularphilosophie mit dem Aberglauben der Menge endlich wieder in die dumpfe Sphäre der sakramentalen Spekulation und der Konventikelreligionen des hellenistischen Vorderorients hinabzusinken, aus der erst die lebensvolle Deutung des Paulus von Tarsos sie wieder hervorzog und ihrer weltgeschichtlichen Zukunft im Trinitätsdogma der Christen entgegenführte. So vollendete sie ihren historischen Kreislauf. Pneuma bei Empedokles, bei den Ärzten der sikelischen Schule, oder bei den Koern, bei Platon, Aristoteles, Chrysipp, bei Athenaios von Attalia, bei Philon, Paulus, Origenes, Basilius markert ebensoviele verschiedene Etappen der Geistesgeschichte, und doch läßt sich die Continuität der Entwicklung nicht bestreiten.
Diese Aussagen verleihen dem Aufsatz einen gewissermaßen programmatischen Charakter, indem sie die Linien eines großen Forschungsvorhabens skizzieren, worin der Pneumabegriff ein Leitmotiv darstellt, das die intellektuelle Geschichte über Jahrhunderte hinweg als ‚Bindeglied‘ mitbestimmen wird. Es wird auch sofort klar, dass es die Bedeutsamkeit der antiken Medizin für diese allgemeineren und umfassenderen geistesgeschichtlichen Fragen – die ‚Allianz‘ zwischen Philosophie und ‚medicinischer Physiologie‘³ – ist, die von Anfang an Jaegers intensive Beschäftigungen in diesem Bereich motiviert hat.
Jaeger (1913b) 29, 30 – 31. Vgl. Jaeger (1913b) 29 – 30: „Wie für die ältere Religionsgeschichte, gewinnt die Erforschung der Medicin jener Periode [d. h. der Zeitraum der ‚Lehren und führenden Köpfe der Medicin und
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Der Gedanke einer ‚Vollendung‘ der diesbezüglichen griechischen Denkansätze im hellenistisch-jüdischen Denken des Philon und in den theologischen Vorstellungen des Apostels Paulus und der griechischen Kirchenväter stellt ein weiteres Thema und ein verbindendes Element mit dem antiken Christentum dar, das ebenfalls von Anfang an in Jaegers Werk eine wichtige Rolle spielt, z. B. in seiner Habilitationsschrift über die Schrift De natura hominis des christlichen Bischofs Nemesios von Emesa, die aus derselben Zeit stammt und 1914 veröffentlicht wurde. Jaegers Beschäftigung mit dieser stark von der antiken Medizin geprägten Schrift, die in der handschriftlichen Überlieferung manchmal auch Gregor von Nyssa zugeschrieben wird,versteht sich teilweise aus seinem lebhaften und bis Ende seines Lebens fortdauernden Interesse am Kirchenvater aus Kappadozien, teilweise auch daraus, dass Nemesios in der Quellenforschung, die im späten 19. und frühen 20. Jh. in der klassischen Philologie das vorherrschende Paradigma war, für einen wichtigen Baustein für die Rekonstruktion des verlorenen Kommentars des Poseidonios zum platonischen Timaios gehalten wurde. Die starke Präsenz des Aristoteles im Werk des Nemesios und die enge Verbindung von Gedanken aus der aristotelischen Philosophie mit der griechischen Medizin (vor allem Hippokrates und Galen) sowie Nemesios’ Thematisierung des Verhältnisses zwischen Metaphysik und Biologie werden für Jaeger jedoch gewiss auch reizvolle, sein Interesse weiter motivierende Elemente gewesen sein. Diese Schrift handelt ja von der Stellung des Menschen im Kosmos und vom Verhältnis zwischen dem Seelischen und dem Natürlichen sowohl in seinen kognitiven als auch in seinen moralischen Aspekten, also gerade demjenigen Bereich, der mit dem griechischen Ausdruck φύσις ἀνθρώπου angedeutet wird. Nemesios’ Ausführungen zu medizinischen und physiologischen Themen dienen hier der Veranschaulichung der Funktionsbezogenheit der körperlichen Teile und Mechanismen, durch die die Seele den Leib als ‚Werkzeug‘ (ὄργανον) benutzt, wobei es auch bei Nemesios ganz konkret das Pneuma ist, das die Funktion des Vermittlers zwischen Seele und Körper erfüllt.⁴ Von diesem Pneuma im Kontext der Abhandlung durch den Bischof von Emesa ist es nur ein kleiner Schritt zum ἅγιον πνεῦμα, einem Thema, dem Jaeger später im Rahmen seiner intensiven Bemühungen um die kritische Ausgabe der Werke Gregors von Nyssa seine letzte
Naturwissenschaft des 6. und 5. Jhdts.‘] für die Entwicklung der Philosophie in der Folgezeit neuerdings ein erhöhtes Interesse.“ Die Forschung sei „zu einem in vielen Einzelzügen faßbaren, konkreten Geschichtsbild von der ältern Medicin vorgedrungen, das unsere Einsicht in die engen Bande zwischen Philosophie und Medicin wesentlich vertieft und der Forschung an den Philosophen und Systemen bis weit über Aristoteles herab frische Kräfte und Tendenzen zugeführt hat.“ Etwas später spricht Jaeger von einer „wirksamen κοινωνία der Mediciner und Philosophen“ (30). Siehe dazu Sharples u. van der Eijk (2008) 7– 14.
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(postum 1966 von Heinrich Dörries veröffentlichte) Monographie zu Gregors Lehre vom Heiligen Geist widmen wird.⁵
I.2 Jaeger und das Corpus Medicorum Graecorum In seinen Publikationen der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre beschäftigt sich Jaeger vorwiegend mit der antiken Philosophie und mit philosophischen Aspekten der griechischen Dichtung.⁶ In diesem Zeitraum gibt es aber einen anderen, eher praktisch-organisatorischen Rahmen, in dem sein Interesse an der antiken Medizin zum Ausdruck kommt: die Preußische Akademie der Wissenschaften, deren ordentliches Mitglied er im Jahre 1924 geworden ist⁷ und ihre Kommission für die Herausgabe der griechischen Mediziner, die das vom 1922 verstorbenen Hermann Diels begründete, an der Berliner Akademie angesiedelte Corpus Medicorum Graecorum weiter betreut.⁸ Nach einer kurzen Übergangsphase unter Wilamowitz übernimmt Jaeger 1925 die Leitung dieses medizinhistorischen Vorhabens, und obwohl er sich selbst mit der tatsächlichen Editionsarbeit nicht direkt inhaltlich beschäftigt, erweist er sich als ein zielführender Geschäftsführer und Wissen Jaeger (1966). In diesem Zusammenhang sei auch Jaeger (1961) erwähnt, eine Sammlung von Vorträgen, die er an der Harvard University gehalten hatte (dazu Keyser (1992) 83 – 105). In dieser großen Bandbreite von Jaegers Interessen, von der Medizin und Philosophie im 4. Jh. v.Chr. bis zur christlichen Philosophie in der Spätantike, in der Konzentration auf die Schnittstelle zwischen Seele und Natur, in der Einschätzung der Medizin als wichtiges Zeugnis für diese philosophischen Theorien und schließlich auch in methodologischer Hinsicht in der engen Verbindung zwischen Geistesgeschichte und Editionsphilologie (Jaeger war ja auch Herausgeber von kritischen Ausgaben zu Aristoteles und Gregor von Nyssa) könnte man in Jaeger vielleicht eine deutsche, protestantische Parallele zum französischen Dominikaner André-Jean Festugière sehen, dessen Werk vergleichbare Tendenzen aufweist, wobei im Fall von Festugière die Medizin eher in ihren Beziehungen zur Theologie und Religionsgeschichte gesehen wird. Zu Jaegers Ansatz zum Frühen Christentum siehe unten den Beitrag von Markschies. Hier ist vor allem an sein Aristotelesbuch zu denken (Jaeger (1923)). Für kleinere Schriften und Vorträge aus diesem Zeitraum siehe Jaeger (1960a); Jaeger (1960b). Siehe Kirsten (1985) 176. Zu Jaegers Rolle in der Akademie siehe Schlicker (1975) 347– 348 (der Name des Verfassers dieser Seiten wird nicht erwähnt); s. auch Rebenich (2013) 70 und Seidensticker (2013). Eine spätere Charakterisierung von Jaegers Tätigkeiten im Rahmen des CMG bietet K. Deichgräber (1957) 104– 117. Deichgräber stützt sich hier wohl teilweise auf den Bericht, den Jaeger während einer Sitzung der Berliner Akademie am 21. Januar 1932 erstattet hatte (gedruckt in SB Berlin 1932, XXIX–XXXII). Für Hilfe bei der Forschung zu Jaegers Tätigkeit als Leiter des CMG danken wir Frau Dr. sc. Jutta Kollesch und Herrn Dr. Roland Wittwer von der Arbeitsstelle des CMG an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Frau Wiebke Witzel vom Archiv der Akademie und Herrn Prof. Dr. Wolfgang Rösler.
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schaftsmanager, der energisch für das Vorhaben neue Mitarbeiter rekrutiert und sich um die Erweiterung der Sammlung von Kollationen bemüht.⁹ Was alles in den insgesamt zwölf Jahren von Jaegers Direktorschaft (bis zu seinem Weggang nach Chicago im Jahre 1936) unter immer schwierigeren wirtschaftlichen Umständen im Rahmen des CMG an Vorarbeiten für Veröffentlichungen von kritischen Editionen griechischer medizinischer Texte und an anderen, im Umfeld des Vorhabens entstandenen Studien geleistet wurde, belegen die von Jaeger gezeichneten (allerdings weitgehend von anderen, vor allem Johannes Mewaldt und Karl Deichgraeber, erstellten) Jahresberichte.¹⁰ Mindestens ebenso interessant ist aber die Vision, die Jaeger in diesen Jahren von der Rolle des CMG im breiteren Rahmen der Erforschung der Geschichte der Medizin und der antiken Wissenschaften im Allgemeinen entwickelt. Jaeger schwebt das Ideal eines an der Berliner Akademie angesiedelten Institutes für die Geschichte der Wissenschaften vor, das in seinem Ansatz nicht allein historisch, sondern auch am Bildungsgedanken orientiert sein soll.¹¹ In dieser Vision nimmt Aristoteles eine zentrale Stellung ein: Eine neue
Man vergleiche etwa Jaegers Klage (in SB Berlin 1932, XXXI) über den „Kreis von nur noch ganz wenigen Mitarbeitern… die von den 29 ursprünglichen Mitarbeitern übriggeblieben waren“, den er bei seinem Antritt als Leiter des Vorhabens 1925 vorfand, mit der auch im Umfang beeindruckenden „Liste der Mitarbeiter am CMG 30.5.32“, die im Archiv des CMG aufbewahrt wird. Auch in der „Denkschrift“ der Akademie aus 1930 (s. unten, Anm. 12) 5 – 7, ist davon die Rede, dass für das CMG „in den letzten anderthalb Jahren … eine Reihe neuer tüchtiger Mitarbeiter gewonnen wurde“. SB Berlin (1925) LXV–LXVII; SB Berlin (1926) LXVI; SB Berlin (1927) XLV; SB Berlin (1928) XLIV– XLV; SB Berlin (1929) LXVIII–LXIX; SB Berlin (1930) LV; SB Berlin (1931) LXXIII; SB Berlin (1932) XXIX–XXXII, LXII–LXIII; SB Berlin (1933) LVIII–LIX; SB Berlin (1934) LV–LVI; SB Berlin (1935) LXIX–LXX; SB Berlin (1936) LII–LIV (jetzt alle auf der Homepage des CMG zugänglich: siehe http:// cmg.bbaw.de/project-office/berichte). Als Publikationen sind insbesondere die Editionen von Soranos (durch Ilberg), von mehreren hippokratischen Schriften (durch Ilberg), von Oribasius’ Collectiones medicae (durch Raeder), von Galens Kommentar zu den hippokratischen Epidemien (durch Wenkebach und Pfaff) und von Aetius Amidenus’ Libri medicinales I–IV (durch Olivieri) hervorzuheben; auch Deichgräbers Monographie Die Epidemien und das Corpus Hippocraticum (1933) und sein Kommentar zur hippokratischen Schrift De carnibus (1935) entstehen in diesem Kontext und Zeitraum. Zu erwähnen ist noch die Gründung (im Jahr 1935) des Supplementum zum CMG („eine Reihe von Arbeiten, die als Ergänzung der Editionen des Corpus betrachtet werden können, in erster Linie Fragmentsammlungen und Rekonstruktionen verlorener Schriften der im Corpus vorgesehenen Autoren“, SB Berlin (1935) LXIX), in dem als erster Band die Fragmente von Galens Kommentar zum Timaios (herausgegeben von Schroeder) im gleichen Jahr erscheinen. Zu diesem Institut siehe die Denkschrift der Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin über die Erweiterung ihrer Tätigkeit (Zentrales Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, II: Ia, Bd. 12, Bl. 79), Berlin 1930. Dieses Memorandum, das von der Kommission zur Reformierung und Umstrukturierung der Akademie erstellt wurde, enthält auf S. 5 – 7 eine Motivierung für ein neu zu gestaltendes Institut für Geschichte der Wissenschaft im Altertum, die
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kritische Gesamtedition seiner Werke sieht Jaeger als eine der Hauptaufgaben dieses Instituts.¹² Für das Corpus Medicorum Graecorum ist in diesem Zusammenhang aber auch eine „ideelle, dem neuen Humanismus entsprechende allgemeine Basis“ vorgesehen:¹³ Es ist die Rede von einer „Eingliederung des Corpus Medicorum Graecorum in ein Institut, das sich die Aufgabe stellt, der Erforschung dieses geistigen Ganzen – und zwar über den Rahmen der Edition hinaus – zu dienen“; auch die Aufarbeitung der orientalischen Überlieferung der medizinischen Texte wird in diesem Zusammenhang als wünschenswerte Erweiterung ins Auge gefasst.¹⁴ Das Institut wurde niemals realisiert und Jaeger selbst verließ das
vermutlich von Jaeger inspiriert ist. Bezeichnend ist, dass Jaeger fast zur gleichen Zeit (1931) mit der Abfassung der Paideia begann. Aristoteles ist „der Brennpunkt, der alle Strahlen des wissenschaftlichen Lebens der Griechen in sich vereinigte und von dem seit 2000 Jahren die wissenschaftliche Bewegung des Morgen- und Abendlandes ausstrahlt“ (Denkschrift, 5). Deichgräber (1957) 105: „Mit der Besinnung auf die Frage, wo die klassische Philologie stände, mit der Auffassung, daß sie Trägerin eines bildenden, nicht rein historisierenden Humanismus sein müsse, bekam Diels’ großer Plan, der keineswegs aufgegeben werden sollte, in gewissem Sinn einen zweitrangigen Charakter, mindestens in der Gedankenwelt, die das Zeichen ihres Begründers, eben Werner Jaegers, deutlich an sich trug. Diels wollte längst erforderliche, zuverlässige Texte als die unentbehrliche Grundlage für die Geschichte der Medizin, inbesondere für ein historisch haltbares Hippokratesbild, nichts weiter, Jaeger hatte sich ein Jahr vor seinem Bericht um die Einrichtung eines Instituts für Geschichte der Wissenschaften an der Akademie bemüht – vergeblich, und so spürt man noch an seinem Bericht das schmerzliche Gefühl, den eigenen Plan zurückstellen zu müssen. Aber das Entscheidende in Jägers Überlegung über das CMG war doch, dass dieses Unternehmen überhaupt aus seiner Isolierung in eine neue Art von philologischer Forschung eingebaut werden sollte. Sein Buch über Diokles von Karystos, den Arzt, der von ihm als Peripatetiker erkannt war, zeigt am konkreten Beispiel, wie nun die Akzente gesetzt werden sollten, Wertakzente und Wertrelationen. Mit der Losung eines geschichtlich sehenden, aber erzieherischen Humanismus ergab sich, dass Aristoteles (nicht Platon) Mittelpunkt aller Überlegungen wurde, in die auch das Corpus einzubeziehen war. Wenn Aristoteles allen wissenschaftlichen Einzelgebieten ihre Stellung in einem Ganzen der Forschung gegeben hatte, wenn gerade dieser Philosoph mit alten und neuen Fragen und Antworten etwas wie einen Kosmos darstellte, so sollte das von Jaeger geplante Institut durch die gleiche Weite, aber auch durch eine bestimmte Rangordnung der Einzelunternehmungen gekennzeichnet sein, sollte das Corpus Medicorum Graecorum damit eine ideelle, dem neuen Humanismus entsprechende allgemeine Basis erhalten.“ Denkschrift (wie oben, Anm. 12), 5. Neben dem Institut für Wissenschaftsgeschichte waren auch noch ein Institut für griechisch-römische Epigraphik, ein Institut für Patristik und ein Institut für Buddhistische Forschung geplant, alles im Sinne,wie es in der Denkschrift ausdrücklich heißt, einer „erweiterten Altertumswissenschaft, wie sie Boeckhs geistigem Auge vorschwebte, als die Wissenschaft von der gesamten geistigen und materiellen Kultur der Antike“. All dies blieb ein Wunsch, das Memorandum blieb unverwirklicht und wurde in den Jahren 1933 – 1934 ad acta gelegt.
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CMG im Jahr 1936, als er in die USA übersiedelte;¹⁵ seine Vision einer Betrachtungsweise der antiken Medizin, die zum Ideal des „geschichtlich sehenden, aber erzieherischen Humanismus“ passte,¹⁶ blieb aber bestehen und fand ihren wohl kräftigsten Ausdruck in Jaegers eingehender Beschäftigung mit Diokles von Karystos, dem berühmten griechischen Arzt aus dem 4. Jh., der in der Antike schon als ‚zweiter Hippokrates‘ galt und dem Jaeger ab 1938 eine Reihe von Publikationen widmete.¹⁷
I.3 Diokles, Aristoteles und die Aristotelisierung der antiken Medizin Diokles war für Jaeger interessant, weil er glaubte, in ihm ein schlagendes Beispiel der Wechselwirkung zwischen Medizin und Philosophie more aristotelico sehen zu können: Diokles stellte die medizinische Endstation von Aristoteles’ Entwicklung vom platonischen Metaphysiker zum empirischen Naturforscher dar, der Entwicklung zu einer Art philosophisch inspiriertem Empirismus, den Jaeger u. a. in dem sogenannten ‚großen Methodenfragment‘ des Diokles verkörpert sah.¹⁸ Für diese Interpretation war es aber notwendig, dass Diokles erheblich später datiert würde, als bisher angenommen wurde, also nicht in der Generation unmittelbar nach Hippokrates, sondern ganz am Ende des 4. und am Anfang des 3. Jh. v.Chr., und dass Diokles sogar zum Schüler des Aristoteles gemacht wurde. Diese In-
Roland Wittwer macht mich noch auf einen Bericht über die Zeit aus der Feder des Orientalisten Martin Plessner aufmerksam (Plessner (1966)), aus dem folgendes zitierenswürdig ist (245): „Der Mann, dem die Betreuung des Corpus nach seinem [i.e. Diels’] Tode zufiel, Werner Jaeger, hat zwar, wie ich diesem Kreise nicht auseinanderzusetzen brauche, in seinen beiden Büchern Nemesios von Emesa und Diokles von Karystos sowie in einigen Aufsätzen bahnbrechende eigene Beiträge zur Geschichte der Medizin geliefert; es gelang ihm jedoch nicht, unter seinen Schülern jemand zu finden, der die Sorge für das Corpus hauptamtlich übernahm. Zwei von ihnen haben mir selbst erzählt, dass er sie damit betrauen wollte, und zwar im Rahmen des von ihm geplanten wissenschaftsgeschichtlichen Instituts. Die Ereignisse des Jahres 1933 zwangen nicht nur diese beiden Schüler, sondern auch ihn selbst zur Auswanderung aus Deutschland.“ Wer die beiden Schüler waren, die Jaeger bevorzugt hätte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen; es liegt aber nahe, an Ludwig Edelstein und Richard Walzer zu denken, die beide bereits 1933, drei Jahren vor Jaeger, emigrierten. Der Ausdruck stammt von Deichgräber (1957). Jaeger (1938a), (1938b), (1940), (1951), (1952). Fr. 112 Wellmann, Fr. 176 van der Eijk. Siehe Jaeger (1938a) 222: „Die Philosophie lehrt jetzt den Arzt die Kunst des methodischen Schließens, sie lehrt, wie man eine Wissenschaft auf Erfahrung logisch aufbaut, und sie gibt dem Objekt des ärztlichen Forschens, dem Menschen, als universalen Hintergrund die Lehre von der Gesamtheit des organischen Lebens, deren eigentlicher Schöpfer Aristoteles ist.“
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terpretation verteidigte Jaeger in einer Reihe von Publikationen aus den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren,von denen eine auch in der englischen Übersetzung des Aristotelesbuches von 1948 als Anhang nachgedruckt wurde.¹⁹ Von den Einzelheiten und den Problemen von Jaegers Beschäftigung mit Diokles ist anderswo schon ausführlich die Rede gewesen,²⁰ wobei die methodischen Schwächen in Jaegers Argumentation den Blick auf die Plausibilität einiger seiner Annahmen von engen Beziehungen zwischen Diokles und dem Lykeion übrigens nicht verdunkeln sollten. Hier sei aber auf zwei andere Aspekte von Jaegers Interpretationen zur antiken Medizin eingegangen, die er im Umfeld seiner Beschäftigung mit Diokles entwickelt hat und die bisher weniger Beachtung gefunden haben. Diese Aspekte veranschaulichen erneut die Kontinuität seines Denkens und die überaus zentrale Rolle, die das Pneuma darin spielt. Außerdem haben sie, wie wir noch sehen werden, eine gewisse Aktualität für die heutige medizinhistorische Forschung. Es geht hier um die intellektuellen Beziehungen zwischen Medizin und Philosophie im ausgehenden 4. und frühen 3. Jh. v.Chr. und um die Rolle der aristotelischen Philosophie darin. In diesem Zusammenhang interessieren auch die Problematik des aristotelischen Hippokratesbildes und die aristotelisch-peripatetische Wahrnehmung der geschichtlichen Entwicklung der Medizin. Einige Zitate aus Jaegers Werk bringen seine Auffassungen zu diesen Themen klar zum Ausdruck:²¹ Die Wahrheit ist jedoch, daß er [Aristoteles] in der medizinischen Wissenschaft seiner Zeit eine geschichtlich hochbedeutsame Rolle gespielt hat. Er hat geradezu ein neues Zentrum für sie geschaffen, das maßgebenden Einfluß auf die Entwicklung der Medizin ausgeübt hat und neben dem die älteren Schulen zurücktraten. Die größten Namen der griechischen Medizin des 4. und 3. Jhrh.v.Chr. sind Diokles von Karystos, Praxagoras von Kos, Erasistratos von Keos und Herophilos von Chalkedon. Von diesen sind die beiden bedeutendsten Köpfe, Diokles und Erasistratos, in der Schule des Aristoteles ausgebildet worden. Herophilos ist ohne sie nicht denkbar. Praxagoras aber ist von Diokles notorisch in so hohem Grade beeinflußt, daß er als sein Schüler erscheint. Diese Tatsache erhält jetzt eine neue, geschichtlich symbolische Bedeutung. Das Verhältnis des Praxagoras, des Hauptes der koischen Schule, zu Diokles wird
Jaeger (1948) 407– 425: „Diocles. A new pupil of Aristotle.“ Siehe die Übersicht in von Staden (1992), der eine verheerende Analyse der ernsthaften Schwächen von Jaegers Dioklesbuch bietet. Siehe auch van der Eijk (2000) ix und (2001) xxxi (mit Anm. 72 für Hinweise auf Probleme in Jaegers Einzelinterpretationen). Das Jaeger’sche Paradigma war mehr als vierzig Jahre später immer noch dominant: Denn obwohl die meisten Wissenschaftler, die sich mit Diokles beschäftigten, den Ansichten von Jaeger ausgesprochen kritisch gegenüber standen, wurde die Diskussion noch lange von der Frage der Datierung des Diokles und seines Verhältnisses zu Aristoteles beherrscht, einer Frage also, die Jaeger angeregt hatte; siehe z. B. Kudlien (1971); Heinimann (1955); Flashar (1966) 50 – 59; Longrigg (1993) 162– 164. Jaeger (1938a) 225.
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gleichsam zur Verkörperung der Herrschaft des Peripatos über die griechische Medizin. Die peripatetische Wissenschaft ergreift geistig Besitz von der Schule des Hippokrates.
Jaeger entwirft hier eine komplizierte Genealogie der Medizingeschichte des ausgehenden 4. Jh. Praxagoras von Kos gilt als Nachfolger des Hippokrates und als das neue Schulhaupt der koischen Schule; er stehe aber ebenfalls unter dem Einfluss des Diokles und somit des Aristoteles; Diokles habe seinerseits auf Herophilos von Chalkedon eingewirkt; und auch Erasistratos füge sich in dieses Bild.²² Was hier skizziert wird, ist das Bild einer Art von Aristotelisierung der Medizin, die sich in Diokles und Praxagoras und über Straton auch in Erasistratos und Herophilos manifestiert hat und die über die pseudo-aristotelische Schrift De spiritu in die Stoa und in die sogenannte pneumatische Schule weiter gewirkt hat.²³ Diese genealogisch-geistesgeschichtliche Theorie kommt noch deutlicher in dem späteren Aufsatz in englischer Sprache („Diocles of Carystus: A new pupil of Aristotle“) zum Ausdruck, der einerseits dieselben Gedanken wie im Dioklesbuch aufgreift,²⁴ andererseits ganz besonders die überragende Rolle des Pneumas hervorhebt:²⁵
„Seine Lehre erscheint als Produkt der Verschmelzung von Gedanken der Medizin des Diokles und der Physik des Straton“ (Jaeger (1938a) 227; siehe auch 233: „Diese enge Beziehung der Schulen wirkt sich bei Erasistratos eine Generation später bereits in der Weise aus, daß er einen Teil seiner ärztlichen Ausbildung in Kos erhält und dann von dort nach Athen geht, um sein Studium im Peripatos unter Metrodoros zu beenden.“) Siehe die kritische Betrachtung dieser genealogischen Auffassungen durch von Staden (1992) 231– 232. „If our conclusions are sound, as I think they are, we have succeeded in reconstructing an important but hitherto unknown part of Aristotle’s school and philosophy which had disappeared, together with the ideal of scientific life from which this school had sprung. Medicine was one of the most authoritative and respected members of the large family of sciences united in the Peripatos. The medical department of the Peripatetic school had in Diocles its greatest representative. Metrodorus belonged to it. Erasistratus, like Diocles one of the greatest medical figures of all times, studied in it. The influence of Diocles on Praxagoras of Cos, in his main theories as well as in many details, was noted long ago, but it remained unexplained since almost a century lay between them. Now we suddenly see that Praxagoras was a contemporary, only a little younger than Diocles. Since Praxagoras was the head of the Hippocratic school, his dependence upon Diocles means that about twenty years after Aristotle’s death the Hippocratic school at Cos was under the dominating influence of the medical department of Aristotle’s school. Herophilus, the head of the new medical school at Alexandria during the reign of Ptolemies I and II, was a pupil of Praxagoras. He developed anatomy, on which Diocles had written the first systematic work and enriched it by many new discoveries. He also developed the dialectical and logical element in medicine, which Diocles had introduced, and therefore was called the dialectician. It was a pupil of his who founded the empirical school of medicine in the late third century.“ (Jaeger (1940) 424) Jaeger (1940) 424– 425.
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The Peripatetic biologists all adhered to the theory of the pneuma, which was Diocles’ fundamental idea in physiology and pathology. The fact that Theophrastus and Strato are linked very closely with Diocles’ medical theory has seemed rather strange heretofore, but now becomes easily understandable, as does the important part which the theory of the pneuma plays in Stoic psychology and physiology and even in Stoic metaphysics. It goes back to the Sicilian school of medicine and was adopted by Plato and Aristotle. In Aristotle’s school it experienced a renaissance in Diocles’ medical system and was blended by him with elements of Hippocratic and Cnidean medicine, for, like Aristotle’s philosophy at large, Diocles’ medicine is characterized by a strongly synthetic tendency. It unites within itself the historical schools of Greek medicine and tries to link them into greater unity. It is the new historical and synthetic consciousness which gives Diocles his key position in the history of Greek medicine.
Zu diesen Aussagen ist zu bemerken, dass Jaegers Annahme der weitgehenden Bedeutung der aristotelischen Philosophie für die hellenistische Medizin an sich durchaus eine gewisse Plausibilität hat, wie die modernere Forschung bestätigt hat,²⁶ obwohl diese Bedeutung auch, und wohl eher, in anderen Bereichen als in dem Pneumabegriff zu suchen ist. Auf der anderen Seite fällt auf, wie sehr Jaegers Interpretationen von naiven Voraussetzungen über Einfluss und Lehrer-SchülerVerhältnisse geprägt sind – Interpretationen, für die das Beweismaterial meistens sehr karg und fragwürdig ist – und wie grob seine Charakterisierungen der verschiedenen Lehren sind. Viele Begriffe, die er in Anspruch nimmt, sind höchst kompliziert und problematisch, z. B. „the theory of the pneuma“, oder das Konzept der „Sicilian school of medicine“, für das Max Wellmann sich in seiner Edition der Fragmente von Diokles stark gemacht hatte. Mit solchen groben Verallgemeinerungen kann die heutige Forschung wenig anfangen. In diesem Zusammenhang bespricht Jaeger aber auch die Frage nach dem Verhältnis von Aristoteles und seiner Schule zur hippokratischen Medizin sowie die Frage, wie sie zu ihrem Hippokratesbild gekommen sind und welche der sogenannten hippokratischen Schriften im Lykeion bekannt gewesen sein dürften. Ein weiteres Zitat veranschaulicht Jaegers Vorgehensweise in der Beantwortung dieser Fragen:²⁷ Furthermore, it makes it clear why it was this generation which produced the first history of medicine in the work of Meno. He obviously belonged to the same medical department of the Aristotelian school. The work was not written by Aristotle himself, as traditionally believed in classical antiquity, but under his guidance, as were Theophrastus’ history of the
Siehe z. B. von Staden (1997), Lonie (1964) und (1965), Lewis (2014), Leith (2015a), Leith (2015b), Oikonomopoulou (2015), Thomas (2015), Ulacco (2011), Lewis u. Gregoric (2015), Gregoric u. a. (2015). Jaeger (1940) 425.
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earlier physical systems and Eudemus’ famous works on the history of geometry, astronomy, and theology. When large excerpts from Meno’s history of medicine were discovered some decades ago, the most difficult problem which scholars had to face was the picture which he gives of Hippocrates. He represents him as a pneumatic and this misrepresentation seemed hardly understandable. For us it no longer offers a serious problem. Meno, Diocles, and the Peripatetic school obviously saw the history of medicine in the light and perspective of their own theory. They tried to find the first indications of it in Hippocrates and this is only an evidence of their high regard for this great physician.
Jaeger bezieht sich hier auf den Anonymus Londiniensis, den unbekannten Verfasser einer auf Papyrus überlieferten medizindoxographischen Schrift, die 1893 entdeckt und einige Zeit später von Hermann Diels ediert wurde.²⁸ In diesem Text, dessen Veröffentlichung das Bild der Medizingeschichte im 5. und 4. Jh. v.Chr. weitgehend verändert hat, wird explizit auf Aristoteles als Quelle für die Doxographie über die Ursachen von Gesundheit und Krankheit verwiesen, obwohl Jaeger der damaligen Forschung in der Zuweisung dieser Medizindoxographie an Aristoteles’ Schüler Menon folgt.²⁹ Jaeger geht von einem hohen Grad von Bekanntheit der hippokratischen Schriften im Lykeion aus,³⁰ ohne jedoch so weit zu gehen, die Schule des Aristoteles als den Geburtsort und ganz konkret Diokles als den ersten Herausgeber des sogenannten Corpus Hippocraticum anzusehen (wie es 1901 Max Wellmann behauptet hatte)³¹ und ohne zu beanspruchen, dass all diese Schriften bereits unter dem Namen des Hippokrates zirkulierten.³² Er möchte nicht einmal von einer ‚Sammlung‘ von Schriften reden.³³ Diese Ausführungen von Jaeger haben eine bemerkenswerte Aktualität, da gerade auch in der Forschung der letzten Jahre wieder viel Interesse an der Gestaltung des Corpus Hippocraticum und an der Frage, welche hippokratischen Schriften in der Schule des Aristoteles bekannt gewesen sein dürften, besteht.³⁴
Diels (1893). Zu den Einzelheiten dieser Zuschreibung siehe Manetti (1999) 98 – 99. „Die Entlehnungen des Diokles aus einer größeren Zahl hippokratischer Schriften sprechen dafür, daß schon unter Aristoteles im Peripatos die Möglichkeit bestand, sie zu lesen, und daß sie nicht nur einzeln vorhanden waren, sondern als Schriftgruppe zusammen existierten.“ (Jaeger (1938a) 233) Wellmann (1901) 64. „Diese Schriften waren zweifellos zum guten Teil bereits vorhanden, das beweist Diokles unwiderleglich. Unter welchem Namen sie im einzelnen gingen, und wie weit ihre Verbreitung reichte, wissen wir nicht.“ (Jaeger (1938a) 231– 232) „Das war natürlich keine Ausgabe des Hippokrates, sondern Material, das man sich aus Kos zu Studienzwecken beschafft hatte. Wieweit die Leute in Kos selbst authentische Auskunft über das Alter und die Herkunft der Schriften geben konnten, ist unsicher.“ (Jaeger (1938a) 233) Siehe dazu z. B. Oser-Grote (2004), Nelson (2015), van der Eijk (2015), van der Eijk (2012).
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Auch Jaegers Beobachtungen zur aristotelisch-peripatetischen Bestimmung der Schrift De flatibus als der hippokratischen Abhandlung über die Ursachen von Krankheiten schlechthin, wie es der Anonymus Londiniensis nahelegt, verdienen in diesem Zusammenhang nähere Betrachtung. Diese Zuschreibung hat die moderne Hippokratesforschung immer wieder vor Probleme gestellt, da die Schrift De flatibus lange Zeit eher als eine Sophistenprunkrede galt, deren medizinischer Inhalt des großen koischen Arztes unwürdig erschien. In Jaegers Auffassung ist die peripatetische Zuschreibung eben dieser Schrift an Hippokrates aber daraus zu erklären, dass Hippokrates von Aristoteles bzw. Menon als ein pneumatischer Arzt dargestellt wird. Hier meldet sich also wieder das alles beherrschende Pneuma. Wie es so weit kommen konnte, sagt Jaeger gegen Ende seines Dioklesbuches:³⁵ Die gegenwärtige Richtung der peripatetischen Medizin war naturgemäß bestimmend für den Grad des Interesses, das man den einzelnen koischen Schriften entgegenbrachte.Wir können uns also nicht wundern, daß man im Lykeion diese Werke mit den Augen des pneumatischen Physiologen und Pathologen las, sagen wir es rund heraus: mit den Augen des Diokles und seiner Schule. Ebenso begreiflich ist es, daß man meist nur ‚Vorahnungen‘ der im Peripatos für wahr gehaltenen Lehre bei den älteren Hippokratikern feststellen konnte. So hat Aristoteles selbst in den Lehren der vorsokratischen Physiker die „stammelnden“ ersten Andeutungen der Philosophie gefunden, die ihm als Wahrheit feststand. Daß es in der Medizingeschichte, die Menon auf seine Anregung schrieb, nicht anders liegt, hat der Londoner Papyrus uns enthüllt. Hippokrates erscheint bei Menon als pneumatischer Arzt.
Jaegers Suche nach einer Erklärung für die aristotelisch-peripatetische Wahrnehmung von De flatibus als derjenigen Schrift, die Hippokrates’ Auffassungen zu den Ursachen von Gesundheit und Krankheit zum Ausdruck bringt bzw. ihnen am nächsten kommt, kann auch heutzutage noch als ein an sich durchaus berechtigter Ansatz gewertet werden, obwohl seine Vermutungen über die entscheidende Rolle des Diokles weit über das Beweismaterial hinausgehen. Problematischer wird es allerdings, wenn Jaeger ganz am Ende seines Dioklesbuches darauf zu sprechen kommt, wie es mit diesem peripatetischen Verständnis von Hippokrates als pneumatischem Arzt in der hellenistischen Zeit weiterging:³⁶ Das weiterschreitende Leben hatte das Band zerschnitten, das die Gegenwart an die Vergangenheit knüpfte … Man betrachtete ihn [Diokles] wie Hippokrates als einen Hauptre-
Jaeger (1938a) 234.Vgl. Jaeger (1948) 425: „Meno, Diocles and the Peripatetic School obviously saw the history of medicine in the light and perspective of their own theory (d. h. die Theorie des Pneumas). They tried to find the first indications of it in Hippocrates and this is only an evidence of their high regard for this great physician.“ Jaeger (1940) 236.
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präsentanten der „dogmatischen“ Medizin, obgleich er alles Dogmatische Zeit seines Lebens im echten Geiste aristotelischer Erfahrungswissenschaft bekämpft hatte.
Worauf Jaeger hier abzielt, ist nicht ganz klar, vermutlich denkt er an Alexander Philalethes und Soran. Auffällig und äußerst problematisch ist aber seine Benutzung des Begriffs ‚dogmatisch‘. Denn nach dem antiken Verständnis eines ‚dogmatischen‘ Arztes, in dem ‚dogmatisch‘ im Sinne von λογικός, rationalis, also ‚theoretisch begründet‘ gemeint ist, kann der Autor von De flatibus als der Vorläufer par excellence der ‚dogmatischen‘ Medizin betrachtet werden, da er alle Merkmale, für die die dogmatische Schule später ausgezeichnet wurde, explizit vertritt.³⁷ Auch die Annahme der herausragenden Rolle des Pneumas passt allzu gut zu dieser Charakterisierung von Hippokrates als ‚dogmatischem‘ Arzt. Ähnliches gilt übrigens auch für Diokles, der in der hellenistischen und frühkaiserzeitlichen Medizin als eines der Häupter der dogmatischen hairesis galt, eine Bezeichnung, die durchaus einleuchtend ist, wenn man Diokles’ Physiologie und Pathologie in Betracht zieht.³⁸ Es ist kaum anzunehmen, dass Jaeger sich nicht dessen bewusst gewesen ist, dass er das Wort ‚dogmatisch‘ hier in einem anderen Sinne benutzt, als es in der Antike gemeint war. Man könnte meinen, dass es sich hier lediglich um eine rhetorische Floskel handelt. Im Hintergrund spielt aber ein weiteres, eher inhaltliches Problem eine Rolle, das mit Jaegers Auffassung von Diokles als Schüler des Aristoteles – und indirekt auch mit seiner Auffassung von Aristoteles selbst – zusammenhängt. Denn in Jaegers Interpretation des sogenannten Methodenfragmentes des Diokles wird derselbe Scheingegensatz kreiert: In der Einleitung zu diesem Fragment bei Galen heißt es nämlich, dass Diokles, „obschon er Dogmatiker war“ (καίτοι δογματικὸς ὦν, Fr. 176,11 vdE), die Auffassung vertreten hat, dass die Vermögen der Nahrungsmittel „nur aufgrund von Erfahrung“ erkannt werden können (ἐκ πείρας μόνης, Fr. 176,38 vdE). Jaegers empiristische Interpretation dieses Dioklesfragmentes ((1938a) 25 – 30) und die Ablehnung des Etiketts dogmatikos sind aus vielerlei Gründen sehr fragwürdig, wie an anderer Stelle ausführlicher dargelegt worden ist;³⁹ hier aber interessiert uns der Hintergrund dieser Interpretation, die in Jaegers Auffassung von Aristoteles als Erfahrungswissenschaftler liegt. Denn dass diese eigentlich ganz schlecht zur aristotelischen Wahrnehmung von Hippokrates, wie sie der Anonymus Londiniensis belegt, passt, hätte Jaeger sicher realisieren müssen, genauso wie seine Auffas-
Siehe dazu van der Eijk (2012) 1510 – 1522. Siehe dazu van der Eijk (2001) xxii–xxxviii. van der Eijk (1996).
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sung von Diokles als empirischem Aristoteliker in etwas problematischem Verhältnis zu seiner Bezeichnung von Diokles als ‚pneumatischem Physiologen und Pathologen‘ steht: Der Verfasser von De flatibus kann ja schwerlich als ein empirischer Arzt gesehen werden, im Gegenteil, er gilt, wie gesagt, eher als ein ἰατρὸς λογικός. Stärker noch: In dieser Weise könnte man auch die aristotelische Wertschätzung dieser Schrift besser verstehen. Denn der aristotelische Hippokrates, wie er im Anonymus Londiniensis erscheint, entspricht weitgehend Aristoteles’ eigener Auffassung des idealen Arztes, die gerade darin besteht, dass er die Medizin zu mehr als einer bloßen Erfahrungswissenschaft macht. Obwohl für Aristoteles die Erfahrung (empeiria) einen ganz wesentlichen Bestandteil der medizinischen Kunst ausmacht, bewertet er letzten Endes doch den Arzt, der aufgrund von theoretischem Universalwissen vorgeht, höher als denjenigen, der lediglich aufgrund von Erfahrung operiert.⁴⁰ Die ‚geistig hochstehenden Ärzte‘ (τῶν ἰατρῶν οἱ χαρίεντες), die in der Nikomachischen Ethik (1095b19 ff.) und in den Parva Naturalia (463a4– 5, vgl. 436a17– 21, 480b27– 29) erwähnt werden, sowie die ‚Meisterärzte‘ (ἰατροὶ ἀρχιτέκτονες, ἰατροὶ ἀρχιτεκτονικοί) aus Metaphysik I,1 (981a30, 982a1) und aus Politik 1282a3 sind philosophisch angehauchte Ärzte, die an Ursachenforschung interessiert sind – auch wenn diese Ursachen nicht direkt empirisch wahrnehmbar sind – und die erklären möchten, warum ein gewisses Nahrungs- oder Heilmittel im einen Fall wirkt und im anderen Fall nicht wirkt; es sind Ärzte, deren medizinische Praxis auf Grundsätzen basiert, die der Naturphilosophie entnommen sind und die ihre ärztliche Tätigkeit ausdrücklich in den Rahmen einer allgemeinen Theorie über die Natur stellen; Ärzte, die die Behandlung einzelner Körperteile und Orte auf den ganzen Körper abstimmen; und es sind Ärzte, die den Menschen biologisch als ein zoion erfassen und in ihrer Untersuchung des menschlichen Körpers den Vergleich zu denen der anderen Lebewesen heranziehen.⁴¹ Gerade diese Tendenzen sind es, die in der Schrift De flatibus im Mittelpunkt stehen, und ebendiese Tendenzen sind es auch, die der Charakterisierung von dogmatischen Ärzten bei späteren Autoren entsprechen: die Behandlung durch entgegengesetzte Heilmittel, die Spekulation über verborgene Ursachen, die inferenzielle Schlussfolgerung auf innere Zustände aufgrund äußerer Zeichen, und die Benutzung des Konzeptes der natürlichen Funktionen.⁴²
Dies geht eindeutig aus der Erwähnung der Medizin und der verschiedenen Ärztegruppen in Metaphysik I,1, Rhetorik I,2– 3, Politik 1282a3– 4 und Nikomachische Ethik X,9 hervor. Siehe die Ausführungen von Chiaradonna (2013) und Cambiano (2012). Siehe dazu van der Eijk (2012) 1510 – 1519. Siehe Celsus, De medicina, Praefatio, 13 – 26; Pseudo-Galen, Introductio sive medicus 3,1 (95,6 – 14 Petit, XIV,678 K.).
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All diese Aspekte der Schrift De flatibus machen ihre Attraktivität für einen Leser, der sie mit aristotelischen Augen liest, besser verständlich. Dass eine Schrift, die die Rolle der Luft (in De flatibus übrigens als physai, nicht als pneumata bezeichnet) zentral stellt, bei Aristoteles so gut ankommt,⁴³ dass sie von ihm als die hippokratische Schrift par excellence angesehen wird, lässt sich darum viel besser verstehen, wenn man Aristoteles gerade nicht als den Erfahrungswissenschaftler betrachtet, den Jaeger in ihm sieht, sondern eher als einen Wegbereiter der ‚dogmatischen‘, d. h. rationalistischen Medizin.⁴⁴ Es liegt hier eine innere Spannung in Jaegers Auffassung von Aristoteles – und von Diokles – vor, die auch in seinem späteren Aufsatz „Aristotle’s use of medicine as a model in his ethics“ von 1957 wieder auftaucht.⁴⁵ In diesem Beitrag betont Jaeger, dass Aristoteles sich vielmals auf die Medizin – genauer gesagt, auf die hippokratische Medizin – als methodisches Modell der Ethik bezieht, ohne jedoch zu spezifizieren, um welche hippokratischen Schriften es geht.⁴⁶ Nach Jaeger benutzt Aristoteles die Parallele zwischen Ethik und Medizin als praktischen Wissensformen, um hervorzuheben, dass diese Disziplinen sich mit einzelnen Umständen beschäftigen und demzufolge weder die Medizin noch die Ethik den höchsten Genauigkeitsgrad erreichen können. Jaeger geht aber in seiner Betrachtung der Rolle der Medizin als epistemologischen Modells der Ethik im aristotelischen Denksystem noch einen Schritt
Hier ist zu beachten, dass nach Aristoteles das Pneuma keineswegs der einzige pathogene Faktor ist: Die Aitiologie von Krankheiten ist bei ihm durchaus komplizierter. Siehe Tracy (1969) 157– 200. So haben auch etwa Galen und nach ihm die arabische Medizin Aristoteles gesehen; siehe Klein-Franke (1982) 81– 83, Gutas (2003). Jaeger (1957). Man könnte diesen Aufsatz in gewissem Sinne als einen Nachtrag zur Paideia betrachten, insbesondere zur Abteilung „Die griechische Medizin als Paideia“, in dem Aristoteles selbst merkwürdigerweise kaum behandelt wird (Paideia, Band II,11– 58; dazu unten); dies geht aus den folgenden Zitaten hervor: „The medical example, far from being a casual analogy, is present to the philosopher’s mind throughout. It belongs to the very foundation of his ethical science, at least in the form it has taken in the Nicomachean Ethics. Once we have recognized this function of the medical pattern, we can easily see how, in the light of it, Aristotle tries to justify almost every important step he takes in his ethical philosophy … This medical parallel leads Aristotle to a similar observation with regard to the growth of man’s moral qualities: they too are susceptible to the negative effect of excess and defect, but are developed and preserved by what he calls mesotes. Here we have a germ of the doctrine of the mean. This is indeed evident, but we may add that apparently this germ grows out of Aristotle’s awareness of the biological parallel offered by medicine.“ (56 – 57) Abgesehen von einem Verweis auf „the Hippocratic school“ (55) findet sich nur ein Hinweis (56, Anm. 28 und 30) auf die Schrift De vetere medicina – eine Schrift, in der ebenfalls (wie in Diokles) neben angeblich ‚empirischen‘ Tendenzen auch durchaus spekulative Elemente (Säftelehre, Mutmaßungen zu den inneren Körperteilen) spürbar sind; siehe Schiefsky (2005).
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weiter, indem er behauptet, dass Aristoteles, um den Begriff der Tugend als mesotes zu bestimmen, das medizinische Prinzip des Gleichgewichts der körperlichen Qualitäten und Säfte benutzt hat – also offensichtlich ein ‚dogmatisches‘ Prinzip, dessen Stellung im angeblich praktisch-empirischen Rahmen von Jaeger nicht weiter geklärt wird.⁴⁷ Fassen wir die Ergebnisse des ersten Teils unserer Arbeit zusammen: Jaegers Interesse galt nicht so sehr der antiken Medizin an und für sich, sondern der Medizin in ihrer Beziehung zur Philosophie und zu weitergreifenden geistesgeschichtlichen Themen. Und wenn seine Aufmerksamkeit einzelne medizinische Schriften und Autoren betraf, wie im Fall des Diokles, geschah dies immer gleichzeitig auch im Rahmen einer gewissen Agenda: Es ging nicht um Diokles als solchen, sondern als Schüler des Aristoteles, als empirischen Wissenschaftler in aristotelischem Sinne und als denjenigen, der den hellenistischen medizinischen Schulen den Pneumabegriff in derartiger Weise vermittelt hat, dass dieser sich zu einem allumfassenden und alleserklärenden Konzept entwickeln konnte. Viel von Jaegers Arbeit zur antiken Medizin kann aus heutiger Sicht nur als höchst problematisch angesehen werden. Nichtsdestotrotz steckt in einigen seiner Thesen, z. B. der der engen Beziehungen zwischen Aristoteles und Diokles und der des wichtigen Einflusses der aristotelischen Philosophie auf die Entwicklung der Medizin in der hellenistischen und frühen Kaiserzeit (insbesondere bei Galen) durchaus etwas Anregendes. Insbesondere verdienen sie Beachtung, weil sie wichtige, longue durée Perspektiven ins Auge fassen, die von der philologischen Forschung zu einzelnen medizinischen Texten und Autoren oft unberücksichtigt geblieben sind.
Auch in diesem Aufsatz gibt es mit dem Ausklang des Dioklesbuches vergleichbare Aussagen, z. B. 56: „This give and take in the mutual relationship of science and philosophy is a remarkable feature of the intellectual life of his [Aristotle’s] time, which was a period of creative exchange of ideas and was to remain so for several generations, until philosophy became self-contented and dogmatic and the sciences lost that keen philosophical interest in their own methodical and axiomatic foundations.“ Auf S. 57 wird in Bezug auf Nikomachische Ethik I,13 anerkannt, dass „physicians who possess a higher scientific training always study the human organism as a whole“, aber obwohl zugestanden wird, dass „We find here a new aspect of the parallel of politikos and iatros that runs through the whole of the ethics“, wird gerade diese Parallele in Jaegers Aufsatz nicht weiter verfolgt.
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II Es ist jetzt an der Zeit zu versuchen, Jaegers allgemeine Auffassung der Medizin und ihrer Beziehungen zur Philosophie ans Licht zu bringen, wie wir sie in seinem Hauptwerk, der dreibändigen Studie über die Formung des griechischen Menschen (Paideia), finden können. Zuerst werden wir einige kurze einführende Bemerkungen über Jaegers Verständnis des Begriffes der Paideia und über seine Idee der humanisierenden Funktion der Altertumswissenschaft machen. Dann werden wir die wichtigsten Punkte des der Medizin gewidmeten Kapitels des zweiten Bandes der Paideia und die sich daraus ergebenden Betrachtungen der Beziehungen zwischen dem medizinischen Wissen und der philosophischen Lehre von Sokrates und Platon besprechen. Zum Schluss werden wir die Frage stellen, ob Jaegers Auffassung der griechischen Medizin nur als Ergebnis einer wissenschaftlichen Betrachtung der antiken Textquellen zu betrachten ist oder ob wir ausgehend von dieser Auffassung einen breiteren intellektuellen Kontext rekonstruieren können, in dem die historiographischen und interpretativen Kategorien des Philologen und des Historikers sich in gewissem Zusammenhang mit der zeitgenössischen Ideologie des sogenannten ärztlichen Humanismus⁴⁸ und mit der Selbstdarstellung gewisser medizinischer Kreise entwickeln. Diese Frage ist besonders wichtig, denn mit seiner Darstellung der griechischen Paideia wollte Jaeger auch eine Kritik des zeitgenössischen deutschen Bildungssystems ausdrücken und die theoretischen Voraussetzungen seines eigenen Bildungsprojektes schaffen.⁴⁹ Diese Überschneidung zweier unterschied-
Der ärztliche Humanismus als medizinisch-wissenschaftliche Ideologie verbreitete sich schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland insbesondere im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung. Wichtige Figuren für die Definierung und Entwicklung des ärztlichen Humanismus waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Psychiater und Neurologe Wilhelm Griesinger (vgl. Verwey (2004)) und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Neurologe Viktor von Weizsäcker, über den wir im letzten Paragraphen dieses Beitrags weitere Bemerkungen machen werden. Die Schwerpunkte der Kritik, die Jaeger auf das zeitgenössische deutsche Bildungssystem richtet, sind in einer Passage der Rede „Antike und Humanismus“ nachzulesen, die Jaeger am 6. April 1925 in Berlin zur Eröffnung der Tagung „Das Gymnasium“ hielt (Jaeger (1960b) 20): „Beide Mächte unserer Zeit, die Überzivilisation und die Zivilisationsflucht, vernichten in ihrer letzten Übersteigerung die Kultur. Denn Kultur ist nicht äußerer Apparat, ist auch nicht formlose Innerlichkeit. Sie ist hellstes Wissen des Geistes um sich selbst und sicheres Ruhen in seiner Form, zweckfreies Sein und Können. Nur in dieser interessefreien Sphäre ist wahre Bildung zu Hause. Alle echte Bildung ist daher humanistisch, Bildung des Menschen zum Menschen. Alles andere ist doch nur Ausbildung, Durchbildung, Vorbildung, Fortbildung, nicht Bildung, Formation, Herausgestaltung der als „Idee“ über dem Menschen stehenden, als „Entelechie“ in ihm wirksamen
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licher Diskurspläne – des geschichtlichen und des politisch-kulturell engagierten – wurde von einer tiefen Übereinstimmung ermöglicht, die Jaeger zwischen dem griechischen Begriff von paideia und dem deutschen Begriff von Bildung wahrzunehmen glaubte. In diesem Zusammenhang ist ein Abschnitt des Vorwortes der Paideia von besonderer Bedeutung:⁵⁰ Den Griechen tagte zum ersten Mal die Erkenntnis, dass auch die Erziehung ein Prozess bewussten Aufbauens sein muss. Auf diese Art der Erziehung allein ist das Wort Bildung im eigentlichen Sinne anwendbar, wie es denn auch bei Plato zuerst als bildlicher Ausdruck für das erzieherische Tun begegnet. Unser deutsches Wort Bildung bezeichnet das Wesen der Erziehung am anschaulichsten im griechischen platonischen Sinne. Es enthält in sich die Beziehung auf das künstlerisch Formende, Plastische wie auf das dem Bildner innerlich vorschwebende normative Bild, die „Idea“ oder den „Typos“.
Andererseits betrachtet Jaeger die Übereinstimmung der griechischen und deutschen Bildungserlebnisse als Erzeugnis jener „geistlichen“ Erfahrung, die „Humanismus“ genannt werden kann. Dies geht aus einer Passage in der Rede „Antike und Humanismus“ hervor, die Jaeger 1925 in Berlin zur Eröffnung der Tagung „Das Gymnasium“ hielt:⁵¹ Humanismus ist die Kultur- und Bildungs-Synthese dieser Völker [d. h. der modernen Völker] mit dem Griechentum, nicht also eine bloße historische und kausale „Abhängigkeit“, sondern die bewusste Idee einer geistigen Durchdringung mit griechischer Kultur, wie sie von der Römern typisch zuerst verwirklicht worden ist.
II.1 Der Begriff der paideia Aber worin besteht nach der Meinung Jaegers dieser erzieherische Prozess des bewussten Aufbauens, den man auf Griechisch paideia und auf Deutsch Bildung nennt? Und in welchem Sinne ist das medizinische Wissen Teil eines solchen Prozesses? Natürlich ist es nicht möglich, in wenigen Worten einen derart facettenreichen Begriff zu erklären.⁵² Wir möchten uns hier daher auf einen bestimmten Aspekt der von
Form seiner selbst. Humanist sein heißt den Selbstwert geistigen Seins, innerer Form des Menschen empfinden und bejahen, wie wir den Wert eines Kunstwerks empfinden und bejahen.“ Jaeger (1934) 12– 13. Jaeger (1960b) 23. Zum Jaeger’schen Humanismus-Begriff siehe Kipfs Beitrag zu diesem Band. Siehe dazu Landfesters Beitrag zu diesem Band.
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Jaeger gegeben Definition von paideia konzentrieren, nämlich auf die Idee, dass Erziehung und Natur im menschlichen Dasein eng verbunden sind:⁵³ Die Natur des Menschen als eines leiblich-geistigen Wesens schafft für die Erhaltung und Übertragung seiner Artform besondere Bedingungen und fordert besondere leibliche und geistige Veranstaltungen, deren Inbegriff wir mit dem Wort Erziehung bezeichnen. In der Erziehung,wie der Mensch sie übt, wirkt derselbe plastische und zeugerische Lebenswille der Natur, der spontan jede lebendige Art in ihrer Form fortzupflanzen und zu erhalten strebt, aber er ist auf dieser Stufe zur höchsten Intensität gesteigert durch die Zielstrebigkeit des bewussten menschlichen Wissens und Wollens. Hieraus ergeben sich gewisse allgemeine Folgerungen. Erziehung ist zunächst keine individuelle Angelegenheit, sondern ihrem Wesen nach Sache der Gemeinschaft.
Es lohnt sich, drei Punkte dieser Definition zu unterstreichen: 1) die Erziehung wird als Werkzeug der menschlichen Natur und in gewisser Weise als Natur des Menschen an seinem höchsten Punkt bestimmt. In Jaegers Auffassung gibt es deshalb keine Trennung zwischen Natur und Kultur, denn die Funktionen der Erziehung sind die Übertragung und die Erhaltung eines Wesens, nämlich des Menschen, dessen Beschaffenheit durch eine Zusammensetzung von leiblichem und geistlichem Stoff charakterisiert wird; 2) die Erziehung soll als plastische und zeugerische Kraft betrachtet werden, in der der unbewusste und spontane Lebenswille der Natur, welcher im Benehmen der anderen Tiere zu beobachten ist, sich als im menschlichen Wissen und Wollen verkörperte Zielstrebigkeit manifestiert; 3) da die Erziehung einen Beitrag zur Formung und Erhaltung eines komplexen leiblich-geistigen Wesens leistet, kann sie keine individuelle Angelegenheit sein; vielmehr ist sie gleichzeitig Erzeugnis und Grundlage eines Systems interindividueller Beziehungen, worauf sich Jaeger mit dem Ausdruck „Sache der Gemeinschaft“ bezieht.
II.2 Die wesentlichen epistemologischen Aspekte der Medizin nach Jaeger Im Zusammenhang mit seiner Definition von Bildung und innerhalb des allgemeinen Interpretationsparadigmas, das die Stichworte dieser Definition andeuten, müssen wir Jaegers Betrachtung der griechischen Medizin verstehen und auswerten. Denn das der Medizin gewidmete Kapitel des zweiten Bandes von der Paideia beginnt mit einem wahrhaften Loblied dieser Wissensart als eines wesentlichen Teiles der allgemeinen Bildung (ἐγκύκλιος παιδεία) der Griechen und Jaeger (1934) 1– 2.
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sogar als – wir zitieren – „der führenden Kulturmacht im Leben des griechischen Volks“.⁵⁴ Ausgehend von dieser Behauptung, die eher eine schon festgestellte Voraussetzung seines ganzen Arguments als eine noch zu beweisende These zu sein scheint, entwickelt Jaeger ein Begriffspaar – Heilen und Bilden – und stellt dazu ein Prinzip fest – jede Art von Heilung sei bei den Griechen auch eine Art von Bildung –, das er als methodologisches Fundament sowie als theoretische Entdeckung des griechischen medizinischen Wissens betrachtet. Was den methodologischen Aspekt betrifft, basiert die Rekonstruktion Jaegers vor allem auf einer berühmten Passage der Gesetze Platons (857c–d). Hier wird das autoritäre Verhältnis zwischen dem Sklavenmediziner und seinen Patienten von der dialogischen und erzieherischen Beziehung unterschieden, die der Mediziner der freien Menschen mit seinen Patienten gründe.⁵⁵ Was die theoretischen Implikationen des oben erwähnten Prinzips der Äquivalenz zwischen Heilung und Bildung angeht, basiert Jaegers Argument auf zwei Voraussetzungen: 1) Bei den Griechen sei die Medizin das Wissensgebiet, innerhalb dessen das genaue Konzept der menschlichen Natur in seinen einzelnen Bestimmungen systematisch definiert wird;⁵⁶ 2) bei den Griechen materialisiere sich die Bildung in einem formenden
Jaeger (1944) 11: „Wenn wir von der älteren medizinischen Literatur der Griechen überhaupt nichts besäßen, müssten wir rein auf Grund der lobenden Aussprüche Platos über den Arzt und seine Kunst zu dem Schlusse gelangen, dass die Zeit des ausgehenden 5. und des 4. Jahrhunderts ein Gipfel der sozialen und geistigen Achtung in der Geschichte des ärztlichen Standes gewesen ist. Der Arzt erscheint hier einmal als der Träger eines speziellen Wissens von hoher methodischer Verfeinerung; aber zugleich ist er die Verkörperung eines Berufsethos, das für die Beziehung des Wissens auf ein praktisch-ethisches Ziel beispielgebend ist, und das deshalb wieder und wieder angeführt wird, um Vertrauen in die schöpferische Fruchtbarkeit des theoretischen Wissens für den Aufbau des menschlichen Lebens zu erwecken. Wir übertreiben nicht, wenn wir sagen, dass die ethische Wissenschaft des Sokrates, die in Platos Dialogen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht, ohne das Vorbild der Medizin, auf das Sokrates sich beruft, nicht denkbar gewesen wäre. Sie ist ihr von allen damals bekannten Arten menschlichen Wissens am verwandtesten. Aber nicht nur als geistesgeschichtliche Vorstufe der sokratischen, platonischen und aristotelischen Philosophie bedarf die griechische Medizin hier der Würdigung, sondern deshalb, weil sie in ihrer damaligen Form zum erstenmal über die Grenzen eines bloßen Handwerks hinausgewachsen und zu einer führenden Kulturmacht im Leben des griechischen Volkes geworden ist. Die Medizin wurde von jetzt an mehr und mehr zu einem wenn auch nicht unbestrittenen Bestandteil der allgemeinen Bildung.“ Jaeger (1944) 21– 23. Jaeger (1944) 15: „Völlig eindeutig liegt dagegen die Sache bei dem Begriff der Natur (physis) selbst, der allbeherrschend ist. Wir haben schon bei der Würdigung der Sophisten und ihrer Erziehungstheorie den Gedanken, dass die menschliche Physis die Grundlage des Erziehungsprozesses ist, in seiner epochemachenden Bedeutung erkannt. Bei Thukydides fanden wir den gleichen Begriff im historischen Sinne verwandt und sahen, wie sein ganzes geschichtliches Denken aus der Voraussetzung einer sich in ihren Grundzügen zu allen Zeiten gleichbleibenden
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und gestaltenden Prozess, durch den die menschliche Natur verwirklicht wird und ihre höchste Erscheinungsform erreicht. Aber dies hat in dem Deutungsrahmen von Jaegers Paideia zur Folge, dass nicht nur jede Heilung in einer gewissen Art von Bildung besteht, sondern auch dass jeder Bildungsprozess durch medizinische Kategorien bestimmt werden kann, insofern als ein solcher Prozess die Formung und die Behandlung der menschlichen Natur zum Ziel hat:⁵⁷ Die ärztliche Wissenschaft weckt nicht nur Verständnis für medizinische Probleme und medizinisches Denken in weiteren Kreisen, sondern sie gelangt in ihrer Konzentration auf ein Teilgebiet des menschlichen Daseins, das des Körpers, zu Erkenntnissen, die von entscheidender Wichtigkeit sind für den philosophischen Aufbau eines neuen Bildes der menschlichen Natur und damit für die vollkommenere Formung des Menschen.
Man kommt also zum Kernpunkt von Jaegers Auffassung der griechischen Medizin, nämlich zur Behauptung, die Medizin sei das wesentliche epistemologische Modell aller Wissensarten, die eine erzieherische Funktion in irgendeiner Weise erfüllen, und insbesondere der Philosophie. Wir werden diese Behauptung in Bezug auf Jaegers Verständnis von Sokrates’ und Platons Beziehung zur Medizin eingehender diskutieren. Aber ein Punkt muss schon jetzt unterstrichen werden: Jaeger legte großen Wert auf die in vielen hippokratischen Schriften zu findende Bestimmung der Gesundheit als eines körperlichen Zustands, der durch eine Symmetrie der Elemente oder eine proportionierte Mischung der Substanzen, Qualitäten, Kräfte oder Säfte, aus denen die menschliche Natur besteht, zu charakterisieren ist. Diese Bestimmung wurde von Jaeger im Lichte seines eigenen Konzeptes der „Harmonie“ erklärt und hervorgehoben: „Harmonie“ sei bei den Griechen zum einen das letztendliche Ziel des im Allgemeinen betrachteten Geisteslebens sowie das dominierende Merkmal aller politischen und ethischen Theorien. Zum anderen sei das „Harmonisch-Sein“ die beherrschende Eigenschaft jeder Gesellschaft – der griechischen sowie der ihm zeitgenössischen umzubildenden deutschen Gesellschaft –, die als organische Einheit aufgefasst werde. Wohl ausgehend von diesen Voraussetzungen stellte Jaeger die folgende Behauptung auf:⁵⁸ Wenn aber Gleichheit und Harmonie das Wesen der Gesundheit und aller anderen leiblichen Vollkommenheit ausmachen, so erweitert sich das „Gesunde“ zu einem allumfassenden
„menschlichen Natur“ entspringt. Sowohl die Sophisten wie Thukydides sind in diesem Punkte wie auch sonst vielfach von der zeitgenössischen Medizin bestimmt, die den Begriff der Natur des Menschen geschaffen hat und beständig zugrunde legt.“ Jaeger (1944) 37. Jaeger (1944) 58.
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Wertbegriff, der auf die Welt und alles Leben in ihr Anwendung findet; denn seine Grundlagen, Gleichheit und Harmonie, sind die Mächte, die nach der hier zugrunde liegenden Anschauung in jedem Bereich das Gute und Richtige stiften. Die griechische Medizin ist ebenso sehr Wurzel wie Frucht dieser „Weltanschauung“. […] Sie ist deshalb zu einer so repräsentativen Stellung im Ganzen der griechischen Kultur aufgestiegen, weil sie auf dem der unmittelbaren Erfahrung am nächsten liegenden Gebiet die unverletzliche Geltung dieser Grundidee der griechischen Seele am sichtbarsten offenbarte. In diesem höheren Sinne kann man das griechische Ideal der menschlichen Bildung auch als das Ideal des gesunden Menschen bezeichnen.
Wie sich die Koinzidenz dieser zwei Ideale in den Hauptfiguren der griechischen Philosophie tatsächlich manifestierte, welche Aspekte des medizinischen Wissens von der Philosophie insbesondere aufgenommen wurden und wie sie im Lichte verschiedener theoretischer Ziele und methodologischer Probleme uminterpretiert wurden, sind tatsächlich Fragen, die Jaeger sein ganzes Leben hindurch zu beantworten versuchte.
II.3 Sokrates Wir wollen jetzt untersuchen, wie Jaeger diese Fragen beantwortete und wie sich die Betrachtung des Verhältnisses der Medizin zur Philosophie in Jaegers allgemeine Darstellung der griechischen τέχνη ἰατρική einfügt. In manchen seiner wichtigsten Werke wie der Paideia und der Monographie über Diokles von Karystos sowie in vielen anderen Beiträgen analysiert Jaeger verschiedene historisch gegebene Formen der Beziehung zwischen Medizin und Philosophie mit besonderem Verweis auf die Figuren Sokrates, Platon und Aristoteles. Eigentlich beschränkt Jaeger sich nicht darauf, die Existenz dieser Beziehung anzudeuten, sondern er definiert die Medizin ganz ausdrücklich als „geistesgeschichtliche Vorstufe der sokratischen, platonischen und aristotelischen Philosophie“ (vgl. Anm. 52). Zuerst sollen die Bemerkungen Jaegers über die Stellung der Medizin in der Gedankenwelt des Sokrates betrachtet werden, die in dem ihm gewidmeten Kapitel der Paideia zu lesen sind. Die Ansicht, dass gewisse Hauptpunkte der sokratischen Lehre eine medizinische Herkunft haben, stützt Jäger zunächst auf zwei Passagen der Memorabilien des Xenophon (I,4; IV,3): In diesen legt Sokrates seine Auffassung von der Struktur des Kosmos dar. Hier behauptet Sokrates, die Natur als Ganzes werde von einer allgemeinen zielorientierten Tendenz sowie von einem ordnenden und gestaltenden Prinzip beherrscht. Interessanterweise werden diese Eigenschaften des Kosmos im Zusammenhang mit – und im Lichte von – den Eigenschaften und Tätigkeiten des menschlichen Körpers von Sokrates erklärt: Dies interpretiert
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Jaeger als Beispiel der sokratischen Kritik des abstrakten naturalistischen Denkens sowie als Ergebnis der anthropozentrischen Weltanschauung des Sokrates. Tatsächlich rückt bei Jaeger die Medizin in den Blickpunkt, wenn er sich auf die Quellen des Anthropozentrismus des Sokrates bezieht. Denn nach Meinung Jaegers finden wir in den medizinischen Schriften der Zeit, z. B. in der hippokratischen Schrift Über die alte Heilkunst dieselbe methodologische Umkehrung der Beobachtungsordnung zwischen Mensch und Kosmos und deshalb dieselbe Aufwertung der induktiven Untersuchungsmethode gegenüber den abstrakten Spekulationen der physiologoi, die der sokratischen Lehre eigen sind:⁵⁹ Auch einem Arzt wie dem zeitgenössischen Autor „Über die alte Medizin“ gilt die ärztliche Kunst als der bisher einzige Teil der Naturerkenntnis, der auf wirklicher Erfahrung und exakter Beobachtung beruht. Er denkt, dass die Naturphilosophen mit ihren Hypothesen ihn nichts lehren können, sondern allenfalls von ihm etwas zu lernen hätten. Diese anthropozentrische Wendung ist für die Zeit der späteren attischen Tragödie und der Sophisten ganz allgemein charakteristisch; verbunden ist mit ihr, wie Herodot und Thukydides zeigen, derselbe empirische Zug, der sich in der Emanzipation der Medizin von den Welthypothesen der Naturphilosophen ankündigt. Wir haben hier [in der Medizin] die schlagendste Parallele zu der Abkehr des sokratischen Denkens von den hochfliegenden Spekulationen der Kosmologie, dieselbe nüchterne Hinwendung zu den Tatsachen des menschlichen Lebens. Wie die gleichzeitigen Mediziner findet er in der Natur des Menschen, als dem uns bekanntesten Teile der Welt, die feste Grundlage seiner Analyse der Wirklichkeit und den Schlüssel zu ihrem Verständnis.
Aber Jaeger beschränkt sich nicht darauf, eine auf einen bestimmten intellektuellen Kontext zurückgehende Gemeinsamkeit der medizinischen und der sokratischen Lehre zu identifizieren. Er geht weiter und behauptet, dass Sokrates die Medizin als sein privilegiertes epistemologisches Modell betrachtete. In dieser Hinsicht stellt Jaeger die sokratische Auffassung der Natur als Bindeglied zwischen einer noch impliziten Form von Teleologie – nämlich der hippokratischen – und dem systematischen Finalismus des Aristoteles dar:⁶⁰ Sokrates ist ein wirklicher Arzt. Doch vor allem ist er der Arzt des inneren Menschen. Der Beweis für die Zweckmäßigkeit des Kosmos lässt in der Art, wie Sokrates hier die körperliche Natur des Menschen betrachtet, deutlich erkennen, dass auch die teleologische Wendung bei ihm mit jener empirisch-ärztlichen Haltung eng zusammenhängt.
Im Lichte dieser Betrachtungen kann Jaeger die Bestimmung der Philosophie als „Heilung der Seele“, θεραπεία τῆς ψυχῆς, die man in der Apologie des Sokrates Jaeger (1944) 79 – 80. Jaeger (1944) 81.
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findet (29d und 30b), im ganz konkreten und nicht metaphorischen Sinne verstehen, denn die θεραπεία, die Sokrates als Ziel und Substanz der Philosophie vorschlägt, werde durch zwei Eigenschaften charakterisiert, die direkt aus dem medizinischen Begriff therapeia hervorgehen: 1) In beiden Fällen geht es um Tätigkeiten, in denen bestimmte Formen von Heilung (des Körpers sowie der Seele) auf einem bildenden und erzieherischen Prozess beruhen; 2) unabhängig von dem spezifischen Objekt jeder dieser beiden Arten von Heilung (dem Körper für die Medizin, der Seele für die Philosophie) sei die Betrachtung des Individuums als Zusammensetzung von Körper und Seele die Voraussetzung des ganzen heilenden/erzieherischen Prozesses, wie Jaeger in einer weiteren Passage ausdrücklich behauptet:⁶¹ Die Seelenpflege zeigt sich zunächst nicht etwa in der Vernachlässigung des Leibes.Wie wäre das auch möglich bei dem Manne, der die Notwendigkeit einer besonderen „Behandlung“ der Seele, der gesunden wie der kranken, von dem Arzt des Körpers gelernt hat. Seine Entdeckung der Seele bedeutet nicht ihre Trennung vom Leibe, wie so oft fälschlich gesagt wird, sondern ihre Herrschaft über den Leib. Aber um der Seele richtig dienen zu können, muss der Leib selbst gesund sein. Das mens sana in corpore sano ist Ausdruck echt sokratischen Geistes.
II.4 Platon Es wäre aber nicht möglich, von Sokrates zu reden, ohne zu berücksichtigen, dass die uns bekannte Figur des Sokrates in hohem Maße eine literarisch-philosophische Konstruktion Platons ist, was auch erklärt, warum Jaegers Darstellung des Verhältnisses der sokratischen Erziehungsmethode zur Medizin sich als Einführung in eine Betrachtung der Medizin bei Platon anbietet.⁶² Um die wesentlichen Aspekte solcher Betrachtung einzuleiten, kann eine Stelle eines späteren Beitrages Jaegers über die medizinische Herkunft des platonischen Begriffes des θυμοειδές – „des Muthaften“ – zitiert werden:⁶³ I have tried in my Paideia to reinterpret Plato’s philosophy as a whole, and especially the structure of the Republic, in the light of the medical analogy, after the pattern of which Plato in the Gorgias had conceived his own politike techne. Philosophy pretends to do for the soul what medicine does for the body, he had stated in the Gorgias. The Republic is
Jaeger (1944) 95 – 96. Für eine eingehende Betrachtung des Jaeger’schen Ansatzes zu Platon siehe Dorothea Fredes Aufsatz oben in diesem Band. Jaeger (1946) 125 – 26.
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the work in which Plato carries out this program of a new philosophy. Just as the Gorgias defines Plato’s philosophy, the Republic is the perfect illustration of the politike techne of the philosopher, which is a kind of medical art concerned not with the body but with the soul. The state discussed in it is the state of man’s soul. The political art corresponding to the art of the physician which Plato establishes in this work is the Socratic education.
Das Beeindruckendste an dieser Behauptung ist ihr Absolutheitsanspruch. Denn Jaeger beschränkt sich nicht darauf, zu unterstreichen, dass Platon die Medizin als analogisches Modell oder als metaphorischen Verweis auf manche Aspekte des philosophischen Diskurses verwendet. Jaeger geht tatsächlich viel weiter, indem er behauptet, Platon beschreibe die Philosophie als Ganzes und insbesondere ihre erste Materialisierung als erzieherische Tätigkeit – nämlich die τέχνη πολιτική – als eine Art Heilkunst. ⁶⁴ Ein gutes Beispiel dieser Tendenz zur Verabsolutierung der Rolle der Medizin im platonischen Diskurs wird vom Gorgias geboten, auf den Jaeger so oft Bezug nimmt. Hier definiert Platon das menschliche Leben als Zusammensetzung von Körper und Seele und unterscheidet deshalb zwischen der Behandlung des Körpers und der Behandlung der Seele. Auf der Basis einer solchen Unterscheidung bezieht sich Platon tatsächlich auf die Medizin, aber im Rahmen einer breiteren analogischen Beweisführung (464b–c): Wie es eine Behandlung des gesunden Körpers – nämlich die Gymnastik – und eine des kranken Körpers – die Medizin – gibt, so unterscheidet sich auch die Heilung der Seele in zwei Disziplinen, die eine normative bzw. berichtigende Funktion haben: in die Gesetzgebung (deren Ziel es ist, die Tätigkeiten der gesunden Seele zu regeln) und in die Rechtsprechung, die sich mit den pathologischen Formen von Seelentätigkeit beschäftigt. In dieser Hinsicht ist es ohne Zweifel korrekt zu behaupten, dass Medizin und Rechtsprechung als parallele oder analogische Wissensformen von Platon betrachtet werden. Aber Jaegers Behauptung, dass Platons Gorgias die Darstellung der τέχνη πολιτική als Art von Heilkunst zuerst begründe, ist etwas radikaler und beschränkt sich nicht auf die Betrachtung der von Platon vorgeschlagenen analogischen Beweisführung. Hier geht es uns nicht so sehr darum, die allgemeine Gültigkeit dieser Behauptung zu diskutieren: einer Behauptung, die in gewisser Weise wesentliche Aspekte der platonischen Lehre ans Licht brachte, dieselben Aspekte, die Jacques Jouanna vor einigen Jahren in einem Beitrag über le médecin comme modèle du legislateur fokussierte.⁶⁵ Es geht uns eher um die drei Hauptpunkte, auf die Jaegers Behauptungen über Platons Anwendung der Medizin als Paradigma der Philosophie und der Politik beruhen: 1) Die Gerechtigkeit wird von Platon vor allem als Über Jaegers Darstellung des Platon vgl. Kahn (1992). Jouanna (1978) 77– 91.
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innerer Zustand einer Seele bestimmt, in den ihre drei Teile – das Begehrende, das Muthafte und das Vernünftige – harmonisch zusammengesetzt sind. Der abstrakte Begriff von „Recht“ wäre deshalb nur die Projektion und gleichzeitig das Ergebnis dieser inneren individuellen Gerechtigkeit, die mit der harmonischen Formung der menschlichen Natur zu tun hat. Die Medizin sei das epistemologische Modell sowie die theoretische Voraussetzung dieses Begriffes von Gerechtigkeit aus den folgenden Gründen: Die hippokratischen Kreise hatten eine Definition von Gesundheit als harmonische Mischung der körperlichen Elemente entwickelt; die Medizin konnte der Philosophie eine normative Bestimmung der menschlichen Natur bieten. 2) Die Philosophie als entscheidender Weg zur Formung des perfekten politischen Menschen besteht aus einer positiven und einer negativen Wissenschaft der Tugend – Jaeger spricht von einer Physiologie und einer Pathologie der Tugend –, insofern als die Philosophie sich nicht nur die Erreichung der Tugend, sondern auch die Berichtigung ihrer degenerierten Formen zum Ziel macht. In dieser Hinsicht, behauptet Jaeger, entspräche die epistemologische Struktur der Philosophie der des medizinischen Wissens. 3) Nach Meinung Jaegers sei auch die platonische Theorie der Seelendreiteilung in hohem Maße von einer medizinischen Quelle – der hippokratischen Schrift Über die Umwelt – inspiriert worden. Denn in eben dieser Schrift wurde der von Platon so oft benutzte Begriff des thymoeides zum ersten Mal in den übrig gebliebenen Texten der griechischen Literatur angewandt, um den Geist des europäischen Menschen zu bestimmen, und in eben dieser Schrift finden wir einen Vergleich zwischen dem heftigen Charakter der europäischen und dem zur Lust neigenden der asiatischen Völker. In welcher Weise Jaeger tatsächlich den hippokratischen Ursprung der platonischen Seelendreiteilung auf solchen textuellen Voraussetzungen zu gründen versuchte, kann man aus der folgenden Passage des schon zitierten Beitrages „A new Greek word in Plato’s Republic“ entnehmen:⁶⁶ It is evident that Plato took from Hippocrates not only the word thumoeidês for his concept of the spirited part of the soul, but also the characteristic features of that aspect of the life of the soul. […] As is clear now, it was Hippocratic medicine that suggested to him the idea of treating the thumoeidês as an independent part of the soul. And as Hippocrates had derived the war-like character of the peoples of Europe from the fact that the thumoeidês prevailed in their mental and emotional structure, so Plato chose his warrior class or guards from those citizens of his ideal state in whose nature the thumoeidês was the predominant feature. It is equally clear that his epithumetikon and the class of society corresponding to it have certain traits on common with Hippocrates’ Asiatic type, which is tame, peaceful, cultivates the crafts, and loves gain and sensual pleasure.
Jaeger (1946) 129 – 30.
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Es ist hier nicht möglich, Jaegers Argumentation ausführlich zu diskutieren. Es geht uns darum, dass es in der Struktur dieser Argumentation einen Kurzschluss gibt zwischen den Schlüssen, zu denen Jaeger kommt, und den Voraussetzungen, auf denen die ganze Betrachtung des vorgeschlagenen Themas basiert. Denn beide von Jaeger angewandten Argumente – das sprachliche und das theoretische – sind relativ schwach, wenn man nicht zunächst einmal zugibt, dass die Medizin das erste und wichtigste Modell der platonischen Philosophie ist.Was das sprachliche Argument betrifft, ist die Tatsache an sich, dass das Adjektiv thymoeides nicht in anderen früheren erhaltenen Texten zu finden ist, kein unbestreitbarer Beweis dafür, dass dieser Begriff ein originäres Erzeugnis des hippokratischen Autors von De aëre aquis locis ist⁶⁷ und dass Platon ihn unbedingt direkt aus dieser Schrift entnommen haben muss.Was das theoretische Argument angeht, scheint Jaeger die Tatsache zu übergehen, dass der Vergleich zwischen den geistigen sowie körperlichen Eigenschaften des europäischen/griechischen Menschentyps und denen des asiatischen Menschentyps ein Leitmotiv der griechischen ethnologischen Untersuchung des 5. Jahrhunderts war: auch in Herodot z. B. finden wir ein ähnliches Interpretationsschema.⁶⁸ Andererseits scheint es schwerlich akzeptabel, dass die Theorie der Seelendreiteilung direkt oder sogar ausschließlich aus diesen sogenannten „ethnologischen“ Untersuchungen stammte und nicht aus einer langen griechischen Denktradition – die wir schon auf die homerische Darstellung des menschlichen Körpers zurückführen können, die die Lokalisierung von verschiedenen kognitiven und emotionalen Fähigkeiten sowie von verschiedenen Verhältniseigenschaften des Menschen in bestimmten Körperteilen zum Ziel hatte.⁶⁹ Das Adjektiv θυμοειδής kommt dreimal in der hippokratischen Schrift Über die Umwelt vor: im Kap. 12 (222,2 Jouanna) in Bezug auf das Temperament der Ägypter und der Libyer: „Dieses Land kommt begreiflicherweise dem Frühling sehr nahe in seiner Natur und der Mäßigung seines Klimas. Tapferkeit aber, Abhärtung, Arbeitsamkeit und Mut (θυμοειδές) kann in solcher Natur nicht entstehen“; im Kap. 16 (228,5 Jouanna) noch in Bezug auf das Temperament der asiatischen Menschen: „Infolgedessen tritt keine Erschütterung des Geistes oder starke Umstellung des Körpers ein, wodurch die Menschen natürlich in ihrem Temperament erregt werden und mehr Tollkühnheit und Mut (θυμοειδές) haben, als wenn sie immer unter den gleichen Verhältnissen leben“; im Kap. 23 (243,4 Jouanna), dieses Mal in Bezug auf das Temperament der europäischen Menschen: „Wildheit, Unzugänglichkeit, Mut (θυμοειδές) und Zorn zeigt sich in derartigen Naturen.“ Vgl. Althoff (1993) 1– 16, Thomas (2000) 28 – 101, Sassi (2000) 137– 62 und (2001) 101– 11, Lo Presti (2012) 189 – 95. Schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat Onians (1954) 13 – 91 einen systematischen Überblick über die homerischen und vorsokratischen Theorien bezüglich der Erkenntnisprozesse, ihrer physiologischen Grundlagen und Lokalisierung geboten. Onians zeigt, dass die Leber schon bei Homer als körperliches Zentrum oder Quelle bestimmter Emotionen betrachtet wurde, und
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II.5 Jaegers Auffassung der griechischen Medizin und der ärztliche Humanismus An diesem Punkt scheint es deutlich, dass die Untersuchung der Beziehungen zwischen Medizin und Philosophie im klassischen Altertum ein wesentlicher Teil von Jaegers breiterer geistesgeschichtlichen Rekonstruktion des griechischen Bildungsideals war. Aber diese Rekonstruktion war auch die geschichtliche Projektion eines militanten erzieherischen Vorhabens, das sich am geistigen Wiederaufbau der zeitgenössischen deutschen Gesellschaft orientierte und für das Jaeger sich engagierte. Ein Zeichen, dass Jaegers Darstellung der Medizin in gewissem Maße zweckmäßig für die Definierung seines eigenen kulturellen Projektes war, ist die Tendenz zur Generalisierung und Verabsolutierung der Untersuchungsergebnisse, die er in diesem Bereich erreichte, als ob er eine präformierte These hätte, die in Bezug auf jede Hauptfigur der griechischen Philosophie zu verteidigen und zu bestätigen wäre. In dieser Hinsicht ist es an der Zeit, uns auf die Frage zu konzentrieren, auf welchen ideologischen, theoretischen und rhetorischen Voraussetzungen Jaegers stark idealisierte Auffassung der Medizin als privilegierter Weg zur Bildung beruht. Anders und noch genauer formuliert: Entstand die Darstellung der Medizin als Paradigma der Formung des griechischen Menschen zuerst und hauptsächlich aus Jaegers eigenem Verständnis der griechischen Gedankenwelt? Oder wurden die Grundlagen solcher Darstellung auch in anderen intellektuellen Kontexten – z. B. innerhalb bestimmter medizinischer Kreise – entwickelt und als in der geistigen Krise der deutschen Eliten verlorene und wieder aufzunehmende Ideale nachvollzogen und verteidigt? Unser Eindruck ist tatsächlich, dass wir nicht zu einem richtigen Verständnis von Jaegers Ideen zur griechischen Medizin kommen können, ohne dass wir uns die Fragen stellen, in welchem Maße das medizinische Wissen der Zwanziger- und Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts an den radikalen Transformationen des deutschen Kultursystems teilhatten und durch welche Umgestaltungsprozesse Teile dieses Wissens auf solche Transformationen reagierten. Denn interessanterweise wurden dieselben Gefühle von Krise, Dekadenz und Sinnlosigkeit, die Jaeger als Charakteristikum der humanistischen Studien präsentierte, auch von einer langen Reihe von medizinischen Schriften und öffentlichen Debatten über die Natur und die gesellschaftliche Rolle der Medizin widergespiegelt. Dies ist z. B. der Fall bei einem Artikel über „Das Problem des Menschen in der Medizin“, der von dem Neurologen und Begründer der psychosomatischen Medizin Viktor von
analysiert, aus welchen Gründen die Herzregion bzw. das Gehirn als Primärorgane des Wahrnehmungs- und des Denkvermögens angenommen wurden.
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Weizsäcker geschrieben wurde. So schrieb von Weizsäcker bezüglich des Begriffes der Behandlung:⁷⁰ Behandlung wäre also Teilnahme an der Ermöglichung menschlicher Gesellschaft. In diesem Falle muss hinzugefügt werden, dass ärztliche Behandlung der menschlichen Gesellschaft sich wiedereinschränkt auf solche Störungen, welche diese Gesellschaft als krankhaft bezeichnet, ohne jedoch zu wissen, was dahinter steckt.
Aber man findet diese Parallele auch in einer Vorlesung, die 1928 vom Rektor der Universität München zum Thema „Die Krise der Medizin“ gehalten wurde. In dieser Vorlesung wurden die folgenden Tendenzen und Transformationen des medizinischen Wissens als Ursachen seiner Krise gedeutet: die getrennte Behandlung des Körpers und der Seele, die Spezialisierung und Technisierung der Heilung, die die humanistische Dimension der Medizin verdunkele, die gestiegene Unfähigkeit der Ärzte, eine integrale Wahrnehmung des Körpers als organisches Ganzes zu entwickeln und eine erzieherische Kommunikation mit dem Patienten zu etablieren.⁷¹ In diesen Texten, die von akademischen Ärzten für ein medizinisches Publikum geschrieben wurden, findet man manche der Stichworte, die Jaeger in seinen polemischen und programmatischen Schriften über den Sinn und die Perspektiven der altertumswissenschaftlichen Studien so oft benutzte. Das ist überhaupt nicht überraschend, denn, wie Fritz Ringer – der Autor eines sehr gut dokumentierten Buchs über den Niedergang der deutschen Bürokraten in den Jahren der großen Krise – bemerkt hat, „Synthesis, the whole, understanding, viewing, forming, educating: the slogans were always the same.“⁷² Aber jenseits der Verwendung derselben allgemeinen Schlagwörter ist eigentlich die Tatsache bemerkenswert, dass die Selbstdarstellung gewisser Medizinkreise auf einer Bestimmung der Medizin als „philosophischer, heilender und bildender Tätigkeit“ beruhte und dass eine solche Bestimmung ihrerseits eine Genealogie des medizinischen Wissens implizierte, die ihren Ursprung sowohl in der Lehre des Hippokrates als auch in der erzieherischen Methode von Sokrates und Platon hatte. Ein perfektes Beispiel dieser in deutschen Medizinkreisen verbreiteten Tendenz, die Medizin und die Philosophie als miteinander verbundene Disziplinen und eigentlich als einheitliche Art des Denkens zu betrachten, ist noch einmal in einer
Von Weizsäcker (1987a) 368. Diese Vorlesung wird von Ringer (1969) 385 erwähnt. Ringer (1969) 387.
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Schrift von Weizsäckers zu finden. Bezeichnenderweise geht es um eine 1926 verfasste Schrift mit dem Titel Helfen und Bilden: Hippokrates und Paracelsus: ⁷³ Denn der Arzt ist ein geistig durchgebildeter, ein wissender, ein nicht an Einzelheiten klebender, sondern das Ganze erwägender und kennender Mann. Und indem er dies Ganze der Einzelheiten erkennt (dies holon), ist er im Sinne des Griechen des fünften Jahrhunderts eben unter allen Umständen der Überlegene. Totalität und Ganzheit seiner Bildung, Ganzheit seiner Weltanschauung sind es,was ihn über die Masse erhebt, wodurch er seinen Platz unter den ersten der polis hat, wie ein Botschafter, ein Diplomat, wird er auch bezahlt; er ist ein vornehmer Mann, d. h. einer, dem die Eigenschaften des Philosophen zukommen.
Weiter schreibt von Weizsäcker in einem 1929 veröffentlichten Beitrag:⁷⁴ Ich meine, als Arzt darf ich die Frage stellen, ob nicht die Erkenntnis der Wahrheit eben doch dort erst beginne, wo sie den Denker gesund macht – gesund freilich nun im ersten und im letzten Sinne von der naivsten Daseinsfreude am Lichte bis zu der Gesundheit, welche Sokrates meint, als er bei schon erkaltetem Unterkörper die Freunde ermahnt, dem Äskulap einen Hahn zu opfern. Dieselbe Wahrheit, die ihn tötet, macht ihn eben damit auch gesund. Wo freilich also der Philosoph in solcher Weise dem Arzte Verehrung zollt, da darf der Arzt dem Philosophen gerne und bedingungslos den Vortritt gewähren. Gesundheit und Wahrheit sind dann wirklich dieselben geworden.
Diese Zitate Viktor von Weizsäckers sind bedeutungsvoll und bemerkenswert, weil diese Artikel viele Jahre früher als der erste Band von Jaegers Paideia veröffentlicht wurden, und in jedem Fall gehen sie Jaegers wichtigsten Beiträgen über die Beziehung zwischen Philosophie und Medizin voran. Von Weizsäckers Ideen über das philosophisch-erzieherische Potential und die paradigmatische Funktion der griechischen Medizin müssen deshalb unabhängig von Jaegers geistesgeschichtlichen Untersuchungen entwickelt worden sein. Aus welchen Quellen stammten diese Ideen dann? Primär aus von Weizsäckers tiefer Bekanntschaft mit der Freud’schen Psychoanalyse, die das Griechentum als unerschöpfliche Quelle archetypischer Benehmens- und Denkschemata des abendländischen Menschen dargestellt hatte; zweitens aus von Weizsäckers großer Sensibilität für die zeitgenössische philosophische Debatte und insbesondere aus seiner Bekanntschaft mit Heideggers phänomenologischen Untersuchungen über die Neudefinierung der Menschlichkeit in der Zeit der Technisierung – Untersuchungen, die auf einer
Von Weizsäcker (1987b) 144. Von Weizsäcker (1987c) 244.
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durchgehenden Betrachtung und oft auf einer philosophisch und ideologisch orientierten Umgestaltung des Weltbildes der Griechen basierten.⁷⁵ Allerdings ist es nicht möglich, einen direkten und dokumentierbaren Einfluss von Weizsäckers auf Jaeger zu belegen, denn es gibt in Jaegers Schriften keinen festen Beweis für einen direkten Kontakt zwischen ihnen. Trotzdem ist es schwer vorstellbar, dass die Übereinstimmung zwischen Jaegers und von Weizsäckers Behauptungen über die Stellung der Medizin im Rahmen der Natur- und Geistwissenschaft rein zufällig wären. Jaeger und von Weizsäcker gehörten der höchsten Elite der deutschen akademischen Gemeinschaft an – der eine als Philologe und Professor an der Berliner Universität, der andere als berühmter Professor für Neurologie an der Universität Heidelberg – und es ist deshalb möglich und sogar plausibel, dass der eine die Möglichkeit hatte, mit den Ideen des anderen – oder zumindest mit den Quellen dieser Ideen – in einem gewissen Maße bekannt zu werden. Ferner gehörten sie beide zu einem breiten intellektuellen Milieu, innerhalb dessen das Griechentum als „ideales Maß“ des neu zu definierenden deutschen Kultursystems und die Bildung als Kernstück dieses Systems betrachtet wurden.⁷⁶ Es kann keinen Zweifel daran geben, dass ihre Zugehörigkeit zu diesem Milieu eine wichtige Rolle dafür spielte, dass sie eine ähnliche Auffassung der Verbindung zwischen Medizin und Philosophie sowie die gleiche Sensibilität für das erzieherische Potential des Dialoges zwischen Arzt und Patient entwickelten: Im Fall von Jaeger ergab die Anerkennung einer solchen Verbindung einen Schlüssel zum Verständnis des griechischen Bildungsideals, wohingegen dieselbe Anerkennung für von Weizsäcker die geschichtlich-theoretische Voraussetzung für die Begründung einer neuen humanistischen und zwar wissenschaftlichen Medizin war. Abschließend ist also zu sagen, dass Jaegers Auffassung der griechischen Medizin als ein paradigmatisches Beispiel der Weise gelten kann, wie Wissenschaft und Ideologie sich bei der Betrachtung des griechisch-römischen Altertums gegenseitig beeinflussen. Eine genauere Untersuchung der unterliegenden Struktur und der Folgen solcher gegenseitigen Beeinflussung in Jaegers paideiaBegriff wird es ermöglichen, die Stellung der Medizin im Rahmen seiner geistesgeschichtlichen Betrachtung des Griechentums besser zu verstehen. Dies bedeutet
Über das Leben und das Werk Viktor von Weizsäckers vgl. Benzenhöfer (2007), Dressler (1989), Emondts (1993), Gadamer (1996) 83 – 102, Masullo (1992) und die Webseite der Viktor von Weizsäcker-Gesellschaft: http://viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de. Als weiteren Beweis dafür, dass die humanistische Bildung als Zentrum des Bildungsprozesses auch in Bezug auf den ärztlichen Beruf anerkannt wurde, kann man auch einen Vortrag erwähnen, der 1912 in der Versammlung der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Berlin vom Mediziner Berthold Kern gehalten wurde (Kern (1913)).
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einerseits, den Grad historiographischer Genauigkeit von Jaegers Darstellung der antiken Medizin zu bestimmen; andererseits bedeutet es auch, das kulturelle Projekt der Historisierung der humanen Wertewelt und Humanisierung der europäischen Historie besser aufzuklären, zu dessen Entwicklung eine solche Darstellung in direkter oder indirekter Weise auch beigetragen hat.
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Werner Jaegers Blicke auf das antike Christentum Auf den ersten Blick ist zu befürchten, dass mein Beitrag eine schlichte Dublette darstellt – wobei ich in unseren Zusammenhängen das Drama natürlich vornehmer formulieren könnte: Es ist zu befürchten, dass meine Ausführungen bestenfalls eine παλινῳδία werden können. Paul T. Keyser, heute als Informatiker tätig, hat auf der Konferenz „Werner Jaeger reconsidered“ von 1990 über „Werner Jaeger’s Early Christianity and Greek Paideia“ gehandelt,¹ aber in diesem Beitrag weit mehr besprochen als die Carl Newell Jackson-Vorlesungen, die Jaeger 1960 unter eben diesem Titel in Harvard gehalten hat und die 1963 unter dem Titel „Das frühe Christentum und die griechische Bildung“ im Verlag Walter de Gruyter in Berlin erschienen sind.² Das schmale, aber gehaltvolle Büchlein war Jaegers letzte Veröffentlichung, am 19. Oktober 1961 ist er gestorben; wir werden auf den Text am Ende dieser Ausführungen zurückkommen. Eine schlichte Repetition der Ausführungen von Keyser oder eben eine παλινῳδία muss freilich nicht befürchtet werden, weil doch für ein Gesamtbild allerlei weitere Quellen heranzuziehen sind, die im genannten Beitrag fehlen, und zudem alles stärker im Lichte der Geschichte der Beschäftigung mit dem antiken Christentum in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gesehen werden muss. Hinzu kommt das Problem fehlender Quellen: Keyser hat nicht nur Äußerungen Jaegers über das antike Christentum aus diversen Lebensepochen und literarischen Kontexten zusammengestellt, sondern auch nach deren Wurzeln in Jaegers religiöser Mentalität aus Kinder- und Jugendtagen gesucht.³ Freilich muss man sich klarmachen, dass die Quellen, auf die sich Keyser bezieht, doch relativ spät zu datieren sind: In einem „Zur Einführung“ überschriebenen Vorwort für seine beiden Bände der „Scripta Minora“ von 1960 hat Jaeger mit knappen Worten das Kempener Gymnasium Thomaeum charakterisiert, an das er im Jahre 1902 nach vier Jahren auf der katholischen höheren Knabenschule seines nahe gelegenen Geburtsortes Lobberich wechselte:⁴ Der Patron unseres Gymnasiums war der grosse Mystiker Thomas a Kempis, der Verfasser der Imitatio Christi, des nächst der Bibel meist verbreiteten und übersetzten Buchs der Weltli-
Keyser (1992). Jaeger (1963) = Jaeger (1961). Keyser (1992) 83 – 89. Jaeger (1960b) X.
DOI 10.1515/9783110548983-009
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teratur. Die Stille und Innerlichkeit seiner Weltbetrachtung, die noch in der Frömmigkeit des Niederrheins zu spüren war, passte zu der Schönheit der heimischen Seenlandschaft.
Kempen gehörte seit napoleonischen Zeiten zu den preußischen Rheinlanden, aber die Mehrheit der Stadt war katholisch. Die Familie Jaeger dagegen war seit Generationen durch ihre evangelisch-lutherische Konfession geprägt und lebte am Niederrhein, wie Jaeger selbst in anfänglichen, aber ebenfalls späten Notizen für eine Autobiographie schreibt, „the age-old, deeply rooted legacy of their Protestant faith“.⁵ Freilich: Von einer gefestigten evangelischen Identität mit antikatholischer Spitze ist bei Jaeger weder in den späten autobiographischen Texten noch in anderen Veröffentlichungen (jedenfalls so weit ich sie kenne) etwas zu spüren; wenn Jaeger seine Mentalität in den späten autobiographischen Notizen als eine Synthese aus der Frömmigkeit seiner Großeltern und der Rationalität seiner Eltern beschreibt, wirkt dieser Dual nicht wenig konstruiert. In Wahrheit bilden schon die genannten Großeltern im Blick auf ihre religiösen Mentalitäten keine Einheit: Der Großvater Johann Ludwig Birschel wird von Jaeger als liberaler kaiserzeitlicher Protestant portraitiert: Er war „entirely non political and non church-going [and had] an enlighted outlook“,⁶ während die Großmutter Pauline Birschel offenbar vom rheinischen Pietismus in Wuppertal geprägt war, den Jaeger für ein englisches Publikum (historisch nicht vollständig zutreffend) als „a genuine theocracy, like those in the Puritan Commonwealths of New England where the Pastor ruled and theology penetrated all thought and earthly conduct“⁷ beschreibt. Jaeger selbst charakterisiert sich in den letzten Schuljahren in jenem späten Essay als halben Theologen: „Even in the Gymnasium I was half a theologian, and my graduation certificate specified that I would go on to the study of both classical philology and theology.“⁸ Rückschlüsse auf die persönliche Frömmigkeit von Werner Jaeger erlauben aber alle diese (meist, wie gesagt, sehr späten Zeugnisse) im Unterschied zu Annahmen von Paul Keyser nicht. Die spannende Frage, wie er mit seiner zweiten, jüdischen Frau zusammenlebte, vermag ich nicht zu beantworten; jedenfalls ist er nach der Ordnung eines memorial service beerdigt worden.⁹ Auch wenn wir so wenig über Jaegers persönliche Haltung zur Religion und seine Frömmigkeit wissen, scheint mir deutlich, dass die Äußerungen über die starke theologische Prägung während der Kempener Gymnasialzeit eher auf ein
Jaeger (1966) 11. Jaeger (1966) 11. Jaeger (1966) 15. Jaeger (1966) 38. Order of Funeral Service, Harvard University Memorial Church, 22.10.1961.
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wissenschaftliches Interesse am Christentum hindeuten als auf eine besonders intensive Religiosität. Denn spätestens beim Studium in Marburg und Berlin erfolgte die endgültige Entscheidung für die klassische Philologie. Laut der Vita, die der Dissertation beigefügt ist, studierte Jaeger allerdings auch bei Theologen (wobei es mir nicht gelungen ist aufzuhellen, bei welchen).¹⁰ Manches spricht für Harnack: William Calder III berichtet, dass im Büro Jaegers in Harvard „the twin icons“ von Wilamowitz und Harnack hingen; Wilamowitz war ohne Zweifel die prägende philologische Lehrgestalt des Berliner Studiums der Jahre 1907 bis 1911 und dann der Jahre bis zur Habilitation im Jahre 1914: „Die grösste Erscheinung im Leben der Philologie um die Jahrhundertwende war unstreitig Wilamowitz, sein Name traf unser Ohr schon im Schulunterricht, dessen geschichtlichen Horizont sein griechisches Lehrbuch zu erweitern suchte.“¹¹ Wenn man sich allerdings klarmacht, dass der Gräzist Wilamowitz seinen kirchenhistorischen Kollegen Harnack wegen angeblich mangelnder philologischer Kompetenz nicht sonderlich schätzte und zudem offenbar von tiefem Neid auf die engen Beziehungen zwischen dem Schwiegervater Mommsen und dessen liberalem Ersatzschwiegersohn Harnack erfüllt war, stellte das Bilderpaar im Büro eine durchaus kühne Nachbarschaft dar. Man kann sich angesichts der deutlichen Vorbehalte, die Wilamowitz in Briefen an Jaeger über den Schwiegervater Mommsen äußerte,¹² schwer vorstellen, dass man gleichzeitig Wilamowitz und Harnack nahe stehen konnte. Gleichwohl spricht Jaeger einmal brieflich „von dem persönlich Bestrickenden an Harnack“.¹³ Wie nahe sich Harnack und Jaeger wirklich standen, ist – im Unterschied zu dem Verhältnis zwischen Wilamowitz und Jaeger – trotzdem schwer zu sagen; der Berliner Nachlass Harnacks überliefert keine Korrespondenz zwischen beiden und die große Biographie der Tochter erwähnt den gräzistischen Kollegen nicht.¹⁴ Manches spricht für eher lose Kontakte und leichte Distanz: Mitglied der berühmten Kirchenväterkommission der preußischen Akademie, die unter Harnacks Leitung die „Griechischen Christlichen Schriftsteller“ herausgab, wurde Jaeger erst im Jahre 1927 (gemeinsam mit Erich Klostermann [1870 – 1963]), drei Jahre vor Harnacks Tod.¹⁵ Im folgenden Jahr 1928 trat die Kommission erstmals wieder zusammen, nachdem sie seit 1924 wegen Mangels an Geldmitteln aufgrund der Inflation nicht mehr getagt hatte; Jaeger nahm an dieser Sitzung nicht teil und bei der geplanten Umgestaltung der traditionsreichen Kirchenvä-
Jaeger (1911) 61; der Text der Diss. ohne die Vita: Jaeger (1960a) 1– 38; vgl. auch ders. (1966) 38. Jaeger (1960b) XI. Rebenich (1997) 235 – 237. Calder (1983) 185 Anm. 105. Zahn-Harnack (1936). Harnack (2000) 159.
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terkommission in eine „Kommission zur Förderung der kirchlichen und religionsgeschichtlichen Studien im Rahmen der römischen Kaiserzeit“ sollte auch nicht der amtierende Ordinarius, sondern sein Vorgänger Wilamowitz-Moellendorff helfen, beim preußischen und Reichs-Finanzministerium weiteres Geld zu besorgen.¹⁶ Deutlich anders verhielten sich die Dinge offenbar zwischen Jaeger und einem anderen kaum weniger prominenten Berliner Kirchenhistoriker: Ein sehr freundlicher Brief an Harnacks Nachfolger, den Kirchenhistoriker Hans Lietzmann (1875 – 1942), den Jaeger an Bord der „New York“ am 29. November 1936 schreibt und der allerlei Eindrücke über die Lage in Oxford enthält,¹⁷ deutet darauf hin, dass beide Gelehrte sich besser verstanden als Harnack und Jaeger. Allerdings beschäftigen sich die erhaltenen Briefe mit dem Schicksal vom Berliner Unternehmen Jaegers nach dessen Emigration, mit der Zeitschrift „Antike“ und der Ausgabe der Werke Gregor von Nyssas, so dass hier auch interessengeleitete Höflichkeit im Spiel gewesen sein mag. Lietzmanns Freund, der damals längst in München wirkende Eduard Schwartz, bezeichnete den später in Tübingen lehrenden Berliner Altphilologen Jürgen Kroymann (1911– 1980) wenig freundlich als eine „Jaegerkreatur“¹⁸ und nannte kurz darauf den Berliner Doktorvater Kroymanns im Blick auf seine Akademieabhandlung „Tyrtaios über die wahre APETH“¹⁹ „in der Hauptsache ein Blender …; das Problem war von Wilamowitz richtiger gesehen.“²⁰ Sicher ist, dass Jaeger und Lietzmann Aufsätze austauschten: Als Gegengabe zu einem Aufsatz Lietzmanns, der sich mit der Authentizität der Traditionen über ein römisches Martyrium des Apostels Petrus beschäftigte,²¹ sendete Jaeger den englischen Aufsatz über die ersten griechischen Berichte über die Juden;²² auf dieses Problem war er, wie er schreibt, durch sein Diokles-Buch gestoßen.²³ Ein wunderschöner Brief Lietzmanns mit einer Lobeshymne für Jaegers Demosthenes aus dem Jahr 1940 schließt die erhaltene, aber sicher nur fragmentarisch überlieferte Korrespondenz ab; Lietzmann hofft in dem Brief auf „einen gerechten Frieden und wirkliche Freiheit“²⁴ – vergeblich, wie wir wissen: er starb kaum zwei Jahre später.
Harnack (2000) 160. Jaeger an Lietzmann, 29.11.1936, in: Aland (1979) Nr. 975, 863 – 864. Schwartz an Lietzmann, 19.03.1937, in: Aland (1979) Nr. 991, 875 – 876. Jaeger (1932). Schwartz an Lietzmann, 01.04.1937, in: Aland (1979) Nr. 994, 878 – 879. Lietzmann (1936). Jaeger (1938a). Jaeger an Lietzmann, 19.07.1938, in: Aland (1979) Nr. 1051, 923 – 924. – Vgl. Jaeger (1938b). Lietzmann an Jaeger, 19.07.1938, in: Aland (1979) Nr. 1135, 989 – 990. – Vgl. Jaeger (1939).
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Doch zurück zum jungen Berliner Studenten Werner Jaeger. Es spricht viel dafür, dass er schon sehr früh durch den verehrten Lehrer auf die Spur desjenigen antiken christlichen Theologen gesetzt wurde, der ihn zeitlebens beschäftigen sollte: Gregor von Nyssa,²⁵ möglicherweise in einem Augenblick, als Jaeger nach der Dissertation im Jahre 1911 nicht genau wusste, welchem Autor er sich nun zuwenden solle.²⁶ Drei Jahre später erschien die Habilitation über den spätantiken Bischof Nemesius von Emesa,²⁷ im Vorwort ist berichtet, dass schon 1911 in Rom ein Zufall und seine „handschriftlichen Untersuchungen zur Vorbereitung der kritischen Erstausgabe des Gregor von Nyssa zu Nemesios geführt hatten“.²⁸ Blicke auf das antike Christentum enthält das kleine Büchlein praktisch nicht, sondern, wie der Titel verspricht, Bemerkungen über Poseidonius, Galen und den älteren Neuplatonismus. Jaeger hat immer wieder gesagt, dass er zum Studium der Texte antiker christlicher Autoren durch die textkritische Arbeit gekommen sei – also (und diese Selbstaussage muss man ernst nehmen) nicht durch seine schon früh ausgeprägten Interessen an einer Geistesgeschichte des Platonismus. Das wird zunächst einmal deutlich in der Antrittsrede, die Jaeger nach der Zuwahl in die Preußische Akademie der Wissenschaften am 17. Januar 1924, drei Jahre nach der Berufung als Nachfolger von Wilamowitz an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität,²⁹ am Leibniztag (3. Juli 1924) hielt. Dabei sagte er:³⁰ Meine textkritische Arbeit, die einer seit früher Jugend betätigten Neigung zu sprachlichen, wort- und stilgeschichtlichen Untersuchungen entspringt, empfing, wie ich mich deutlich erinnere, einen entscheidenden Impuls durch die unerwartete handschriftliche Bestätigung mehrerer Emendationen, die ich Diels als junger Student in einer Preisarbeit vorlegte. Meine Ausgaben mehrerer aristotelischer Schriften, von denen die der Metaphysik noch ungedruckt liegt, sowie der beiden ersten Bände des Kirchenvaters Gregor von Nyssa führten mich mehrfach und z.T. für längere Zeit an die Stätten der antiken Kultur und erfüllten mich mit realer Anschauung des historischen Lebens und jeglicher Art der Überlieferung, besonders der handschriftlichen Geschichte der Texte. So etwas lernt man nicht, wenn man es nicht selbst gemacht hat, und trotz anders gerichteter moderner Meinungen gestehe ich, daß ich mir den Philologen ohne dies enge Verhältnis zu den Texten und den Problemen der Überlieferung nicht zu denken vermöchte.
Jaeger (1966) 38. Keyser (1992) 86 Anm. 28. Jaeger (1914). Jaeger (1914) V. Vgl. den Zuwahlvorschlag von Wilamowitz, den E. Norden, W. Schulze, E. Meyer, K. Holl, U. Stutz, Th. Wiegand, H. Maier u.U. Wilcken zeichnen, bei: Kirsten (1985) 176. Jaeger (1924) LXXXVII.
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Interessanterweise wird die Edition der Werke des Gregor von Nyssa einfach bei den Akademie-Mitgliedern als bekannt vorausgesetzt und zunächst nicht näher erläutert. Es handelt sich um die beiden Bände des Werks Contra Eunomium, die in erster Auflage 1920 mit einem Vorwort des Lehrers Wilamowitz erschienen und die von Jaeger herausgegebene Reihe der Gregorii Nysseni Opera begründeten, die inzwischen über fünfzehn Bände umfasst und immer noch nicht abgeschlossen ist.³¹ In der Berliner Kirchenväterausgabe der Preußischen Akademie, den von Harnack begründeten „Griechischen Christlichen Schriftstellern“, konnten die Werke Gregors nicht erscheinen, weil diese Reihe den Schriftstellern der ersten drei Jahrhunderte vorbehalten war, Gregor aber im vierten Jahrhundert lebte. Im Unterschied zu Wilamowitz und Jaeger hielt Harnack die vornizänische Epoche des antiken Christentums für die maßgebende „paläoontologische Schicht“ der neuen Religion, die zentrale Phase einer ebenso problematischen wie unvermeidlichen „Hellenisierung“ des Christentums.³² Der Unterschied zu den Bänden der Berliner Kirchenväterausgabe Harnacks ist mit Händen zu greifen; die Sprache der praefationes und des Apparates ist bei der Gregor-Ausgabe lateinisch, bei den „Griechischen Christlichen Schriftstellern“ bestand Harnack auf dem von ihm als modern empfundenen Deutsch.³³ Wilamowitz stellte zur Finanzierung der GregorEdition Mittel einer Sammlung zu Ehren seines sechzigsten Geburtstags zur Verfügung. Jaeger hat in seiner späten Einleitung zu den „Scripta minora“ beschrieben, was diese Aufgabe von anderen editorischen Projekten unterschied:³⁴ Wegen ihrer reichen handschriftlichen Tradition haben die Kirchenväter mich als Philologen auch abgesehen von ihrem inhaltlichen Interesse stets angezogen. Als Herausgeber des Gregor von Nyssa, dessen zahlreiche Schriften in weit über tausend Handschriften überliefert sind, sah ich mich vor ganz neue Aufgaben gestellt, wie die klassische Philologie sie bisher kaum in Angriff genommen hatte. Darüber berichten die ausführlichen Prolegomena der einzelnen Bände. Es zeigte sich, dass auch bei der reichsten Überlieferung eines Textes mit der Methode der recensio allein nicht auszukommen ist und dass der emendatio darüber hinaus stets ihr Platz erhalten bleibt, zumal bei Texten, die wie die der christlichen Väter nicht durch Grammatikerhände gegangen und dadurch normalisiert sind. Die Kunst der Emendation schien in der Philologie unserer Tage weitgehend verloren gegangen zu sein, teils weil das Beste durch frühere Generationen schon vorweggenommen war, teils aus Unbegabtheit für diese Dinge und abergläubischer Buchstabentreue, die sich für gesunden Konservatismus hält.
Hörner (1971). Markschies (2009) 538 – 549 sowie ders. (2012) 48 – 58. Markschies (2004). Jaeger (1960b) XVI f.
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Aber natürlich interessierte sich Jaeger nicht nur deswegen, weil die Textkritik bei den Werken der spätantiken Kirchenväter spannender war als bei denen klassischer Schriftstellern, für Autoren wie Nemesius von Emesa oder Gregor von Nyssa. Selbstverständlich reizten ihn angesichts seines Interesses für die Geistesgeschichte des Platonismus auch die Inhalte. Auch das zeigt die erwähnte Antrittsrede als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften am Leibniztag 1924, allerdings auf recht besondere Weise. Es gehört zwar zum Genre solcher Antrittsreden, neben einer Erläuterung des wissenschaftlichen Werdeganges und einer Reverenz für die akademischen Lehrer die Programmatik künftiger Jahre mit klaren Worten zu entwickeln. Doch Jaeger nahm so offenkundig gegen Harnack und dessen Programm einer Edition vornizänischer Kirchenväter durch Theologen Stellung, dass diese Frontstellung jedem auffallen musste, der einigermaßen über die Tätigkeiten der Akademie orientiert war. Jaeger sagte:³⁵ Das Studium der Kirchenväter und der Dogmengeschichte führte mich auch inhaltlich tief in die altchristliche Welt und in ihre Zusammenhänge mit dem Altertum hinein. Ein von jeher reges Interesse für alle Formen und Äußerungen des Religiösen, das bei mir nicht wie bei den meisten Philologen vor dem Christentum haltmachte, verband sich mit der Liebe zur antiken Philosophie und reizte mich, der geistigen Kontinuität zwischen antikem und christlichem Denken nachzugehen. Der Ausgangspunkt zu meinem Büchlein Nemesios von Emesa war der Umstand, daß das anthropologische Werk dieses christlichen Bischofs, eine wichtige Quelle mittelalterlicher Philosophie, zum Teil unter dem Namen des Gregor von Nyssa überliefert ist. Die Erforschung der Nachwirkung antiker Weltanschauung und Philosophie in der christlichen Spätantike steht noch in den Anfängen. Sie stand bisher zu ausschließlich unter dem Zeichen der theologischen Dogmengeschichte und der philologischen Jagd nach Quellen und Fragmenten.Wenn die Ausbeutung der christlichen Literatur nach dieser Richtung auch noch große Überraschungen verspricht, so ist es doch an der Zeit, ein mehr organisches Verständnis jenes großen geistigen Prozesses anzubahnen und die durch das Christentum bewirkte Umlagerung der inneren Struktur der antiken Welt als eine große geschichtliche Aufgabe der Altertumswissenschaft ins Auge zu fassen, in die wir uns mit den Theologen teilen müssen.
Auch wenn hier kein Name fällt, ist deutlich, wer im Blick ist, wenn Jaeger davon spricht, dass die „Erforschung der Nachwirkung antiker Weltanschauung und Philosophie in der christlichen Spätantike“ bislang „zu ausschließlich unter dem Zeichen der theologischen Dogmengeschichte und der philologischen Jagd nach Quellen und Fragmenten“ gestanden habe – gemeint ist natürlich Harnack, dessen Bild der christlichen Antike ganz stark von seinem Konzept einer Dog-
Jaeger (1924) LXXXVII-LXXXVIII.
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mengeschichte (wie es im Motto seines magistralen Werks heißt)³⁶ als einer Kritik des Dogmas bestimmt war. Da Harnack als Maßstab seiner Kritik das angeblich dogmenfreie Urchristentum heranzog und die ebenso angeblich schlichte fromme Botschaft Jesu über den Vater, interessierte ihn (mit einem zeitgenössischen Terminus gesprochen) die Rezeptions- oder besser Transformationsgeschichte antiker Philosophumena im antiken Christentum im Grunde nur als Verfallsgeschichte. Der Vorwurf, bisher sei zu viel der philologischen Jagd nach Quellen und Fragmenten geschehen, den Jaeger gleichfalls in seiner in Wahrheit höchst polemischen Antrittsrede erhebt, trifft ebenfalls Harnack und sein großes Inventarwerk „Geschichte der altchristlichen Literatur“, das als Quellen- und Fragmentensammlung der Ausgabe der „Griechischen Christlichen Schriftsteller“ vorausging.³⁷ Nun könnte man denken, antike christliche Autoren seien für Jaeger nur deswegen interessant, weil sie platonisches und neuplatonisches Denken rezipieren. Doch dem ist nicht so. In seinen späten einführenden Bemerkungen zu den „Scripta Minora“ beschreibt Jaeger diese Zusammenhänge folgendermaßen:³⁸ Die Einheit (discordia concors) klassischer und spätantik-christlicher Geschichte war mir, wie gesagt, als selbstverständlich überliefert, und der Weg von der Antike zur christlichen Religion war mir seit meiner Kindheit natürlich. Ich wurde auf katholischen Schulen gross, die für mich keine religiöse Belehrung boten, denn ich war protestantisch, obwohl in einem religiös nicht positiv interessierten Elternhause aufgewachsen. Ich musste mir daher die Einsicht in die Ursprünge des Christentums grossenteils selbst erwerben. Ich tat dies, wie ich es mit der Antike gemacht hatte, durch das fortgesetzte Eindringen in die Quellen. So war ich auf dem Gymnasium schon ein halber Theologe, und in meinem Abiturientenzeugnis hiess es denn auch, dass ich entlassen würde zum Studium der klassischen Philologie und der Theologie. Auf der Universität führte ich meine theologischen Studien in der Tat ständig weiter, aber in derselben Weise wie vorher, nämlich privatim durch Lektüre der altchristlichen wie der modernen theologischen Literatur. Theologische Vorlesungen habe ich freilich nur wenige gehört. Doch verfolgte ich die religiösen Bewegungen meiner Zeit mit tiefer Anteilnahme und war in der Kirche aller Jahrhunderte zu Hause, ohne aktiv im Leben irgend einer Kirche darinzustehen. Der geschichtliche Weg zu dem jüdisch-christlichen Erbe war der mir gemässe. Ich sah ein gleiches, wenn auch in verschiedenem Grade, bei Philologen wie P. Wendland, Ed. Schwartz u. a. sich vollziehen. Daher fühlte ich mich sogleich in meinem Element, als mich Wilamowitz nach meinem Berliner Doktorexamen für den Gedanken zu gewinnen suchte, an der Herausgabe des Gregor von Nyssa einen führenden Anteil zu nehmen.
Harnack (1909) passim; vgl. Basse (2001) 123 – 146. Harnack (1893); ders. (1958). Jaeger (1960b) XXII f.
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Es geht also nicht um eine schlichte Rezeptions- (oder meinetwegen auch: Transformations‐) Beziehung zwischen paganem und christlichem Erbe, sondern gleichsam in angewandter platonischer Philosophie um „die Einheit (discordia concors)“ zwischen zwei als Entitäten gedachten geistesgeschichtlichen Phänomenen.Wie früh sich diese Orientierung auf solche Linien im Werk Werner Jaegers zeigt, wird deutlich, wenn man die umfangreiche Rezension zu Eduard Nordens Werk „Agnostos Theos“ zur Hand nimmt, die er 1913 veröffentlicht hat, ein Jahr vor seiner Berliner Habilitation.³⁹ Da Keyser sie ausführlich besprochen hat,⁴⁰ können wir es in unserem Zusammenhang bei einem Hinweis belassen. Keyser macht auch auf die Reste eines Briefwechsels zwischen Jaeger und dem Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884 – 1976) aufmerksam, die sich im Besitz von William Calder III befinden.⁴¹ In den folgenden Jahren hat Werner Jaeger sich bei der Beschäftigung mit spätantiken christlichen Theologen vor allem auf Gregor von Nyssa konzentriert. Wenn er beispielsweise in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften einen „neuentdeckten Kommentar zum Johannesevangelium“ behandelt, dann hat ihn offenbar länger die Frage beschäftigt, ob Gregor der Autor des Textes ist, und er teilt nun mit, warum er diese Position zwar erwogen, aber nun verworfen hat.⁴² In den Jahren 1952 und 1953 beschäftigte sich Jaeger in Harvard nochmals mit der Edition dreier asketischer Schriften des Gregor, De instituto Christiano, De professione Christiana sowie De perfectione. ⁴³ Dabei fiel ihm auf, dass die erste Schrift Gregors nahe Verwandtschaft zu einem Text aufweist, den der Göttinger Kirchenhistoriker Hermann Dörries (1895 – 1977) entdeckt hatte, der Epistula magna des Pseudo-Macarius/Symeon. Die drei Schriften Gregors erschienen im ersten Teil des achten Bandes der Werkausgabe Gregors. Das im folgenden Jahr 1953 als Supplement der Reihe veröffentlichte Buch „Two Rediscovered Works of Ancient Christian Literature: Gregory of Nyssa and Macarius“ aus dem Jahre 1953 enthält nicht nur einen vorläufigen Text der Epistula magna, den die Überlieferung einem Asketen namens Macarius, dem Ägypter, (fälschlicherweise) zuschreibt, sondern eine Untersuchung der literarischen Beziehungen dieses Briefs zur Schrift De instituto Christiano des Gregor von Nyssa. Diese Schrift, mit einem deutschen Titel „Über das gottgewollte Ziel und die wahre Askese“, hatte Jaeger, wie gesagt, im Jahr zuvor als achten Band seiner Gregor-Ausgabe ediert. Die Epistula magna
Jaeger (1913) = ders. (1960a) 115 – 161. Keyser (1992) 89 – 90. Keyser (1992) 90 – 92. Jaeger (1930) 584– 585. Jaeger (1952) 1– 89, 91– 142, 143 – 214.
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erschien ihm als eine Bearbeitung des Traktates von Gregor; heute ist deutlich, dass man die literarischen Beziehungen genau umgekehrt rekonstruieren muss: Gregor bearbeitete in Wahrheit den großen Brief. Es ist sicher nicht zu viel psychologisierende Interpretation Werner Jaegers, wenn man vermutet, dass die Begeisterung über das Werk Gregors den nun in Amerika lebenden Gräzisten dazu führte, die Abhängigkeitsrelationen (jedenfalls nach unserer heutigen Perspektive) genau falsch herum zu rekonstruieren. So hat es jedenfalls Reinhart Staats vor nunmehr dreißig Jahren im Vorwort seiner Neu-Edition des großen Briefes formuliert:⁴⁴ Jaeger hatte gemeint, daß dem großen Kappadozier mit De instituto Christiano als einem reifen Alterswerk die von ihm angestrebte Synthese von Antike und Christentum besonders glücklich gelungen war. Jaeger … liebte nächst Gregor von Nyssa kaum einen Theologen so sehr wie den Humanisten Erasmus von Rotterdam. Hier wie dort fand er das Zusammenwirken von Gnade und Werk, den klassischen Synergismus, den Jaeger tief bejahte, er selbst war ja ein Gegner von Augustins und Luthers Gnadenlehre. Was Theologen wie Adolf von Harnack als Hellenisierung der christlichen Religion abwerteten, bekam bei Werner Jaeger eine positive Deutung. Statt von einer Hellenisierung des Christentums sprach er von Übernahme eines Leitmotivs seines Hauptwerkes ‚Paideia‘ … von der ‚Paideia Christi‘.
Ausgeführt hat Werner Jaeger diese Gedanken in seinem letzten, bereits erwähnten Buch, mit dem wir auch schließen wollen – in den Carl Newell Jackson-Vorlesungen, die Jaeger 1960 unter dem Titel „Early Christianity and Greek Paideia“ in Harvard hielt. Sie wurden auf Anregung seines damals in Tübingen als Kirchenhistoriker tätigen Berliner Schülers Walther Eltester (1899 – 1976)⁴⁵ ins Deutsche übersetzt, Eltester besorgte selbst die Übertragung und die Vorlesungen erschienen 1963 unter dem Titel „Das frühe Christentum und die griechische Bildung“ im Verlag Walter de Gruyter in Berlin.⁴⁶ Paul T. Keyser hat dieses Büchlein sehr pointiert in seinem Beitrag für das Kolloquium „Werner Jaeger reconsidered“ „not as merely volume four of Paideia (or worse, as merely an afterthought) but as the telos or entelechy of the whole of not only Paideia but of Jaeger’s life“ bezeichnet.⁴⁷ Aber kann man bei einer „Einheit (discordia concors) klassischer und spätantikchristlicher Geschichte“, die Jaeger noch einmal in der Einleitung seiner gesammelten Schriften aus dem Jahre 1960 beschwört, wirklich von einer derartigen Entelechie in Richtung einer der beiden Pole der Einheit sprechen? Oder wird die spannungsvolle Einheit der Gegensätze bei solcher Interpretation nicht in eine
Staats (1984) 11– 12. Andresen (1977) 1. Jaeger (1963) = ders. (1961). Keyser (1992) 89.
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große Denkbewegung hin in den erneuerten christlichen Platonismus aufgehoben, mithin mehr Beierwaltes⁴⁸ als Jaeger in dieser Interpretation präsentiert? Im Jahr 1930 schreibt Jaeger an Bultmann, dass das Christentum zwar in die Antike eintreten und sie durchdringen konnte, aber sie nicht überwinden und durch einen anderen Aufbau zu ersetzen vermochte.⁴⁹ Eine Entelechie besteht nach der Aussage dieses Briefes also nicht in Richtung des Christentums, sondern allenfalls in Richtung der Antike. Da diese aber durch das Christentum transformiert ist, gilt zugleich eben das Wort von der Einheit der Gegensätze, der discordia concors. Der Autor der Vorlesungen unter dem Titel „Early Christianity and Greek Paideia“ (oder eben deutsch „Das frühe Christentum und die griechische Bildung“) beweist gleich auf den ersten Seiten seine gute Kenntnis der zeitgenössischen Debatten innerhalb der theologischen Wissenschaft, wenn er festhält, dass Religion und Kultur entgegen der Positionen von Karl Barth und Emil Brunner nicht separiert werden können wie dürfen.⁵⁰ Eine ausführliche Würdigung dieses Werks ist in unserem Rahmen nicht notwendig; auch hier hat Keyser wichtige Vorarbeiten geleistet. Trotz einer chronologisch vom Neuen Testament über den ersten Clemensbrief, die Apologeten, die christlichen Alexandriner Clemens und Origenes sowie Gregor von Nyssa geordneten Abfolge bleiben Lücken. Jaeger war sich bewusst, dass er mit seinen Veröffentlichungen und den Carl Newell JacksonVorlesungen in Harvard 1960 die Brücke vom antiken zum christlichen Denken noch nicht vollständig geschlagen hatte. In der Einführung in den ersten Band seiner „Scripta Minora“ schreibt er wenig später:⁵¹ Die in meinem Buch über die Theologie der frühgriechischen Denker verheissene Ausfüllung der Lücke zwischen der frühgriechisch-vorsokratischen und der platonisch-christlichen Theologie eines Origenes und Clemens bleibt eine wichtige Aufgabe der Zukunft.
So viel Selbstrelativierung beeindruckt, da der, der sich dort relativiert, dies auf einem relativ hohen Niveau vollzieht. Denn er ist mit den christlichen Autoren, die er als Beispiele seines Rezeptions- und Transformationsprozesses analysiert, wohl vertraut. Beispielsweise mit dem ersten Clemensbrief, einem Gemeindebrief der stadtrömischen Christenheit an die Schwestergemeinde in Korinth vom Ende des ersten Jahrhunderts. Werner Jaeger hat sich einmal in einem bereits erwähnten Brief an den Berliner Kirchenhistoriker Hans Lietzmann aus dem Jahre 1938 „als
Beierwaltes (2014). Keyser (1992) 91– 92. Jaeger (1963) 1. Jaeger (1960b) XXII.
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alter Clemensfreund“ bezeichnet;⁵² man wird angesichts der einschlägigen Passagen in „Early Christianity and Greek Paideia“ nicht widersprechen wollen. Die Zeiten der großen Kultursynthesen und der großen Konzepte zum Thema „Antike und Christentum“ sind unwiederbringlich vorbei; „Christentum ist auch Antike“ hat Jacques Fontaine⁵³ vor einiger Zeit pointiert formuliert, um das Problem derartiger Vergleiche zwischen zwei scheinbar stabilen Entitäten aufzuspießen. Aber Werner Jaeger sah sich nicht nur aufgrund seines Interesses am Fortwirken des Platonismus zum antiken Christentum gedrängt, sondern auch wegen seiner Leidenschaft für die Textkritik ganz bestimmter Überlieferungen.Vor unserem geistigen Auge erscheinen die imponierenden Bände der Werkeausgabe Gregor von Nyssas und das Lexicon Gregorianum – und plötzlich wird deutlich: Hier ist nun wirklich nicht alles vergangen, ganz im Gegenteil.
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Sachregister (Begriffe auf deutsch) Akademie: 140, 145-8, 150-2, 157-60, 163-7 Akademiezeit: 162, 168 Altertumswissenschaften: 2-6, 13, 18-27, 29, 35, 38, 44, 52, 76, 87, 89, 93, 214, 225, 237, 251 Anonymus Londiniensis: 219, 220, 221, 222 Anschauung/anschaulich: 9, 10, 14, 18, 25, 26, 31, 32, 43, 73, 101, 115, 144, 149, 152, 156, 165, 166, 210, 211, 216, 218, 226, 230, 249; s. a. Weltanschauungen Antihistorismus: 8, 9, 13, 16, 19-22, 28, 29, 35 Antike als Modell: 12-14, 61, 95-96, 104, 105, s. a. Denkmodell Aristotelisierung der antiken Medizin: 216-24 Ärztlicher Humanismus: 225, 236-240
Dialektik/Dialektisch: 3, 42, 144, 146, 152-4, 161 Dionysisch-apollinisch: 6, 13, 14, 16, 34, 35 Dogmengeschichte: 251 Doxographie: 219 Dritter Mann: 151 Dualismus: 160, 166
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: 3, 19, 51, 212-4, 247, 24951, 253 Bildung (= Erziehung; Paideia): 1, 2, 4-46, 51, 58-62, 65-77, 83-106, 111, 114, 115, 117, 121, 122, 124, 139, 142-5, 163, 164, 209, 213, 225-30, 232, 236, 238, 239, 245, 254-6 – humanistische: 1, 26, 45, 67, 69, 70, 83106, 209, 225, 239 politische: 70, 104, 139, 163 realistische: 83-93 Bios theoretikos: 163-5
Fachdidaktik: 84, 96, 98, 102, 104, 105 Finalismus: 231
Christentum: 3, 112, 124, 125, 134, 135, 195, 210-2, 245-256 Corpus Hippocraticum: 219 Corpus Medicorum Graecorum: 209, 212-5 Curriculumreform: 105 Denkmodell: 96, 105 Deutscher Altphilologenverband (DAV): 46, 52, 90, 91, 96, 97
Empirismus: 101, 123, 152, 154, 215, 221-4, 231 Entwicklung/Entwicklungsgeschichte: 3, 58, 141-50, 158, 167, (171-205) Erscheinungswelt: 143, 152, 153 Erster Weltkrieg: 6, 7, 11, 18, 23, 24, 28, 31, 32, 40, 44, 62, 84 Esoterik: 157
Geisteswissenschaften/Geisteswissenschaftliche Hermeneutik: 9, 30, 209 George-Kreis: 10, 11, 13-8, 20-2, 25, 27, 28, 30-44, 100, 101 Geschichtsphilosophie: 8, 9, 26, 37 Geschichtswissenschaft: 29, 30 Griechentum: 2, 10, 11, 16, 17, 19, 31, 34, 35, 37, 39, 61, 86-8, 97, 100, 102, 226, 238, 239 Gymnasium, humanistisches: 25, 26, 35, 45, 46, 67, 68, 70, 89-93, 96, 97, 99-101, 124, 239, 245, 246, 252 Harmonie: 13, 87, 154, 158, 161, 166, 174, 180, 229, 230, 234 Heilung: 228, 229, 231, 232, 233, 237 Hellenisierung des Christentums: 250, 254 Hippokratesbild: 214, 216, 218 Historismus: 5-46, 85
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Sachregister
Humanismus: 1, 5-46, 58, 60, 66, 67, 69, 70, 75, 76, 83-106, 225, 226, 236, 237, 239, 254 – Dritter: 58, 69, 83-106 Idee des Guten: 15, 142, 143, 148, 155, 156, 162, 163 Ideenkritik: 162, 167 Ideenlehre: 15, 143-57, 162-8 Intellektualisierung: 151
Philhellenismus: 12-8, 87 Philosophenkönig: 18, 140, 143, 163, 164, 166 Pietismus: 246 Platonismus: 12-8, 165-8, 249, 251, 255, 256 – Neuplatonismus: 249, 252 Pneuma: 209-12, 216-8, 220, 221, 223, 224 Preußische Akademie der Wissenschaften: s. u. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Psychosomatische Medizin: 236
Jugendbewegung: 12, 62, 100, 101, 103 Reformpädagogik: 100 Kategorienlehre: 162 Kirchenväter: 211, 247, 249-51 Klassische Philologie: 1, 3, 5, 11, 15, 19-24, 26, 28-35, 39-46, 52, 54, 58, 64, 68, 70, 84, 85, 88, 90, 91, 94, 96, 97, 99-101, 103, 106, 183, 188, 211, 212, 214, 224, 225, 239, 247-52 – neue: 23, 28-35 Klassizismus: 13, 14, 17 Kulturkrise: 5-8, 12, 18-37, 114 Kulturkunde: 45, 84-90 Marburger Schule: 144 Mathematik: 10, 27, 43, 117, 119, 145, 151, 154, 157, 161, 164, 167 Medizin: 21, 22, 27, 74, 151, 209-240 – als Modell der Ethik: 223, 233-5 Metaphysik: 139, 143, 155-7, 160, 163-5, 173, 211, 215 Methode/Methodik: 5, 23, 93, 98, 105, 115, 123, 146-50, 152, 153, 155, 157, 158, 161, 167, 173, 188, 212, 215, 216, 221, 223, 228, 230-2, 237, 250 Monade: 141, 155 Nationalsozialismus: 1, 3, 46, 51-78, 89-93, 102 Naturwissenschaften: 8, 9, 26, 30, 115, 117, 123, 154, 211 Naumburger Tagung (1930): 52, 71 Neoklassizismus: 13, 16-8 Neuhumanismus: 7, 13, 16, 28-30, 34, 36, 44, 58, 87 Neukantianismus: 9, 12, 14, 15
Schriftkritik: 142 Seelendreiteilung: 160, 234, 235 Selbstkritik: 147 Sokratiker/Sokratisch: 18, 142, 143, 146, 147, 150, 156, 164, 228, 230-2 System/Systemdenken/Systembildner: 33, 34, 85, 128, (132, 134), 141, 142, 152, 153, 158, 160, 168, (217-9), 223, 228, 231 Teleologie: (122, 123), 231 Tragödie, griechische: 1, 6, 13, 19-21, 38-40, 66, 97, 181, 231 Übersinnlich: 149, 152, 155, 156, 189 Unsterblichkeit: 119, 160-2, 164 Unterricht, altsprachlicher: 66, 67, 70, 83106, 247 Verwissenschaftlichung: 1, 148 Weltanschauungen: 6, 10, 12-4, 25, 28-33, 37, 92, 149, 155, 230, 231, 238, 251, s. a. Anschauung Wertephilosophie: 9-12 ? Wiedererinnerung/Anamnesis: 160, 161 Wissenschaftskrise: 1, 19, 23-37, 44-6, 236, 237 Zweiweltenlehre: 154
Sachregister
261
(Begriffe auf englisch) Academy, academic: 189 Apparatus, critical: 173, 183, 184, 197, 199201 Authenticity: 174, 177, 180, 181, 197, 200, 201, 203 Being: 112, 115, 117, 118, 124, 127, 128, 133, 179, 183, 184, 189-91 Christianity: 112, 124, 125, 134, 135 Commentators, ancient / commentary on the Metaphysics: 172, 181-7, 193-205 Conjecture: 183, 185, 186, 199 Contamination: 195, 198, 202, 204 Divinatio: 173 Edition critical, editio minor, major: 124, 171205 Emendation: 171-3, 181, 183, 205 Equality: 130, 131 Genesis: 171-80, 185, 190, 203 (Verweis auf development?) God: 116, 120, 121, 127, 129-34, 200 Harmony: 117-9, 126, 128, 130, 174, 180, Justice: 116, 117, 121, 129, 130, 131
Medicine: 123, 217-20, 223, 232, 234 Metaphysics: 115, 119, 121, 125, 126, 129, 133, 218 Metaphysics, α-version of, β-version of the: 171-205 Mysticism: 115, 116, 120, 121, 126, 129, 133 Nature: 111-3, 115-23, 125, 127, 129-31, 134, 175, 180, 185, 186, 196, 234, Phases, of Aristotle’s development: 189-91, 204 Philology, philological: 1, 140, 184, 185, 188, 246, Philosophy, philosophical: 111-35, 174, 178, 184, 189, 191, 217, 218, 223, 224, 232, 233 Politics: 111, 122, 124, 130, 131, 135, 140, 233, 246 Praefatio: 173, 182, 194, 197, 198, 201, 202 Recensio: 184, 185, 187, 193, 195, 198 Religion: 116-8, 120-2, 124, 126-8, 132-5 Science: 1, 113-5, 117, 121, 125-8, 134, 191, 217, 223, 224 Soul: 119-21, 124, 126, 133, 232-4 State (political): 120, 124, 233, 234 State (I. q. condition in which sth. Or sb. is): 181, 187, 200
Kosmos: 116-20, 122, 129, 130 Lacuna (textual): 182, 185 Law: 115-20, 122, 128-31, 133 Logic: 113, 115, 118, 131, 133, 217 Logos: 115, 116, 118-20, 122, 129, 131, 133 Manuscripts, medieval: 116, 181-3, 185, 187, 192-4, 199-203 Matter: 112, 113, 127, 128, 172, 191
Textual criticism: 124, 171, 173, 181, 182, 188, 191-4, 197, 199, Textual witness: 181, 182, 187, 194, 196, 199, 203, 204 Theology: 111, 118, 121, 124-6, 128-35, 190, 211, 219, 246 Theory of Forms: 121, 176, 189 Transmission: 172, 179-87, 189, 193, 196-9, 202, 204, 205
Namenregister Antike Namen Aeschylos: 16, 101, 122, 193 Aetius von Amida: 213 Alexander der Große: 163 Alexander Philalethes: 221 Alexander von Aphrodisias: 157, 159, 181, 182, 184-7, 193-205 Anaxagoras: 112, 113, 119, 127, 128, 132, 134, 165, 176 Anaximander: 113, 116, 117-22, 126-32, 134 Anaximenes: 117, 119, 127, 128 Andronikos von Rhodos: 174, 178-81, 195, 196, 198 Archilochos: 116 Aristoteles: 3, 31, 41, 51, 111, 114, 116, 132, 134, 139-42, 144-68, 170-205, 209-24, 228, 230, 231, 249 Aristoxenos: 147 Asklepios von Tralleis: 172, 184, 194, 196, 197, 200 Athenaios von Attalia: 210 Athenaios von Naukratis: 153 Augustinus: 124, 135, 254
Galen: 211, 221, 223, 224, 249 – pseudo-Galen: 222 Gregor von Nyssa: 124,211, 212, 248-55 Heraklit: 112, 114, 115, 118-21, 128, 129, 131-3 Herodot: 98, 231, 235 Herophilos von Chalkedon: 216, 217 Hesiod: 116 Hippo: 125 Hippokrates: 123, 131, 211, 213-23, 229, 231, 234, 235, 237, 238 Homer: 29, 58, 66, 67, 71, 85, 87, 91, 123, 235 Isokrates: 74, 163 Makarios der Ägypter: 252 – pseudo-Makarios (Symeon): 253 Melissos von Samos: 129 Menon: 219, 220 Metrodoros: 217 Michael von Ephesus: 199-201 Midas: 163
Clemens von Alexandria: 255 Nemesios von Emesa: 211, 215, 249, 251 Demokrit: 119, 125, 132, 134, 183, 210 Demosthenes: 55, 58, 122, 194, 248 Diogenes der Kyniker: 134 (?), 210 Diogenes von Apollonia: 125, 132 Diokles von Karystos: 72, 74, 214-24, 230, 248 Dionysios II. von Syrakus: 72 Dionysios von Halikarnassus: 150 Empedokles: 112, 119-21, 127-31, 133, 134, 176, 210 Epikrates: 152 Erasistratos von Keos: 216, 217 Erasmus von Rotterdam: 254 Eudemos von Rhodos: 178, 196, 198, 219 Eudoxos (Astronom/Mathematiker): 151, 157
Oribasios: 213 Origines: 210, 255 Parmenides: 113, 115, 118, 120, 121, 125, 1279, 133, 134, 148, 156, 165 Paulus von Tarsos: 210, 211 Pherecydes: 134 Philon: 210, 211 Pindar: 16, 86, 122 Platon: 16-8, 21, 27, 28, 31, 34-6, 40-3, 66, 69, 73, 74, 87, 88, 98, 99, 101, 102, 105, 115, 120-6, 129, 131, 134, 139-68, 172, 177, 179, 189-91, 210, 211, 214, 215, 218, 225, 226, 228-30, 232-5, 237, 252, 253, 255
264
Namenregister
Poseidonios: 249 Praxagoras von Kos: 216, 217 Ptolemaios I: 217 Ptolemaios II: 217 Pythagoras: 128, 148, 165 Sardanapall: 163 Simplikios: 116, 147 Sokrates: 125, 141-3, 146-8, 150, 153, 155, 156, 158, 161, 164, 165, 225, 228-31 Solon: 86, 116 Soranos von Ephesos: 213, 221 Straton von Lampsakos: 217, 218 Symeon: s. u. pseudo-Makarios
Thales: 126-8 Theaitetos: 151, 157 Themison: 163 Theognis: 73, 86 Theophrast: 72, 194, 195, 210, 218 Theuth: 153 Thomas von Kempen: 245 Thukydides: 228, 229, 231 Xenokrates: 147 Xenophanes: 117, 127, 128, 131, 132 Xenophon: 74, 120, 230
Moderne Namen Abrahamsohn, Ernst: 76, 77 Aly, Wolfgang: 70 Babick, Paul: 67 Bachofen, Johann Jakob: 13, 123 Barth, Karl: 255 Becker, Carl Heinrich: 25, 27, 42, 57, 58, 61, 62 Bekker, Immanuel: 182, 184 Birschel, Johann Ludwig: 246 Birschel, Pauline: 246 Blavatsky, Helena Petrowna: 12 Boeckh, August: 34, 214 Bonitz, Hermann: 173, 181, 182, 184, 195, 198, 199 Borchardt, Rudolf: 57, 58, 75 Bork, Arnold: 95, 99-104 Bornemann, Eduard: 104 Brandis, Christian August: 173, 174 Brunner, Emil: 255 Brummerstädt, Wilhelm: 173 Bultmann, Rudolf: 76, 253, 255 Burckhardt, Jacob: 13, 19, 24, 28 Burnet, John: 111, 113, 114, 116, 120, 125, 126, 128, 129, 133, 134
Calder, William M. III: 3, 4, 23, 27, 51, 53, 55, 57, 68, 71-3, 77, 121, 122, 125, 247, 253 Christ, Wilhelm v.: 172, 174, 179, 182, 184, 195 Cohen, Hermann: 14 Comte, Auguste: 125 Cornford, Francis Macdonald: 120, 121, 134 Coulanges, Fustel de: 13 Crusius, Otto: 22 Deichgräber, Karl: 132, 212-5 Delbrück, Hans: 22 Dessoir, Max: 22 Deubner, Ludwig: 52, 58 Diels, Hermann: 19, 20, 51, 122, 126, 212, 214, 215, 219, 249 Dilthey, Wilhelm: 9, 12, 20, 28, 32, 44 Dodds, Eric R.: 122, 188 Dörries, Heinrich: 212 Dörries, Hermann: 212, 253 Drexler, Hans: 93 Durkheim, Émile: 120 Eberhardt, Walter: 93 Einstein, Albert: 3 Eltester, Walther: 254
Namenregister
Festugière, André-Jean: 212 Fraenkel, Eduard: 52 Friedemann, Heinrich: 10, 11, 15, 16, 18, 31, 41-3 Friedländer, Paul: 23, 24, 35, 38, 52, 71-4, 76, 77 Fritsch, Andreas: 52, 58, 60, 68, 69, 76, 100, 102 Gadamer, Hans-Georg: 52, 239 George, Stefan: 10, 11, 13, 16, 17, 20, 22, 24, 28, 31, 35, 36, 38-42, 100, 102, 103 Giesecke-Teubner, Christian Alfred: 7, 24-6 Goebbels, Josef: 63 Goethe, Johann Wolfgang von: 14, 16, 21, 31 Gomperz, Theodor: 111, 113, 114, 119, 120, 125, 126, 128 Göring, Herrmann: 64 Götte, Johannes: 56, 57, 64, 65, 77 Griesinger, Wilhelm: 225 Gundolf, Friedrich: 11, 16, 22, 27, 41 Haag, Erich: 94, 99 Haeckel, Ernst: 12 Harnack, Adolf von: 247, 248, 250-2, 254 Hatvany, Ludwig: 20 Hauptmann, Gerhart: 13 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 112, 113, 122, 123, 125 Heiberg, Johann Ludwig: 127 Heidegger, Martin: 238 Heinitz, Ernst: 53, 56, 77 Helm, Rudolf: 54 Hentig, Hartmut von: 105 Herder, Johann Gottfried: 21, 97 Hildebrandt, Kurt: 15, 18, 21-3, 27, 31, 32, 3843 Hindenburg, Paul von: 63-5 Hitler, Adolf: 63-6, 69, 71, 72, 75-7 Hofmannsthal, Hugo von: 7, 12, 13, 14, 16 Hohensee, Herbert: 98 Hölderlin, Friedrich: 21, 36, 100 Hölscher, Uvo: 57, 77, 88-90, 92, 94 Humboldt, Wilhelm von: 16, 87 Immisch, Otto: 23 Isnardi Parente, Margherita: 112
265
Jacoby, Felix: 65 Jaeger, Erhard: 56 Jaeger, Ruth: 53, 56, 57, 59, 77, 78 Jaeger, Theodora (Dora): 53, 55 Joel, Karl: 116, 126, 128 Johansen,Thomas: 154 Jouanna, Jacques: 233 Kaegi, Werner: 94 Kahn, Charles: 139, 140, 233 Kapp, Ernst: 54zahlfleisch Keyser, Paul T.: 125, 212, 245, 246, 249, 2535 Keyserling, Hermann Graf: 12 Kirchhoff, Adolf: 20 Klostermann, Erich: 247 Krieck, Ernst: 58-63, 65-70, 75-7 Kristeller, Paul Oskar: 76, 77 Kroymann, Emil: 67-69 Kroymann, Jürgen: 248 Krüger, Max: 90, 98, 99, 104 Lake, Kirsopp: 125gomperz Landfester, Manfred: 52, 58, 70, 76, 88-90 Lange, Albert: 126, 127 Lehmann-Leander, Ernst R.: 95, 104 Liebermann, Max: 51 Lietzmann, Hans: 248, 256 Litt, Theodor: 102, 104 Lloyd, Geoffrey E.R.: 130 Mansfeld, Jaap: 116 Mewaldt, Johannes: 213 Meyer, Eduard: 51, 249 Michelet, Karl Ludwig: 173 Mill, John Stuart: 125 Mommsen, Theodor: 5, 18, 19, 247 Most, Glenn: 123 Näf, Beate: 35, 77, 90, 91, 115 Natorp, Paul: 14, 15, 18, 40, 177 Nietzsche, Friedrich Wilhelm: 1, 5, 6, 13, 14, 16, 17, 19-21, 24, 28-30, 34-6, 38, 39, 41, 44, 97, 116, 123, 126, 127 Norden, Eduard: 7, 26, 51, 52, 54, 58, 64, 65, 249, 253 Norden, Marie: 54, 77
266
Namenregister
Onians, Richard B.: 235 Otto, Walter F.: 51 Panofsky, Erwin: 76, 77 Papen, Franz von: 64 Patzer, Harald: 94 Paul, Jean: 21 Pollock, Sheldon: 1, 3 Popper, Karl R.: 113 Regenbogen, Otto: 52, 94, 102 Reinhardt, Karl: 62, 115, 117, 118, 133 Rickert, Heinrich: 9 Rilke, Rainer Maria: 13 Ringer, Fritz: 237 Ritschl, Friedrich: 29 Robinsohn, Saul B.: 96 Roethe, Gustav: 22 Rohde, Erwin: 13, 116 Rose, Valentin: 174 Rosenberg, Alfred: 92 Ross, Sir William David: 172, 173, 180, 182-6, 192-4, 199 Rousseau, Jean-Jacques: 15 Rust, Bernhard: 68 Sachs, Eva: 150 Salaquarda, Jörg: 127 Schadewaldt, Wolfgang: 37, 56, 57, 95, 96, 104, 105 Schäfer, Lothar: 154 Schiller, Friedrich: 36 Schmidt, Erich: 22, 35, 57, 58, 75, 77 Schneeweiß, Gerhart: 163 Schuster, Mauriz: 85 Schwegler, Albert: 173 Schwartz, Eduard: 44, 248, 252 Simmel, Georg: 9, 22 Singer, Kurt: 16, 43 Snell, Bruno: 76, 77, 88, 89, 94 Solmsen, Friedrich: 52, 56-8, 69
Sommer, Fritz: 99, 102 Spengler, Oswald: 8, 26, 37, 114 Spranger, Eduard: 42, 43, 45, 83, 84, 94, 101-3 Steel, Carlos: 147 Steiner, Rudolf: 12 Stenzel, Julius: 27, 41, 42 Strauss, Leo: 2 Strauss, Richard: 14 Tannery, Paul: 111, 114, 125, 126 Timpanaro, Sebastiano: 114 Treitschke, Heinrich von: 22 Usener, Hermann: 61, 122 Vahlen, Johannes (=Woepke, Johannes): 20 Vlastos, Gregory: 130, 131, 133-5 Walsdorff, Friedrich: 99 Walzer, Richard: 56, 57, 69, 194, 199, 203, 204, 215 Weber, Max: 10, 31, 33 Weizsäcker, Viktor von: 225, 237-9 Wellmann, Max: 218, 219 Wendland, Paul: 252 White, D. O.: 115 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: 1, 3, 14, 18-24, 27-9, 31, 35, 37, 38, 40, 42, 43, 45, 51-3, 58, 85, 89, 101, 212, 247-50, 252 Winckelmann, Johann Joachim: 14, 16, 21, 97 Windelband, Wilhelm: 9 Wolf, Friedrich August: 34 Wolters, Friedrich: 16, 17, 40, 41 Wyneken, Gustav: 12 Zahlfleisch, Johann: 173 Zahn-Harnack, Agnes von: 247 Zeller, Eduard: 111-5, 119, 120, 125-8 Zepf, Max: 94