Politik - Wissenschaft (German Edition) 3428065581, 9783428065585

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Politik - Wissenschaft (German Edition)
 3428065581, 9783428065585

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Gottfried Dietze POLnnK-~SSENSCHAFT

Gottfried Dietze

POLITIK

WISSENSCHAFT

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Kurztitel der Deutschen Bibliothek

Dietze, Gottfried:

Politik, Wissenschaft I Gottfried Dietze. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 ISBN 3-428-06558-1

Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06558-1

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Politik und Wissenschaft beeinflussen unser Dasein und sind Bestandteile unseres Seins. Mit allen hat sich die Politikwissenschaft seit langem befaßt. Nach vierzigjähriger Beschäftigung mit ihr darf ich diese Bestandsaufnahme vorlegen. Ob sie Bestand haben oder die Vergänglichkeit politischer, wissenschaftlicher und politikwissenschaftlicher Ansichten teilen wird, bleibt abzuwarten. Wenn sie nur einen kleinen Beitrag zu einem großen und wachsenden Problem leistet, wäre schon einiges gewonnen. Vieles steht heute in Politik, Wissenschaft und Politikwissenschaft zur Frage und zur Wahl, mehr wohl noch als zu der Zeit, in der Hume die Politik zu einer Wissenschaft reduzieren wollte, Kant vom Streit der Fakultäten und Nietzsche über die fröhliche Wissenschaft schrieb. Es soll nicht die Aufgabe der folgenden Ausführungen sein, zu richten oder zu schlichten, zumal Streiten und Wählen der Politik, der Wissenschaft und der Politikwissenschaft eigen sind. Es geht vielmehr um Klarstellungen, um das Betonen des Eigentlichen und Reinen. Die vorliegende Studie wurde vierhundert Jahre nach der Geburt von Thomas Hobbes und hundert Jahre nach der von Carl Schmitt verfaßt, bekannter Politikwissenschaftler, von denen der jüngere das Werk des älteren bewunderte, kommentierte und erweiterte. Ihre Veröffentlichung 1989 kommt siebzig Jahre, nachdem Max 7

Weher sich über Politik und Wissenschaft als Beruf äußerte. Berlin, den 11. Juli 1988

Der Verfasser

Politik Politik ist ein Mittel, innerhalb einer Gemeinschaft von Menschen etwas zu erreichen. Das Geschehen in der Gemeinschaft ist aus dem Wort selbst ersichtlich. Es ist vom griechischen polis abgeleitet, dem Namen jener politischen Einheit in der Antike, die wir heute als Staat bezeichnen, wenn wir von Athen, Sparta usw. sprechen. Zweifellos gab es organisierte Gemeinschaften und teleologisches Handeln in ihnen schon vorher, hat es Politik nach dem Untergang der Polis anderswo gegeben. Der Wille, unter Menschen voranzukommen, hängt nicht vom Namen und Wesen, nicht vom Ort und von der Zeit jeweiliger Gruppierungen ab, und die Politik ist zu einem ähnlichen Vermächtnis der Antike geworden wie die Demokratie. Als die italienische Stadt zum StadtStaat wurde und man vielerorts den dort geformten Ausdruck "stato" übernahm (Estado, Etat, Staat, state), sprach man von der Politik als etwas, das in Staaten stattfand oder, nach der Erschaffung einer Nation in Frankreich, in Nationen. Sie alle haben verschiedene Erscheinungsformen und Verfassungen gezeigt als verschiedene kapitalistische und kommunistische, Bundes- und Einheitsstaaten, als Demokratien, Monarchien usf. Groß in der Tat sind die Möglichkeiten und Spannen menschlichen Zusammenseins mit ihren Spannungen, die Achtung verdienen, wie sehr sie auch verachtet werden mögen. In allen Gemeinschaften gibt es Politik, wollen die Menschen etwas erreichen, weil das Erreichenwollen Menschen immanent ist. 9

Diese Immanenz deutet auf einen Begriff der Politik, der über das hinausgeht, was allgemein unter Politik verstanden wird, wenn man von Politik der Nationen, Regierungen und Parteien spricht. Die Frage ist, ob es eine Politik gibt, die nicht nur von den sogenannten "Politikern" also denen, die Max Weber als Politikerkraft Berufes oder als Berufspolitiker bezeichnet, 1 gemacht wird. Sie wird hier bejaht. Seit den Zeiten der Polis hat sich da wohl wenig geändert. Dort waren die an politischen Entscheidungen teilnehmenden Bürger der eigentlichen Regierung körperlich zwar näher als in modernen repräsentativen Systemen. Aber auch dort gab es bei den Leitenden und Geleiteten Politiker im engeren und weiteren Sinne. Die Tatsache allein, daß sich die Distanz zwischen Regierenden und Regierten seitdem vergrößert hat und erstere, die Berufspolitiker im Sinne Webers, distinguierter erscheinen ließ, bedeutet nicht notwendig, daß letztere unpolitischer geworden sind. Die von Rousseau bedauerte Verdrängung der direkten Volksherrschaft durch die indirekte hat letztere ja auch kaum weniger politisch gemacht. Shakespeare sprach vom skorbutischen, gemeinen Politiker und bezeichnete als Politiker jemand, der Gott umgehen möchte. Richard Wagner bewunderte die Scharfsicht seines Lieblingsdramatikers: "Was hat der Mann alles gesehen!" "Was hat er gesehen!" 2 Er hat gesehen, daß nicht nur Berufspolitiker, sondern auch andere Menschen Politiker sind. Sein "scurvy politician" bezieht sich auf einen Menschen schlechthin, ähnlich wie sein "vile politician". Und wenn eines Politikers Hirn jemand hat, der Gott "Politik als Beruf", 1919, 8. Aufl., Berlin 1987 (hiernach Paß). Zitiert von Thomas Mann, "Richard Wagner und der 'Ring des Nibelungen'", 1937, in "Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie", Fischer Bücherei, Frankfurt und Harnburg 1968, Il, 234. 1

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umgehen will, so ist das ein gewöhnlicher Mensch, der sich wie ein Politiker verhält, weil er etwas erreichen will auf dieser Welt und zwar eher für sich selbst als für andere, jedenfalls gewiß nicht zur Ehre Gottes. So sind all die, die etwas erreichen wollen und sich entsprechend verhalten, Politiker und eigentlich auch Berufspolitiker. Denn ihnen immanent, ihr eigentlicher Beruf ist es ja, unter ihresgleichen fort- und davonzukommen. Die Politik liegt im Wesen menschlicher Beziehungen, ist das Metier von Menschen. Ihre Definition als Mittel, etwas unter Menschen zu erreichen, steht der bekannten Äußerung des Aristoteles, die den Menschen als politisches Tier bezeichnet, nicht entgegen: "Es ist offensichtlich, warum der Mensch ein politisches Tier zu einem größeren Grade als eine Biene oder ein Herdentier ist. Die Natur tut nichts ohne Zweck, und unter den Tieren besitzt der Mensch allein die Rede" ("Politik", Buch 1, Kap.1, § 10). Der Mensch erscheint als Tier, das infolge seines Vermögens zu reden etwas erreichen will. In seinen "Imitations ofHorace" schreibt Soamejenys: "Learn'd or unlearn'd, we are all politicians" (Buch 2, epis. 1). Robert L. Stevenson sagt in "Y oshida-T orajiro": "Politics is perhaps the only profession for which no preparation is thought necessary." Sie unterscheiden nicht mehr zwischen gelernten und ungelernten Politikern, zwischen vorbereiteten und nicht vorbereiteten. Alle Menschen werden als Politiker betrachtet. Ähnlich erscheint die Unterscheidung zwischen beruflichen und nichtberuflichen Politikern künstlich. Sie hat ihren Ursprung wohl in der politischen menschlichen Neigung, zu leitenden Stellungen aufzusteigen. So wurden nur Leitende als Berufspolitiker oder Politiker schlechthin angesehen, solche, die etwas erreicht hatten, auch wenn sie es 11

nicht so weit brachten wie Lincoln, der, aus einfachen Verhältnissen stammend, als "the master politician of the ages" bezeichnet wurde als man ihn begrub. Meisterpolitiker aller Zeiten, Meisterpolitiker, Kommunalpolitiker, Vereinspolitiker: derartige Abstufungen sind gang und gäbe geworden. Sie und die Übung, von Berufspolitikern zu sprechen, tendieren dahin, die Feststellung des Aristoteles, der Mensch sei ein politisches Tier, zu vergessen und zu übersehen, daß alle Menschen im Grunde von Beruf Politiker sind, weil sie ja alle untereinander etwas erreichen wollen. Man hat von Großer Politik gesprochen und damit die Außenpolitik gemeint, die nach Ranke den Primat vor der Innenpolitik besaß. Innenpolitik wäre demnach kleine Politik. Wenn es aber in einem Staat kleine Politik gibt, die von der Regierung bestimmt wird, dann dürfte es auch noch kleinere und kleinste Politik geben, die von Partei- und Vereinsführern betrieben wird bis hin zur Politesse, mit der man irgendwie vorankommen will. Politik kann also von den Großen bis hinunter zu den Kleinsten gemacht werden. Sie alle kennen sich in ihr aus. Diesem Gedanken kommt Weber nahe, wenn er gleich am Anfang von "Politik als Beruf" fragt, was wir unter Politik verstehen und antwortet: "Der Begriff ist außerordentlich weit und umfaßt jede Art selbständig 1e i t ende r Tätigkeit. Man spricht von der Devisenpolitik der Banken, von der Diskontpolitik der Reichsbank, von der Politik einer Gewerkschaft in einem Streik, man kann sprechen von der Schulpolitik einer Stadt- oder Dorfgemeinde, von der Politik eines Vereinsvorstandes bei dessen Leitung, ja schließlich von der Politik einer klugen Frau, die ihren Mann zu lenken trachtet." Wenn aber jemand durch seine Politik lediglich einen anderen lenken will, ist es nur ein kleiner Schritt zu der Behauptung, daß er sich 12

durch seine Politik auch selbst lenken kann, um dementsprechend andere zu leiten oder sich vom Geleitetwerden durch andere zu wehren, selbständig seinen Mann zu stehen gegen die, die ihm mit ihrer Politik zu Leibe rücken wollen. Bis dahin ist Weher nicht durchgedrungen. Das Wort "selbständig" steht im Schatten des ihm folgenden, gesperrten gedruckten "leitender", obwohl es ihm vorangeht, was zwar eine gewisse Priorität ahnen läßt, aber doch nichts daran ändert, daß er auf das Leitende abstellt und das, womit sich die unter Leitenden Leidenden wehren, die Weicheren den Härteren entgegentreten, diese Art von Politik ausläßt. Auch Carl Schmitt, in dem man das- allerdings uneheliche - geistige Lieblingskind Webers gesehen hat, zeigt die weite Spanne der Politik Leitender an, legt aber nicht genügend Gewicht auf die Politik der Regierten. Neben der für ihn primären Politik kämpfender Gesamtheiten von Menschen in einem Gegenüber von Freund und Feind nennt er "sekundi:ire Begriffe von 'politisch' " wie "Religionspolitik, Schulpolitik, Kommunalpolitik, Sozialpolitik usw.", dann "noch weiter abgeschwächte, bis zum Parasitiiren und Karikaturhaften entstellte Arten von 'Politik', in denen von der ursprünglichen Freund-Feindgruppierung nur noch irgendein antagonistisches Moment übriggeblieben ist, das sich in Taktiken und Praktiken aller Art, Konkurrenzen und Intrigen äußert und die sonderbarsten Geschäfte und Manipulationen als 'Politik' bezeichnet." 3 Nun, inzwischen hat sich gezeigt, daß die innerhalb eines Staates Schmitt als "sekundär" erschienenen Begriffe wie Religionspolitik, Schulpolitik, Sozialpolitik durchaus etwas sein können, das derart scharf von opposi3

,.Der Begriff des Politischen", 1932, Berlin 1963 (hiernach BdP), 30.

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tionellen Politikern angegriffen wird, daß das gesamte Staatsgefüge darunter leidet. Auch wurde demonstriert, daß es, dem Vokabular Lenins entsprechend, politische Taktiken und Praktiken sowie Konkurrenzen und Intrigen gab, deren Geschäfte und Manipulationen eher als politisch und gar nicht mehr so sonderbar erscheinen. Man denke nur an Nordirland, das zu einem religionspolitischen Irrland geworden ist, an die Unruhen an Universitäten, die mit der Schulpolitik und Hochschulpolitik Schulen und Hochschulen selbst ernsthaft bedrohten. Man denke an das, was allgemein als Terrorismus bezeichnet wird und dessen Bedrohung bestehender Ordnungen oder Establishments. Schmitts Zeitgenosse Jose Ortega y Gasset aus dem Lande, dem Schmitt nahe war und in dem Anfang des 19. Jahrhunderts Politiker zum erstenmal als Liberale beschimpft wurden, schrieb, der Politik und der Macht der Massen und ihrer Rebellion gewahr, ein Mensch frage sich beim Treffen eines anderen sogleich, inwiefern dieser ihm gefährlich werden kann und welche Politik ihm gegenüber zu verfolgen ist. 4 Zur Frage des Umfangs der Politik schrieb er vielleicht im Sinne Schmitts, der in seinem Nachwort von 1932 betonte, er wolle lediglich ein unermeßliches Problem theoretisch encadrieren, den streng didaktischen Charakter seiner Arbeit hervorhob und damit zur Fortführung der Diskussion über das Politische aufrief. Im Grunde ist Politik also Bestimmung des einzelnen durch sich selbst zum Erreichen eines bestimmten Zweckes innerhalb der Gemeinschaft. Das Leiten anderer ist nur eine Begleiterscheinung seines eigenen Verhaltens • "EI hombre y Ia gente", 1957, Madrid 1981.

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sich selbst gegenüber, seines Sich-selbst-leitens. Die Politik hat ihren Ursprung im Individuum, wenn sie auch dem Sprachgebrauch nach mit der Anzahl der Geleiteten, mit der Bestimmung anderer, einer Familie, eines Vereins, einer Partei, eines Landes, einer Nation von kleinerer zu größerer Politik wird, gar zur Großen Politik, in der viele die wahre, eigentliche Politik sehen, von Professoren der internationalen Beziehungen bis hin zu Stammtischpolitikern, die über das tatsächliche und erwartete Verhalten der Großmächte spekulieren. Wie das Fundament der Gemeinschaft der einzelne ist, ist die Basis jeder Politik bis hin zur Großen Politik die Politik von einzelnen oder des einzelnen, die zunächst mit sich selbst ins klare kommen müssen, welche Politik sie ganz individuell bei ihrer Leitung anderer verfolgen wollen. Ohne Selbstbestimmung keine Bestimmung anderer. Die Tatsache, daß es Politik der Nationen, Parteien, Gemeinden usw. gibt, zeigt, daß Dinge wie nationale Politik, Parteipolitik, Gemeindepolitik mit ihren sie näher bezeichnenden Attributen lediglich Aspekte der Politik schlechthin sind, deren Urgrund im Individuum zu finden ist, nicht in einer Gemeinschaft von Individuen, wenn ihre Anwendung auch innerhalb der Gemeinschaft erfolgt. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, sagte Protagoras. Gewiß ist der Mensch das Maß aller Politik, die etwas völlig Menschliches, von ihm Gemessenes ist, seine List und Schläue und oft seine Vermessenheit zeigend. Die Herausstellung der Politik als etwas jedem Menschen Eigenes soll keineswegs leugnen, daß unter Politik allgemein nicht die Verhaltensweise des kleinen Mannes, die seiner Position innerhalb der Gemeinschaft dient, verstanden wird, sondern die leitender Persönlichkeiten, vor allem auf staatlicher und nationaler Ebene, denen Weber 15

seine Bemerkungen widmete. Sie soll aber dazu dienen, daß man sich stets gewahr bleibt, daß die Politik jedem Menschen immanent ist, wie sehr er sich auch davor hüten mag, an dem, was allgemein als Politik verstanden wird, interessiert zu sein oder gar daran teilzunehmen, wie verächtlich er auch die Politik seines eigenen W eiterkommens als notwendiges Übel betrachten und die der "Politiker" verachten mag. Es sollte das animalische, menschliche, allzumenschliche der Politik herausgestellt werden, mit der einerseits der Mensch andere beherrschen will und er sich andererseits vor seinen Mitmenschen in acht nehmen wird. Es sollte gezeigt werden, daß die Bürger vor der Regierung, aber auch die Regierung vor den Bürgern auf der Hut sein muß. Denn wenn die Politik die Bestimmung des einzelnen durch sich selbst ist, dient sie nicht nur der Vergrößerung seiner eigenen Macht über andere durch deren Leitung. Sie dient zwecks Bewahrung der eigenen Freiheit und Individualität auch dem Umgehen des Regiments anderer und des Reglements schlechthin. Der Pantoffelheld, der sich der Beherrschung durch Penelopen und Xantippen zu entziehen sucht, treibt ähnlich Politik wie der Steuerhinterzieher, Wehrdienstverweigerer oder derjenige, der andere Verpflichtungen der Gemeinschaft gegenüber umgeht, die regierende Politiker für richtig halten und mit Hilfe von Gesetzen durchzusetzen versuchen. Diese, Berufspolitiker im Sinne Webers, wissen nur zu gut, daß diejenigen, die sie zu leiten wähnen, ihrer vermeintlichen Leitung durch eine Politik des Vermeidensund Umgehens ausweichen und ihnen sogar entgegentreten, oft aus der Erwägung heraus, daß die offizielle Politik ebenfalls auf politischen Schlichen beruht und lediglich durch die relativ größere Macht der Regierenden durchgesetzt wird. 16

Beim Satz des Aristoteles fällt auf den ersten Blick ins Auge, daß der Mensch zusammen mit dem Tier genannt wird. Man wird einwenden, der Mensch sei nach dem Griechen nicht Tier schlechthin, sondern ein politisches Tier, weil er sprechen kann, in der Polis lebt und in seinen Handlungen entsprechend beschränkt ist. Aber auch Tiere leben in Gemeinschaften und haben auf diese Rücksicht zu nehmen, wie bei Bienen und Herden besonders deutlich wird. Sieht man nun den Willen zum Leben, den Instinkt als dem Tier eigen an, so führt des Aristoteles Gleichsetzung zu dem Ergebnis, daß der Mensch, wie das Tier, vor allem leben will, auch bei ihm also der instinktive Wille zum Leben das Primäre ist. Sieht man allerdings sein politisches Tier als Bestandteil der Polis und diese als seine Voraussetzung, dann tritt auch der Verstand nach vorn. Das will aber nicht heißen, daß im Menschen der Intellekt den Instinkt überwiegt. Nach Schopenhauer und Nietzsche können wir vielmehr annehmen, daß letzterer sich ersteren zunutze macht, daß also der V erstand dem instinktiven Lebenswillen dient. Beim Tier überwiegt das Lebensbedürfnis, nicht das Strebensbedürfnis. Es zählt der über alles gehende Wille, bloß zu leben, nicht aber möglichst gut und luxuriös zu leben und entsprechend zu streben. Selbst Raubtiere rauben in den Maßen ihrer Lebensbedürfnisse. Das Tier tötet, wenn es hungrig ist, der Mensch hingegen, um sich zu bereichern oder aus Machthunger. Tiere vegetieren, Menschen eskalieren. Tieren liegt am bloßen Leben, Menschen am großen Leben. Der Mensch allein ist auf das Rad des Ixion gespannt. Gespannt, auf seine Art zu leben, macht er sich seinen Verstand zunutze, nutzt er ihn aus, wo und wie immer es ihm gerade opportun erscheint. Politik ist ihm ein Mittel, Menschliches und Tierisches zu verbinden und 2 Dietze

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zum Zwecke seiner Existenz das zu erreichen, was Instinkt und V erstand ihn wollen lassen. Die instinktive Lebensbehauptung und Lebensverbesserung unter Zuhilfenahme des Verstandes erscheint mir als das Eigentliche der Politik. Von ihr hauptsächlich wird sich der Mensch leiten lassen. Sie stellt das eigentliche Leitmotiv seines Verhaltens dar, ist das eigentliche Verlangen seines Daseins, der eigentliche Inhalt seines Seins in der Zeit. Für dieses Sein und seine Existenz wird der menschliche V erstand vom menschlichen Willen, zu leben und möglichst gut und immer besser zu leben, gefordert und getrieben. Er wird sich zumeist von jeweils opportunen Erwägungen leiten lassen und nach dem Satz des Plautus verfahren, utquomque est ventus, quaisi navi in mari, der Segel wird dem Winde angepaßt (Poenulus, Zeile 754). Disraeli bezeichnete am 5. Juni 1848 im Unterhaus die Politik als die höchste Art des praktischen Lebens, als die des praktischen Geschäfts des Lebens. In einer Rede vom 28. Februar 1859 fügte er hinzu, Endgültigkeit sei nicht die Sprache der Politik: "Finality is not the language of politics." Das erscheint in England selbst bei einem Konservativen nicht verwunderlich, denn über die Notwendigkeit liberalen opportunen An- und Aufpassens waren sich Konservative und Liberale einig in einer Nation, deren Handelsund Händlergeist nicht nur Thomas Mann und W erner Sombart hervorhoben. Das Leben wird als etwas Praktisches gesehen, dem Busineß ähnlich, in dem es etwas zu erreichen gilt. In die Bemerkung des Politikers Disraeli, die sich offenbar auf die Politik der englischen Regierung bezog und die Politik als etwas für England Existentielles erscheinen läßt, kann man hineinlesen, die Politik sei für jeden etwas Existentielles. 18

Sie kann alles beinhalten, was dazu dient, daß Menschen unter ihresgleichen etwas erreichen. Im folgenden will ich vieles davon zwei großen Klassen der Politik zuteilen und mich auf diese konzentrieren. Ich meine nicht die Unterscheidung zwischen beruflicher und nichtberuflicher Politik, weil eigentlich jeder, der innerhalb der menschlichen Gemeinschaft Weiterexistieren will, auf seineWeise Politik treibt. Ebensowenig denke ich an den Unterschied zwischen denen, die sich offensichtlich mit dem befassen, was allgemein als Politik bekannt ist, und den sogenannten Unpolitischen. Auch habe ich nicht die Unterscheidung zwischen denen, die mit der Politik ein Geschäft machen wollen und anderen im Sinn, denn alle, die etwas erreichen wollen, wollen ja irgendwie ins Geschäft kommen. Ich meine vielmehr die Unterscheidung zwischen Regierenden und Regierten in einem Staate. Auf sie will ich die folgenden Ausführungen beschränken, der Tatsache wohl gewahr, daß diese nur einenTeil der politisch Tätigen umfassen und es unter ihnen Angehörige der eben genannten Kategorien und noch viele andere gibt. Stellt man nun auf eine Klassifizierung in Regierende und Regierte ab, ergibt sich folgendes Bild. Die einen wollen an der Macht bleiben, die anderen an die Macht kommen; die einen wollen regulieren, die anderen sich von deren Reglement befreien; die einen wollen die Freiheit zum Regieren, die anderen die Freiheit von deren Regierung. In Freiheit an der Macht bleiben; an die Macht kommen, um die Freiheit der Macht zu genießen; frei sein zu regulieren; von Regulierungen frei zu sein; zum Regieren frei sein; von der Regierung frei sein: offenbar ist Politik mit der Freiheit verbunden, denn jedes Erreichenwollen ist ein Bestreben zu mehr Freiheit. Das Erreichen macht freier, wenn es auch nur im Hinblick auf das eben 2''

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Erreichte bloß kurz frei macht, eine kurze freie Atempause gewährt, weil man das gerade Erreichte ja nun nicht mehr zu erreichen braucht, um dann neuem Erreichenwollen Platz zu machen. Bezeichnet man nun das Streben nach mehr Freiheit als Liberalismus, erscheint Politik als Mittel des Liberalismus. Da aber dieser selbst als Freiheitsdrang ein Mittel zum Erreichen von größerer Freiheit ist, kommt vielleicht sogar die Gleichung Politik = Liberalismus heraus. Ich habe in früheren Arbeiten versucht, zu zeigen, was an verschiedenen, sich oft sogar widersprechenden Liberalismen bereits herausgekommen ist unter der Ägis des wertfreien, nur an Ausdehnungen der Freiheit interessierten reinen Liberalismus, der von allen ethischen, moralischen, rechtlichen usw. Hemmungen bereinigt ist, und was da noch alles auf die Menschheit zukommen kann, wenn man bedenkt, daß die Freiheit ein Vermögen zum Guten und Bösen ist. Identifiziert man nun Politik und Liberalismus, so kann die Politik ähnlich viel zur Folge haben wie der Liberalismus. Wie verschiedene Liberalismen nämlich nur Aspekte des reinen Liberalismus sind, sind verschiedene Arten der Politik lediglichTeilrealisierungen des Gesamtbegriffs Politik, der aber mit Ausnahme des Bestrebens, unter Menschen etwas zu erreichen, frei ist von ethischen, moralischen, rechtlichen usf. Hegungen und somit als reine Politik bezeichnet werden kann. Reine Politik ist Politik im eigentlichen Sinne, Politik schlechthin, Politik an sich, Urgrund und Quelle aller Erscheinungen der Politik, allihrer Arten und Unarten. Will man nicht bis zu einer Identifikation von Politik und Liberalismus gehen und die Politik eher als Mittel zum Liberalismus sehen, kommt da wohl noch mehr an Erfreu20

lichem und Unerfreulichem heraus. Meist gibt es nämlich mehrere Mittel, um einen Zweck zu erreichen. Der Satz "der Zweck heiligt die Mittel" drückt das aus. Jeder Freiheitsdrang, jeder konkrete Aspekt des Liberalismus dürfte also eine ganze Schar verschiedener Aspekte der Politik als Begleiterscheinungen haben. Als Hegel in der Einleitung seiner Philosophie der Geschichte schrieb, die Weltgeschichte stelle "den Stufengang der Entwicklung des Prinzips, dessen Gehalt das Bewußtsein der Freiheit ist, dar" ("Sämtliche Werke", Stuttgart 1949, Bd. 11, S. 92), konnte er auf eine Reihe von Autoren zurückblicken, deren Werk mit der geschichtlichen Bewegung verbunden ist, die allgemein als Liberalismus bezeichnet wird. Diese fand in der englischen Politik bereits 1688 offiziell Anerkennung, in der amerikanischen und französischen hundert Jahre später. Im 19. Jahrhundert wurde sie so allgemein akzeptiert, daß dieses als liberales Jahrhundert bezeichnet wurde. Sie sah die Freiheit vor allem im Schutz einzelner vor der Regierung. Das ist nicht verwunderlich, da sie sich vor allen Dingen gegen die Willkür bestehender Regierungen und deren Regulierungen richtete. Die Politik ist an jeweilige Umstände gebunden. Sie hat meist Vordergründiges im Sinn, sei es Existierendes, das angegriffen oder verteidigt wird, oder das Verlangen nach Nichtexistierendem und Vorenthaltenem. Gegen Unterdrückung gibt es den Wunsch nach entsprechender Befreiung: Gegen die Politik gewisser Oppressionen gibt es die gewisser Emanzipationen. Eine totale Emanzipation des Menschen liegt noch in weiter Ferne. Es erscheint fraglich, ob sie jemals erreicht werden wird. So dürfte die Politik noch lange mit uns sein.

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Da es sich beim Verlangen nach Sicherheit vor staatlichen Eingriffen in die Freiheitssphäre einzelner nur um gewisse Freiheiten handelte, kann es nicht überraschen, daß man nach dem Erreichen dieses Ziels weiteres beanspruchte. Weil man staatliche Willkür zum guten Teil der Monarchie mit ihrer Einzelherrschaft zuschrieb, kam es zum Verlangen nach Demokratie als des Mittels, künftige Unterdrückungen des Volkes auszuschließen. Dabei ging man von der Annahme aus, das Volk werde sich nicht selbst tyrannisieren, auch nicht durch seine Vertreter. Entgegen dieser Hoffnung sah man aber die demokratische Mehrheit oder den demokratischen Volkstribun daran gehen, einzelne und Minderheiten zu benachteiligen, zu unterdrücken und gar zu liquidieren. Regierungen verfolgten ihre Politik, ob es sich nun um die eines einzelnen (Monarchie), einer Klasse (Aristokratie) oder um die der Mehrheit des Volkes oder jedenfalls der Wähler handelte. Auch die Regierten machten ihre Politik als Oppositionen. Sie alle wollten etwas erreichen - zumeist im Namen der Freiheit, wie sie jeweils von ihnen aufgefaßt wurde, denn es gibt unendlich viele Auffassungen von der Freiheit. Das Streben nach Freiheit erweist sich so als wesentliches Ziel der Politik, als Zweck des Erreichenwollens. Was immer man gegen den Satz, der Zweck heilige die Mittel, vorbringen mag, ist er wohl der der Politik eigene Satz. Er drückt das ihr eigene Prinzip aus, dessen sich alle Freiheitsbehauptenden unter- und gegeneinander bedienen können, auch Regierende und Regierte. Die Politik als Mittel zur Freiheit erhellt wohl aus einer anderen Stelle (S. 82) der angeführten Einleitung zu Hegels Philosophie der Geschichte, in der er von zwei Momenten spricht, "das eine: die Idee der Freiheit als der absolute Endzweck, das 22

andere: das Mittel derselben, die subjektive Seite des Wissens und W ollens mit ihrer Lebendigkeit, Bewegung und Tätigkeit." Wissen und Wollen mit ihrer Lebendigkeit, Bewegung und Tätigkeit: sie alle gehören zur Politik, zum Erreichenwollen. Hegel zeigt sich hier, wie Schmitt von ihm generell sagt, "im größten Sinne politisch" (BdP, 62). Das wird auch klar, wenn er von der subjektiven Seite des Wissens und W ollens spricht. FürHegelist es das Ich, das durch Politik etwas erreichen will, so sehr er auch gewünscht haben mag, daß dies dem Staat zugute käme. Wagner war da anderer Ansicht. Für ihn war Politik etwas Egoistisches, wenn er bemerkte, der politische Charakter bezöge die Außenwelt nur auf sich und seinen Vorteil, sich selbst aber niemals auf sie. 5 Zu seiner Zeit hatte der liberale Idealismus Hegels offenbar dem liberalen Realismus von Marx schon einiges Terrain überlassen. Der ökonomische Liberalismus eines Adam Smith mit seiner Betonung einer von Fairneß gehegten freien Wirtschaft war dem Manchestertum gewichen, das dann unter dem Einfluß Herbert Spencers in den Vereinigten Staaten als "cut-throat competition" bekannt wurde. Schon der "Federalist", jener höchst politische Kommentar zum Liberalismus in Theorie und Praxis, der die Ratifikation der amerikanischen Verfassung erreichen wollte, war der menschlichen Natur gegenüber skeptisch. Im 51. Essay liest man den Satz Madisons: "Wenn Menschen Engel wären, wäre keine Regierung notwendig", einen Satz, den Schmitt wohl als Schlüsselsatz bezeichnet hätte. Er ist von folgenden Sätzen umrahmt: "Was ist denn die Regierung, wenn nicht die größte Reflexion über die menschliche Natur? ... Wenn Engel die Menschen regierten, wären 5

Mann, a.a.O., 232.

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weder externe noch interne Kontrollen der Regierung notwendig." Man könnte hinzufügen, daß dann auch weder externe noch interne Kontrollen einzelner notwendig wären. Auch Kant hatte, wie seine kategorischen Imperative beweisen, seine Zweifel über die Menschen, die er dann gegen Ende seines Lebens am Ende seiner Anthropologie noch einmal betonte. Nicht anders war es bei Schelling, wenn er in seinem Aufsatz über das Wesen der menschlichen Freiheit diese als "ein Vermögen des Guten und des Bösen" bezeichnete. Bedenkt man nun, daß Politik als ein Mittel, etwas zu erreichen, ein Mittel zu mehr Freiheit ist und dem Liberalismus nahe, ergibt sich, daß sie ähnlich weitläufig, wenn nicht weitläufiger ist als der Liberalismus, dessen Grenzen man noch gar nicht ahnen kann. In einem solch weiten, von Beschränkungen absolut freien, bereinigten und daher reinen Begriff der Politik ist dann unheimlich viel Platz für alle engeren Begriffe einschließlich der kompromißlosen Freund/Feind Konzeption Schmitts sowie derer, die in der Politik den Gedanken der Zusammenarbeit, Debatte, Diskussion und des Kompromisses sehen. Wie Liberale unter der Ägis des reinen Liberalismus können Politiker sich unter der der reinen Politik hin und her bewegen zum Bösen, Guten und allem Möglichen und Unmöglichen, hinüber und herüber schwanken, ein- und umschwenken, ohne ihr Gesicht zu verlieren, ihrem Ruf zu schaden oder sich etwas zu vergeben, weil sie ja im betreffenden Augenblick in einer bestimmten Situation lediglich etwas erreichen wollen. Sie können andere unterdrücken und sich der Macht anderer entgegenstellen bis zum anarchistischen und terroristischen V erhalten hin. Weil Politiker ihrer Natur und ihrem Wesen nach mehr als andere gemäß dem Prinzip der Politik, nach dem der Zweck die Mittel heiligt, 24

verfahren können und verfuhren, sind sie oft verachtet worden. Viele Menschen verachten ja auch das Politische in sich selbst als das Gegenstück jener inneren Stimme, die sie zur Moral mahnt. 6 Das hatte wohl Shakespeare im Sinn, wenn er von Politikern sprach, die er schlecht und verachtungswürdig fand. In Amerika wird der Politiker ohnehin nicht hoch angesehen, wie hoch er auch kommen mag, so daß es der von Shakespeare benutzten Adjektive nicht bedarf. In Neuengland gibt es jährlich einen Wettbewerb, um als größter Lügner prämiert zu werden. Politiker sind von ihm von vornherein ausgeschlossen, weil sie als professionelle Lügner gelten. Im "Federalist" 51 findet sich auch der Satz: "Ambition must be made to counteract ambition." Er weist darauf hin, daß in der Politik der Ehrgeiz der einen dem der anderen entgegensteht, weil eben alle ihre eigenen Ziele haben. Die haben in einem Staatswesen auch Regierende Regierten gegenüber und umgekehrt, so zerstritten sie alle auch unter sich selbst sein, und gegeneinander Politik treiben mögen. Ich wende mich zunächst der Politik derjenigen zu, die Staaten regieren. Ihr kommt wohl immer noch, im Vergleich zur Politik Regierter, eine gewisse Priorität zu. Jahrhundertelang glaubte man nämlich, nur Machthabende machten Politik. Ihre Handlungsweisen werden ja auch heute noch eher als Politik angesehen, unansehnlich wie sie sein mögen, als die der Regierten.

6 Für eine Zusammenstellung solcher Mahnungen bei bekannten Liberalen wie Montesquieu, Adam Smith, Thomas Jefferson und Kant, die wohl auf die Furcht vor einem Mißbrauch der Freiheit, etwas zu erreichen, zurückzuführen sind, vgl. mein "Liberalism Proper and Proper Liheralism", Baltimore 1985,71-73, 109-111, 143-149, 186-191.

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Machthabende stehen Machtlosen gegenüber, die mit Macht denen ohne Macht, die Mächtigen den Ohnmächtigen. Regierende wollen meist an der Macht bleiben und verfolgen eine entsprechende Politik, die sich als Resultat ihrer Macht und Machtbefugnis erweist und als Mittel zur Befriedigung ihres Machtbedürfnisses, ihres Machtdurstes und Machthungers. Ihre Politik kann eine ganz eindeutige sein, wird aber oft auf undurchsichtige, geheime Weise geführt. Die offenbare Machtpolitik wird also durch eine ergänzt werden, in der die Arkana eine Rolle spielen. Wie immer Politiker in der Regierung handeln, ob es sich um Große Politik handelt, um Politik der Staaten gegenüber anderen Staaten, um Politik der Regierung gegenüber anderen Regierungen oder um die Innenpolitik: immer ist es eine Politik Regierten gegenüber, die durch die Politik der Regierenden irgendwie verpflichtet werden und für sie herhalten müssen. Auch wenn es, wie in der Außenpolitik und im Kriege, offiziell um Vorteile des Staates geht, geht es um das Bestreben der Regierenden, ihre Handlungen zu rechtfertigen und an der Macht zu bleiben. Diejenigen, die ihnen nicht folgen, werden dann als ehrlos von ihnen bezeichnet und bestraft. In Deutschland zeigten das die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs in besonders grausamer Klarheit. Über die Macht hat man sich verschieden geäußert. Der Schöpfer des Christentums antwortete Pilatus auf dessen Warnung, er habe die Macht, ihn zu kreuzigen oder loszugeben: "Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von obenherab gegeben" Qohannes 19, 11). Paulus, der Apostel des Christentums, betonte im Römerbrief (13, 1): "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verord26

net." Papst Gregor der Große sagte: "Gott ist höchste Macht und höchstes Sein. Alle Macht ist von ihm und ist und bleibt in ihrem Wesen göttlich und gut. Sollte der Teufel Macht haben, so ist auch diese Macht, insofern sie eben Macht ist, göttlich und gut. Nur der Wille des Teufels ist böse. Aber auch trotz dieses immer bösen, teuflischen Willens bleibt die Macht an sich göttlich und gut." In der Aufklärung ist man skeptischer. Locke folgend, wollte Montesquieu eine Teilung der Regierungs macht, damit eine Gewalt die andere hemme ("De l'esprit des lois," Buch XI, Kapitel4). Die Bemerkung des Vaters der amerikanischen Verfassung, Ambitionen müßten Ambitionen entgegenwirken, wurde im Zusammenhang mit der von dieser vorgesehenen Gewaltenteilung gemacht. Das entsprach auch der etwa zur gleichen Zeit geäußerten Ansicht von John Adams, unbeschränkte und nicht balancierte Macht werde immer ausgenutzt, ob sie nun dauernd oder temporär ist, und absolute Macht mache in gleicher Weise Despoten, Monarchen, Aristokraten, Demokraten, Jakobiner und sans culottes trunken/ Sie alle fürchteten die Macht der Regierenden, weil sie um die Freiheit der Regierten bangten. Im liberalenJahrhundertwar man der Macht gegenüber noch vorsichtiger. Friedrich Christoph Schlosser, der Verfasser einer humanitären Weltgeschichte, meinte, die Macht sei an sich böse. VonJakob Burckhardt, der Schlosser in seinen Vorlesungen gern zitierte, wurden folgende Stellen aus seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen, die er bis 1885 in Basel anstellte, bekannt: "Und nun zeigt es sich7 "Defence of the Constitutions of Government of the United States of America", in Charles Francis Adams, Hrsg., "The Works of John Adams", Boston 1850-56, VI, 73, 477.

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man denke dabei an Ludwig XIV., an Napoleon und an die revolutionären Volksregierungen -,daß dieMacht an sich böse ist (Schlosser), daß ohne Rücksicht auf irgendeine Religion das Recht des Egoismus, das man dem Einzelnen abspricht, dem Staate zugesprochen wird .... Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen." Lord Acton, der englische Liberale, schrieb 1887 an Bischof Creighton, die Macht tendiere dahin, zu korrumpieren und absolute Macht korrumpiere absolut. 8 Wir haben also eine zunehmend kritische Beurteilung der Macht. Im Mittelalter betrachtete Gregor sie als an sich gut. Die Aufklärung, die das theistische durch ein deistisches Weltbild ersetzte, mutmaßte in ihr etwas Gefährliches. Schlosser, Burckhardt und Acton sahen sie im 19. Jahrhundert als an sich böse und korrumpierend. Diese Neubewertung kam mit dem Vormarsch der Demokratie, der sich insbesondere durch Erweiterungen des Wahlrechts manifestierte. Auf den ersten Blick erstaunt das. Eigentlich hätte man ein größeres Mißtrauen der Macht gegenüber erwartet zu Zeiten, als das Volk von der Regierung ausgeschlossen war. Bei näherem Hinsehen erscheint es allerdings eher natürlich. Die Entwicklung reflektiert nämlich den wachsenden Freiheitsdrang, jenen Stufengang de~ Bewußtseins der Freiheit, das nach Hegel die Weltgeschichte darstellt. Der aber führte zu einer wachsenden Skepsis gegenüber den Mächtigen, deren Unterdrückungen von immer mehr Menschen immer mehr empfunden wurden. Es war den 8 Brief vom 5. April1887. John N. Figgis/Reginald V. Lawrence, Hrsg., "Historical Essays and Studies", London 1907, 504.

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Herrschern ein Leichtes, ihre Untertanen zu unterdrücken, solange die Regierten die Macht der Regierenden nicht in Frage stellten in dem Glauben, ihr hafte Göttliches an und sie sei deshalb notwendig gut. Unter dem Satz homo homine Deus konnte es ein theistisches Königtum geben, das man in England unter den Stuarts als "divine right of kings" bezeichnete, das aber auch in anderen Nationen existierte. Nicht viel anders war es, solange die Regierten es als natürlich ansahen, daß Stärkere Schwächeren ihren Willen aufzwangen, Mächtige also ein natürliches Recht, Ohnmächtige zu beherrschen, für sich in Anspruch nehmen konnten. Homo homini Iupus. Die Regierungsmacht wurde hier als etwas Naturgegebenes angesehen, von der mächtigen Natur abgeleitet, die im Deismus dann so mächtig wurde, Gott selbst sich unterzuordnen. Als Regierte aber begannen, mit Hilfe der Wissenschaften sich die Natur zu unterwerfen, als sie zu Beratern von Regierem wurden, letztere ihrem Rat folgten und sich ihm unterwarfen, wurde die Idee, ein durchschnittlich begabter oder gar degenerierter Monarch sei von Gott oder der Natur ausersehen, andere, die besser waren, zu beherrschen, immer weniger akzeptiert. Und als in der von dem Deisten Jefferson verfaßten amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zu lesen war, die Amerikaner beanspruchten jene "Gleichberechtigung, zu der die Gesetze der Natur und des Gottes der Natur" sie berechtigten, daß alle Menschen gleich geschaffen seien und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet, daß Regierungen dazu da seien, diese Rechte zu schützen und ihre gerechte Macht von der Zustimmung der Regierten abzuleiten hätten, gingen Regierte im Bewußtsein ihrer 29

Freiheit über zur Volksregierung gemäß dem Satz, vox populi vox Dei. Demokratische Unterdrückung in der Folge der Amerikanischen Revolution sowie der von Edmund Burke denunzierteTerror der Französischen Revolution ließen das Mißtrauen auch gegenüber demokratischen Herrschern wach bleiben. Immer mehr hatte man Grund zu fragen, ob denn die Stimme des Volkes die Gottes sei. Darüberhinaus verschwand bei freiheitshungrigen Individuen der Glaube an Gott selbst, nachdem Marx verlauten ließ, Religion sei Opium für das Volk, der Sozialist Proudhon behauptete, wer Gott sage, wolle betrügen und Nietzsche vierzig Jahre später klagte, Gott sei tot. Das reduzierte dann auch die Möglichkeit, demokratische Macht von Gott abzuleiten und damit als an sich gut anzusehen. Was von jeher der Fall war, verbrämt wie es lange erscheinen mochte, wurde nun immer weniger bezweifelt, nämlich, daß die Macht etwas rein Menschliches ist. "Stammt aber die Macht weder von der Natur noch von Gott, dann spielt sich alles, was die Macht und ihre Ausübung anbetrifft, nur zwischen Menschen ab. Dann sind wir Menschen ganz unter uns. Die Machthaber sind gegenüber den Machtlosen, die Mächtigen gegenüber den Ohnmächtigen ganz einfach Menschen gegenüber Menschen .. . . Das besagt die lateinische Redensart: Homo homini homo. "9 Immer schon machten regierende Menschen regierten gegenüber Politik, wollten sie von ihnen etwas erreichen, wie sie ihre Handlungsweise auch als gott-oder naturgewollte hinstellen mochten. Und erreichen wollten Regierende Regierten gegenüber vor allem eines, nämlich Macht, sei es nun deren Konsoli9 Carl Schmitt, "Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber", Pfullingen 1954, 10.

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dierung, Perpetuierung oder Vergrößerung. Das Merkmal der Politik in Lateinamerika war derart lange der continuismo, nach dem sich Präsidenten kontinuierlich an der Macht hielten, ob sie nun Wahlen aufschoben, aufhoben oder fälschten, daß man sich fragt, wann diese Praktiken, die auch heute keineswegs ausgestorben sind, wieder allgemein üblich werden. Man denkt an napoleonische Plebiszite, an Mussolinis Acerho-Reform oder an die Nichteinlösung von Hitlers Versprechen von 1933, nach vier Jahren seine Regierung von einer Volksabstimmung begutachten zu lassen. Auch in liberalen Demokratien fehlt es an Beispielen nicht. Unter dem Statuto Piemont-Sardiniens von 1848, das mit der Einigung Italiens zurVerfassungdieses Landes wurde, gab es bis zum Ersten Weltkrieg den trasformismo, mit dem sich Regierungschefs, insbesondere Giolitti, von einem Kabinett ins andere hinüberretteten. Und man kann nicht die amerikanische Verfassungsgeschichte studieren, ohne von dem ungeheuren Anwachsen der Macht des Präsidenten beeindruckt zu sein. Selbst Reagan, der oft gegen die Machtanballung in der Bundesregierung zu Felde zog, schlug vor, den 22. Verfassungszusatz abzuschaffen, der den von George Washington eingeführten Brauch nach dessen Durchbrechung durch Franklin D. Roosevelt zum Gesetz erhob und nur eine Wiederwahl des Präsidenten zuläßt. Regierende wie de Gaulle, der sein Präsidentenamt zweimal zur Verfügung stellte, sind rar in der Politik und nicht nur auf nationaler Ebene. Vielleicht kommentierte deshalb Nixon bei seinem Tode, des staatsmännischen Ranges des Franzosen wohl gewahr, de Gaulle sei das gewesen, was "wir" gern sein würden. In derTat möchten viele Politiker nur allzugern Staatsmänner sein, wenn ihr Drang zur Politik sie nicht davon abhielte. 31

Von dem lobenswerten Prinzip juste vivere, neminem laedere, suum cuique lassen sich die meisten Menschen nicht immer leiten, obwohl viele bis zu einem gewissen Grade sicherlich recht leben, niemanden verletzen und jedem das Seine zugestehen. Wie groß die Lippenbekenntnisse des Politikers unter gegebenen Umständen zu ihm auch sein mögen, wird er vor allem sein eigenes, meist unmittelbares Interesse im Auge haben. Die Geschichte des politischen Handeins ist angefüllt mit den verschiedensten Motiven. Platon betonte eros, David Hume Brauch und Nützlichkeit, Rousseau Sympathie und andere Gefühle, Hobbes den Drang zur Macht. Letzterer sah es wohl am richtigsten. In seinem die politische Person behandelnden Beitrag zur Festschrift für Eric Voegelin betont Carl J. Friedrich das Potential der menschlichen Persönlichkeit infolge ihres großen Anpassungsvermögens. Er schreibt, daß die verschiedenen Motive menschlichen Handeins sich kaleidoskopartig zu endlosen Variationen kombinieren und erwähnt T alcott Parsons, "The Social System", 1951, auf Seite 32 f., wo von "plasticity" und "sensitivity" als "biological properties" oder "characteristics" die Rede ist. Relevant wie andere Motive beim Politiker aber auch sein mögen, so ist der Drang nach Macht doch wohl der bedeutendste. Weber schreibt, das, was die Politik an inneren Freuden zu bieten vermag, sei "zunächst: Machtgefühl", der Politiker "arbeitet mit dem Streben nach Macht als unvermeidlichem Mittel. 'Machtinstinkt' - wie man sich auszudrücken pflegt - gehört daher in der Tat zu seinen normalen Qualitäten." In der Gewaltsamkeit sieht er das für die Politik entscheidende Mittel (Paß, 8, 50, 52, 59 f.) Angesichts all dieser Motive menschlichen Handelns, ihrer kaleidoskopartigen Kombinationen mit ihren endlosen Varianten, die sich gegebe32

nen Situationen mit mehr oder weniger Sensibilität plastisch anpassen, erscheint die Spanne der Politik, die Regierenden Regierten gegenüber zur Verfügung steht, außerordentlich groß. Sie wird noch vergrößert, weil wir in einer Zeit leben, in der sich die verschiedensten Arten und Abarten des Liberalismus mehr und mehr dem reinen Liberalismus nähern, der außer dem egoistischen Streben nach mehr Freiheit, das für Regierende ein Streben nach Macht bedeuten kann, von ethischen, moralischen, rechtlichen und anderen Hemmungen frei ist. Das Beunruhigende dieser weiten Spanne und der aus ihr folgenden Anspannungen insbesondere der Regierten wurde von den Ausführungen der Protagonisten der Realpolitik während und nach der Zeit des Realpolitikers Bismarck noch gesteigert. Der hielt Politik bekanntlich für die Kunst des Möglichen, das er realistisch einschätzte, um zum Ziele zu gelangen. Die Schule der Realpolitiker betonte im Anschluß an Hegel, eine Politik im Interesse des Staates könne nur gut, moralisch, rechtlich und sittlich sein wie sehr sie, an normalen Maßstäben einzelner gemessen, auch unethisch sein mochte und moralisch, rechtlich und sittlich zu verdammen war. Ihr Hauptvertreter war wohl Heinrich von Treitschke, ein Nationalliberaler, der auf seine eigene liberale Weise zum Apologeten jeder Politik wurde, die im Interesse der Nation lag. In Abwandlung Hegels war er der Ansicht, der Wille sei das Wesen des Staates, das er als Macht bezeichnete. Daraus leitete er eine sittliche Pflicht des Staates ab, für seine Macht zu sorgen. Er erhob die Forderung, "daß man unterscheiden muß zwischen öffentlicher und privater Moral. Die Rangordnung der verschiedenen Pflichten muß für den Staat, da er Macht ist, nothwendig eine ganz andere sein als für den einzelnen Menschen. Eine ganze Reihe dieser Pflichten, 3 Dietze

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die dem Einzelnen obliegen, ist für den Staat überhaupt nicht zu denken. Als höchstes Gebot für ihn gilt immer, sich selbst zu behaupten; das ist für ihn absolut sittlich. Und darum muß man aussprechen, daß unter allen politischen Sünden die der Schwäche die verwerflichste und verächtlichste ist, sie ist die Sünde gegen den heiligen Geist der Politik." Andere folgten dem bekannten Historiker, dessen BerlinerVorlesungen gesellschaftliche Ereignisse waren. Nach Heinrich Scholz ist Politik "die Leitung der Staatsgeschäfte. Staatliche Handlungen aber stehen grundsätzlich unter wesentlich anderen Bedingungen als die Handlungen des Einzelmenschen." Er hielt "die unbesonnene Übertragung der individuellen Moralprinzipien auf das Gebiet des staatlichen Handelns" für unzulässig. Für ihn ist eine Politik, "die reelle Grundlagen und reelle Ziele hat, grundsätzlich eine sittliche Politik, wie umgekehrt eine Politik mit unreellen Grundlagen und phantastischen Zielen grundsätzlich eine unsittliche Politik ist." Ähnlich Otto Baumgarten. Er betonte, der Staat sei als sittliche Institution "denNormen der Einzelmoral nicht unterstellt" und habe "eine höhere Sittlichkeit zu befolgen." Später heißt es: "Bei dieser hohen sittlichen Auffassung des Staates scheint nun ein Konflikt der Politik mit der Moral nahezu ausgeschlossen. Der Politiker, erfaßt von dem hohen Ethos dieses Zentralgutes, scheint der höchste Anwalt der Volksmoral zu sein", die "Grundlage" dieses Zentralgutes, des Nationalstaates, ist "die Macht, die brutale reale Macht." Baumgarten übernimmt den "Carlyleschen Grundsatz: 'Macht ist Recht', der für ihn mit dem andern Satz im Grunde eins war: 'Macht ist Sittlichkeit!' ... Denn die Macht, von der wir Realpolitiker urteilen, sie sei Recht und höchstes sittliches Gut, ruht auf den tiefen Grundlagen der sittlichen Kultur34

kraft." Die Realpolitiker sind sich "einig darin, daß der Staat weder keine noch dieselbe Moral hat wie der Privatmann, sondern eine eigene Moral, nicht die der altruistischen Selbstaufopferung, sondern die der Selbstbehauptung." Die Politik hat "ihr eigenes Ethos, ihre eigenen Maßstäbe und Normen wie ihre eigentümlichen Ziele ... Für sie ist nicht die Privatmoral, am wenigsten die Persönlichkeitsmoral der Bergpredigt maßgebend, und die Skrupulosität wegen doppelter Ethik als Politiker und als Mensch ist verfehlt." 10 Das alles erinnert an die Idee der Staatsräson, deren Geschichte seit dem Aufkommen des modernen Staates Friedrich Meinecke beschrieb und deren bekanntester Vertreter wohl Machiavelli war, auf den sich Treitschke, Scholz und Baumgarten beriefen und an den die Franzosen denken, wenn sie ihren Präsidenten Mitterand als "le Florentine" bezeichnen. Lincoln kommt in den Sinn, derzeitlebens gegen die Sklaverei war und auch als Emanzipator der Sklaven berühmt wurde, aber keinen Zweifel darüber ließ, daß seine Emanzipation der Sklaven hauptsächlich politisch motiviert war, weil er die Rettung derVereinigten Staaten in ihrer Union erreichen wollte. Man lese nur seine 10 Heinrich v. Treitschke, "Politik", 1897,2. Auf!., Leipzig 1899, I, lOOf.; Heinrich Scholz, "Politik und Moral", Gotha 1915, 19, 25, 40. Vgl. auch folgende Stellen: "Die Moral gebietet: du sollst dich nach Möglichkeit selbst vergessen und deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Politik erklärt dagegen: du mußt dich nach Möglichkeit selbst behaupten, und: jeder ist sich selbst der Nächste. Die Moralität verwirft jedes unsaubere Mittel, und wenn es in bester Absicht gebraucht wird. Die Politik ist ein Netzwerk von unsauberen Mitteln, und wenn man sie zur Rede stellt, so spricht sie von dem Zweck, der die Mittel heilige" (13). Das Handeln des einzelnen "hat in dem grundsätzlichen Verzicht auf Gewalt wenigstens einen gewissen, obgleich ziemlich untergeordneten und peripherischen sittlichen Maßstab. Die Politik kann ihre Moralität niemals durch prinzipiellen Verzicht auf Gewalt, sondern im Gegenteil nur unter Voraussetzung des prinzipiellen Willens zur Gewalt erweisen" (27); Otto Baumgarten, "Politik und Moral", Tübingen 1916, 7, 101 f., 114 f., 118, 126, 153.

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Rede in Springfield vom 16. Juni 1858, die er im gleichen Jahr mehrmals wiederholte, und seinen Brief während des Sezessionskrieges an Horace Greeley unter dem Datum des 22. August 1862: "Es ist mein Hauptziel in diesem Kampf, die Union zu retten, und nicht, die Sklaverei zu erhalten oder zu zerstören. Wenn ich dieUnionretten könnte ohne auch nur einen Sklaven zu befreien, würde ich das tun, und wenn ich sie retten könnte durch die Befreiung aller Sklaven, würde ich es tun: und wenn ich sie retten könnte, indem ich einige befreite und andere nicht, würde ich auch das tun." Da kam es ihm dann nicht darauf an, mit der Emanzipationsproklamation Eigentumsrechte empfindlich zu verletzen, wogegen er als jemand, der sich als Whig, also als Liberaler, sah, sicher als Privatmann erhebliche Bedenken hatte. Wie der Nationalliberale Treitschke, erlaubte sich der liberale Nationalist Lincoln eine weite Spanne politischer Handlungsfreiheit, wenn es um die Interessen der Nation ging. Eine solche gestand auch Jean Bodin, einer der politiques seiner Zeit und Schöpfer des Begriffs der Souveränität des Staatsoberhauptes, dem französischen König gegenüber Faktionen zu. Hobbes, der Verfasser des Buches über den Leviathan, tat ähnliches. Er war von Bodin beeinflußt und schlug, beunruhigt über Desintegrationserscheinungen in Großbritannien, auf Kosten der Freiheit der Untertanen eine Machtaoballung in den Händen eines Monarchen vor, damit dieser stark genug sei, wenigstens deren Leben zu schützen. Die Schule der Realpolitik machte von sich reden, als die Persönlichkeit des Reichsgründers Bismarck der Zeit ihren Stempel aufdrückte. In dieser Epoche konsolidierte sich das Reich mit der Verdrängung derer, die, wie Max von Seydel, in ihm einen Staatenbund sahen, durch Staatsrechtier wie Albert Haenel und Paul Laband, die es als 36

Bundesstaat betrachteten. Es begann unter den Weltmächten Rang anzunehmen. Scholz und Baumgarten publizierten, als es um diesen Rang im Kriege focht, was Lenin die Bemerkung entlockte, die Alliierten seien kaum berechtigt, die deutschen Kriegsziele als imperialistisch zu diffamieren, da sie ja den Imperalismus schon seit Generationen vorexerzierten. Auf den ersten Blick kann man annehmen, daß die Theoretiker der Realpolitik in realistischer Einschätzung der Lage Deutschlands als Patrioten der Reichsregierung eine Legitimation ihrer Machtpolitik liefern wollten zum Wohl der Nation. Sie konnten hier auf Lincoln zurückblicken, der während des Bürgerkrieges vor so manchen verfassungswidrigen Aktionen nicht zurückschreckte, um die Einheit derVereinigten Staaten zu wahren und ihnen damit in der Zukunft jenen hervorragenden Platz in der Welt zu sichern, denn ihnen T ocqueville prophezeit hatte. Andererseits sollte man tiefere Gründe für das Aufkommen dieser Schule nicht übersehen. Sie entstand nämlich zu der Zeit, als Burckhardt die Macht als böse bezeichnete und Nietzsche vom Tode Gottes sprach. Beide Bemerkungen wurden in den letztenJahrzehntendes LiberalenJahrhunderts gemacht, als man vom fin de siecle zu sprechen anfing. Beide deuten auf eine Erosion von Recht und Ordnung, der Bakunin das Wort geredet hatte. Da nun die Bewahrung von Recht und Ordnung seit Jahrhunderten Sache des Staates war, deuten sie auch auf das Ende des Staates und seiner Autorität. Nachdem für immer mehr Menschen klar geworden war, daß die Regierungsmacht weder von Gott noch von der Natur kam, sondern auf dem sich zur Macht erhebenden Volke beruhte, hatte Hegel, der die Demokratie ablehnte, noch einen gigantischen Versuch unternommen, den Staat als bewundernswürdige Autori37

tät, unter der allein sich die einzelnen voll entfalten konnten, zu retten. Da ist es nicht verwunderlich, daß sich nach dem Vormarsch der liberalen Demokratie, der zunehmend von Desintegrationserscheinungen begleitet war, Männer fanden, die zum Wohle des Staates eine Machtpolitik guthießen, weil sie unter Zugeständnissen an die Demokratie in diesem immer noch eine durch die geschichtliche Entwicklung geheiligte kulturelle Institution sahen und in ihm zudem einen von Gott gewollten, natürlich gewachsenen Organismus des Volkes erblickten, den es zu bewahren galt, vielleicht eine moderne Polis. Der Nationalliberale Treitschke sah sich wohl, wie das Wort anzeigt, zuerst als Nationaler, dann als Liberaler, was in der Atmosphäre der Reichsgründung wenig überrascht. Und so fühlten wahrscheinlich auch andere Mitglieder der realpolitischen Schule. 11 Diese war übrigens nicht auf Deutschland beschränkt, wie u. a. der Satz "my country, right or wrong" zeigt, wie auch Seeleys populäre Rechtfertigung englischer Kolonisationspolitik als "the white man's burden". Man denke auch an die amerikanische Politik des Big Stick gegenüber Lateinamerika. Offenbar sollte nicht nur das Zweite Reich gefördert und vor dem Untergang bewahrt werden. Den Staat selbst als eine Institution, die von vielen als Höhepunkt zivilisatorischer Entwicklung angesehen wurde, die der zivilisierten Welt jahrhundertelang ihr Antlitz verlieh, wollte man retten. Der erschien vielen infolge seiner Hegungen, sei es aufgrund der Schaffung eines humanitären Völkerrechts durch Abschaffung des Sklavenhandels und Humanisie11 Vgl. Franz-Martin Schmölz, "Das Dilemma der politischen Ethik bei Max Weber", in "Politische Ordnung und menschliche Existenz", Festgabe für Eric Voegelin, hrsg. von Alois Dempf, Hannah Arendt, Friedrich EngelJanosi, München 1962, 476 ff.

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rung des Krieges durch internationale Konventionen, sei es infolge seiner immer größeren Garantien von Menschenrechten, als humane, einen properen Liberalismus vertretende, bewahrenswerte Einrichtung, zumal nicht zu leugnen war, daß Emanzipationen in einzelnen Staaten beachtliche Fortschritte gemacht und liberale Demokratien geschaffen hattenY Da man obendrein im Staate oft noch eine sittliche Institution sah, selbst wenn er eine ihm eigene Sittlichkeit hatte, die sich von der seiner Bürger wesentlich abhob, konnten die seine Geschicke leitenden Politiker von den von ihnen Geleiteten schon Opfer verlangen. Wie deutlich bei den Apologeten der Realpolitik auch die Außenpolitik, die Politik von Staat zu Staat im Vordergrund stehen mochte, war eine solche Politik doch auch eine der Regierenden gegenüber Regierten. Das zeigte sich z. B. in der Steuerpolitik, mit der die einzelnen von der Regierung zu Rüstungszwecken belastet wurden. Im Kriege, den Clausewitz im bekannten Kapitel 6 B des 8. Buches seines Hauptwerkes als Instrument der Politik bezeichnete, wird das Leidenmüssen der Leidenden infolge des Leitenwollens der Leitenden besonders klar, wenn auch 1914 die der Zweiten Internationale angehörenden deutschen und französischen Sozialisten durch Unterstützung von Kriegsanleihen ihren Sozialismus ihrem Patriotismus unterordneten. Leiden mußten die meisten Machtlosen während des Krieges doch mächtig. Die Schule der Realpolitik machte Schule. Sie war stark sogar im liberalen Zeitalter, obgleich sie u. a. von Erich 12 V gl. Carl Schmitt, "Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen", 1929, in BdP, 79 ff.; "Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes -Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols", 1938, Köln-Lövenich 1982; Vorwort von 1963, BdP, 9 ff.

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Franz und Friedrich Wilhelm Foerster ihrer doppelten Moral wegen scharf angegriffen wurde. Da überrascht es nicht, wenn sie noch stärker wurde unter Regimes, die den allgemein akzeptierten Liberalismus als zu individualistisch bekämpften und durch eigene, autoritäre, sozialistische Befreiungstheorien zu ersetzen trachteten: unter Kommunisten, Faschisten und Nationalsozialisten, die Mehrparteiensysteme durch die Herrschaft einer Partei ersetzten und den Staat praktisch mit dieser identifizierten. Das war weniger klar in Italien, wo Mussolini Carl Schmitt sagte, Hegel sei dort geachteter als in seinem Heimatland, in dem die offizielle Reihenfolge "Partei, Staat, Wehrmacht" der Partei den Vorrang vor dem Staate gab. Er ließ ja auch das Symbol des italienischen Staates, die Monarchie des Hauses Savoyen, unter der das Land geeint wurde, unangetastet. In Rußland war es anders. Dort wurde die Zarenfamilie ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht liquidiert und der Generalsekretär der Kommunistischen Partei des Landes wichtigster Mann. Zu einem solchen wurde auch in Deutschland der Führer der Nationalsozialistischen Partei, der an eine Restauration der Hohenzollern nicht dachte. Während in den sogenannten liberalen Demokratien die dem Staate eigene Moral aufgrund des Mehrparteiensystems und des größeren Pluralismus in der Gesellschaft dem moralischen Empfinden einzelner nie ganz entrückt und daher von ihm gehemmt wurde, entfielen solche checks and balances unter den neuen autoritären Regierungen im wesentlichen. Hier wurde die Politik der einen und einzigen Partei kaum durch pluralistische Gegebenheiten gehegt, ob sie nun offiziell von oben herab dekretiert oder von unten herauf diskutiert wurde. Dennoch ließ man auch in der Sowjetunion und im Dritten Reich 40

den Staatsgedanken nicht ganz fallen. Stalins Auseinandersetzung mit Trotzki, der Sieg seiner Idee des Kommunismus in nur einem Lande sowie Hitlers dauernde Lippenbekenntnisse zu Deutschland zeigen das. Die realpolitische Schule wurde offenbar von Bismarcks Gedanken der Politik als der Kunst des Möglichen beeinflußt. Das zeigt die Ansicht von Scholz, eine Politik mit reellen Grundlagen und Zielen sei grundsätzlich eine sittliche, eine mit unreellen Grundlagen und phantastischen Zielen grundsätzlich unsittlich. Es gibt also Ausnahmen. Das ist bei Realpolitikern nicht anders zu erwarten. Politiker passen sich an, Realpolitiker schon lange. Die Politik, insbesondere die Realpolitik, ist Anpass~ngspolitik. Sie schwelgt im Relativen und in Relativitäten, ist recht eigentlich Relativitätspolitik. Der Beginn des Wortes "Realpolitik" ist im Grunde ähnlich überflüssig wie in "Volksdemokratie", denn Realpolitik bedeutet an sich nichts anderes als Politik schlechthin, weil ja Realpolitiker nichts anderes wollen als Politiker, nämlich anderen gegenüber etwas erreichen. Er macht allerdings das Offenbare der Politik klar, ihren immerwährenden Realismus im Sinne gegenwärtigen Handelns, auch wenn es, oft unter falscher Einschätzung der Realitäten, sich ins Phantastische versteigt. Die Politiker, denen Weber den Beruf zur Politik zuerkannte, standen meist noch im Banne liberaler oder jedenfalls mehr oder weniger liberalisierter Staaten, die sich von dem Leviathan eines Hobbes beträchtlich unterschieden, gewiß in westlichen Demokratien, auch wohl im zaristischen Rußland der letzten Jahre. Das wurde nach dem Ersten Weltkrieg, an dessen Ende Hitler in Pasewalk beschloß, Politiker zu werden, in vieler Hinsicht anders. Im 19. Jahrhundert vorhe'rrschendes liberales Gedankengut 41

wurde dort, wo man zur Einparteidiktatur überging, abgestreift. Das Maß für die ursprüngliche und sinnvolle Idee der Partei, die ja, vom lateinischen pars abgeleitet, traditionell mehrere gleichberechtigte Teile oder Parteien, also ein Mehrparteiensystem implizierte, ging verloren. Verloren ging auch mehr oder weniger das Maß in der Politik, das Maßhalten in ihr, das Augenmaß für kluge Politik, das den von den Nationalliberalen unterstützten konservativen Realpolitiker Bismarck ausgezeichnet hatte. Das von Locke vorgeschlagene System, nach dem die Regierenden eine Politik zu verfolgen hatten, die das Leben, die Freiheit und das Eigentum der Regierten schützte, wurde in das Gegenteil verkehrt. Regierende forderten von den Regierten deren Eigentum, Freiheit und sogar deren Leben. Das Leidenmüssen der Machtlosen infolge des oft von politischem Messianismus begleiteten Leitenwollens der Mächtigen erreichte Ausmaße, die gute Bürger in Ohnmacht fallen ließen, auch wenn sie dem Fallbeil, dem Genickschuß entkamen. Ich will mir Einzelheiten ersparen. Ihre Aufzählung könnte ohnehin nicht erschöpfend sein. 13 13 In Deutschland kam es so, wieWeher arn Ende von PaB es voraussagte. Es gab eine Reaktion gegen die Weimarer Republik. Er führte aus: "Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. Es ist ja durchaus richtig, und alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, daß man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre. Aber der, der das tun kann, muß ein Führer und nicht nur das, sondern auch- in einem sehr schlichten Wortsinn- ein Held sein. Und auch die, welche beides nicht sind, müssen sich wappnen mit jener Festigkeit des Herzens, die auch dem Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist, jetzt schon, sonst werden sie nicht imstande sein, auch nur durchzusetzen, was heute möglich ist. Nur wer sicher ist, daß er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gernein ist für das, was er ihr bieten will, daß er all dem gegenüber: 'dennoch!' zu sagen vermag, nur der hat den 'Beruf' zur Politik." Die Deutschen bekamen einen Führer, der Berufspolitiker war und Charisma hatte. Unter die ersten Briefmarken mit seinem Kopf ließ er die Worte drucken, "Wer ein Volk retten will, kann nur heroisch denken". Er sah sich offenbar als Held und viele, die mit "Heil Hitler" grüßten, betonten sein schlichtes Wesen.

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Auch dort, wo Mehrparteiensysteme weiterexistierten, stand es um das Lockesche Prinzip der Regierungspolitik nicht zum Besten. Weher betrachtete die Revolution von 1918 als Karneval, als Rausch (Paß, 51, 66). Offenbar stand er dieser Büchse der Pandora skeptisch gegenüber. Hayeks Buch vom Weg in die Knechtschaft kritisiert soziale, das Privateigentum und die freie Wirtschaft einschränkende Regierungsmaßnahmen unter der Weimarer Verfassung, die, im Gegensatz zu früheren deutschen Verfassungen, nach denen das Eigentum unverletztlieh war, in Art. 153 lediglich feststellte, es werde von derVerfassunggarantiert und außerdem vorschrieb: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine und Beste." Damit wurde es in das Ermessen des Gesetzgebers gestellt, das Privateigentum nach Gutdünken und jeweiliger Laune, auch wenn diese von den Belasteten als gemein empfunden wurde, einzuschränken, denn er hatte das Recht, die Verfassung zu ändern. Hayek schrieb sein Buch, das zuerst 1944 in Chicago veröffentlicht wurde und in Amerika seine ersten Erfolge erzielte, auch als politische Polemik gegen die Sozialpolitik Franklin D. Roosevelts, den Schmitt als Machthaber neben Stalin nennt und über dessen Macht auch ein hervorragender amerikanischer Beobachter keinen Zweifel läßt, wenn er ihn als "zweiten Roosevelt" (nach Präsident Theodore Roosevelt), also sozusagen als Roosevelt II. mit den ihres absoluten Königtums wegen angegriffenen Stuarts vergleicht. Nicht zu Unrecht, denn er hatte sich ja nach seiner Landrutschwiederwahl 1936 angemaßt, als Sprecher der amerikanischen volonte generale auf die Rechtsprechung Druck auszuüben, dem sich die Richter schließlich beugten. 14 Ich will 14 "Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber", 8, dem Vizepräsidenten der American Liberty League, Raoul E. Desvernine fol-

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mir Einzelheiten auch bezüglich des Leidenmüssens der Regierten infolge des Leitenwollens der Regierenden in den sogenannten liberalen Demokratien ersparen. Auch ihre Aufzählung könnte nicht erschöpfend sein. Bedenkt man nun, daß Stalin im Anschluß an Marx, Engels und Lenin seine Diktatur als etwas erachtete, das das Proletariat befreite, daß Hitler sein Programm unter der Devise "Für Freiheit und Brot" anpries, daß Oliver Wendeli Holmes 1925 in seinem Dissens im Falle Gitlow v. New Y ork seinen Landsleuten die verfassungsmäßige Freiheit zugestand, eine kommunistische Diktatur zu errichten, daß Roosevelts New Deal sich Woodrow Wilsons Sozialprogramm des New Freedom anschloß, so zeigte sich all das unter der Ägis des reinen Liberalismus. Der aber ermöglicht subjektiv konzipierte Freiheitsdränge mit ihren verschiedensten Interpretationen der Freiheit sowie zahllose vorgebrachte und vorgemachte Liberalismen als Freipässe für alle möglichen Emanzipationen und Liberationen, so sehr diese auch von Andersdenkenden als unterdrückend empfunden werden mochten. Sie konnten im Dunkel und Halbdunkel, im Licht und Zwielicht mit oft fragwürdigen Methoden gemäß dem Prinzip, "der Zweck heiligt die Mittel" durch die Politik Regierender Regierten aufgebunden und aufgezwungen werden. So wurde aus der Freiheit und dem Freiheitsdrang der Mächtigen die Unfreiheit der Ohnmächtigen, ob sie nun die gend, der in seinem Buch "Democratic Despotism", New York 1936, Roosevelt mit Stalin verglich. Edward S. Corwin, "The Constitution and What it Means Today", 8. Edition, Princeton 1946, 80-81: "For the second Roosevelt's conception of his powers one turns . . . to . .. the Stuart theory, which is summed up by John Locke in his second Treatise ofCivil Government in his description of 'Prerogative' as 'the power to act according to discretion for the public good, without the prescription of the law and sometimes even against it'."

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Mehrheit oder eine Minderheit darstellten. Diese Wahrheit rächte sich im Freiheitsdrang der von der Regierungspolitik ausgeschlossenen Regierten, die ihren eigenen Beruf zur Politik erkannten und zu ihrer Befreiung ihre Gegenpolitik verfolgten. Aufbegehren von Ohnmächtigen, Macht- und Rechtlosen gegen die Mächtigen, Macht- und Rechthabenden hat es seit langem gegeben. Wir wissen von Sklavenaufständen, vom Bauernaufstand zur Zeit Luthers, von den Aufständen der schlesischen Weber, die Gerhart Hauptmann beschrieb, und von vielem mehr. Wir wissen von Kabalen und offenen Versuchen, an die Macht zu kommen. Die Versuchungen der Macht sind groß und geeignet, nicht nur die Machthaber zu korrumpieren. Die Bergpredigt macht so manchem Benachteiligten Hoffnung. Der frühere Theologiestudent Hegel und sein Interpret Marx, der von der Religion nichts wissen wollte, sahen die Geschichte als einen Prozeß zum Erreichen größerer Freiheit. Das alles läuft darauf hinaus, daß sich unterdrückt Wähnende zunehmend befreien wollten und emanzipiert haben. Immer mehr erwachte bei Regierten das politische Wissen und Gewissen wie auch die politische Gewissenlosigkeit. Immer mehr wurden sie ihrer politischen Macht gewahr, die auch sie korrumpierte, wurden sie Politiker, die die Macht der Regierenden brechen oder einschränken wollten, selbst Macht suchten nach dem politischen Prinzip, der Zweck heiligt die Mittel. In ihrem Machthunger fragten sie ähnlich wenig, ob sich ihr Treiben eher gegen legitime und legale Autorität als gegen illegitime und illegale, usurpierte und willkürliche Macht richtete, wie sich Regierende fragten, ob sie Menschenrechte beinträchtigten. 45

Dennoch taten sich Regierte lange schwer, etwas zur Besserung ihrer mißlichen Lage zu tun. Langsam nur fanden sie zur Politik, denn lange akzeptierten sie die Gleichung potestas = auctoritas und sahen Regierungen als etwas von Gott Gegebenes oder Natürliches an. Selbst dort, wo man, wie in England, das von Menschen gewohnheitsmäßig entwickelte und sanktionierte Recht im Sinne von Bractons Satz non sub homine sed sub Deo et lege als unter dem Wohlwollen Gottes stehend sah, änderte sich an dem Grundsatz des Hinnehmens der bestehenden Regierungsgewalt wenig. Schriften gegen Usurpatoren neigten zum passiven Widerstand eher als zum aktiven. Zum Gros der Machtlosen drangen sie meist ohnehin nicht durch. Als aber die Autorität der Regierung auf einen zwischen Herrschern und Beherrschten geschlossenen Vertrag zurückgeführt wurde und der einfache Gedanke pacta sunt servanda mit dem angeblich von Gott und der Natur gegebenen Herrscherrecht zu konkurrieren begann, änderte sich manches. Das zeigte sich in England schon im 13. Jahrhundert, als die Barone in Runnymede Königjohann unter Hinweis auf seine feudalen Verpflichtungen die Magna Charta abzwangen und fünfzig Jahre später das Parlament gegründet wurde. Jakob I. machte mit seinem 1598 geschriebenen "The True Law of Free Monarchies" noch einen Versuch, den Gedanken des göttlichen Rechts der Könige glaubhaft zu machen, was ihm aber ebensowenig gelang, wie Karl I. 1649 kurz vor seiner Hinrichtung. Edward Coke rief die Erinnerung an die Magna Charta wach. Die Petition of Right von 1628 verlangte, niemand dürfe ohne eine auf allgemeiner Einwilligung beruhende Parlamentsakte belastete werden. Während der Englischen Revolution kam es zu den Revolutionen eigenen 46

Unruhen. Desintegrationserscheinungen zeigten sich, die weit über das hinausgingen, was schon Richard Hooker infolge kirchlicher Sektiererei im vorangehenden Jahrhundert beunruhigt hatte. Die Aufspaltung auf religiösem Gebiet wurde durch die auf staatlichem ergänzt, so daß man um das Heil und die Sicherheit Englands und seiner Bürger fürchten mußte. Das veranlaßte Thomas Hobbes, 1651 sein bekanntes Werk über den Leviathan zu veröffentlichen. Es ruft zur Unterwerfung unter einen starken Monarchen auf. Es betont dessen Stärke, wenn es dessen auctoritas nicht mehr von der potestas unterscheidet, in ersterer eine summa potestas sieht und dem Herrscher eine ähnliche Souveränität zuerkennt wie etwas früher Bodin dem französischen König als alleinigem Herrscher dieses Landes. Und doch gründet Hobbes die Macht und Autorität des Monarchen auf einen Vertrag derer, die sich ihm unterwarfen, um dem bellum omnium contra omnes des Naturzustandes zu entgehen. Und obgleich der Herrscher im 37. Kapitel als "lieutenant of God" bezeichnet wird, enthält dieses Kapitel einen unausrottbaren individualistischen Vorbehalt. Es unterscheidet zwischen öffentlicher und privater Vernunft und überläßt es den einzelnen Untertanenkraft allgemeiner Gedankenfreiheit, sich ihr eigenes Urteil darüber zu bilden, was sie glauben wollen oder nicht. So wurde wohl in dem vielleicht bekanntesten Buch zur Verteidigung einer absoluten Herrschaft ein Samen gelegt zum wachsenden Behemoth, der dem Leviathan und dessen Ordnungsharmonie durch einzelne und deren Gruppierungen und deren Politik schließlich den Garaus machen wird. Hier ist eine Diskordanz in der sonst geschlossenen Einheit dieses Werkes, vergleichbar etwa mit Wagners Diskord im Tristan, in dem viele den Ursprung individualistischer Befrei-

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ungen von der Harmonie sahen, die Mozart als das Eigentliche der Musik bezeichnete. Und wie die Musik mit ihrer Modernisierung an Dissonanzen immer reicher wurde, so wurde auch der moderner werdende Staat mehr und mehr von jenen desintegrierenden Gewalten bedroht, die Hobbes fürchtete. Das Potential des individualistischen Vorbehalts im Leviathan wurde schnell von Spinoza erkannt, im Sinne der modernen liberalen Bewegung genutzt und der Leviathan entsprechend ausgeschlachtet. Das zeigen schon die Untertitel der Arbeiten beider Autoren an. Auf dem Titelblatt des einen Buches steht: "Leviathan or the Matter, Form and Power of a Common W ealth Ecclesiastical and Civil". Spinoza spricht im Untertitel seines 1670 erschienenen "Tractatus theologico-politicus" von der libertas philosophandi. Bei Hobbes steht also die Macht im Vordergrund, bei Spinoza eine Art der Freiheit. Zwar gibt Spinoza zu, daß alles, was sich auf die Religion bezieht, seine Rechtskraft durch staatlichen Befehl bezieht, aber er betont, daß es sich dabei nur um den nach außen zutage tretenden Kult, keineswegs aber tim die Frömmigkeit selbst und die innere Verehrung Gottes handelt. Die gehören zur Freiheitssphäre des Individuums. Diese ausdrückliche Feststellung in Kapitel 19 wird noch im folgenden Kapitel zum Prinzip der Freiheit des Denkens, Gefühls und der Meinungsäußerung erweitert. Obgleich auch hier der Vorbehalt des öffentlichen Friedens und der souveränen Rechte des Herrschers gemacht wird, so besteht doch wenig Zweifel, daß das, was bei Hobbes nur im Keime da ist, von Spinoza zur Entfaltung gebracht wird. Bei Hobbes erscheint die private Gedankenfreiheit als Vorbehalt staatlicher Allmacht, bei Spinoza erscheint diese Macht als Vorbehalt privater Freiheiten. Hobbes hat dieses Weiter-

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führen seiner liberalen Gedanken durch Spinoza wohl bemerkt, wenn er Aubrey gegenüber andeutete, er habe nicht den Mut gehabt, so kühn wie Spinoza zu schreiben. 15 Die Gedanken Spinozas fanden in Deutschland ihre Fortführung durch Christian Thomasius. Dessen Begeisterung für die Freiheit erhellt schon ein Brief, den er 1692 an den Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg schrieb, in dem diese als Voraussetzung menschlicher Erkenntnis gepriesen wird. Letztere, so heißt es, habe keinen anderen Herrn als Gott und daher sei es unerträglich, wenn ihr durch staatliche Stellen Vorschriften gemacht werden. In seinen 1742 veröffentlichten kurzen Lehrsätzen vom Recht eines christlichen Fürsten in Religionssachen heißt es dann weiter, niemand sollte von seinem Wissen anders sprechen, als er denkt, daß ein christlicher Fürst seine Untertanen nicht zu seiner eigenen Religion zwingen könne, nicht einen einzigen und schon gar nicht alle. Auch bei Thomasius also, bei allen Zugeständnissen an die äußere Macht des Herrschers, eine Weiterführung des Gedankens der Freiheit, insbesondere im Hinblick auf die akademische. Später gab es weitere Ausdehnungen der Freiheit, denn der Freiheitsdrang ist unersättlich. Christian Wolff erweiterte die natürlichen Rechte des Individuums in einem bisher in der deutschen Theorie nie dagewesenen Maße. Allerdings gab er dem Staat zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung entsprechend weitreichende Befugnisse, so daß man zu der Formel "je mehr innere Freiheit, umso mehr äußere Macht der Regierung" gelangt. Das ließ einen J. J. Winckelmann, Georg Hamann und J. G. Her15

Vgl. Schmitt, "Leviathan", 84 ff.

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der sich in nichtpolitische Sphären wie die Ästhetik, den religiösen Pietismus und die Volkskulturen zurückziehen. Andere wiederum versuchten ab Mitte des 18. Jahrhunderts, den Herrscher einer Verfassung zu unterwerfen, sei es, wie Friedrich Carl von Moser, mit Hinweis auf die Naturrechtsschule, die den Schutz der Rechte der einzelnen vor Übergriffen der Regierung propagierte, J. H. G. von J usti, der an ein Mitbestimmungsrecht des Volkes bei der Regierung dachte, oder August Ludwig von Schloezer, der in der britischen Verfassung ein Vorbild sah und für eine verfassungsmäßige Monarchie eintrat. Wenn es ein Vorfühlen zu mehr Freiheit für die Bürger sogar auf dem europäischen Kontinent gab, wo die Tradition der theistischen Monarchie vorherrschte und daher die Machtideen des Leviathan auf fruchtbaren Boden fielen, so gab es dessen noch mehr in England, wo der Gedanke des göttlichen Rechts der Könige eine Ausnahmeerscheinung war. Dort war Hobbes niemals so populär wie John Locke. Seine auf den Leviathan ausgerichtete politische Philosophie stand stets im Schatten seines jüngeren Zeitgenossen, des Verteidigers der Glorreichen Revolution, die die Revolutionswirren des Jahrhunderts zugunsten der pluralistischen liberalen Herrschaft des das Volk vertretenden Parlaments beendete und klar machte, daß der Behemoth den Leviathan besiegt hatte. Hobbes war von Bodin beeinflußt, Locke von Coke und Harrington. Bodin ließ bei aller Betonung der Souveränität des Königs keinen Zweifel darüber, daß auch der Souverän durch die herkömmlichen Gesetze Frankreichs gebunden war. Hobbes ging über ihn hinaus, indem er die auctoritas seines Monarchen über die veritas des englischen Gewohnheitsrechts stellte. Locke blieb auf der von Coke und Harrington verfolgten Linie. Er erkannte das common 50

law an, dessen erste große Behauptung dem König gegenüber 1215 zur Magna Charta führte, das Coke als Vertreter des Parlaments in seiner Auseinandersetzung mit der absoluten Monarchie wiederbelebte, das Harrington gleich am Anfang seines 1656 erschienenen Buches "The CommonWealth of Oceana" bestätigte: "Government (to define it [de jure] or according to ancient Prudence) is an Art whereby a Civil Society of men is instituted and preserved upon the foundation of common right or interest, or (to follow Aristotle and Livy) it is the Empire of Lawes and not of Men." Diese Stelle, die an Bismarcks Definition der Politik als einer Kunst und an die hier vertretene als eines Mittels, etwas zu erreichen, erinnert, zeigt, daß sich im englischen Gedankengut seit Bracton wenig veränderte. Locke führte diese Tradition weiter. Seine Zweite Abhandlung über das Regierungswesen wurde als Rechtfertigung der Glorreichen Revolution angesehen, der civil society mit ihrem civil government. Diese Revolution bestätigte den Sieg des Parlaments und des Gewohnheitsrechts über das absolute Königtum und des von ihm gesetzten Rechts. Sie erledigte den Monarchen als Machthaber und schuf die Macht des Parlaments als der Vertretung des Volkes. Locke, der die Legislative als wichtigste der Regierungsgewalten ansah, machte klar, daß auch diese an das traditionelle Recht gebunden war - zum Schutze des Individuums.

Hobbes hatte dem Liberalismus eine Hintertür offengelassen. Locke öffnete ihm weit ein großes Portal. Die Hintertür suchte man auf dem Kontinent über Generationen hinaus immer weiter aufzuhalten, dennoch aber behauptete sich im Grunde der Leviathan des Hobbes doch für eine ganze Zeit noch recht hartnäckig. Es dauerte seine Weile, bis er- nach Schmitt - allmählich abgeschlachtet und von Liberalen ausgeweidet wurde. Noch Kant, der 51

große Befreier, tat sich infolge der Zensur schwer mit einer allgemeinen Kritik der absoluten Monarchie. Wenn er in seinem Traktat "Was heißt: Sich im Denken orientieren?" (1786) auch schrieb, die Freiheit zu denken könne nicht wirklich existieren, solange der Ausdruck des Gedachten von der Regierung eingeschränkt wird, wenn er auch später die "öffentliche Denkfreiheit", die Freiheit der Rede und der Feder sowie die akademische Freiheit betonte, war er doch der Ansicht, daß es Offizieren zwar erlaubt sein sollte, gelehrte Kritiken zu veröffentlichen, nicht aber, von oben herab kommende Befehle Mannschaften gegenüber zu kritisieren. Zwar sollte es Finanzbeamten gestattet sein, als Wissenschaftler die staatliche Finanzpolitik anzugreifen, nicht jedoch, dies gegenüber Steuerpflichtigen zu tun. Geistliche könnten ihre Ansichten zu Kirche und Religion veröffentlichen, sollten dies aber nicht von der Kanzel herab tun.16 In England dagegen wurde eine allgemeine Kritik am Monarchen zugelassen. Sie hielt sich in Maßen, da er ohnehin nicht mehr viel zu sagen hatte. Aber auch eine allgemeine Kritik des regierenden Parlaments gab es. Einer solchen öffnete Locke mit seiner Zweiten Abhandlung die Pforten, und seine zahlreichen Bekenntnisse zur Freiheit des Individuums brachten ihm den Ruhm eines Vaters des Liberalismus ein. Er reduzierte die Regierung zum Geschöpf des souveränen Volkes, nahm ihr damit den Nimbus des göttlichen oder natürlichen Übergeordnetseins und ordnete sie dem Volke unter. Sie ist nichts als ein trust mit der Auflage, Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger zu schützen. Locke sprach sogar vom Recht des Volkes, 16 "Der Streit der Fakultäten" (1798), in Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), "Kant's Werke", Berlin 1907-12, VII, 28 f.

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sich bei Nichterfüllung dieser Auflage, bei Unterdrückungen seiner Herrscher zu entledigen. 17 Wie in der Englischen Revolution, geschah dies in der Amerikanischen. Und wie Locke als Verteidiger ersterer gilt, gilt er als geistiger Ahne letzterer. Der Einfluß seiner Zweiten Abhandlung auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ist derart deutlich, daß man annehmen kann, Jefferson habe das Wort "estate" bzw. "property", das Locke oft nach den Worten "life, liberty" brachte, wohl deshalb durch "pursuit of happiness" ersetzt, um sein Plagiat nicht allzu offensichtlich zu machen. Nun kann man im Verfolg des Glücks (der Glückseligkeit in der Sprache Kants) ohne weiteres das Streben nach Erwerb und Schutz des Eigentums sehen. Andererseits ist dieser Begriff umfassender als der des Privateigentums. Er schließt so etwa alles in sich, was man in subjektiverWeise als sein Glück betrachten kann. "Verfolg des Glücks" ist eine menschenrechtliche GeneralklauseL Verbunden mit dem ihr vorangehenden Wort "Freiheit", öffnet sie den Weg zu allen möglichen Befreiungen, wenn diese auch von manchen ethisch, moralisch oder rechtlich als unmöglich empfunden werden. Diese enormen Möglichkeiten, die sich hier in der Neuen Welt bei der Geburt der neuen Nation, die bald als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bekannt wurde und auf diesen Titel stolz war, aufgezeigten, wuchsen noch dadurch, daß die Unabhängigkeitserklärung gleich am Anfang nicht nur von einem Recht auf Revolution spricht, wie Locke es getan hatte, sondern von einer Pflicht hierzu ("it is their right, it is their 17 Den Gedanken des trust erwähnt Locke in den Paragraphen 22, 111, 142,149,155,156,164, 171,210,221,222,226,227,231,240,242.Dasletzte Kapitel, "Of the Dissolution of Government", folgt den Kapiteln "Of Usurpation" und "Of Tyranny" .

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duty, to throw off such Government and to provide new Guards for their future security"). Außerdem stellt sie fest, die Menschen seien von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet. Da kommt der Anfang der Bibel in den Sinn, wo gleich zweimal behauptet wird, Gott habe den Menschen zu seinem Ebenbilde erschaffen, und zwar den Menschen an sich, den Menschen als solchen, nicht den oder die herrschenden Menschen: "Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn" (1 Mose 1, 27). Mit der anderen hervorstechenden Behauptung der Unabhängigkeitserklärung, "alle Menschen sind gleich geschaffen", summiert sich hier einiges, das einzelnen Auftrieb verleiht, sich von Regierungen zu emanzipieren, ja, sich von Rücksichten auf ihre Mitmenschen zu befreien sowie von Hemmungen, die sie über sich selbst mit sich herumtragen, um egoistisch ganz ihrem Ich zu leben. Als Wesen, die nicht nur unter sich gleich sind, sondern sich Gott gleich fühlen, können sie sich schon einige Freiheiten zumuten und erlauben. Nach Shays' Rebellion in Massachusetts, eines Aufstandes, der die Einberufung der Verfassunggebenden V ersammlung in Philadelphia mitveranlaßte, versicherte Jefferson am 24. Dezember 1786 Ezra Stiles, Unruhen in Amerika stellten weiter keine Gefahr dar. Sie bewiesen, daß das Volk genügend Freiheit hat und ihm sei nicht weniger Freiheit zu wünschen. Er fügte hinzu: "Wenn die Glückseligkeit (happiness) der Masse des Volkes dann und wann auf Kosten eines kleinen Sturmes oder sogar mit ein wenig Blut gesichert werden kann, wäre dies ein guter Kauf. Malo libertatum periculosam quam quietam servitutem." Als Botschafter in Paris schrieb er am 13. November 1787 an W. S. Smith, der Baum der Freiheit müsse von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen getränkt 54

werden, das sei sein natürliches Düngemittel. Madame d'Enville wünschte er am 2. April1790, der Himmel möge es wollen, daß das glorreiche Beispiel der Französischen Revolution lediglich der Beginn der Geschichte europäischer Freiheit ist und sie noch viele Jahre in Glückseligkeit (happiness) leben möge, um zu sehen, daß der Himmel den Menschen nicht im Zorne erschuf. Das wurde angesichts des jakobinischen Terrors sicher von vielen bezweifelt. Aber noch am 8. Mai 1793 ließ Jefferson J. P. Brissot de W arville wissen, er sei den Prinzipien der Französischen Revolution "ewig verbunden". Das war offenbar auch Kant, der Revolutionen an sich stets verurteilte, im Jahr vor der Französischen Revolution seiner befreienden Ersten Kritik die von kategorischen Imperativen angefüllte Zweite folgen ließ, wohl weil er sich des Potentials der Freiheit zum Bösen und Guten gewahr war. Niemals verurteilte er jedoch die Französische Revolution, die er im Streit der Fakultäten als ein Ereignis bezeichnete, das man nicht mehr vergißt. Das kann man auch von der Amerikanischen Revolution sagen. Beide Revolutionen sind Steigbügel zum Galopp zu immer größeren Freiheitsverlangen. Man hat zwischen amerikanischen und französischen Revolutionsidealen und -ereignissen unterschieden, wie man auch zwischen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und V erfassung unterschieden hat. Aber Freiheitsbegehren unter der Ägis des reinen Liberalismus waren ihnen allen doch gemein. Es erscheint ganz natürlich, daß ein großzügiger Liberaler wie der Historiker Carl L. Becker, der 1935 "Everyone His Own Historian" veröffentlichte und damit entgegen Ranke zu Freiheiten subjektiver Interpretationen geschichtlicher Ereignisse aufrief, nach seinem Buch über die Unabhängigkeitserklärung ( 1922) sein "The Hea55

venly City of the Eighteenth-Century Philosophers" (1932) herausbrachte, in dem er die Ideen zur Zeit der Französischen Revolution und das von ihnen behauptete Göttliche beschreibt mit der Erhebung der Vernunft zum neuen Gott. In der entchristianisierten Kathedrale von Notre Dame in Paris symbolisierte 1793 beim Novemberfest, auch Fest der Vernunft genannt, eine Schauspielerin die Freiheit, ihre Fackel die aufklärende Vernunft. Man sang die Hymne Marie-Joseph Cheniers: Steige herab, o Freiheit, Tochter der Natur; Das Volk, deine unsterbliche Kraft wiedergewinnend, Auf den stattlichen Ruinen alten Betrugs Errichtet von neuem deinen Altar! Komm, Eroberer von Königen, Europas Beispiel; Komm und vollende deinen Triumph über falsche Götter! Bewohne du, Heilige Freiheit, diesen Tempel Und sei die Göttin unserer Nation!

Becker war der Ansicht, Jefferson habe Locke kopiert, dieser Hooker zitiert und die himmliche Stadt der französischen philosophes sei im Grunde eine Wiederbelebung der Civitas Dei des hl. Augustinus, eine Ersetzung des abgewirtschafteten Christentums durch eine neue Religion der Humanität. Diese war eine religiösen Eifers zur Ausdehnung menschlicher Freiheiten. Sie trug dazu bei, daß das 19. Jahrhundert als das liberale bekannt wurde. Ausdehnungen der Freiheit kamen zum gutenTeil durch fortwährend neu verabschiedete Gesetze zustande in dem neuen Zeitalter der Gesetzgebung, das mit den Amerikanischen und Französischen Revolutionen begann. In Amerika führte dieser Beginn zu einem Wust von Gesetzen, über den sich James Madison im 62. Essay des "Federalist" beklagte. In Frankreich kam es während der Revolution zu Verfassungen, Gesetzen und Regulierungen, die in der napoleoni56

sehen Gesetzgebung gipfelten. In Preußen schritt man alsbald zur Befreiungsgesetzgebung. Das sind nur einige Beispiele vom Anfang dessen, was als Gesetzgebungsmanie gesehen wurde, die Karl Friedrich von Savigny veranlaßte, vor übereifrigen Gesetzesverabschiedungen zu warnen. Gegen bestehende Gesetze wurde im Namen der Freiheit protestiert. Neue Gesetze sollten Abhilfe schaffen. Aber die wurden dann auch bald wieder als zu restriktiv angesehen und wiederum durch andere ersetzt. Immer weiter ging es auf zunehmend liberale Weise, so daß man an die Worte Goethes denkt: Freiheit erwacht in jeder Brust, Wir protestieren all mit Lust.

Diese Gesetzesschwemme machte bald klar, daß verschiedene Menschen und sie vertretende Legislativen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern unter Freiheiten verschiedene Dinge verstanden. So kam es z. B. in Deutschland nach der Formalisierung des Rechtsstaatsbegriffs durch F. G. Stahl zu den verschiedensten Begriffen des Rechtsstaates mit oft divergierenden Auffassungen der Freiheit und in den Vereinigten Staaten zu liberalen Variationen, die ihren Niederschlag in Gesetzen fanden, die einen die anderen ablösend. Dadurch wurden die einzelnen Aspekte der Freiheit immer zahlreicher. 18 Oft gab man sich mit legalen Einwirkungsmöglichkeiten auf die Gesetzgebung nicht zufrieden und versuchte auf illegale Weise, Freiheitsbegehren durchzusetzen, von Shays' Rebellion bis zu den Unruhen 1848 und später. 18 Siehe mein "Rechtsstaat und Staatsrecht", Kar! Dietrich Bracher, Christopher Dawson, Willi Geiger, Rudolf Smend (Hrsg.), in Kollaboration mit Hans-Justus Rinck, "Die moderne Demokratie und ihr Recht: Modern Constitutionalism and Democracy", Festschrift für Gerhard Leibholz, Tübingen 1966; "Amerikanische Demokratie - Wesen des praktischen Liberalismus", München 1988.

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Trotz liberaler Regungen war die staatliche Ordnung im 19. Jahrhundert im Grunde nicht gefährdet, zumal diese Regungen · sich meist in gesetzlichen Bahnen bewegten. Das lag zum guten Teil daran, daß es vor allem die Französische Revolution war, welche die Dinge auf dem europäischen Kontinent beeinflußte. Die Amerikanische Revolution war damals nicht sonderlich zu fühlen. DieVereinigten Staaten waren noch unbedeutend und weit entfernt, am Rande des Weltgeschehens im Zeitalter des Imperialismus, in einem Jahrhundert, das als das englische bezeichnet wurde. Die Französische Revolution und ihr Gedankengut waren aber vor allen Dingen von Rousseau beeinflußt, dessen Betonung der volonte generale die nach mehr Freiheit Drängenden im Interesse ihrer Mitmenschen im Zaume hielt. Es gab also, vom Individuum her gesehen, eine Kombination des Individualismus der Englischen und Französischen Revolutionen. In England war nach der Revolution der Individualismus königs- und staatstreu geblieben. Und obgleich die Französische Revolution mit ihrem Jakobinerturn weiter ging als die der Whigs, so weit, daß sie den hervorstechenden Einschnitt der französischen Geschichte darstellt, die man seitdem in das Ancien regimeund das, was nach ihm kommt, einteilt, während es einen ähnlichen Einschnitt in England nicht gibt, so blieb in ihr doch trotz radikaler Änderungen der Gedanke der souveränen unteilbaren Nation erhalten. Wie es noch in der letzten Zeile der Hymne von Chenier heißt, sollte die Freiheit die Göttin der Nation sein. An der Nation war ebensowenig zu rütteln wie an der Freiheit. In Deutschland hielt Fichte Reden an die deutsche Nation. Sein Zeitgenosse Hegel betonte die Transzendenz des Staates, der ihm die Wirklichkeit der sittlichen Idee war, in der sich die Menschen in Freiheit entwickeln konnten. 58

Mazzini verhieß für das geeinte Italien die Freiheit unter dem Dritten Rom. Auch die deutsche Einigungsbewegung sah das zu schaffende Zweite Reich als einen Hort der Freiheit. Gegner des Staates wie Bakunin, Marx und Nietzsche kamen nicht weiter zum Zuge. Im liberalen Jahrhundert waren die meisten mit der Freiheit innerhalb der staatlichen Ordnung zufrieden. Zweifellos wurden dem Leviathan Staat von Liberalen Wunden geschlagen. Aber im Jahrhundert des Nationalismus, des Imperialismus, der Gründung neuer Nationen wie Griechenland, Belgien, Italien und Deutschland, der Ausbreitungen von Staaten durch den Kolonialismus, der Hegungen der Piraterei, des Sklavenhandels und des Krieges durch internationale Verträge, war an ein schnelles Hinscheiden der Jahrhunderte alten Institution Staat ähnlich wenig zu denken wie an ein schnelles Zustandekommen der Herrschaft des Proletariats. Das Scheitern der Pariser Kommune und der Zweiten Internationale zeigte, daß die allgemeine Loyalität zu herkömmlichen Staaten und ihren Regierungen doch noch größer war als die zu einer Klasse. Dennoch zeigten staatszersetzende Kräfte immer mehr ihre Bedeutung. Zwar war es nach der Jahrhundertwende in Rußland noch möglich, nach Zerstörung der zaristischen Staatsmaschine eine kommunistische aufzubauen, in Italien einen faschistischen und in Deutschland einen nationalsozialistischen Staat zu errichten, weil sich die betreffenden Parteien für ihre Machinationen der Staatsmaschine bedienten. Das waren aber Ausnahmeerscheinungen, die nichts an der Schmittschen These ändern, daß der traditionelle Staat erledigt ist. 19 In unserem Jahrhun19 Siehe oben, Anm. 12, sowie Carl Schmitt, "Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum", Köln 1950; "Staat als ein

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dert, zu dessen Beginn die Amerikaner durch eine Flottendemonstration sich als Weltmacht anmeldeten, einem Jahrhundert, das man das amerikanische nannte, wurde die antistaatliche Tendenz insbesondere durch zwei Ereignisse gefördert: die Liquidierung des Dreiecks BerlinRom-Tokio und die Amerikanisierung großer Teile des Erdballs. Der Einfluß amerikanischer Revolutionsideale wuchs. Die aber betonten das Individuum eher als die volonte generale. Mit ihnen konnte der Liberalismus beim Wort genommen werden. Denn sie öffneten alle opportunities, die aus dem Wort Liberalismus, das lediglich ein Streben nach mehr Freiheit andeutet, ersichtlich sind. Dieser eigentliche Liberalismus, dieser liberalism proper schert sich nämlich nicht darum, ob bestimmte Aspekte von ihm, bestimmte einzelne Erscheinungsformen, proper sind oder nicht unter ethischen und anderen wertenden Gesichtspunkten, weil es ihm nur auf die Ausdehnung der Freiheit ankommt. Ihm gemäß ist wirklich alles erlaubt, was einzelne, ob sie nun der Mehrheit angehören oder nicht, ganz subjektiv als proper und schicklich ansehen: everything goes. So gab es in den USA, mehr als in anderen Nationen, liberale Varianten und Variationen, von denen sich Liberale in anderen Ländern kaum träumen ließen. In Amerika kann als liberal so etwa alles angepriesen und verteidigt werden, was einzelne innerhalb der regierenden Mehrheit oder auf eigene Faust wollen, von der Despotie der Mehrheit bis hin zur Anarchie. Schon 1777 sagte Benjamin Hichborn in einer Rede in Boston, dem Ort der Boston Tea Party, eines zur Unabhängigkeitserklärung führenden Ereignisses, in unserem Jahrhundert die politische Basis des Kennedyclans, zivile konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff", 1941, in "Verfassungsrechtliche Aufsätze", Berlin 1958.

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Freiheit impliziere nicht "eine Regierung der im Einklang mit Charten, Grundrechtskatalogen oder Verträgen gemachten Gesetze, sondern eine Macht, die allgemein im ganzen Volke ruht, zu jeder Zeit, aus jedem Grund oder ohne Grund außer dem seines Plaisirs, sowohl die Form als auch die Essenz jeder früheren Regierung zu ändern oder abzuschaffen und sie durch eine neue zu ersetzen. " 20 Man kann das nun dahin auslegen, daß es der Ansicht derer entgegensteht, die zum Schutz der Bürger meinten, alle Gesetze müßten Grundrechtskatalogen usw. entsprechen. Diese Stelle kann aber auch bedeuten, daß unter people at large das gesamte Volk, seine Mehrheit oder auch alle einzelnen in ihm verstanden werden, man also absolute Mehrheitsherrschaft oder absoluten Individualismus in diese Worte hineinlesen kann. Anfang des amerikanischen Jahrhunderts war es dann jedenfalls so weit, daß Alpheus Thomas Mason in seiner 1949 erschienenen Anthologie "Free Government in the Making" von liberalen Variationen sprechen konnte. Sie reichten in einer weiten Spanne des Liberalismus von einer weitgehenden Mehrheitsherrschaft bis zum extremen Individualismus. Einmal entsprachen sie der durch Änderungen und Wandlungen den gegebenen Umständen angepaßten Verfassung, später aber standen sie auch im Gegensatz zu dieser, weil die angeblich das "Establishment" verkörperte. Locke, der Vater der Amerikanischen Revolution, behielt Einfluß auch nach dem Unabhängigkeitskrieg, zumal diese Revolution bis auf unsere Tage als eine permanente angesehen wird. Sein Insistieren auf der Mehrheitsherrschaft rechtfertigte von der regierenden Mehrheit erwünschte soziale Programme wie N ew Freedom, N ew Deal, N ew 20 Hezekiah Niles (Hrsg.) "Principles and Acts of the Revolution", Baitimare 1822, 27, 30.

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Frontier im Namen des Liberalismus, die von vielen, auch

im Namen des Liberalismus, als sozialistisch angeprangert wurden, wenn sie auch den unter diesen Programmen verabschiedeten Gesetzen und Maßnahmen gehorchten. Andererseits machten seit dem Zweiten Weltkrieg immer mehr diejenigen von sich reden, die die Gesetze des Establishments ablehnten. Und auch die konnten sich auf Locke berufen als Rechtfertigung ihrer Politik. § 171 der Zweiten Abhandlung lautet nämlich: "Politische Macht ist die Macht, die jeder Mensch, sie im Naturzustand besitzend, aufgegeben und in die Hände der Gesellschaft übertragen hat und innerhalb dieser den Regierenden, die die Gesellschaft über sich gestellt hat im ausdrücklichen oder stillschweigendenVertrauen darauf, daß dieselbe zu ihrem Wohl und zur Bewahrung ihres Eigentums zu brauchen ist." Dieser Paragraph ist vielleicht der individualistischste der ganzen Abhandlung. Gleich zweimal und mit Betonung wird hier von der politischen Macht, der Macht, die jedem Menschen immanent ist, gesprochen. Offenbar ist diese politische Macht als Macht, unter Menschen etwas zu erreichen, für Locke derart wichtig, daß sie für ihn bereits vor dem Eintritt des Menschen in die polis, von der das Wort "politisch" ja eigentlich ursprünglich abgeleitet wurde, da ist. Diese Macht, verbunden mit Lockes Recht auf Revolution und Jeffersons Pflicht zur Revolution im Verfolg des Glücks, kann nun gemäß dem reinen Liberalismus, der jede Freiheit, wie immer der einzelne sie auffassen und verstehen mag, sanktioniert, genutzt und ausgenutzt werden, auch wenn es anderen und der ganzen Gemeinschaft schadet. Und gerade diesem allumfassenden Liberalismus, der als Urgrund aller liberalen Erscheinungen angesehen werden kann, deren Anzahl besonders in 62

der Neuen Welt groß ist, kommt man in den Vereinigten Staaten näher als in anderen Ländern. Das liegt mit daran, daß es dort niemals eine wirkliche Betonung des Begriffs derNationgegeben hat. Wenn man auch oft von We the People sprach, so geben diese Worte den einzelnen doch eine größere Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit als z. B. innerhalb und unter einer volonte generale. In Amerika gibt es eher eine volonte de tous als eine volonte generale. Der lange währende Streit, ob die Vereinigten Staaten denn ein Staatenbund oder ein Bundesstaat sind, verhindert außerdem eine allgemeine Liebe zum Gedanken der Nation, wie sie nicht nur in Frankreich besteht. Selbst als dann der Bürgerkrieg die Frage zugunsten des Bundesstaates entschied, blieb Amerika auch nur ein Bundesstaat, wurde es kein Einheitsstaat oder gar eine zentralisierte Nation. Hinzu kommt, daß die USA ein Einwandererland sind, es dort eine stete Migration von Ort zu Ort, 1ob zu 1ob usw. gibt, daß Immigranten und deren Nachkommen, daß Migranten in der Neuen Welt im Verfolg des Glücks mit vielen neuen Ideen zu immer neuen Freiheiten drängten. In einer solchen Atmosphäre fühlen sich dann im Lande der Freien, der Heimat der Braven, wie es in der amerikanischen Nationalhymne heißt, Regierte frei und brav, Regierenden zu trotzen und von ihnen Zugeständnisse zu verlangen, zumalesdort niemals einen Staat gegeben hat, den man, wie anderwo, fast wie eine Kirche respektierte und dessen Vertreter man entsprechend hofierte. In den Vereinigten Staaten sieht man im Staat hauptsächlich einen Teil des Bundes. Man unterscheidet dort eher zwischen Regierung und Regierten, government and governed. Und da die Regierenden von den Regierten gewählt werden, zirkulieren in dem Lande, dessen Unabhängigkeitserklärung alle Menschen als gleich 63

geschaffen bezeichnet, alle untereinander, und die Politik ist ein Zirkus. In ihm kommen die Regierten schon mit allerhand davon. Ihre Politik, sich auf liberale Weise von allen möglichen Restriktionen zu befreien, fällt ihnen nicht allzu schwer und wird ihnen von den Regierenden nicht allzu schwer gemacht. Denn letztere fühlen sich ja von ersteren abhängig infolge der Wahlen und darin liegt schon eine bedeutende Anerkennung von deren politischer Macht. Besonders die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, was Regierte Regierenden gegenüber alles erreichten in ihrem Verfolg des Glücks. Jeffersons Antrittsrede als Präsident betonte, Meinungsverschiedenheiten, selbst wenn sie die Auflösung der Vereinigten Staaten oder die Zerstörung ihrer republikanischen Staatsform anstreben, sollten erlaubt sein "als Monument der Sicherheit, mit der Meinungsirrtümer geduldet werden können, wo die Vernunft frei ist, sie zu bekämpfen." Diese Worte wurden weidlich ausgenutzt. Regierte griffen die Außenpolitik der Regierenden an, um im Lande der unlimited opportunities opportun für sich Vorteile zu erringen, die Außenpolitik ihres Primats vor der Innenpolitik beraubend. Im Inneren war es nicht anders. Es gab zunehmende Befreiungen von strafrechtlichen Beschränkungen, sei es durch Abschaffung von Gesetzen oder durch eine laxe Handhabung der Gesetze zugunsten von Angeklagten, die unter dem Oberrichter Warren begann. Das alles geschah oft im Namen der civil rights, über deren Zivilität so manche die Nase rümpften, nach dem Grundsatz everything goes. Dieser hatte einen steten Verfall der Moral und wachsende Verantwortungslosigkeit zur Folge. Wenn nämlich das ethische Minimum der Gesetze nicht mehr eingehalten wird, werden der Sittenlosigkeit die Schleusen geöffnet, 64

und das führt dann zu einem weiteren Verfall der Rechtsordnung. Nun ist zuzugeben, daß das V erhalten Regierter oft von dem Regierender angefacht wurde. Treibt die Regierung z. B. Steuern ein zu zweifelhaften Ausgaben oder zur sozialen Unterstützung solcher, über deren Arbeitseifer Zweifel bestehen, dürfte das als Diebstahl angesehen werden und zum offenen Protest oder zur Steuerhinterziehung führen. Der Dieb dürfte sich sagen, wenn die Regierung das Eigentum anderer mißachtet, dann brauche er es auch, oder erst recht nicht, zu achten, denn mit der Position und der ihr inhärenten Ehre wächst die Verpflichtung. Andererseits denken wohl viele, die gegenüber Regierenden etwas erreichen wollen, nicht derart, obwohl man mit Bert Brecht solche Gedankengänge nicht ignorieren sollte. Im egoistischen Verfolg des Glücks handeln sie einfach gemäß J ohn Stuart Mills Bemerkung im letzten Kapitel seines Essays über die Freiheit, die Freiheit bestände darin, zu tun, was man will. Man näherte sich so einfach dem reinen Liberalismus, nach dem man zur Ausdehnung seiner Freiheit tun und lassen kann, was einem einfällt und gefällt. Infolge von Amerikanisierungen kam es auch in anderen Ländern zu ähnlichen Befreiungsversuchen und -erfolgen der Politik der Regierten gegenüber der der Regierenden. In der Bundesrepblik Deutschland gingen sie, zum guten Teil wegen des dort bestehenden Hitlerkomplexes, von dem sich anscheinend selbst junge Generationen nicht zu befreien vermögen, in mancher Beziehung noch weiter als in den Vereinigten Staaten. Man denke nur an die Vermummungen bei Demonstrationen. Angesichts dieser Entwicklung erhebt sich die Frage, ob denn Jeffersons eben zitierten Worte noch anzuwenden 5 Dietzc

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sind zu einer Zeit, in der, zweihundert Jahre nach dem Age of Reason, die Vernunft staatszersetzendes Verhalten immer weniger bekämpft. Auch wird immer offensichtlicher, daß die Nutzung politischer Macht vonseitender Regierten oft kaum noch mit der Staatsräson vereinbar ist, insofern man eine solche heutzutage bei bestehenden T endenzenzum Untergang der Institution des Staates überhaupt noch erwarten kann. Nach Berücksichtigung ihres eigenen Interesses neigen Regierte in ihrer Politik gegen Regierende heute in steigendem Maße zur Loyalität zu staatszersetzenden Kräften in Gruppen und Parteien und Klassen, nicht zu staatserhaltenden. Wie dem auch sei, dürfte kaum Zweifel darüber bestehen, daß Regierte ihre Politik Regierenden gegenüber nicht ohne Erfolg verfolgt haben. Da nun auch, wie weiter oben beschrieben wurde, Regierende mittels der Politik Erfolg hatten gegenüber Regierten bis zu deren Verfolgung hin, erweist sich die Politik als mächtiges Mittel, etwas unter Menschen zu erreichen. Locke hatte recht, wenn er von der politischen Macht als einer sprach, die jedem Menschen von Natur aus immanent ist. Bedenkt man hierzu, daß der Mensch von jeher auf das Rad des Ixion gespannt war, weil er immer mehr erreichen wollte - auch Einsiedler·wollen wenigstens erreichen, von anderen in Ruhe gelassen zu werden - so erscheint die Politik als eigentlich Menschliches. Wie Weber gleich am Anfang seines Vortrages sagte, findet sie nicht nur auf dem Gebiet Anwendung, das man allgemein mit der Politik verbindet, also auf zwischen- und innerstaatliche Beziehungen. In letzterem Bereich sollte die Ausdehnung der Politik von Politikern im herkömmlichen Sinne, also von Regierenden, auf Regierte nicht übersehen werden, deren wir in 66

den vergangenen Jahrzehnten zunehmend gewahr wurden. Zurechtweisungen Regierender durch Regierte sind an sich nichts Neues. Das zeigte sich beispielsweise immer wieder in England infolge derUnterstellungeines Vertrags zwischen beiden. Allerdings war dort ein Aufbegehren der Untertanen gegenüber den Herrschern in der Regel auf die Betonung vonVerpflichtungender Regierung, die rights of Englishmen zu achten, beschränkt, während in unseren Tagen die Tendenz eher zur Aufkündigung staatsbürgerlicher Pflichten zu gehen scheint. Weber sah wohl diese neuen, in die Politik einsteigenden Kräfte, wenn er diejenigen, die "Politik als Beruf", von denen, die "Politik überhaupt" betreiben wollten, unterschied. Für alle machte er aber klar, daß sie sich auf gefährlichen Boden begeben: "Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm s e 1b s t unter ihrem Druck werden kann, bewußt zu sein. Er läßt sich, ich wiederhole es, mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit lauern." Weber unterschied 1919 die Verantwortungsethik von der Gesinnungsethik, also wohl den verantwortungsvollen vom verantwortungslosen Politiker. Er äußerte seine Zweifel, lieber an die Zukunft des Sozialismus oder an internationale Befriedung zu denken als an das Vaterland und würde heute wohl auch seine Vorbehalte haben gegenüber all denen, deren Gesinnung sie neben sozialistischen und pazifistischen auch anarchistischen und terroristischen Zielen huldigen läßt. Auch heute würde er wohl schreiben, "alles, erstrebt durch p o 1i t i s c h es Handeln, welches mit gewaltsamen Mitteln und auf dem Wege der Verantwortungsethik arbeitet, gefährdet das 'Heil der Seele'. Wenn ihm aber mit reiner Gesinnungsethik im

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Glaubenskampf nachgejagt wird, dann kann es Schaden leiden und diskrediert werden auf Generationen hinaus, weil die Verantwortung für die F o 1g e n fehlt. Denn dann bleiben dem Handelnden jene diabolischen Mächte, die im Spiel sind, unbewußt. Sie sind unerbittlich und schaffen Konsequenzen für sein Handeln, auch für ihn selbst innerlich, denen er hilflos preisgegeben ist, wenn er sie nicht sieht" (PaB, 64 f.): Politik ist auf alle Fälle gefährlich. Weil in ihr diabolische Kräfte losgelassen werden und walten, schadet sie, auch bestenfalls, dem Heil der Seele. Ich habe an anderer Stelle auf die Gefährlichkeit der Freiheit aufmerksam gemacht. Nicht erst SeheHing war ihrer gewahr, wenn er die Freiheit als ein Vermögen des Guten und des Bösen bezeichnete. Aber wenn auch Heidegger in seiner Vorlesung über diesen Philosophen betonte, die Freiheit dürfte eher zum Bösen als zum Guten genutzt werden, bleibt bei ihrer Ausübung, sogar bei der von ethischen, moralischen, rechtlichen usw. Erwägungen freien und daher reinen Freiheit doch ein großer Spielraum des Vermögens zum Guten. Das kann man auch vom Liberalismus oder Freiheitsdrang sagen. Wer auf Freiheit oder deren Ausdehnung aus ist, will nicht immer andere~ gegenüber etwas erreichen. Der Politiker hingegen will das stets. Es liegt in seinem Wesen, ist das ihm Wesentliche. Es ist geeignet, das egoistische Moment seines Handeins zu erhöhen. Die einzelnen Aspekte der Freiheit- nur sie sind real, da die vollständige, ganze Freiheit noch nicht erreicht wurde - sind als Zustände Voraussetzungen des Tätigseins, welches sich des Liberalismus zur Erweiterung der Freiheit bedient. Wenn aber auch das Drängen zu mehr Freiheit ein Handeln aufweist, so ist es doch nur ein Handeln, das lediglich auf die bloße Existenz von mehr Freiheit gerichtet ist, also auf einen neuen Zustand als Vorausset68

zung neuen Tätigseins, welches nicht notwendig anderen gegenüber etwas erreichen solL-Letzteres wird zwar oft der Fall sein. Dann kommt der Liberalismus an die Politik heran, jedenfalls an die auf ein Erreichen von mehr Freiheit ausgerichtete. Bedenkt man nun, daß jedes Erreichen dem Erreichenden mehr Freiheit gibt und den Radius seiner Freiheitssphäre vergrößert, kommt man zu einer Gleichsetzung der Politik mit dem Liberalismus, der jedoch als Freiheitsdrang, als Mittel zu mehr Freiheit nicht mit dem Zustand der Freiheit selbst zu identifizieren ist. Wenn auch dieser Zustand als Basis der Politik als eines Mittels, etwas anderen gegenüber zu erreichen, benutzt werden kann, so muß dies jedoch nicht der Fall sein. Der Freie ist zu allem frei. Er ist auch frei, nicht zu handeln, nichts anderen gegenüber erreichen zu wollen, frei, keine Politik zu verfolgen. Er ist frei, keine größere Freiheit anzustreben, sich im Gegenteil Imperativen gemäß zu beschränken. Er ist frei, edel, hilfreich und gut zu sein. Der Politiker hingegen benutzt seine Freiheit immer, um etwas unter Menschen zu erreichen. Bei ihm kommen nach Weher stets teuflische Kräfte ins Spiel, während das beim bloß Freien nicht notwendig der Fall ist. Dennoch ist jeder Freie diesen Kräften ausgesetzt, selbst auf Gebieten, in denen man das nicht erwartet, wie beim Sport. Frisch, fromm, fröhlich, frei, so heißt die sportliche Losung. In seiner Freiheit ist der Sportler frisch, fromm und fröhlich,· nicht schmal und schmählich. Er treibt im Grunde keine Politik. Selbst wenn er siegen will, kommt die eigentliche Politik mit ihren diabolischen Kräften kaum ins Spiel. Nicht jedes Erreichenwollen anderen gegenüber ist Politik, wenn auch Politik immer ein solches impliziert. Ein Zulassen der Politik mit ihrem Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heiligt, würde beim Sport darauf hinauslaufen, 69

daß der Sieg Fouls heiligt, - eine vom Sport her unannehmbare Einstellung! Trotzdem hat sich die Politik sogar in den sportlichen Wettkampf eingeschlichen, was angesichts ihres Menschlichseins nicht überrascht. Und zwar nicht nur beim Berufssport, der im ursprünglichen Sinne des Wortes ja eigentlich kein Sport mehr ist, sondern auch bei den Amateuren oder wahren Sportlern. Das hat sich z. B. beim Fußball bei den Foulpraktiken gezeigt, deren man mehrere Nationen in bestimmten Landstrichen zeiht. Auch beim Eiskunstlauf ist nicht mehr alles so frisch, fromm, fröhlich, frei, wie es Turnvater Jahn wollte. Wir sind von der Grazie, Schönheit und Waghalsigkeit der Läufer fasziniert. Sie haben nichts Politisches an sich, wenn man auch gemunkelt hat, besonders die weiblichen wollten mit ihrer Aufmachung und ihrem Gehabe die Richter becircen. Bei denen allerdings gibt es viel Politik, die sich als Protektion und Antipathie manifestierte, in persönlichen und patriotischen Gefühlen ihren Grund hatte, so manchem Eiskunstläufer das Herz schwer gemacht hat und so mancher Läuferin wohl noch mehr. 21 Die Animositäten und Friktionen, welche die Politik mit sich bringt, sind besonders in den Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten, den ehedem Mächtigen und Machtlosen, augenfällig. Aber auch unter Regierenden und Regierten selbst sind sie zu finden. Da gibt es unter letzteren ständig Hader zwischen Parteien und Parteifaktionen, deren Mitglieder und Anhänger wieder unter sich zerstritten sind. Sie alle versuchen, mit ihrer jeweiligen Politik irgendwie auf Kosten anderer weiterzukom21 Hierauf machte mich bereits 1950 Ethel S. Brummer in Lake Placid aufmerksam, wo sie maßgeblich an der Errichtung der Sommersaison für Eiskunstläufer beteiligt war. Eine wissenschaftliche Analyse der Politik im Sport fehlt noch, obwohl die Medien viel darüber verlauten ließen.

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men, was es auch kosten möge. Es kommt zu Allianzen, Bündnissen und Koalitionen, die dann je nach Gefallen der Politiker wieder zerfallen, um neuen Platz zu machen. Irrungen führen zu Verwirrungen. Das Ganze zeigt stetes Adjustieren, Eliminieren. Der Egoismus mit dem ihm eigenen Opportunismus und Machthunger wird dabei derart offensichtlich, daß so manch rechtschaffener Bürger sich voller Entrüstung, ja Ekel abkehrt und händeringend sich sagt, "bloß nichts mit der Politik zu tun haben!" Man hat die niedrige Wahlbeteiligung in den Vereinigten Staaten auf die Ähnlichkeit der Parteiprogramme zurückgeführt. Dabei sollte nicht übersehen werden, daß viele Wähler einfach von den Praktiken und Taktiken der ~andi­ daten genug haben, sie verurteilen, keinen von ihnen schätzen und lieber von den Wahlurnen fernbleiben, als jemanden mit ihrer Stimme zu beehren. So manche Regierung hat sich halten können, weil die Opposition zerstritten war. Andererseits sind auch Regierungen infolge interner Streitigkeiten gefallen. Unter Regierenden gibt es nämlich ähnliche Zänkereien wie unter Regierten. Das ist am offensichtlichsten beim Parlamenurismus. Sogar in dem als klassisch angesehenen englischen ist es festzustellen. Obgleich hier das grundsätzlich bestehende Z weiparteiensystem für eine gewisse Stabilität der Regierung sorgt, führte die Politik von Mitgliedern und Gruppen innerhalb der Regierungspartei nicht selten zu Kabinettskrisen. Klarer noch ist es in Koalitionsregierungen, wie sie auf dem europäischen Kontinent aufgrund der zahlreichen Parteien, die wiederum alle ihre verschiedenen politischen Flügel haben, meist existieren und mehr oder weniger vegetieren. Denn da gibt es oft Krisen, wenn die Regierungskoalition auseinanderfällt, wie in den letzten Jahren 71

der Dritten Republik. Von der Häufigkeit solcher Krisen ließ sich Maurice Hauriou wohl nicht träumen, als er nach dem Ersten Weltkrieg der Ansicht war, Frankreich habe nach einigem Hin und Her in der Dritten Republik nun endlich die ihm gemäße Regierungsform gefunden. 22 In Italien stimmten auch nichtfaschistische Abgeordnete für die Acerho - W ahlreform, die der stärksten Partei eine Zweidrittelmehrheit in der Deputiertenkammer sicherte, nur um die Regierung zu stabilisieren. Auch unter der auf diese Weise durch Neuwahlen gefestigten Regierung Mussolinis hielt allerdings das politische Tauziehen an, gab es innerparteiliche politische Kämpfe, wenn sie auch durch "Ablösungen der Wache" bemäntelt wurden. Am Ende wurde dann Mussolini selbst von der Wache des Großen Rates des Faschismus, den er selbst zum Zwecke seiner Machtbehauptung kreiert hatte, abgelöst. In Spanien sah man zur Zeit Francos neben der Flagge des Landes die der Kirche und die der Falange. Der Generalissimus wurde als geschickter Politiker bekannt, der auf gewiegte Art die verschiedenen politischen Kräfte balancierte und gegeneinander ausspielte und sich so bis zu seinem Lebensende an der Macht halten konntetrotz aller Anfeindungen im In- und Ausland. Im Dritten Reich gab es sicher weniger Anzeichen eines politischen Pluralismus als in Italien und Spanien. Dennoch gab es auch hier verschiedene politische Strömungen für und wider die Partei und auch in der Partei selbst. Wir brauchen nur an den Röhm-Putsch und an den 20. Juli zu denken, zehn Jahre später. In der dazwischen liegenden Zeit gab es auch Politik innerhalb der Partei, des Staates und der Wehrmacht und zwischen diesen Institutionen. Hitler war offenbar 22

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"Precis de droit constitutionnel", 2. Auf!., Paris 1929, 293 ff.

darauf bedacht, sich innerhalb seiner hierarchischen Organisation nicht auf eine bestimmte Gruppe festzulegen. Auch Stalins Säuberungsaktionen zeigten, daß unter seiner Diktatur so manche politische Kräfte am Werk waren, die von ihm und seiner Geheimpolizei als gefährlich erachtet wurden. Mussolini, Hitler und Franeo waren Nationalisten, denen als Faschisten, Nationalsozialisten und Falangisten der Nationalismus auf der Stirn stand. Auch der Georgier Stalin, den Lenin aus politischer Klugheit zum Kommissar für Nationalitäten ernannte, um ethnische Minderheiten gegen das großrussische zaristische Regime zu gewinnen, zeigte sich als Nationalist, wenn er gegen Trotzky den Kommunismus zunächst auf Rußland beschränken wollte, um ihn dort zu konsolidieren und ein Vaterland des Kommunismus zu schaffen. Unterall diesen Diktatoren, die den liberalen Staat abgeschrieben hatten, erlebte die Institution des Staates eine wohlletzte Blüte, jedenfalls nach außen hin. Der Staat wurde betont und überbetont. Dies geschah in Ausmaßen, die in Deutschland den früheren Absolutismus weit in den Schatten stellten, in Rußland an Iwan den Schrecklichen erinnerten und einen Staatskapitalismus einführten, bei dem an das von Marx erhoffte Verschwinden des Staates nicht zu denken war. In Italien führten sie auf zuweilen wenig humane Weise Mazzinis Begriff vom Dritten Rom zum Imperialismus hin weiter. In dem von einem grausamen Bürgerkrieg mitgenommenen Spanien belebten sie den Absolutismus der Katholischen Könige mit seiner Betonung nationaler Größe, die auch von der Generation von 1898 gefordert worden war. Die genannten Diktatoren machten den Staat zur Maschine, zum Apparat und schalteten und walteten entspre73

chend. Staatliche Funktionen und staatliches Funktionieren und deren maximale Leistungen sollten noch durch die von ihnen geführten Einparteiensysteme sekundiert werden. Es war zum guten Teil diese Verbindung des Staates mit einer einzigen Partei, diese Absorbierung des Staates durch diese Partei (die in den verschiedenen Ländern allerdings nicht die gleichen Ausmaße annahm), die Nutzung und Ausnutzung des Staates durch diese einen Totalitätsanspruch erhebende politische Organisation, die die von den Diktatoren beherrschten Staaten zu totalitären Staaten machte. Diese unterschieden sich von den Monarchien im Zeitalter des Absolutismus und von den Militärdiktaturen Lateinamerikas, weil deren Potentaten lediglich an ihrer öffentlichen Macht interessiert waren, nicht aber auch das Privatleben weitgehend beeinflussen wollten. Unter den totalitären Regimes unseres Jahrhunderts dagegen zeigte sich ganz besonders, daß die Politik, wie immer sie auch unter den Regierungen zu deren Schwächung ihr Wesen treiben mochte, am meisten doch die Regierten belastete. Diese enorme Belastung der Machtlosen durch die Mächtigen ist wohl der Hauptgrund dafür, daß nach dem Zweiten Weltkrieg eine weitgehende Bewegung gegen die staatliche Ordnung als solche einsetzte. Die frühere Behauptung von Marx, der Staat und seine Regierung mit ihrer Rechtsordnung seien Mittel zur Unterdrückung der Proletarier, hatte eine solche Bewegung nicht unmittelbar zur Folge, wenn auch Kommunisten in dieser Richtung agierten. Die seit Jahrhunderten bestehende und respektierte Institution des Staates war, wie alles Traditionelle, so schnell nicht aus der Welt zu schaffen, zumal sie durch wachsende Liberalisierungenden Aktionsradius der Menschen ständig vergrößerte und ihnen so manches Akko74

modationsventil offen hielt. Aber nach der grausamen Hitlerdiktatur wurde es anders. Die Ideen von Marx bekamen Aufwind, weil sich in den westlichen Demokratien zu den Sympathisanten der Kommunisten viele Bürgerliche gesellten. Sie attackierten nun das Establishment dort als solches, den industrial-military complex, oft in dem Glauben, dieser habe Hitler zur Macht verholfen und sei das charakteristische Merkmal seines Regimes gewesen, ein Glaube, der durch kommunistische Argumente genährt wurde. Mehr und mehr gingen Machtlose daran, ihre Macht zu zeigen und sich zu Mächtigen zu machen, die es mit den traditionell Mächtigen in den Regierungen aufnehmen konnten. Der seit dem Ende der Annahme der Doktrin des divine right of kings akzeptierte Grundsatz vox populi vox Dei wurde zunehmend nicht mehr im Sinne von Lackes Herrschaft der Mehrheit, sondern in dem der Herrschaft aller einzelnen Individuen nach dem Prinzip chacun songout interpretiert, weniger im Sinne von Rausseaus volonte generale als in dem der volonte de tous. Die Politik Regierender wurde in wachsendem Maße von der der Regierten angegriffen und oft lahmgelegt.

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Fragen wir nun, was die Politik denn nun eigentlich vor allem motiviert, so geben uns die Berufspolitikerpar excellence in unseremJahrhunderteinen deutlichen Hinweis. In welchem Ausmaß Stalin, Mussolini, Hitler und Franeo (der wohl am wenigsten Berufspolitiker war als Europas einst jüngster General, sich aber doch jahrzehntelang als gewiegter Politiker zeigte) Charisma im Sinne Webers hatten, will ich hier nicht untersuchen. Gewiß hatten sie es in verschiedenen Graden, den Notwendigkeiten ihrer Umgebung angepaßt. Ganz gewiß aber hatten sie eines, nämlich den Willen zur Macht. Den gab es zwar auch schon früher bei Politikern, aber bei den eben genannten 75

war er in unserer Zeit besonders offensichtlich. Verwunderlich ist das Vorhandensein des Willens bei der Politik nicht. Als Mittel, etwas zu erreichen, ist sie ein Erreichenwollen und der Wille damit ihre Haupttriebfeder. Hitlers Verehrung für Nietzsche und Wagner, die ihrerseits Schopenhauer bewunderten, zeigt ebenso wie die Tatsache, daß nach seiner Machtergreifung der erste Reichsparteitag unter dem Motto "Triumph des Willens" stand, seine hohe Einschätzung des Willens. Er schenkte Mussolini eine Ausgabe der Werke des großen Selbstüberwinders, sich wohl bewußt, daß auch er Nietzsche hochhielt. Auch bei dem Erneuerer und Umwerter Stalin spielte der Wille eine erstrangige Rolle in seiner Politik, an die Macht zu kommen und sie zu behaupten. Hierzu paßt es, daß er Hitler nach der Ausschaltung Röhms Anerkennung zollte, um dann selbst mit erneut demonstrierter Willensstärke blutige Säuberungsaktionen durchzuführen. Eine solche zeigte auch Franco, wenn er in seinem Lande die Macht eroberte und bis an sein Lebensende behielt, obgleich es ihm oft um andere Werte ging. Um verschiedene Werte ging es unter der Ägis des reinen Liberalismus in den letzten Jahrzehnten auch bei denen, die im Namen der Freiheit, wie sie die jeweils verstanden, sogar gegen als liberal bekannte Regierungen agitierten und demonstrierten, oft mit dem Ziel, diese zu unterhöhlen und zu stürzen. Auch bei ihnen stand der Wille im Vordergrund. Als ihr Aufbäumen gegen bestehende Establishments so richtig begann, zeigte sich, besonders unter Studenten, neben einem Interesse an Hermann Hesse besonders eines an Nietzsche. Ist Politik insofern "wertfrei", als alles Mögliche mit ihr erreicht werden kann und kann der Wille als ihre Haupttriebfeder angesehen werden, so bedeutet das nicht, daß 76

dem Intellekt bei der Politik keine Rolle zukommt. Wenn auch Bismarck am 15. März 1884 im Reichstag sagte, "Die Politik ist keine Wissenschaft, wie viele der Herren Professoren sich einbilden, sondern eine Kunst", so kann doch nicht geleugnet werden, daß über die Jahrhunderte Politiker Wissenschaftler zu Rate zogen. Selbst der Realpolitiker Bismarck war wohl erfolgreich in der Kunst der Politik, weil er in der Bewertung ihrer Realitäten seinem Intellekt folgte sowie dem von Ratgebern einschließlich wissenschaftlicher. Sidney Hiliman war da 1944 realistischer, wenn er in seinem "Political Primer" feststellte: "Politics is the science of who gets what, when and why." Doch die Definition der Politik als einer Wissenschaft darüber, wer was, wann und warum bekommt, führt uns zu Bemerkungen über die Wissenschaft.

Wissenschaft Wissenschaft ist, was Wissen schafft. Wendet man diese vom Worte selbst angezeigte Definition auf die Politik an, erscheint letztere als Wissen darum, wie man es schafft, aus irgend einem Grunde etwas zu einer gewissen Zeit zu erreichen. Auch für Bismarck war dann die Politik eine Wissenschaft. Weniger künstlerische Eingebung als sein Wissen um reale Gegebenheiten ließen diesen Realpolitiker das von ihm Geschaffte erreichen. Und so ist es bei jedem, der Politik treibt und sich willentlich von ihr, mit ihr treiben läßt. Wie er auch von seinem Willen getrieben werden mag, benutzt er doch sein Wissen, das von ihm Erstrebte zu schaffen. Selbst wenn man die Politik auf das beschränkt, mit dem sie zumeist in Verbindung gebracht wurde, nämlich auf das Verhältnis Regierender zu Regierten, erscheint sie heute konfuser noch als in früheren Zeiten. Sie war, wenn wir zum Beispiel nur die moderne Ära herausgreifen, die etwa mit Bodin beginnende des Staates, von Anbeginn undurchsichtig genug mit ihren Hof- und Kabinettsintrigen. Monarchen, Höflinge und Proteges, ihrem Willen folgend, nutzten ihr Wissen, um etwas zu erreichen innerhalb eines vorwiegend aristokratischen Regierungsklüngels und den Regierten gegenüber, mit Drohungen, List und Tücke, Kompromissen und Liquidierungen. Mit dem Vormarsch der Demokratie änderte sich im Grunde wenig. Die Aristokratie wurde durch die Bonzokratie ersetzt. Auch hier gab und gibt es Hoffärtigkeiten und Fertigkeiten, mit ihnen 78

fertig zu werden, ob sich nun Regierende oder Regierte darin üben. Überall politische Intrigen, politisches Belügen, politisches Betrügen, ein Dreigestirn der Politik, mit dem man politischen Gegnern und auch politisch wenig Interessierten dreist die Stirn bietet. Wenn heute das politische Bild noch verwirrter erscheint als früher, so liegt das mit am Bevölkerungszuwachs, der die Zahl der politisch Relevanten erhöht. Auch liegt es mit daran, daß nach dem Zweiten Weltkrieg die Zahl der Staaten beträchtlich anwuchs, obwohl es nicht übersehen werden sollte, daß vor den Einigungen Frankreichs, Großbritanniens, Spaniens, Hollands, Italiens und Deutschlands es in diesen Ländern oft viele Staaten gab. Nicht zuletzt aber haben die Wirren der Politik in unserer Zeit deshalb zugenommen, weil die bisher Ohnmächtigen, die auch nach der offiziellen Erhebung des sujets zum citoyen noch lange ohnmächtig gegenüber den Mächtigen geblieben waren, sich zunehmend ihrer Macht bewußt wurden und immer mehr Politik unter sich und gegenüber den Regierenden trieben. Das zeigte sich auf internationaler wie auf nationaler Ebene. Man hat betont, daß sich die von der Sowjetunion beherrschten osteuropäischen Staaten nach dem Beispiel Jugoslawiens von dieser selbständiger machen wollten, wenn auch in verschiedenen Ausmaßen. Auch die Selbständigkeitsbestrebungen der Eurokommunisten machten von sich reden. Ohne Zweifel sind heute die Bündnispartner der Vereinigten Staaten diesen gegenüber unabhängiger als zur Zeit der Gründung der NATO, verfolgen sie ihre eigene Außenpolitik in weit größerem Maße als früher, oft gegen die Interessen der Nordamerikaner. Man hat auch Auflehnungen in kommunistischen Ländern gegen die Regierung erlebt sowie ein zunehmendes Verlangen 79

nach mehr Freiheit für die Bürger. Wenn die Russen auch mit den Aufständen vom 17. Juni 1953 im kommunistischen Teil Deutschlands und denen in Ungarn drei Jahre später ähnlich schnell fertig wurden wie 1968 mit dem Prager Frühling, hörte man doch immer wieder von wachsenden individualistischen Bestrebungen in den verschiedenen Staaten des Ostblocks, wenn diese auch das Staatsgefüge dort niemals in Frage stellten. Besonders deutlich zeigten sich Emanzipationsbestrebungen der Regierten gegenüber den Regierenden in westlichen liberalen Demokratien, wo ihnen ziemlich freier Lauf gelassen wurde. Das erstaunt nicht, denn diese Regierungsformen sind nun einmal permissiver. Die Ketten, von denen Rousseau am Anfang seines "Contrat Social" sprach, sind bei ihnen am dünnsten. Die Löcher, durch die in der offenen Gesellschaft geschickte Widersacher des Staates schlüpfen können, um seiner Autorität ein Schnippchen zu schlagen oder ihr gar zu entgehen, spielen eine große Rolle. Angesichts wachsender Liberalisierungen hat man gefragt, wie lange das die staatliche Ordnung Zusammenhaltende wohl noch halten wird bei den wachsenden Öffnungen ohnehin verhältnismäßig offener Gesellschaften, denen so verschiedene Autoren wie Karl Popper und Herbert Marcuse das Wort geredet haben. Wichtig war in dieser Entwicklung Amerika, das seiner Eigenschaft als Neue Welt und als Land der Freien alle Ehre machte. Die USA sind diejenige westliche liberale Demokratie, in der schon vor hundert Jahren Bestrebungen zum Sozialismus hin als liberal angesehen wurden, in der die Spanne des Liberalismus weiter ist als in anderen Ländern, in der man sich dem reinen Liberalismus am weitesten nähert. Robert H. Jacksons Bemerkung im Falle Terminielle v. Chicago, die amerikanische Verfassung sei 80

kein Selbstmordpakt infolge von zu weit gehenden Menschenrechten, erschien nur in einem Dissens und zwar 1948, als in den Vereinigten Staaten die öffentliche Ordnung noch nicht weiter bedroht war. Aber seit den sechziger Jahren ging es dann, ermutigt durch offizielle Erweiterungen bislang akzeptierter Liberalismen durch den N ew Deal, Fair Deal, die New Frontier und die Great Society, unter der Präsident Johnson etwas anderes verstand als seinerzeit Adam Smith, mit dem Banner des Liberalismus großzügig in die verschiedensten Richtungen. Das Establishment wurde derart angegriffen, daß man sich fragen konnte, ob denn die Warnung Washingtons in den Wind geschlagen wurde, die er 1789 in einer für den Kongreß geplanten Rede aussprach, als er die Möglichkeit eines nationalen Selbstmordes in Erwägung zog, weil die vielen Freiheiten der Amerikaner durch deren Schuld zu Flüchen werden könnten infolge von Machtgelüsten und der Lust an der Macht, von Bestechlichkeit, zügelloser Ambition und korrupter Moral. J efferson schrieb J oseph Priestley am 19. Juni 1802, im zweiten Jahre seiner Präsidentschaft, die Vereinigten Staaten seien ein hoffnungsvolles Beispiel für das interessante Experiment der Selbstregierung (self-government). Ihre Bewohner handelten für die ganze Menschheit. Er fügte hinzu, daß der Reichtum an Freiheit, mit dem Amerikaner überschüttet sind, sie verpflichtet zu beweisen, welches das richtige Ausmaß von Freiheit und Selbstregierung ist, das eine Gesellschaft ihren Mitgliedern lassen kann. Er bezeichnete eine solche Überlassung als ein Wagnis. Am 1. August 1816 schrieb er John Adams, seinem Vorgänger und Washingtons Nachfolger im Weißen Haus, er hoffe, die Vereinigten Staaten würden ein Treffpunkt sein für die Vernunft und Freiheit auf der Erde. Er bemerkte: "Ich mag Zukunftsträume

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mehr als die Geschichte der Vergangenheit, - und nun gute Nacht! Ich werde weiter träumen." Der Apostel der amerikansichen Demokratie, bei dem die Freiheit im Vordergrund stand und damit das Neue, das dieNeue Welt im AmerikanischenTraum hervorbringen würde, sah also die Notwendigkeit, Freiheit und Demokratie rational zu erhalten und zu begrenzen. Der General des Unabhängigkeitskrieges, Vorsitzende der Verfassunggebenden Versammlung und erste Präsident seines Landes fürchtete Machtgelüste, Bestechlichkeit, übermäßigen Ehrgeiz und Korruption. Seine Befürchtungen haben sich als nur allzu gerechtfertigt erwiesen. Lust an der Macht, Korruption, unmoralisches Verhalten und unbegrenzte Ambitionen, die in einem Lande, wo vor allem der success, dastobe a success zählt, vom moneymaking zum powermaking führten, zum Ergattern politischer Macht mit oft zweifelhaften politischen Mitteln im Wissen um politische opportunities, sie alle haben sich in Amerika in reichlichem Ausmaß gezeigt. Dies ist wohl zum guten Teil der Tatsache zuzuschreiben, daß sich die dortige Politik dem reinen Liberalismus immer weiter näherte. Die liberale Demokratie hat sich in Amerika in der Tat als Wagnis erwiesen. Das trifft auch auf andere liberale Demokratien zu, in denen die Entwicklung von Amerikanisierungen vorangetrieben wurde, die besonders nach dem Zweiten Weltkrieg weiter gingen, als Weber dies 1919 annahm, wenn er bemerkte, unser Leben überhaupt amerikanisiere sich. 1 Wohin wir auch blicken, zeigt die Politik Zweifelhaftes, das allerdings im ethischen oder moralischen Sinne gar 1

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"Wissenschaft als Beruf", 1919, 7. Auf!., Berlin 1984 (hiernach WaB), 7.

nicht zweifelhaft sein kann, wenn man in der Politik schlechthin bloß ein Mittel sieht, etwas anderen gegenüber zu erreichen, ob es nun gut oder böse ist. Die Seiten der Politik, die von vielen als böse angesehen wurden, konnten lange von Politikern verhüllt und übertüncht werden. Aber in den letzten Jahrzehnten wurden sie von den Zeitungen und anderen Medien immer mehr bloßgestellt und entlarvt. Immer bekannter wurde, was Will Rogers 1924 in "The Illiterate Digest" (S. 30) als offensichtlich empfand, wenn er schrieb: "I teil you folks, all politics is apple sauce." Andere gaben sich mit der Charakterisierung aller Politik als Apfelmus nicht zufrieden. Sie sprachen von dirty politics, von schmutziger, dreckiger Politik. Der Liberalismus in seinen verschiedenen Erscheinungen hat das Seine getan, um die Politik in vielen Schattierungen schillern zu lassen und ihre Schattenseiten zu offenbaren. Er hat sich selbst zum Guten und Bösen gezeigt ohne viel Federlesens, da er ja im Grunde lediglich an einer Ausdehnung der Freiheit interessiert ist. Aber sogar die von ihm angestrebte totale Befreiung würde es dem Menschen immer noch anheimstellen, sich in dem Sinne zu befreien, daß er jeder egoistischen Neigung entsagt. Bei der Politik als einem Mittel, anderen gegenüber etwas zu erreichen, scheidet die Möglichkeit einer solchen Selbstbeschränkung von der Definition her aus. Der Egoismus ist das der Politik Essentielle, denn wenn man etwas anderen gegenüber anstrebt - sei es für sich selbst oder für Dritte - fördert man seinen oder deren Egoismus. Man mag das mit schlechtem Gewissen tun, immer aber handelt man in der Politik seinem Willen und Wissen gemäß, um etwas auf Kosten anderer zu schaffen. So hilft das Wissen, das vom Willen Gewollte zu erreichen, ob es dabei nun ehrlich zugeht oder nicht. Den Politiker kümmert das wenig. Ihm 83

liegt vorzüglich daran, daß er, seinem Willen nach, mit seinem Wissen schafft. Gegenüber einer solchen Wissenschaft der Politiker, die von vielen als von Opportunismus und unerfreulichen Liberalismen gekennzeichnet empfunden wird, in ihrer Realität zum Unreellen führend, entsteht dann die Sehnsucht nach einer Wissenschaft, die ehrlich und lauter ist und geeignet, die Politik zu zügeln. Damit will man einmal erreichen, daß üblen Politikern das Handwerk gelegt und die Politik zum Guten emporgehoben wird. Durch wissenschaftliche Klarheit will man auch der von der Politik geschaffenen Wirrnis entgehen. In steigendem Maß wurden die Menschen nämlich der von politischem Opportunismus herbeigeführten Unklarheiten gewahr. Sie flüchten aus dem Gefühl und Gewühl der Politik in die von diesen umbrandeten Inseln des Lehrens und Lernens, ins akademische Leben und Streben. Von dem, was Wille und Wissen der Politiker schaffen, bei dem man selten nur weiß, woran man ist, weil die Politik, wie Theodore Parker in seiner Predigt über die Wahrheit sagte, die Wissenschaft des im Augenblick Notwendigen ist (politics is the science of exigencies), die zu Unklarheiten und Unwahrheiten führt, sucht man Zuflucht in der Klarheit und Wahrheit der Wissenschaft. Bei ihr, der Wissenschaft an sich, geht es um das Wissen als solches, ohne bestimmte Nebenabsichten, ohne jene ulterior motives, die meist bei Politikern vorherrschen, wenn sie ihr Wissen nutzen und ausnutzen. In den Stätten der Wissenschaft geht es nicht nur darum, was irgendein Wissen schafft, sondern auch darum, dem vom Wissen Geschaffenen einen von der Unbill der Politik sicheren Hort zu sichern zum Schaffen weiteren Wissens zwecks Förderung des Wissens an sich. Wie im öffentlichen Leben die Politiker zu Hause sind und entsprechend 84

hausieren gehen, so sind in Akademien und Universitäten die Wissenschaftler zu Hause, immer bemüht, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, FichtesAufforderung in seiner Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten folgend: "Gilt folgende Regel für alle Menschen, so gilt sie ganz besonders für den Gelehrten: der Gelehrte vergesse, was er getan hat, sobald es getan ist, und denke stets nur auf das, was er noch zu tunhat. Der ist noch nicht weit gekommen, für den sich sein Feld nicht bei jedem Schritte, den er in demselben tut, erweitert." Politiker nutzen ihr Wissen, um etwas gegenüber anderen zu erreichen zu ihren Gunsten oder dem Dritter. Wissenschaftler nutzen ihr Wissen, um Wissen schlechthin zu schaffen. Ich habe mich bemüht, diesem Grundsatz gerecht zu werden. Institutionen, an denen ich lernen und lehren durfte, luden hierzu em. Bei seinem ersten Besuch in Berlin ging der Gymnasiast den obligaten Weg vom Brandenburger Tor zum Dom. Unter den Linden fand er das Hauptgebäude der Universität zurückgesetzt, als ob es sich vom Straßentreiben fernhalten wollte. Andererseits streckte es seine beiden Flügel zur Straße hin aus, Lernbegierige mit offenen Armen einladend. Es war die erste Universität, die ich sah, und ich wünschte mir, da mein Studium beginnen zu können. Als ich 1941 bei der Immatrikulationsfeier dort in der vordersten Reihe saß, fiel es mir zu, gebeten zu werden, nach vorn zu treten, um für alle neu aufgenommenen Studenten den Eid zu sprechen. Oft, wenn ich später in die Universität ging, dachte ich an ihre einladende Zurückgezogenheit. Ihrer wurde ich auch im Inneren gewahr. Man kritisierte das Hitleeregime im Rahmen des Möglichen- es war ja Krieg - aber doch heftiger, als ich es unter Fremden gewöhnt war. Carl Schmitt griff jenen Kollegen an, den

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man in Heidelberg nach Eingang eines Telegramms des Reichsführers SS, seine Habilitation sei dringend erwünscht, die venia legendi zuerkannt hatte, der seinen Berliner Kollegen Angst einflößte, weil er bei Sitzungen drohte, "dann muß ich das dem Reichsführer SS melden." Die Berliner Universität erschien mir damals, als ich von diesen Drohungen noch nichts wußte, als eine Insel der Ruhe in nationalsozialistischer Brandung. Nach dem Kriege studierte ich an anderen Universitäten. Das Göttinger Universitätsgebäude erinnerte mich mit seinen klaren klassizistischen Linien an das in Berlin, etwas für sich darstellend, aber mit seiner Freitreppe doch einladend wirkend. In Harnburg erschien mir die Universität wie ein festgemauertes, von Grünanlagen umgebenes, von Efeu eingesponnenes Wunschschloß, in dem man den Lärm des vorbeiflutenden Auto- und Bahnverkehrs nicht hörte. Die Alte Universität in Heidelberg, in der ich die meisten meiner Vorlesungen hörte, mutet an wie ein trutziger Burgbau. In ihrer schönen holzgetäfelten Aula hörte ich Karl Jaspers, Walter Jellinek und Gustav Radbruch in ruhiger Abgeschlossenheit von der Außenwelt unter dem Siegel der Universität, auf dem ein Löwe, der mich an das Wahrzeichen der Seerepublik Venedig erinnerte, ein Buch offen hält mit den Worten "semper apertus". Das ist es: deutsche Universitäten sind, zum wissenschaftlichen Wirken einladend, von der Außenwelt abgeschlossen. Man merkt, daß sie sich aus Klosterschulen entwickelten. Klausuren gibt es in ihnen allerdings nur noch, um die Ehrlichkeit der geleisteten Arbeit zu gewährleisten. Mit der Freiheit des Denkens, der Lehre und des Lernens zog in die Universitäten ein dem lebendigen Geist gewidmetes Schaffen ein.

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In den Vereinigten Staaten wird der Universitätsbau durch das Campus ersetzt. Man wählte diesen Namen wegen des Abgesondertseins vom Getriebe des täglichen Lebens, aber auch wegen des Offenseins für all die, die lehren und lernen wollen. Er kommt aus dem alten Rom, wo campusein abgesondertes offenes Feld für die verschiedensten Darbietungen war. Einladendes Fürsichsein ist also das Kennzeichen amerikanischer Universitäten wie deutscher. Das ist so beim im Kolonialstil erbauten Harvard, beim von Georg II., dem Gründer der Universität Göttingen, gegründeten Princeton, das im neugotischen Stil erstrahlt. Es ist so bei der Universität von Kalifornien in Los Angeles, wo sich das im neospanischen Stil errichtete Campus in Richtung des Pazifischen Ozeans öffnet. Und die von dem Aufklärer Jefferson gegründete Univer-· sität von Virginia! Ein wohlproportioniertes Rechteck, dessen Längsseiten von einem querliegenden imposanten Kuppelbau abgeschlossen werden, während die gegenüber liegende Seite offen blieb, so daß sich die beiden Längsseiten einladend ausstrecken, einladend wie die Flügel der vonJeffersons Zeitgenossen Wilhelm von Humboldt mitbegründeten Universität Berlin. Hierbeendeteich meine Studentenzeit, an einer Universität, deren Anlage mich oft an meine erste Universität denken ließ. Es fügte sich, daß ich dann zur Lehrtätigkeit an die J ohns Hopkins U niversität kam, deren Campus, schön abgeschlossen in einem Park der Hafenstadt Baltimore gelegen, in vielem an Jeffersons Plan erinnert. Sie wurde 1876 gegründet, um das Humboldtsche Universitätsideal in den Vereinigten Staaten einzuführen. Ob nun eine akademische Institution diesem Ideal entspricht oder nicht, stellt die in ihr gepflegte Wissenschaft doch für die meisten Menschen ein Ideal dar, im Gegensatz 87

zur Politik. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb Jefferson lieber als Gründer derUniversitätvon Virginia verehrt werden wollte denn als Präsident seines Landes, obwohl sich gerade unter seiner Präsidentschaft das Territorium der Nation mehr vergrößerte als jemals während einer anderen Amtsperiode. Sicher empfand er, dessen Briefe von moralischen Ermahnungen strotzen, seine Studien in der umfangreichen Bibliothek seines Landsitzes Monticello ethisch reiner als seine Regierungsgeschäfte im Weißen Haus. Das Abgesondertsein akademischer Institutionen vom Tagestreiben kann in der Tat als Schutz des Reinen im ethischen Sinn, also des Guten, gesehen werden im Kontrast zur Politik, die in diesem Sinne als unrein, schmutzig und zweifelhaft erscheint. Während nämlich das von der Ethik her Unreine der Politik wohl in dem Maße wächst, in dem die Politik als solche reiner wird, weil sie sich von ethischen Erwägungen reinigt und nur daran interessiert ist, etwas unter Menschen zu erreichen, ob es nun gut oder böse ist, ist das bei der Wissenschaft anders. Hier ist man von der Wahrscheinlichkeit ausgegangen, daß die Reinheit der Wissenschaft an sich mit ihrer ethischen, moralischen, sittlichen Reinheit wächst. Jedenfalls erschien die Wissenschaft so den meisten Lernbegierigen von altersher. Wissenschaftliche Einrichtungen glichen ihnen dem heiligen Gral in Wagners Parsifal, den heiligen Hallen von Sarastros Tempel in Mozarts Zauberflöte, die nach Prüfungen Aufnahme gewährten. Prüfungen halten Menschen nicht davon ab, Eingang in die Stätten der Wissenschaft zu suchen, sich dort behaupten zu wollen in stetem Fortschritt. Es sei zugegeben, daß so manche von ihnen unter ihrem Weiterkommen Politi88

sches verstehen. Die Menschen sind nun einmal auf das Rad des Ixion gespannt, das sie verschiedene Interessen verfolgen läßt, die oft materialistisch sind. So haben sich höhere Bildungsanstalten zunehmend zu trade schools entwickelt, deren Angehörige und Absolventen ihr Wissen in klingende Münze umsetzen wollen. Aber abgesehen davon, daß auch eine solche Einstellung die Wissenschaft fördern kann und vorangetrieben hat, ist auch bei ihnen der Gedanke des Ergründens neuen Wissens wohl niemals ganz abwesend. Der systolische Faust blieb im Grunde immer ein diastolischer, vornehmlich am Lernen um des Lernens willen, also an der Wissenschaft an sich, an der reinen Wissenschaft, interessiert. Und wie es Komponisten, Maler und Schriftsteller gab, die um der Sache willen tätig waren- man denke nur an van Gogh, dem das Malen etwas Heiliges war und der sich darum abquälte, wie es mir bei einem Besuch in St. Remy so richtig klar wurde; an Wagner, dem seine Musik heilig war und der sich um dieses Heiligenwillen abquälte, wie es Thomas Mann in seinen Ausführungen über dessen Leiden und Größe mitteilte; an Nietzsche, den großen Selbstüberwinder, der dann wie ein Heiliger verehrt wurde - so hat es auch Wissenschaftler gegeben, die der Wissenschaft um der Wissenschaft willen dienten, weil diese ihnen heilig war. Es gibt den scholar's scholar und Studenten, die um des Studierens willen studieren. Wie Montesquieu betonte, haben einzelne Völker verschiedene Werte infolge des Bodens, Klimas, ihrer Religion und Tradition, ihrer geographischen und geopolitischen Lage usw., die alle zu verschiedenen Rechtssystemen beitrugen. Dennoch schälten sich bei letzteren bestimmte, allgemein akzeptierte Regeln heraus, ewige Wahrheiten sozusagen, wie die Grundsätze, daß Verträge bindend 89

sind, daß Ankläger nicht als Richter fungieren dürfen. Auch innerhalb von Völkern hatten verschiedene Gruppen verschiedene Werte und innerhalb dieser wieder Familien und Individuen. Mit anderen Worten: jeder hatte im Grunde seine eigenen Werte gemäß der ewigen Wahrheit, "die Gedanken sind frei". So ist es auch heute noch. Bei einem solchen Neben- und Durcheinander von Werten fühlen sich die Menschen großem Wirrwarr ausgesetzt, dessen Verwirrnis gerade bei der Jugend, wieWerther und die vielen Selbstmorde nach derVeröffentlichungvon Goethes Bestseller zeigten, oft tragisch ausgeht. Da sucht man dann nach Werten, die unbestreitbar sind. Besonders die idealistisch und romantisch und träumerisch veranlagte Jugend tut das, wie Eduard Spranger in seiner Studie über die Psychologie des Jugendalters dargelegt hat. Man findet aber nur einen solchen Wert, nämlich den der Wahrheit. Wie man auch die verschiedenenWerte und die Wertfreiheit betonen mag, kommt man doch von dem Wert der Wahrheit nicht frei, kommt man um ihren einmaligen, unbestrittenen Wert nicht herum. Die Wissenschaft ist Diener der Klarheit zur Wahrheit. Gerade die Tatsache, daß Fichte, der in der angegebenen Vorlesung den Gelehrten einen Priester der Wahrheit nannte, der "Ursach hat, am allerbescheidensten zu sein, weil ihm ein Ziel aufgesteckt ist, von dem er stets gar weit entfernt bleiben wird, - weil er ein sehr erhabnes Ideal zu erreichen hat, dem er gewöhnlich nur in einer großen Entfernung sich annähert", betonte, die Arbeit des Gelehrten sei nur ein Schritt zur Wahrheit und müsse nach seinem Tode von anderen fortgesetzt werden; gerade Webers Feststellung, daß jeder "in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20,50 Jahren veraltet ist," daß es "das Schicksal, ja: ... der Sinn der Arbeit der Wissen90

schaft ... ist: jede wissenschaftliche 'Erfüllung' bedeutet neue 'Fragen' und will 'überboten' werden und veralten" (WaB, 15), gerade das beweist, daß die Wissenschaft der Wahrheitsfindung dient. Wissenschaftler fanden und finden Wahrheiten, die durch neu gefundene Wahrheiten ergänzt und überholt werden, die aber alle Marksteine auf dem Wege zur Wahrheit als solcher sind. Um dem Tumult des Irrensund Wirrens, in dem die Politik zunehmend ihre Rolle spielte, zu entgehen, widmeten sich Menschen der Wissenschaft, studierten sie. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Da nun bisher oft nur Wahrheiten gefunden wurden, die durch neugefundene ergänzt oder überholt wurden, ist klar, daß der Weg der Wissenschaft hart und steinig ist. "Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will" (WaB, 15). Wissenschaftler sind vielleicht mehr noch auf das Rad des Ixion gespannt als andere Menschen. Aber der Wissenschaftler von Beruf erträgt das gern, groß wie auch die Versuchungen des Marktes an ihn herantreten mögen, sich sein Wissen auf hedonistische Weise nutzbar zu machen. Neben dem Wissen gibt es das Gewissen. Selbst Adam Smith, der große Advokat des freien Marktes, wurde nicht müde, das zu betonen. 2 Tief im Innern ist da ein idealistischer Funke im Menschen, wie er auch von materialistischen Erwägungen überschattet werden mag. Allen menschlichen Verlockungen der vom schlechten Gewissen geplagten und getriebenen Kundry, die Parsifal den Tod seiner Mutter mitteilte, weiß auch der unwissende, reine Tor zu widerstehen, wenn er an die Wunde denkt, die mit Amfortas die Menschheit plagt. 2 Für eine Zusammenstellung, siehe mein "Liberalism Proper and Proper Liberalism", 109 ff.

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Der Wissenschaftler ist nun alles andere als ein Tor. Aber rein ist auch er, dem das Tor zur Erkenntnis der Klarheit der Wahrheit offensteht, durch das er ständig zu schreiten bemüht ist. Das hatte wohl Weber im Sinn, wenn er betonte: "'Persönlichkeit' auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient" (WaB, 14). Dieses Dienen, um durch Klarheit zur Wahrheit zu gelangen, ist das Wesen der Wissenschaft. Dessen wird die Persönlichkeit auf wissenschaftlichem Gebiet nicht müde, so sehr sie auch, wie Faust, der Tatsache gewahr sein mag, "daß wir nichts wissen können". Wie diese Gewißheit ihr auch "das Herz verbrennen" mag, gibt sie doch das Streben nach Wahrheit durch Klarheit nicht auf. Dieses reinder-Sache-Dienen erscheint als das Gute. Es hat mich immer wieder beeindruckt, bei Studenten den Glauben zu finden, daß sie mit dem Suchen nach wissenschaftlicher Erkenntnis etwas Gutes vollbringen. Auch forschende, lehrende Gelehrte haben diese Überzeugung. Die Wahrheit- veritas ist das markante Einwortmotto der Harvard Universität- wird als unbestrittener und unbestreitbarer Wert dem Guten gleichgesetzt. In der W ahrheitssuche, dem Weg zur wissenschaftlichen Klarheit, sieht man darüberhinaus etwas Schönes. Die Wissenschaft erscheint so als wundervolle Kombination des Ethischen mit dem Ästhetischen. Doch welche Wahrheiten erwarten den wissenschaftlich Interessierten bei der Wissenschaft! Immer mehr Zweifel erregen sie darüber, ob die Wissenschaft, wie voller Wunder sie auch sein mag, die erhoffte wundervolle Kombination des Guten mit dem Schönen tatsächlich ist. Immer mehr läßt ihn die wachsende Gewißheit darüber verzweifeln, daß die Wissenschaft an sich mit Ethik und Ästhetik im Grunde nichts weiter zu tun hat und sich höchstens mit 92

Interpretationen dieser Begriffe befaßt, vor denen einen das Grausen überkommen kann. Der Wissenschaftler mag das Motto von Yale, Iux et veritas oder das von Johns Hopkins, veritas vos liberabit, durchaus akzeptieren. Aber das Licht, das er auf seiner Wahrheitssuche findet, sein Freiwerden aufgrund neuer Wahrheiten machen ihm die Reinheit der Wissenschaft von ethischen, ästhetischen und anderen hochgehaltenen Werten immer offensichtlicher. Ist er auch davon angetan, daß in wissenschaftlichen Institutionen "die Luft der Freiheit weht", wie der Wahlspruch der Stanford Universität heißt, so findet er doch bald heraus, daß die Freiheit umso weniger von Werten bestimmt und begrenzt ist, je reiner sie wird. Zweifellos ist die Freiheit zur WahrheitsEindung angetan. Zweifellos befreit letztere. Sie befreit auch von Wunschgedanken und zwar nicht nur in dem Sinne, daß jede wissenschaftliche Vermutung, die sich infolge wissenschaftlicher Arbeit als falsch erweist, als Illusion entpuppt. Wissenschaftliche Arbeit befreit von der Illusion, daß in ihr viel Gutes und Schönes zu finden ist, daß sie viel desselben erzeugt. Wie der Priester in das Häßliche und Böse des menschlichen Wesens schaut, so muß das erst recht der Priester der Wahrheit, der Wissenschaftler. Aber während der Seelsorger das Mittel des Trostes göttlicher Gnade und Vergebung zur Hand hat und sich die ihm gerade passenden tröstenden Wahrheiten aussuchen kann, hat derjenige, der sich um das Wissen als solches sorgt und, wie Faust, um dessenwillen bereit ist, seine Seele zu opfern, nichts, was ihm bei seinen Entdeckungen und Aufdeckungen neuer Wahrheiten Trost bieten könnte außer dem Wissen, das Wissen weitergebracht zu haben. Das aber ist selten ein wirklicher Trost, denn die Wahrheit ist hart. Das weiß man aus dem täglichen Leben, wenn es heißt, "die Wahr93

heit will niemand hören". Deshalb wird sie oft aus Rücksicht oder Takt verschwiegen. Selbst Kant, der die Wahrhaftigkeit als "unbedingte Pflicht" ansah, wie es in seinen Bemerkungen über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen (1797), heißt, war der Ansicht, man könne Aussagen umgehen. Das deckt sich etwa mit der Meinung, man habe ein Recht darauf, nicht zu wissen. Der Wissenschaftler aber als Diener der Wahrheit hat kein Recht darauf, nicht zu wissen oder wissen zu wollen, schon gar nicht als Priester der Wahrheit, als den ihn Fichte sah. Er hat im Gegenteil die Pflicht zur Wahrheitssuche und zur Kundmachung der Wahrheit. Er muß die Wahrheit regelrecht verfolgen und erjagen unter Entsagungen und Opfern. Seine Erfüllung und sein Zweck liegen im Finden von Neuem, in dem, was Weber als "'Erlebnis' der Wissenschaft" bezeichnete, "diesen seltsamen, von jedem Draußenstehenden belächelten Rausch, diese Leidenschaft, dieses: 'Jahrtausende mußten vergehen, ehe du ins Leben tratest, und andere Jahrtausende warten schweigend"' (WaB, 12). Der Wissenschaftler muß selbst unter Leiden schaffen wollen, auch wenn es anderen Leiden verursacht. Als Hans Kelsen, der als Liberaler im herkömmlichen Sinne an der Formulierung der Verfassung Deutschösterreichs mitwirkte, als Ergebnis seiner Reinen Rechtslehre feststellen mußte, ein Unrecht des Staates sei unter allen Umständen ein Widerspruch in sich selbst, 3 hat er wohl gelitten - zu Recht, wie es sich bald für ihn und andere unter dem Hitlerregime zeigte. Mehr noch mußte man wohl leiden, wenn man der reinen Freiheit als des unbeschränkten Vermögens zum Guten und Bösen sowie des reinen Liberalis3

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"Hauptprobleme der Staatsrechtslehre", 2. Aufl., Tübingen 1923,249.

mus als des von allen Hemmungen freien Freiheitsdranges gewahr wurde. Denn die Gefährlichkeit des Liberalismus ist viel größer als die von Marx behauptete, weil neben vielen anderen Unterdrückungen solche durch das Proletariat ebenso möglich sind wie die Unterdrückung des Proletariats. Außerdem: bei der Reinen Rechtslehre weiß man wenigstens noch, woran man ist. Über die Gültigkeit von Rechtsnormen besteht kein Zweifel. Die staatliche Rechtsordnung ist gewährleistet. Beim reinen Liberalismus ist das anders. Ihm zufolge können je nach Wunsch der Herrschenden strikte Rechtsordnungen geschaffen und durchgesetzt werden und zwar auf eine Weise, daß freiheitsliebenden Bürgern das Hören und Sehen vergeht. Andererseits können sich diese Bürger durch den reinen Liberalismus verleiten lassen, sich Gesetzen zu widersetzen bis hin zur Anarchie und zum Krieg aller gegen alle, dem bel/um omnium contra omnes des Hobbes. Blackstone, Kant und Hegel sahen das wohl, wenn sie von regelloser, wilder, roher Freiheit sprachen, von der durch bloße Triebe bestimmten Freiheit. Doch waren sie in der Version des Liberalismus ihrer Zeit gefangen und hüteten sich, die Reinheit des Liberalismus zuzugeben oder herauszustellen, den liberalism proper klar zu unterscheiden von dem, was sie als proper liberalism befürworteten. Sie hatten offenbar Hemmungen, den hemmungslosen Liberalismus beim Namen zu nennen und ihn als reinen Liberalismus zu bezeichnen. Den aber klarzustellen ist wissenschaftliche Pflicht, so schmerzlich wie deren Erfüllung oft war, zumal sie zu der Feststellung führte, daß die während des ersten Jahrhunderts der als Liberalismus bekannten geschichtlichen Bewegung geschaffenen Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer liberalen Verfassung durch fortschreitende An95

näherungen an den reinen Liberalismus immer mehr zu Schaden gekommen sind. 4 Schmerz bereitete der reine Liberalismus in der Wissenschaft selbst, wenn er auch eine Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit ist. Hier führte er infolge freier Forschung z. B. zur Erfindung des Dynamits mit seiner Dynamik zum Guten und Bösen, zur Spaltung des Uranatoms und zum nuklearen Zeitalter mit all seinen Ängsten und Unklarheiten. Aber Freiheit der Wissenschaft bedeutet eben letzten Endes, von den Wahrheitssuchenden aus gesehen, reine, ungehemmte Freiheit der Wissenschaft, ob neue Erkenntnisse nun mit oder ohne wissenschaftliche Methoden erlangt werden, aufgrundvon Einfällen oder scharfen Schürfens. Sie führt zur reinen Chemie, zur reinen Physik usw., bei denen Wissenschaftler sich nicht mehr darum kümmern, ob ihre Fortschritte der Menschheit zugute kommen oder nicht, ob sie die Menschheit vernichten können oder nicht. Denn wer rein der wissenschaftlichen Sache dient, wer Persönlichkeit auf wissenschaftlichem Gebiet hat, dem kommt es nur auf die wissenschaftliche Sache selbst, d. h., auf deren Fortschritt an. Das dürfte Alfred Nobel mitveranlaßt haben, neben Preisen für Naturwissenschaftler zur Belohnung des Humanismus und des Idealismus auch solche für Frieden und Literatur zu stiften. Es bedrückte sogar seinen elf Jahre jüngeren Zeitgenossen und großen U mwerter aller Werte, Nietzsche. Der sah in der Wissenschaft den Feind, weil sie Horizontalumschränkungen aufheben wollte, während alles Lebendige eine schützende Atmosphäre braucht. Aber gerade diesen geheimnisvollen Dunst, diesen umhüllenden Wahn5 müssen Wissenschaftler durchbrechen, oft 4 Siehe mein "America's Political Dilemma From Limited to Unlimited Democracy", Baltimore 1968, und "Amerikanische Demokratie". 5 Thomas Mann, "Nietzsche's Philosophie im Lichte unserer Erfahrung", a.a.O., III, 32.

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auf wahnwitzige Art und in dem Glauben, im Sinne anderer Aufforderungen Nietzsches zu handeln, obgleich ihr Eifer sie wohl immer mehr davon überzeugt, daß die Wissenschaft nicht gerade fröhlich ist. Davon werden sie auch überzeugt, wenn sie sich den wissenschaftlichen Betrieb näher ansehen. Sie werden ihrer Hoffnung beraubt, daß er eine politikfreie Sphäre darstellt. Nicht nur gibt es unter den Wissenschaftlern selbst Politik. Auch die Politik des öffentlichen Lebens, das Treiben der Berufspolitiker im engeren Sinne macht sich in den vermeintlichen Inseln des Lehrens und Lernens bemerkbar. Man erlebt einen Unterschied zwischen dem Ideal und der Realität der Universität und denkt an Kants Aufsatz von 1793, "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis". Was nun die Politik unter den Wissenschaftlern selbst angeht, hat nach meinen Erfahrungen Weber recht, aber auch unrecht. Er hat bis heute Recht behalten, wenn er meinte, das Weiterkommen eines Wissenschaftlers innerhalb der Universität sei " Ha z a r d", ja "wildes Hazard". Auch ist es heute noch so, daß die Verantwortung, einem jungen Gelehrten zur Universitätskarriere zuzureden, fast nicht zu tragen ist. Immer noch fühlt man sich veranlaßt, zu fragen: "Glauben Sie, daß Sie es aushalten, daßJahrum Jahr Mittelmäßigkeit nach Mittelmäßigkeit über Sie hinaussteigt, ohne innerlich zu verbittern und zu verderben?" Recht hat er bis in unsere Tage hinein, wenn er sagte, kein Universitätslehrer denke gern an Besetzungserörterungen zurück, denn sie seien selten angenehm. Nicht zutreffend sind nach meinen Erfahrungen hingegen seine Worte: "Und doch darf ich sagen: der gute W i 11 e, rein sachliche Gründe entscheiden zu lassen, war in den mir bekannten zahlreichen Fällen ohne Ausnahme da" (WaB, 8, 9, 11). Ich 7 Dietze

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habe immer wieder zu meinem Bedauern feststellen müssen, daß dieser gute Wille eben nicht da war, daß rein sachliche Überlegungen, jedenfalls solche über wissenschaftliche Qualifikationen, oft an die Seite gedrückt wurden von bequemlichen, persönlichen - und politischen. Das trifft auch auf Beförderungen zu. Selbst an guten amerikanischen Universitäten, an denen diese vor allem davon abhängen, wie der Kandidat von seinen peers außerhalb der eigenen Institution beurteilt wird, also ob er auf nationaler und internationaler Ebene geachtet ist, spielen solche Erwägungen eine nicht unbedeutende Rolle. Im großen und ganzen ist es so, daß man keine Kollegen um sich herum haben will, von denen man annimmt, sie könnten einen übertreffen, aber auch keine, die beträchtlich unter dem eigenen Niveau sein dürften, weil man durch derartige Assoziationen Nachteile für das eigene Prestige fürchtet. Man sucht das Mittelmaß wohl in der Hoffnung, der Ausdruck "Mittelmaß die beste Straß" komme von dem bekannten Wort des Euripides her, dessen staatserhaltenden Mittelstand man als einen gehobenen Stand sieht. Denn akademisches Mittelmaß ist nicht notwendig mittelmäßig, gewiß nicht vom Gesichtspunkt der Nichtakademiker aus. Da stellt es in den meisten Ländern immer noch eine Elite dar. Selbst Weber, der von hoher Warte so manches als mittelmäßig sehen konnte- es kommt ja immer darauf an, wer etwas sieht- gab 1919 zu, daß "immerhin die Zahl der richtigen Besetzungen eine trotz allem sehr bedeutende ist." Das kann man vielleicht auch heute noch behaupten, trotz allem, was sich seitdem getan hat. Es sollte nämlich nicht übersehen werden, daß sich der interne Universitätsbetrieb in den letztenJahrzehntenzunehmend bei Egalisierungstendenzen demokratisiert hat. Weber hatte sich noch dafür ausgesprochen, in der wissenschaftlichen Schu98

lung, jedenfalls an deutschen Universitäten, eine "g e is te sari s tokra t i sehe Angelegenheit" zu sehen und mit den Worten "Demokratie da, wo sie hingehört" klargemacht, diese habe in der Universität keinen Platz (WaB, 9, 10). Da er aber feststellte, unser Universitätsleben amerikanisiere sich, sah er sicher dessen Demokratisierung kommen, denn Amerikanisierung bedeutet Demokratisierung. So sind beispielsweise Ernennungen und Beförderungen in steigendem Maße vom Mitspracherecht der Studenten abhängig geworden, ob nun ein Kandidat "vorsingen" muß, um einen Ruf zu bekommen, oder ob Studenten bei Beförderungen mitentscheiden, unter Umständen durch Ausübung von Druck, der sich auf verschiedenste Weise manifestiert hat. Mit der Einführung gewisser Paritäten niederer Ränge ist das politische Ränkespiel innerhalb der Universitäten noch gewachsen. Angesichts dieser Demokratisierungen, die Ableger jener allgemeinen Demokratisierungen sind, welche de T ocqueville in seinem Buch über die Demokratie in Amerika voraussah, erstaunt es nicht, daß die interneUniversitätspolitik immer mehr von Erwägungen beeinflußt wird, die die Politik außerhalb wissenschaftlicher Institutionen reflektieren. Ich hatte für einige Jahre mein Büro neben dem meines Kollegen Owen Lattimore, dem Hauptopfer Senator J oseph McCarthys. Bald merkte ich, daß er von einigen geschnitten wurde, während andere im Namen der akademischen Freiheit für ihn eintraten. Allerdings hatte der McCarthyismus in den Vereinigten Staaten zur Folge, daß so etwa jeder, der kommunistischer Ansichten be~ schuldigt wurde, den meisten Akademikern mehr oder weniger automatisch als nicht suspekt galt. Im Grunde ist das unter Intellektuellen bis heute so geblieben, besonders in den Hochburgen des Intellektualismus, den wissenschaft-

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liehen Anstalten. Soll jemand von der Linken aufgrund kärglicher akademischer Leistungen nicht befördert werden, dürfte er und seine Freunde, die nicht nur Gesinnungsgenossen umfassen, sondern auch solche, die ihre Toleranz demonstrieren wollen, behaupten, er solle wegen seiner politischen Orientierung nicht befördert werden. Da ist man dann vorsichtig, ihm die Beförderung zu verweigern. Hat man tatsächlich den Mut, ihm den Laufpaß zu geben, setzt man dann alles in Bewegung, ihn ja durch jemand mit einer ähnlichen politischen Gesinnung zu ersetzen, um ja jeder Verdächtigung politischer Intoleranz zu entgehen. Man fühlt sich von den Kollegen nicht nur an der eigenen Universität, sondern an Institutionen im ganzen Lande beobachtet und fürchtet sie. Ich habe mich oft gefragt, wie sich amerikanische Professoren, wenn sie bei solchen Gelegenheiten umkippten, wohl verhalten hätten, wenn sie Schlimmeres zu gewärtigen hätten, wie das bei deutschen Kollegen im Dritten Reich der Fall war. Ähnlich kuscht man vor politischen Gruppen außerhalb der Universität. Steht eine Frau zur Beförderung an, taucht sogleich die furchterregende Frage auf, wie denn wohl Frauenorganisationen reagieren würden, wenn man sie nicht befördern will. Ist sie dazu noch Angehörige einer Minderheit, ist die Angst vor der Außenwelt noch größer. Weit hinter uns sind die Zeiten, in denen Weber schrieb, einem jüdischen Aspiranten zu einer akademischen Karriere sage man "natürlich: lasciate ogni speranza" (WaB, 11 ). In Amerika jedenfalls haben es Angehörige von Minderheiten heute besonders leicht, so daß man von reverse discrimination gesprochen hat. Das ist zum guten Teil Bürgerrechtsgesetzen zuzuschreiben, die ganz allgemein das Leben in den USA regeln, aus vorwiegend politischen Notwendigkeiten heraus entstanden und auch den 100

Universitätsbetrieb mitbestimmen, wo sie den Einfluß allgemein propagierter politischer Programme besonders klar demonstrieren, oft auf Kosten des Geistesaristokratischen. Infolge ihrer internen Demokratisierung und damit Egalisierung haben sich wissenschaftliche Institutionen mehr oder weniger willig in externe Egalisierungen und Demokratisierungen eingefügt. Wenn sie es nicht tun wollten, wurden sie von der Regierung gezwungen, sich der allgemeinen Politik zu fügen. Im großen und ganzen ergibt sich ein Bild zunehmenden Einflusses der politischen Kräfte des Landes auf die Wissenschaft und zwar in einem Maße, daß man von deren wachsender Politisierung sprechen kann. Der Einfluß hat sich nicht darauf beschränkt, daß die Regierung akademische Anstalten und Professoren mit Aufträgen betraut. In solchen Fällen wäre er noch verhältnismäßig gering, obgleich die Vergabe von Kommissionen oft politisch beeinflußt gewesen ist. Er ist darüberhinaus auf Meinungslenkung aus, wenn auch nicht immer auf brainwashing. In den Vereinigten Staaten hat das noch nicht die Ausmaße erreicht, wie unter totalitären Regimes, wo man, wie in der Sowjetunion, von einer kommunistischen Biologie sprach, oder in Deutschland, wo man eine deutsche Physik der Einsteins entgegenstellte und in Heidelberg die Worte "Dem lebendigen Geist" durch "Dem deutschen Geist" ersetzte. Dennoch ist in Amerika der Druck der öffentlichen Meinung oft recht groß und sollte nicht übersehen werden. Auch ist man in den USA bisher nicht so weit gegangen, Universitäten mit ausgesprochen politischen Orientierungen zu gründen, wie man es z. B. in Bremen tat. Die Universitäten und Colleges, die, dem europäischen Brauch des Mittelalters und des Anfangs der Neuzeit entsprechend, als religiös orientierte Institutionen gegründet 101

wurden, haben sich im Zuge des Vormarsches der Demokratie mit Betonungen der reinen Wissenschaft zunehmend von kirchlichen Bindungen gelöst. Dafür gibt es neuerdings sogenanntethink tanks, die politischen Gruppen die erwünschten, politisch orientierten Arbeiten liefern, wie die Brookings Institution in Washington, die der Demokratischen Partei nahe steht, die Hoover Institution in Stanford, die Heritage Foundation und das American Enterprise Institute in der Bundeshauptstadt, die der Republikanischen Partei aushelfen. Ganz generell kann man sagen, daß die Politik in den meisten Ländern einen immer stärkeren Einfluß auf die Wissenschaft ausgeübt hat und diese für sich schaffen läßt. Hat die Politik auch die Politikwissenschaft übernommen und sich damit übernommen? Diesen wichtigen Fragen darf ich mich nun abschließend zuwenden. Politikwissenschaft teilt als Wissenschaft all das, was bisher zur Wissenschaft ganz allgemein gesagt wurde. Voller Hoffnung wurde auch in ihr eine Zuflucht vom politischen Tagestreiben gesehen, dessen Probleme und Schattenseiten die Politikwissenschaft klar herausstellen und beleuchten sollte. Sie ist eine alte Wissenschaft, deren Ursprung auf die durch und durch politisch denkenden Hellenen zurückgeführt wird. Nachdem Sokrates den Begriff als eines der großen Mittel wissenschaftlichen Erkennens in seiner Tragweite erkannt hatte (WaB, 19) und von Politikern veranlaßt wurde, den Giftbecher zu leeren, befaßte sich, auf die Begeisterung seines Lehrers Platon an der Politeia hin, das Werk des Aristoteles, "Politik", wissenschaftlich mit der Politik. Seitdem baute die Politikwissenschaft entsprechend der aller Wissenschaft eigenen Überzeugung von der Erkennbarkeit der Welt darauf, daß 102

Dinge wie Ordnung, Macht und Ohnmacht, Regierende und Regierte rationalen Einsichten und Erklärungen zugänglich sind und erforscht werden können. Der Politikwissenschaft wurde mit der oft geäußerten, skeptischen und herablassenden Frage, was sie denn eigentlich sei, mit dem Vordringen der Naturwissenschaften (in der englisch sprechenden Welt versteht man unter dem Wort "science" lediglich letztere, man spricht von "faculties of arts and sciences") der wissenschaftliche Rang allzugern streitig gemacht. Aber vielleicht ist sie die bedeutendste der Wissenschaften, so ungenau und _verschwommen auch viele ihrer heutigen zahlreichen Vertreter sie erscheinen lassen mögen, weil ihre Erforschung der Politik wohl die Voraussetzung dafür schafft, daß die Wissenschaften jene von der Politik abgegrenzte Sphäre der Freiheit der Forschung, des Lehrens und des Lernens bekommen, ohne die sie nicht recht existieren und schaffen können. Die Politikwissenschaft mag der Politik näher sein als eine andere Wissenschaft. Das heißt nicht notwendig, daß sie von ihr abhängig ist. Im Gegenteil: die Erforschung von etwas macht dieses zum bloßen Objekt der Forschenden und kann zu seiner Kontrolle und Meisterung führen. Das hatte wohl ein Liberaler wie Weber im Sinn, wenn er mahnte, Professoren sollten das Katheder nicht zur politischen Agitation nutzen und ausnutzen. "Politik gehört nicht in den Hörsaal." Nicht von Seiten der Studenten. "Aber Politik gehört allerdings auch nicht dahin von seiten des Dozenten. Gerade dann nicht, wenn er sich wissenschaftlich mit Politik befaßt, und dann am allerwenigsten" (WaB, 24). Auch als nichtliberal bekannte Autoren befaßten sich mit der Politik vor allem wissenschaftlich. Der politique Jean Bodin war vorrangig Wissenschaftler, wie er 103

auch die Souveränität des französischen Königs betonte. Er ließ keinen Zweifel darüber, daß sogar der mächtige Monarch unter dem Gewohnheitsrecht des Landes steht und zum Wohle der Freiheit der Bürger dessen Vorschriften achten muß. Hobbes litt unter der Zensur des Monarchen, obwohl er in seinen Schriften ihm doch für seine Machtausübung den Rücken stärkte. Man kann die Schilderung seines Lebens durch Aubrey nicht ohne Rührung lesen, zeigt sie doch klar das Gegenüber des Potentaten zum Wissenschaftler. Auch der Wissenschaftler aus Malmesbury dachte bei der Abfassung seines "Leviathan" an den Schutz der Bürger. Der Titel seiner kleineren Schrift von 1656, "The Questions concerning Liberty, Necessity and Chance", zeigt ähnliche Sorge. So war es bei Schmitt, der Hobbes, Bodin und auch den vor beiden kommenden Machiavelli bewunderte und amEndeseines langen Lebens in seiner Abgeschiedenheit sein Haus nach dem Zufluchtsort des Florentiners "San Casciano" benannte. Er, dessen erste Veröffentlichungen Schuld und Schuldarten, Gesetz und Urteil behandelten, wurde, wie Machiavelli, Bodin und Hobbes oft für schuldig befunden und verurteilt, aber wohl falsch behandelt und beurteilt. Wenn er auch den Wert des Staates betonte, so vergaß er doch darüber nicht die Bedeutung des Einzelnen. Vielleicht betonte er denWert des Staates gerade zugunsten der Bedeutung des Einzelnen. Zu gar manchen Überlegungen regt sein überlegenes Werk ja an. Das blieb auch so, als unter Hitler der Staat zugunsten der Partei abgewertet wurde und bei der damit verbundenen Umwertung von Werten jener Parteistaat zustandekam, den Ernst Fraenkel als Doppelstaat bezeichnete. Schmitt war eben zuvörderst Wissenschaftler und in großem Ausmaß Politikwissenschaftler. 6 104

Bodin, Hobbes und Schmitt betonten die Notwendigkeit staatlicher Ordnung zu Zeiten, als diese Ordnung noch nicht exisierte oder gefährdet war. Frankreich war noch nicht geeint und von inneren Wirren geplagt. England drohte zu zerbrechen. Sowohl der Franzose als auch der Engländer wollten staatliche Ordnung zum Wohle der Bürger. Als Schmitt schrieb, war die Freiheit der einzelnen im allgemein akzeptierten liberalen Staat dann derart weit in den Vordergrund getreten, daß dieser Staat, nachdem die Ansichten von Proudhon, Stirner, Bakunin und Nietzsche bekannt geworden waren und man vom fin de siede sprach, immer mehr gefährdet wurde von dem, was Walter Jellinek nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem Seminar über die Formulierung der Menschenrechte als liberalistisch bezeichnete im Kontrast zum bloß Liberalen. Schmitt beklagte das Liberalistische als das Zersetzende/ Den drei Autoren war wohl, so verschieden es unter den jeweiligen Umständen zutage treten mochte, gemein, dem Menschen seine Entfaltungsmöglichkeiten durch die staatliche Ordnung zu sichern. Sieht man nun in den damaligen französischen und englischen Tendenzen Bestrebungen, ein starkes Königtum zu verhindern, das durch seine zentrale und zentralisierende Macht despotisch sein könnte, so kann man in ihnen freiheitliche, liberale Bewegungen sehen, die 6 Carl Schmitt, "Über Schuld und Schuldarten-Eine terminologische Untersuchung", Breslau 1910; "Gesetz und Urteil- Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis," Berlin 1912; "Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen", Tübingen 1914. Ernst Fraenkel, "The Dual State", New York 1940, dt. Ausgabe "Der Doppelstaat", Frankfurt 1974; "Zur Auseinandersetzung mit Carl Schmitt", in "Neue politische Literatur", 1957, Sp. 27-32. Beiden sei an dieser Stelle für ihre Ermutigung und Förderung meiner wissenschaftlichen Arbeiten gedankt. R.l.P. 7 Vgl. meinen Beitrag zur vierten Festschrift für Carl Schmitt, "Rights, Riots, Crimes: On an Aspect of Carl Schmitt's Relevance for Today's Liberal Democracies", in "Revue Europeenne des Seiences Sociales et Cahiers Vilfredo Pareto", XVI (1978), No. 44: Miroir de Carl Schmitt, 77ff.

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in vielem an die Libertät im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation erinnern. Die Bemühungen eines Bodin und eines Hobbes erscheinen dann als solche um einen proper liberalism gegen einen liberalism proper, schon lange bevor das Wort Liberalismus geprägt wurde und der Liberalismus als konkrete geschichtliche Bewegung zustandekam. Das überrascht nicht, denn der Freiheitsdrang ist älter als diese Bewegung, die ohne ihn kaum entstanden wäre. Auch Schmitt, der die Gefahr der Vereinnahmung des proper liberalism durch den liberalism proper gewiß erkannte, sah in staatlicher Ordnung die Voraussetzung für die Existenz und das Gedeihen eines properen Liberalismus. Es erscheint natürlich, daß sich die Politikwissenschaft angesichts der weiten Spanne, die der reine Liberalismus konkreten liberalen Erscheinungen offen läßt, weit auslegen ließ und daß sich das bis heute nicht geändert hat. Man kann hier vor allem zwei Schulen unterscheiden. Einige sahen und sehen in der Politikwissenschaft ein Mittel, die Regierung zugunsten der Regierten zu beschränken, andere dagegen ein Werkzeug, mit dem Regierende sich an der Macht halten und ihre Macht gegenüber Regierten ausnutzen und vergrößern. Nachdem Hobbes dem Liberalismus eine Hintertür offen gelassen hatte, kam es mit der Glorreichen Revolution und den Schriften Lockes zur Bewegung des Liberalismus, die die Politikwissenschaft als Mittel sah, die Macht der Regierung zugunsten der Freiheit der Bürger abzugrenzen und einzuschränken. Mit Locke wurde ja nicht nur ein Höhepunkt von freiheitlichen T endeuzen erreicht, welche bis vor die Magna Charta zurückgehen und von dieser sowie Lord Coke und der Petition of Right betont wurden. Mit ihm nahm auch die als Liberalismus 106

bekannte Bewegung, die bis heute angehalten hat, ihren Anfang. Montesquieu bewunderte das aus der Englischen Revolution hervorgegangene Verfassungswerk, das von William Blackstone im Geiste Lockes kommentiert wurde, als er England bereiste. Die Politikwissenschaft des Franzosen hatte mit ihrer Lehre von der Teilung der Regierungsgewalten und den ihr eigenen checks and balances zugunsren der Freiheit der Bürger einen enormen Einfluß auf europäische V erfassungsentwicklungen. Sie fand sichtbaren Ausdruck in amerikanischen Verfassungen. Um die Ratifikation der 1787 entworfenen Bundesverfassung zu sichern, wurde der "Federalist" verfaßt, in dem, im Anschluß an Montesquieu, Barnilton bzw. Madison in den Essays 9 und 37 auf die Errungenschaft der Politikwissenschaft zur Verhinderung despotischer Regierungen hinwiesen und Madison im 43. Essay Montesquieu als Advokaten der Gewaltenteilung, "this invaluable precept in the science of politics", pries. Man gewinnt den Eindruck "that politics may be reduced to a science", wie ein kurz vorher veröffentlichter Aufsatz von David Hume betitelt war. Schmitt hat auf die Verbindung von Politik und Polizei, die beide "von demselben griechischen Wort Polis abgeleitet sind", hingewiesen (Vorwort BdP, 11 ). Zweifellos war die Politikwissenschaft gegen die Politik des Polizeistaates gerichtet. Insofern kann man sie auch als Polizeiwissenschaft bezeichnen in dem Sinne, daß sie die Aktionen und die Aktivität der Polizei untersuchen und bloßstellen und zum Wohle der einzelnen entsprechend beschränken soll. Der liberale Politologe Robert von Mohl, den Carl J. Friedrich als sein geistiges Vorbild ansah, 8 machte in sei8 Carl J. Friedrich, "Der Verfassungsstaat der Neuzeit", Berlin 1953, vii; "Die politische Wissenschaft", Freiburg 1961, gibt Auszüge aus Werken

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nem 1832 veröffentlichten Werk "Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates" (7, 14) klar, daß die Freiheit des Bürgers das oberste Prinzip ist und der Staat dementsprechend lediglich ein Mittel, diese zu ermöglichen und zu schützen. Diese Auffassung der Politikwissenschaft als eines Mittels zur Sicherung der Menschenrechte gegenüber Machthabern hat bis auf den heutigen Tag ihre Anhänger behalten. Andererseits ist eine Ansicht in den Vordergrund getreten, welche diese Wissenschaft als Werkzeug in der Hand der Regierenden ansieht, ihre Macht gegenüber den Regierten durchzusetzen, zu vergrößern und sich an der Macht zu halten. Sie geht weit zurück. Absolute Herrscher bedienten sich gebildeter Kleriker und Laien als Ratgeber. Colbertismus und Kameralismus kommen in den Sinn. Und 1848 erschien Wilhelm Joseph Behrs "Allgemeine Polizei-Wissenschaftslehre oder Pragmatische Theorie der Polizei-Gesetzgebung und Verwaltung. Zur Ehrenrettung rechtsgemäßer Polizei, mitte1st scharfer Zeichnung ihrer wahren Sphäre und Grenzen". Die Sphäre der Polizei kommt vor ihren Grenzen: man ist darauf bedacht, die Polizei nicht unterzubetonen, sie als etwas Ehrenhaftes herauszustellen und auf ihre Wichtigkeit in einem geordneten Staatswesen hinzuweisen. Der Titel des Behrschen Buches mochte als Polemik gegen den des Mohlschen gedacht gewesen sein. Aber schon Mohl sah mit wachsendem Alter immer mehr dieNotwendigkeitder Polizei. Diese Entwicklung deckt sich etwa mit der in England, wo es von dem von A. V. Dicey vertretenen Liberalismus im Sinne von Adam Smith und Herbert Spencer hinvon Aristoteles, Machiavelli, Althusius, Hobbes, Montesquieu, Hume, Kant, von Mohl, Gaetano Mosca, James Bryce, Max Weber, Arthur F. Bentley, Charles E. Merriam.

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ging zu dem eher sozial orientierten von Ivor Jennings. Sie deckt sich mit der in den USA. Dort ging man von der freien Wirtschaft zum N ew Freedom W oodrow Wilsons, zum New Deal Franklin D. Roosevelts und zur New Frontier John F. Kennedys. 9 Alles entspricht wohl jener "neuen" Politikwissenschaft, die de T ocqueville in der Einführung zu seiner Studie über die Demokratie in Amerika für "eine neue Welt" forderte,- für die neue Welt der Demokratie: eine Politikwissenschaft, die die Handlungsweise der Demokratie bestimmt, deren Politik ihrem wahren Interesse gemäß in die richtigen Bahnen lenkt, die Regierung zeitlichen und örtlichen Umständen anpaßt und diese den Menschen und Gegebenheiten entsprechend ändert. Es ist eine Politikwissenschaft, die der Macht der volonte generate Rousseaus, der Mehrheitsherrschaft im Sinne Lockes dient. Nun ist es durchaus denkbar, daß ein self-government die Menschenrechte schützt. Das ist ja an sich die Ratio der Demokratie. Denkbar ist es aber auch, daß die Mehrheit die Minderheit unterdrückt. Sie kann mit ihren Herrschern, deren und ihrer eigenen Herrschsucht, die Politikwissenschaft zur Verfolgung ihrer Politik, welche auf eine Verfolgung von Dissidenten hinauslaufen kann, benutzen und ausnutzen. Bedenkt man hierzu, daß der Staat von der Regierung einfach als Maschine oder Apparat angesehen und mit der willigen Hilfe von Bürokraten und Technokraten nach Gutdünken dirigiert werden kann, so vergrößert sich das politikwissenschaftliche Potential der Unterdrückung noch. Das trifft nicht nur auf die sogenannten westlichen liberalen Demokratien zu, son9 All diese Regierungsprogramme unseres Jahrhunderts, auch das New Beginning von Präsident Reagan, zeigen die Vielfalt liberaler Varianten und Variationen, an denen das "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" so reich ist.

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dern auch auf sogenannte Demokratien totalitärer Staaten. Alle beweisen die These Tocquevilles vom unaufhaltsamen, wenn ihm auch unerwünschten Vormarsch der Demokratie. Diesem Vormarsch entspricht es auch, wenn sich die Bürger entsprechend der Politikwissenschaft bedienen, um staatlichen Unterdrückungen antistaatliche Drückebergereien entgegenzusetzen. Einer Politikwissenschaft als Mittel der Regierenden, Regierte zu unterdrücken, steht also eine solche als Werkzeug der Regierten, sich vor ihren Verpflichtungen den Regierenden gegenüber zu drücken, gegenüber, GehorsamverlangenGehorsamverweigerung. So dient die Politikwissenschaft allen freiheitserheischenden Menschen, unbeschadet ethischer, moralischer oder anderer Hemmungen, etwas für sich gegen andere zu erreichen. 10 Die weitgehenden Möglichkeiten von Auswertungen und Ausnutzungen der Politikwissenschaft sind noch dadurch erweitert worden, daß sich eine "wertfreie" Politikwissenschaft entwickelt hat. Diese hat sich darauf konzentriert, den seit Mitte des 19. Jahrhunderts rapide anwachsenden Stoff der Politik empirisch zu untersuchen. Das hatte eine immer größere Spezialisierung zur Folge, so daß Weher äußern konnte, eine wirklich tüchtige und endgültige Leistung sei heute stets eine Spezialistische (WaB, 11 f.). Diese Spezialisierung läuft etwa parallel zur Amerikanisierung des wissenschaftlichen Betriebes und reflektiert dessen zunehmende Liberalisierung, denn Amerikanisierung bedeutet Liberalisierung. Da kam es dann weniger darauf an, an ethische oder moralische Erfordernisse der Politik zu denken, sondern einfach darauf, ohne Hemmungen das oft hemmungslose Verhalten der poli10

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Vgl. mein "Reiner Liberalismus", Tübingen 1985.

tisch Tätigen, ob sie nun Regierende oder Regierte waren, zu erforschen und bloßzustellen, damit diese sich wappnen konnten zum Erreichen ihrer Ziele. Es ist vielleicht bezeichnend, daß ein klassischer amerikansicher Vertreter dieser neuen Richtung, Charles E. Merriam, der bei Gustav Schmoller hörte und Werke wie "Political Power" (1934) und "Systematic Politics" (1945) veröffentlichte, auch aktiver Politiker war in der Stadt Chicago sowie auf Bundesebene. Immer mehr verdrängten behavioralist Wissenschaftler ihre normative Kollegen. Immer weniger wurde danach gefragt, was denn bei Regierungen und Regierten zu bemängeln sei und wie denn gute Herrscher und gute Bürger sich zu verhalten hätten. Vielmehr untersuchte man, wie sich die Menschen verhalten, um herauszufinden, wie sie dirigierbar und manipulierbar sind. Immer mehr wurde die Politikwissenschaft zu einem bloßen Rechenexempel politischer Spekulation, die Nietzsches Verdammung der Statistik ins Gedächtnis zurückrief. Voegelin sprach von der "Degradierung der politischen Wissenschaft zum Handlanger bestehender Mächte" . 11 Er hatte wohl regierende Machthaber im Sinn, aber man muß zu diesen Mächten auch die Bürger rechnen, jedenfalls in den sogenannten liberalen Demokratien. Ob die von ihm angeregte Neue Wissenschaft von der Politik, die vielleicht als Antwort auf die von T ocqueville vorgeschlagene verstanden werden sollte, sich in einer vom Freiheitsdrang erfüllten Zeit durchsetzen wird, bleibt offen. In der Festschrift für Voegelin lobte Arnold Brecht gleich am Anfang seines Beitrags "Die Tröstungen der strengen Wissenschaft" des Jubilars ungeniertes Bekenntnis zur Gottesidee. Die Politikwissenschaft alsWeg zu Gott? Weber hielt 11

Eric Voegelin, "The New Science of Politics", Chicago 1952,2.

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das nicht für möglich. Er sah ja in der Wissenschaft "die spezifisch gottfremde Macht" (WaB, 21). Wir wissen es nicht. Wenn auch bisher niemand bewiesen hat, daß es Gott gibt, so hat auch niemand das Gegenteil gezeigt. Die Zeiten, in denen man die Existenz Gottes bezweifelt hat, sind recht kurz. Selbst in ihnen gab und gibt es wohl mehr Menschen mit dem Glauben an Gott als solche ohne ihn. Wie dem auch sei, könnte der vorangehende Versuch zeigen, daß sich die Politik nicht auf eine Wissenschaft reduzieren läßt, s,o sehr Wissenschaftler auch versucht haben, sie zu reduzieren. Besond~rs zu einer Zeit, in der man dem reinen Liberalismus zufolge immer mehr zur reinen Politikwissenschaft vordringt, aber auch zur reinen Politik, dürften Wissenschaften es nicht vermögen, der Politik zu entrinnen.