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German Pages [612] Year 2012
Ulrich Renz
Schönheit Eine Wissenschaft für sich
Die gedruckte Originalausgabe erschien 2006 im Berlin Verlag, Berlin, die Taschenbuchausgabe 2008 im Verlag Bloomsbury, Berlin
Die vorliegende Ausgabe ist um ein Kapitel (Kap. 13 der Originalausgabe) gekürzt
© dieser Ausgabe: Ulrich Renz, November 2012 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Mirjam Bödeker, Lübeck
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Um den Lesefluss nicht unnötig zu stören, sind im Text nur wenige Endnoten eingefügt – nämlich diejenigen, die für den Laien von unmittelbarem Interesse sind. Alle anderen Anmerkungen, Kommentare und Quellenangaben finden Sie unter der Rubrik „Fußnoten“ auf der Homepage www.schoenheitsformel.de, die dieses Buch begleitet. Dort findet sich auch die Liste der verwendeten Fachliteratur sowie Empfehlungen für weiterführende Literatur.
Dank
Der Rohstoff dieses Buches sind die Erkenntnisse, die Wissenschaftler rund um den Globus erarbeitet haben. Ihnen allen sei gedankt, allen voran denjenigen, die mir ihre Zeit zum Gespräch geschenkt haben. Bei meinem Bruder, Herbert Renz-Polster, bedanke ich mich für die Hartnäckigkeit, mit der er dem Manuskript zu Leibe gerückt ist; bei meinem Sohn, Paul Bödeker, für die Gestaltung der buchbegleitenden Website; und bei meiner Frau, Kirsten Bödeker, für ihr Talent im Umgang mit Text und Autor.
Inhaltsverzeichnis Eine Warnung vorweg
Erster Teil Die Suche nach der Schönheitsformel
1 Alles Ansichtssache? Schönheit – Lust und Laster Mittelalter: Schönheit zwischen Körper und Geist Renaissance: Schönheit ohne Wenn und Aber Pariser Arsch und Hühnerkorb Bürgerliches Zeitalter: Die Erfindung des schönen Geschlechts Vom schönen zum schwachen Geschlecht Problemfall schöner Mann Lässt sich Schönheit messen? Hot or Not? Wir sind uns (ziemlich) einig Wie Kinder Schönheit sehen
Universales Schönheitsradar? Der Körper als Gesamtkunstwerk: Die Macht der Mode
2 Schönheit – nichts als Durchschnitt? »Attraktive Gesichter sind nur Durchschnitt« Schönheit im Donau-Einkaufszentrum Oberflächliche Schönheit? Goldstandard Symmetrie? Symmetrie gegen Durchschnitt Schönheit – mehr als Durchschnitt Verschärft schön Verführung Volljähriger Wie viel Bambi gehört in die Schönheitsformel? Reife Frauen Kind, Frau, Freund. Auf die Mischung kommt es an Fenster zur Seele Was den Mann schön macht Der Mörder im Mann Frauen wollen mehr Widerspenstige Schönheit
Das Geheimnis
3 Schönheit im Kopf Die Sprache des Gesichts Gefühlvoller Mandelkern Mit den Augen fängt alles an Die Schokoladenseite Die verborgenen Bahnen der Schönheit Schönheit belohnt Schönheit, Koks und Kant Im Auge der Schönheit Mensch, nur ein Lächeln …
4 Kurvenreiche Schönheit. Wie viel Fett enthält die Schönheitsformel? Durch dick und dünn Die Geburt des fettfreien Menschen Der Motor der Mode Die magische 0,7 Traumbodys
Rätsel Busen Von Größe und Hoheit Lange Beine – kleine Füßchen Vornehme Blässe Warum blond sexy ist
Zweiter Teil Warum es Schönheit gibt
5 Sex, Lügen und Sekundenkleber Darwins Rätsel Überleben der Schönsten Seit wann gibt es eigentlich Schönheit? The trend is your friend Wo bleibt die Qualität? Noch mal: Symmetrie Ehrlich währt am längsten Der Umweg ist das Ziel Der Preis der Schönheit Vernunft gegen Geschmack? Der nackte Affe
6 Sapiens mal wieder die Ausnahme? Männer ticken anders. Frauen auch Die Qual der Wahl Das schöne Geschlecht Schönheit ist (zuallererst) weiblich Zyklische Schönheit Gute Gene – für jeden etwas anderes Wie riecht Schönheit? Immer der Nase nach Der Netrebko-Effekt
7 Schönheit – nur ein Vorurteil? Kontrastprogramm Was hinter dem Durchschnitt steckt Was der Bauer nicht kennt … Das Prinzip Übertreibung Gipfelverschiebung macht die Welt bunter Evolution nach Art der Mode Hühnchen bevorzugen schöne Menschen
Ist Schönheit vielleicht nur die Abwesenheit von Hässlichkeit? Gesichter können täuschen Geist gegen Materie
8 Schöne Theorien? Blonds have more fun Noch mal: Gute Gene Symmetrisch liebt sich’s schöner? »Warum die Schönen intelligenter sind« Die Spur der Hormone Busenhandicap Schlechte Gene Passende Gene? Reine Mode? Multikulti-Runaway Bruttoschönheitsprodukt Warum (menschliche) Schönheit weiblich ist »Schönheit ist Macht« Schönheit ist mehr
Dritter Teil Schön und gut
9 Den Schönen gibt’s der Herr im Schlaf Halo-Effekt und andere Peinlichkeiten Wie viele Küsse Kinder kriegen Schöne bekommen bessere Noten Im Zweifel für die Schönen Hilf dir selbst – oder sei schön Verkaufstalent Schönheit
10 Schönheitskapitalismus Warum Schöne mehr Urlaub machen Warum Schönheit zählt Hünen in Nadelstreifen Kennedy, Condi & Co.: Warum wir Schönheit wählen Weshalb die Reichen die schöneren Kinder haben Bonität durch Attraktivität Anatomie einer Klassengesellschaft Das bevorzugte Geschlecht
Das Martyrium der Hässlichen Der Mensch und seine Monster
11 Selbsttäuschung als Programm? Schön und gut. Die Geschichte eines Missverständnisses Mittelalter: Schönheit wird göttlich – und gefährlich Kreuzzug gegen die Schönheit Andere Völker, andere Sitten? Nichts als Worte? Mentaler Mixer – von Kindesbeinen an Der Wert der Verwechslung Wissen hilft
12 Schön, smart und glücklich? Vorurteil oder traurige Wahrheit? Ein Körnchen Wahrheit? Warum sind die Schönen besser? Von Schönheit unbeeindruckt? Eine Frage der Stichprobe? Macht Schönheit glücklich?
Die dunkle Seite des Stereotyps Problemfall Superschöne Bin ich gemeint? Bei dir bist du schön
Vierter Teil Und erlöse uns von der Schönheit?
14* Ausweitung der Problemzone(n) Forever young Zur Knechtschaft befreit? Der medial-industrielle Komplex Wie neue Krankheiten entstehen Schönheit auf allen Kanälen Vergleichsweise hässlich? Glücksphantasie Schönheit Eine einzigartige Macke?
15 Schönheit in Zeiten ihrer Machbarkeit Schön gemacht Schönheit aus der Retorte
Schönheit im digitalen Zeitalter Der Fall Sloggi Öfter mal was Neues Schöner Mann ante portas? Schöner, schlanker, jünger?
16 Jenseits des Schönheitswahns Das unbarmherzige Geschlecht Aber irgendjemand muss doch schuld sein! Und wennschon? Schönheit – ein Spiel Die Schönheitsfalle Die hohe Kunst der Schönheitsabwehr Aufruhr in der Luft Schönheit, Trauer und Tod
Bildnachweis
Anmerkungen
Eine Warnung vorweg Flughafen Detroit, eine Wartehalle wie überall auf der Welt: viel Gewusel und Lärm, Krawattenmenschen, ein paar Urlauber. Leute, die nichts wie weg wollen. Lange Reihen von Plastiksitzen, unterbrochen von Tischchen mit braunen Glasplatten, darauf volle Aschenbecher. Ja, Aschenbecher: Wir befinden uns mitten in den siebziger Jahren. Ein Herr mit Hut steht von seinem Sitz auf und geht zu einer der Telefonzellen im Hintergrund. Als er die Tür öffnet, fällt sein Blick sofort auf den Klarsichthefter auf der Ablage. Er nimmt ihn zur Hand und blättert darin. Offenbar handelt es sich um die Bewerbung einer Highschool-Absolventin um einen Studienplatz im Fach Psychologie. Obendrauf auf die Mappe ist eine handschriftliche Notiz geheftet: »Lieber Papa, ich wünsch dir eine gute Reise! Bitte denk daran, die Bewerbung noch vor deinem Flug abzuschicken. Deine Linda.« Nachdem er seinen Telefonanruf erledigt hat, schaut der Herr noch einmal kurz auf das Passbild auf dem Lebenslauf und nimmt die Unterlagen – unter denen sich wie durch ein Wunder auch ein frankierter Briefumschlag befindet – an sich. Er hat noch genug Zeit, um sie im Postamt des Flughafens aufzugeben. Was der Mann mit dem Hut nicht weiß: Er nimmt gerade an einem psychologischen Experiment teil. Und genauso wenig weiß er, dass an diesem Tag noch 502 andere Passanten irgendwo auf dem Detroiter Flughafen in herrenlosen Bewerbungsmappen blättern, die alle absolut identisch sind: gleicher Name, gleiche Adresse, gleiche Zeugnisse – nur das Foto ist jedes Mal ein anderes. Manche Mappen werden
zurückgeschickt, andere nicht. Hinter der angegebenen Adresse steckt kein anderer als der Mann, der den ganzen Betrug organisiert hat: Richard Lerner, ein Sozialpsychologe von der Eastern Michigan University. Zusammen mit seinen Kollegen will er die Frage klären: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Attraktivität der Bewerberin und der Rücklaufquote? Die Antwort steht ein paar Monate später im Journal of Experimental Social Psychology: je schöner das Gesicht auf dem Foto, desto hilfsbereiter sind die Geister.
Willkommen im Reich der Attraktivitätsforschung. Die Gruppe um Richard Lerner gehört zu einem kleinen Kreis von Pionieren, die unser Aussehen als wissenschaftliches Thema entdeckt haben. Heute hat Schönheit – unter ihrem akademischen Pseudonym »physical attractiveness« – Konjunktur in der Forschung. Jedes Jahr erscheinen Hunderte von wissenschaftlichen Publikationen in allen nur erdenklichen Disziplinen. Auf den kommenden Seiten werden Sie die wichtigsten Ergebnisse der Attraktivitätsforschung kennen lernen. Ich werde Sie durch ein Forschungsgebiet führen, dessen Erkenntnisse ein vollkommen neues Bild eines uralten Rätsels zeichnen. Wir werden bei unserer Erkundung durch viele Provinzen kommen, die unterschiedlichsten Gedankengebäude besichtigen, in Zement gegossene Theorien, waghalsige Hypothesen und luftige Spekulationen. Ab und zu werden wir uns für eine Verschnaufpause hinsetzen und darüber nachdenken, was Schönheit mit uns selber und unserer Gesellschaft zu tun hat. Warum ist Schönheit so wichtig? Was ist vom Schönheitskult unserer
Tage zu halten? Waren andere Epochen weniger schönheitsfixiert?
Aber Achtung. Schönheit ist kein Stoff wie jeder andere. Sie kommt mit einem langen Beipackzettel. Als vor fünf Jahren die Idee zu diesem Buch so weit gediehen war, dass ich sie probehalber in einem privaten Literaturkreis vorstellen konnte, erlebte ich hautnah mit, was für eine Sprengkraft in dem Thema liegt. Die Reaktionen reichten von Begeisterungsstürmen bis zu zugeschlagenen Türen. Zurück blieb eine erste Ahnung davon, dass es gute Gründe gibt, kein Buch über Schönheit zu schreiben. Schönheit ist vermintes Gelände. Schon die Tatsache, dass die einen sie haben und die anderen nicht, macht die Sache brisant. Dass ihr Besitz gänzlich unverdient ist, macht alles noch schlimmer. Mit welchem Recht bekommt eigentlich ein hübsches Kind in der Schule mehr freundliche Worte, Zuwendung und bessere Noten? Ein gut aussehender Einbrecher vor Gericht eine mildere Strafe als einer mit weniger angenehmem Äußeren? Eine schönere Patientin mehr Aufmerksamkeit von ihrem Arzt? Schönheit ist ein Affront gegen einen unserer heiligsten Werte: dass alle Menschen mit den gleichen Chancen ins Leben starten. Ein Affront auch gegen unseren Verstand. Im Bannkreis der Schönheit werfen wir Vernunft, Kritikfähigkeit und Menschenkenntnis mit einem Jubelschrei über Bord. Schönheit täuscht, und wir lassen uns täuschen. Nicht auf
Herzensgüte, Charakterstärke, Treue oder Originalität bauen wir unser Urteil über unsere Mitmenschen, sondern allzu oft auf die bloße Verpackung drum herum, die alleräußerlichste aller Äußerlichkeiten, von der wir nicht einmal benennen können, was ihren Reiz eigentlich ausmacht, und die uns trotzdem mit der Macht einer Naturgewalt anzieht.
Schönheit ist ein Skandal. Kein Wunder, dass wir uns um Distanz bemühen. »Schönheit liegt im Auge des Betrachters«, sagen wir gerne und meinen es durchaus ernst. Hat nicht jeder Mensch seine eigenen Vorstellungen von Schönheit? Und ist nicht jeder Mensch auf seine Weise schön? Ist Schönheit nicht reine Ansichtssache? Wenn ich die Antwort der Attraktivitätsforschung hier schon vorwegnehme, dann deshalb, weil sie für das Fachgebiet – und dieses Buch – von zentraler Bedeutung ist. Wie sollte man sich über etwas verständigen, was jeder anders sieht? Die Antwort der Wissenschaft lautet klipp und klar: Schönheit ist alles andere als relativ. Quer durch alle Schichten der Gesellschaft, durch alle Kulturen und Kontinente, unabhängig von Alter, Beruf oder Geschlecht – überall werden dieselben Gesichter als attraktiv wahrgenommen. Natürlich gibt es Geschmacksunterschiede, Moden und Marotten. Es gibt nicht ein Schönheitsideal, sondern sechs Milliarden. Sie überschneiden sich jedoch in erstaunlichem Maße. Sie enthalten einen gemeinsamen »harten Kern«, einen universalen Konsens, der alle Zeiten und Kulturen verbindet. Auch wenn sich die Dialekte der Schönheit unterscheiden, ihre Sprache ist immer und überall dieselbe.
Dieser Befund liegt denkbar quer zur allgemein verbreiteten Weltsicht, vorneweg der feministischen. Die Frauenbewegung hatte die bislang radikalste Antwort auf den Skandal der Schönheit gefunden: Sie erklärte Schönheit zu einer Erfindung – einem Mythos, von den Männern in die Welt gesetzt, um Frauen auf ihre Rolle als Lustobjekt festzunageln (und dabei perfiderweise noch Geld zu verdienen, indem sie ihnen Schminke und Dauerwellen verkaufen). Die Ergebnisse der Attraktivitätsforschung – die übrigens zu einem großen Teil von Wissenschaftlerinnen betrieben wird – unterstützen diese These nicht. Schon ein nur wenige Tage altes, vom Patriarchat noch nicht beeinflusstes Baby blickt ein schönes Gesicht länger an als ein weniger schönes. Ein weiterer Grund, warum Schönheitsforschung lange Zeit der Geruch von politischer Unkorrektheit anhing, hat mit einem Brille tragenden Ameisenforscher von der Universität Harvard zu tun. Edward O. Wilson veröffentlichte 1975 ein drei Kilo schweres Buch mit dem Titel Soziobiologie, in dem er das tierische Sozialverhalten aus dem Blickwinkel der Evolutionstheorie beschreibt. Das Werk hätte sich wohl einer ruhigen Zukunft in den Regalen der Universitätsbibliotheken erfreut, wenn der Autor es sich hätte verkneifen können, in einem Kapitelchen am Schluss des Werkes auf ein paar Aspekte menschlichen Sozialverhaltens einzugehen – beispielsweise Inzestvermeidung, Geschlechterrollen und Altruismus. Seiner Ansicht nach ließen sich auch diese Verhaltensweisen biologisch erklären. Was für unsere heutigen Ohren recht harmlos klingt, war seinerzeit reines Plutonium – eine Kampfansage an den unter Sozialwissenschaftlern herrschenden Konsens, wonach soziales Verhalten ausschließlich erlernt ist. Jede Deutung menschlichen Verhaltens aus seinen Erbanlagen galt – in
Reaktion auf Hitlers Rassenwahn und MenschenzuchtPhantasien – als verpönt und reaktionär.
Was hat unser Ameisenforscher nun mit Schönheit zu tun? Ziemlich viel. Das inkriminierte Kapitel war der Startschuss für eine neue Disziplin, die sich für die Schönheitsforschung als außerordentlich fruchtbar erweisen sollte: die Evolutionspsychologie. Von nun an war Schönheit – vorher fast ausschließlich von Psychologen beackert – auch ein biologisches Problem. Die Evolutionspsychologie ging über das Beschreiben von Zusammenhängen (beispielsweise zwischen der Attraktivität eines Menschen und der Anzahl seiner Sexualpartner) hinaus und fragte nach dem evolutionären »Sinn« hinter den Daten. Welchen Vorteil hatten unsere Vorfahren von einem geschärften Schönheitssinn? Das neue Fachgebiet brachte schon bald die ersten zusammenhängenden Theorien der Schönheit hervor, deren Stichhaltigkeit zwar nicht immer mit ihrer Originalität mithalten konnte, die aber in jedem Fall frischen Wind in die Schönheitsdebatte brachten. Inzwischen hat sich der Streit um das »angeborene« und »erlernte« Sozialverhalten etwas entschärft. Trotzdem zieht sich der Marianengraben zwischen den Denkschulen bis heute durch alle Wissenschaftsgebiete, die sich mit menschlichem Verhalten beschäftigen. Selbstverständlich kommen in diesem Buch beide Seiten zu Wort. Zu einem aktuellen Gesamtbild der Schönheit tragen alle an ihrer Erforschung beteiligten Fachgebiete bei, von den Sozialwissenschaften über die Evolutionsbiologie bis zu den Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften. Wer einfache Erklärungen aus einem ideologischen Guss sucht, wird enttäuscht sein. Wer neugierig ist, die verschiedenen
Schubladen aufzuziehen und in ihnen zu stöbern, wird auf seine Kosten kommen.
Dieses Buch wendet sich an Laien. Ich habe es jedoch in der Überzeugung geschrieben, dass auch ein allgemein verständliches Buch nicht unwissenschaftlich sein muss. Seriosität und leichte Schreibe sind keine Gegensätze. Ich habe deshalb alle Fakten, Hypothesen und Argumente mit Verweisen auf die Fachliteratur untermauert. Um den Lesefluss jedoch nicht unnötig zu stören, sind im Text nur wenige Anmerkungen mit Ziffern markiert, die auf Endnoten verweisen – nämlich diejenigen, die für den Laien von unmittelbarem Interesse sind. Alle anderen Anmerkungen, Kommentare und Quellenangaben finden Sie auf der Homepage www.schoenheitsformel.de unter der Rubrik „Fußnoten“ – kapitelweise geordnet. Dort finden sich auch die Liste der zitierten Fachliteratur sowie eine Zusammenstellung von Literaturempfehlungen.
Bevor wir uns nun aufmachen, muss ich noch definieren, wie ich den Begriff »Schönheit« in diesem Buch verstehe und verstanden haben will. Nach allem, was Sie bisher gelesen haben, wissen Sie schon, dass es um die menschliche Schönheit geht – um unseren Körper und unser Gesicht. Es geht nur am Rande um die Schönheit von Kunstwerken, und es geht nicht um allgemeine Theorien des Schönen, wie sie unter der Flagge »Ästhetik« durch die Philosophie segeln. Schönheit nur körperlich? Ist das nicht ein bisschen wenig? Wo bleibt die »innere Schönheit«, von der die Rede geht, sie sei die bessere Schönheit?
Selbstverständlich ist das, was uns an einem Menschen anzieht, mehr als sein bloßes Aussehen. Haltung, Gestik, Mimik, Stimme, Geruch, Lebendigkeit, Witz, Mitgefühl, Intelligenz tragen mindestens genauso viel zur Anziehungskraft eines Menschen bei wie die Optik. Manche Schönheit verflüchtigt sich in dem Moment, wo der oder die Schöne den Mund aufmacht. Diese Faktoren werden zwar alle berührt und berücksichtigt, aber der Schwerpunkt des Buches liegt auf der körperlichen Schönheit. Dieses Buch handelt vom Äußeren und nicht vom Inneren.
Warum wurde dieses Buch geschrieben? Mit dieser Frage ist es Zeit für ein Geständnis. Schönheit hat mich erwischt, spätestens, seit ich zum ersten Mal das Märchen von Schneewittchen vorgelesen bekommen habe. Schönheit hat mich in Bann geschlagen, sie berührt mich und beglückt mich. Aber genauso quält sie mich auch, denn sie macht mich unfrei, närrisch, kindisch. Mit diesem Buch habe ich versucht, hinter ihren Zauber zu kommen. Hat er dadurch an Macht eingebüßt?
Dass ich nicht lache.
Lübeck, im Februar 2006
Erster Teil Die Suche nach der Schönheitsformel
1 Alles Ansichtssache? In jeder Diskussion über Schönheit kommt früher oder später (meist früher) der empörte Ausruf: »Aber Schönheit ist doch relativ!« Ein Einwurf, der sich der breitesten Zustimmung sicher sein kann. »Stimmt«, hört man dann, »jeder ist auf seine Art schön.« Oder: »Schönheit liegt doch im Auge des Betrachters.« – »Geschmackssache …« – »Der eine mag blond, der andere braun, der eine Dünne, der andere etwas Mollige …« Bei diesem Stichwort wird in aller Regel Rubens in Stellung gebracht: »Früher konnten die Frauen nicht drall genug sein …« Geht die Diskussion nicht in allgemeinem Kopfnicken unter, wird zum Abschluss gern noch eine Wunderkerze angezündet: »Schönheit kommt sowieso von innen.« Damit scheint alles gesagt. Alles? Die besten Argumente fehlen sogar noch: die affigen Perücken des Barock, die leichenblasse Haut des Rokoko, die mit Pfählen durchbohrten Lippen der Amazonas-Indianer, die abgefeilten Schneidezähne der Aborigines. Die Schönheitsformel scheint reichlich Variablen zu enthalten. Ist Schönheit also reine Ansichtssache?
Dass die Antwort am Ende klipp und klar »nein« lautet, habe ich schon im Vorwort verraten. Warum sie nein lautet, ist die eigentlich spannende Geschichte. Bevor wir uns jedoch in die Labors der Forscher begeben, nehme ich Sie mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Wer nach Antworten sucht, ist gut beraten, erst einmal dort zu stöbern, wo er herkommt.
Fangen wir mit den alten Ägyptern an. Nicht, weil sie etwa die Schönheit erfunden hätten, sondern weil ihr Schönheitssinn so reichhaltige Spuren hinterlassen hat. Mitten in Berlin steht die Büste der Nofretete (deren Name so viel bedeutet wie »die Schöne ist gekommen«); sie ist heute noch genauso das Sinnbild der Schönheit, das sie vor über drei Jahrtausenden am Nil war. Zu ihrer Zeit blühte im Land der Pyramiden ein regelrechter Schönheitskult. Auf Wandmalereien sehen wir junge Mädchen von exquisiter Anmut, mit übergroßen Glutaugen, vollen Lippen und kleinen, hochsitzenden Brüsten (s. Abb. 1). Der Schönheitskanon der ägyptischen Aristokratie bevorzugt Schlankheit, Klarheit und starke Kontraste. Beide Geschlechter sind am ganzen Körper enthaart, tragen dunkle Langhaarperücken und dickes Make-up, die Brauen sind ausgezupft und mit einem schwarzen Strich nachgezeichnet, die Augen mit Kohle abgesetzt, die Lippen rot geschminkt. Die Figur wird durch eng anliegende Kleidung aus plissiertem Leinen betont. Männer tragen Lendenschürze, auch sie sind schlank und haben mit ihren glatten Gesichtern etwas Mädchenhaftes – denken wir nur an Nofretetes Mann Amenophis IV., der sich später Echnaton nennen lässt; oder an Tutenchamun, seinen Schwiegersohn, dessen goldene Totenmaske das besitzt, was die Ägypter als Schönheit definierten: »Eine Ausstrahlung, die im Betrachter Liebe erzeugt.«
Abb. 1: Ägyptischer Maler um 1400 v. Chr.: Sängerinnen und Tänzerinnen (Detail). London, British Museum.
Schönheit – Lust und Laster
Die Griechen sehen Schönheit nicht anders: Sie ist die Voraussetzung und der letzte Grund der Liebe. Wobei zumindest der männliche und noble Grieche in Sachen Liebe vielseitig ist. Zu den zahlreichen Adiaphora, den Gleichgültigkeiten des Daseins, zählen die Stoiker auch den Unterschied des Geschlechts. Die Ehe wird als ausschließlich wirtschaftliche Angelegenheit betrachtet, deren Geschäftszweck die Mehrung von Vermögen und Kinderzahl ist. Für den Spaß im Bett ist die Hetäre oder eine der Sklavinnen zuständig. Romantische Liebe gibt es nur mit Knaben.¹ »Wer sich in ein Weib unter ähnlichen Symptomen verliebte wie in einen Geschlechtsgenossen, galt … für einen von der Gottheit zu seinem Unheil verblendeten Liebhaber«, schreibt Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit. Allerdings handelte es sich hier – wie bei allem anderen, was wir heute als die »griechische Kultur« bezeichnen – um die Sitten und Gebräuche einer hauchdünnen Schicht von Müßiggängern in einer feudalen Sklavenhaltergesellschaft. Das Gefühlsleben der breiten Masse war mit Sicherheit ein völlig anderes. Im Olymp wiederum hält man es wie die irdische Schickeria. Gottvater Zeus ist bi. Ganymedes, nach Homer »der Schönste aller sterblichen Menschen«, wird von Zeus (der sich für diese göttliche Kommandosache in einen Adler verwandelt) in den Olymp entführt und zu seinem Mundschenk und Geliebten gemacht. Die Sitten im alten Athen sind denkbar freizügig. Schönheitswettbewerbe unter (nackten) Männern sind an der Tagesordnung. Überhaupt ist Nacktheit nicht im
Geringsten tabuisiert, bei Männern anscheinend noch weniger als bei Frauen – Hauptsache schön.
Was für ein Unterschied zur Bibel. Das Hohelied des Salomo (»Dein Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt«) wirkt wie ein vergessenes Lustgärtchen in einer unwirtlichen Wüstenlandschaft. Schönheit ist im Alten Testament vor allem ein Zeichen der Auserwählung. Über Saul heißt es: »Es war kein Mann unter den Söhnen Israels so schön wie er.« Und über David: »Er war von schöner Gestalt und der Herr war mit ihm.« Joseph ist vor seinen Brüdern für alle sichtbar durch seine Schönheit ausgezeichnet. Auch schöne Frauen kommen vor – etwa Rebekka oder Rahel, derentwegen Jakob vierzehn lange Jahre bei seinem Schwiegervater Laban dient. Aber ihre Schönheit wird nur angedeutet. Rebekka war »schön von Gestalt«, mehr wird nicht verraten. Im Neuen Testament ist dann vollends Sendepause. Nicht nur die Schönheit, sondern überhaupt das Äußere der handelnden Personen scheint keinerlei Rolle mehr zu spielen. Kein Wort über das Aussehen Jesu. Auch die in der christlichen Ikonographie später so wichtigen Frauengestalten Maria, Maria Magdalena oder Salome sind gesichtslos. Mit dem Ende der antiken Welt und der Machtübernahme des Christentums scheint der Körper abhanden gekommen zu sein. Fortan zählt nur der Geist. Auf frühmittelalterlichen Bildern ist vor lauter Heiligenschein kaum noch Platz für den Rest. Der menschliche Körper wirkt unwirklich und mickrig, für ein ganzes Jahrtausend verliert er in der Kunst seine Lebensechtheit.
Mittelalter: Schönheit zwischen Körper und Geist
Aber das Mittelalter wäre nicht Mittelalter, wenn es nicht in sich widersprüchlich, anarchisch wäre. Neben der »offiziellen«, selbst von der Kirche nie konsequent durchgehaltenen Leibfeindlichkeit steht eine krude Körperlichkeit, ein untergründiger Hang zu Ausschweifung und Genuss. Im Weltbild des mittelalterlichen Menschen ist Platz für scharfsinnige Rationalität und dunkelsten Obskurantismus, Askese und Exzess, Schönheitsverachtung und Schönheitsverehrung.² Diese Widersprüchlichkeit lässt sich selbst an der Mode ablesen. Nüchterne Strenge wechselt sich mit einer Farbenpracht und Opulenz ab, gegenüber der die Antike mit ihren immer gleichen Tuniken und Stolen geradezu einfältig wirkt. Die wildesten Kapriolen schlägt das 14. Jahrhundert: Die Frau trägt kreisrunde Löcher im Gewand, durch die ihre nackten Brüste zu sehen sind. Der Mann geht – nein, watschelt – in Schnabelschuhen, deren Spitzen bis an die Knie reichen und dort mit Schnüren befestigt werden müssen. Dazu trägt er ein aus knallbunten Flicken bestehendes Gewand, das mit Schellen behangen ist, und im Schritt stellt er ein pralles Penisfutteral zur Schau. Ein Jahrhundert später zupft sich die Frau von Welt die Haare am Haaransatz aus, um eine möglichst hohe Stirn präsentieren zu können. Schon im 12. Jahrhundert blüht in der höfischen Ritterszene ein denkwürdiger Schönheitskult in Form des Minnesangs. Die Frau ist darin ein höheres Wesen, zart und rein, »ein Stück Märchen im Dasein«, ein Anbetungsgegenstand. Der Mann dagegen: ein ungehobelter Klotz, der durch den
»Liebesdienst« an der unerreichbaren Schönen veredelt wird. In den höfischen Romanen des Hochmittelalters wird die weibliche Schönheit in den immer gleichen Formeln beschrieben. Vor allem muss die Schöne blond sein (im Englischen wird »fair« zum Synonym für »beautiful«), die Haut »weißer als Silber oder Kristall«, der Mund rot, eher klein, lächelnd, die Wangen rosa. Die Augen sind idealerweise blau, vor allem aber: strahlend. Auch beim Mann ist weiße Haut als Zeichen der edlen, also müßigen, Lebensart obligat. Dazu kommen eine schmale Taille, eine breite Brust und starke Arme, lange Beine und kräftige Waden. Wenn er den Helm abnimmt, fallen seine goldenen Locken über die Schulter. Seine blauen Augen blicken wild und stolz um sich.
Abb. 2: Petrus Christus: Porträt eines jungen Mädchens, um 1470 (Berlin, Gemäldegalerie). Offenbar sind nicht nur die Haare an der Stirn gezupft. Auch die Augenbrauen und Wimpern wirken stark dezimiert.
Renaissance: Schönheit ohne Wenn und Aber
Mit der Renaissance wird Schönheit diesseitig, fleischlich. Raffaels Madonnen sehen aus, als hätten sie gerade geliebt. Mit den Idealen der Antike hält der Körper wieder Einzug, und zwar der nackte Körper. Es wird nach realen Modellen aus Fleisch und Blut gemalt, individuelle Schönheiten, beseelte Gesichter, keine Ikonen. Im Appartamento Borgia im Vatikan arbeitet Pinturicchio die Geliebte des Papstes Alexander VI. in sein Fresko ein – ausgerechnet als Jungfrau Maria bei der Verkündigung.
Wie sieht sie nun aus, die perfekte Schönheit der Renaissance? Vor allem muss der Körper den wiedergeborenen klassischen Proportionsidealen entsprechen. 1496 wird in Rom die altgriechische Statue des Apollo Belvedere entdeckt, vermessen und schnell zum Maß aller Dinge. Vitruvs De architectura, die einzige aus der Antike überlieferte Schrift zur Proportionslehre, feiert ein triumphales Comeback. Ihr zufolge passt der »Homo bene figuratus«, der wohlgeformte Mensch, in die »perfekten« Formen von Kreis und Quadrat hinein (siehe Abb. 3). Leonardo zerbricht sich über die »richtigen« Proportionen jahrzehntelang den Kopf, und auch seine Kollegen arbeiten sich am antiken Musterkatalog ab. 1532 veröffentlicht Dürer seine Vier Bücher von menschlicher Proportion, in denen er die kanonischen Figuren aus der Antike in die christliche Bilderwelt transponiert – Jesus soll als die »schönste Gestalt eines Menschen« den Platz von Apollo einnehmen, Maria den von »Fenus«.
Abb. 3: Leonardo da Vinci: Proportionsstudie nach Vitruv, um 1505 (Venedig, Galleria dell’ Accademia). Leonardos »Homunculus« hat auffallend kurze Beine, damit er tatsächlich in sein geometrisches Korsett passt – was den Kunsthistoriker Kenneth Clark zu der ketzerischen Bemerkung veranlasste: »Ein Gorilla würde besser reinpassen.«
Der männliche Körper gilt, ganz nach antikem Muster, als »vollkommener«, doch auf den Bildern der Künstler geht es vorzugsweise um weibliche Schönheit. Und die ist, wie im
Mittelalter, zuallererst blond – nicht unbedingt hellblond, sondern eher golden. Das Haar soll wellig, dick, voll und lang sein, so dass viele Frauen mit künstlichem Haar und weißer und gelber Seide nachhelfen müssen. Die Haut ist schneeweiß, und über den Wangen liegt ein Hauch von Rosa. Die Augen hat man am liebsten dunkelbraun, die Augenbrauen sollen schön geschwungen, der Mund weder zu klein noch zu groß sein, Hauptsache: purpurrot. Der ideale Körper ist jetzt nicht mehr das filigrane, flachbrüstige Feenwesen des Mittelalters, sondern das Vollweib. Grelle Farben und bizarre Formen werden bei Mann und Frau gleichermaßen gemieden; die Kleidung soll vor allem Würde ausstrahlen.
Pariser Arsch und Hühnerkorb
Damit wären wir im Zeitalter des Barock angekommen. Und so bei Rubens, dem Kronzeugen der Relativitätstheorie der Schönheit, über dessen Kunstkonzept Egon Friedell schreibt: »Der Mensch, wie er ihn sieht, ist eine Art Halbgott, auf die Erde herabgestiegen, um seine unversieglichen Kräfte spielen zu lassen, niemals krank, niemals müde … Seine Weiber sind niemals Jungfrauen, ja nicht einmal Mütter, sondern fette rosige Fleischstücke mit exemplarischen Becken, Busen und Hintern, nur dazu da, um nach wildem Brunstkampf … aufs Bett geschmissen zu werden.«
Abb. 4: Peter Paul Rubens: Die drei Grazien (Madrid, Museo del Prado). Ob die Figuren den Geschmack der Zeitgenossen wirklich trafen, darf bezweifelt werden.
Dabei hat Rubens wohl weniger das Schönheitsideal des 17. Jahrhunderts, sondern in erster Linie seine ganz persönlichen Vorlieben auf die Leinwand gebannt. Rubens stand jedenfalls nicht nur als Maler auf fette Frauen: beide Frauen Rubens’ waren Rubens-Frauen. Ähnlich wuchtige Frauentypen tauchen in der zeitgenössischen Kunst extrem selten und in der Literatur überhaupt nicht auf.
Nichtsdestotrotz bevorzugt das »Grand siècle« eher füllige Formen. Um sie zu betonen, tragen die Damen Korsetts mit Stahlschienen und den so genannten Cul de Paris (»Pariser Arsch«), eine Polsterung des Steißes, die einen prächtigen Hintern vortäuscht. Der Mann stolziert in Seidenstrümpfen und Schnallenschuhen mit roten Absätzen umher (siehe Abb. 5). Die Allonge, die gepuderte und parfümierte Staatsperücke, wird zum absoluten Muss am Hof des Sonnenkönigs. Der aristokratische Körper erstrahlt in Gold und Seide, erhebt sich auf fußhohen Absätzen über das niedere, von der Arbeit gekrümmte Volk. Männer und Frauen tragen gleichermaßen Spitzenunterwäsche. Am Hochrhein wird sie zum Trocknen ins Fenster gehängt, damit sie von jedermann bewundert werden kann. Im 18. Jahrhundert, der Zeit des Rokoko, wird der Pomp zugunsten von verspielteren Formen zurückgefahren. Dafür steigt der Puder- und Make-up-Verbrauch ins Unermessliche. Männer wie Frauen tragen jetzt eine dicke weiße Schicht – die überwiegend aus Mehl besteht – auf Perücke, Gesicht und Dekolleté. Darüber wird großflächig Rouge gepinselt. Ein Höfling von Louis XV. klagt einmal darüber, dass man die Damen unter der Maske nicht mehr auseinander halten kann. Die Tünche hat jedoch den Vorteil, dass man sie nur alle paar Tage erneuern muss. Im Spätrokoko löst der Mehlverbrauch für die Maskerade der Pariser Aristokratie eine Mehlknappheit aus.
Abb. 5: Vornehmer Herr, 1689
Für die Frau hat die absolute Herrschaft des Korsetts begonnen. Schon Morgens fängt die Prozedur an und wird im Viertelstundenabstand mit immer engeren Schnürungen wiederholt. Die Wespentaille wird durch enorme Reifröcke, Hühnerkorb genannt, betont. Am Vorabend der Französischen Revolution haben die Spannweite der Röcke und die Höhe der Frisuren surreale Ausmaße angenommen. Der modische Mann trägt nun eine Zopfperücke, Seidenröcke in allen denkbaren Farben, enge Kniehosen und weiße Seidenstrümpfe.
Ein paar Jahrhzehnte später geht er grau in grau. Ob Paris, Madrid oder London: die Straßen sind bevölkert von grauen Gestalten mit Zylinderhut. Was ist passiert?
Bürgerliches Zeitalter: Die Erfindung des schönen Geschlechts
Eine neue Klasse hat das Ruder übernommen. Die protestantisch-puritanische Revolution hat einen neuen Typ Mensch hervorgebracht: den Geschäftsmann – ein Wesen, wie es der Globus noch nicht gesehen hat: es sucht nicht Vergnügen, sondern Arbeit. Der graue Anzug ist das äußere Zeichen dieser Wende (siehe Abb. 6). Er steht für Disziplin, Solidität und Respektabilität – in den Worten von Egon Friedell ein Kleidungsstück »von tierischem Ernst; eine Tracht für Verdiener, Buchmacher und Geschäftsreisende, die in Qualm und Ruß leben … Die Verkleidung ist zur Kleidung herabgesunken.« Die Erfindung des Anzugs bedeutet den vielleicht größten Einschnitt in der Geschichte der Mode. Ein ganzes Geschlecht hat sich aus dem Spiel mit Farbe und Materialpracht verabschiedet. Und die Frau? Von nun an ist die Schönheit ihr Reich. Nur ihr ist es vorbehalten, mit Lockenwickler, Schminkstift und Düften zu hantieren. Ganz im Gegensatz zur Aristokratin, die weiterhin dick aufträgt, schminkt sich die Bürgerin verschämt und diskret, denn ihr puritanisches Über-Ich sieht im Streben nach Schönheit ein Bekenntnis zu verbotener Sinnlichkeit. Man darf der Schönheit bloß nicht ansehen, dass sie »gemacht« (also gewollt) ist. Bis heute ist »Natürlichkeit« oberstes Gebot aller Schönheitsbemühungen des Bürgertums – gute Schminke ist nur die, die man nicht als Schminke erkennt.
In ihrer Kleidung jedoch bleibt die Bürgerfrau den Grundprinzipien der höfischen Mode des 18. Jahrhunderts erstaunlich treu – von der kurzen und denkwürdigen Episode der à la grècque-Mode in den Jahren nach der Revolution einmal abgesehen, in der einfache, fließende Kleider im antiken Stil auftauchen. Im Nachhinein erscheint die Phase wie ein kurzes Atemholen, bevor sich die Frauen (ab 1810) für fast ein Jahrhundert erneut ins Korsett zwängen. Und zwar noch entschlossener denn je. Die Wespentaille ist im bürgerlichen 19. Jahrhundert Drehund Angelpunkt der weiblichen Silhouette, auch der Unterkörper nimmt die altbekannten ausladenden Formen an: mal als »Cul de Paris« (siehe Abb. 7), der in diesem Jahrhundert gleich zweimal wiederkommt, mal als »Krinoline«, eine aufwändige, mit Rosshaar verstärkte Reifrock-Konstruktion. (Eine Menge an brennbarem Material, die Matilde, der Tochter von Erzherzog Albrecht, 1867 zum Verhängnis wird: Als sie beim Rauchen erwischt wird, versteckt sie die Zigarette in einer Falte ihres Rockes und verbrennt.) Der Mann wirkt und waltet draußen in der Welt, die Frau ist rund um die Uhr mit der Verschönerung des Heimes und ihres Körpers beschäftigt. Während der Mann jetzt die neue Tugend der Tätigkeit repräsentiert, ist seine Frau weiterhin das Symbol für demonstrative aristokratische Untätigkeit – die aber genauso Arbeit bedeutet. »Man kann sich nicht eine Minute vergessen, wenn einem an seinem eigenen Glück, an dem seines Mannes und dem der Kinder gelegen ist«, heißt es in einem der zeitgenössischen Schönheitsratgeber, die Mitte des Jahrhunderts einen wahren Boom erleben. Schön zu sein wird zur heiligen Pflicht der Frau.
Abb. 6: Herrenmode Frühjahr / Sommer 1897 (Kunstbibliothek, Berlin)
Abb. 7: Joseph Albert: Der letzte Schrei, der »Cul de Paris«, um 1870 (Stadtmuseum München, Graphische Sammlung)
Vom schönen zum schwachen Geschlecht
Schon 1756 begründet der einflussreiche englische Philosoph Edmund Burke in seiner Philosophischen Untersuchung des Ursprungs unserer Ideen vom Erhabenen und vom Schönen, warum Frauen und Männer in Schönheitsdingen von zwei unterschiedlichen Planeten kommen. Er teilt das ästhetische Empfinden in zwei Sphären auf: hier das Schöne, dort das »Erhabene«. Das Schöne macht, dass man »Liebe empfindet«, und zeichnet sich durch Kleinheit, Weichheit und Zartheit aus. Das Erhabene dagegen führt zum »Erschauern«, es flößt Bewunderung, Ehrfurcht und Achtung ein. Das Gefühl der Erhabenheit wird vor allem von der Natur eingegeben – einem Gebirge beispielsweise oder einer sternenklaren Nacht. Es ist als das »Übergewaltige« mit Stärke, Härte und Größe verbunden. Die Zuordnung der beiden Pole zu den Geschlechtern gibt keine Rätsel auf. »Die Schönheit der Frauen ist in beträchtlichem Maße ihrer Schwäche oder Zartheit zuzuschreiben und wird noch durch Schüchternheit erhöht«, schreibt Burke. »Frauen sind sich dessen sehr wohl bewusst. Deshalb lernen sie zu lispeln, beim Gehen zu stolpern, Schwäche vorzutäuschen und sogar Krankheit.« Sie scheinen schon einmal für ihre hysterischen Anfälle im 19. Jahrhundert zu trainieren. Während die Frau bei Burke mit ihrem süßen Lispeln noch recht putzig wirkt, ist sie einige Jahrzehnte später bei Kant, der Burkes Ideen weiterentwickelt, vollends das Dummchen. Der kleine Professor lehnt die Frauenbildung ab, weil der Unterschied zwischen dem »schönen Verstand« der Frau und dem »tiefen Verstand« des Mannes unüberbrückbar sei.
Das schöne Geschlecht habe die Aufgabe, die erhabenen, edlen Eigenschaften im Manne zu fördern, und umgekehrt. »Ein Frauenzimmer ist darüber wenig verlegen, dass sie gewisse hohe Einsichten nicht besitzt, dass sie furchtsam und zu wichtigen Geschäften nicht aufgelegt ist etc. etc., sie ist schön und nimmt ein, und das ist genug.« Was die Philosophie erkannt hat, ist bald auch in der harten Wissenschaft amtlich. Ein medizinisches Lehrbuch von 1824 erklärt: »Das Weib … bewundert die Größe im Manne, seine eigne Sphäre findet es in der Welt des Schönen.« Dass der Unterschied anatomisch bedingt ist, gehört zu den Grundgewissheiten des 19. Jahrhunderts. In einem Brief an die Gebrüder Goncourt, in dem es um die »charakterliche Niedrigkeit« der Frauen geht, schreibt Gustave Flaubert: »All das kommt von ihrem Organ. Wo der Mann etwas Erhabenes hat, haben sie ein Loch!«
Und wo ist die männliche Schönheit geblieben? Sie ist in den Untergrund gegangen. Männer, die modische Eleganz kultivieren, sind mit dem Aufstieg des rechtschaffenen Bürgertums zu einer suspekten Spezies geworden: Dandys. Männliche Schönheit gilt jetzt als exzentrisch. Vom Oberexzentriker, George Bryan Brummell (von der feinen Londoner Gesellschaft schlicht »Beau Brummell« genannt), wird erzählt, dass er sich drei Frisöre hielt – einen für den Hinterkopf, einen für die Stirnlocken und einen für die Schläfen. Kein Wunder, dass er bald pleiteging und London verlassen musste. Im Prozess gegen Oscar Wilde, der wegen »Perversität« vor Gericht gezerrt (und verurteilt)
wird, kommt der homophobe Kern der Angst vor dem schönen Mann deutlich zum Vorschein. Schon Kant hatte die »Natur« als letzte Instanz bemüht, wenn er gegen Männer zu Felde zog, bei denen »das Gefühl des Schönen ausartet«: »Eine Mannsperson von dieser Eigenschaft, wenn sie jung ist, heißt ein Laffe, ist sie im mittleren Alter, so ist es ein Geck. Weil dem höheren Alter das Erhabene am notwendigsten ist, so ist ein alter Geck das verächtlichste Geschöpf in der Natur.«
Problemfall schöner Mann
Auch zweihundert Jahre nach Kant haftet männlicher Schönheit etwas Halbseidenes an. »Die einzigen Schmuckstücke, die der Mann im Alltag tragen darf …, sind die dezente Armbanduhr, zurückhaltende Manschettenknöpfe und gegebenenfalls der Ehering«, heißt es in der Wirtschaftswoche vom 7. August 2003. Männliche Schönheit ist nach wie vor glattes Eis. (Als Feldstudie empfehle ich meinen männlichen Lesern, geschminkt auf die nächste Party zu gehen. Ein bisschen Kajal unter den Augen reicht.) Der schöne Mann riecht – nein, duftet – nach Eitelkeit und Narzissmus. Männliche Schönheit darf höchstens Zugabe sein, die eigentlichen Qualitäten des Mannes liegen auf einem anderen Feld. Und trotzdem: Der schöne Mann ist im Kommen. Zunächst taucht er als harter Typ mit Bart und behaarter Brust in der Werbung der 1970er Jahre auf. Ende der achtziger Jahre kommen dann die weichen, »schönen« Männer. Die Brusthaare sind weg, der Bart höchstens auf Drei-TageNiveau. Die neuen Männer stehen nicht nur für Produkte, die mit Schwitzen verbunden sind, sondern für fast die gesamte schöne Warenwelt. Seit den neunziger Jahren gibt es die ersten Schönheitswettbewerbe für Männer, in denen Schönheit nicht durch Muskelmasse definiert wird. Miss Universe hat jetzt immer einen Mister Universe an ihrer Seite. Wahlen etwa zum »Schönsten Verleger Deutschlands« oder »Schönsten Manager 2004« füllen die Online-Ausgaben der Magazine. Keine Kosmetikmarke kommt mehr ohne eine Produktlinie für Männer aus, die dann auch aus mehr als einem Rasierwasser und einem Deo-Spray besteht.
Ist der Mann in Sachen »schönes Geschlecht« auf dem Weg zur Gleichberechtigung? Zieht er gar bald an der Frau vorbei? Oder gibt die Frau ihr (zweischneidiges) Privileg auf, das »schöne Geschlecht« zu sein, und wird selber grau (Stichwort: Powersuit)?
Aber kommen wir zurück auf die Frage dieses Kapitels: Ist Schönheit reine Ansichtssache? Unser Rundgang durch die Geschichte scheint eine ziemlich einfache Antwort zu geben: Anything goes. Jede Epoche kultiviert ihre eigenen Vorstellungen von Schönheit. Nicht einmal auf das »schöne Geschlecht« kann man sich offenbar einigen. Nimmt man dann in Gedanken noch die Tattoos, Körperbemalungen, Piercings, Ziernarben, Deformierungen, die ganze Körperkunst der Naturvölker dazu, ist unsere Frage beantwortet. Nein, ist sie nicht. Wir haben die Rechnung ohne die Wissenschaft gemacht.
Lässt sich Schönheit messen?
Schönheitsforschung spielt sich überwiegend an Universitäten ab. Aus Kosten- und Bequemlichkeitsgründen wurden als Probanden am liebsten Studenten eingesetzt. Um einen Blick hinter die Kulissen der Schönheitsforschung zu erhaschen, müssen Sie sich für ein paar Momente in die Haut eines solchen Versuchskaninchens in spe versetzen. Sie gehen in die Vorlesungen, essen in der Mensa und stehen natürlich auch gerne vor den vielen schwarzen Brettern herum. An einem von ihnen springt Ihnen ein Aushang des Instituts für Experimentelle Psychologie ins Auge: »Probanden für Experiment gesucht. Thema: Attraktivitätsforschung.« Ihr Interesse ist natürlich sofort geweckt, zumal Sie für die Teilnahme Praktikumspunkte erhalten. Kurz entschlossen melden Sie sich also bei der angegebenen Adresse, wo man Ihnen die Aufgabe erklärt: Sie sollen Fotos anschauen und die Gesichter darauf nach ihrer Schönheit bewerten. Ziel des Experiments sei es, festzustellen, ob Menschen bei der Bewertung von Männern und Frauen dieselben Maßstäbe anlegen oder nicht. (Was Sie nicht wissen: Hierbei handelt es sich nur um die so genannte Cover Story. In aller Regel werden die Versuchspersonen nämlich über die wahren Ziele eines Experiments im Unklaren gelassen – sie sollen »blind« sein, damit ihr Verhalten möglichst unbeeinflusst ist.) Warum soll gerade mein Geschmack bei der Frage weiterhelfen?, geht Ihnen noch durch den Kopf, aber dann machen Sie sich brav an die Aufgabe – so wie schon Heerscharen von Studenten vor Ihnen. Seit es Attraktivitätsforschung gibt, gehört das Bewerten von Bildern zum Standardrepertoire. Die Bewerter – also Sie –
werden im Psychologen-Sprech »Rater« genannt, was nichts mit Raten zu tun hat, sondern mit dem englischen »Rating«. Die Fotos, die Sie bewerten, sind das »Stimulusmaterial«, das je nach Versuch auch aus einer Videosequenz oder einem Menschen aus Fleisch und Blut bestehen kann. In den Anfängen der Schönheitsforschung saßen Ihre Raterkollegen noch mit Papier und Bleistift über ihren Bildern, heute spielt sich das Ganze vor dem Computer ab. Dabei wird die Bewertung in aller Regel durch das Klicken auf eine eingeblendete Skala eingegeben, die beispielsweise von 1 (sehr unattraktiv) bis 7 (sehr attraktiv) reicht. Alternativ können auch zwei Bilder nebeneinander präsentiert werden, unter denen Sie dann wählen müssen – die so genannte forced choice-Methode. In aller Regel achtet der Versuchsleiter peinlich genau darauf, dass Sie bei Ihrer Aufgabe allein sind. Denn aus Versuchen weiß er, dass das Urteil seiner Probanden wankelmütig ist. Die Beurteilung von Schönheit hat immer etwas von einem Bekenntnis. Wenn andere mitmischen, hält man sich mit allzu brillanten Noten lieber zurück. Wir haben in Schönheitsdingen sozusagen eine private und eine öffentliche Meinung. Das trifft insbesondere für Männergruppen zu, wenn sie Frauen bewerten – unter Männern gilt abwertendes Machogehabe als besonders männlich.
Hot or Not?
Nicht wenige Forscher verzichten ganz auf eigene Beurteiler und zapfen einfach das Internet an. Sie machen sich dabei die im World Wide Web grassierende »Rating«-Manie zunutze. Auf Hunderten von Seiten setzen sich Menschen in mehr oder weniger bekleidetem Zustand dem Urteil der Webgemeinde aus. Diese permanente Schönheitskonkurrenz lockt jeden Tag ein Millionenpublikum an. Auf der Website »Hot or Not?« wurden nach eigenen Angaben bis heute (Stand Jan. ’06) 21,2 Millionen Bilder bewertet und dabei über 11 Milliarden Bewertungsklicks abgegeben. Wer sich nur einem deutschen Publikum präsentieren will, stellt sein Bild in »Binichsexy.net« oder »voten.de« ein oder macht bei der studentischen Schönheitskonkurrenz »Unilection« mit (und kann nebenbei erfahren, dass die Studentinnen aus Mainz durchschnittlich 5,22 von 10 Schönheitspunkten einsammeln, die aus Kassel dagegen nur 3,03). Vor allem angelsächsische Forscher haben das Web für ihre Zwecke entdeckt: auf der Homepage des renommierten »Perception Lab« an der schottischen Universität von St. Andrews können Sie nicht nur an Online-Experimenten teilnehmen, sondern auch Ihr Gesicht der Wissenschaft vermachen.³ Noch einfacher wäre es natürlich, wenn man zur Schönheitsdiagnose gleich einen Computer einspannen könnte. Genau das hat eine Gruppe israelischer Computerfachleute an der Universität Tel Aviv getan. Sie fütterten einen Computer mit unterschiedlich attraktiven Frauengesichtern und den dazugehörigen, von einer Jury ermittelten Attraktivitätswerten. Daraus extrahierte der
Computer eine Art von innerem Schönheitsbild, mit dem er nun jedes neue Bild in einem komplizierten statistischen Verfahren abgleicht. Die Übereinstimmung mit menschlicher Schönheitsbewertung ist erstaunlich hoch – wenn auch die Schlussfolgerung der Autoren, sie hätten mit ihrem Programm »bewiesen«, dass Schönheit ein »universales Konzept« sei, naiv (und schlichtweg falsch) ist. Der Computer kann nur das als schön erkennen, was ihm vorher – von der Jury – als schön definiert wurde. (So bevorzugt er offenbar Blondinen – vermutlich ganz wie seine Herren.)
Aber noch einmal zurück zu unserem Experiment. Sie haben also 200 Bilder bewertet und werden mit einem Dankeschön und einer Unterschrift entlassen. Wie sollen Ihre Beurteilungen dem Studienleiter eigentlich weiterhelfen? Wenn jeder der Bewerter so wie Sie seine Kreuzchen ganz nach Gusto macht, wie können die Forscher daraus eine Note für die Gesichter ableiten? In der Tat ist dies das Kernproblem der Schönheitsforschung: Es gibt keine objektive Definition von Schönheit und damit auch keinen Apparat oder Labortest, der am Ende irgendeine Schönheits-Maßzahl ausspuckt. Wie kann Schönheit dann Gegenstand objektiver Forschung sein? Die Forschung bedient sich eines Tricks, der als »truth by consensus« bezeichnet wird, also Wahrheit durch Übereinstimmung. Sie definiert das als »schön«, was ein repräsentativer Querschnitt von Betrachtern als schön empfindet. Das basisdemokratisch anmutende Prinzip hat natürlich einen entscheidenden Haken: Das Ganze funktioniert nur, wenn sich die Beurteiler auch einig sind. Die subjektiven Urteile müssen sich zumindest so weit überschneiden, dass die Forscher daraus mit ihren
statistischen Methoden einen harten, »objektiven« Kern extrahieren können. Wobei wir wieder bei der Ausgangsfrage wären. Wie einig sind wir uns?
Wir sind uns (ziemlich) einig
Im Jahr 1960 stiftete der englische Sozialwissenschaftler A. H. Iliffe die Redaktion einer großen Tageszeitung zu einer Art Schönheitskonkurrenz im Namen der Wissenschaft an. Die Leser sollten zwölf Fotos von Frauengesichtern nach ihrer Attraktivität beurteilen. Die Auswertung der 4355 Zuschriften ergab ein in dieser Deutlichkeit unerwartetes Ergebnis: Unabhängig vom Geschlecht der Leser, quer durch alle Landesteile, Altersgruppen und soziale Schichten, wurden dieselben Frauen als attraktiv oder weniger attraktiv ausgewählt. Inzwischen sind weltweit viele hundert Studien dieser Art gemacht worden, und überall war das Resultat dasselbe: die Beurteiler sind sich in ihrem Schönheitsurteil verblüffend einig.⁴ Und zwar nicht nur bei der Bewertung von Fotos, sondern noch mehr bei der Bewertung von Videosequenzen und am deutlichsten bei Live-Situationen. Das heißt aber beileibe nicht, dass alle Bewerter dieselben Menschen attraktiv finden oder am Ende sogar noch dieselben Noten vergeben. Das eine Gesicht wird vielleicht durchgängig als schön empfunden (das »nette, frische Mädchen«), an einem anderen scheiden sich die Geister (dem Sonnenbank-Schönling beispielsweise). Alles in allem aber ist es wie beim olympischen Kunstturnen. Die Benotungen der einzelnen Jurymitglieder unterscheiden sich zwar durchaus, aber am Ende kommt doch eine einigermaßen zuverlässige Rangfolge heraus, die auch von einer anderen Jury nicht auf den Kopf gestellt würde. Zusammengefasst lässt sich die folgende Faustregel formulieren: Ungefähr die Hälfte unseres Schönheitsurteils
ist »objektiv« – überschneidet sich also mit dem Urteil der anderen. Der Rest hängt an unseren persönlichen Vorlieben oder an sonstigen Umständen. Männer und Frauen unterscheiden sich in ihrem Schönheitsurteil geringfügig⁵, aber die Gemeinsamkeiten überwiegen die Unterschiede bei weitem. Dasselbe trifft auf die Meinungen von Jung und Alt oder unterschiedlichen sozialen Schichten zu. Die oft gehörte Mutmaßung, dass jede soziale Gruppe ihre eigenen Attraktivitätsstandards habe, hat keine wissenschaftliche Grundlage. Der Saarbrücker Psychologe Ronald Henss hat mehr als hundert Studien analysiert und festgestellt, dass schon eine Stichprobe von gerade mal einem Dutzend Personen den »Geschmack der Allgemeinheit« äußerst zuverlässig wiedergibt. Wie sehr sich die Menschen in Schönheitsdingen einig sind, können Sie selber testen, indem Sie Ihr Bild einmal auf einer der Rating-Sites im Internet einstellen. Sie werden sehen, dass Ihre Gesamtnote am Anfang, wenn die ersten Bewertungen eingehen, noch mehr oder weniger stark schwankt – vielleicht stehen nicht alle auf Ihren Typ. Aber schon nach fünf Bewertungen wissen Sie so ungefähr, wohin der Hase läuft, und nach einem Dutzend Bewertungen ist der Fall klar. Ihre »Schönheit« wird sich dann allenfalls noch so verändern wie die Hochrechnungen bei der Bundestagswahl nach 22 Uhr: einen Punkt hinterm Komma vielleicht, mehr nicht. Auch in diesem Buch werden wir uns an die »Wahrheitdurch-Übereinstimmung«-Methode der Wissenschaft halten. Wenn also auf den folgenden Seiten von »Schönheit«, »attraktiven Menschen« o. Ä. die Rede ist oder Aussagen wie »Schöne Menschen fahren mehr Rad als weniger
schöne« getroffen werden, dann wissen Sie, dass dahinter zwar nicht die »objektive Wahrheit« steckt, aber immerhin die 22-Uhr-Hochrechnung, die der Wahrheit aller Erfahrung nach verdammt nahe kommt.⁶
Wie Kinder Schönheit sehen
Kinder spielen in dem Streit um einen »objektiven Schönheitssinn« eine Schlüsselrolle. Nach der in den Sozialwissenschaften zum Teil noch heute vorherrschenden Lehrmeinung kommen sie als unbeschriebenes Blatt auf die Welt und erlernen erst durch »Sozialisation« nach und nach das für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendige Verhaltensrepertoire. Was schön ist und was nicht, wird dem Kind demnach in Elternhaus und Kindergarten und vor allem von den »Medien« vermittelt. An der Demontage dieses Denkmodells federführend beteiligt war eine Entwicklungspsychologin von der University of Texas, der wir in diesem Buch noch öfter begegnen werden: Judith Langlois. Ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit der Schönheit begann vor fast dreißig Jahren mit einem Schweißausbruch in einem kleinen, stickigen Raum in der University of Louisiana in Baton Rouge. Judith Langlois saß dort vor einem Gremium von Professoren und verteidigte ihre Doktorarbeit, in der es um Freundschaften zwischen Kindergartenkindern ging. »Haben Sie auch die Attraktivität der Kinder in Ihre Schlussfolgerungen einbezogen?«, kommt es plötzlich von einem der Prüfer. »Ich fand die Frage damals völlig daneben«, sagt Judith Langlois heute. »Wenn es um Freundschaften von Studenten gegangen wäre, okay – aber bei Kindern?« Nachdem sie eine unverbindliche Antwort herausgedruckst und ihr Examen glücklich bestanden hatte, dämmerte es ihr, dass es sich lohnen könnte, der Frage weiter nachzugehen. Zusammen mit ihrem Mitarbeiterstab erforscht Judith Langlois heute an ihrem »Langlois-Lab« in
Austin, Texas, wie Kinder Gesichter wahrnehmen und wie sie auf Schönheit reagieren. Eines ihrer ersten Experimente mit Kleinkindern sollte es gleich zum Klassiker bringen. Langlois zeigte drei bis sechs Monate alten Säuglingen die Gesichter unterschiedlich attraktiver Studentinnen und wertete ihre Augenbewegungen aus. Vom Ergebnis war sie selber überrascht: Die Kleinen blickten diejenigen Gesichter am längsten an, die auch von Erwachsenen als die attraktivsten angesehen worden waren! Kommen Kinder etwa mit dem »Wissen« auf die Welt, was schön ist und was nicht? Gerade 14 Stunden alt war das jüngste Teilnehmerchen einer Untersuchung, die Alan Slater und seine Kollegen 1998 unter dem Titel »Neugeborene bevorzugen attraktive Gesichter« publizierten, das älteste sechs Tage. Das Baby »saß« auf dem Schoß des Versuchsleiters, zu seiner Rechten und Linken hatte es je einen Bildschirm, auf dem paarweise je ein Foto eines attraktiven bzw. weniger attraktiven weiblichen Gesichts eingespielt wurde. Das Ergebnis: Das Baby widmete fast zwei Drittel seiner Blicke den attraktiveren Gesichtern. Zur Ehrenrettung der Kleinen muss gesagt werden, dass sie am liebsten immer noch das Bild ihrer eigenen Mutter anschauten, und zwar ganz egal, wie attraktiv diese war. Mama ist doch immer noch die Beste. Ob die Vorliebe für schöne Gesichter nun angeboren ist, wie Alan Slater seine Ergebnisse interpretiert, oder ob dabei doch subtile Lernprozesse eine Rolle spielen, ist noch höchst umstritten. Halten wir an dieser Stelle nur fest, dass schon kleine Babys einen Sinn für Schönheit haben, dass dieser dem der Erwachsenen erstaunlich ähnelt und dass er von den »Medien« oder sonstigen kulturellen Einflüssen unabhängig ist.
Universales Schönheitsradar?
Wie sieht es nun mit dem Schönheitssinn unterschiedlicher Kulturen aus? Wenn es wirklich so etwas wie ein universales Schönheitsradar gibt, müssten überall auf der Welt dieselben Gesichtszüge (und möglicherweise auch Körperformen) als schön erkannt und anerkannt werden. In der Tat zeigt sich in verschiedenen, groß angelegten Studien, dass Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen in ihrem Schönheitsurteil weitgehend übereinstimmen. Die meisten dieser so genannten interkulturellen Studien zur Schönheitswahrnehmung haben allerdings einen entscheidenden Schwachpunkt: Die untersuchten »Kulturen« bestehen meist aus Studenten, die fern der Heimat auf einem amerikanischen Campus leben. Und selbst wenn es sich um »echte« Chinesen, Japaner, Brasilianer etc. in ihrer jeweiligen Heimat handelt, sind sie doch über das Fernsehen mehr oder weniger stark dem westlichen Schönheitsideal ausgesetzt. Die Schlussfolgerung, dass es sich bei den Übereinstimmungen um wirklich universale Standards handelt, steht also auf wackligen Füßen. Nicht überraschend deshalb, wenn die einzige Studie, die (einigermaßen) unberührte Kulturen einbezieht, zu einem ganz anderen Ergebnis kommt. Der Anthropologe Doug Jones legte zwei relativ isoliert lebenden Indianerstämmen im Amazonasgebiet Fotos von Angehörigen des einen der beiden Indianerstämme vor, außerdem Bilder von Brasilianern und Amerikanern. Dieselben Bilder wurden Studenten in Brasilien, den USA und Russland vorgelegt. Die Forscher konnten zwar eine hohe Übereinstimmung der
jeweiligen Stammesmitglieder untereinander feststellen – und damit en passant die These widerlegen, dass es unbedingt die »Medien« sein müssen, die für unseren relativ einheitlichen Schönheitsstandard verantwortlich sind. Aber zwischen dem Schönheitsurteil der beiden Ureinwohnerstämme auf der einen Seite und dem ihrer westlichen bzw. verwestlichten Artgenossen auf der anderen ergaben sich nur wenig Gemeinsamkeiten.
Gibt es also doch keine universalen Schönheitsstandards? Nicht so schnell. Betrachtet man die Untersuchung von Jones nämlich genauer, fällt auf, dass die beiden untersuchten Indianerstämme sich untereinander ziemlich einig waren, und das, obwohl sie viele hundert Kilometer voneinander entfernt leben und zu Kulturen gehören, die voneinander genauso isoliert sind wie von Amerika oder Russland. Damit enthält die Jones’sche Studie gleichzeitig die Bestätigung, dass das Schönheitsurteil eben nicht (zumindest nicht ausschließlich) von kulturellen Faktoren bestimmt sein kann. Dass die beiden Indianerstämme in ihrem »Geschmack« so sehr übereinstimmen, hat offenbar damit zu tun, dass sie sich auch in ihren Physiognomien ähneln. Die Gesichter der anderen Ethnien waren ihnen dagegen fremd. Der Umgang mit ungewohnten Gesichtern scheint uns Menschen generell schwer zu fallen. Wir können sie nicht nur schwerer auseinander halten, sondern verfügen auch über keinen sicheren Schönheitsmaßstab – als müsste sich das Sensorium erst einmal in die fremde Materie einarbeiten. Wie das genau passiert, wird uns noch beschäftigen. Von Interesse ist hier nur Folgendes: Haben wir die
»Gewöhnungsschwelle« erst einmal überwunden, können wir uns auf fremde Gesichter ziemlich schnell einstellen – unser Schönheitssinn bezieht nun die vormals fremden Gesichter mit ein. So wie Afrikaner oder Asiaten einen Schönheitssinn für weiße Gesichter entwickeln, der sich von unserem kaum unterscheidet, haben wir – etwas Erfahrung vorausgesetzt – annähernd dieselben Standards für schwarze oder asiatische Gesichter.⁷ Bei aller Vielgestaltigkeit der unterschiedlichen Menschenmodelle scheinen doch die Kriterien, nach denen wir ihre Schönheit bewerten, überall auf der Welt in etwa dieselben zu sein. Welche genau dies sind, werden wir in den nächsten Kapiteln erkunden.
Der Körper als Gesamtkunstwerk: Die Macht der Mode
Wie kommt es, dass die Relativitätstheorie der Schönheit entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen so populär ist? Weil wir bei der Schönheit unentwegt zwei Dinge durcheinander bringen, zwei grundverschiedene Prinzipien, die nichts miteinander zu tun haben. Nämlich natürliche Schönheit, also die Schönheit des Körpers, wie Gott ihn erschaffen hat bzw. in den wir am Ende der Pubertät hineingewachsen sind, und das Gesamtkunstwerk, das wir tagtäglich aus diesem Körper machen, um dem Diktat der Mode Genüge zu tun. Mode ist eine Symbolsprache, deren Zeichen von der jeweiligen Gesellschaft, Epoche, Kultur oder Subkultur entwickelt und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie werden von den Mitgliedern der jeweiligen Gruppe – und nur von ihnen – verstanden und als attraktiv empfunden. Was der einen Kultur als Gipfel der Lieblichkeit erscheinen mag, kann für die andere nichts sagend oder sogar abartig sein: ein Spieß durch die Nase, ein bestimmter (seltener) Stoff, ein Pisspott auf dem Kopf (den man vielleicht Zylinder nennt), Klumpfüße (wie sie bei den Chinesen geschätzt wurden), schwarz lackierte Zähne oder bis ans Knie hängende Schamlippen. Bei Mode geht es um die Selbstdarstellung und Selbstdefinition des Menschen innerhalb seiner Gemeinschaft, ganz vorneweg um Status. Nicht der Körper an sich steht dabei im Mittelpunkt, sondern seine Veränderung – etwa durch Kleidung, Frisur, Schmuck,
Tätowierung, Bemalung, Piercing etc. Mode transportiert immer eine Botschaft. Der Mensch will entweder seiner Einzigartigkeit Ausdruck verleihen, sich von den anderen absetzen, oder aber seine Zugehörigkeit demonstrieren – zu einer Schicht, Altersklasse oder Subkultur. Mode ist Teil des komplexen Signalsystems, das jede Gesellschaft zusammenhält, ein Code, der auf Konventionen beruht, deren sich der Einzelne meist gar nicht bewusst ist, die aber dennoch zutiefst in unser ästhetisches Empfinden eingeprägt sind. Die Merkmale des Körpers oder seiner Ausschmückung, die diesen Konventionen entsprechen, nehmen wir als attraktiv wahr. Wie jede Sprache unterliegt auch die soziale Schönheitssprache der Mode einem ständigen Wandel. In Brasilien beispielsweise war das traditionelle Ideal weiblichen Sexappeals ein breiter Hintern und kleine, feste Brüste – so lange, bis das Satellitenfernsehen kam und mit ihm die amerikanischen Soaps. Innerhalb weniger Jahre mussten die Schönheitschirurgen, die bisher mit Brustverkleinerungen ausgelastet waren, auf Brustvergrößerungen umsteigen.
Abb. 8: Frau aus dem afrikanischen Stamm der Nuba mit »Tellerlippen«, die durch eingelegte Holz- oder Knochenscheiben (sogenannte Labrets) geformt werden.
Moden können lange Zeit fast unverändert Bestand haben – die Kleidung der alten Ägypter etwa änderte sich über viele Jahrhunderte kaum – und sich dann wieder rasant verändern. Die Kinder verstehen dann die »Schönheit« ihrer Eltern nicht mehr, so wie wir heute die Bienenkorbfrisuren der 1960er Jahre nicht mehr fassen können (aber vielleicht schon morgen wieder zum allerletzten Schrei erklären werden). Im heutigen »Stilflimmern« ändern sich die Codes
der Mode quasi über Nacht und greifen dabei auf einen Zeichenschatz zurück, der aus allen nur denkbaren Zeiten und Kulturen bei uns gestrandet ist und unablässig verändert und umdefiniert wird. Der Mensch ist in Sachen Schönheit Naturprodukt und Kunstwerk zugleich. Aber obwohl die beiden Komponenten der Schönheit so grundverschieden sind, können wir sie in aller Regel nicht auseinander dividieren. Was wir wahrnehmen, ist Schönheit, nicht natürliche oder modische Schönheit. Beides geht ineinander über und ergänzt sich – oder widerspricht sich. Viele Elemente der »primitiven« Körperkunst etwa sind dem natürlichen Ideal geradezu diametral entgegengesetzt – denken wir an künstliche Vernarbungen im Gesicht. Im ästhetischen Empfinden vieler »Natur«völker besitzt Natürlichkeit keinen hohen Stellenwert. Der unveränderte Körper gilt als unzivilisiert, erst die bewussten Veränderungen machen ihn wahrhaft menschlich. Der Mensch will nicht Geschöpf, sondern selber Schöpfer sein.⁸
Schönheit ist – dieses Fazit können wir am Ende dieses Kapitels ziehen – alles andere als Ansichtssache. Wohl wird unser Schönheitsempfinden von der Gesellschaft und unseren jeweils einzigartigen Lebenserfahrungen bestimmt, was die unglaubliche Vielfalt an menschlichen Geschmäckern und Moden erklärt. Aber unter diesem kulturellen Firnis liegt ein gemeinsamer Kern. Unser Schönheitssinn beruht auf festen Prinzipien, Gesetzmäßigkeiten und verbindlichen Regeln, die immer und überall gültig sind. Neben all ihren unzähligen Variablen enthält die Schönheitsformel ewige Konstanten. Sie sind der Grund, warum uns Botticellis Venus heute genauso berührt wie die Menschen vor 500 Jahren oder warum uns Nofretete
so wunderschön erscheint wie ihren Zeitgenossen. Der Grund auch, warum uns die Rahel der Bibel, wenn sie uns heute entgegen schreiten würde, berühren würde. Ihre Kleidung würde uns vielleicht befremden, wahrscheinlich auch ihre Frisur. Aber trotzdem würde sie uns bezaubern, wie sie einst Jakob bezaubert hat.
2 Schönheit – nichts als Durchschnitt? Eine der wichtigsten Erkenntnisse der modernen Schönheitsforschung hat mit einem etwas kauzigen Gelehrten aus dem 19. Jahrhundert zu tun. Francis Galton war im wissenschaftlichen Leben des viktorianischen London eine Art Hansdampf in allen Gassen. Er betätigte sich als Anthropologe, Meteorologe, Reiseschriftsteller und Statistiker, um nur einige seiner Interessensgebiete zu nennen.⁹ Ganz besonders aber hatte es ihm die Schönheit angetan. Zeitweise arbeitete er an einem »Schönheitsatlas« der britischen Inseln. Dazu lief er durch verschiedene Städte und machte bei jeder Frau, die ihm begegnete, im Geheimen in seiner Westentasche mit einer Nadel ein Loch in eines der für die entsprechende Schönheitskategorie vorgesehenen Kärtchen. Wenn schon die Idee aus heutiger Sicht etwas spinnert anmutet, dann hat das Motiv etwas geradezu Beklemmendes. Galton war ein glühender Verfechter der Eugenik, die sich die »Verbesserung der menschlichen Rasse« auf die Fahnen geschrieben hatte, und wollte dem Staat helfen, »passende« Paare zusammenzustellen. Galton war davon überzeugt, dass sich der Charakter eines Menschen in seinem Äußeren niederschlägt – eine Sichtweise, die zu seiner Zeit geradezu als Naturgesetz galt. Nun hatte Galton die Idee, dass er der Polizei viel Arbeit abnehmen könnte, wenn er durch die fotografische Überlagerung der Einzelgesichter von Betrügern, Gewalttätern und Mördern deren »typische« Gesichtszüge extrahieren würde. Die Polizei müsste dann nur noch mit den entsprechenden Suchbildern durch die Straßen gehen.
Galton machte sich also an die Arbeit und ließ die Gesichter seiner Kandidaten auf einer Fotoplatte übereinander belichten. Zu seiner großen Enttäuschung war das Gesamtbild am Ende jedoch weniger »typisch« als die Ausgangsbilder! Die übereinander projizierten Schurken sahen mitnichten schurkisch aus, sondern waren im Gegenteil zu ganz angenehmen Burschen mutiert – vor allem aber waren sie deutlich hübscher als die Ausgangsgesichter. Galton probierte seine Mehrfachbelichtungen nun an Offizieren, Rekruten und Vegetariern aus – immer mit demselben Ergebnis: das »Komposit« war schöner als die Einzelgesichter. Wenn die Methode auch ihren eigentlichen Zweck nicht erfüllte, so wurde sie vom breiten Publikum doch mit Freuden aufgenommen. Um die Jahrhundertwende war es der letzte Schrei, mit der neuen Technik »Gesamtbilder« von Familienfeiern und Jubiläen erstellen zu lassen.
Abb. 9: Durchschnittsbild (oben links) aus 6 Frauengesichtern (aus: Pollard 1995). In diesem Fall verwendete der Autor – ähnlich wie Galton – eine konventionelle fotografische Überlagerungstechnik. Auf diese Weise wurden 20 Sätze von Bildern hergestellt und nigerianischen, chinesischen, indischen und neuseeländischen Studenten zur Bewertung vorgelegt. In allen Fällen bevorzugten die Bewerter das Kompositbild.
»Attraktive Gesichter sind nur Durchschnitt«
Zu den ersten Wissenschaftlern, die Galtons Verschmelzungstechnik in den Dienst der Schönheitsforschung stellten, gehört Judith Langlois von der University of Texas, die wir schon von ihren Versuchen mit dem Schönheitssinn von Babys kennen. Ende der 1980er Jahre nahm sie 32 männliche bzw. 32 weibliche Gesichter unter standardisierten Bedingungen auf und verschmolz sie am Computer paarweise zu einem »Kompositbild«. Aus je zwei dieser Kunstgesichter wurde dann ein neues Durchschnittsbild erzeugt, welches wiederum mit einem anderen verschmolzen wurde usw. Auf diese Weise entstand eine Art umgekehrter Stammbaum, an dessen Spitze das Durchschnittsbild aus allen Ursprungsgesichtern stand. Das Ergebnis war eindeutig: Die Durchschnittsgesichter waren schöner. Und: Je durchschnittlicher (also je mehr Gesichter in das Durchschnittsbild einflossen), desto schöner war das neue Gesicht.¹⁰ »Attraktive Gesichter sind nur Durchschnitt« – mit diesem Titel sorgte die Publikation von Judith Langlois im Jahr 1990 weit über die Gemeinde der Schönheitsforscher hinaus für Aufregung – und für Verwirrung. Denn »Durchschnittlichkeit« im Langlois’schen Sinn wird nur allzu leicht mit Durchschnittlichkeit im ästhetischen Sinn verwechselt. Wenn aber Forscher von »Durchschnitt« sprechen, meinen sie damit nicht das, was die Umgangssprache unter einem »Durchschnittsgesicht« versteht, sondern ein Gesicht, das der mathematischen Mitte aller Ausgangsgesichter entspricht. So ein »Mittelmaß«-Gesicht ist alles andere als gewöhnlich. Im Gegenteil: Nichts ist ungewöhnlicher als ein
Gesicht, bei dem alle Merkmale, also z. B. die Größe der Nase oder der Abstand der Augen, exakt dem mittleren Messwert der Bevölkerung entsprechen!
Schönheit im Donau-Einkaufszentrum
Während die ersten Langlois’schen Bilder noch unter Randunschärfen leiden, steht heute mit dem »Morphing« eine deutlich verbesserte digitale Methode zur Verfügung. Zu den Meistern der neuen Technik gehört eine Gruppe junger deutscher Wissenschaftler um den Psychologen Martin Gründl an der Universität Regensburg.¹¹ Im Frühjahr 2001 sprechen sie in verschiedenen Cafeterien und in der Mensa der Universität Frauen und Männer an, ob sie sich im Dienste der Wissenschaft fotografieren lassen (wobei man darauf achtet, dass wirklich alle Attraktivitätsgrade vertreten sind). Am Ende kommen 64 Studentinnen und 32 Studenten zusammen und werden in einem zum »Fotostudio« umgebauten Abstellraum unter streng standardisierten Bedingungen fotografiert. Alle müssen ein weißes T-Shirt anziehen, dürfen kein Make-up tragen und bekommen die Haare nach hinten gekämmt oder gebunden. Der nächste Schritt ist die Attraktivitätsermittlung der fotografierten Gesichter. Um eine möglichst repräsentative Jury zu erhalten, zieht die Gruppe mit ihren Computern an einem Samstag ins »Donau-Einkaufszentrum« um, wo Passanten ihr Urteil per Mausklick auf einer 7-stufigen Skala abgeben dürfen. Dann verschwinden die Jungforscher erst einmal für lange Zeit hinter ihren Bildschirmen, zum »Morphing«. Sie verschmelzen, immer schön paarweise, die Bilder miteinander, die auf der Attraktivitätsskala nebeneinander liegen, anschließend machen sie dasselbe mit den entstandenen »Komposits«. Und so immer weiter von »Generation« zu »Generation«, bis am Ende das »durchschnittlichste« Durchschnittsbild entstanden ist, das
alle 64 Frauenbzw. 32 Männergesichter enthält (siehe Abb. 10). Mit der virtuellen Bildergalerie geht es dann wieder ins DonauEinkaufszentrum zur Volksbefragung. Deren Ergebnis lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Je mehr Gesichter in das Durchschnittsbild eingegangen sind, desto attraktiver erscheint es den Befragten. Schon in der ersten Morphing-Generation steigert sich die Schönheitsnote der beiden Ausgangsgesichter um über 0,5 Punkte (auf der 7erSkala), und das geht so weiter von Generation zu Generation. Das virtuelle Frauengesicht an der Spitze der Durchschnittlichkeits-Pyramide steht mit 5,55 Punkten meilenweit über dem Durchschnitt der Originalgesichter – der bei mageren 3,58 Punkten liegt.¹² Eindrucksvoller könnte die Langlois’sche Durchschnittshypothese nicht bestätigt werden. Und doch …
Abb. 10: Aus 64 bzw. 32 Gesichtern gemorphte Durchschnittsgesichter (aus: Gründl et al. 2001).
Oberflächliche Schönheit?
»Langlois hat ihre Rechnung ohne die Textur gemacht«, sagt Martin Gründl, der gar nicht so aussieht, als würde er Tage und Nächte hinter Bildschirmen verbringen, sondern eher wie ein Outdoor-Typ wirkt. Mit »Textur« meint ein Schönheitsforscher das, was unsereins als Haut bezeichnet. »Ein Teil des Effekts geht eindeutig auf das Konto der glatten Oberfläche.« Die makellose Haut ist quasi das unvermeidbare Nebenprodukt des Morphing-Prozesses. Denn wenn von jedem Bildpunkt der übereinander gelegten Gesichter der farbliche Mittelwert berechnet wird, verschwimmen Unreinheiten, Falten und Muttermale. Je mehr Schichten übereinander kommen, desto glatter wird die Haut. Martin Gründl ist nicht der Erste, der diesen Einwand vorbringt. Er hat ihn nur am schlagendsten bewiesen: Er synthetisierte zwei Gesichter, die vollkommen identisch waren. Das eine besaß jedoch die bei der Durchschnittsbildung entstehende hyperglatte Kunsthaut, während dem anderen die »Originalhaut« eines der Ausgangsgesichter verpasst wurde. In der Bewertung schnitt das Bild mit der gemorphten Haut um Klassen besser ab als das mit der echten Haut.¹³ Was eigentlich schon ein Rundgang durch die Kosmetikabteilung eines Kaufhauses offenbart, wird also von der Wissenschaft bestätigt: Makellose Haut ist eines der Hauptingredienzen von Schönheit. Ist es am Ende also vielleicht nur die wunderbar seidige Textur, die uns so für die Kunstgesichter einnimmt – und gar nicht ihre Durchschnittlichkeit?
Der Verdacht konnte von der Australierin Gillian Rhodes elegant ausgeräumt werden. Die Wahrnehmungsspezialistin von der University of Western Australia fertigte Durchschnittsbilder von Gesichtern an, die zuvor in »hautlose« Strichzeichnungen umgewandelt worden waren. Und siehe da – auch für die Zeichnungen gilt: Je mehr Bilder miteinander verschmolzen wurden, desto attraktiver erschienen sie. »Klar wirkt Durchschnitt«, sagt dazu auch Martin Gründl. »Aber bei unseren Bildern macht Haut viel aus.« Wie viel? »Mehr als die Hälfte.«
Goldstandard Symmetrie?
Der nächste Einwand gegen die Durchschnitts-Hypothese kommt postwendend: Nicht die Durchschnittlichkeit mache die Komposits schöner, sondern ihre Symmetrie. Denn beim Prozess der Durchschnittsbildung wird zwangsläufig die Symmetrie erhöht: Je mehr Gesichter miteinander verschmelzen, desto mehr werden die Unterschiede zwischen den beiden Gesichtshälften ausgeglichen. Symmetrie gehört seit der Antike zum klassischen Schönheitskanon. Wobei die Griechen und Römer den Begriff jedoch in einem viel umfassenderen Sinn verstanden als wir heute. Neben (Spiegel-)Symmetrie verstanden sie darunter die »richtige Proportion« – und »richtig« bedeutete, dass die Teile zum Ganzen in einem möglichst einfachen, ganzzahligen Verhältnis standen. Nach der einflussreichen Proportionslehre des römischen Architekten Vitruv hat der »wohlgestaltete Mensch« beispielsweise ein gleichmäßig in horizontale Drittel aufgeteiltes Gesicht: Haaransatz bis Augenbrauen, Augenbrauen bis Nasenspitze, Nasenspitze bis Kinn. Die Breite des Gesichts soll zwei Drittel seiner Länge betragen. Der Abstand zwischen den Augen entspricht genau der Breite des Auges, welche wiederum mit der Nasenbreite identisch ist (siehe Abb. 11) – ein Rezept, das als so genannter neoklassischer Kanon auch heute noch von manchem Schönheitschirurgen hochgehalten wird (obwohl es sich als wissenschaftlich unhaltbar erwiesen hat).¹⁴
Abb. 11: Klassischer Proportionskanon nach Vitruv (84–27 v. Chr.)
Aber zurück zur Symmetrie im heutigen Wortsinn. Welche Rolle spielt sie in unserem Schönheitsurteil? »Das Auge mag Symmetrie«, stellte schon Darwin fest. Wenn man einem vier Monate alten Baby Muster zeigt, »erkennt« es diejenigen am besten, die um eine vertikale Achse gespiegelt sind – sie sind ihm offenbar vertrauter (was sich durch gelangweiltes Wegschauen äußert). Wenn Kinder den Stift zur Hand nehmen, malen sie am liebsten symmetrische
Motive: Ihre Häuser haben die Tür in der Mitte, rechts und links je ein Fensterlein. Die ersten Versuche der Attraktivitätsforscher zum Einfluss von Symmetrie auf unser Schönheitsurteil verliefen allerdings eher enttäuschend. Man spiegelte Gesichter in der Mitte und erhielt so zwei mehr oder weniger unterschiedliche »Chimären« – je nachdem, ob die linke oder die rechte Hälfte gespiegelt wurde. Diese supersymmetrischen Neuschöpfungen wurden allerdings oft nicht als besonders attraktiv empfunden, manchmal sogar als unheimlich, fremd und zombiehaft. Zu ansprechenderen Spiegelbildern kommt man mit der Morphing-Technik. Dabei wird das ganze Gesicht mit seinem Spiegelbild verschmolzen. In dem neuen Bild sind also beide Gesichtshälften gleichermaßen vertreten; es wirkt deshalb lebendiger und echter.
Symmetrie gegen Durchschnitt
Macht Symmetrie ein Gesicht wirklich attraktiver? Um es gleich zu sagen: So ganz einig ist sich die Wissenschaft in dieser Frage nicht. Das Lager der ProSymmetrie-Fraktion wird angeführt von David Perrett, der an der schottischen University of St. Andrews das »Wahrnehmungs-Labor« leitet, an dem seit Jahren die Wirkung von Schönheit erforscht wird.¹⁵ Auf den ersten Blick würde man den Psychologieprofessor mit seinen bunt gefärbten, aufgegelten Haaren eher an der E-Gitarre als am Vorlesungspult vermuten. »Symmetrie ist ein deutlicher Attraktivitätsfaktor«, sagt der Schotte. Er hat am Computer unterschiedlich symmetrische Versionen derselben Gesichter erzeugt und bewerten lassen. Das Ergebnis: Die symmetrischeren Versionen werden klar bevorzugt. Perretts Ergebnis wurde zwar in einigen anderen Untersuchungen bestätigt – aber durchaus nicht in allen. In zwei neueren britischen und amerikanischen Untersuchungen wurden die am Computer erzeugten symmetrischeren Versionen sogar als weniger attraktiv wahrgenommen. Vielleicht liegt die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse in der Natur der Symmetrie selbst. Sie kann auch als allzu perfekt wahrgenommen werden, als unecht und kalt – und das hängt möglicherweise damit zusammen, dass der natürliche Ausdruck von Emotionen fast immer eine Seitenbetonung aufweist. Nur »aufgesetzte« Gefühle sind vollkommen symmetrisch. Ein gewisses Maß an Asymmetrie verleiht
einem Gesicht manchmal erst Lebendigkeit und menschliche Wärme – und darin liegt vielleicht auch der Grund, weshalb man gerade asymmetrische Flecke als Schönheitsflecke bezeichnet. Für die höhere Attraktivität von Durchschnittsbildern dürfte also nicht (nur) die höhere Symmetrie verantwortlich sein (genauso wenig wie die homogenere Textur), sondern tatsächlich die Durchschnittlichkeit. Diese These wird auch von einem originellen Experiment des Londoner Psychologen Tim Valentine gestützt. Er erstellte Durchschnittsbilder nicht nur von den üblichen frontal aufgenommenen Gesichtern, sondern auch von Profilfotos derselben Gesichter und stellte fest, dass der Durchschnittseffekt in beiden Ansichten zum Tragen kommt. 120 Jahre nach Galtons Zufallsentdeckung ist die These, dass Durchschnittlichkeit schön macht, wissenschaftlich so gut abgesichert, dass man sie mit Fug und Recht als den ersten Hauptsatz der Schönheitsforschung bezeichnen kann.
Schönheit – mehr als Durchschnitt
Allerdings: Wenn man sich die Durchschnittsbilder der verschiedenen Studien vornimmt, stellt man eines fest: Das Verschmelzen macht die Gesichter im Schnitt zwar tatsächlich attraktiver, aber es gibt immer einzelne Originalgesichter, die noch schöner sind als selbst das »durchschnittlichste« der virtuellen Überlagerungsbilder. »Durchschnittsbilder sind attraktiv …, aber sehr attraktive Gesichter sind nicht durchschnittlich«, lautet deshalb der Titel einer Publikation, die 1991 als Replik zur Langlois’schen Durchschnitts-Hypothese erschien. Die Autoren Thomas Alley und Michael Cunningham argumentieren darin, dass Ausnahmeschönheit auf Merkmalen beruht, die sich vom Durchschnitt in systematischer Weise abheben. Und damit wären wir beim zweiten Hauptsatz der Schönheitsforschung – bei dem sich ausnahmsweise einmal der gesunde Menschenverstand bestätigt fühlen darf. »Schönheit ist mehr als Durchschnitt.« Denn wenn Durchschnitt wirklich superattraktiv wäre, müssten wir auch sämtliche Einzelmerkmale in mittlerer Ausprägung als superattraktiv empfinden, also mittelgroße Augen, mittelstarke und mittelrote Lippen, mittelhohe Wangen etc. »Durchschnitt kann nicht alles sein«, sagt auch Martin Gründl und hat gleich einen Beweis parat: die beiden »SexyGesichter«, wie sie im Regensburger Morphing-Slang heißen, die Durchschnittsbilder aus den vier attraktivsten Frauenbzw. Männergesichtern (siehe Abb. 12).
Abb. 12: »Sexy-Gesichter« – aus den jeweils vier schönsten Gesichtern gemorphte Durchschnittsgesichter (aus: Gründl et al. 2001).
Vergleichen wir die Bilder mit denen auf Seite 48, die den Mittelwert aus allen Frauen- bzw. Männergesichtern darstellen, so stellen wir fest: Sie sind deutlich attraktiver. Und das, obwohl in den Durchschnitts-Prototypen ein Vielfaches (nämlich 64 bzw. 32) an Gesichtern steckt! Durchschnitt ist also doch nicht alles.
Verschärft schön
David Perrett, der Mann mit der Vorliebe für bunte Haare, läutete mit einem denkwürdigen Experiment die nächste Runde im wissenschaftlichen Schönheitswettbewerb ein. Aus 60 unterschiedlich schönen Frauengesichtern stellte er ein Durchschnittsbild her und ebenso eines aus den 15 attraktivsten Gesichtern aus seinem Bilderpool – ein »SexyGesicht« also, welches dann auch erwartungsgemäß von 90 Prozent der Versuchspersonen als schöner empfunden wurde. So weit, so bekannt. Aus den beiden Gesichtern erzeugte er daraufhin ein drittes – und zwar folgendermaßen: Er ließ den Computer den Unterschied zwischen dem Durchschnittsgesicht und dem »SexyGesicht« errechnen und übertrieb diesen dann in einer Art von »Karikatureffekt« noch einmal um 50 Prozent. Und tatsächlich: Das neue Gesicht war noch einmal attraktiver. Was hat Perretts Hyperschöne, was andere nicht haben? Höhere Wangenknochen, größere Augen, etwas höhere Augenbrauen und einen kürzeren Abstand zwischen Nase und Mund sowie zwischen Mund und Kinn, also eine niedrigere untere Gesichtshälfte. Diese Aufzählung dürfte ein Mann an der University of Louisville in Kentucky mit besonderer Befriedigung gelesen haben: Michael Cunningham. Er gehört zu den alten Hasen der evolutionspsychologischen Schönheitsforschung. Schon lange bevor man anfing, am Computer mit Gesichtern zu spielen, ging er auf seine Weise der Frage nach den Ingredienzen von Superattraktivität nach – indem er nämlich Fotos von weiblichen Gesichtern sammelte. Die einen stammten von ganz normalen Studentinnen, die anderen
aus dem Jahrbuch der Miss-Universum-Wahlen. Nun ließ er seine Studenten mit Lineal und Zirkel auf die Bilder los. Wie unterschieden sich die Superschönen von den Normalas? Hier ist die Cunningham’sche Schönheitsliste: große Augen, höhere Augenbrauen, betonte Wangenknochen, kleine Nase, grazilere Kieferund Kinnpartie. Cunninghams und Perretts Schönheiten ähneln sich offenbar wie ein Ei dem anderen. Aber noch etwas anderes fällt auf: Offenbar finden sich in einem schönen Frauengesicht die Züge eines Kindes!¹⁶
Verführung Volljähriger
Babygesichter sind wie ein Zauberspruch. Wenn erwachsene Menschen anfangen, enthemmt zu grimassieren, pausenlos mit dem Kopf zu nicken und mit Quietscheentchenstimme sinnfreies Gebrabbel von sich zu geben, kann man sicher sein, dass ein Baby in der Nähe ist. Wenn wir ein junges Kätzchen oder einen Hundewelpen sehen, geht übrigens dasselbe Theater los – unsere Stimme wird höher, wir reißen die Augen auf und lächeln selig. Wir müssen das Kindchen einfach »süß« finden. Das Programm haben wir mit fast allen höheren Tieren gemeinsam. Es sorgt dafür, dass wir auf Kinder »richtig« reagieren – nämlich fürsorglich. Seine Aufgabe ist es, Aggressionen in Schach zu halten, und zwar sowohl die der Artgenossen als auch die der eigenen Eltern. Wer Kinder hat, weiß, dass das manchmal vonnöten ist (vor allem nachts um 4 Uhr). Die auslösenden Reize für das Schutzprogramm unterscheiden sich von Tierart zu Tierart. Manchmal sind es bestimmte Laute, etwa das Piepsen eines Kükens, das flauschige Geburtsfell oder die Färbung eines Körperteils. Wenn man die schwarzen Schnäbel von jungen Zebrafinken rot anmalt, so dass sie Erwachsenenschnäbeln ähneln, werden die Jungen nicht mehr gefüttert, und wenn sie noch so weit den Schnabel aufsperren. Mit dem Verschwinden der Kindchenzeichen wird dem Nachwuchs automatisch der Schutz der Erwachsenen entzogen (bei den Schwänen z. B. mit dem Wechsel vom grauen zum weißen Gefieder). Auch der Mensch ist nur so lange »süß«, wie er aussieht wie ein Kind.
Im Grunde ist das »Kindchenschema« ein vom Baby entwickeltes Programm, seine Mitmenschen zu manipulieren. Dass sich davon nicht nur die eigenen Eltern, sondern auch wildfremde Menschen in Bann schlagen lassen, ist aus evolutionärer Sicht eigentlich paradox – da diese davon ja mangels gemeinsamer Gene keinerlei Fortpflanzungsvorteil haben. Offenbar handelt es sich bei diesem an sich nicht »adaptiven« Verhalten um ein so genanntes Nebenprodukt: Der Vorteil, den unsere eigenen Kinder aus dem Prinzip ziehen, ist größer als der Nachteil, den wir dadurch erleiden, dass wir unsere Aufmerksamkeit auch jedem anderen »dahergelaufenen« Baby mit fremden Genen schenken – ja, dass wir sogar noch Babys anderer biologischer Arten süß finden. Selbst Kleinkinder verfügen übrigens schon über ein Erkennungsprogramm für Kindergesichter. Sie reagieren auf fremde Kindergesichter anders als auf Erwachsenengesichter: Während sie die Großen offenbar als Bedrohung erleben und »fremdeln«, bleiben sie den Kleinen gegenüber zutraulich. Das Kindsgesicht ist eine Art Schutzbrief der Natur. Beim Menschen besteht er zuallererst in dem im Verhältnis zum Gesicht enormen Kopf, der dadurch zustande kommt, dass das Gehirn bei der Geburt schon annähernd seine volle Größe besitzt, der Gesichtsschädel aber noch unterentwickelt ist. Auch die Augäpfel sind bei der Geburt schon fast ausgewachsen und sorgen für die Kulleraugen im Babygesicht. Dazu kommen die Pausbacken, das kleine Stupsnäschen, lange Wimpern, hohe, dünne Augenbrauen, ein kleiner Mund mit vollen Lippen, das kleine, fliehende Kinn und eine hohe Stirn. Konrad Lorenz prägte für dieses Verführungssystem die Bezeichnung »Kindchenschema«. Beim Kindchenschema scheint dem Prinzip Übertreibung keine Grenze gesetzt: »Völlig übertriebene« Kindsköpfe
wirken erst recht unwiderstehlich, wenn die Grenze des Natürlichen längst überschritten ist. Das weiß niemand besser als die Spielzeug- und Unterhaltungsindustrie. Baby Born, Teddybär, Bambi, Mickymaus – alle machen sich das Prinzip zunutze: Je übertriebener das Kindchenschema, desto süßer müssen wir sie finden. Wir werden diesem merkwürdigen Phänomen noch öfter begegnen, wenn es um Schönheit geht. Das Babyface entwickelt sich erst im Lauf der letzten Wochen vor der Geburt und dann verstärkt in den ersten Lebenswochen, wenn der Säugling zunimmt und die nötigen Gesichtsrundungen entwickeln kann. Untersuchungen zeigen, dass Kinder mit ausgeprägtem Kindchenschema fürsorglicher behandelt werden, sowohl von ihren Eltern als auch dem Pflegepersonal der Säuglingsstation. Frühgeborene dagegen haben oft unter ihrem relativ »reif« aussehenden Gesicht zu leiden. Für die Charmeoffensive, die Babys starten müssen, um die Herzen ihrer Mitmenschen zu erobern, fehlt ihnen nämlich die entscheidende letzte Phase im Mutterleib, mit zum Teil fatalen Folgen: Sie finden schwerer Pflegeeltern, werden häufiger vernachlässigt und missbraucht.
Abb. 13: Kindchenschema. Links ein normaler Babykopf, rechts eine übertriebene Version (nach Hückstedt 1965)
Wie viel Bambi gehört in die Schönheitsformel?
Was hat das Kindchenschema mit der Schönheit von Erwachsenen zu tun? Die Regensburger MorphingSpezialisten sind auch dieser Frage nachgegangen. Aus dem Universitäts-Kindergarten »liehen« sie sich vier Kinder zum Foto-Shooting aus (die Gage bestand aus Überraschungseiern). Aus den vier Gesichtern wurde dann am Computer ein Durchschnittsgesicht gemorpht. Dieser Kinder-Prototyp wurde nun – in 10-Prozent-Schritten – elektronisch in verschiedene Frauengesichter hineingemischt. Wie änderte sich deren Attraktivität? Das Votum im Einkaufszentrum war eindeutig: 90 Prozent der befragten Männer und Frauen fanden, dass das Gesicht durch die Kindchenbeimischung attraktiver wurde. Die besten Wertungen erhielten im Schnitt die Gesichter mit einem Kindchenanteil von 30 Prozent. Warum finden wir es eigentlich so attraktiv, wenn Frauen wie Kinder aussehen? Für Feministinnen ist der Fall klar: In einer männlich dominierten Kultur werden nun einmal Zeichen der Unterordnung hoch geschätzt. Attraktivitätsforscher geben eine andere Erklärung – und die hat erst mal mit unserer Biologie zu tun. Die Entwicklung des Gesichts bei Mann und Frau verläuft nämlich unterschiedlich. Im Babyalter sind die Gesichter von Jungen und Mädchen kaum zu unterscheiden, und auch noch im frühen Schulalter ähneln sie sich ziemlich. Mit der Pubertät ändert sich das aber schlagartig. Unter dem Einfluss des männlichen Testosterons »reift« der Gesichtsschädel des Jungen – er streckt sich vor allem in der unteren Partie, das Kinn wird
stärker, der Kiefer kräftiger, die Wangenknochen treten hervor, die Fettpolster der Wangen schmelzen, unter den dicker werdenden Stirnwülsten liegen die Augen tiefer und wirken kleiner, die Nase wächst von der kindlichen Stupsnase zu einer geraden oder eher konvexen Form, die Stirn flacht sich ab, die Augenbrauen werden buschiger, die Haut rauer und behaarter (siehe Abb. 14).¹⁷
Abb. 14: »Reifes«, männliches Gesicht mit den Hauptcharakteristika: betonte Wangenknochen, schmale Wangen, kräftiges Kinn.
Bei der Frau jedoch bleibt das Gesicht näher an der Form, die es schon vor der Pubertät hatte: die Augen relativ groß, die Brauen dünn und hoch, die Wimpern lang, die Nase klein und eher nach oben gerichtet, die Stirn nach oben gewölbt, die Formen des Gesichts runder. Der Kiefer wird zwar breiter, nimmt aber an Höhe nicht wesentlich zu, so dass die weibliche Kinnpartie zarter wirkt. Die Lippen werden unter dem Einfluss von Östrogen voller, die Haut bleibt glatt und haarlos. Etwas überspitzt ausgedrückt: Die Frau gleicht einem umgebauten Baby, der Mann dagegen geht eher Richtung Neandertaler.¹⁸ Das Phänomen, dass das erwachsene Frauengesicht bei seiner Entwicklung in einem kindlichen Stadium stehen bleibt, wird von Biologen als »Neotenie« bezeichnet. Bei der weiblichen Schönheit geben sich Kind und Frau sozusagen die Hand. Zu diesem Ergebnis kam auch der Evolutionspsychologe Victor Johnston von der University of New Mexico mit einem der originellsten Experimente der Schönheitsforschung. Anfang der neunziger Jahre ließ er die Besucher seiner Website 30 weibliche Gesichter bewerten, die er mit einem Programm entworfen hatte, das ursprünglich zur Herstellung von Phantombildern entwickelt worden war. Nach jeder Bewertungsrunde wurde nun das am schlechtesten benotete Bild aus der Auswahl entfernt und durch ein neues ersetzt, das der Computer aus dem jeweils schönsten und einem der anderen verbliebenen Gesichter zusammenkomponierte. Der ganze Prozess versteht sich als »simulierte Evolution«, bei der der »Fitteste« (in diesem Fall die Schönste) mit Nachwuchs gesegnet ist, der »Unfitteste« dagegen ausstirbt. Von »Generation« zu »Generation« entwickelt sich so ein Gesicht, das dem Ideal der Bewerter immer näher kommt. Nachdem 10.000 Menschen von überall auf der Welt an diesem gnadenlosen Business teilgenommen hatten, war die Schönste im ganzen Land geboren.¹⁹
Abb. 15: Links die »Siegerin« in Johnstons simulierter Evolution. Im rechten Bild wurden die Proportionen desselben Gesichts an die des Bevölkerungsdurchschnitts angepasst (aus: Johnston & Franklin 1993).
Johnstons Traumschönheit hat mit der von Cunningham und Perrett neben den vollen Lippen vor allem eines gemeinsam: die zartere, kindlichere Kinnpartie. Die Gesichtsproportionen entsprechen denen eines elfjährigen Mädchens.²⁰
Abb. 16: Johnstons Schönheit (links) hat ein deutlich kürzeres Mittel- und Untergesicht und sieht damit kindlicher aus (nach Johnston & Franklin 1993).
Reife Frauen
Je kindlicher also, desto schöner? So einfach ist es nicht. Zur Schönheit einer Miss Universe gehört laut Michael Cunningham mehr als Kindlichkeit – und zwar interessanterweise das genaue Gegenteil davon, nämlich Reife. Dabei ist allerdings von allen Reifezeichen, die ja eigentlich das voll entwickelte männliche Gesicht charakterisieren, nur eines gefragt, nämlich die berühmten »hohen Wangenknochen«, die in Wirklichkeit nur zum Teil mit den Knochen zu tun haben, sondern vor allem damit, dass die kindlichen Fettpolster der Wangen im reifen Gesicht dahingeschmolzen sind, weshalb es weniger rund und flächig erscheint (siehe Abb. 17). Die so entstehenden Wangenschatten sind so begehrt, dass sich Filmdiven sogar die Backenzähne ziehen ließen, um diese noch zu verstärken. Laut Cunningham ist es gerade die Mischung aus Kindlichkeit und Reife, die weibliche Schönheit so anziehend macht (siehe Abb. 18). Das Kindgesicht signalisiert Jugendlichkeit, Frische und Weichheit, es appelliert an unseren Beschützerinstinkt. Das reife, »männliche« Gesicht dagegen signalisiert Energie, Kompetenz und Lebenstüchtigkeit. Beides zusammen sendet die Botschaft aus: »Ich bin jung, aber schon alt genug.« Dabei ist das »optimale« Mischungsverhältnis der beiden Qualitäten keinesfalls konstant, sondern je nach den Umständen ist mehr Kind oder mehr Reife gefragt. Auf dem Laufsteg beispielsweise dominieren die reifen, männlichen Gesichter. »Fashion models« sollen im Gegensatz zu den »Glamour models« aus der Zahnpastawerbung vor allem
Status repräsentieren. Aus diesem Grund dürfen wir auf dem Catwalk auch kein Lächeln sehen, die Models sollen die unterkühlte Eleganz unerreichbarer Luxusgeschöpfe ausstrahlen. Auch ihre Statur ist ganz auf Status getrimmt: Laufstegschönheiten sind groß wie Männer und müssen knabenhaft flach daherkommen. Süße und Weiblichkeit haben auf den Schauen der Haute Couture Hausverbot. Auch unterschiedliche Zeiten erfordern unterschiedliche Typen. Wenn man dem amerikanischen Psychologen Terry Pettijohn vom Mercyhurst College glauben darf, gibt es immer dann einen Trend zu mehr Reife, wenn die Zeiten härter werden – Beispiel Marlene Dietrich in den vierziger Jahren. Im wirtschaftlichen Aufschwung dagegen ist mehr der kindliche Typ gefragt – wie in den fünfziger Jahren Marilyn Monroe.
Abb. 17: Reifezeichen am Beispiel von Marlene Dietrich: hohe Wangenknochen und überschattete, schmale Wangen (aus dem Film »Morocco«, 1930).
Kind, Frau, Freund. Auf die Mischung kommt es an
Neben Kindlichkeit und Reife fehlt laut Cunningham aber noch eine dritte Zutat zur perfekten Schönheit: die so genannten Ausdruckszeichen. Zu diesen zählt Cunningham ein freundliches Lächeln, weite Pupillen und hohe Augenbrauen – alles Zeichen, die Freundlichkeit, Zugänglichkeit und positive Gefühle übermitteln. Ihre Botschaft lautet: Hier kommt ein Freund.²¹ Lächelnde Menschen wirken einladend. Wer den anderen anlächelt, präsentiert sich als potenzieller Bündnisgenosse. Verärgerte Menschen dagegen stoßen ab, »instinktiv« will man nichts mit ihnen zu tun haben. Kein Wunder also, dass ein lächelndes Gesicht als attraktiver bewertet wird als dasselbe Gesicht in »Ruhestellung« – vor allem bei Frauen, die im Übrigen die Ausdrucksmöglichkeiten ihres Gesichts viel stärker nutzen als Männer.²² Sie halten beispielsweise mehr Blickkontakt und lächeln und lachen sehr viel öfter. Testosteron ist dagegen geradezu ein Lächelkiller – je mehr davon im Blut kreist, desto unbewegter ist das Gesicht. Ein Macho lächelt nicht (obwohl auch ihn ein breites Lächeln attraktiver macht). Doch noch vor dem Lächeln heißen wir unsere Mitmenschen mit den Augen willkommen. Wenn wir jemanden grüßen, heben wir die Augenbrauen unwillkürlich für den Bruchteil einer Sekunde und vergrößern damit die Augen – der so genannte Augenbrauenblitz, der zum angeborenen mimischen Signalsystem gehört und überall auf der Welt verstanden wird. Auch wenn wir mit Babys kommunizieren, heben wir die Augenbrauen, so stark wir können, und signalisieren auf diese Weise etwas für das Kind
Lebensnotwendiges: Zuwendung. Wer also angeborenerweise hohe Augenbrauen hat, sendet sozusagen ein permanentes Zeichen des Willkommens, ob er nun will oder nicht.²³
Abb. 18: Nicht umsonst gehört Isabella Rossellini (hier auf dem Cover ihrer Autobiografie) zu den erfolgreichsten Models und Schauspielerinnen weltweit. Ihr Gesicht spiegelt Kindlichkeit und Reife gleichermaßen wider.
Fenster zur Seele
Seit jeher gelten die Augen als Fenster zur Seele. »In den Augen kann man lesen, was im Herz geschrieben steht«, schreibt der Renaissance-Schriftsteller Agnolo Firenzuola. Wenn es nur so einfach wäre! In dem Prozess gegen den Bigamisten Giovanni Vigliotto, der zwischen 1949 und 1981 ganze 194-mal geheiratet hatte (und zwar Frauen aus 27 verschiedenen Ländern), gab eine der Betroffenen zu Protokoll: »Es war seine aufrichtige Art, mir in die Augen zu schauen.« Menschen mit großen Augen werden als vertrauenswürdiger, offener und zugewandter empfunden. Kein Wunder, dass große Augen zu den Hauptzutaten zumindest der weiblichen Schönheit gehören. Die Augen sind der intimste Teil des Gesichts. Wer sich schämt, schlägt die Augen nieder, um zu verbergen, was in ihm vorgeht. Die geradezu aggressive Macht von Sonnenbrillen rührt daher, dass sie uns die Möglichkeit nehmen, im Gesicht des anderen zu lesen. Ein Gutteil unserer Identität scheint in der Augenregion codiert zu sein – ein schwarzer Balken über den Augen reicht aus, um jemanden unkenntlich zu machen. Unser Gemütszustand drückt sich über die Augen aus. Am offensichtlichsten, wenn wir weinen, aber auch der »Glanz« gibt Hinweise auf unser Innenleben. Wenn es jemandem gut geht, strahlen die Augen. In den Schönheitsbeschreibungen des Mittelalters gehört der »splendor oculorum«, der Glanz der Augen, zum festen Bestand des Schönheitskanons. Das eigentliche Fenster zur Seele ist jedoch die Pupille. Sie reagiert hochsensibel nicht nur auf Licht, sondern auch auf
innere Zustände. Die Iris ist Signalposten unseres vegetativen Nervensystems, das unser Gemütsleben reguliert. Bei Erregung weitet sie sich unwillkürlich, egal ob der Auslöser Angst, Freude, ein lautes Geräusch oder Musik ist. Große Pupillen spiegeln Aufmerksamkeit, Zuwendung und zärtliche Liebe wider. Langeweile und Schläfrigkeit machen sie dagegen klein. Große Pupillen gehören folgerichtig zu den Attraktivitätszeichen, bei Männern und Frauen gleichermaßen. In den sechziger Jahren vergrößerten bzw. verkleinerten Forscher die Pupillen auf Porträtfotos durch Retusche. Die Gesichter mit den größeren Pupillen wurden durchgehend als hübscher, netter und freundlicher eingestuft. Im Mittelalter griffen italienische Frauen zu einem pharmakologischen Schönheitstrick, indem sie sich den Extrakt der Tollkirsche – die nicht umsonst den italienischen Namen Belladonna (»schöne Frau«) trägt – in die Augen tropften. Interessanterweise beeinflussen erweiterte Pupillen auch die eigene Wahrnehmung. Die weiten Pupillen wirken wie die geöffnete Blende einer Kamera, die mehr Licht eintreten lässt, dafür aber die Tiefenschärfe verringert und damit die Welt um uns weichzeichnet. Dieses schummrig-sanfte Empfinden wird im Film durch Gegenlichtaufnahmen und Lichtfilter simuliert – wir blicken gleichsam mit den erweiterten Pupillen der Verliebten auf unsere Helden.
Haben Sie eigentlich gemerkt, dass wir schon geraume Zeit fast nur über Frauen sprechen? Jetzt ist der Mann dran.
Was den Mann schön macht
Eine der ersten Botschaften eines Gesichts lautet: Mann oder Frau. Dabei gibt es viele Grade von Weiblichkeit und Männlichkeit – auch eindeutig weibliche Gesichter können maskuline Züge tragen und umgekehrt. Die Merkmale von Männer- und Frauengesichtern überschneiden sich teilweise, bei manchen Gesichtern muss man tatsächlich zweimal hinsehen. Während sich Babygesichter nur mit Mühe auseinander halten lassen, werden in der Pubertät die Unterschiede größer, um sich dann mit zunehmendem Alter wieder zu verwischen. Aber selbst bei Erwachsenengesichtern gelingt uns die Unterscheidung auf Anhieb nur bei 96 Prozent der Fälle. Nun liegt die Vermutung nahe, dass Attraktivität mit dem Unterschied der Geschlechter zu tun hat. Anders gesagt: Eine Frau sollte umso attraktiver sein, je mehr sie wie eine Frau aussieht, und ein Mann, je mehr er wie ein Mann aussieht. Bei der Frau trifft das auch tatsächlich zu: Weiblichkeit macht sie attraktiv. Beim Mann hingegen ist der Fall wieder einmal komplizierter. In vielen Untersuchungen kommen die männlichen Ecken und Kanten bei den weiblichen »Ratern« gut weg, vor allem das kräftige Kinn und die markanten Wangenknochen. In anderen Studien wiederum werden eher die »Softie«-Typen bevorzugt. Bei der Männlichkeit scheinen sich also die Geister zu scheiden. Zu viel davon wird schnell unattraktiv. Schwarzenegger-Typen sind für die meisten Frauen genauso wenig attraktiv, wie Barbie-Frauen für die meisten Männer anziehend sind.
David Perrett synthetisierte 1998 am Computer nach seiner »Karikatur-Methode« je ein Durchschnittsgesicht von Männern und Frauen. Nun stellte er von jedem Gesicht eine um 50 Prozent »übertriebene« Version her, also eine feminisierte Frau und einen maskulinisierten Mann, außerdem je eine um 50 Prozent »untertriebene« Version, also eine vermännlichte Frau und einen verweiblichten Mann, sowie sämtliche Übergänge zwischen den beiden Extremen. Die Versuchspersonen – 50 Europäer und 42 Japaner – konnten nun mit der Computermaus das Bild herausklicken, das ihnen am meisten zusagte. Das Ergebnis: Die Frauen profitierten – ganz wie erwartet – von ihrer Verweiblichung. Doch auch die Männer wurden durch Verweiblichung attraktiver, und zwar für männliche und weibliche Bewerter gleichermaßen! Männlichkeit, so scheint es, ist für den Mann nicht ausreichend – um schön zu sein, muss er sich weibliche Schönheit borgen.
Der Mörder im Mann
Eine Erklärung könnte der zweite Teil des Experiments beisteuern: Perrett ließ die verschiedenen Gesichter nicht nur nach Attraktivität, sondern auch nach (vermuteten) Persönlichkeitseigenschaften bewerten. Dabei stellte sich heraus, dass der supermännliche Mann gegenüber seinem weichgespülten Pendant nicht nur als dominanter, sondern auch als kühler, weniger vertrauenswürdig und als weniger guter Papa eingestuft wurde. Die Ambivalenz dürfte im männlichen Geschlechtshormon Testosteron selbst begründet sein: So wie es Männlichkeit und Dominanz fördert, so erhöht es auch die Aggressivität und den Hang zur Untreue.²⁴ Dominanz wirkt zwar auf die meisten Frauen sexuell attraktiv, artet jedoch auch schnell in archaische Wildheit aus. Männlichkeit ist offenbar ein zweischneidiges Schwert, und darin dürfte auch der Grund liegen, warum die Noten, die Männer in RatingExperimenten erhalten, so viel stärker streuen als die von Frauen. »Sie können einem Laden 500 weibliche Mannequins verkaufen, ohne das geringste Problem zu bekommen. Aber liefern Sie nur zehn Männer, können Sie sicher sein, dass jeder, vom Geschäftsführer bis zum Liftboy, etwas an ihnen auszusetzen hat – der eine sieht aus wie ein Vergewaltiger, der andere wie ein Mörder und der da ist schwul«, sagt dazu der Model-Agent Michael Southgate. Ob die Macht des Machos als erotisch empfunden wird oder nur als egoistisch, hängt aber auch von der bewertenden Frau ab. Tony Little von der University of Liverpool wollte wissen, was passiert, wenn man Frauen am Computer mit Männergesichtern herumspielen lässt. Je attraktiver sich die
jeweilige Frau selber einschätzte, desto eher »entwickelte« sie per Mausklick maskuline Gesichter.²⁵
Frauen wollen mehr
»Was wollen Frauen?« Mit diesem Rätsel beschäftigte sich auch Michael Cunningham – und kam dabei zu dem Ergebnis, dass sie alles wollen, und zwar gleichzeitig: reife Männlichkeit und Dominanz (die sich in kräftigen Wangenknochen und einem kantigen Kinn ausdrücken) genauso wie Wärme und Vertrauenswürdigkeit (wie sie in den weichen Kindchenzeichen anklingen). Und schließlich auch noch Freundlichkeit und Umgänglichkeit (wie sie das breite Lächeln und die »offenen« Augen signalisieren). Der Mann soll Versorger und Beschützer sein, aber auch den Versoger- und Beschützerinstinkt in der Frau ansprechen – weshalb ihm ein Schuss Kindchen durchaus steht. Aber selbst diese Quadratur des Kreises ist letztlich nicht ausreichend. Damit ein Mann wirklich attraktiv ist, muss noch eines dazukommen: Status. Aus der Analyse von Heiratsanzeigen weiß man schon länger, dass es Männern bei der Frau ihrer Träume zuallererst um das Aussehen geht, danach kommt erst einmal lange gar nichts. Bei Frauen ist die Wunschliste länger, und Schönheit ist nur eines unter vielen Kriterien. Dabei handelt es sich durchaus nicht nur um die berühmten inneren Werte, sondern in erster Linie um Status und finanzielle Potenz. Bei einem Experiment des amerikanischen Anthropologen John Townsend präsentierte man Frauen dieselben Männer in unterschiedlicher Aufmachung: einmal im Anzug, ein anderes Mal in einer Burger-King-Uniform. In der Attraktivitätswahrnehmung der Frauen machte die kleine Verwandlungsaktion einen Riesenunterschied. Für das
Schönheitsurteil von Männern ist es dagegen schlichtweg unerheblich, welchen gesellschaftlichen Rang die Frau auf dem Bild einnimmt. Attraktiv ist attraktiv. Warum sollte ein knackiges Mädchen weniger knackig sein, wenn sie in einer Burger-Uniform steckt? Bezeichnenderweise wird in einer aktuellen Playboy-Kampagne gerade die schönste McDonald’s-Verkäuferin gesucht (allerdings ohne Uniform). In einem anderen Experiment wurde derselbe Mann schlagartig attraktiver, wenn der Versuchsleiter der weiblichen Jury vorher die Information zuspielte, dass es sich um einen Arzt handelte. Anders ausgedrückt: Condoleezza Rice, die US-Außenministerin, hat durch ihr Amt keinerlei Bonus beim anderen Geschlecht, was z. B. für ihren Exkollegen Joschka Fischer ganz offensichtlich nicht zutrifft. Frauen – so kann man es vielleicht ausdrücken – sehen nicht nur mit den Augen. Wir werden in Kapitel 6 darauf zurückkommen.
Widerspenstige Schönheit
Fassen wir an dieser Stelle noch einmal zusammen: Was macht ein Gesicht schön? Hier die Antworten der Attraktivitätsforschung im Schnelldurchgang:
– Makellose Haut. Sie steht nicht umsonst ganz oben auf der Liste, denn hier ist sich die Zunft ausnahmsweise einmal wirklich einig. – Durchschnittlichkeit. Auch hier ziehen fast alle Forscher an einem Strang. Das Prinzip »Je durchschnittlicher, desto schöner« hat jedoch Grenzen – die attraktivsten Gesichter sind mehr als Durchschnitt. – Symmetrie. Dieser klassischerweise als »Goldstandard« angesehene Attraktivitätsfaktor wird inzwischen zunehmend hinterfragt. Konsens unter den Forschern besteht allerdings darin, dass größere Abweichungen von der Symmetrie der Schönheit eines Gesichts abträglich sind. – »Cunningham-Faktoren«: Kindchen-, Reife- und Ausdruckszeichen. Das Konzept ist in der Attraktivitätsforschung recht populär, allerdings nicht unumstritten²⁶ – vor allem, was den Beitrag des Kindchenschemas angeht. Denn nicht das ganze Kind in der Frau ist attraktiv, sondern nur ein Teil davon, vor allem die kindlichen Proportionen der unteren Gesichtshälfte und die großen Augen. Alle anderen Kindchenzeichen haben keinen gesicherten positiven Einfluss – das gilt auch für die Stupsnase, die Größe des Mundes und den Augenabstand
– von den Pausbacken ganz zu schweigen. Andere Forscher sprechen deshalb lieber von »hyperfemininen« Gesichtern, denn die beiden hauptsächlichen Kindchen-Zutaten können auch als die Übersteigerung von typisch weiblichen Gesichtsmerkmalen aufgefasst werden.²⁷ – Hervortretende Backenknochen und schmale Wangen. Diese »Reifezeichen« sind in der Forschergemeinde unumstrittene Attraktivitätszutaten. – Alle anderen Einzelmerkmale des Gesichts sind unsichere Kandidaten, was ihren Beitrag zur Schönheit eines (Frauen)gesichts angeht. – Die Faktoren, die ein Männergesicht attraktiv machen, scheinen noch variabler als jene bei Frauengesichtern zu sein. Hier scheiden sich selbst bei der Durchschnittlichkeit die Forschergeister. Hervorstehende Wangenknochen sind vielleicht noch das verlässlichste Kriterium, aber nicht einmal das berühmte markante Kinn kommt in allen Studien gut weg.
Bei dieser Liste handelt es sich freilich keineswegs um ein Schönheitsrezept. Keine der Zutaten ist obligat. Und keine ist ausreichend. Eher handelt es sich um Bausteine für das Spiel der Natur, die aber jede Schönheit nach einem anderen Plan baut. Dem einen Gesicht tut eine größere Nase gut, dem anderen schadet sie. Auch wenn es universale ästhetische Prinzipien gibt, können schöne Menschen doch grundverschieden aussehen. Es gibt nicht einen Schönheitsprototypen, demgegenüber alle anderen Schönheiten mehr oder weniger mangelhaft sind, sondern ein unendliches Spektrum an Schönheiten, denen wir jeweils ohne zu zögern die Note »Eins plus«
zuerkennen würden und die doch jede eine ganz eigene Art von Schönheit repräsentieren – eine eigene Melodie, von der jede wieder anders auf uns wirkt. Das süße Kindgesicht löst andere Gefühle aus als die vermeintliche Sexbombe, das »scheue Rehlein« wiederum andere als die Kesse mit der großen Klappe. Der nette Bursche Marke Brad Pitt ist für uns ein anderer Mensch als der »Lonely wolve« von Marlboro. Schönheit kann sich mit Schwäche verbinden oder mit Stärke, mit Sex oder Askese, Süße oder Stolz, Opulenz und Transzendenz. Und dazu kommt noch, dass jede Epoche ihr eigenes Spiel mit der Schönheit treibt. Die obige Liste ist somit eine Momentaufnahme, die zunächst einmal für die »westliche Welt« des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts gültig ist. Die Momentaufnahmen anderer Epochen – das wissen wir schon aus Kapitel 1 – würden zwar mit der »unsrigen« in vielem übereinstimmen, aber auch durchaus Unterschiede aufweisen. Vom Spiel der Mode sind offenbar insbesondere die »Cunningham-Faktoren« betroffen, allen voran »Kindlichkeit« und »Reife«, die so etwas wie die beiden »ewigen« Pole zu markieren scheinen, zwischen denen unser Schönheitsempfinden hin und her schwankt. Wir werden darauf in Kapitel 4 zurückkommen.
Das Geheimnis
Von dem griechischen Künstler Zeuxis ist überliefert, dass er eines Tages die schönsten Mädchen der Stadt Kroton zusammentrommelte, um aus ihren jeweils schönsten Einzelteilen das Bild der perfekten Schönheit zusammenzusetzen. Wir wissen heute, dass er auf dem Holzweg war. Denn Schönheit ist mehr als die Summe ihrer Teile. Wir nehmen in Gesichtern nicht die einzelnen Bestandteile wahr – den Mund, die Augen etc. –, sondern die »Gestalt« als Ganzes. Wenn Zeugen das Gesicht eines Täters beschreiben sollen, können sie sich zwar meist daran erinnern, wie er auf sie gewirkt hat oder wem er ähnlich sah, nicht jedoch, ob er eine große oder kleine Nase hatte oder wie Mund oder Augen aussahen. Ganz ähnlich scheint es auch bei der Wahrnehmung von Schönheit zu sein: Wie bei einem Kuchen nehmen wir nicht die einzelnen Zutaten wahr. Was auf uns wirkt, ist der Duft.
Die Schönheitsforscher sind bei der Suche nach den Zutaten der Schönheit schon ein gutes Stück vorangekommen. Am Ende werden aber auch sie auf ein Problem stoßen, das sie mit Künstlern und Literaten gemeinsam haben: Je näher sie ihrem Ziel kommen, desto mehr entzieht es sich. Man kann Schönheit noch so wort- oder studiengewaltig beschreiben, einfangen kann man sie nicht. Vor allem eines wird auch in der vollständigsten Schönheitsliste immer fehlen: das Geheimnis. Wunderschön ist Schönheit erst, wenn sie ein Geheimnis verbirgt – irgendeine Brechung, eine Abweichung von der allzu perfekten Form, eine Merkwürdigkeit, die den Betrachter zu
einem zweiten und dritten und immer wieder neuen Blick zwingt. Schönheit muss »reizen«. Deshalb kann es auch vorkommen, dass eine Schönheit, wenn man genau hinschaut, Teile enthält, die für sich genommen einen Makel darstellen. Und das kann so weit gehen – wer von uns hat es nicht schon erlebt? –, dass die Grenzen zwischen »schön« und »hässlich« verschwimmen.
3 Schönheit im Kopf Die Vorderseite des Kopfes ist der komplizierteste Teil des menschlichen Körpers. Auf einer Fläche so groß wie eine Hand drängeln sich hier vier unserer fünf Sinne und bilden eine einzigartige Landschaft, in welche die Identität eines Menschen eingeprägt ist wie in das Hologramm eines Personalausweises. Von den zigmilliarden Menschen, die jemals die Erde bevölkert haben, waren und sind keine zwei identisch. Selbst eineiige Zwillinge – der Autor dieser Zeilen ist einer davon – unterscheiden sich im Gesicht: Der eine ist das Spiegelbild des anderen. Ich erinnere mich an die Identifizierungsaktionen unseres Opas, der zum Willkommen erst einmal unsere Köpfe hin und her drehte, um die Lage der Haarwirbel zu prüfen. Unser Gesicht ist die Voraussetzung für unser Leben als soziale Spezies – und heißt nicht umsonst »Ge-sicht«: Wir sind (zumindest ganz überwiegend) auf das Sehen angewiesen, um einander zu identifizieren. Kein Wunder, dass Gesichter unsere Lieblingsreize sind. Sieht ein Mensch ein paar Kringel und Punkte auf einem Blatt Papier, will er darin ein Gesicht sehen. Ein neun Minuten altes Neugeborenes, das noch nie ein menschliches Gesicht gesehen hat, fühlt sich von einem Muster, das einem Gesicht ähnelt, stärker angezogen als von jedem anderen. Affen, die in völliger Isolation aufgewachsen sind, erkennen ihre Artgenossen, wenn man ihnen deren Gesichter auf Fotos zeigt. »Man kommt mit dem Wissen auf die Welt, was ein Gesicht ist«, sagt die
Psychologin Vicki Bruce, die Weltexpertin auf dem Gebiet der Gesichtserkennung.
Die Sprache des Gesichts
Wo immer wir auf Gesichter treffen, wir müssen in ihnen lesen, denn die in ihnen enthaltenen Informationen können lebenswichtig sein. Wenn ein Krabbelkind irgendeinem Lärm ausgesetzt wird, schaut es als Erstes auf das Gesicht der Mama – und reagiert dann je nachdem, welche Zeichen es darin entdeckt. Mit dem Älterwerden entwickeln wir uns dann zu wahren Spezialisten im Gesichterlesen. Je nachdem, was wir da entziffern, lassen wir uns auf den andern ein oder machen einen Bogen um ihn. Das Gesicht ist Empfänger und Sender in einem. Es erwacht erst richtig zum Leben, wenn Menschen um uns sind. 43 mimische Muskeln bringen seine Oberfläche zum Sprechen – und zwar in einer Sprache, deren Grundbegriffe überall auf der Welt verstanden werden: Trauer, Zorn, Angst, Ekel, Verachtung, Überraschung, Freude. Neben dieser universalen Sprache gibt es aber auch noch lokale Dialekte. Insgesamt steht jedem Menschen ein Vokabular von über 10.000 Gesichtsausdrücken zur Verfügung. Dass unser Gesicht Ausdruck unserer Seele ist, heißt aber noch lange nicht, dass sich unsere Seele in ihm wirklich eins zu eins abbildet. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes »doppelgesichtig«. Das eine Gesicht, unser privates, wird vom Bewusstsein kaum kontrolliert und gibt getreu unsere Gefühle wieder. Das zweite setzen wir dagegen selber auf: unser soziales Gesicht. Was die Mitmenschen wahrnehmen, ist immer eine Mischung von beidem. Unser Lächeln etwa kommt in allen denkbaren Verschnitten vor, zwischen echtem Gefühlsausdruck (in diesem Fall ist es asymmetrisch) und bewusstem Eindrucksmanagement
(welches den Mund symmetrisch verzieht). Unser Gesicht oszilliert also, wie der französische Philosoph Alain Finkielkraut es ausdrückt, »zwischen Fassade und Bekenntnis«.
Gefühlvoller Mandelkern
Sobald ein Gesicht in unser Blickfeld gerät, fängt unser Gehirn, ohne dass wir uns dessen bewusst werden, wie rasend an zu arbeiten. Bekannt oder unbekannt? Mann oder Frau? Jung oder alt? Vor allem aber: Freund oder Feind? Was genau dabei im Gehirn passiert, ist noch weitgehend ungeklärt. Sicher ist jedenfalls, dass dabei ein Neuronenhaufen eine ganz zentrale Rolle spielt, der wegen seiner Form und Größe auf den Namen Mandelkern – lateinisch Amygdala – hört. Der Mandelkern sitzt beidseits hinter den Augen in der Mitte des Gehirns und bildet so etwas wie die erste Filterstation für soziale Signale. Ein Teil des Mandelkerns scheint dabei vor allem auf das Erkennen von Gesichtsausdrücken spezialisiert zu sein. Britische Wissenschaftler berichteten vor kurzem von einem Blinden, dessen Sehzentrum in der Hirnrinde durch einen Schlaganfall so zerstört war, dass er nicht einmal mehr Hell und Dunkel unterscheiden konnte. Als man ihm jedoch Fotos von Gesichtern zeigte, konnte er böse und freundliche Gesichtsausdrücke auseinander halten – dank seiner intakten Amygdala. Der Mandelkern ist eine Art Gefahrendetektor, der innerhalb von Millisekunden auf Gesichtsausdrücke reagiert, indem er uns die entsprechenden Gefühle »eingibt«: Angst, Vertrauen, Hass, Zuneigung. Außerdem registriert er sehr sensibel die Blickrichtung des Gegenübers und liefert so Informationen über eine der grundlegendsten Fragen des sozialen Miteinanders: »Bin ich gemeint?« Als Teil des so genannten Limbischen Systems gehört der Mandelkern zum wahrhaft vorsintflutlichen Inventar des Hirns, das wir mit Fischen und Reptilien gemeinsam haben. Ursprünglich wurden hier vor allem Geruchssignale verarbeitet, und auch heute noch ist
die Amygdala direkt mit dem Riechorgan verbunden. Eine ihrer Hauptaufgaben besteht darin, Wahrnehmungen mit Gefühlen zu verknüpfen.²⁸ Bei der Gesichtswahrnehmung sind allerdings auch »höhere« Areale der Hirnrinde eingeschaltet, allen voran der Schläfenlappen, in dem sich eine Ansammlung von hoch spezialisierten Neuronen mit nichts anderem als mit Gesichtern beschäftigt und es zu entsprechender Meisterschaft gebracht hat – zumindest der in der rechten Hirnhälfte gelegene Teil. Wenn dieser Schaltzentrale etwas zustößt, wird aus einem normalen Menschen ein so genannter Gesichtsblinder. Solche Menschen können weder sich selber noch andere Menschen am Äußeren erkennen (wohl aber über die Stimme, den Geruch oder den Gang). Einen von ihnen werden wir bald kennen lernen.
Mit den Augen fängt alles an
Wenn uns ein Gesicht begegnet, blicken wir zuallererst auf die Augen. Bei Versuchen an der Freien Universität Berlin erkannten die Testpersonen, denen man ein Bild einspielte, bei dem die Augen nicht dort saßen, wo sie sein müssten, schon nach 32 Millisekunden den Betrug – also lange bevor sich das Bewusstsein überhaupt einschalten konnte. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich auch, dass unser Gehirn das Gesicht in der Reihenfolge Auge-Mund-Nase verarbeitet.²⁹ Warum haben die Augen Vorrang? Eine Patientin mit dem Kürzel »SM«, deren Fall vor kurzem in der Zeitschrift Nature veröffentlicht wurde, hat die Forscher auf eine interessante Spur gebracht. SM stellte eines Tages etwas Merkwürdiges an sich fest: Sie kann keine Angst in den Gesichtern anderer Menschen erkennen. Freude, Trauer, Wut – alles kann sie »lesen«, nur nicht Angst. Und zwar aus einem einfachen Grund, wie die Forscher herausfanden: Während normale Menschen als Erstes unwillkürlich auf die Augenregion schauen, wenn sie ein Gesicht betrachten, richtet SM ihren Blick nur auf die Mund- und Nasengegend und kann somit das wichtigste Signal von Angst, die weit aufgerissenen Augen, schlichtweg nicht empfangen. Alle anderen Emotionen dagegen beziehen den Mund mit ein und bereiten SM keine größeren Schwierigkeiten. Schuld an der »Angst-Blindheit« von SM ist ein kleiner Defekt im Mandelkern. Offenbar sorgt die Amygdala normalerweise dafür, dass wir vor allem anderen reflexartig die Augen unseres Gegenübers »untersuchen« und dabei nicht nur auf Zeichen von Angst oder sonstigen Emotionen achten, sondern gleichzeitig auch die Blickrichtung registrieren, die durch das klar abgesetzte Augenweiß preisgegeben wird.
Auf diese Weise haben wir zwei überlebenswichtige Fragen schon auf den ersten Blick abgeklärt: Ist Gefahr im Verzug? Und: Wo kommt sie her? Ein Reflex, der so manchem unserer Vorfahren das Leben gerettet haben dürfte, der den Panther hinter seinem Rücken vielleicht zuerst in den aufgerissenen Augen eines Artgenossen erkannt hat.
Die Schokoladenseite
Optische Reize kommen zwar über beide Augen und erreichen auch beide Hirnhälften gleichermaßen – trotzdem spielt sich bei der Wahrnehmung von Gesichtern etwas Seltsames ab: Die rechte Gesichtshälfte scheint dem gesamten Gesicht mehr zu ähneln als die linke. Wir »glauben« ihr schlichtweg mehr. Sie können die Probe aufs Exempel machen (siehe Abb. 19).
Abb. 19: Fast alle Rechtshänder sehen in dem Gesicht den Gefühlsausdruck, den die (aus der Sicht des Betrachteten) rechte Gesichtshälfte zeigt (nach Landau 1989).
Die Ursache für das Phänomen ist unklar. Möglicherweise hat es mit der Dominanz der rechten Hirnhälfte bei der Gesichtsverarbeitung zu tun, denn die Signale aus dem rechten Gesichtsfeld gelangen ins rechte Hirn, wo ja – zumindest bei Rechtshändern – im Schläfenlappen das tüchtigere Gesichtszentrum sitzt. Eine der Folgen der asymmetrischen Wahrnehmung ist, dass ein aus den beiden rechten Hälften eines Gesichts zusammengesetztes Spiegelbild in aller Regel der jeweiligen Person ähnlicher sieht als eines, das aus den linken Hälften besteht. Beim eigenen Gesicht ist es bezeichnenderweise gerade andersherum: Wir schenken der linken Seite mehr Vertrauen, weil wir uns aus dem Spiegel nun einmal seitenverkehrt kennen. Die Bevorzugung der rechten Gesichtshälfte hat auch für die Wahrnehmung von Schönheit Konsequenzen, wie die Forscher vom Perception Lab in Schottland nachwiesen. Sie bauten am Computer Gesichter zusammen, deren beide Hälften aus unterschiedlichen Gesichtern stammten – die eine Hälfte aus einem attraktiveren, die andere aus einem weniger attraktiven. Und siehe da: Für das Schönheitsurteil der Betrachter war fast immer die rechte Gesichtshälfte ausschlaggebend! Oder ist etwa die rechte Seite tatsächlich die schönere? Dass der Verdacht nicht unbegründet ist, hat die Hirnforscherin Dahlia Zaidel von der University of California in Los Angeles mit einem ganz einfachen Experiment aufgezeigt: Sie erstellte am Computer so genannte Chimären, also spiegelsymmetrische Gesichter, die entweder nur aus zwei
linken oder nur aus zwei rechten Gesichtshälften zusammengesetzt waren, und ließ sie von Versuchspersonen bewerten. Zumindest bei Frauen wurde das aus den rechten Hälften zusammenkomponierte Bild weitaus häufiger als das attraktivere benannt. Womöglich hat die Bevorzugung der rechten Gesichtshälfte also wirklich etwas mit den Eigenschaften dieser Seite zu tun (und nicht etwa nur mit einer im Hirn des Betrachters angelegten Vorliebe). Warum wir nun ausgerechnet auf die rechte Seite von Gesichtern stehen, ist noch ein Rätsel. Jedenfalls können wir schon einmal festhalten, dass zumindest Frauen eine Schokoladenseite haben.
Die verborgenen Bahnen der Schönheit
Wie lange dauert es, bis wir wissen, ob ein wildfremdes Gesicht schön ist oder nicht? Genau 150 Millisekunden! Zum Vergleich: Bei einem 100Meter-Sprinter dauert es nach dem Startschuss bis zur ersten Zuckung der Muskeln ungefähr genauso lange. Wenn man Versuchspersonen mit einem so genannten Tachyskop für den Bruchteil einer Sekunde Bilder eines Gesichts zeigt, so unterscheidet sich ihr Schönheitsurteil nicht groß von dem derjenigen, die das Gesicht so lange »studieren« konnten, wie sie wollten. In dieser kurzen Zeit kann Schönheit nur als Gesamteindruck wahrgenommen werden, es finden noch keinerlei Augenbewegungen statt, mit denen das Bild abgetastet wird! Auf der Suche nach der Schönheitsverdrahtung im Hirn hatte die Forschung lange Zeit mit einem ziemlich profanen Hindernis zu kämpfen: Das Hirn ist von einer dicken Knochenhülle umgeben, die das Reinschauen zu einem schwierigen Unterfangen macht. Psychologen haben das Hirn deshalb lange Zeit als »Black Box« betrachtet, bei der man allenfalls beobachten kann, was reingeht und was rauskommt. Die einzige Methode, dem Hirn wenigstens aus der Ferne bei der Arbeit zuzusehen, war vor der Entwicklung moderner Bildgebungsverfahren die Elektroenzephalographie (EEG). Das EEG ist eine Art elektronischer Lauschangriff auf das Geflüster der Neuronen, bei dem die in den Nervenzellen entstehenden elektrischen Potenziale durch Elektroden aufgefangen werden, die auf der Kopfhaut befestigt worden sind, so dass der Proband aussieht wie ein Igel.
Genau solchen – männlichen – Igeln legten die beiden Psychologen Victor Johnston und Juan Oliver-Rodriguez von der University of New Mexico Bilder von Frauen und Männern aller Attraktivitätsgrade vor und beobachteten, was sich auf dem EEG-Monitor tat. Von den vielen Linien und Wellen hatten sie es dabei vor allem auf eine ganz bestimmte Unterart abgesehen, von der man bereits wusste, dass sie immer dann entsteht, wenn ein bestimmter Reiz einen »affektiven« Wert hat, also das Gefühl anspricht. Und tatsächlich: Der Ausschlag dieser ERP – event related potentials – genannten Wellen war höher, wenn das betrachtete Gesicht als schön empfunden wurde. Zum allerersten Mal war es damit gelungen, so etwas wie den »Schauer der Schönheit« im Hirn aufzufangen.
Nancy Etcoff, eine Hirnforscherin an der Universität Harvard, und ihr Team wollten es noch genauer wissen.³⁰ Hat das Erkennen von Schönheit etwas mit dem Erkennen von Gesichtern zu tun? Auf eine heiße Spur war Nancy Etcoff durch einen neurologischen »Fall« gekommen, einen 45-jährigen Mann, der seit einem schweren Unfall, bei dem Teile seiner rechten Gehirnhälfte schwer beschädigt wurden, unter »Gesichtsblindheit« leidet. Der Mann ist hochintelligent und »funktioniert« in Beruf, Familie und im gesellschaftlichen Leben, nur dass er eben kein einziges Gesicht wiedererkennen kann – weder das seiner Frau (die deshalb als Erkennungszeichen immer ein bestimmtes Schmuckstück tragen muss) noch die seiner Kinder. Was den Mann für die Schönheitsforschung so spannend macht, ist nun die überraschende Feststellung, dass er trotz allem die Attraktivität von Gesichtern durchaus einschätzen kann.
Wenn man ihm Bilder von Gesichtern zeigt, kommt er zu einem ganz ähnlichen Schönheitsurteil wie andere Menschen. Nancy Etcoff folgert daraus, dass die Schaltkreise für Gesichts- und Schönheitserkennung zumindest zum Teil getrennt angelegt sein müssen. Schönheit, so scheint es, zieht im Hirn ihre eigenen Bahnen.
Schönheit belohnt
Um den Spuren der Schönheit im Hirn weiter nachzugehen, setzten Nancy Etcoff und ihr Bostoner Team eine Methode ein, deren Erfindung in den frühen neunziger Jahren den Beginn einer neuen Ära eingeläutet hatte: die so genannte funktionelle Magnetresonanz-Tomographie. Mit ihrer Hilfe kann man dem Hirn sozusagen bei der Arbeit zuschauen. Wenn die Nervenzellen in einem bestimmten Hirnareal von einer Aufgabe besonders stark in Anspruch genommen werden, steigt dort durch den erhöhten Energieverbrauch die Durchblutung. Dieser erhöhte Blutfluss kann in der Magnetresonanz-Röhre sichtbar gemacht werden. Eigentlich bestand das Experiment der Bostoner Wissenschaftler aus dreien: Zunächst wurden einer Gruppe von männlichen Versuchspersonen Fotos von attraktiven und »normalen« Frauen und Männern vorgelegt. Die Probanden hatten nichts anderes zu tun, als Schönheitsnoten zu vergeben. (Frauen wurden als Versuchspersonen aus dem gesamten Experiment deshalb ausgeschlossen, weil man aus verschiedenen Untersuchungen weiß, dass ihr Schönheitsempfinden vom Menstruationszyklus abhängig ist; mehr dazu in Kapitel 6.) Im zweiten Versuch wurden einer anderen Gruppe genau dieselben Bilder eingespielt, aber diesmal konnten die Probanden per Tastendruck darüber entscheiden, wie lange sie das jeweilige Bild sehen wollten. Der dritten Gruppe schließlich wurden die Bilder in der Magnetresonanz-Röhre präsentiert, während man ihr Hirn beobachtete. Wie erwartet, waren sich die jungen Männer der ersten Gruppe bei ihrer Benotung ziemlich einig. In der Klick-
Gruppe entwickelte sich eine regelrechte Klick-Manie: Jeder Proband drückte in den vierzig Minuten, die ihm zur Verfügung standen, durchschnittlich fast 7000-mal auf die Tastatur, und zwar um sich ausschließlich die hübschen Frauen zu Gemüte zu führen. Selbst Hans Breiter, einer der Koautoren der Studie, war von der Klickerei so beeindruckt, dass er den Vergleich mit Ratten zog, die sich in Laborversuchen durch Knopfdruck Kokain verschaffen. Aber nun zum eigentlichen Sinn der Übung, dem RöhrenExperiment. Wie die Magnetresonanzaufnahmen verrieten, waren die Hirne der Probanden alles andere als unberührt von den schönen Gesichtern. Das Gerät verzeichnete heftige Aktivität im so genannten Belohnungssystem³¹ – allerdings nur, wenn attraktive Frauen im Blickfeld waren. Die anderen – Männer und weniger attraktive Frauen – wurden von diesem Schaltkreis schlichtweg ignoriert, ganz so, wie sie in der Tastendruck-Gruppe weggeklickt wurden. Das Belohnungszentrum zeigte sogar einen Aktivitätsabfall, wenn sich die Versuchsperson mit attraktiven Männern abgeben musste!
Schönheit, Koks und Kant
Breiters Vergleich mit den Ratten ist zwar nicht besonders schmeichelhaft, aber keineswegs aus der Luft gegriffen. Denn die von der Schönheit angeregten Schaltkreise haben wir tatsächlich mit Ratten (und anderen Säugetieren) gemeinsam – und außerdem sind sie nachgewiesenermaßen an der Entstehung von Süchten beteiligt. Das Belohnungssystem ist Teil des Limbischen Systems und zählt damit zur uralten Bausubstanz unseres Zentralnervensystems. Es besteht aus einem Netzwerk von Bahnen und Kerngebieten in der Tiefe des Hirns, zu denen neben dem Mandelkern noch andere Zellgruppen im Zwischenhirn gehören, die wiederum mit Teilen der Großhirnrinde verbunden sind. Die Belohnungsmaschinerie ist gleichsam die Mohrrübe vor unserer Nase. Sie sorgt dafür, dass wir Vorfreude auf die Dinge des Lebens empfinden, die uns Lust bereiten und damit das tun, was – im evolutionären Sinne – für uns »richtig« ist. Das urzeitliche Motivationssystem wird beispielsweise bei der Erwartung von leckerem Essen angeworfen, beim Gedanken an ein großes Sparkonto, aber auch bei Verliebten, wenn sie an ihren Schatz denken. Es verfällt in freudige Erregung, wenn eine unerwartete Belohnung eintritt – ein Geschenk oder eine gute Nachricht. Umgekehrt fällt die Erregung im System ab, wenn eine erwartete Belohnung ausbleibt – wenn etwa im Restaurant das Essen eine Stunde nach der Bestellung immer noch nicht auf dem Tisch steht. Die Kommunikation zwischen den einzelnen Teilen des Belohnungssystems läuft über den Botenstoff Dopamin, einen der so genannten Neurotransmitter, die Signale
zwischen den Nervenzellen übermitteln. Dopamin könnte man als so etwas wie die Droge des Begehrens bezeichnen. Aber zurück zum Experiment. Das Ergebnis zeigt, dass Schönheit für das Gehirn eine Art von Belohnung darstellt und dass unser Schönheitsempfinden damit zutiefst in der biologischen, in Jahrmillionen der Evolution geformten Natur des Menschen verankert ist. Aber noch etwas ganz anderes hat die Bostoner Untersuchung aus der Black Box Gehirn ans Tageslicht gefördert. »Es sieht ganz so aus, als gäbe es einen Unterschied zwischen dem, was dem Hirn gefällt, und dem, was es begehrt«, sagt Hans Breiter. Wie das Bewertungsexperiment der Gruppe 1 (und Tausende von anderen Bewertungsversuchen dieser Art) zeigt, verfügen wir augenscheinlich über einen Schönheitssinn, der uns vollkommen unabhängig von sexuellen Interessen eingibt, wer schön ist und wer nicht. Darüber hinaus ist da aber offenbar noch eine andere SchönheitsInstanz, diejenige nämlich, die die Probanden aus Gruppe 2 zum Klicken und die Neuronen in der Röhre zum Tanzen gebracht hat – und die ganz offenbar mit Sex zu tun hat. Schönheit scheint in unserem Hirn demnach in zwei Erscheinungsformen vorzukommen: als »objektive«, zweckfreie Schönheit, die uns »einfach so« gefällt; und als die lustmachende, anziehende, verführerische Schönheit, die mit ihrer Belohnung winkt. Von den Ergebnissen dürfen sich gleich zwei denkbar unterschiedliche Philosophen bestätigt fühlen, nämlich Platon, der Schönheit mit erotischem Begehren gleichsetzt, und Kant, der das genaue Gegenteil vertritt: dass das ästhetische Empfinden als »interesseloses Wohlgefallen« jenseits aller Triebe angesiedelt ist. Die Ergebnisse des Bostoner Experiments legen nahe, dass unser Gehirn beide Aspekte von Schönheit erfassen und verstehen kann.
Wenn man den Ergebnissen einer unlängst erschienenen Studie Glauben schenken darf, sind »Gefallen« und »Begehren« möglicherweise in unterschiedlichen Hirnhälften beheimatet. Kant und Platon sitzen sich in unserem Kopf sozusagen gegenüber. Frisch Verliebte wurden in die Magnetresonanz-Röhre geschoben und mit Fotos ihrer Angebeteten versorgt. Dass ihr Belohnungssystem aufleuchtete, und zwar auf beiden Seiten, wird niemanden überraschen. Dass dabei aber Liebe und Schönheit getrennte Wege gingen, kam auch für die Wissenschaftler unerwartet. Die Aktivität im Belohnungssystem der rechten Hirnhälfte war vom Grad der Verliebtheit abhängig, auf der linken Seite richteten sich die Lustneuronen jedoch ganz nach der Attraktivität der oder des Angebeteten. Es sieht also ganz so aus, als ob auch unser Hirn fein säuberlich trennen würde, was auch schon die Philosophen auseinander getüftelt haben: hier – links – das »Gefallen«, dort – rechts – das »Begehren«.³²
Im Auge der Schönheit
Während Nancy Etcoff und ihre Kollegen in Boston ihre Jungs durch die Röhre schoben, ging ein Team von Neurowissenschaftlern um Knut Kampe am altehrwürdigen University College of London genau derselben Betätigung nach – nur dass diesmal auch Frauen unter den Versuchspersonen waren. Erneut sahen sich die Probanden in der Röhre ihre Bilder an, und die Forscher schauten den Hirnen beim Schauen zu. Und ganz wie in Boston wurde auch in London das Belohnungssystem der Probanden aktiv, wenn ihnen ein attraktives Gesicht gezeigt wurde, und zwar umso aktiver, je attraktiver dieses war – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die oder der Schöne den Betrachter anschaute (siehe Abb. 20)! Und genauso, wie der Blick eines attraktiven Menschen die Belohnungsmaschinerie anwarf, würgte er sie auch wieder ab, wenn er sich abwendete. Ohne Blick blieb das Lustsystem stumm, und wenn die Gesichter noch so schön waren. Was aber tut sich bei unattraktiven Gesichtern? Wenn Sie meinen, auch die Neuronen in unseren tiefsten Schichten müssten sich an die Gesetze von politischer Korrektheit halten, haben Sie nun einen Trauerfall unter Ihren liebsten Überzeugungen. Unattraktive Gesichter ließen nämlich das Belohnungssystem erwartungsgemäß zunächst einmal kalt, auch wenn sie den Probanden in die Augen schauten. Wurden dieselben Gesichter jedoch mit abgewandtem Blick präsentiert, wurde das von den Lustneuronen der Probanden mit einem Juchzer registriert.
Knut Kampe erklärt sich das so: »Wir taxieren Menschen daraufhin, welche Belohnung wir von ihnen erwarten können.« Der von einem attraktiven Artgenossen erwiderte Blick stellt eine solche Belohnung dar, denn er signalisiert Interesse. Ein schönes Gesicht mit abgewandtem Blick dagegen lockt unsere Lustneuronen nicht so schnell aus der Reserve – wer weiß schon, wem der Blick gilt, mir jedenfalls nicht … Bei einem unattraktiven Zeitgenossen ist der Fall genau umgekehrt: Er löst erst dann Freudenstürme in unserem Primitivhirn aus, wenn – durch den abgewandten Blick – klar geworden ist, dass er nichts mit uns zu tun haben will. Unser Belohnungssystem reagiert sozusagen mit einem Seufzer der Erleichterung.
Abb. 20: Bin ich wirklich gemeint? Wie das Belohnungssystem Schönheit (bzw. Hässlichkeit) bewertet, scheint von der Blickrichtung des Gegenübers abzuhängen (aus: Kampe et al. 2001).
Mensch, nur ein Lächeln …
Die Botschaft des Londoner Experiments lautet also: Nicht Schönheit an sich wird belohnt, sondern die soziale Verbindung mit Schönen, genauer – das Versprechen einer Verbindung. Der Befund wird durch ein weiteres – unerwartetes – Ergebnis desselben Experiments unterstrichen: Die Aktivierung des Lustsystems war vollkommen unabhängig vom Geschlecht – und zwar sowohl des Betrachters als auch des Betrachteten! Die von den Lustneuronen vorweggenommene Belohnung ist also nicht unbedingt sexueller Natur. Schönheit scheint vielmehr zuallererst eine soziale Bedeutung zu haben: als Entscheidungshilfe bei der Frage, wem wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Diese Interpretation hat allerdings einen Haken: Sie passt partout nicht zu dem, was die Forscher von der amerikanischen Konkurrenz herausgefunden haben. Dort juchzten die Lustneuronen der (männlichen) Probanden nämlich ausschließlich bei weiblichen Reizen auf. Für die britischen Nervenzellen machte es dagegen keinen Unterschied, ob sie von weiblicher oder männlicher Schönheit erregt wurden. Sind wir Europäer am Ende anders gestrickt? Ist der Gleichheitsgedanke bei uns weiter fortgeschritten? Eine befriedigende Erklärung der Widersprüche ist zurzeit nicht zur Hand. Wie so oft in der Wissenschaft heißt es auch in diesem Fall, sich in Geduld zu üben und auf die nächsten Studienergebnisse zu warten. Dass Schönheit nicht nur ein sexuelles, sondern auch ein soziales Signal ist, bestätigt auch das
kernspintomographische Experiment einer anderen Londoner Arbeitsgruppe am selben Labor. Auch hier zeigte man Versuchspersonen in der Röhre Bilder von attraktiven Gesichtern. Nichts Neues, werden Sie sagen, und nichts Neues stellte auch die Reaktion der untersuchten Hirne dar: ihr Belohnungssystem sprang an – und dabei insbesondere der so genannte mediale orbitofrontale Kortex, der so etwas wie der Vorposten des Motivationssystems in der Hirnrinde ist. Neu war nun allerdings folgende Beobachtung: Wenn die schönen Menschen auf den Bildern ein Lächeln auf den Lippen hatten, nahm die freudige Erregung im Hirn der Versuchspersonen noch zu. Der Blick und das Lächeln eines attraktiven Artgenossen sind ein Willkommenssignal, um das unser kontaktsüchtiges Gehirn bittet und bettelt.
4 Kurvenreiche Schönheit. Wie viel Fett enthält die Schönheitsformel? Wenn es nach Casanova geht, spielt der Körper in unserem Schönheitsurteil keine große Rolle. »Warum verlieben wir uns in das Antlitz?«, sinnierte der berühmteste Verführer aller Zeiten. »Warum beurteilen wir die Schönheit einer Frau nur nach diesem einzigen Zeugnis, und warum verzeihen wir ihr, wenn ihre verhüllten Körperteile nicht mit diesem hübschen Gesicht in Einklang stehen?« Casanovas tolerante Haltung entlockt uns heute höchstens noch einen resignierten Seufzer. Immer mehr Menschen schwitzen auf Fahrrädern oder Laufbändern, rennen in Turnschuhen durch die Gegend oder gehen neuerdings am Stock oder gleich zum Fettabsaugen. Der »Body« will in Form gehalten oder gebracht werden, und da ist jedes Mittel recht. Denn während Casanovas Frauen (zumindest tagsüber) mit Bahnen von Stoff verhüllt waren, ist der heutige Frauenkörper auch tagsüber dem kritischen Blick der Artgenossen ausgesetzt – und der gilt zuallererst seinem Fettgehalt.
Rein biologisch gesehen, ist der Stoff, aus dem unsere Albträume sind, einer der Gründe für unseren Erfolg. Mit Fett steht uns eine hocheffiziente Form der Energiespeicherung zur Verfügung, und die hatten wir – bis vor kurzem – auch bitter nötig. Die meiste Zeit seiner Frühgeschichte lebte der
Mensch buchstäblich von der Hand in den Mund. Einen strengen Winter überlebten nur diejenigen, die sich im Sommer ein schönes Polster zugelegt hatten. Speck auf den Rippen war das, was heute der Überziehungskredit auf dem Konto ist. Der Dispo war vor allem für die Frau unentbehrlich – und ist es immer noch. Durchschnittlich 28 Prozent ihres Körpergewichts sind in Fett angelegt, beim Mann ist es nur etwas mehr als die Hälfte davon. Ohne ein Mindestmaß an Fett kommt keine Schwangerschaft zustande, denn nur mit einem ausreichenden Vorrat an gespeicherter Energie wird der Körper in Fortpflanzungsbereitschaft versetzt. Um ein Kind auszutragen, muss die Frau den energetischen Gegenwert von neun Kilogramm Körperfett investieren – und allein für die ersten Monate des Stillens noch einmal so viel. Kein Wunder also, dass uns Schokolade glücklich macht – unser Körper kann nicht anders, als an seine Reservetanks zu denken. Kein Wunder auch, dass Diäten nicht funktionieren. Der Körper kann nun einmal nicht zwischen Diät und Hungersnot unterscheiden. Biologisch sind wir dazu verdammt, der »fette Affe« zu sein. Denn auch wenn wir längst aus der Höhle in die Nähe des Kühlschranks umgezogen sind, ist die Fettzelle stets hungrig wie eh und je. Das einstige Erfolgsmodell ist buchstäblich eine Last geworden.
Durch dick und dünn
Nicht zu allen Zeiten war Fett der Feind. In einem der ersten überlieferten Keilschrifttexte aus dem Zweistromland wird von den Hochzeitsvorbereitungen eines Herrscherpaares berichtet, bei denen beide Kandidaten wochenlang regelrecht gemästet werden. Dieselbe Sitte ist auch heute noch in manchen Gegenden Afrikas verbreitet. Die Braut wird in so genannten Masthäusern auf die richtige Gewichtsklasse gebracht, damit sie ihrem Bräutigam rund und schön entgegentreten kann. Auch unsere eigene Kultur fängt nicht gerade mit einer Schlankheitsikone an: Die so genannte Venus von Willendorf (siehe Abb. 21), eine in Stein gemeißelte Frauenfigur aus der Altsteinzeit, ist extrem beleibt. Allerdings muss sie wohl zu Unrecht dafür herhalten, dass der Urmensch das Weib derartig fett haben wollte – die Frau ist nämlich ganz offensichtlich schwanger und dürfte damit eher ein Fruchtbarkeits- als ein Sexidol darstellen.
Abb. 21: Venus von Willendorf (Naturgeschichtliches Museum der Stadt Wien).
Gleichwohl: Von den sumerischen Männern zumindest ist per Tontafel überliefert, dass sie ihre Frauen schön drall haben wollten. Bei den Ägyptern dagegen wurde die schlanke Taille zum Schönheitskriterium par excellence. Das in der Frühzeit vorherrschende Ideal der jugendlichen, fast kindlichen Anmut ging in der Zeit Echnatons im 14. vorchristlichen Jahrhundert in die mehr frauliche Kombination von schlanker Taille und schweren Hüften über, wie sie im ganzen damaligen Orient geschätzt wurde. »Das
Rund deiner Hüften ist wie ein Kleinod, von Künstlerhand gemacht«, heißt es etwa im Hohelied des Salomon.
Die Griechen strebten nach Harmonie und »Maß«. Sie verabscheuten alles Extreme, und das war bei ihrem Körperideal nicht anders. Der schöne Körper sollte weder zu dick noch zu dünn sein. Ein dicker Bauch galt als Zeichen der Verweichlichung. Selbst der alte Sokrates joggte in seinem Garten, »um seinen Bauch zu vermindern, der das richtige Maß überschritten hat«. Die männliche Traumfigur war die des jugendlichen Athleten. Bei Frauen wurden Rundungen durchaus geschätzt – aber selbstverständlich in Maßen. Die klassischen Marmorschönheiten, wie die Venus von Milo, haben eher kleine, aber fleischige Brüste, dazu ein für unsere Begriffe kräftiges Becken. Die Römer dagegen waren klassische Schlemmer und Säufer und entsprechend wohlbeleibt. Eine große Sorge sowohl von Männern als auch Frauen war es, abzumagern, wollte man sich doch nicht dem Verdacht aussetzen, krank oder arm zu sein oder gar Anhänger jener versponnenen Sekte, die einem gekreuzigten Juden aus dem Orient huldigte. Mit der christlichen Zeitenwende treten die irdischen Genüsse zunächst in den Hintergrund, und später schwankt das Mittelalter zwischen Askese und Wohlleben hin und her (wobei man sich meist für das Letztere entscheidet). Das jetzt gültige Ideal der schönen Frau ist das vorpubertär anmutende Mädchen, schlank und grazil, mit leicht gebogenem Rücken, kleinen festen Brüstchen, nichtexistenten Hüften – und gerne einem Trommelbäuchlein (siehe Abb. 22).
Abb. 22: Mittelalterliche Schönheit (Niederrheinischer Meister: Der Liebeszauber, um 1470. Museum der Bildenden Künste, Leipzig). Die Schöne hat sich offenbar die Haare am Haaransatz ausgerupft, um der im ausgehenden Mittelalter verbreiteten Mode der hohen Stirn zu genügen.
Die Renaissance dagegen will nichts von Jungfrauen wissen. Sie will Weiber. »Man verlangt von der Frau, dass sie einen mächtigen Busen, starke Hüften und üppige Glieder habe oder doch vortäusche«, schreibt Egon Friedell. Ein Doppelkinn gilt als besonders sexy. »Das Kinn soll so
fleischig und fett sein, dass es zum Hals hin hinabhängt und ein zweites Kinn zu formen scheint«, heißt es in einem zeitgenössischen Schönheitsratgeber. Die Frau der Träume ist jetzt weich, ihr Busen fühlt sich an wie »Berge geronnener Milch«, wie der französische Dichter Pierre de Ronsard schreibt. Was für ein Gegensatz zum Mittelalter, wo man von Brüsten wie »zwei Nüsschen« schwärmte … Ab Mitte des 17. Jahrhunderts wird die Leibesfülle in Korsetts gezwungen, die man mit Stahlschienen oder Walfischgräten verstärkt. Die Sanduhrform wird für fast drei Jahrhunderte zum Synonym für Weiblichkeit.
Die Geburt des fettfreien Menschen
Solange die Taille schön schlank ist, ist Üppigkeit (noch) kein Verbrechen. Erst im 18. Jahrhundert kommt es zu den ersten Anfällen von Schlankheitswahn. Die Pariserinnen fangen an, Essig zu trinken, um nicht zuzunehmen. Im deutschen Sturm und Drang kommt mit dem Kult der Jugend die Verehrung der zarten Form. »Es geht mir ein Schauder durch den ganzen Körper, wenn Albert sie [Lotte] um den schlanken Leib fasst«, lässt Goethe 1772 seinen jungen Werther schreiben. In der »echten« Romantik greift dann ein hemmungsloser Kult der Zerbrechlichkeit und Blässe um sich, und mit ihm bricht auch in Deutschland die große Zeit von Essig und Zitrone an, mit denen man Rundungen und allzu gesundes Aussehen bekämpft. Der Bürger des 19. Jahrhunderts will es jedoch behaglich und schätzt Körperfülle als Ausweis von Wohlstand und Respektabilität. Erst als das viktorianische Jahrhundert zu Ende geht, gerät das feudale Fett allmählich in Verruf und wird mit Trägheit in Verbindung gebracht. Schlankheit dagegen steht nun für Erfolg und Leistungswillen. Damit wird zur kapitalistischen Tugend erhoben, was vorher das Stigma der proletarischen Unterklasse gewesen ist. Mit dieser Umwertung der Werte ist der Boden für den Megatrend des 20. Jahrhunderts bereitet, der ein Menschenmodell zur Norm erhebt, wie es die Welt bis dahin nur in Hungerzeiten gesehen hat.
Wie lässt sich der ewige Modellwechsel erklären? In Zeiten des Mangels (und die meisten Zeiten waren solche des Mangels) ist Körperfülle ein Statussymbol. Nur die Bessergestellten kommen – meist auf Kosten der anderen – an ausreichend Kalorien und können sich das leisten, was die anderen nicht haben: einen schönen Bauch. Sobald aber alle Zugang zu den Fleischtöpfen haben, drehen sich die Vorzeichen um: Nun ist die schlanke Linie der Luxus, den sich die anderen nicht leisten können. Ist also das jeweilige Körperideal schlicht eine Funktion von Wohlstand (bzw. von dessen Abwesenheit)? Auch wenn die Erklärung plausibel klingt und immer wieder gern genommen wird – so recht befriedigen kann sie nicht. Warum schwanken die Normen von Epoche zu Epoche, obwohl sich die Lebensbedingungen nicht wesentlich verändert haben? Warum ist das Ideal des Mittelalters beispielsweise gertenschlank, das der Renaissance dagegen üppig? Auch die Tatsache, dass sich Standards buchstäblich über Nacht ändern können, spricht nicht für die »Wohlstands-Hypothese«. Beispiel Fidschi-Inseln: Mit der Einführung des Fernsehapparats wurde hier das traditionelle Schönheitsideal der Wohlbeleibtheit im Handstreich »amerikanisiert«. (Was jedoch nicht etwa hieß, dass die Leute tatsächlich schlanker wurden. Nein, sie blieben genauso fett wie vorher, nur dass sie sich jetzt nicht mehr »schön dick« fühlten, sondern »zu dick«.)
Der Motor der Mode
Um der Frage näher zu kommen, unter welchen Umständen Fett verehrt oder verachtet wird, hat die kanadische Psychologin Judith Anderson 62 verschiedene Kulturen auf der ganzen Welt unter die Lupe genommen. In fast der Hälfte von ihnen standen die Männer auf dicke Frauen, bei einem Drittel auf mittlere Gewichtsklassen und nur bei mageren 20 Prozent auf dünne Figuren. Nach Andersons Analyse wird Schlankheit tatsächlich vor allem von solchen Gesellschaften bevorzugt, die sich um ihr tägliches Brot keine Sorgen machen müssen. Aber auch das Klima scheint eine Rolle zu spielen: je wärmer die Gegend, desto eher wird ein schlanker Körperbau attraktiv. Ein weiterer Faktor in der Schönheitsgleichung ist die Stellung der Frau: Je mehr Macht Frauen haben, desto eher bevorzugen ihre Männer schlanke Partnerinnen. Andersons Untersuchung ergab jedoch auch, dass Umweltfaktoren nur einen Teil der Unterschiede erklären können. Über die Hälfte der so genannten Varianz zwischen den Kulturen scheint schlichtweg eine Frage der Mode zu sein! Der weibliche Körper verfügt nun einmal über zwei grundsätzliche, aber sich gegenseitig ausschließende Reize: Fraulichkeit und Jugendlichkeit. Diese beiden Pole sind sozusagen der Motor der Mode, in der sich »jugendliche« und »reife« Phasen beständig abwechseln. Mal ist das Vollweib dran, dann kommt wieder das langbeinige Fohlen.³³ Genauso wie die Schönheit des Gesichts eine – von Epoche zu Epoche wechselnde – Mischung aus Kindchen- und Reifezeichen darstellt, scheint auch der attraktive Körper diese beiden Extreme in ständig wechselnden
Mischungsverhältnissen widerzuspiegeln. Das derzeitige Idealmodell hat Becken und Hüften eines Mädchens, dazu die vollen Brüste der reifen Frau – eine Mischung, die im geschichtlichen Rückblick ziemlich exotisch wirkt. Zu fast allen Zeiten war weibliche Schönheit geradezu zwingend durch ein breites Becken definiert; der Busen sollte dagegen meist mädchenhaft klein sein. Heute sind die Zutaten vertauscht und die Messlatte damit noch weiter in die Höhe geschraubt: Ein großer Busen erfordert nun mal viel Fett – das aber an den anderen vom weiblichen Bauplan vorgesehenen Stellen nicht vorhanden sein darf. Kein Wunder, dass immer mehr Silikon zum Einsatz kommt. Bei den Männern ist das modische Grundprinzip nicht viel anders. Auch er schwankt zwischen Mann und Jüngling, Herkules und Adonis, Schwarzenegger und Tadzio. Verglichen mit dem Auf und Ab der weiblichen Modeströmungen ist das ideale Mannsbild jedoch deutlich stabiler und weicht von Michelangelos David nie wesentlich ab.
Die magische 0,7
Was die Figur der Frau betrifft, scheint es auf den ersten Blick tatsächlich so, als wäre sie nichts als Knetmasse in den Händen der jeweiligen Mode, Kultur oder Epoche. Wer nun aber glaubt, Körperideale seien vollkommen relativ, hat seine Rechnung ohne einen Wissenschaftler an der Universität von Texas gemacht, den man mit Fug und Recht als den Taillen-Papst bezeichnen könnte: Devendra Singh. Dem älteren Herrn indischer Abstammung verdankt die Schönheitsforschung einen ihrer meistverwendeten Fachbegriffe: die »Waist-to-Hip-Ratio«, kurz WHR. Sie bezeichnet das Verhältnis vom Taillen- zum Hüftumfang, und Singh meint, mit ihm so etwas wie eine Universalkonstante der weiblichen Körperschönheit gefunden zu haben. Das Taillen-Hüfte-Verhältnis ist bei Jungen und Mädchen bis zur Pubertät im Wesentlichen gleich (nämlich etwa 0,9). Sobald die Geschlechtshormone ins Spiel kommen, verändert sich das Bild jedoch schnell: Beim Mädchen wird unter dem Einfluss von Östrogen die Hüfte breiter, der Busen wächst, tendenziell wird die Taille zum schmalsten Punkt der Silhouette, und das Verhältnis von Taille zu Hüfte verringert sich Richtung 0,7. Der Junge wiederum legt vor allem an Muskeln zu, und zwar überwiegend am Oberkörper. Die Hüfte bleibt dagegen im Verhältnis zur Taille relativ schmal. Am Ende der Pubertät ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern maximal ausgeprägt, um dann mit jeder Schwangerschaft und dem Nachlassen der Östrogenproduktion im Alter wieder geringer zu werden. Laut Singh sendet eine niedrige WHR ein klares Signal aus:
»Ich bin gut mit Östrogen versorgt, also fruchtbar; ich bin nicht schwanger, und ich habe noch nicht viel geboren« – alles Attribute, die Musik in des Mannes Ohren sind. Tatsächlich scheint die WHR ein verlässlicher Fruchtbarkeitsanzeiger zu sein: Niedrige Werte gehen mit regelmäßigeren und häufigeren ovulatorischen Zyklen einher. Bei In-vitro-Befruchtungen sinkt die Erfolgsrate bei einer WHR von 0,8 und größer deutlich ab. Singh hat aber noch weitere schöne Argumente auf seiner Seite. In einer Untersuchung wurden alle Siegerinnen von »Miss Amerika« von 1920 bis in die achtziger Jahre vermessen. Ihr TaillenHüfte-Verhältnis schwankte zwischen 0,72 und 0,69 – das von Playboy-Models zwischen 0,71 und 0,68. Dabei erwies sich Singhs goldene Zahl als weitgehend unabhängig vom Körpergewicht: selbst Twiggy, die Schlankheitsikone der sechziger Jahre, brachte es mit ihren 42 Kilogramm noch auf 0,73. Um seine Hypothese von der universalen Anziehungskraft der 0,7er Taille zu testen, fertigte Singh Kärtchen mit Frauen im Badeanzug an (siehe Abb. 23) und legte sie verschiedenen Probandengruppen vor.
Abb. 23: Singhs Musterkarte zur »Waist-to-Hip-Ratio«. In der oberen Zeile untergewichtige Figuren, in der mittleren normalgewichtige und in der unteren übergewichtige (nach Singh 1993).
Und siehe da: Egal, ob in den USA, in Indien, Hongkong oder Uganda, überall gefielen die Figuren mit der »idealen« Taille am besten. Die sieben Zehntel waren auf dem besten Weg zur Universalkonstante – bis Singhs Karten im Gepäck der Ethnologen Douglas Yu und Glenn Shepard ihren Weg in den tiefsten AmazonasUrwald fanden, zu einem Stamm von »echten« Ureinwohnern, den Matsigenka im Südosten Perus.
Dort gefiel nämlich ausgerechnet die Dame mit dem Kürzel »O9« (O wie »overweight« und 9 wie WHR = 0,9) am besten, die sonst immer die rote Laterne getragen hatte! Die schlanken Modelle U7 und N7 dagegen, im Rest der Welt bis dato die absoluten Favoriten, fielen glatt durch, und zwar mit Kommentaren wie etwa: »Hat bestimmt gerade erst einen Durchfall überstanden.« Die Universalformel scheint also so universal nicht zu sein.³⁴ Wie einige Untersuchungen nahe legen, dürfte dies schlichtweg daran liegen, dass der Körperbau der verschiedenen Völker ziemlich variabel ist – den relativen Taillenumfang inbegriffen. Bei den Inuit in Alaska beispielsweise, aber auch bei vielen Stämmen in Afrika und Amerika, herrschen relativ breite Taillen vor – so auch bei den von Yu und Shepard untersuchten Amazonasindianerinnen, deren durchschnittliche WHR schon vor der ersten Geburt bei 0,9 liegt. Gegenwind für Singhs Standardformel kommt neuerdings jedoch auch von Untersuchungen an der heimischen, sprich USamerikanischen Bevölkerung. Bei der Attraktivitätseinschätzung scheint demnach das Körpergewicht eine viel stärkere Rolle zu spielen als die »richtige« Taillenmathematik. Es ist derzeit also alles andere als ausgemacht, ob Singhs einstmals hochgepriesene sieben Zehntel sich auf dem Markt halten oder letzten Endes auf dem Abstellgleis der wissenschaftlichen Hypothesen landen werden.
Traumbodys
Eigentlich könnte der Fall ja so einfach sein: Attraktiv ist, was das jeweilige Geschlecht vom anderen unterscheidet. Also bei Frauen eine möglichst schlanke Taille, große Brüste, schmale Schultern, bei Männern ein breiter Oberkörper, Muskeln überall. Biologen nennen den Geschlechterunterschied »sexuellen Dimorphismus«, also Zweigestaltigkeit der Geschlechter. Bei vielen Tierarten, etwa bei Hahn und Henne, ist dieser Unterschied stark ausgeprägt, andere – wie der Hund – neigen dagegen zur Unisex-Ausführung. Der Mensch liegt beim sexuellen Dimorphismus irgendwo in der Mitte – etwas näher beim Hund als beim Huhn. In der Körpergröße unterscheiden sich Mann und Frau um durchschnittlich 10–12 Zentimeter, jedoch überlappen sich die Geschlechter größenmäßig ziemlich stark. Wer sich als Mann in eine Modenschau verirrt, wird sich vermutlich ziemlich klein vorkommen. Der stärkste Dimorphismus betrifft die Muskeln – Männer haben viel mehr Kraft als Frauen. Die reichlichere Muskelbepackung der Männer macht sich vor allem am Oberkörper bemerkbar, der die typische V-Form hat (die von der Mode durch Schulterpolster, Epauletten etc. verstärkt bzw. simuliert wird). Arnold Schwarzenegger, mehrfacher »Mister Universum«, brachte es immerhin auf 1,45 Meter Brustumfang, einen guten halben Meter mehr als Angelina Jolie (»Lara Croft«). Je größer also der Unterschied, desto attraktiver? Bei vielen Tierarten basiert die Anziehung zwischen den Geschlechtern genau auf diesem Prinzip: Der Vogelmann mit dem
auffälligsten Gefieder etwa zieht die meisten Weibchen an. Zumindest beim Gesicht ticken wir Menschen da anders. Wie wir aus Kapitel 2 wissen, wird das allzu vermännlichte Gesicht nicht unbedingt auch als attraktiver empfunden. Und beim Körper? Je muskulöser der Mann, desto attraktiver? Auch hier scheint es schnell des Guten zu viel zu sein. Nur eine Minderheit von Frauen fährt auf Bodybuilder-Typen ab – Herkules wird von Adonis in Schach gehalten. Selbst bei der Körpergröße gilt das Prinzip »Je mehr, desto besser« nicht uneingeschränkt – auch wenn sich der 2,06 Meter große Basketballstar »Magic« Johnson einmal rühmte, mit 10.000 Frauen geschlafen zu haben. Einzig beim männlichen Hintern scheint Konsens zu herrschen. Alle Frauen fahren auf einen knackigen Po ab. Überhaupt ist der Po vielleicht das Körperteil mit dem größten Sexappeal – auch bei der Frau –, obwohl er eigentlich »nur« die Haltemuskulatur darstellt, die uns der aufrechte Gang beschert hat. Interessant ist dabei, dass der Hintern trotz seiner Nähe zu den Geschlechtsorganen so unbefangen hergezeigt wird. Während etwa in der Kunst das Geschlecht durch Feigenblätter und dergleichen keusch verdeckt wird, wird der Po geradezu zur Schau gestellt. Auch die Mode strengt sich erheblich an, den Po in Szene zu setzen, insbesondere durch hochhackige Schuhe, die den Rücken ins Hohlkreuz zwingen und so den Hintern optimal hervortreten lassen.
Rätsel Busen
Im Gegensatz zum Po wird der Busen – der uns heute als Quintessenz weiblicher Reize gilt – in vielen Kulturen nicht einmal beachtet. Er wird schlicht als das wahrgenommen, was seine lateinische Bezeichnung – mamma – nahe legt.³⁵ Auch hierzulande ist der Busen nicht zu allen Zeiten das Objekt erotischer Begierde gewesen – die aktuelle Busenbesessenheit scheint ihren Anfang erst in der Renaissance genommen zu haben. Die Frauen der besseren Kreise begannen damals, ihre Kinder von Ammen stillen zu lassen, um den eigenen Busen attraktiv zu erhalten. Die »doppelte Botschaft« des Busens – Mütterlichkeit auf der einen Seite, Erotik auf der anderen – dürfte auch der Grund für das ewige Hin und Her bei der Busenmode sein. Im 17. Jahrhundert beispielsweise galt der Busen am spanischen Hof als unschön. Verzweifelt versuchte man, sein Wachstum zu verhindern, etwa durch angeschnallte Bleiplatten. Im 18. Jahrhundert wurde das Dekolleté dagegen durch Mieder betont und offenherzig gezeigt. Im 20. Jahrhundert dasselbe Spiel: Die »Flappers« der zwanziger Jahre banden ihren Busen mit Tüchern weg, wenige Jahrzehnte später wurden Gina Lollobrigida und Anita Ekberg (siehe Abb. 40) zu Stars – busenhalber. Die Busenmoden anderer Kulturen sind nicht weniger vielfältig. Die Ethnologen Clellan Ford und Frank Beach berichten von Stämmen, die »lange, hängende Brüste« bevorzugen. Auch Evolutionsbiologen gibt der Busen Rätsel auf. Menschenfrauen sind die einzigen Wesen, die Brüste haben,
unabhängig davon, ob sie ein Kind ernähren. Warum gibt es also die Brust? Wir werden auf die Frage zurückkommen.
Von Größe und Hoheit
»Ein honettes Frauenzimmer ledigen Standes, guter Gestalt, sucht … einen guten Doctor oder Advocaten ledigen Standes …, so groß und wohl aussieht«, steht am 8. Juli 1738 in der wohl ersten in Deutschland gedruckten Heiratsanzeige. Körpergröße macht Männer attraktiv.³⁶ Was den Frauen die Körbchengröße ist, ist den Männern die Körpergröße. In allen Gesellschaften wird männliche »Statur« als Ausdruck von Status wahrgenommen (schon auf der symbolischen Ebene, wenn man beispielsweise zu jemandem »hochschaut«³⁷). Der Zusammenhang ist alles andere als aus der Luft gegriffen. Je höher die soziale Schicht, desto größer sind die Menschen (Männer und Frauen gleichermaßen). Deutsche Studenten beispielsweise sind im Schnitt drei Zentimeter größer als Lehrlinge. Dass der Mann größer sein muss als die Frau, ist das absolute Kardinalprinzip jeder Partnervermittlung. Eine amerikanische Studie ermittelte aus den Kontoeröffnungsanträgen einer Bank, in denen die Körpergröße der Antragsteller erfasst worden war, dass unter 720 Paaren nur ein einziges war, bei dem das eherne Prinzip verletzt wurde. Bei der Frau ist Größe als Zutat zu ihrer Attraktivität ziemlich relativ, wie man etwa aus der Analyse von Kontaktanzeigen weiß. Während große Männer deutlich mehr Zuschriften bekommen als kleine, ist geringe Körpergröße bei Frauen kein Handicap. Die Wahlmöglichkeit groß gewachsener Frauen ist dagegen genauso eingeschränkt wie die kleiner
Männer – daran hat sich auch in der Ära der Supermodels nichts geändert. Der Größenwahn hat übrigens auch eine gesamtdeutsche Dimension: Der durchschnittliche Ost-Mann der sechziger Jahrgänge ist 1,5 Zentimeter kleiner als sein Westgenosse. In dem Gefälle spiegelt sich letztlich das Kräfteverhältnis der jeweiligen Wirtschaftssysteme, denn die Größe hängt nicht nur von der Größe der Eltern ab (nach der Formel: Größe von Papa und Mama addieren und durch zwei teilen, dann für Mädchen sechs Zentimeter abziehen, für Jungs sechs Zentimeter dazurechnen), sondern auch von der Ernährung – weshalb die durchschnittliche Körpergröße in allen entwickelten Nationen im Lauf des 20. Jahrhunderts um ca. einen Zentimeter pro Jahrzehnt zugenommen hat. Allerdings: Solche statistischen Zusammenhänge gehen immer von der ganzen »Herde« aus – und jede Herde hat ihre Ausreißer. So war etwa Pablo Picasso nur 1,60 Meter groß und trotzdem für viele – und auch viele besonders schöne Frauen – unwiderstehlich.
Lange Beine – kleine Füßchen
Warum sind lange Beine bei Frauen eigentlich sexy, wo es doch die Männer sind, die, bezogen auf die Körpergröße, die längeren Beine haben? Hier scheint offenbar nicht sexueller Dimorphismus die Triebfeder der Sexualisierung zu sein, sondern die Vorliebe für Jugendlichkeit. Nicht zu allen Zeiten und nicht überall jedoch galten HeidiKlum-Beine als erstrebenswert. Manche nordamerikanischen Indianerstämme beispielsweise hatten eine Vorliebe für Frauen mit kurzen Beinen und dicken Waden, weshalb es üblich war, den Mädchen schon in der Kindheit feste Ringe unterhalb der Knie anzulegen, welche die Durchblutung einschränkten und so das Wachstum der Unterschenkel hemmten. Schuhe mit Absätzen waren in der Antike unbekannt. Sie kamen erst mit der Erfindung des Steigbügels in der Zeit der Völkerwanderung auf. Im Barock wurde sowohl der männliche wie der weibliche Fuß durch einen Absatz angehoben (der aber nicht hinten, sondern in der Mitte saß). Im Rokoko unter Ludwig XVI. erreichte die Absatzhöhe sechs bis acht Zentimeter, was die Fortbewegung zu einem echten Abenteuer machte, das man besser mit einem Stock an der Hand bestand. Bei diesem Stelzenlaufen ging es mehr um das majestätische Gehabe und um »Stattlichkeit«. Der eigentliche Kult um die langen (Frauen)beine ging erst im 20. Jahrhundert los, als mit dem Kürzerwerden der Röcke die Beine ins Spiel der wechselnden erogenen Zonen eingriffen. Viel mehr noch als den Beinen galt die modische und erotische Aufmerksamkeit zu allen Zeiten den Füßen – und zwar vor allem ihrer Kleinheit. Die feudale chinesische Mode
der gebrochenen und gebundenen »Lotusfüßchen« hat es zu trauriger Berühmtheit gebracht. Kein Mann von Rang und Namen hätte eine Frau mit nicht gebundenen Füßen geheiratet (und würde es wohl auch heute noch nicht tun, wenn nicht Maos Revolutionäre Garden die Sitte mit Waffengewalt abgeschafft hätten). Wer die Nase rümpft, vergisst vielleicht, dass auch hier und heute der Frauenfuß zuallererst »elegant«, d. h. klein und schmal sein soll und dass die entsprechende Schuhmode in aller Regel eine echte Behinderung darstellt. Die heutigen Frauen treten damit in uralte Fußstäpfchen: Aschenputtel wird nur deshalb Prinzessin, weil sie im Gegensatz zu ihren garstigen Schwestern so wunderkleine Füßchen hat (»Schuh ist zu klein, die richtige Braut ist noch daheim«). Im 18. und 19. Jahrhundert ist das kleine Füßchen, zusammen mit der schlanken Taille, der absolute Mittelpunkt des erotischen Interesses. Der kleine Fuß ist so etwas wie das anatomische Erkennungszeichen der höheren Stände.
Vornehme Blässe
Kommen wir zu einer anderen »klassischen« Besessenheit – der hellen Haut. Die Geschichte der Kosmetik ist die Geschichte der Hautaufhellung. »Vornehme Blässe« stand zu allen Zeiten hoch im Kurs – braune Haut dagegen war ein Zeichen der Unterprivilegierung. »Seht mich nicht an, dass ich so braun bin, denn die Sonne hat mich so verbrannt«, fleht die Geliebte ihren Angebeteten im Hohelied des Salomo an. Seit Menschengedenken wird die Haut von Frauen (und oft auch von Männern) mit dubiosen, oft giftigen Pasten und Mittelchen gebleicht. Von den Griechinnen und Römerinnen weiß man, dass sie sich blaue Äderchen auf die weiß getünchte Haut von Stirn und Brüsten malten, um durchsichtige Blässe vorzutäuschen. Auch in Japan und China ist sattes Weiß die Farbe der Vornehmen. Eine ethnologische Analyse von 51 Kulturen ergab, dass 92 Prozent von ihnen bei ihren Frauen relativ helle Haut bevorzugen, darunter auch alle zwölf untersuchten schwarzen Kulturen. Wie kommt es zu diesem Trend? Die Haut der Frau ist in allen Völkern tendenziell heller als die der Männer. Die Produktion von Melanin, das für die Dunkelfärbung von Haut und Haar verantwortlich ist, ist eng mit dem Östrogenstoffwechsel verknüpft. Helligkeit ist damit ein Zeichen von Weiblichkeit. Aber nicht nur das: Die Haut von Mädchen wird mit der Pubertät heller, die von Jungs dagegen eher dunkler. Auch eine Schwangerschaft macht den Teint einen Tick dunkler. Bei der weißen Haut scheinen sich also die beiden großen »Schönheitsfaktoren« sexueller Dimorphismus und Jugendlichkeit die Hand zu geben.
Dass aber auch diese Bevorzugung nicht in Stein gemeißelt ist, zeigt der – historisch bisher einmalige – Umschwung hin zur gebräunten Haut in den 1960er Jahren. Plötzlich gilt als sexy, was jahrtausendelang verpönt war. Sonne und Wind stehen nicht mehr für Arbeit, sondern für Müßiggang – Arbeit dagegen spielt sich jetzt hinter geschlossenen Fenstern im Schatten ab.³⁸
Warum blond sexy ist
Die Frau der Träume war nicht nur blass, sondern auch blond. Bei den Römerinnen war die Haarfarbe der germanischen Sklaven der letzte Schrei, blondes Haar für die Perücken der feinen Damen wurde zum Exportschlager des Nordens. Im Mittelalter war blond absoluter Standard, und wer von der Natur nicht begünstigt war, half mit Haarteilen aus heller Seide oder echtem Haar nach. Auch zu schönen Männern gehörte blondes Haar. In den Heldensagen sind die Braunhaarigen oft die Ritter mit Fehlern, die Schwarzhaarigen die richtigen Bösewichter (z. B. Sarazenen). Nach dem Albinoblond des Mittelalters war in der Renaissance Goldblond als Modefarbe an der Reihe. Die Damen träufelten sich alle möglichen Tinkturen ins Haar und setzten es tagelang der Sonne aus, um der Norm zu genügen. Erst als mit der Romantik die Sehnsucht nach dem Fremden und Exotischen erwachte, wurden auch schwarze, »orientalische« Haare salonfähig. Für kurze Zeit ging sogar Rot, das – zusammen mit den dazugehörenden Sommersprossen – seit jeher regelrecht mit einem Bann belegt war. (Ein Frisurenratgeber von 1829 trägt den Untertitel »Hygienische Maßnahmen, wie man sich blonde Haare erhält und rote Haare loswird«.) Im 20. Jahrhundert steigt Rot dann zur meistverkauften Tönung auf, aber Blond ist und bleibt die eigentliche Farbe der Weiblichkeit. »Man hat nur ein Leben, warum sollte man es nicht als Blondine verbringen?« (in der Macho-Version: »… mit Blondinen …«) – das geflügelte Wort des amerikanischen Schriftstellers Tom Wolfe ist symptomatisch. Genauso die Tatsache, dass die weltgrößte Samenbank ausgerechnet in Aarhus, einem
kleinen dänischen Unistädtchen mit überwiegend blonder Studentenschaft, zu finden ist. Woher kommt die notorische Bevorzugung von blondem Haar? Wie bei der Blässe überlagern sich hier die beiden Phänomene Dimorphismus und Kindlichkeit. Ein Zeichen von Jugendlichkeit ist blondes Haar deshalb, weil der Mensch als Baby hellere Haare hat, die dann langsam nachdunkeln, und zwar bei Mädchen langsamer als bei Jungs – womit Blond auch ein Zeichen von Weiblichkeit ist. Das Vorurteil von der dummen Blonden ist alles andere als neu.³⁹ Viele Gelehrte des 19. Jahrhunderts waren überzeugt, dass Blonde weniger dynamisch als Brünette seien; der Biologe Henry Finck prognostizierte sogar, sie wären deshalb bis 1980 ausgestorben. Die Idee, dass die Blondinen über kurz oder lang vom Erdball verschwunden sein werden, ist auch in der zeitgenössischen Lifestylepresse recht populär, entbehrt jedoch jeder wissenschaftlichen Grundlage. Das Gen für Blond ist zwar »rezessiv«, d. h. seine Wirkung wird vom »dominanten« Braunhaar-Gen unterdrückt, wenn beide in einem Gensatz zusammenkommen. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass es deshalb verschwindet. Das BlondGen hat, wie das Gen für dunkle Haare und jedes andere rezessive Gen, genau dieselbe Chance (nämlich 50 Prozent), in der nächsten Generation vertreten zu sein. Auch Henry Finck änderte übrigens seine Meinung, als er sich selber in eine sehr attraktive Blonde verguckte.
Zweiter Teil Warum es Schönheit gibt
5 Sex, Lügen und Sekundenkleber Wer das Männchen des langschwänzigen Witwenvogels so auf seinem Ast sitzen sieht, könnte meinen, dass es Trauer trägt. Bis auf ein paar rote Tupfer auf der Schulter ist es pechschwarz, und sein Federschweif hängt wie ein gigantischer Trauerflor schwer an ihm herab, fast dreimal so lang wie der Rest des Körpers. Ganz anders, wenn es sich fliegend der Damenwelt präsentiert: Mit langsamen Flügelschlägen dreht es seine Runden und zieht dabei die gespreizten Schwanzfedern wie ein Schleppnetz hinter sich her – majestätisch und alles andere als traurig. Der Witwenvogel hat es dem Zoologen Malte Andersson von der Universität Göteborg ganz besonders angetan. Im November 1981 reist er in die Savanne des KinangopHochlandes von Kenia, um sich fünf Monate mit ihm zu beschäftigen – genauer: mit seinen zwölf Schwanzfedern. Er fängt 36 Tiere ein und rückt ihnen mit Schere und Sekundenkleber zuleibe. Den einen kürzt er den Schwanz um die Hälfte, den anderen verhilft er mit dem so gewonnenen Material zu superlangen Schleppen. In den folgenden Wochen sucht er die Territorien seiner Kandidaten nach Nestern und Eiern ab und kann das Ergebnis seines Eingriffs an seiner Strichliste ablesen: Die Vögel mit den verlängerten Schwänzen hatten deutlich mehr, die mit den verkürzten dagegen deutlich weniger Gelege in ihren Territorien als die naturbelassenen.
Abb. 25: Witwenvogel im Flug (aus: Zahavi & Zahavi 1998).
Darwins Rätsel
Der Skandinavier ist einem Rätsel auf der Spur, das schon so manchen Evolutionsbiologen um den Schlaf gebracht hat. Warum um alles in der Welt gibt es solche auffälligen »Ornamente« wie den Schweif des Witwenvogels oder das noch viel extravagantere Gefieder des Pfaus? Die Frage brachte Charles Darwin nach eigenem Bekunden regelrecht zur Weißglut: »Wenn ich eine Pfauenfeder sehe, wird mir übel.« Wie sind diese nutzlosen Apparate in die Welt gekommen, die beim Kampf ums Dasein doch nur stören? Wie kann die Evolution ein offenbar hinderliches Merkmal zulassen und dann ausgerechnet die Kreaturen mit den extremsten Übertreibungen noch mit mehr Nachwuchs belohnen? In seinem 1859 erschienenen Gründungswerk der Evolutionstheorie, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, klammert Darwin das Pfauenproblem erst einmal aus und erklärt Evolution folgendermaßen: Diejenigen Individuen, die sich in der ewigen Konkurrenz um knappe Ressourcen am besten behaupten, werden die meisten Nachkommen hinterlassen, die dann wiederum die überlegenen Fähigkeiten ihrer Eltern geerbt haben und sich ihrerseits gegenüber ihren weniger befähigten Artgenossen durchsetzen werden. Darwin spricht bei diesem Prozess von »natürlicher Selektion« und meint damit die ständige Auslese derjenigen Individuen, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind. »Angepasst« heißt auf Englisch »fit« – wenn Evolutionsbiologen also von »Fitness« sprechen, meinen sie damit nicht das, was unsere Umgangssprache darunter
versteht, sondern die Tatsache, dass ein Individuum mit seiner jeweiligen Umwelt optimal zurechtkommt. So sind beispielsweise diejenigen Vögel, deren Schnäbel am besten auf die Korngröße und Schalenstärke der ihnen als Hauptnahrungsmittel dienenden Körner und Samen abgestimmt sind, schlichtweg schneller beim Futtern, und ihre Schnabelform hat somit die besten Karten, auch in der nächsten Generation vertreten zu sein. Aber wer heute »fit« ist, kann morgen schon so passé sein wie ein Dinosaurier. Denn Umwelten ändern sich ständig: Eiszeiten wechseln sich mit Warmzeiten ab, Sümpfe werden zu Wüsten, Wälder entstehen und verschwinden. Der Schnabel, der einmal so hervorragend passte, kann nutzlos werden, wenn die nahrungsspendenden Pflanzen infolge einer Klimaveränderung gezwungen sind, kleinere Samen hervorzubringen. Lebewesen müssen sich beständig an neue Gegebenheiten anpassen und verändern so über viele Generationen das Design ihrer Art.⁴⁰
Überleben der Schönsten
Darwin hätte es sich nach seinem epochemachenden Werk im Lehnstuhl bequem machen können – wäre da nicht immer noch der Pfau gewesen. Wenn es stimmt, dass nur die Angepasstesten überleben, dürfte es ein Wesen wie ihn gar nicht geben – und mit ihm die halbe Schöpfung nicht. Was soll an einem kiloschweren, kilometerweit für jeden Feind sichtbaren Schmuck angepasst sein? Mit diesem Rätsel beschäftigt sich Darwins 1871 erschienenes zweites Hauptwerk, Die Abstammung des Menschen. Seine wichtigste Botschaft lautet: Um im Sinn der Evolution erfolgreich zu sein – also möglichst viele Nachkommen zu hinterlassen –, muss ein Tier nicht nur überleben, sondern auch einen Partner für sich einnehmen (»erregen und bezaubern«, wie sich Darwin ausdrückte). Neben der »natürlichen Selektion« ist damit in der Evolution eine zweite formende Kraft am Werk, die »sexuelle Selektion«. Während im Reich der natürlichen Auslese die Individuen um knappe Ressourcen konkurrieren, beruht sexuelle Auslese darauf, dass die Mitglieder des einen Geschlechts um den Zugang zu den Mitgliedern des anderen Geschlechts konkurrieren.⁴¹ Bei der natürlichen Selektion formt die Umwelt die Körper – bei der sexuellen Selektion formen sich die Geschlechter gegenseitig. Wie alle heutigen Lebewesen, die sich sexuell fortpflanzen, ist auch der Mensch der letzte Spross einer endlosen Serie sexueller Beziehungen, die alle auf dem Prinzip der Auswahl beruhten. Auf ihrer Reise von Generation zu Generation mussten unsere Gene – in Geschlechtszellen verpackt – von Körper zu Körper gelangen und dabei jedes Mal am
Türsteher der sexuellen Auswahl vorbei. Was, wenn Ihrem Großvater die Nase Ihrer Großmutter nicht gefallen hätte? Der permanente evolutionäre Wettbewerb um Partner hat eine Kuriosität zu bieten: Bei fast allen Arten sind es die (eher unauffälligen) Weibchen, die wählen. Die Männchen dagegen schmücken sich mit Farben und Federn, verströmen betörende Düfte oder setzen sich mit Gesängen und Tanzdarbietungen in Szene. Kein Wunder, dass die viktorianischen Zeitgenossen über die neue Theorie die Nase rümpften. Schlimm genug, dass der alte Darwin über Sex schrieb – doch nun sollte auch noch das weibliche Geschlecht bei der Wahl die Hosen anhaben?
Seit wann gibt es eigentlich Schönheit?
Ohne die sexuelle Selektion wäre die Welt stumm und grau, bevölkert von tarnfarbenen Überlebensmaschinen, eine jede misstrauisch in ihre ökologische Nische geduckt.⁴² Es gäbe kein Gezwitscher, keine Tänze, kein Pfauenrad. Genau so muss die Welt bis vor einer Milliarde Jahren ausgesehen haben, als die geschlechtliche Fortpflanzung »erfunden« wurde. Bis dahin hatten sich die primitiven Lebewesen »einfach so« geteilt, indem sie ihre Zellen zu neuen Körpern auswachsen ließen. Mit dem Siegeszug der neumodischen Vermehrungsmethode konnte sich kein Individuum mehr selbst genug sein. Nun hieß es, zur Fortpflanzung einen Partner zu finden, der den anderen Chromosomensatz für die Tandemfahrt in die Ewigkeit beisteuern könnte. Marketing wurde damit zu einer Überlebensnotwendigkeit. Zunehmend wurde in Klang-, Licht- und Duftshows investiert, um Partner anzulocken, zu verführen und zu betören. Dabei muss die Werbeoffensive nicht einmal immer auf Artgenossen zielen: Blumen etwa ziehen mit ihren Farben, Düften und ihrem Nektar Insekten an, die sie bestäuben. Auch die Erdbeere hat einen weitergefassten Begriff von einem Sexobjekt und präsentiert sich jedem Vorübergehenden aufreizend rot und zum Fressen süß, um damit ihre Samen in Umlauf zu bringen.⁴³ Ein Markt der Möglichkeiten, auf dem Konkurrenz das Geschäft sichtlich belebt: Je polygamer eine Spezies, desto »schöner« fallen die Ornamente aus, das Gezwitscher, Getanze und Getue.
»Gerecht« geht es bei dem Geschäft allerdings nicht unbedingt zu – bei manchen Arten pflanzen sich nur die Allerschönsten fort. Auf den Balzplätzen der Birkhähne etwa sind an rund 90 Prozent der Kopulationen nur zwei oder drei Männchen beteiligt. Je höher das Pleiterisiko, desto mehr müssen sich die Marktteilnehmer ins Zeug legen: no risk, no fun. Beim Pfau können es schon ein paar Federn sein, die über alles oder nichts entscheiden. Marion Petrie und ihre Kollegen von der University of Newcastle gingen den Pfauenhähnen in einem englischen Park an die Federn und konnten zeigen, dass der Erfolg eines Männchens bei den Pfauendamen schon deutlich nachlässt, wenn das Tier nur fünf seiner 150 Augen eingebüßt hat.
The trend is your friend
Dass die Schönen mehr Erfolg beim anderen Geschlecht haben, ist nun eigentlich keine Offenbarung. Nur – warum ist das so? Warum um alles in der Welt machen ein paar Schwanzfedern mehr oder weniger einen solchen Unterschied für die Pfauendame? Darwins Antwort erscheint auf den ersten Blick erstaunlich oberflächlich: Die Weibchen hätten eben einen (angeborenen) »Geschmack«, der sie auf das prachtvollste Gefieder fliegen lässt. Wo dieser extravagante »sense of beauty« freilich herkommt, was für einen »Sinn« – also Überlebensvorteil – er seinen Besitzerinnen bringen könnte, darüber verliert Darwin kein Wort. Genauso wenig seine Nachfolger. Erst im Jahr 1930 stolperte ein begnadeter, ja, Mathematiker namens Sir Ronald Fisher wieder über das Pfauenrätsel. Seine Erklärung ist unter dem Begriff »Runaway-Hypothese« berühmt geworden, was sich wohl am besten mit »Selbstläufer-Hypothese« übersetzen lässt.⁴⁴ Nach Fisher fängt das ganze Runaway-Spiel mit den Weibchen an. Einige von ihnen entwickeln plötzlich – etwa durch irgendeine Mutation – eine Vorliebe für Männchen mit einem bestimmten Merkmal, beispielsweise einem besonders langen Schwanz. Sie werden sich von nun an nur noch mit besonders langschwänzigen Männchen einlassen und entsprechend längerschwänzige Söhne haben, dazu Töchter, die die Vorliebe der Mama für die sexy Schwänze geerbt haben. In der Kindergeneration haben damit langschwänzige Männchen einen leichten Vorteil gegenüber den Normalos, denn zusätzlich zu den wählerisch
gewordenen Weibchen stehen ihnen weiterhin die Anhängerinnen der alten Mode zur Verfügung, während die durchschnittlich beschwänzten Männchen auf die modebewussten Verehrerinnen verzichten müssen. Dieser leichte Fortpflanzungsvorteil vergrößert sich dann von Generation zu Generation immer weiter. Und ist die Mode erst einmal im Kommen, gibt es kein Halten mehr: Sie ist zum »Selbstläufer« geworden. In jeder Generation haben diejenigen Dandys die Nase vorn, die sich dem Schönheitsdiktat am rückhaltlosesten unterwerfen. So schaukeln sich in endlosen Rückkopplungsschleifen das Ornament und die Vorliebe für das Ornament immer weiter hoch, bis der Schmuck irgendwann eine Last wird. Der schöne Dandy bekommt mit seinem langen Schwanz Probleme beim Fliegen, oder er wird wegen seines knallbunten Anstrichs immer öfter vom Raubtier erwischt. Mit anderen Worten: Die sexuelle Selektion ist an die Grenzen der natürlichen Selektion gestoßen und wird fortan von ihr in Schach gehalten. Der Runaway kommt zum Halten. Das hervorstechendste Merkmal des Selbstläuferprozesses ist seine Zufälligkeit. Er kann buchstäblich aus dem Nichts heraus entstehen und das Design einer Art nach Lust und Laune verändern – ohne dabei irgendeiner Logik zu folgen als der des zum Modediktat erhobenen »Geschmacks« (siehe Abb. 26).
Abb. 26: Beispiele verschiedener Ornamente (aus: Zahavi & Zahavi 1998).
Wo bleibt die Qualität?
Ist Schönheit also nichts als Mode? Reine Willkür ohne tiefere Bedeutung? Verschwendung um der Verschwendung willen? Was für Darwin eine Selbstverständlichkeit war, erfüllt viele heutige Darwinisten mit Schaudern. Nach ihrer Überzeugung gibt es in der Evolution wenig Raum für Zufälle. Hinter dem Geglitzer muss eine Botschaft stehen. Einer der Ersten, die auf die evolutionäre Vernunft pochten, war der Evolutionspsychologe Donald Symons. Seine »Erklärung« von Schönheit firmiert heute unter dem Namen »Gute-Gene-Hypothese«. Ihr Credo lautet: Schönheit ist ein »Fitnessindikator«. Sexuelle Signale sind dazu da, die genetischen Qualitäten des Senders herauszustreichen, allen voran Gesundheit und Fruchtbarkeit. Das opulente Pfauenrad ist nichts anderes als eine Art Kontoauszug, der dem Weibchen eine leckere »Einlage« in das Joint genetic venture verspricht. Doch was heißt hier eigentlich »gute Gene«? Welche Qualitäten genau stecken hinter einem makellosen Pfauenrad? Eine der ersten Antworten ist mit einem der ganz großen Namen der modernen Biologie verbunden: William D. Hamilton. »Bill«, wie ihn seine Freunde nannten, ist im März 2000 im Alter von 64 Jahren an einer Malaria gestorben, die er sich im Kongo eingefangen hatte. Dorthin war er gereist, um Beweise für eine von ihm verfochtene, in Fachkreisen allerdings bis heute höchst umstrittene Hypothese zur Entstehung von AIDS zu sammeln. Demnach sei das Virus Ende der 1950er Jahre bei Polio-Impfungen in Zentralafrika durch verunreinigtes Serum vom Affen auf den
Menschen übertragen worden. Hamilton war der typische zerstreute Professor, der sogar vergessen konnte, dass eine bestimmte Theorie von ihm selber stammte, wie sein Freund und Kollege Richard Dawkins einmal schrieb. Dabei haben es seine Theorien in sich – etwa die unter dem Namen »Rote Königin« bekannt gewordene (und inzwischen weitgehend akzeptierte) Hypothese, die sich mit der Frage beschäftigt, warum es überhaupt Sex gibt. Ihr zufolge befinden sich alle Organismen in einem ewigen Rüstungswettlauf mit den Parasiten, von denen sie als »Wirt« missbraucht werden. Die Eindringlinge überlisten das Abwehrsystem ihres Opfers, indem sie – dank ihrer extremen Teilungsgeschwindigkeit und der damit verbundenen viel höheren Mutationsrate – ihren genetischen Code ständig wechseln. Gegen diese Taktik kann der Wirt nur bestehen, wenn auch er seine genetischen Passwörter beständig ändert und damit seine Sicherheitslücken schließt. Und das Mittel dazu heißt: Sex. Die geschlechtliche Fortpflanzung beschert dem Wirtsorganismus in jeder Generation einen komplett neu zusammengewürfelten Gensatz und damit ein neues Sicherheitsprofil. Bei seinen Forschungen zur Parasiten-Theorie fiel nun Hamilton Anfang der 1980er Jahre zusammen mit seiner Mitarbeiterin Marlene Zuk auf, dass gerade diejenigen Vogelarten am auffälligsten geschmückt sind, die am meisten von Parasiten heimgesucht werden. Die beiden Forscher schlossen daraus, dass sexuelle Ornamente möglicherweise deshalb attraktiv sind, weil sie eine starke Immunabwehr signalisieren. Die Weibchen wählen die strahlendsten Männchen, weil deren aufwändiger Schmuck ihnen zu verstehen gibt, dass sie ohne Schaden mit Parasiten fertig werden. Das Ornament wirkt wie ein ärztliches Gesundheitsattest.
Die Theorie erhielt sehr viel Aufmerksamkeit in der Fachwelt. Weil sie sich jedoch auf viele Tierarten nicht übertragen ließ, flaute die anfängliche Begeisterung mit der Zeit deutlich ab. Zur Entthronung der Parasiten-Hypothese hat auch der Pfau höchstpersönlich beigetragen. Obwohl die Pfauenhenne bekanntermaßen die Anzahl der Augen im Rad eines Kandidaten als Wahlkriterium nimmt, konnten der dänische Zoologe Anders Pape Møller und die britische Evolutionsbiologin Marion Petrie zu ihrer eigenen Überraschung keinen Zusammenhang zwischen der Augenzahl und dem Gesundheitszustand oder den Immunparametern der Männchen feststellen.
Noch mal: Symmetrie
Um Hamiltons Parasiten-Hypothese ist es damit stiller geworden, doch dafür herrscht umso mehr Trubel auf einer anderen Bühne. Die Hauptdarstellerin kennen wir bereits: Symmetrie. Nach der Symmetrie-Hypothese zeigen sich die guten Gene zuallererst an der exakt symmetrischen Anlage von Ornamenten und sonstigen Merkmalen. Je symmetrischer die äußere Hülle, desto besser die Erbanlagen. Alles fing mit der japanischen Skorpionfliege an, deren Sexleben der Biologe Randy Thornhill von der University of New Mexico seit fast dreißig Jahren studiert. 1992 machte Thornhill eine Aufsehen erregende Entdeckung: Diejenigen Männchen, die von den Weibchen (gegen ein »Hochzeitsgeschenk« von einer Raupenleiche) zum Verkehr zugelassen wurden, hatten symmetrischere Flügel als ihre abgewiesenen Geschlechtsgenossen. Schon wenn einer der Flügel nur einen Millimeter kürzer oder länger als der andere ausfiel, hatte sein Besitzer weniger Glück in der Liebe. Im selben Jahr veröffentlichte auch Anders Pape Møller die Ergebnisse seiner Untersuchungen an Schwalben. Bei der Partnerwahl der Weibchen spielt demnach neben der Schwanzlänge auch die Symmetrie des Schwanzes eine Rolle. Schwalbenmännchen mit künstlich verlängerten und symmetrischer gestalteten Schwänzen fanden rascher eine Partnerin, hatten mehr Junge und begingen häufiger Ehebruch. Endlich, so schien es, war der lange gesuchte universale »Fitness-Indikator« gefunden. It’s symmetry, stupid! Die zugrunde liegende Idee ist folgende: Von ihrem genetischen
Entwicklungsplan her sind die meisten Lebewesen auf absolute Symmetrie angelegt. Dieser Bauplan wird jedoch nicht immer in die Realität umgesetzt, da alle Organismen während ihrer Entwicklung Stress ausgesetzt sind – toxischen Belastungen etwa, Krankheiten oder sonstigen ungünstigen Bedingungen. Nur ein Lebewesen von höchster Qualität kann sich trotz allen Sandes im Getriebe wie vorgesehen zu einem perfekt symmetrischen Wesen entwickeln. Symmetrie zeigt somit »Entwicklungsstabilität« und damit gute Gene an. Zusammen mit Anders Pape Møller ist Randy Thornhill inzwischen so etwas wie der Papst der »SymmetrieHypothese«. In einer gemeinsamen Untersuchung stellten die beiden bei 78 Prozent aller untersuchten Arten einen Zusammenhang zwischen Symmetrie und Paarungserfolg fest. Seit Mitte der neunziger Jahre erschien eine wahre Flut von Studien in den evolutionsbiologischen Blättern, die alle nur denkbaren Zusammenhänge zwischen Symmetrie und Fitness aufdeckten. Allerdings wird zunehmend Kritik an der methodischen Qualität vieler Untersuchungen laut, und auch das ganze Konzept der »Entwicklungsstabilität« gerät immer mehr ins Kreuzfeuer. Ob Symmetrie also tatsächlich den allumfassenden Marker für genetische Qualität darstellt, als der er lange Zeit gehandelt wurde, ist alles andere als ausgemacht.
Ehrlich währt am längsten
Die Suche nach dem entscheidenden Marker für gute Gene wird also weitergehen. Egal, wo und ob man letztlich fündig wird – mit einem Problem müssen sich alle Gute-GeneTheorien auseinander setzen: Sobald ein Ornament (oder ein Gesang oder ein Tanz) bei den Weibchen hoch im Kurs steht, wird es für Fälschungen anfällig. Wenn es aber von jedem Schwächling ohne großen Aufwand kopiert werden kann, verliert es jede Bedeutung als »Fitnessindikator«. Auf der Suche nach einer Lösung für das Paradox ist eine der originellsten Theorien der Biologie entstanden – die denn anfangs auch entsprechend mit kollektivem Naserümpfen, ja mit Hohn und Spott bedacht wurde. Ihre Urheber, das israelische Biologenpaar Amotz und Avishag Zahavi, tauften sie auf den Namen »HandicapPrinzip«. Dem Handicap-Prinzip zufolge können Signale nur dann fälschungssicher sein, wenn sie kostenintensiv sind, d. h., ihre Herstellung und Aufrechterhaltung muss eine Investition abverlangen, die sich nur ein extra starkes Individuum leisten kann. Die Evolutionsbiologin Helena Cronin bringt das Prinzip schön auf den Punkt: »Der Pfau muss sich nicht nur um ein Weibchen und Kinder kümmern, sondern um ein Weibchen, Kinder und einen Schwanz.« Der schöne Pfau sitzt folglich in einer evolutionären Zwickmühle. Sein Schwanz schadet ihm zwar, aber ohne geht es – mangels interessierter Weibchen – noch weniger. Wer Werbung für seine Gene machen will, muss wohl oder übel ein Handicap auf sich nehmen. Als Handicap kann dabei so gut wie jedes Merkmal fungieren. Hauptsache, es transportiert die Botschaft: »Sieh
mal, was ich mir leisten kann!« Handicap-Kandidaten sind natürlich vor allem Ornamente, die buchstäblich »zur Last fallen« – wie der Schwanz des Witwenvogels. Die Zahavis nennen als Beispiel gerne auch die Mähne des Löwen, die ihm den Blick verstellt, oder den Höcker des Rosapelikans, der zur Brunstsaison an dessen Schnabelansatz wächst, ihm die Sicht auf die Schnabelspitze nimmt und damit beim Fischfang behindert. Das mag ja alles sein, wurde den Zahavis vorgehalten, aber was soll an einem einfachen Fleck, beispielsweise auf der Brust des Rotkehlchens oder der Flosse eines Südseefisches, kostspielig sein? Erst neuere Erkenntnisse deuten eine (im Sinne des Handicap-Prinzips) befriedigende Antwort an: Die Ausprägung und Aufrechterhaltung männlicher Ornamente scheinen nämlich vom Testosteronspiegel abzuhängen. Und Testosteron ist ein ziemlich zweischneidiges Schwert: Es mobilisiert den Körper für Fortpflanzungsaufgaben wie Werbung und Kampf, zapft aber dafür offenbar gleichzeitig Ressourcen von allgemeinen »Haushaltsaufgaben« ab, wie etwa der Immunabwehr. Tatsächlich weisen Studien darauf hin, dass Testosteron die Funktion des Immunsystems beeinträchtigt (und das erklärt möglicherweise auch, warum der von Hamilton postulierte Zusammenhang zwischen Ornamenten und Parasitenlast so wenig eindeutig ausfällt). Nach der Logik des Zahavi’schen Prinzips ist die schädliche Wirkung des Testosterons das unvermeidbare Handicap, das mit der Prachtentfaltung verbunden ist – in der Sprache der Forscher ein »Immunkompetenz-Handicap«.
Der Umweg ist das Ziel
Sollte die Evolution wirklich so um die Ecke denken? Eine Behinderung soll Zeichen von Fitness sein? »Bremsen und Gasgeben« als Programm? Kein Wunder, dass die Zunft geschlagene fünfzehn Jahre brauchte, um die Idee der Zahavis zu akzeptieren. Der Durchbruch kam mit mathematischen Modellen, die klar belegten, dass sexuelle Selektion tatsächlich nach dem Handicap-Modell funktionieren kann. Inzwischen ist für viele Ornamente nachgewiesen worden, dass sie wirklich ein Handicap darstellen – wie etwa die Schwanzfedern des männlichen Lobelien-Nektarvogels: kürzt man sie, kann der Vogel deutlich besser fliegen. Nachdem das Handicap-Prinzip lange als Kellerkind behandelt wurde, gibt es heute kaum noch ein Phänomen aus Natur oder Kultur, das nicht in seinem Lichte neu beleuchtet würde. Womit wir schließlich doch noch beim Menschen angelangt wären. Warum beispielsweise ist die Schürze des Kochs ausgerechnet weiß? Sie werden die Antwort wahrscheinlich schon selber geben können. Vor allem menschliche Statussymbole eignen sich zu einer Exegese im Zahavi’schen Sinn. Denn auch der Mensch steht vor dem Dilemma jeder Kreatur: Wie soll er zeigen, was für ein toller Hecht er ist? Einen Handstand zu machen, wenn wieder mal kein Schwein guckt, kann nicht der Weg sein. Zahavis Devise ist erfolgversprechender: Zeig, was du dir leisten kannst. Der Sinn der Markentasche ist deshalb nicht die Tasche, sondern die Marke – nur sie transportiert das Handicap (das man in diesem Fall auch schlicht »Preis« nennt).
Man kann auch andere Lasten und Lästigkeiten auf sich nehmen, um seinen Status zu unterstreichen: eng geknöpfte Kragen mit Würgerkrawatten, einengende Jacketts, möglichst noch – für Freunde höherer Handicap-Klassen – mit Weste, und das bei 40 Grad Außentemperatur. Oder glatte Sohlen, zu Trippelschritten zwingende Stöckelschuhe, feine Stoffe, Hauptsache teuer und nicht waschmaschinenfest.
Der Preis der Schönheit
Wenn man erst einmal das Prinzip verinnerlicht hat, blicken einem überall Handicaps entgegen. Aber so anerkannt das Zahavi’sche Modell inzwischen ist, es bleiben durchaus auch Fragen und Widersprüche. So müsste nach der HandicapHypothese eigentlich zu erwarten sein, dass das ausgesendete »Qualitätssignal« mit der Schwere des Handicaps korreliert. Dies scheint aber nicht immer zuzutreffen. Für die Pfauendame etwa macht es zwar einen Unterschied wie zwischen Lamborghini und Opel Corsa, ob ihr Verehrer fünf Federn mehr oder weniger im Schwanz hat. Der Unterschied für dessen Handicap ist jedoch alles andere als spektakulär: An der Sichtbarkeit für Feinde zumindest dürften die paar Federn nichts ändern, genauso wenig an der Beweglichkeit. Die Hauptkritik an der Zahavi’schen Hypothese ist jedoch anderer Natur: Das Handicap-Prinzip macht nur unter der Annahme Sinn, dass die bei der Partnerwerbung eingesetzten Signale »ehrlich« sind, d. h. durch tatsächliche Ausgaben »finanziert« werden. Das scheint zwar für eine Vielzahl sexueller Ornamente zuzutreffen, doch von einem durchgängigen »Prinzip« kann nicht die Rede sein – und das wird wahrscheinlich niemanden überraschen. »Ehrliche Werbung« klingt ein bisschen wie »katholische Hell’s Angels«. Werben heißt nun einmal übertreiben, flunkern, pardon: lügen. Oder wie nennen Sie das, wenn Ihnen jemand sexuelle Erfüllung durch den Kauf einer Waschmaschine verspricht? Auch die Tierwelt setzt großflächig auf Lug und Trug – denken Sie nur an den Kuckuck.
Das Zahavi’sche Prinzip dürfte sich somit zwar bei der Erklärung eines großen Teils der sexuellen Ornamente als nützlich erweisen. Aber mit der Ausdehnung des Prinzips auf alle sexuellen Signale, und sogar noch weit darüber hinaus auf alle Signale überhaupt, haben die Zahavis ihre Idee wahrscheinlich überdehnt.
Im Handicap-Prinzip liegt eine Schlussfolgerung verborgen, die zunächst einmal wie eine Plattitüde klingt: Schönheit hat ihren Preis. Wenn man die Aussage jedoch konsequent weiterdenkt, kommt man auf eine Spur, die von der Schönheit nur auf den ersten Blick weit weg zu führen scheint – zum Tod. In vielen Arten sind die prächtigsten Männchen gleichzeitig diejenigen mit dem kürzesten Leben. Reichlichere Nachkommenschaft scheint durch eine geringere Lebensspanne erkauft zu sein. Der australische Biologe John Hunt fütterte Feldgrillen mit einem besonders proteinhaltigen Kraftfutter. Überraschenderweise war nur den gepeppelten Weibchen ein längeres Leben beschieden. Die Männchen dagegen lebten deutlich kürzer. In ihrer jungen Erwachsenenzeit steckten sie – möglicherweise Testosteron-bedingt – so viel Energie ins Zirpen, dass ihnen für den Rest des Lebens buchstäblich die Puste ausging. Homo sapiens bildet hier keine Ausnahme. Die Tatsache, dass der Menschenmann fast ein Jahrzehnt kürzer lebt als die Menschenfrau, scheint in erster Linie seinen Geschlechtshormonen geschuldet. Eunuchen beispielsweise haben die gleiche Lebenserwartung wie Frauen. Der Mann ist demnach Opfer seines genetisch verordneten Werbeund Konkurrenzzwangs. Schönheit und Tod, wir werden darauf zurückkommen.
Vernunft gegen Geschmack?
Nachdem wir nun die Gute-Gene-Hypothese in all ihren Varianten samt ihrer Gegenspielerin, der SelbstläuferHypothese von Ronald Fisher, kennen gelernt haben, können wir uns noch einmal Darwins Pfauenrätsel zuwenden. Handelt es sich beim Pfauenschwanz nun um eine bloße »Mode« oder ist er Ausdruck überlegener »Qualität«? Um es gleich zu sagen: Der edle Wettstreit ist alles andere als entschieden. Einerseits können die Qualitätsapostel viele Tierarten anführen, bei denen Ornamentierung und Qualität zusammengehen. Anfang der neunziger Jahre fing Marion Petrie im Whipsnade Wildpark acht Pfauenhähne ein und steckte jeden von ihnen zusammen mit jeweils vier nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Pfauenhennen in ein Gehege. Die aus den Verbindungen hervorgegangenen 500 Eier nahm sie weg, markierte sie und schob sie ganz normalen Hühnern zum Ausbrüten unter. Als der adoptierte Pfauennachwuchs mit zwölf Wochen auf die Waage kam, stellte sich heraus, dass er umso besser gediehen war, je größer die Augenflecken auf dem Schwanz des jeweiligen Vaters waren! Einen Teil der Jungvögel entließ Petrie später wieder in den Wildpark. Nach zwei Jahren zeigte sich, dass von den Kindern der prächtigsten Väter noch deutlich mehr am Leben waren als von denen der unscheinbareren. Auch eine theoretische Erwägung unterstützt die GuteGene-Fraktion. Dieselben Verzierungen nämlich, auf die die Weibchen fliegen, schrecken oft auch Rivalen ab. Viele Ornamente sind Schmuck und Kriegsbemalung in einem. Wenn man die Brust eines Buchfinkenweibchens wie die des Männchens rot einfärbt, steigt es sofort in der
innerweiblichen Hierarchie auf – eine Blitzkarriere, die sich mit reiner Mode schwer erklären lässt. In aller Regel stehen in der Tierwelt die prächtigsten Tiere nicht nur beim anderen Geschlecht höher im Kurs, sondern auch in der gleichgeschlechtlichen Hackordnung am höchsten. Dass der Mensch hier mal wieder keine Ausnahme macht, werden wir noch sehen. Dummerweise (zumindest für alle, die es lieber einfach hätten) haben die Fisherianer nicht weniger gute Argumente auf ihrer Seite, allen voran die »Zufälligkeit« und den unendlichen Einfallsreichtum der Ornamente: Federn aller Formen und Farben, knallbunte aufblasbare Luftsäcke, Höcker und Schwellungen jeder Couleur – es gibt nichts, was es nicht gibt. Warum sollen solche bizarren Anhängsel entstehen, die – zumindest am Anfang ihrer Entwicklung, wo sie noch nicht zum Handicap geworden sind – auch nicht den entferntesten Zusammenhang mit irgendwelchen Qualitäten erkennen lassen? Die Verhaltensforscherin Nancy Burley bestückte Zebrafinken mit verschiedenfarbenen Ringen an den Beinen. Was dabei herauskam, wollte sie erst selber nicht glauben: Die rotberingten Männchen hatten doppelt so viele Nachkommen wie die mit den grünen Ringen! Die modischen Schönlinge waren sogar so begehrt, dass ein Teil von ihnen gleich zur Vielweiberei überging – wofür sie dann, getreu unseren Ausführungen über die Todesnähe der Schönheit, mit einem kürzeren Leben bezahlen mussten. (Die Grünberingten wiederum wurden von ihren Gattinnen verstärkt zur Elternarbeit eingespannt.) Doch es kommt noch bunter, denn auch das Aufsetzen weißer Hütchen – auch vom eingefleischtesten Gute-Gene-Anhänger sicher nicht als Ausweis überlegener Gene zu interpretieren – hatte dieselbe Wirkung.⁴⁵
Wie die Konkurrenz aus dem Gute-Gene-Lager haben auch die Runaway-Protagonisten eine ganze Reihe von Arten in petto, die ihre These stützen, bei denen also ein Zusammenhang zwischen Ornamentierung und irgendwelchen Qualitäten nicht herauszukitzeln ist – womit wieder einmal bestätigt wäre, was Kritiker der Evolutionspsychologie schon immer wussten: Für jede Theorie gibt es ein Tier. Aber muss man denn wirklich zwischen den beiden Theorien wählen? Immerhin schließen sie sich nicht gegenseitig aus. Was für die eine Tierart gilt, muss, wie wir gesehen haben, nicht unbedingt für die andere zutreffen. Und dasselbe gilt auch für einzelne Ornamente, selbst wenn sie am selben Körper sitzen: Vielleicht ist das eine Ornament modischer Wildwuchs ohne tiefere Bedeutung, ein anderes wiederum seriöser Ausdruck von Qualität? Vor allem aber liegen die beiden Theorien näher beieinander, als es (auch vielen ihrer jeweiligen Anhänger) auf den ersten Blick erscheint. Wer die Runaway-Hypothese aufmerksam gelesen hat, wird vielleicht gemerkt haben, dass auch hier das Handicap-Prinzip durchschimmert. Denn je extremer das Ornament, desto mehr gerät es zum Hindernis, das die Überlebensfähigkeit einschränkt, und sei es nur durch die Tatsache, dass das ornamentiertere Männchen in aller Regel im Status höher steht und damit mehr Auseinandersetzungen mit Möchtegern-Aufsteigern zu bestehen hat.⁴⁶ Dass einen solchen Zustand nur die allerhärtesten Typen aushalten können, versteht sich von selbst. Irgendwann muss also auch der Fisher-Scheck durch echte Qualitäten gedeckt werden, sprich, ehrlich werden. Vielleicht liegen am Ende Geschmack und Vernunft gar nicht so weit auseinander?
Der nackte Affe
»Die Menschen haben ihre Schönheitsköniginnen; aber wenn ein Fisch so eine Schönheit sieht, taucht er in die Tiefe, und wenn ein Vogel sie sieht, fliegt er davon«, heißt es in einem taoistischen Lehrsatz des altchinesischen Philosophen Zhuangzi. Wenn sich der Satz auch ganz bestimmt nicht auf die moderne Evolutionstheorie bezieht, so spricht er doch eines ihrer fundamentalsten Probleme an: So sehr jedes Individuum darauf programmiert sein muss, sich zu Paarungszwecken zumindest zeitweilig zu den Mitgliedern des jeweils anderen Geschlechts hingezogen zu fühlen, so wenig sollten sich die Mitglieder unterschiedlicher Arten gegenseitig anziehen. Paarungen zwischen Arten führen allenfalls zu unfruchtbaren Nachkommen, wie beim Maultier. Wir kommen damit am Schluss dieses Kapitels zu einer Schönheitserklärung, die unter den Theorien der sexuellen Selektion zwar ein Minderheitenvotum darstellt, aber durchaus interessante Argumente auf ihrer Seite hat. Demnach hat Schönheit einen ganz banalen Zweck: Sie soll die Libido der jeweiligen Individuen in die richtigen Bahnen lenken – nämlich hin zu den eigenen Artgenossen. Ornamente stehen ihr zufolge zuallererst im Dienst der Arterkennung. Könnte das vielleicht auch beim Menschen relevant sein? Auf den ersten Blick sieht es nicht danach aus. Schließlich sind wir die einzige Menschenart, und die drei oder vier anderen Menschenaffen, die zu unserer näheren Verwandtschaft zählen, sind nun wirklich in jeder Hinsicht weit weg. Der Mensch ist eine »evolutionäre Waise«, der
einzige Überlebende aus der Gattung Homo, deren letzter Nicht-Sapiens-Vertreter, der Neandertaler, vor 25.000 Jahren ausgestorben ist. Allerdings – auch wir waren einst eine »entstehende Art« mit ganz nahen Familienangehörigen. Und damit könnte die »Arterkennungs-Hypothese« auch auf Homo sapiens Anwendung finden. Interessanterweise sind bei den Wirbeltieren oft gerade nahverwandte Arten besonders unterschiedlich – als ob sie ein ganz besonders großes Abgrenzungsbedürfnis hätten. Auch bei uns scheint dieses Bedürfnis überaus mächtig zu sein. »In den Augen der Menschheit gibt es wenig Tiere, die geringer an Schönheit wären als die Affen«, schrieb beispielsweise im 18. Jahrhundert der Philosoph Edmund Burke. Wir scheinen gerade das als besonders attraktiv zu empfinden, was besonders menschlich ist – und damit möglichst »anders« als unsere affenähnlichen Vorfahren. Allem voran die Haarlosigkeit der Haut. Wir besitzen zwar immer noch fünf Millionen Haarfollikel, aber nur eine kleine Minderheit davon produziert beim »nackten Affen« noch sichtbare Haare.⁴⁷ In allen Kulturen ist Gesichtsbehaarung (und meist auch die Behaarung des übrigen Körpers) der Albtraum der Frauen. Auch die Form des Gesichts lässt sich als (vorläufiger) Endpunkt einer Entwicklung weg vom wilden Urzustand sehen. Tatsächlich hat sich in den letzten 100.000 Jahren der menschliche Schädel markant verändert, und bei dieser Veränderung ist die Frau anscheinend mit großen Schritten vorangegangen (mehr dazu in Kapitel 6 und 8): die Augenwülste sind zurückgewichen, die Stirn ist höher geworden, die Kieferpartie graziler. Auch bei der Weiterentwicklung des Körpers weg von der »wilden« Form unserer Vorfahren scheint die Frau führend zu sein. Es fängt mit dem schlanken Hals an, der im Kontrast
zur Stiernackigkeit unserer Affenverwandten steht, und endet bei Po und Busen, bei jenen buchstäblich herausragenden Charakteristika also, die den Menschen vom Affen unterscheiden und denen vielleicht nicht umsonst unsere Obsession gilt. Dazu kommt das spezifisch weibliche Hohlkreuz, das ebenfalls mit dem aufrechten Gang verbunden und zusammen mit Po und Busen das sexy Signal schlechthin ist. Fast könnte man meinen, unser Schönheitssinn befolge die einfache Maxime: je weniger ähnlich unseren affenähnlichen Vorfahren, desto attraktiver. Die Sichtweise ist, wie gesagt, ein Minderheitenvotum, das aber mit den Konkurrenten aus dem Mainstream eines gemeinsam hat: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Auch nach anderthalb Jahrhunderten bleibt Darwins Pfauenrätsel ein Rätsel, geheimnisumwoben.
6 Sapiens mal wieder die Ausnahme?
Es fängt schon damit an, dass er es immer im Geheimen treibt. Ein anständiges Tier lässt die anderen dabei zuschauen. Dieselbe Geheimnistuerei, wenn es um die fruchtbaren Tage geht: Das menschliche Weibchen kriegt seinen Eisprung meist nicht einmal selber mit. Kein Wunder, dass der »nackte Affe« ständig Sex im Kopf hat. Er kann ja nie wissen, ob sein Weibchen gerade befruchtungsfähige Eier hat. Aus Sicht seiner tierischen Verwandten hat der Mensch jedenfalls ein ziemlich merkwürdiges Sexualleben. Dazu
gehört auch, dass ihn Jugendlichkeit so anzieht. Verglichen mit dem Rest der Tierwelt sind wir eine Spezies von Pädophilen. Wenn beispielsweise Schimpansen-Männchen von mehreren Weibchen mit geschwollenen Genitalien belagert werden, fällt ihre Wahl auf die älteren. Bei vielen Tierarten ist Schönheit geradezu ein Alterszeichen. Je älter etwa ein Paradiesvogel ist, desto länger sind seine Schwanz- oder Zierfedern.⁴⁸ Beim Menschen dagegen dudelt das Radio: »Siebzehn Jahr, blondes Haar …« Schon in diesem zarten Alter hat die Menschenfrau den Höhepunkt ihrer Schönheit erreicht. Schopenhauer bringt dazu mit einem schadenfrohen Unterton zu Papier: »Mit den Mädchen hat es die Natur auf das, was man, im dramaturgischen Sinne, einen Knalleffekt nennt, abgesehen, indem sie dieselben, auf wenige Jahre, mit überreichlicher Schönheit, Reiz und Fülle ausstattet, auf Kosten ihrer ganzen übrigen Lebenszeit.« Die Schönheitskurve der Männer ist dagegen weit weniger »dramatisch«. Sie erreicht keine schwindelerregenden Höhen, fällt dafür aber auch nicht so steil ab und hält auch noch über die Lebensmitte hinaus einigermaßen ihr Niveau. (Was aber noch lange nicht heißt, dass Frauen die berühmten »älteren Herren mit grauen Schläfen« besonders sexy finden würden. Zumindest bei den meisten jungen Frauen ist das eindeutig nicht der Fall.) Die evolutionsbiologische Erklärung für die unterschiedlichen Schönheitskurven liegt auf der Hand: Frauen sind – im Gegensatz zum Mann – nur in einem relativ schmalen Zeitfenster fruchtbar. Schon mit 30 Jahren geht ihre Fruchtbarkeit stark zurück, wohingegen der Mann fast sein ganzes Leben über zeugungsfähig ist.⁴⁹ Jugendlichkeit signalisiert also in der Fortpflanzungslogik der Evolution
beim Menschen die begehrenswerte weibliche Qualität schlechthin, und damit muss unser Hang zur Jugendlichkeit tief in unserem biologischen Erbe verankert sein. Die Evolutionsbiologie hält zwei Erklärungen für unseren Jugendwahn parat. (Wenn ich hier von »unserem« und nicht vom männlichen Jugendwahn spreche, dann nur deshalb, weil Frauen dem Wahn genauso frönen wie Männer – wie ein Blick in jede Frauenzeitschrift lehrt.) Erstens hat ein junges Mädchen noch ihre gesamte fruchtbare Zeit vor sich – und ist damit für einen potenziellen Ehemann als Vehikel für seine Gene besonders wertvoll. Zweitens: Da Frauen in früheren Zeiten schon in recht jungen Jahren entweder schwanger waren oder stillten, waren sie nach Berechnungen des Evolutionspsychologen Donald Symons zu 99 Prozent der Zeit unfruchtbar. Sex mit jungen Mädchen führte also mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zu Nachkommen. Und diese Vorliebe des Urmannes haben wir jetzt an der Backe. David Buss, einer der Begründer der modernen Evolutionspsychologie, zieht in seiner weltweiten Studie zur Partnerwahl denn auch das Fazit: »Weltweit äußern Männer den Wunsch nach attraktiven, jungen Ehefrauen, die ihnen bis ans Lebensende treu bleiben. Diese Vorliebe lässt sich weder dem Kapitalismus, der Borniertheit des weißen Mannes oder der Gehirnwäsche der Werbung zuschreiben. Sie ist universal, keine einzige Kultur bildet eine Ausnahme.«
Männer ticken anders. Frauen auch
Nach evolutionspsychologischer Lesart ist die Schönheit der Frau das Versprechen von reichlichem und gesundem Nachwuchs. Kein Wunder also, dass Männer geborene Schönheitsjunkies sind. Nicht nur im Märchen kann es vorkommen, dass ein Mann sich in ein Bild verliebt. In einem Experiment legte man männlichen Probanden Fotos von Frauen vor. Mit einer von ihnen durften sie sich zum Abendessen verabreden. Jedem Foto war auch eine kurze Charakterbeschreibung beigefügt – was sich die Forscher jedoch ebenso gut hätten sparen können, denn die Männer gingen bei ihrer Wahl ausschließlich nach der Attraktivität. Und die Frauen? Fragen wir Schopenhauer, den alten Grantler, so spielt Schönheit für sie nicht die geringste Rolle. »Überhaupt sehen sie wenig auf Schönheit, namentlich des Gesichts«, schreibt er. »Das Weib wird durchgängig von den Eigenschaften des Herzens oder Charakters im Manne angezogen … Vorzüglich ist es Festigkeit des Willens, Entschlossenheit und Mut, vielleicht auch Redlichkeit und Herzensgüte.« Zumindest auf den ersten Blick hat Schopenhauer so Unrecht nicht – wenn man etwa neuzeitliche Heiratsanzeigen betrachtet: »Mann von Welt, ungemein charmant, kultiviert, sehr sympathisch, aber auch ein Mann von Format und Charakter, der Humor und Zärtlichkeit besitzt, durch und durch Gentleman.« Vom Aussehen kein Wort. Sie dagegen ist ein »strahlendes, verführerisches, unwiderstehliches Geschöpf, blond, langbeinig, klug, zärtlich«.
Es sind jedoch sicher nicht ausschließlich die »Eigenschaften des Herzens und des Charakters«, die Frauen anziehen. Viele Versuche – denken wir nur an den mit den Burger-KingUniformen in Kapitel 2 – zeigen, dass bei der statistischen Durchschnittsfrau vor allem gesellschaftlicher Status ganz oben auf der Wunschliste steht. Und Status ist mehr als Geld, wie Karlene Hanko und ihre Kollegen von der University of Pennsylvania in einem Experiment demonstrierten. Dabei bewerteten Frauen denselben Mann als deutlich attraktiver, wenn er seinen (angeblichen) Reichtum nicht durch einen Lottogewinn, sondern durch den Verkauf einer eigenen Internet-Firma »gemacht« hatte. Was nun genau Status repräsentiert, ist von Frau zu Frau sehr unterschiedlich, doch für alle gilt: Im Gegensatz zum Mann lesen sie auch die Bildunterschrift.
Die Qual der Wahl
Selbstverständlich ist Frauen das Äußere ihres Partners nicht egal, wie Schopenhauer meinte. Sie sind nur eher bereit, in diesem Punkt zugunsten anderer Qualitäten Abstriche zu machen. Der Neuseeländer Psychologe Garth Fletcher legte Männern und Frauen ein Menü aus drei positiven Eigenschaften vor – emotionale Wärme, Attraktivität und Status – und ließ sie daraus je zwei aussuchen, die sie bei ihrem Traumpartner auf keinen Fall missen wollten. Das Ergebnis: Frauen legten bedeutend weniger Wert auf Attraktivität als Männer, die wiederum gut auf Status verzichten konnten.⁵⁰ An dieser Stelle kommt regelmäßig der Einwand, solche Ergebnisse würden lediglich die ökonomische Abhängigkeit der Frau widerspiegeln. Benachteiligt, wie sie ist, kann sie sich schlichtweg nicht den Luxus leisten, ihren Partner nach ästhetischen Kriterien auszusuchen. Dieser so genannten Structural-powerlessness-Hypothese widerspricht allerdings der Befund, dass auch erfolgreiche und ökonomisch völlig unabhängige Frauen sich nach Männern sehnen, die ihnen in puncto Status überlegen sind. Auch bei den wenigen Naturvölkern, bei denen Frauen mehr Macht haben als Männer, werden systematisch die bessergestellten Männer bevorzugt. Ob das allerdings mit den von Evolutionspsychologen klassischer Schule so gern strapazierten »Versorgerqualitäten« zu tun hat, sei dahingestellt. Nicht nur feministische Anthropologen weisen darauf hin, dass zumindest in vielen heutigen Jäger- und Sammlergesellschaften der Beitrag der Männer zur Versorgung ihrer Familien recht bescheiden ausfällt.⁵¹
Interessanterweise gilt das Muster von der durch das Äußere weniger beirrbaren Frau und dem schönheitsfixierten Mann nur bei langfristigen Beziehungen. Wenn es um eine kurze Begegnung Marke One-Night-Stand geht, sind es gerade die Frauen, die auf die äußere Attraktivität ihres Liebhabers mehr Wert legen. Männer sind in diesem Fall weniger wählerisch – und zwar in jeder Hinsicht: Auch die Intelligenz der Bettgenossin ist ihnen ziemlich egal.
Das schöne Geschlecht
Kommen wir zu einer weiteren Merkwürdigkeit unseres Paarungsverhaltens, nämlich zu der Frage: Welches ist eigentlich das schöne Geschlecht? Wie wir wissen, ist in der Tierwelt in aller Regel das Männchen ornamentierter als das Weibchen. Bei einigen wenigen Arten sind beide Geschlechter schön, bei vielen Papageien etwa. Aber dass das Weibchen auffällig ist, das Männchen hingegen nicht – so etwas gehört eher ins biologische Kuriositätenkabinett. Bevor wir uns auf die Suche nach der passenden Schublade für Homo sapiens machen, drängt sich jedoch die Frage auf: Ist der Mensch denn überhaupt ornamentiert? Und wenn ja, welches sind unsere Ornamente? Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Denn woher sollen wir wissen, welche Merkmale an unserem Körper tatsächlich durch Partnerwahl geformt wurden, also Ornamente im Sinne der sexuellen Selektion sind? Betrachten wir uns Menschen also einmal durch das Auge eines Marsmenschen. Der würde, wenn er uns mit Papageien, Ratten und Fischen vergleicht, am Ende wahrscheinlich sagen: Nicht gerade auffällig, dieser unbehaarte Zweibeiner – aber auch nicht wirklich unauffällig, mit dieser Mähne, den roten Lippen, der glatten Haut. Und wenn unser Marsmensch zufällig noch Biologe wäre, wäre er sich wahrscheinlich mit seinen ErdlingKollegen darin einig, dass die zurückhaltende Ornamentierung in etwa den Erwartungen entspricht, die man an eine relativ monogame, paargebundene Spezies hat, die nicht von Brautschau zu Brautschau zieht. Als Biologe würde er natürlich noch andere Merkmale als
»Ornamente« identifizieren, die allem Anschein nach nicht durch irgendeinen Nutzen für ihre Träger erklärbar sind: beim Mann den Bart, bei der Frau die schlanke Taille, die geschwollenen Hinterbacken und den Busen.
Schönheit ist (zuallererst) weiblich
Die Antwort auf die Frage nach dem schönen Geschlecht ist also notgedrungen ziemlich spekulativ, doch es gibt gute Gründe, dass sie so lautet, wie Sie es wahrscheinlich schon erwartet haben: das weibliche Geschlecht. Beweise, wohlgemerkt, wird niemand vorbringen können, wohl aber können wir uns auf Indizien stützen: – Wie Sie aus Kapitel 1 wissen, schneiden Frauen in RatingExperimenten der Schönheitsforschung systematisch besser ab als Männer, und zwar unabhängig davon, ob die Bewerter Frauen oder Männer sind. – Frauengesichter werden durch Verweiblichung deutlich attraktiver. Männliche Gesichter dagegen profitieren in der Regel nicht von Vermännlichung. Eher tut auch ihnen ein Schuss Weiblichkeit gut – Sie kennen die entsprechenden Versuche aus Kapitel 2. – Persönlichkeitspsychologen haben gezeigt, dass Menschen auf runde, sanfte Formen positiver reagieren; Ecken und Kanten dagegen werden tendenziell als bedrohlich empfunden. (Eine mögliche Erklärung für das Phänomen könnte sein, dass sie mit zornigen Gesichtsausdrücken in Verbindung gebracht werden.) – Auch die Hypothese, dass Schönheit sich in Abgrenzung zum »Schimpansen-Look« entwickelt hat, führt zum weiblichen Geschlecht. Sowohl der (haarlosere) weibliche Körper als auch das weibliche Gesicht sind von den affenähnlichen Vorfahren deutlich weiter wegentwickelt als ihre männlichen Pendants. Diese »Abgrenzungs-Hypothese« könnte auch erklären, warum wir weibliche Schönheit als
kindlich wahrnehmen. Die Entwicklung weg vom Affen ist nämlich in der Tat eine Entwicklung hin zum Kind. In den letzten paar Hunderttausend Jahren hat sich der menschliche Schädel immer weiter hin zum Kindchenschema entwickelt; die Brauenwülste sind langsam verschwunden, die Stirn wurde höher, das Kinn kleiner und die Formen, etwa die der Nase, zarter (siehe Abb. 28).
Abb. 28: Nach der Neotenie-Hypothese entwickelt sich der menschliche Schädel immer weiter in Richtung kindlicher Proportionen.
Wenn die Biologie Schönheit als »eher weiblich« definiert, heißt das allerdings noch lange nicht, dass Schönheit in allen Kulturen und Epochen ein weibliches Gesicht trägt.⁵² Der Mensch als kulturelles Wesen hat nun einmal erhebliche Freiheitsgrade gegenüber seinem evolutionären Erbe. Wie wir aus unserem Rundgang durch die Geschichte am Anfang dieses Buches wissen, war die Zuordnung zum »schönen Geschlecht« nicht zu allen Zeiten so eindeutig wie heute. Dass Schönheit jedoch als ausschließlich männliches Attribut gesehen wurde, war zu keiner Zeit der Fall. Männliche Schönheit wurde allenfalls – und nur ausnahmsweise – zusätzlich zur weiblichen gepriesen, besungen und verherrlicht. Das ist bei den heute existierenden Naturvölkern nicht anders: Die »Grundeinstellung« von Schönheit ist weiblich.⁵³ Und selbst da, wo männliche Schönheit eine wichtige Rolle spielt, hat sie einen weiblichen Touch. Bei den Fulbe in Westafrika gibt es beispielsweise regelrechte Schönheitskonkurrenzen unter Männern. Die Schönheit der Kandidaten misst sich jedoch daran, wie nahe sie dem über alles verehrten Ideal weiblicher Schönheit kommen. Auch im klassischen Griechenland war männliche Schönheit primär nicht die des Mannes, sondern die des zarten, haarlosen Knaben.
Warum ausgerechnet der Mensch bei der Frage des schönen Geschlechts die heilige Ordnung im Tierreich auf den Kopf stellt, bleibt bis heute ein Rätsel, und das, obwohl sich Biologen darüber schon seit Darwin den Kopf zerbrechen. Keine der gängigen Theorien der sexuellen Selektion hat eine wirklich überzeugende Antwort parat. Die Frage wird uns deshalb in Kapitel 8 noch einmal beschäftigen.
Zyklische Schönheit
Wir kommen zur nächsten Merkwürdigkeit im Schlafzimmer des Menschen. Der Mann steht – wie meistens auch die Frau – unablässig vor der Preisfrage: Ist sie nun fruchtbar oder nicht? Bei nahezu allen Arten erübrigt sich das Grübeln. Wenn Schimpansenweibchen ihre fruchtbare Zeit haben, sind sie kaum wiederzuerkennen; sie werden wild, bieten jedem vorbeikommenden Männchen ihr leuchtend rot geschwollenes Hinterteil an. Über den Sinn der »verborgenen Ovulation« des Menschenweibes ist viel spekuliert worden. Sie soll den Mann an seine Frau binden, lautet eine gängige Erklärung, denn in Unkenntnis ihrer fruchtbaren Zeit muss er sie auf Schritt und Tritt bewachen und auch in schöner Regelmäßigkeit »begatten«. In letzter Zeit mehren sich jedoch die Zweifel, ob die Ovulation wirklich so verborgen ist. Es gibt etwa Indizien dafür, dass Frauen an ihren fruchtbaren Tagen besonders attraktiv aussehen, was möglicherweise ihren stärker durchbluteten Lippen, weiteren Pupillen und ihrer strafferen Haut zu verdanken ist. (Nach einer brandneuen Studie ist die Ovulation sogar hörbar: Frauen hängen dann mehr am Telefon.) Möglicherweise ist auch der Geruchssinn mit von der Partie. Wenn man Männern von Frauen getragene T-Shirts zum Beschnüffeln gibt, finden sie den Geruch der fruchtbaren Zyklus-Phase angenehmer – und offenbar auch anregend, wie sich an dem Anstieg ihres Testosteronspiegels ablesen lässt. Männer scheinen also eine Nase für die richtigen Gelegenheiten zu haben.
Ändert sich mit dem Zyklus auch der Schönheitssinn der Frauen? Es scheint so. Der Evolutionspsychologe Victor Johnston von der University of New Mexico ließ Frauen am Computer an einem Männergesicht rumspielen, dessen »Weiblichkeit« bzw. »Männlichkeit« sie mit einem Regler verändern konnten. Und siehe da: Bei Frauen in der Zyklusmitte fielen die synthetisierten Typen deutlich männlicher aus. Johnston erklärt das Phänomen folgendermaßen: Die Frau (genauso wie der Mann und viele andere nur »offiziell« monogame Tierarten) fährt in ihrer sexuellen »Strategie« zweigleisig. Einerseits setzt sie auf eine feste Paarbeziehung, in der sie ihre Kinder aufzieht; daneben verfügt sie aber noch über einen Plan B: durch einen Seitensprung »gute Gene« für ihre Kinder einzufangen (die dann vom treusorgenden Gatten mit aufgezogen werden). Während der Mann durch einen Seitensprung sein Fortpflanzungskonto quantitativ vermehren kann, bleibt der Frau nur die Möglichkeit, ihre Bilanz durch Qualität aufzubessern. Und »Qualität« erkennt die Frau – nach evolutionspsychologischer Orthodoxie – an Merkmalen, die auf einen hohen Testosteronspiegel ihres Geliebten schließen lassen: dominantes Verhalten, »männliches« Gesicht. Tatsächlich scheinen Seitensprünge überzufällig häufig an den fruchtbaren Tagen stattzufinden – und auch überzufällig häufig mit Männern, die dem eigentlichen Partner an Status und Attraktivität überlegen sind. Ob an allen derzeit viel diskutierten zyklusbedingten Veränderungen wirklich etwas dran ist, muss sich noch erweisen. Eines ist aber schon jetzt klar: Was an einem Tag schön ist, muss es nicht unbedingt auch am nächsten sein.
Gute Gene – für jeden etwas anderes
»Gegensätze ziehen sich an«, sagt der Volksmund. Aber auch für das Gegenteil steht eine »uralte« Weisheit bereit: »Gleich und gleich gesellt sich gern.« Was nun? Aus evolutionärer Sicht haben beide Prinzipien gute Argumente aufzubieten. Wer das Vertraute liebt, setzt auf Erbanlagen, die sich in der jeweiligen Umgebung bewährt haben. Never change a winning team. Genetische Ähnlichkeit ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Denn allzu große genetische Nähe birgt das Risiko, dass im Erbgut der Eltern vorhandene schädliche Mutationen aufeinander treffen und dadurch eine Erbkrankheit zum Ausbruch kommt.⁵⁴ Die Suche nach einem (in genetischer Hinsicht) passenden Partner ist deshalb für jedes Individuum eine Gratwanderung: Ähnlich soll er sein, aber nicht zu ähnlich. Kein Wunder also, dass wir in der Liebe manchmal so hin- und hergerissen werden. Einerseits lockt das Exotische, Fremde, Abenteuerliche, andererseits zieht uns das Vertraute an. In Rating-Experimenten erzielen dem Probanden bekannte Gesichter regelmäßig die besseren Noten.⁵⁵ Bei dieser Gratwanderung zwischen Fremdem und Vertrautem wandelt jeder auf seinen eigenen Pfaden. Denn was »ähnlich« oder »unähnlich« ist, hängt von den jeweiligen Erfahrungen und der genetischen Ausstattung ab. Die Route, die dabei herauskommt, ist das, was wir »Geschmack« nennen. Schönheit ist also nicht für alle dasselbe. »Gute Gene« sind eben auch »passende Gene«, und passen tut für jeden
etwas anderes. Die Schönheitsformel muss – neben all ihren Konstanten – auch ganz individuelle Variablen enthalten.
Zeit also, zum Geruch zu kommen – und damit zum MHC. Auf MHC sind Mediziner gestoßen, als sie anfingen, Organe zu transplantieren. Sie stellten fest, dass der Erfolg von Transplantationen davon abhängt, wie ähnlich sich Spender und Empfänger in bestimmten Gewebefaktoren sind, die unter dem Namen Histokompatibilitätskomplex – auf Englisch Major Histocompatibility Complex, kurz MHC⁵⁶ – zusammengefasst werden. Jeder Mensch verfügt über eine einzigartige Kombination von MHC-Bausteinen, die zusammen so etwas wie seinen genetischen Fingerabdruck abgeben. MHC hilft dem Immunsystem, Eindringlinge zu erkennen und dingfest zu machen, und dabei setzt es auf das Prinzip Vielfalt: Je mehr unterschiedliche MHC-Bausteine dem Immunsystem zur Verfügung stehen, desto effektiver kann es arbeiten. Dass sich nun ausgerechnet Schönheitsforscher für MHC interessieren, hat mit einer Tierart zu tun, die nicht gerade für ihre Schönheit berühmt ist: Mäuse. Man hat nämlich festgestellt, dass Mäuse sich bei der Partnerwahl davon leiten lassen, ob ihr potenzieller Partner die passende MHCKombination aufweist, die sie offenbar an dessen Urin erschnüffeln können. Und »passend« heißt in diesem Fall: so ähnlich wie nötig, so unähnlich wie möglich. Damit war die Hypothese der »genetischen Passung« geboren, nach der sich Partner gegenseitig auswählen, um ihrem Nachwuchs ein optimal angepasstes Immunsystem zu bescheren.
Wie riecht Schönheit?
Der Verdacht, MHC könnte auch bei der menschlichen Partnerwahl eine Rolle spielen, wurde durch eine Untersuchung von Carole Ober von der University of Chicago an den Hutterern erhärtet. Die Hutterer sind eine »urchristliche« puritanische Glaubensgemeinschaft, die in Europa jahrhundertelang verfolgt wurde, bis sie Mitte des 19. Jahrhunderts nach Amerika auswanderte. Was die Hutterer für Carole Ober so interessant machte, ist die Tatsache, dass sie fast alle von wenigen Gründerfamilien aus dem 16. Jahrhundert abstammen – und damit der Genpool für das in jeder Generation wiederholte Zusammenwürfeln der MHC-Bausteine begrenzt ist. Die Forscherin musste deshalb davon ausgehen, dass die von ihr untersuchten Hutterer-Paare in einer großen Zahl von MHC-Bausteinen übereinstimmen würden – was jedoch mitnichten der Fall war: Die Probanden wiesen in ihrer MHCAusstattung eine deutlich größere Vielfalt auf, als das rein statistisch zu erwarten gewesen wäre. Ober und ihre Kollegen kamen zu dem Schluss, dass Hutterer – und wahrscheinlich alle Menschen – bei ihrer Partnerwahl das Kriterium »MHC« berücksichtigen. Nur: Wie machen sie das? Können sie MHC etwa – so wie die Mäuse – riechen? Die amerikanische Medizinerin Suma Jacob von der University of Chicago ging der Frage auf den Grund und konnte sie eindeutig mit Ja beantworten. Sie ließ männliche Probanden zwei Nächte lang im selben T-Shirt schlafen und wies sie an, in dieser Zeit weder Deo noch Duschgel oder Seife zu benutzen. Die geruchsgeschwängerten T-Shirts wurden anschließend einer Gruppe von 50 Frauen zum Beschnüffeln vorgelegt. Und dabei kam folgendes Muster
zum Vorschein: Die Bewerterinnen bevorzugten den Geruch derjenigen Männer, die ihnen in ihrer MHC-Ausstattung »fremd« waren – jedoch nicht zu fremd.⁵⁷ Wenn auch das letzte Wort über die Hypothese der »genetischen Passung« noch nicht gesprochen ist, so sieht es doch ganz danach aus, als ob wir – zumindest, was das Immunsystem angeht – bei der Wahl unserer Liebsten tatsächlich auch der Nase nach gingen.⁵⁸
Vielleicht ist die Nase aber auch gar nicht so weit weg vom Auge. Zumindest legt das ein Experiment von Anja Rikowski aus dem Jahr 1999 nahe. Die Verhaltensforscherin vom Institut für Stadtethologie in Wien ließ Männer an den TShirts von Frauen schnüffeln (die in diesem Fall sogar drei Nächte lang getragen worden waren) und kam zu dem verblüffenden Ergebnis: Frauen riechen umso angenehmer, je schöner ihr Gesicht ist! Männer haben demnach eine Nase für schöne Frauen.⁵⁹ Frauen dagegen scheinen für schöne Männer geruchsblind zu sein. Dafür sind ihre Nasen aber möglicherweise empfänglich für die Symmetrie von Männerkörpern. Wir werden noch darauf zurückkommen.⁶⁰ Wie kann eine Nase Schönheit (oder Symmetrie) erkennen? Man weiß es nicht, aber verschiedene Spuren führen zu einer ominösen Gruppe von Duftstoffen, die als »Pheromone« bezeichnet werden. Im Tierreich gehört die Kommunikation über Pheromone zu den ältesten und verbreitetsten »Sprachen«. Sie dient nicht nur der sexuellen Verständigung, sondern regelt auch andere Aspekte des sozialen Miteinanders, wie etwa die Markierung des Territoriums.
Immer der Nase nach
Ein erster Verdacht, dass auch der Mensch diese primitive Art der Kommunikation beherrschen könnte, kam schon in den siebziger Jahren auf, als die Psychologin Martha McClintock, die heute an der University of Chicago lehrt, die Beobachtung machte, dass sich die Zyklen von Frauen, die etwa in Wohngemeinschaften eng zusammenleben, innerhalb von einigen Monaten aufeinander abstimmen. Fast dreißig Jahre später gelang es ihr, die entsprechenden Pheromone im Achselschweiß der Frauen zu isolieren und ihre Beobachtung in einem Experiment zu bestätigen. Sie trug dazu die geruchslosen Pheromone aus den Achselhöhlen von Frauen anderen Frauen auf die Oberlippe auf. Je nachdem, aus welcher Zyklusphase sie stammten, beeinflussten sie den Hormonspiegel und damit die Dauer der Ovulationsphasen.⁶¹ Inzwischen hat man schon eine ganze Menge über menschliche Pheromone in Erfahrung gebracht: Sie werden überwiegend in den Drüsen der Achselhöhle produziert, aber auch in der Schamgegend – die Haare scheinen dabei als eine Art »Geruchsverteiler« zu fungieren. Doch auch im Sekret der Vagina sind Pheromone – so genannte Kopuline – enthalten, und zwar ganz besonders während der fruchtbaren Phase. Synthetische Kopuline bewirken bei männlichen Probanden nicht nur einen deutlichen Anstieg ihres Testosteronspiegels, sie scheinen sie auch »schönheitsblind« zu machen. In einem Experiment empfanden Männer, die dem Duft ausgesetzt waren, alle fünf präsentierten Frauen gleichermaßen sehr attraktiv, obwohl sie sie zuvor recht unterschiedlich bewertet hatten.
Kein Wunder also, dass Pheromone das Interesse der Forschung (und der Duftstoff-Industrie gleichermaßen) geweckt haben. Eine einleuchtende Antwort auf die Frage jedoch, warum schöne Frauen besser riechen sollen, ist noch nicht gefunden. Vielleicht erübrigt sich das Kopfzerbrechen aber auch, denn bis heute ist das Ergebnis von Anja Rikowski von keiner anderen Arbeitsgruppe bestätigt worden. Ob sich nun der »Geruch der Schönheit« dingfest machen lässt oder nicht – langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Augentier Mensch auch ein Nasentier ist und dass zumindest die blinde Unterwelt unseres Bewusstseins noch in viel stärkerem Maß von Gerüchen erreicht und gesteuert wird, als wir das bisher wahrhaben wollten. Es ist sicher nicht nur als Goldgrube für Deo-Hersteller von der Natur so eingerichtet, dass der Mensch mehr Körpergeruch hat als Affen.
Der Netrebko-Effekt
Das folgende Thema hat mit dem Thema Geruch eines gemeinsam: es gibt mehr Fragen als Antworten. Wir kommen zu unserer Stimme. Wie bei der visuellen Schönheit sind sich die Menschen ziemlich einig darin, was eine schöne Stimme ist und was nicht. Männliche Stimmen werden als attraktiv empfunden, wenn sie tief, weich und langsam sind. Bei Frauen sind eher hohe Stimmen gefragt. Aber auch das stimmliche Schönheitsideal ist der Mode unterworfen. Während in den fünfziger und sechziger Jahren die Frauen piepsen mussten – und damit auch stimmlich dem damals besonders gefragten Kindchenschema entsprachen –, geht der Trend seit den siebziger Jahren zu eher volleren Tönen. Die Stimme eines Menschen enthält ziemlich verlässliche Hinweise auf sein Alter, seine Körpergröße, sein Gewicht – und seine Schönheit! Sarah Collins und Caroline Missing von der University of Nottingham ließen 34 Frauen vier Vokale auf Band sprechen und spielten diese Männern vor, die das Alter und die Attraktivität der Sprecherinnen bewerten sollten. Und voilà: Die Frauen mit den attraktiveren Stimmen hatten im Durchschnitt auch die attraktiveren Gesichter.⁶² Noch verblüffender ist das Ergebnis einer Studie von Susan Hughes: Wer eine sexy Stimme besitzt, hat auch eine sexy Figur. Und als ob das nicht genügte – er ist auch wirklich sexuell aktiver! Hughes ließ die Stimmen von Männern und Frauen nach ihrer »Sexyness« bewerten und stellte fest, dass die sexy Stimmen bei Männern mit einem breiteren Oberkörper und bei Frauen einem attraktiveren TaillenHüfte-Verhältnis einhergingen. Die Kandidaten mit den
anregenden Stimmen stellten sich auch als diejenigen heraus, die früher und häufiger Geschlechtsverkehr hatten und öfter fremdgingen. Es wird Sie jetzt auch nicht mehr wundern, dass sich sogar Symmetrie »hören« lässt. Menschen mit symmetrischerem Körperbau haben nach einer ebenfalls von Susan Hughes stammenden Studie auch attraktivere Stimmen.
Wenn auch noch viele Fragen offen sind, allen voran die nach dem »Warum« – Schönheit scheint viele Facetten zu haben. Wie jedes Lebewesen nutzen auch wir Menschen alle uns zur Verfügung stehenden Sinneskanäle, um unsere Artgenossen für uns einzunehmen.⁶³ Was wir klassischerweise als »Schönheit« bezeichnen, ist nur ein Teil des Ganzen.
7 Schönheit – nur ein Vorurteil? Fast alle evolutionsbiologisch orientierten Attraktivitätsforscher sind heute im Lager der Gute-GeneAnhänger zu finden. Wenn sie von »Schönheit« reden, so meinen sie damit »genetische Qualität«. Ein Verhaltensforscher von der Universität Stockholm scheint es sich zur Aufgabe gesetzt zu haben, die Harmonie zu stören – und wie ein Blick auf seine hochkarätige Publikationsliste zeigt, hat er es darin zu erheblichem Erfolg gebracht. Magnus Enquist ist so etwas wie der Stachel im Fleisch der »darwinistischen« Schönheitsforscher. Dabei macht er keineswegs den Eindruck eines Bilderstürmers. Er sieht so aus, wie man sich einen Schweden vorstellt, ein netter, volvofahrender Familienpapa, dem man seine fünfzig Jahre nicht anmerkt. In seiner Freizeit dreht er mit ein paar Freunden Tierfilme in Patagonien. Magnus Enquist und sein Stockholmer Team meinen, eine Erklärung für ein Phänomen gefunden zu haben, das die Gute-Gene-Getreuen schon immer vor Rätsel gestellt hat: Menschen empfinden viele biologische Signale als »schön«, die von anderen Arten verwendet werden, Schmetterlingsflügel beispielsweise, bunte Vogelfedern, Blüten oder die Fische im Korallenriff. Und das, obwohl ihre Botschaft ganz bestimmt nicht an uns Menschen gerichtet ist und wir mit vielen der »schönen« Arten evolutionär nie in Kontakt waren. Wie aber kann uns etwas »Ohs« und »Ahs« entlocken, was uns nicht den geringsten Fitness-Vorteil bringt?
Enquists Erklärung stellt das Weltbild der Evolutionspsychologie förmlich auf den Kopf. Was wir als schön empfinden, so argumentiert er, hat erst einmal gar nichts mit dem Sender eines Signals und dessen »Qualitäten« zu tun, sondern mit dem Empfänger selber – genauer: mit dessen Wahrnehmungsapparat. Die zugehörige Theorie segelt unter der Flagge der »Wahrnehmungsvorlieben«⁶⁴ und geht folgendermaßen: Alle Lebewesen tauschen unablässig Informationen aus – mit potenziellen Geschlechtspartnern genauso wie mit ihrer Brut, ihren Freunden und selbst mit ihren Feinden. Alle diese Lockungen, Drohungen, Warnungen, Forderungen und Beschwichtigungen zu registrieren und richtig zu »verstehen«, gehört zu den schwierigsten Aufgaben, die das Nervensystem zu bewältigen hat. Da es oft um »Friss oder stirb« geht, ist dabei vor allem eines entscheidend: Schnelligkeit. Deshalb, so Enquists These, werden diejenigen Reize von unserem Wahrnehmungsapparat bevorzugt, die sich besser und schneller verarbeiten lassen. Sie »gefallen« uns schlichtweg besser. Was uns als schön erscheint, hat also nichts mit besseren Genen oder sonstigen Qualitätsmerkmalen zu tun, sondern schlichtweg damit, dass das entsprechende Signal besser zu den auf maximale Effizienz gepolten Voreinstellungen unseres Gehirns passt.
Kontrastprogramm
Eine dieser »Wahrnehmungsvorlieben« sind Kontraste. Eine ganze Gruppe von Nervenzellen in der Netzhaut und im Hirn ist nur darauf spezialisiert, Kanten und Konturen zu erkennen. Kontraste in Form von Streifen oder Punkten bringen diese Neuronen zum Feuern – und sind deshalb »Hingucker«, die unsere Aufmerksamkeit gleichsam magisch auf sich ziehen. Dass gerade die Augengegend so viele Kontraste zu bieten hat, ist nach der »Hingucker-These« kein Zufall. Schließlich gehen von ihr die für die Mitmenschen allerwichtigsten Signale aus, nämlich Blickrichtung und Emotion. Kein Zufall auch, dass diese Kontraste seit Jahrtausenden durch Kohle, Kajal und Tusche künstlich verstärkt werden. Wegen ihres Kontrastreichtums sind an Augen erinnernde Muster in der Tierwelt zu geradezu archetypischen Ornamenten geworden, und das sogar bei Arten, die selber gar keine Augen im Säugetier-Design besitzen, wie etwa dem Pfau oder dem Pfauenauge und vielen anderen Schmetterlingsarten. Auch die Attraktivität von klar gezeichneten Lippen, die sich sowohl zur umgebenden Haut als auch zu den (möglichst weißen) Zähnen eindeutig absetzen, dürfte auf das Konto des Kontrasteffekts gehen. Der starke Kontrast hat dabei keineswegs nur eine ästhetische Wirkung. In einem Experiment wurden Versuchspersonen Sätze vorgespielt, die von Hintergrundgeräuschen überlagert waren. Wenn dabei der Sprecher zusätzlich noch auf Video zu sehen war, erhöhte sich die Ausbeute an verstandenen Inhalten um das Doppelte.⁶⁵ Wir hören also zum Teil auch mit den Augen.
Klar gezeichnete Augenbrauen – als wichtigster Teil unseres mimischen Kommunikationsorgans – dürften ihren Reiz ebenfalls aus der erhöhten Signalklarheit von Kontrasten beziehen. Möglicherweise steht der Kontrasteffekt auch hinter der besonderen Attraktion »orientalischer« Schönheit, die sich durch starke und klare Kontraste auszeichnet. Auch die beiden »klassischen« Schönheitsfaktoren der Attraktivitätsforschung, Durchschnittlichkeit und Symmetrie, die uns nach evolutionspsychologischer Lesart beim Aufspüren von hochwertigen Partnern helfen, reduziert Enquist zu einem bloßen Reizeffekt. Der zugrunde liegende Mechanismus lässt sich vielleicht am ehesten anhand eines klassischen Experiments aus den fünfziger Jahren verstehen. Tauben wurden darin trainiert, auf zwei Lichtsignale von jeweils unterschiedlicher Wellenlänge zu reagieren. Wenn man die Tiere dann mit dem ganzen Spektrum an möglichen Lichtreizen konfrontierte, reagierten sie am stärksten auf die Farbe, deren Wellenlänge genau zwischen den beiden im Training verwendeten Reizen liegt (siehe Abb. 29). Neurophysiologen sprechen in diesem Zusammenhang von einem »Verallgemeinerungseffekt«.
Abb. 29: Reizkurve mit glockenförmiger Überreaktion (nach Enquist et al. 2002).
Der Wahrnehmungsmechanismus der Tauben hat offenbar eine »eingebaute« Vorliebe für den Mittelwert zwischen den beiden bekannten positiven Reizen. Nach Enquist ist der Hang zur Mitte eine universale Eigenschaft aller Nervensysteme. Dass dieser Hang neben der Bevorzugung von Durchschnittlichkeit auch für die Attraktivität von Symmetrie verantwortlich zeichnet, erklärt sich die Stockholmer Arbeitsgruppe aus der Tatsache, dass wir Objekte beständig aus unterschiedlichen Blickwinkeln sehen.
Unser Verallgemeinerungsreflex sorgt nun dafür, dass wir die jeweiligen Mittelwerte aus den unterschiedlichen räumlichen Ansichten bevorzugen – und die sind nun einmal symmetrisch. Magnus Enquist und Anthony Arak konnten diese These experimentell erhärten. So genannte künstliche neuronale Netzwerke, also am Computer simulierte MiniaturNervensysteme, die darauf trainiert wurden, Muster zu erkennen, neigen tatsächlich dazu, auf symmetrische Muster stärker anzusprechen als auf Zufallsmuster. Nach Meinung der beiden Wissenschaftler ist die Vorliebe für symmetrische Reize in den Hirnen fast in der gesamten Tierwelt verbreitet und »zwingt« den jeweiligen Sender damit regelrecht dazu, symmetrische Signale zu übermitteln. Ein Schmetterling mit unterschiedlich kolorierten Flügeln etwa würde schlichtweg mit Missachtung gestraft.
Was hinter dem Durchschnitt steckt
Verlassen wir nun aber für eine Weile die Stockholmer Netzwerker und wenden uns einer anderen, ebenso interessanten Theorie zu: der »Prototyp-Theorie«. Genauso wie die Enquist’schen Wahrnehmungsvorlieben gehört auch sie zum Formenkreis der so genannten kognitiven Theorien, bei denen die »Kognition« im Zentrum steht, also die Informationsverarbeitung im Hirn. Die Prototyp-Theorie wurde von Judith Langlois und ihrem Kollegen Adam Rubenstein von der University of Texas ins Spiel gebracht, um das uns aus Kapitel 2 bekannte Phänomen zu erklären, dass »durchschnittliche«, also fotografisch oder am Computer übereinander gelagerte Gesichter attraktiver sind als die Einzelgesichter, aus denen sie bestehen.⁶⁶ Unser Wahrnehmungsapparat stützt sich nach der Langlois’schen Theorie bei der Erkennung von Gesichtern auf innere »Prototypen«, und diese Prototypen entsprechen der Schnittmenge aller bisher gesehenen Gesichter.⁶⁷ »Durchschnittlich« heißt also nichts anderes als »prototypisch«. Je näher ein bestimmtes Gesicht einem Prototyp kommt, desto leichter ist es als Gesicht erkennbar – und desto mehr werden wir von unserem ästhetischen Empfinden für diese Arbeitserleichterung »belohnt«. Das Prinzip ist dabei nicht auf Gesichter beschränkt. Der neuseeländische Wahrnehmungspsychologe Jamin Halberstadt von der University of Otago fertigte aus Zeichnungen von unterschiedlichen Hunden, Vögeln und Uhren am Computer den jeweiligen Prototyp an. Und siehe da: Wie bei Gesichtern wurde auch hier der Durchschnitt als attraktiver empfunden als die Einzelbilder. Genau dasselbe
Prinzip scheint auch bei unserer Wahrnehmung des menschlichen Körpers zu wirken. So erhält ein aus unterschiedlichen Fotos gebildeter »Durchschnittskörper« bessere Noten als die Einzelkörper, aus denen er besteht.⁶⁸ Wie diese Prototypen gebildet und vor allem gespeichert werden, ist noch immer schwer umstritten. Sicher ist nur, dass sie alles andere als feste Schablonen sind – wie die australische Wahrnehmungspsychologin Gillian Rhodes in einem Experiment mit computermanipulierten Gesichtern nachweisen konnte. Versuchspersonen, denen fünf Minuten lang ein verzerrtes Gesicht vorgesetzt wurde, empfanden hinterher leicht verzerrte Gesichter als »normal« und damit auch als attraktiver als völlig unverzerrte Gesichter. Die Entstellung hatte also eine Art von »Nachhall«, der zu einer leichten Veränderung des Prototyps führte. Offenbar wird unser innerer Prototyp mit jedem Gesicht, das uns begegnet, neu berechnet. In einem anderen Experiment nahmen Versuchspersonen dasselbe Gesicht einmal als männlich, ein andermal als weiblich wahr, je nachdem, ob sie vorher männliche oder weibliche Gesichter vorgesetzt bekommen hatten. Dasselbe Phänomen zeigt sich bei der Zuordnung zu einer bestimmten Volksgruppe. Je nachdem, ob den Versuchspersonen zuvor japanische oder europäische Gesichter gezeigt wurden, empfanden sie ein aus beiden Volksgruppen gemischtes Gesicht nachher als »japanisch« oder eher als »europäisch«. Der »Nachhalleffekt« hat auch Konsequenzen für unsere Wahrnehmung von Schönheit, wie Sara Gutierres und Douglas Kenrick von der Arizona State University in einem klassischen Experiment nachwiesen. Sie ließen ihre Probanden 1980 eine Folge der Krimiserie Drei Engel für Charly anschauen. Der Film war noch nicht zu Ende, als das Licht anging und zwei nette Männer (in Wirklichkeit Mitarbeiter des Versuchsleiters) die Zuschauer um einen
Gefallen baten: Die beiden konnten sich – so sagten sie – nicht einigen, wie attraktiv eine gemeinsame Bekannte wirklich sei … Die Zuschauer sollten für Klarheit sorgen. Wie sich herausstellte, bewerteten die offenbar noch im Bann der drei wunderschönen Engel stehenden Zuschauer das mitgebrachte Foto deutlich schlechter als eine Kontrollgruppe und bestätigten damit die Alltagserfahrung: Gegenüber sehr attraktiven Zeitgenossen nimmt sich ein mittelmäßiges Exemplar gleich richtig bescheiden aus.
Was der Bauer nicht kennt …
Eine Schlussfolgerung aus der Prototyp-Theorie lautet: Es gibt keinen »Welt-Prototyp« im Sinne einer angeborenen Universalie. Der Prototyp ist nicht etwa ein fixes, bei allen Menschen gleiches Klischee, sondern ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, denn jeder hat nun einmal eine andere Auswahl an Gesichtern um sich. Je ähnlicher die »Gesichtsumwelt«, desto mehr Gemeinsamkeiten dürften Menschen demnach in ihren Schönheitsstandards entwickeln. Eine weitere Schlussfolgerung aus der Theorie kennen wir schon: Wir müssten ein Faible für alles haben, was uns bekannt ist. Tatsächlich schneiden in Rating-Experimenten bekannte Gesichter regelmäßig besser ab als unbekannte. Das trifft selbst dann zu, wenn man den Versuchspersonen ein Gesicht so kurz darbietet, dass sie es gar nicht bewusst wahrnehmen können! Umgekehrt müssten wir als hässlich empfinden, was nicht zur Schnittmenge der bis dato gesehenen Gesichter gehört. Und genau das scheint auf unsere Wahrnehmung von Menschen fremder Rassen zuzutreffen. Unser erster Reflex angesichts fremder Gesichter ist beinahe immer Abneigung. So wurden die ersten weißen Kolonisatoren bei ihrem Eintreffen fast überall auf der Welt wegen ihrer krankhaften Blässe, ihrer langen Nasen oder auch ihrer »Hundeaugen« verabscheut – genauso, wie die jeweiligen »Eingeborenen« von den Weißen wegen ihrer dunklen Haut, breiten Nasen, Schlitzaugen etc. als hässlich empfunden wurden. Noch heute schneiden fremde Ethnien in Rating-Experimenten umso schlechter ab, je weniger Berührung die
Versuchspersonen mit der entsprechenden Volksgruppe gehabt hatten. Aus der Prototyp-Theorie folgt allerdings auch, dass wir uns an fremde Gesichter (genauso wie an einen neuen »Look«) extrem schnell gewöhnen können – Stichwort Nachhalleffekt. Unser Schönheitsideal müsste sich deshalb in dem Maß ändern, wie wir mehr Erfahrung mit fremden Rassen gesammelt haben. Und genau das scheint auch der Fall zu sein: Weltweit berichten beispielsweise Schönheitschirurgen, dass die Nachfrage gerade bei der westlichen Klientel immer mehr weg vom klassischen »weißen« Standard hin zu einem Multikulti-Ideal geht – mit volleren Lippen, breiteren Nasen, schräger gestellter Augachse (dem so genannten PantherLook). Auch die Bevorzugung braunerer Haut passt zum Trend.
Das Prinzip Übertreibung
Die Prototyp-Theorie lässt sich mit der Enquist’schen Erklärung von Durchschnittlichkeit auf einen einfachen gemeinsamen Nenner bringen: Unser Gehirn belohnt uns, wenn ihm das Einsortieren unterschiedlicher Signale in eine bestimmte Kategorie leicht gemacht wird. Wenn ein Apfel aussieht wie ein Apfel, befriedigt das unsere Neuronen ungemein. Was passiert nun aber, wenn das Nervensystem vor der Aufgabe steht, zwei Kategorien voneinander zu unterscheiden? Apfel von Birne, hohe Töne von tiefen Tönen, Mann von Frau? Mit dieser Frage sind wir beim Herzstück aller kognitiven Schönheitserklärungen angelangt: der »übertriebenen Verallgemeinerung«. Ein leider tragisches Beispiel von übertriebener Verallgemeinerung ist im Eppendorfer Stadtpark in Hamburg zu besichtigen. Dort steht das Tretboot »Sweety«, dem seine Erbauer die Form eines Riesenschwans gegeben haben, und daneben ist oft »Swanee« anzutreffen, ein echtes Schwanenweibchen, das eines Tages aus dem hohen Norden angeflogen kam, Sweety erblickte – und ihm seither nicht mehr von der Seite weichen will. Ein weiteres Beispiel für diese Form der Megalomanie liefert der Austernfischer, ein schwarzweißer Küstenvogel von der Größe einer Möwe. Legt man ihm ein fußballgroßes, geflecktes Holzei neben sein Gelege, lässt er die eigenen Eier links liegen und schenkt dem neuen Superei von Stund an seine ganze Aufmerksamkeit.
Abb. 30: Austernfischer müht sich mit einem »supernormalen« Holzei ab (Tinbergen 1951).
Und der Mensch? Macht wieder einmal keine Ausnahme. Nehmen wir nur das Kindchenschema, von dem wir schon wissen, dass es nicht übertrieben genug sein kann. Oder die unwiderstehliche Kreatur in Abbildung 31.
Abb. 31: Barbie, die superoptimale Kindsfrau par excellence.
Was haben nun aber Swanee, der Austernfischer und Barbie miteinander gemeinsam? Fragen wir in Stockholm nach. »Übertreibung beruht genauso wie unser Hang zur Symmetrie auf einer Wahrnehmungsvorliebe«, sagt Magnus Enquist und malt wieder eine seiner Glockenkurven auf das Papier (siehe Abb. 32).
Abb. 32: Gipfelverschiebung (peak shift), die Grundlage für unseren Hang zu übertriebenen Reizen (nach Enquist et al. 2002).
»Stellen Sie sich vor, Sie wollen unserer Taube beibringen, einen hohen von einem tiefen Ton zu unterscheiden. In diesem Fall geben Sie ihr beim hohen Ton Körner, beim tiefen bekommt sie nichts. Mit der Zeit wird sie den hohen Ton mit Futter zusammenbringen und anfangen, ihn ganz besonders zu ›lieben‹.
Was passiert nun aber, wenn man der trainierten Taube nachher die ganze Tonleiter vorspielt? Sie reagiert umso stärker, je mehr sich die Tonhöhe dem hohen Ton nähert. Das Interessante ist nun, dass die Reaktion bei noch höheren Tönen nicht abfällt, sondern im Gegenteil noch stärker wird!« Aus der Verschiebung des Reaktionsgipfels nach rechts leitet sich der Name des Phänomens ab: »peak shift« – Gipfelverschiebung.⁶⁹ Der Verhaltensforscher Irenäus EiblEibesfeld hat das Ganze einmal als »Vorurteil der Wahrnehmung« bezeichnet, und obwohl es etwas beschämend für unser Denkorgan klingt, trifft es doch den Nagel auf den Kopf: Unser Wahrnehmungsapparat ist tatsächlich für den übertriebenen Reiz »voreingenommen«. Diese Voreingenommenheit machen sich beispielsweise Karikaturisten zunutze. Ihr Handwerk besteht schlicht darin, diejenigen Merkmale, die vom Durchschnitt abweichen, noch weiter zu übertreiben.
Der Karikatur-Effekt kann möglicherweise auch ein Rätsel aus Kapitel 2 erklären: Warum in der schönen Frau so viel Kind steckt. Kindchenschema ist demnach nichts anderes als die Gipfelverschiebung von Weiblichkeit. Wenn man am Computer den Unterschied zwischen einem typischen männlichen und einem weiblichen Gesicht systematisch in Richtung Weiblichkeit übertreibt, sind das Ergebnis Babymerkmale: weit auseinander stehende Kulleraugen, hohe Stirn, kleines Kinn. »Weibchenschema« und Kindchenschema sind allerdings nicht identisch – vor allem die kindlichen Pausbacken werden bei einer Frau meist nicht als attraktiv bewertet –, aber sie überschneiden sich stark, und diese Schnittmenge ist genau das, was Barbie so attraktiv macht: sie ist Kind und Frau in einem.
Barbie, Bambi, Sweety – das Phänomen der Gipfelverschiebung hat eine merkwürdige Konsequenz: Unsere Ideale und Idole (und nicht nur unsere, sondern die aller mit einem Nervensystem ausgestatteten Lebewesen) sind buchstäblich nicht von dieser Welt. Wir stehen auf Dinge, die es gar nicht gibt.
Gipfelverschiebung macht die Welt bunter
Die Voreingenommenheit wird natürlich schamlos ausgenutzt. Sie ist sozusagen der Hebel, über den der Sender den Empfänger zu seinen Gunsten manipulieren kann. Der banale Zweck von Signalen ist es nun einmal, im Empfänger ein Verhalten auszulösen, das dem Sender nutzt. Das Weibchen soll paarungsbereit gestimmt, der Konkurrent beeindruckt, die Mama zur Herausgabe des Busens genötigt werden. Eine Orchideenart simuliert das Hinterteil eines Wespenweibchens – in »supernormaler« Form natürlich – und bringt dadurch das Wespenmännchen zu vergeblichen Kopulationsversuchen, bei denen schön viel Blütenstaub an dem (buchstäblich »verarschten«) Freier hängen bleibt. Oder das Kuckuckskind – kaum geschlüpft, trickst es seine Pflegeeltern mit deren eigener Übertreibungsvorliebe aus. Da sein Schnabel größer und röter als die seiner »Geschwister« ist, können die armen Pflegeeltern gar nicht anders, als ihn so lange zu stopfen, bis der Gast ihre Kinder über Bord wirft. Der »superoptimale« Schnabel des kleinen Kuckucks ist sogar so unwiderstehlich, dass mitunter ein völlig unbeteiligter Vogel, der zufällig über dem Nest seines Weges fliegt, seine Beute reflexartig fallen lässt. (Sie verstehen jetzt, warum der Kuckuck von dem Vogelkundler Otto Heinroth einmal als das »Laster« der Singvögel bezeichnet wurde.) Wenn wir uns schminken, machen auch wir Menschen im Grunde nichts anderes, als das »Laster« unserer Artgenossen auszunutzen. Gezielt werden Kontraste durch Konturlinien verstärkt und Reize so übertrieben, dass sie auf der Klaviatur der Gipfelverschiebung spielen: Der Mund wird
röter geschminkt oder die Augen werden mit Kajal und Lidschatten vergrößert. Dass der Zauber tatsächlich wirkt, ist übrigens auch wissenschaftlich erwiesen. Nach einer Untersuchung des Wiener Psychologen Andreas Hergovich machte der Einsatz von Schminke im Schönheitsurteil der Bewerter durchschnittlich mehr als einen Punkt auf einer Skala von 1 bis 10 aus.⁷⁰ Nach Enquists Meinung sind Wahrnehmungsvorlieben – ob nun für Symmetrie, Kontraste oder »Supernormalität« – die treibende Kraft hinter der Evolution von Ornamenten und Signalen jeder Art. Wobei der Übertreibung, also der Ausbeutung der Gipfelverschiebung, laut Enquist eindeutig die Hauptrolle zukommt. Denn das »Laster« der Übertreibung neigt, wie andere Laster auch, zur Verselbstständigung. Wenn etwa eine Vogeldame einmal eine Vorliebe für ein bestimmtes Ornament hat, z. B. für eine Feder oder einen Farbklecks, wird eine etwas extremere Variante sie immer noch mehr stimulieren – und diese »Vorliebe« wird von den Männchen ausgenutzt, um das Weibchen willig zu machen. Von Generation zu Generation wird das Signal somit immer extremere Ausmaße annehmen. Erinnert Sie das an etwas? Ja, richtig: Runaway. Auch der gute alte Fisher aus Kapitel 5 lässt sich mit Wahrnehmungsvorlieben – genauer der »Gipfelverschiebung« – erklären. Nach Fisher wird ein Ornament ja gerade deshalb immer extremer, weil das »nachfragende« Geschlecht von jedem Ornament die jeweils übertriebenere Version bevorzugt. ⁷¹
Evolution nach Art der Mode
Liselotte Jansson aus der Enquist’schen Arbeitsgruppe simulierte einen solchen »Übertreibungs-Runaway« mit Hühnchen. An einen Computerbildschirm bastelte sie einen Fressnapf, der sich immer dann mit Körnern füllte, wenn die Hühner auf den »richtigen« Reiz auf dem berührungsempfindlichen Monitor pickten. Mit dieser Vorrichtung trainierte Jansson ihren Hühnern eine Vorliebe für einen Farbton an, der einen Tick blauer war als das Grün, das sie zuvor immer gewohnt waren. Wenn sie ihren Hühnern nun auf dem Monitor das ganze Spektrum an Farben zwischen Grün und Blau anbot und den Hühnern beim Picken die freie Auswahl ließ, wurden im Lauf der Zeit immer blaustichigere Farbkleckse bevorzugt, so dass sich nach ein paar Tagen aus dem ursprünglich bevorzugten Grün ein sattes Blau entwickelt hatte. Warum verläuft die Evolution von Signalen so unvorhersehbar? Zum einen, so Enquists Antwort, weil dem Prinzip Übertreibung so gut wie keine Grenzen gesetzt sind. Denn selbst wenn das Blau nicht mehr blauer werden kann, kann es immer noch durch bestimmte Oberflächeneffekte zum Schillern und Leuchten gebracht werden. Oder es werden Streifen oder sonstige Konturen eingebaut und so die Wahrnehmungsvorliebe für Kontraste angezapft, die dann wiederum noch effektiver ausgenutzt wird, indem Streifen wiederholt oder zu regelmäßigen Mustern zusammengestellt werden. Oder die Ornamente werden in ihrer Form bizarrer. Der Einfallsreichtum eines SelbstläuferProzesses kennt buchstäblich keine Schranken.
Der zweite Grund, warum Signalevolution so kapriziös ist, liegt darin, dass immer zwei Partner daran beteiligt sind, nämlich Sender und Empfänger gleichermaßen. Interessenskonflikte zwischen den beiden sind dabei eher die Norm als die Ausnahme. Denn so wie der Sender versucht, das »Laster« des Empfängers von Generation zu Generation immer besser auszunutzen, wird auch der Empfänger Anstrengungen unternehmen, dem Laster zu widerstehen, um sich damit weniger manipulierbar zu machen.⁷² Bei vielen Vogelarten beispielsweise versucht das Männchen, ein Weibchen möglichst früh in der Saison zur Paarung zu bewegen – mit dem Hintergedanken, es dann baldmöglichst zu verlassen, um mit einem anderen Weibchen eine zweite Chance wahrzunehmen. Die Strategie liegt natürlich nicht unbedingt im besten Interesse des Weibchens, das deshalb über kurz oder lang wählerischer werden wird, also nicht mehr bei jedem von einem Bewerber präsentierten Durchschnittsornament mit einem Hormonschub reagiert. Das Männchen wiederum wird versuchen, mit einer noch auffälligeren Show zu imponieren. In einer solchen »sexuell antagonistischen Koevolution« befinden sich beide Geschlechter in einem dauernden Rüstungswettlauf um die »Signalhoheit«, wobei in der Regel das männliche Geschlecht in der Offensive ist, das weibliche in der Defensive. Je extremer die Interessenskonflikte zwischen den Partnern sind, desto extremer entwickeln sich in der Regel die eingesetzten Signale.⁷³ (Aus demselben Grund sind monogame Arten mit gemeinsamer Brutpflege selten auffällig ornamentiert: Sie können sich mangels Interessenskonflikts den Aufwand sparen, den anderen zu manipulieren.)
Doch noch ein dritter Faktor ist dafür verantwortlich, dass Signalevolution so unvorhersehbar verläuft: der Zufall. Wie Enquist in seinen Versuchen mit künstlichen neuronalen Netzen zeigen konnte, orientiert sich der Prozess zwar grundsätzlich an den Leitplanken der Signalevolution – Symmetrie, Kontraste, Trend zu extremeren Ausprägungen. Aber trotz identischer »Inputs« reagiert kein Netzwerk genau wie das andere. Signalevolution ist so launisch wie die Mode. Apropos Mode. Vielleicht geben ihre Schnörkel und Pirouetten ein gutes Modell für die verschlungenen Wege ab, die die Signalevolution einschlagen kann. Denn Übertreibung ist – neben der »Neuigkeit« – das eigentliche Prinzip der Mode.⁷⁴ Und so zeigt die Geschichte der Mode vielleicht noch besser als jedes Hühnchen oder neuronale Netzwerk, wie ein von der Übertreibung angefeuerter Prozess unablässig neue Formen generieren kann. Und nichts unterstreicht besser als die künstlichen Ornamente, mit denen wir uns schmücken, dass Wahrnehmungsvorlieben einen universalen Kern haben. Denn all die Streifen, Flecken, Muster und Farben, deren wir uns bedienen – letztlich stammen sie alle aus demselben Baukasten, aus dem sich die Natur bedient. (Sofern wir nicht gleich zum Imitat greifen und uns mit Fellen, Federn, Blumen und Blüten schmücken, die offenbar unsere Wahrnehmungsvorlieben genauso ansprechen wie die unserer Mittiere.)
Hühnchen bevorzugen schöne Menschen
Genau die Frage nach der Universalität von Signalen steht im Zentrum des Streits zwischen den Anhängern der »Guten Gene« und denen der Wahrnehmungsvorlieben. Wenn nämlich ein Signal wirklich »Qualität« signalisiert – wie es das Gute-Gene-Lager annimmt –, müsste und dürfte es nur bei Artgenossen »ankommen« und die »richtige« Antwort hervorrufen. Wenn die Bevorzugung eines bestimmten Signals dagegen – wie die Enquist’sche Theorie behauptet – nur ein »Nebenprodukt« eines allgemeinen, allen Wahrnehmungsprozessen zugrunde liegenden Mechanismus ist, dürfte es durchaus vorkommen, dass dieses Signal auch andere Arten beeindrucken kann. Der Wettkampf zwischen den beiden Lagern der Schönheitsdeuter geht also in die nächste Runde, und zwar mit einem Experiment, für das die Stockholmer Arbeitsgruppe im Jahr 2003 mit dem »Ig Nobel Preis« ausgezeichnet wurde. Dieser wird, laut Statuten, jedes Jahr für wissenschaftliche Arbeiten vergeben, die »die Leute zuerst zum Lachen und erst dann zum Nachdenken bringen«.⁷⁵ »Hühner bevorzugen schöne Menschen« heißt die preisgekrönte Untersuchung, und in ihr lassen die Autoren Hühner gegen Menschen antreten, Gallus gallus domesticus gegen Homo sapiens. Mit der von Liselotte Jansson entwickelten computergesteuerten Pick-Apparatur werden Hühner darauf trainiert, das »Durchschnitts«-Bild eines weiblichen Gesichts (welches als positiver Stimulus fungiert) von einem männlichen (dem negativen Stimulus) zu unterscheiden. In der darauf folgenden
»Generalisierungsphase« wird das Spektrum der dargebotenen Bilder dann auf sieben erweitert – neben den beiden Durchschnittsbildern werden noch ein aus dem Männer- und Frauengesicht gemischtes Bild und je zwei »hypermaskuline« und »hyperfeminine« Gesichter aufgenommen. Die Aufgabe der Menschen – in diesem Fall 14 Studenten von Magnus Enquist – ist simpel. Sie sollen die Gesichter im Hinblick auf die Frage bewerten: »Wie gerne würden Sie sich mit dem/der Betreffenden zum Ausgehen verabreden?« Die Aufgabe der Hühner ist ganz ähnlich: Sie sollen dasjenige Gesicht anpicken, von dem sie meinen, dass es ihnen mit der größten Wahrscheinlichkeit den gewünschten Spaß beschert – der bei ihnen jedoch nicht in einem schönen Abend, sondern in einer schönen Ladung Körner besteht. Schauen wir uns auf Abbildung 33 an, was dabei herausgekommen ist: Die Reaktionskurven von Mensch und Tier sind so gut wie identisch. Beide fühlen sich zu den »Überfrauen« hingezogen und zeigen damit eindrucksvoll die erwartete Gipfelverschiebung.
Abb. 33: Reaktionskurven von Männern und Hühnern auf menschliche Gesichter. Die Kurven ergeben sich im Fall der menschlichen Probanden aus den Attraktivitätswerten der Gesichter (im Hinblick auf ein abendliches »date«); im Fall der Hühner-Jury aus der durchschnittlichen Anzahl ihrer »Picks« auf das jeweilige Bild (nach Ghirlanda et al. 2003).
Diese Runde ging also an die Stockholmer. Vorlieben für übertriebene Reize müssen nichts mit einer Qualitätsbotschaft zu tun haben. Allerdings ist die Studie noch lange kein Grund, vorschnell zu jubeln. Denn das Ergebnis schließt keineswegs aus, dass Ornamente Qualität
signalisieren können. Und: Selbst wenn die eine Seite hundertprozentig Recht hätte, heißt das noch lange nicht, dass die andere falsch sein muss. Im Gegenteil, beide Theorien können sich gut ergänzen – eine Tatsache, die gerne von beiden konkurrierenden Gruppen übersehen wird. Wenn beispielsweise von Wahrnehmungsvorlieben gesteuerte Ornamente immer extremer werden, geraten sie zwangsläufig irgendwann zur Behinderung – womit dann schon die Frage nach der »Qualität« im Spiel wäre. Denn wer kann sich ein hinderliches Ornament überhaupt leisten? ⁷⁶
Ist Schönheit vielleicht nur die Abwesenheit von Hässlichkeit?
Dass sich evolutionsbiologische und »kognitive« Ansätze auch miteinander verbinden lassen, zeigt der jüngste Neuzugang unter den Schönheitshypothesen. Seine Urheberin ist eine rot gelockte Psychologin namens Leslie Zebrowitz von der Brandeis University in Massachusetts, die als eine der führenden Expertinnen auf dem Gebiet der Wahrnehmung von Gesichtern gilt. Unsere Reaktionsmuster auf Gesichter sind nach ihrer Auffassung tatsächlich »Adaptationen«, also von der Evolution geformte Überlebensstrategien. Unser Schönheitsprogramm ist für Zebrowitz jedoch nicht darauf ausgerichtet, gute Gene zu suchen, sondern schlechte Gene zu meiden. Was wir als Schönheit wahrnehmen, ist nichts anderes als das Fehlen von Hinweisen auf verminderte Fitness. Hinter der »Bad-genes-Hypothese«⁷⁷ steht folgende Überlegung: Wer sich einen Partner mit schlechten Genen aussucht, hat im Lotto der Evolution die definitive Niete gezogen, denn seine »Investition« wird nicht durch eine gesunde und reichhaltige Nachkommenschaft belohnt. Unsere vordringlichste Aufgabe bei der Partnerwahl ist es deshalb, schlechte Gene zu erkennen und einen großen Bogen um sie zu machen. Als Hinweis auf schlechte Gene nehmen wir dabei alles, was in extremer Weise vom prototypischen Durchschnitt unserer Artgenossen abweicht – starke Asymmetrien etwa oder sonstige Entstellungen und Auffälligkeiten, insbesondere der Hautoberfläche. Wo immer wir auf solche »Zeichen verminderter Fitness« stoßen,
springt unsere innere Warnampel auf Rot, wir werden von negativen Emotionen wie Furcht und Ekel gepackt und können gar nicht mehr anders, als uns fern zu halten. Tatsächlich sind viele mit verminderter Intelligenz einhergehende angeborene Krankheiten mit sichtbaren Anomalien des Gesichts verbunden. Ein Gutteil der chromosomalen Störungen geht mit einer typischen »Fazies« einher, also einer starken Normabweichung des Gesichts.⁷⁸ Was aber hat das mit Schönheit zu tun? Hier kommt nun der Teil der Theorie ins Spiel, der Kognitionsforschern Freude macht. Unsere Reaktionsbereitschaft auf schlechte Gene ist so groß, dass wir auf die entsprechenden Schlüsselreize selbst dann reagieren, wenn sie nur in abgeschwächter Form vorkommen, wenn wir also auf Gesichter treffen, die den »unfitten« nur entfernt ähneln. Man könnte vielleicht von falschem Alarm sprechen oder auch von Überreaktion. Dem Phänomen liegt ebenfalls das Prinzip der Verallgemeinerung zugrunde, das wir von dem TonleiterVersuch mit den Tauben kennen: Obwohl diese nur darauf trainiert waren, auf den hohen Ton zu reagieren, zeigten sie ihre Pickreaktion auch schon bei etwas niedrigeren Tönen, wenn auch in entsprechend abgeschwächter Form. Die Reaktionsbereitschaft ihrer Neuronen war offenbar so stark, dass die Antwort auch durch einen Reiz ausgelöst werden konnte, der dem ursprünglichen nur ähnelt. Doch so übertrieben uns das Abwehrsystem gegen schlechte Gene erscheint, in den leidenschaftslosen Augen der Evolution macht es Sinn. Denn der Preis des Programms – in Form von verpassten Chancen – ist geringer als die Kosten einer Fehlentscheidung. Evolutionsforscher kennen solche »übertriebenen« Vermeidungsstrategien auch auf anderen Gebieten. So liegt
etwa der weit verbreiteten Angst vor – zu 99 Prozent ungiftigen – Spinnen ein ähnliches evolutionäres Vorurteil zugrunde, das uns sagt: »Fürchte dich vor allem, was lange Beine hat und krabbelt.« Lieber 99-mal kreischend aufs Hüttendach geklettert, als einmal nicht aufgepasst. Der Evolutionsmediziner Randolph Nesse spricht in diesem Zusammenhang vom »Rauchmelderprinzip«: Ist der Rauchmelder nicht scharf genug eingestellt, nutzt er uns nichts, ist er dagegen ausreichend empfindlich, müssen wir mit Fehlalarmen leben. Nach der Zebrowitz’schen Hypothese ist Schönheit also ein negatives Konzept, die Abwesenheit von Katastrophenmeldungen sozusagen. Schön ist, was die Warnleuchten nicht angehen lässt – wie es etwa in unserem Begriff »makellos« anklingt. Das ihr zugrunde liegende Motto lautet »Vermeide das Schlimmste!«⁷⁹ – ganz im Gegensatz zur Devise der Gute-Gene-Hypothese, die da heißt: »Suche das Beste!«
Gesichter können täuschen
Eine ähnliche Art der Überreaktion sieht Zebrowitz auch bei unserer Vorliebe für kindgesichtige Erwachsene am Werk – und bietet damit einen weiteren Erklärungsansatz für das Phänomen »Babyface«. Sie argumentiert, dass eines der am tiefsten in unser Gehirn »eingekabelten« Programme dasjenige ist, das uns ein Baby schon auf den ersten Blick als Baby erkennen lässt, uns automatisch mit Empfindungen der Kategorie »Ach, wie niedlich!« versorgt und uns veranlasst, uns dem hilflosen Geschöpf mit Freuden zuzuwenden. Aber auch hier werden wir – Stichwort Rauchmelder – an der Nase herumgeführt: wenn nämlich der Schlüsselreiz »Kindchen« in einem Erwachsenengesicht auftaucht, und sei es auch noch so bruchstückhaft, schlägt sofort unser Hang zur Überreaktion zu: Einen Menschen mit rundem Gesicht und großen Uschi-Glas-Augen halten wir für schwächer, unreifer, hilfsbedürftiger, weniger intelligent, aber auch ehrlicher und gutartiger, und entsprechend behandeln wir ihn. Delinquenten mit der angeborenen Unschuldsmiene eines Kindes können beispielsweise vor Gericht mit deutlich mehr Milde rechnen als die mit reifen Gesichtern. Allerdings: Nicht überall, wo Kind draufsteht, ist auch Kind drin. Kindgesichtige Erwachsene scheinen ihren Mitmenschen in Sachen Durchsetzungsfähigkeit, Intelligenz und Aggressivität nicht nachzustehen. Eine Untersuchung an männlichen Jugendlichen aus der Unterschicht zeigte sogar, dass diejenigen mit den Kindsgesichtern eher kriminell wurden – möglicherweise als Gegenreaktion auf ihr Antihelden-Image.
Die evolutionäre Logik hinter dem Kindchenreflex ist dieselbe wie beim Warnprogramm vor schlechten Genen: Der Nachteil, dass wir bei der Einschätzung von Erwachsenen öfter mal danebenliegen, ist offenbar zu vernachlässigen im Vergleich zu der genetischen Katastrophe, die es bedeuten würde, unserem Baby nicht um jeden Preis die notwendige Hilfe und Zuwendung zu geben. Nach Zebrowitz lassen sich noch andere Merkwürdigkeiten in der Art, wie wir auf Gesichter reagieren, mit dem Überreaktionsreflex erklären. Wenn uns etwa das Gesicht eines Menschen an einen bestimmten Gefühlsausdruck erinnert, sind wir schnell geneigt, dem Betreffenden den entsprechenden Charakter anzudichten. Wenn jemand beispielsweise »zufällig« mit hochgezogenen Mundwinkeln geboren wurde, halten wir ihn für einen fröhlichen Menschen – und nehmen ihn entsprechend als attraktiver, wärmer, geselliger etc. wahr. Genauso gut kann man mit einem traurigen Gesicht geboren und trotzdem kein Kind von Traurigkeit sein. Oder eben, so wie etwa Natalia Imbruglia, große Augen mit hohen Augenbrauenbögen besitzen, die unentwegt Aufmerksamkeit und Interesse signalisieren, dabei aber einfach das tun, was Augen machen: gucken. Nicht wenige alte Menschen beklagen etwa, dass ihr Gesicht durch das altersbedingte Erschlaffen einen grimmigen Ausdruck bekommen hat, obwohl sie sich innerlich ganz anders fühlen. Auch sie sind letztlich Opfer unserer unwillkürlichen Überreaktion. Unsere vorgeprägte, überlebenswichtige und deshalb scharf eingestellte Reaktionsbereitschaft auf mimische Signale – Furcht, Freude, Zorn – führt dazu, dass wir zwischen dem Ausdruck einer (vorübergehenden) Emotion und einem (dauerhaften)
Gesicht nur schwer unterscheiden können – beide lösen dieselbe Reaktion in uns aus.
Geist gegen Materie
Zum Schluss dieses Kapitels will ich Ihnen den jüngsten Spross aus der Familie der kognitiven Schönheitstheorien vorstellen. Einer seiner Väter, der Londoner Neurobiologe Semir Zeki, hat ihn auf den Namen »Neuroästhetik« getauft⁸⁰ – angeblich, um damit »die Philosophen zu ärgern«, die sich in ihrer »Ästhetik« seit Platon mit eher mäßigem Erfolg an der Gretchenfrage ihres Fachgebiets versuchen: Was macht ein Objekt zu einem ästhetischen Objekt? (Für Normalsterbliche: Warum finden wir einen van Gogh schön, eine Mülltonne dagegen nicht?) Das Augenmerk der Neuroästhetiker gilt, wie wir sehen, einer ganz speziellen Erscheinungsform der Schönheit: der Kunst. Dass ihre Theorie trotzdem einen Platz in einem Buch über menschliche Schönheit findet, liegt daran, dass sich die zugrunde liegenden Konzepte und Erklärungsversuche in erstaunlichem Maße ähneln. Das Credo der Neuroästhetik lautet: Kunst passiert im Hirn. Um zu verstehen, was Kunst ist, muss man demnach das Hirn studieren. Und dort spielen eben genau die Wahrnehmungsvorlieben, die wir in diesem Kapitel kennen gelernt haben, eine tragende Rolle. Die »Gipfelverschiebung« beispielsweise. Sie steht ganz oben auf der Liste der zehn neurobiologischen Prozesse, die der Neurologe Vilayanur Ramachandran in seinem Aufsehen erregenden Artikel »Die Wissenschaft von der Kunst« für die ästhetische Wirkung von Kunstwerken verantwortlich macht. Seiner Meinung nach bringt der Künstler durch den Übertreibungseffekt die Essenz eines Gegenstands zum Ausdruck. Ramachandrans Renommee sorgte mit dafür,
dass das neue Fachgebiet der Neuroästhetik auch in weiten Kreisen außerhalb der Biologie wahrgenommen wurde.⁸¹ Wo im Hirn sitzen nun die schönen Gefühle, die die schönen Dinge in uns auslösen? Der Psychologe Hideaki Kawabata schob zehn Probanden in die Magnetresonanzröhre und zeigte ihnen 192 Bilder von Kunstwerken aus den gängigsten Kategorien: Landschaft, Stillleben, Porträt und abstrakte Malerei. Wie die Aufnahmen zeigten, herrscht im Hirn strikte Arbeitsteilung. Die verschiedenen Klassen von Bildern werden in jeweils unterschiedlichen, spezialisierten Zentren verarbeitet – Porträts beispielsweise in dem auf »echte« Gesichter spezialisierten Hirngebiet und im Mandelkern. Doch egal, aus welcher Kategorie ein Bild stammte, im Hirn machte es einen deutlich sichtbaren Unterschied, ob das jeweils betrachtete Bild vom Probanden als hässlich oder als schön empfunden wurde. Schöne Bilder aktivierten vor allem den orbitofrontalen Kortex, einen Teil des Belohnungssystems, von dem wir schon aus Kapitel 3 wissen, dass er auch auf menschliche Schönheit »anspringt«. In der Kunstszene (und erst recht in der Philosophie) wurden solcherlei Ergebnisse mit gemischten Gefühlen, ja mit Misstrauen aufgenommen. Kunst soll erklärbaren Naturgesetzen folgen? Am Ende mehr mit Physik als mit Metaphysik zu tun haben? Der Künstler – nichts als ein besonders gewiefter Spezialist im Ausnutzen der Wahrnehmungsvorlieben in den »Empfängerhirnen«? Aber lässt sich Kunst überhaupt »erklären«? Wie kann sie universalen Gesetzmäßigkeiten folgen, wo doch ihr Erleben für jeden Menschen einzigartig ist? Kann die von einem Kunstwerk inspirierte Andacht, diese subjektivste aller
Erfahrungen, von der objektiven Wissenschaft seziert werden?⁸² Das neue Fachgebiet hat offenbar einen Nerv getroffen, nämlich die große Frage nach dem Verhältnis von Geist und Materie. Wir dürfen uns noch auf manche schöne Diskussion gefasst machen – in die sich dann hoffentlich irgendwann auch die große Schwester, die Philosophie, einmischt.
8 Schöne Theorien? Die Theorien der Kognitionsforscher aus dem vorangegangenen Kapitel steuern Antworten zu einer ganzen Reihe von Fragen zur menschlichen Schönheit bei. Sie erklären etwa unseren Hang zur Symmetrie, den Reiz von Durchschnittlichkeit oder auch die Anziehungskraft von Kindchenschema und »übertriebener« Weiblichkeit. In diesem Kapitel geht es nun in erster Linie um evolutionspsychologische Erklärungen.⁸³ Wenn Ihnen dabei manche Theorien oder Begriffe bekannt vorkommen, dann deshalb, weil Sie ihnen schon in Kapitel 5 begegnet sind, wo sie uns auf der Suche nach einer Lösung für Darwins Pfauenrad-Rätsel gute Dienste geleistet haben. Auf den folgenden Seiten ist nun aber der Mensch dran, und die Theorien müssen nun zeigen, was sie zur Erklärung der menschlichen Schönheit beizutragen haben. Bevor wir uns jedoch dem Unterschied zwischen den einzelnen Theorien zuwenden, soll es um eine wichtige Gemeinsamkeit gehen. Einig sind sich nämlich buchstäblich alle Schönheitserklärungen – die »kognitiven« aus dem letzten Kapitel inbegriffen – in der Voraussage, dass die attraktiveren Artgenossen mehr »Fortpflanzungserfolg« haben müssten, und das gilt für Mensch und Tier gleichermaßen. Sind die Schönen unter uns tatsächlich mit mehr Nachkommen gesegnet? Vielleicht fällt Ihnen auf, dass die Frage aus evolutionärer Sicht einen Haken hat: Fortpflanzung ist im Zeitalter der Anti-Baby-Pille ein anderes
Spiel als unter unseren früheren »natürlichen« Lebensbedingungen. Die Frage müsste daher eigentlich lauten: Hatten die Schönen zu evolutionären Zeiten mehr Nachkommen? Vieles deutet darauf hin, dass die Antwort »Ja« lautet.
Blonds have more fun
Hinweis Nummer eins: Attraktivität macht einen klaren Unterschied auf dem heutigen Heiratsmarkt. Die am besten aussehenden Mädchen eines Highschool-Jahrgangs etwa hatten in einer amerikanischen Studie zehnmal mehr Chancen zu heiraten als die unattraktivsten und dürften damit auch mehr Nachkommen haben. Bei Männern scheint derselbe Zusammenhang zu bestehen – zumindest wenn man die Körpergröße betrachtet. Eine Untersuchung am Schlesischen Medizinischen Zentrum im polnischen Breslau an 4419 Männern stellte einen deutlichen Bezug zwischen Körpergröße und der Anzahl an Kindern her.⁸⁴ Hinweis Nummer zwei: Die Schönen haben mehr Sex. Schon eine der allerersten Veröffentlichungen der Schönheitsforschung aus dem Jahr 1937 ergab, dass die befragten Studenten und Studentinnen umso mehr »dates« hatten, je schöner sie waren. Eine aktuelle Studie geht in dieselbe Richtung. Die sexuellen Erfahrungen der Schönen sind danach reichhaltiger, und zwar nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht: Die schönen Liebhaber sind zufriedener mit dem, was sich unter der Bettdecke abspielt. Dabei ist die Datenlage für attraktive Männer jedoch eindeutiger als für attraktive Frauen: Die Schönen unter den Männern fangen früher an und haben, aufs Leben gerechnet, mehr Sex mit mehr Partnerinnen, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb von festen Beziehungen. Das populäre Stereotyp vom flatterhaften Beau scheint also einen wahren Kern zu haben.⁸⁵
Aber auch bei den Frauen sind die Attraktiveren im Liebesleben offenbar aktiver als ihre weniger ansehnlichen Schwestern – allerdings nicht in fremden Betten.⁸⁶ Wenn man den entsprechenden Untersuchungen Glauben schenken will, kommen Seitensprünge bei Frauen in allen Schönheitsklassen in gleichem Maß vor. Dass die Schönen mehr Sex haben – ist es eine Überraschung? Schönheit zieht nun einmal an, sie verleitet zu Liebe, Nähe und Intimität – was nach einer Studie aus dem Jahr 1998 auch die Bereitschaft zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit einbezieht.
Noch mal: Gute Gene
Es sieht also ganz danach aus, als ob sich die Praxis hier netterweise an die Theorie hielte: Die Schönen haben mehr »Fortpflanzungserfolg«.⁸⁷ Damit können wir die Frage dieses Kapitels angehen: Wie erklärt sich menschliche Schönheit? Für die Hypothese der »Guten Gene«, dem Platzhirsch der evolutionspsychologischen Schönheitserklärungen, ist Schönheit schlicht die Anzeigetafel für besondere genetische Qualitäten – ein gutes Immunsystem etwa. Und da sich Infektionen in erster Linie an der Haut zeigen, wäre makellose Haut damit der »Indikator« für gute Gene par excellence – eine Sichtweise, die offenbar von jedem Teenager unbewusst geteilt wird, den ein einziger Pickel um den Schlaf bringen kann. So einleuchtend diese »Parasiten-Hypothese« auf den ersten Blick sein mag – sie hat auch ihre Schwächen. Denn nicht alle infektionsbedingten Hautveränderungen sind ein Zeichen mangelnder Qualität. Ganz im Gegenteil können die Spuren, die viele Infektionen auf der Haut hinterlassen, genauso gut Zeichen von besonderer Vitalität sein. Denken wir nur an Pockennarben, die letztlich vom glorreichen Sieg über einen gefährlichen Erreger künden. Vielleicht lautet die Botschaft glatter Haut also nicht Fitness, sondern schlicht: »Schau her, wie jung ich bin!«? Eine brandneue Studie kommt der Parasiten-Hypothese zu Hilfe. Der Biologe Craig Roberts von der University of Liverpool ließ Frauen die Gesichter von Männern bewerten, deren genetische Ausstattung ihres so genannten MHCSystems bekannt war. Wie wir bereits aus Kapitel 6 wissen, steuern MHC-Gene das Immunsystem – je mehr
unterschiedliche Varianten in einem Gensatz, desto effizienter die Immunabwehr. Die Gesichter, deren Besitzer über das breiteste Spektrum an Immun-Genen verfügten, erhielten gleichzeitig die höchsten Attraktivitätsnoten. Und interessanterweise scheint gerade die Haut zu diesem Attraktivitätseffekt beizutragen. Zieht uns glatte Haut also deshalb so magisch an, weil sie mit einer handfesten »Belohnung« winkt, nämlich einer besseren Gesundheit für unseren Nachwuchs?⁸⁸
Symmetrisch liebt sich’s schöner?
Kommen wir zum derzeitigen Hätschelkind der Gute-GeneAnhänger, der Symmetrie. Nach dem Glaubenssatz der meisten Evolutionspsychologen spiegelt Symmetrie so genannte Entwicklungsstabilität wider und ist damit das Zeichen für überlegene genetische Qualität. Beim menschlichen Gesicht allerdings scheint die Sache, wie wir in Kapitel 2 erfahren haben, nicht so eindeutig wie erhofft. Zwar empfinden wir ein ausgeprägt asymmetrisches Gesicht nicht als schön, umgekehrt stellt jedoch perfekte Symmetrie weder ein ausreichendes noch ein notwendiges Schönheitskriterium dar (wie das beispielsweise die asymmetrischen Augenbrauenbögen von Emmanuelle Béart schlagend beweisen). Und das ist auch kein Wunder, argumentiert die Hirnforscherin Dahlia Zaidel. Denn im Gegensatz etwa zu Insekten sind wir eine von Natur aus asymmetrisch angelegte Spezies. Schon der Bauplan des »menschlichsten« unserer Organe, des Gehirns, ist asymmetrisch, und auch wenn wir Gefühle zum Ausdruck bringen, tun wir dies nie auf beiden Gesichtshälften exakt gleich. Da unser Gesicht aber zuallererst als Kommunikationsorgan angelegt ist, das Emotionen übermitteln soll, wäre es laut Zaidel auch kaum zu erwarten, dass uns die Evolution mit einer Vorliebe für perfekt symmetrische Gesichter ausgestattet hätte. Vielleicht stellt ja die Symmetrie des Körpers den ersehnten »Fitness-Indikator« dar? Randy Thornhill von der University of New Mexico vermaß zusammen mit seinem Kollegen Steven Gangestad bei männlichen Versuchskandidaten die Breite beider Hände, Handgelenke, Ellenbogen, Füße,
Fußgelenke und Ohren, außerdem die Länge der Ohren und die des zweiten und des fünften Fingers. Darüber hinaus befragte er sie zu ihrem Liebesleben. Und tatsächlich: Je symmetrischer die Männer gebaut waren, desto mehr Partnerinnen hatten sie, sowohl im Ehebett als auch außerhalb. Und nicht nur das: Auch ihre Bettgenossinnen hatten es offenbar besser. Sie erlebten nämlich häufiger einen Orgasmus – und zwar tendenziell gemeinsam mit ihrem Partner. Der Grund, warum die Forscher sich so für das genaue Timing des Gipfelsturms interessieren, liegt im Konzept der »Spermienkonkurrenz«. Bei nicht-monogamen Arten – zu denen auch der Mensch zählt – fängt der Kampf ums Ei in vielen Fällen erst nach der Kopulation so richtig an. Welcher Möchtegern-Papa dabei das Rennen macht, hängt von der Menge und Qualität seines Samens ab. Aber auch das Weibchen kann den Ausgang des edlen Wettstreits mitentscheiden. Bei der Menschenfrau, so zumindest spekulieren manche Forscher, könnten die beim Orgasmus auftretenden Kontraktionen des Muttermunds dem Samen des »erwünschten« Partners auf seinem Weg zum Ei einen kleinen Schubs geben – jedoch nur, wenn sie einigermaßen zeitgleich mit ihm kommt.⁸⁹ Und genau das scheint bei den Partnerinnen der symmetrischeren Liebhaber der Fall zu sein. Doch wie um alles in der Welt sollen Frauen die Symmetrie ihres Partners bei ausgeschaltetem Licht unter der Bettdecke bestimmen? Nach Thornhills Überzeugung nehmen Frauen die Symmetrie mit der Nase wahr. Die entsprechenden Untersuchungen kennen wir bereits aus Kapitel 6. Andere Studien förderten nicht minder wundersame Wirkungen von Symmetrie ans Tageslicht. So sollen
symmetrische Männer etwa das bessere Immunsystem haben, besseres Sperma und bessere Haut, von höherer Intelligenz ganz zu schweigen. Bei Frauen sind anscheinend symmetrische Brüste Zeichen von Fruchtbarkeit. Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Nach Jahren des gläubigen Staunens mehren sich in letzter Zeit allerdings die Stimmen, die viele der genannten Ergebnisse in Zweifel ziehen oder zumindest für überinterpretiert halten. Wissenschaft hat mit der Börse eines gemeinsam: Ob die Begeisterung gerechtfertigt war, zeigt sich erst hinterher.
Nach der Gute-Gene-Hypothese ist ein schönes Gesicht ein »Gesundheitszeugnis«. Schöne Menschen müssten demnach überdurchschnittlich gesund sein. Zumindest für das Hier und Jetzt lassen die bisher durchgeführten Studien diesen Rückschluss aber nur bedingt zu. Wohl ergibt sich unter dem Strich ein Zusammenhang zwischen Attraktivität und Gesundheit, dieser ist jedoch recht schwach und außerdem nur bei Frauen aufzuspüren. Natürlich argumentieren die Gute-Gene-Anhänger – zu Recht – damit, dass die heutigen Verhältnisse nicht unbedingt denen der evolutionären Vergangenheit entsprechen, und verweisen darauf, dass sich bei Naturvölkern die Zusammenhänge eindeutiger darstellen müssten. Man kann also auf entsprechende Ergebnisse gespannt sein. Dass allerdings irgendwelche Zusammenhänge zwischen Attraktivität und Gesundheit, ob sie nun in Manhattan oder im Urwald aufgespürt werden, dennoch mit Vorsicht zu genießen sind, soll der folgende kleine Exkurs verdeutlichen.
»Warum die Schönen intelligenter sind«
Unter dieser Überschrift erschien im Jahr 2004 in dem Fachblatt Intelligence ein Artikel der beiden Soziologen Satoshi Kanazawa von der London School of Economics und Jody Kovar von der University of Pennsylvania, der für einiges Aufsehen sorgte. Der Titel ist eigentlich ein Etikettenschwindel, geht es in dem Artikel doch gar nicht darum, dass die Schönen intelligenter sind, sondern um die Frage, warum sie es sein müssten. Das Ganze ist im Grunde nichts als ein Gedankenspiel – und das sieht folgendermaßen aus:
1. Intelligentere Männer haben höheren Status. 2. Männer mit höherem Status haben die schöneren Frauen. 3. Intelligenz ist vererblich. 4. Schönheit ist vererblich. Ergo: Die Schönen müssen auch intelligenter sein.
Die Schlussfolgerung scheint zwingend, wenn die einzelnen »Sätze« richtig sind. Ist dem so? Nun: Satz 1 kann sich tatsächlich auf robuste wissenschaftliche Ergebnisse stützen. Dass auch Satz 2 zutrifft, sei hier schon im Vorgriff auf Kapitel 10 verraten – Schöne »heiraten nach oben«. Punkt 3, die Erblichkeit von Intelligenz, gehört mittlerweile zu den am besten untersuchten Fragen der
Sozialwissenschaften und ist eindeutig mit »Ja« zu beantworten.⁹⁰ Und Punkt 4, die Erblichkeit von Schönheit, ist eigentlich ein Gemeinplatz: Hübsche Eltern haben nun mal in aller Regel hübsche Kinder. Da Wissenschaftler es aber immer ganz genau wissen müssen, gibt es auch zu dieser Frage Untersuchungen (die bei solchen Fragestellungen vorzugsweise an Zwillingen vorgenommen werden): Schönheit ist danach mindestens in gleichem Maße erblich wie Intelligenz. Satoshi Kanazawa hat also gute Argumente auf seiner Seite. Ob die Realität sich an seine Theorie hält, wird hier noch nicht verraten. Hier interessiert uns etwas ganz anderes, nämlich die Tatsache, dass die von Kanazawa vorgetragene Theorie nicht nur für Intelligenz, sondern auch für alle anderen »sozial erwünschten« Eigenschaften gilt. Die Schönen haben nun einmal die Wahl und werden deshalb auch Partner mit begehrten Eigenschaften wählen, also die Intelligenten, Kommunikativen, Kreativen, Durchsetzungsfähigen, Gesunden etc. Die Theorie hat damit eine für die Gute-Gene-Hypothese recht unbequeme Folge: Mit ihr können sämtliche Zusammenhänge zwischen Schönheit und irgendwelchen »Qualitäten« genauso gut erklärt werden, und zwar ganz ohne den Rückgriff auf »gute Gene«. Für das Funktionieren der Theorie sind die Gründe, weshalb Schönheit bevorzugt wird, völlig unerheblich. Gute Gene, reiner Geschmack oder die Wahrnehmungsvorlieben unseres Nervensystems – durch die Bank führen sie zu demselben Ergebnis. Aus diesem Grund ist auch die mit Inbrunst geführte Debatte, ob die Schönen wirklich gesünder als ihre weniger attraktiven Artgenossen sind, belanglos. Denn Gesundheit hat nun einmal, als »sozial erwünschte Eigenschaft«, die Tendenz, sich mit Schönheit zu verbinden. Und dazu kommt
noch der ganz banale Statuseffekt: Wenn sich die Schöneren tendenziell in den höheren gesellschaftlichen Sphären zusammenfinden, sind sie auch geringeren Gesundheitsrisiken ausgesetzt. In jedem Lehrbuch der Sozialmedizin lässt sich nachlesen, dass die höheren Schichten gesünder sind und länger leben. Trotzdem wird eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2003, die dem schöneren Teil eines College-Jahrgangs von 1920 eine deutlich höhere Lebenserwartung bescheinigt, hartnäckig als »Beweis« für die Gute-Gene-Hypothese angeführt.
Die Spur der Hormone
Eine der naheliegendsten Varianten der Gute-GeneHypothese haben wir noch gar nicht erwähnt: die »Fruchtbarkeitshypothese«, zu deren Hauptprotagonisten der Wiener Anthropologe Karl Grammer und der Evolutionspsychologe Victor Johnston von der University of New Mexico gehören. Ihnen zufolge geht das, was wir als »Schönheit« wahrnehmen, schlicht und einfach auf das Wirken der Geschlechtshormone zurück. Je mehr davon ein Mensch im Blut hat, desto attraktiver ist er demnach. Dass der Fall zumindest beim Mann nicht ganz so einfach ist, wissen wir schon aus Kapitel 2. Testosteron macht den Mann zwar männlicher, aber allzu viel Männlichkeit ist nicht jederfraus Sache, denn sie wirkt aggressiv und gefühlskalt – eine Ambivalenz, die aus der Fruchtbarkeitshypothese nur schwer zu erklären ist. Wie sieht es bei der Frau aus? Östrogen lässt in der Pubertät die weiblichen Rundungen hervortreten, die Lippen anschwellen und bewirkt eine glatte, elastische Haut. Außerdem hemmt es anscheinend in der Pubertät das Wachstum des Gesichtsschädels und führt damit zu den begehrten weiblichen Gesichtsproportionen. Das »Qualitätssignal« hinter dem Östrogenrausch lautet: gesunde Eierstöcke, also Fruchtbarkeit. Auf den ersten Blick klingt diese Argumentation schlagend: Östrogen ist der Stoff, der aus einem Mädchen eine Frau macht, und Weiblichkeit hat einer Frau bekanntlich noch nie geschadet. Dazu kommt, dass die Fruchtbarkeit einer Frau tatsächlich von ihrem Östrogenspiegel abhängt.
In einer aktuellen Studie gingen britische Wissenschaftler um die Psychologin Miriam Law Smith der Frage nach, ob sich die unterschiedliche Attraktivität von Frauen auf ihre unterschiedliche Ausstattung mit Geschlechtshormonen zurückführen lässt. Die Forscher bestimmten den Hormonspiegel von 30 Frauen und legten deren Porträts einer aus Männern und Frauen bestehenden Jury zur Attraktivitätsbewertung vor. Danach galt es nur noch, die Schönheitsnoten mit den Hormonwerten abzugleichen. Und siehe da: Je mehr Östrogen im Blut einer Frau zirkulierte, desto bessere Schönheitsnoten hatte sie erhalten. Fruchtbarkeit, so folgern die Autoren, steht der Frau ins Gesicht geschrieben.⁹¹ Allerdings: Die Aussage ist wohl etwas zu vollmundig, und das nicht nur deshalb, weil die Ergebnisse der Studie nach guter wissenschaftlicher Sitte noch der Bestätigung durch andere Untersucher bedürfen. Der Hormoneffekt ist zwar durchaus vorhanden, aber recht klein, wie der Blick auf die in der Studie publizierten Bilder zeigt (siehe Abb. 34).
Abb. 34: Das linke Gesicht stellt das Durchschnittsbild aus den Gesichtern der 10 Frauen mit den höchsten Östrogenspiegeln, das rechte dasjenige aus den 10 Frauengesichtern mit den niedrigsten Hormonwerten dar (Law Smith et al. 2006).
Die Tatsache, dass der Stellenwert der Hormone in der weiblichen Schönheitsformel so gering ausfällt, kann kaum überraschen. Schließlich können wir die Schönheit eines Kindes beurteilen, lange bevor die Wirkung von Hormonen einsetzt. Und dass aus einem hübschen Kindergesicht einmal ein hübsches Erwachsenengesicht wird, gehört nicht nur zur
Alltagserfahrung, sondern ist auch in vielen Studien belegt – einmal hübsch, immer hübsch. Mit welchem Gesicht jemand durchs Leben geht, hat nun einmal zuallererst mit dem Aussehen der jeweiligen Eltern zu tun – auch der stärkste Hormonschub wird aus einem hässlichen Kind keine Schönheit machen. Möglicherweise fällt allerdings der Beitrag der Hormone zur Attraktivität des Körpers deutlicher aus, und zwar bei beiden Geschlechtern. Beim Mann sorgt Testosteron für den begehrten muskulösen Torso, bei der Frau scheinen höhere Spiegel an Geschlechtshormonen mit größeren Brüsten und einer schlankeren Taille einherzugehen.⁹²
Busenhandicap
Wo bleibt eigentlich das Handicap? Erinnern wir uns: Die Gute-Gene-Hypothese sagt voraus, dass ehrliche Signale für den Sender ein »Handicap« beinhalten müssen, denn nur so sind sie auch wirklich fälschungssicher – wie etwa der Schwanz des Witwenvogels, der seinen Träger buchstäblich »herunterzieht«. Woran aber hätten die schönen Homosapiens-Mitglieder schwerer zu tragen als die weniger schönen? Was die Hormone angeht, so wissen wir ja schon aus Kapitel 5, dass diese möglicherweise ein so genanntes Immunkompetenzhandicap mit sich bringen: Wer mehr Ressourcen für Sex einsetzt, kann weniger in die Abwehr investieren. An welchen »Handicaps« hat der Mensch noch zu tragen? Am Haar, lautet die Antwort von Amotz Zahavi, dem Miterfinder des Handicap-Prinzips. Denn durch das ungebremste Wuchern des menschlichen Haares ist der Mensch gezwungen, es zu beschneiden. Und nur wer die Geschicklichkeit aufbrachte, sein Haar kurz zu halten, kam von der Pirsch durchs Gestrüpp auch wieder nach Hause. Wenn Sie die Erklärung vielleicht ein bisschen an den Haaren herbeigezogen finden, dann wohl erst recht die folgende, die Zahavi für den männlichen Bart vorgeschlagen hat: Der Bart stellt ein »ehrliches Drohsignal« dar, weil er seinen Träger im Kampf so leicht greifbar macht. (Andere Erklärungsversuche für den menschlichen Bart klingen übrigens auch nicht besser: Ist er vielleicht zum Wärmen da? Warum aber tragen dann gerade Inuit keine Bärte, viele tropische Völker jedoch sehr wohl? Selbst die Funktion des Bartes als sexuelles Ornament ist eher zweifelhaft – wächst
er doch erst im höheren Mannesalter zu richtiger Stattlichkeit heran.⁹³) Auch für den weiblichen Busen hat Zahavi eine HandicapErklärung parat. Und Erklärung tut hier bitter Not, denn der Busen der (nicht stillenden) Menschenfrau besteht nicht etwa aus milchspendendem Drüsengewebe, sondern ganz überwiegend aus Fett und hat deshalb die Eigenart, dass er dauerhaft vorhanden ist, ganz anders als bei den anderen Säugetieren, wo die Brust nur dann wächst, wenn sie gebraucht wird. Wie lässt sich eine solche »Verschwendung« erklären? Nach Zahavi zeigt der Busen schlicht und ergreifend (und vor allem »ehrlich«) die Fettreserven einer Frau an – und zwar dort, wo sie am besten sichtbar sind. Das Handicap besteht dabei in der eingeschränkten Bewegungsfreiheit und der »durch größeren Wärmeverlust verschwendeten Energie«. Zahavis Erklärung trifft auf einen gewichtigen Einwand, der letztlich für alle HandicapErklärungen menschlicher Schönheit gilt: Nach der Theorie müssten die größten Brüste gleichzeitig auch die attraktivsten sein – denn je größer das Handicap, desto höher die darin versteckte Qualität. Nun scheint aber der Menschenmann (und genauso die Menschenfrau) es bei der bevorzugten Busengröße eben nicht mit dem olympischen Prinzip zu halten, sondern eher zu mittleren Werten zu neigen. Wir dürfen also weiterspekulieren, etwa mit der Anthropologin Bobbi Low, der zufolge der Busen vor allem eines nicht ist: ehrlich. Ein großer Busen soll dem Mann gute Ernährungsmöglichkeiten für seinen Nachwuchs vorgaukeln. In Wirklichkeit hat die Fülle des Busens jedoch nichts mit seinem Vollsein zu tun – die Milchproduktion hängt nicht im Geringsten von der Größe ab.
Eine andere Erklärung, die von besonders hartgesottenen Evolutionspsychologen stammt, beruht ebenfalls auf dem Prinzip »Lug und Trug«. Der Busen ist demnach ein von der Frau im Kampf der Geschlechter eingesetztes Täuschungsmittel. Die Theorie geht folgendermaßen: Das Fettpolster dient dazu, den wahren Zustand der Frau zu verbergen. Ähnlich wie bei der verborgenen Ovulation wird dem Mann so die Möglichkeit genommen, die Empfängnisbereitschaft seiner Partnerin einzuschätzen. Folglich ist er genötigt, diese auf Schritt und Tritt zu bewachen – womit der Grundstein zur langfristigen Paarbindung gelegt worden wäre. Schon geradezu klassisch (wenn auch deshalb nicht unbedingt plausibler) ist eine Erklärung, die der einstmalige Popstar unter den Anthropologen, Desmond Morris, vorgeschlagen hat: Der Busen ist für ihn eine Folge der mit der Erfindung des aufrechten Ganges geänderten Begattungstechnik. Seit sich Menschenmann und Menschenfrau einander von vorne nähern, mussten die erotisierenden Pobacken an die Vorderfront wandern. Gegen so viel filigrane Theoriebildung wirkt die naheliegendste aller Busenerklärungen geradezu plump: Der Busen soll dem Mann signalisieren, dass die Frau geschlechtsreif ist.
Schlechte Gene
Die Gute-Gene-Hypothese in ihren verschiedenen Spielarten – Schönheit als Ausweis von Immunkompetenz, von Entwicklungsstabilität oder Fruchtbarkeit – gibt heute in so gut wie allen evolutionspsychologischen Publikationen die Standarderklärung für menschliche Schönheit ab. Wie ist es nun aber um die – noch sehr junge – Schwester der Gute-Gene-Hypothese bestellt, die Hypothese der »schlechten Gene«, die uns im vorigen Kapitel begegnet ist? Auch sie sieht ja in unserem Schönheitssinn ein evolutionäres Programm im Dienst der Partnerwahl, nur dass dieses eben nicht darauf ausgerichtet ist, gute Gene aufzuspüren, sondern schlechte Gene zu meiden. Als Hinweis auf schlechte Gene nimmt das Hirn alles, was grob von der Norm abweicht – also schwere Deformierungen, Asymmetrien oder Hautveränderungen. Der Haken an diesem Programm ist jedoch, dass es nicht unterscheiden kann, ob es sich bei einer bestimmten Normabweichung tatsächlich um ein Zeichen niederer Fitness handelt (eine Erbkrankheit etwa) oder um eine unter FitnessGesichtspunkten »harmlose« Veränderung, wie etwa ein Feuermal oder eine unfallbedingte Verletzung. Dazu kommt noch unser eingefleischter Verallgemeinerungsreflex. Er führt dazu, dass wir auch leichtere Normabweichungen in den Kreis der »tendenziell Verdächtigen« einbeziehen und damit als »unschön« bewerten. Der als unattraktiv empfundene Teil der Bevölkerung ist damit sozusagen Opfer einer (leider unvermeidbaren) Verwechslung. Nach dieser Theorie wäre ein Zusammenhang zwischen Attraktivität und tatsächlichen »Qualitäten« vor allem in der
unteren Hälfte der Attraktivitätsskala zu erwarten – da nämlich, wo mangelnde Attraktivität zumindest zum Teil mit tatsächlichen Fitness-Einschränkungen einhergeht. In den höheren Attraktivitätsklassen dagegen sollte sich ein solcher Zusammenhang nicht zeigen.⁹⁴ Genau dies konnten Leslie Zebrowitz und Gillian Rhodes in einer großen Studie belegen. Die gemessenen Intelligenzquotienten sowie Gesundheitsparameter wiesen im unteren Schönheitsbereich eine Korrelation mit der Attraktivität der jeweiligen Personen auf, nicht jedoch im oberen. So wenig politisch korrekt es klingt, aber die Hässlichen waren tatsächlich auch weniger schlau. In dieselbe Richtung gehen auch Befunde aus anderen Studien, nach denen Menschen mit sozial abweichendem Verhalten – etwa Gefängnisinsassen oder Patienten psychiatrischer Kliniken – von neutralen, weil ahnungslosen Testpersonen überproportional häufig als unattraktiv bewertet wurden. Es ist allerdings nicht sehr wahrscheinlich, dass Schönheit ausschließlich ein negatives Konzept darstellt, dass unser Hirn also eigentlich nur die Sprache von Hässlichkeit versteht und deren Abwesenheit quasi als Schönheit uminterpretiert. Dagegen spricht die ungeheure Anziehungskraft, die gerade besonders schöne Gesichter auf uns haben. Schönheit scheint vielmehr ein »bipolares« Konzept zu sein: Schönes zieht uns im selben Maße an, wie uns Hässliches abstößt. Dafür spricht auch ein Befund aus der Hirnforschung, der uns schon aus Kapitel 3 bekannt ist. Das Belohnungssystem von Probanden, denen man in der Magnetresonanzröhre Bilder unterschiedlich attraktiver Gesichter zeigte, reagierte mit freudiger Erregung, wenn ihnen ein schöner Mensch in
die Augen schaute – und in ganz derselben Weise, wenn ein Hässlicher seinen Blick abwendete.
Passende Gene?
Gute Gene, schlechte Gene – neuerdings drängt sich eine dritte Frage immer mehr in den Vordergrund, nämlich die nach den »passenden« Genen. Wie wir aus Kapitel 6 wissen, sind »gute« oder »schlechte« Gene nicht für jedes Individuum dasselbe. Was für den einen passt, kann für den anderen eine Katastrophe sein – Beispiel Inzucht. Beim Zusammenbringen der passenden Gene (bzw. dem Auseinanderhalten der unpassenden) scheint die Natur auf einen Mechanismus zu setzen, der in der Forschung zu Unrecht etwas außer Mode gekommen ist: Prägung. Sie erinnern sich vielleicht aus der Schulzeit an die Graugänse, die ihrem Herrn und Meister Konrad Lorenz hinterher watscheln. Prägung ist eine Art von »Turbo-Lernprozess«, der nur innerhalb einer genetisch programmierten so genannten sensiblen Phase ablaufen kann und unwiderruflich ist. Prägung spielt offenbar vor allem bei den beiden grundsätzlichen Leitplanken des sexuellen Verhaltens eine Rolle: dem Vermeiden von Paarungen mit der falschen Art – also genetisch allzu fernen Individuen – und dem Inzest, also der Paarung mit genetisch allzu nahen Partnern. Aber auch bei der genetischen Feinabstimmung scheint Prägung mitzumischen – im schon angesprochenen Fall der MHCGene sind Frauen beispielsweise offenbar auf den Geruch des Vaters geprägt, an dem sie dann den Geruch anderer Männer zeitlebens abgleichen. Dass das Programm seine Tücken hat, sehen wir schon an Konrad Lorenz und seinen Gänsen. Viele Tierpfleger und Züchter können ein Lied davon singen, welch merkwürdige
Folgen ein fehlgeleiteter Prägungsprozess zeitigen kann. Eine Ente, die von einer Gans-Familie aufgezogen wird, versucht sich später mit Gänsen zu paaren. Genauso entscheiden sich adoptierte Schafe und Ziegen bei der späteren Partnerwahl für die Spezies ihrer Adoptivmutter. Eine Schimpansin, die bei Menschen aufgewachsen war, befriedigte sich mit Hilfe der nackten Jünglinge einer Ausgabe der Zeitschrift »Playgirl« selber. Dass auch das Liebesleben des Menschen offenbar viel stärker als vermutet von den Gesetzen der Prägung (mitsamt ihren »Unfällen«) gesteuert wird, weiß man von einem Phänomen, das erst neuerdings aus der Schmuddelecke ins Licht der Wissenschaft gezerrt wird: Fetischismus. Wer dabei von einem »weiten Feld« spricht, untertreibt maßlos. Denn auf diesem Feld gibt es buchstäblich nichts, was es nicht gibt. Oder wussten Sie etwa, dass sich im Internet allein 140.000 Seiten mit Luftballon-Fetischismus beschäftigen? Dabei steht die Hälfte der Luftballon-Fetischisten nicht etwa auf Luftballons an sich, sondern auf platzende Luftballons! Allein beim SchuhFetischismus dürfte es viele Tausende von Spielarten geben. Dass dabei Prägung eine Rolle spielt, lässt sich aus der Zeitspanne zwischen dem Auftauchen einer bestimmten Mode (z. B. Plateauschuhe) und dem Auftauchen des entsprechenden Fetischismus auf Pornoseiten schließen. Die sensible Prägungsphase für Fetische scheint demnach zwischen dem ersten und vierten Lebensjahr zu liegen. Dass Prägung auch bei unseren (zum Teil ja sehr »eigenen«) Vorlieben für ein bestimmtes Aussehen ihre Hand im Spiel haben dürfte, geht beispielsweise aus folgendem Studienergebnis hervor: Auf Hawaii, dessen Bevölkerung ungefähr zu gleichen Teilen aus Polynesiern, Asiaten und Europäern besteht, wählen aus gemischten Ehen stammende Mädchen überzufällig häufig Partner aus der
Volksgruppe ihres Vaters; die Jungs dagegen wandeln eher auf den Spuren der Mutter. Untersuchungen aus England zeigen, dass sich sowohl Männer als auch Frauen überzufällig häufig in Partner mit der Augenfarbe ihres gegengeschlechtlichen Elternteils verlieben.⁹⁵ In puncto Haar scheint es etwas komplizierter zu sein. Bei Männern geht offenbar die Haarfarbe der Mutter in die Schönheitsgleichung ein, bei Frauen dagegen die beider Eltern.⁹⁶ Dass der väterliche »Typ« eine ganz besondere Rolle spielt, gilt dabei genauso für Adoptivtöchter. Wenn man wildfremden Menschen das Bild eines Mannes vorlegt und dazu vier weitere Fotos anderer Männer, unter denen sie den Adoptivvater der Ehefrau des ersten Mannes aussuchen sollen, tippen sie überzufällig häufig auf den richtigen. Wenn Prägung bei unserem Schönheitsempfinden eine Rolle spielt, dann ist das, was wir »persönlichen Geschmack« nennen, alles andere als ein Luxus. Schönheit kann nicht für alle dasselbe sein, denn jeder hat seine eigene Herkunft – in genetischer Hinsicht genauso wie in biographischer – und damit seine ganz eigenen Bedürfnisse. Dass die eine Frau auf ein Macho-Gesicht abfährt, die andere jedoch weichere Züge vorzieht, hat mit solchen persönlichen »Prägungen« zu tun, seien sie nun biologischer oder psychologischer Natur. Die Macht der Botschaft »Ich bin attraktiv« verblasst angesichts der Aussage »Ich passe zu dir«.
Reine Mode?
Vergessen wir vor lauter guten, schlechten oder passenden Genen den guten alten Darwin nicht. Seine Ansicht zur Schönheit ist heute ein Minderheitsvotum, dem der »neodarwinistische« Mainstream zu Unrecht die kalte Schulter zeigt. Für Darwin hat Schönheit keinerlei »tiefere Bedeutung«, sondern ist buchstäblich eine »Modeangelegenheit«. Nur, wie entsteht eine solche Mode und wie breitet sie sich aus? Hier musste Darwin (der ja noch nichts von Genen wusste) passen. Eine Erklärung lieferte Sir Ronald Fisher lange nach Darwins Tod mit seiner »Runaway-Hypothese«. Danach breitet sich ein bestimmtes Merkmal, sobald es einmal von einem Teil der Weibchen bevorzugt wird, auf die gesamte männliche Bevölkerung aus, weil die Söhne der modebewussten Weibchen »sexy« sind und damit mehr Nachkommen haben. Im Lauf der Zeit wird das Ornament immer extremer, denn sobald eine Vorliebe für ein bestimmtes Merkmal entstanden ist, wird eine leichte Übertreibung im Rennen um die Gunst der Weibchen noch besser abschneiden und sich so in einem endlosen »Selbstläuferprozess« von Generation zu Generation selbst überbieten. Spielt sich diese »Evolution nach der Mode« auch beim Homo sapiens ab? Wohl möglich – wir waren ja bereits in Kapitel 5 bei dem Thema: Die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Menschen und seinem affenähnlichen Vorgänger könnten darauf beruhen, dass der Mensch sich mehr von Partnern angezogen fühlte, die mit seinen primitiven Vorfahren möglichst wenig Ähnlichkeit hatten; die
also über eine kindlichere Schädelform, nacktere Haut, Po und Busen und vor allem eine dauerwachsende Mähne verfügten. Während überall am menschlichen Körper die Haare zurückgegangen sind, ist mit dem Haupthaar eine nicht minder rätselhafte Veränderung vorgegangen: Es hört gar nicht mehr auf zu wachsen. Homo sapiens ist die einzige Spezies mit dauerwachsenden Haaren. Unsere Haarpracht scheint das sexuelle Ornament par excellence zu sein – worauf auch die extremen Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen und Völkern hindeuten. Das stärkste Argument für das Gespann Fisher/Darwin ist vielleicht die Vielfalt der heutigen Menschenmodelle, die wir gewohnt sind, mit Begriffen wie »Rasse« oder »Ethnie« zu belegen. Da es neuere populationsgenetische Erkenntnisse zunehmend fragwürdig erscheinen lassen, ob es sich bei den Menschenrassen tatsächlich um genetisch klar abgrenzbare Einheiten handelt, sprechen wir wie die meisten Wissenschaftler von »Populationen«. Beim Anblick beispielsweise einer Schwedin und ihrer australischen Aborigine-Schwester hätte unser berühmter Marsmensch aus dem vorletzten Kapitel sicher Schwierigkeiten, sie derselben Art zuzuordnen – und das, obwohl die beiden noch vor 55.000 Jahren dieselben Eltern hatten! Überzeugen würde unseren außerirdischen Biologen vielleicht erst die Tatsache, dass alle diese unterschiedlichen Wesen miteinander fruchtbare Kinder haben können und damit einfach zur selben Art gehören müssen. Obwohl viele Populationen auf den ersten Blick denkbar unterschiedlich aussehen, sind sie sich doch von ihrer genetischen Substanz her äußerst ähnlich – und zwar um
ein Vielfaches ähnlicher, als es die Mitglieder der einzelnen Populationen untereinander sind. Der durchschnittliche »Weiße« hat mit dem durchschnittlichen Afrikaner mehr Gene gemeinsam als Sie mit Ihrem Nachbarn. Die meisten genetischen Unterschiede gibt es übrigens innerhalb der verschiedenen afrikanischen Populationen. Wenn es also genetisch gesehen schon wenig Sinn macht, von »Weißen« zu sprechen, dann noch weniger von »Schwarzen«.
Multikulti-Runaway
Warum aber sind die Menschen äußerlich so unterschiedlich? Die nahe liegendste Erklärung lautet: wegen des Klimas. Die unterschiedlich pigmentierte Haut muss demnach unterschiedlich intensives UV-Licht filtern, flache oder lange Nasen müssen mit unterschiedlich temperierter Luft zurechtkommen, und die so genannte epikanthische Lidfalte der Asiaten lässt sich als eine Art Schutzbrille gegen extreme Kälte in Nordasien, dem Ursprungsgebiet der asiatischen Bevölkerung, verstehen. Populationsgenetische Studien zeigen jedoch, dass die Sonneneinstrahlung allein als Erklärung für die helle Haut der Europäer nicht ausreicht. Auch die Unterschiede bei Haar und Bart, Augenfarbe und in den Gesichts- und Körperformen lassen sich kaum als Ergebnis natürlicher Selektion deuten – und müssen deshalb auf das Konto der sexuellen Selektion gehen. Für den starken Einfluss der Partnerwahl bei der Formung der Körper spricht auch die Tatsache, dass es gerade bei den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen enorme Unterschiede zwischen den einzelnen Populationen gibt, wie etwa bei Größe und Form des Busens oder auch des Hinterteils – vom zierlichen Modell der Asiatinnen bis zum voluminösen Fahrgestell der Hottentotten-Frauen (von Wissenschaftlern mit dem Begriff »Fettsteiß« terminologisch nicht nett behandelt). Auch bei den Geschlechtsorganen selber sind die Ausführungen höchst unterschiedlich – zwischen dem besten Teil des Japaner-Mannes und dem des Kongolesen etwa liegen buchstäblich Welten.
Bei all den Unterschieden liegt die offensichtlich heikle Frage nahe: Sind die unterschiedlichen Populationen am Ende vielleicht unterschiedlich schön? Wenn sich schon einzelne Menschen mit hoher Übereinstimmung in unterschiedliche Schönheitsklassen sortieren lassen, warum dann nicht auch die einzelnen Populationen?
Bruttoschönheitsprodukt
Andererseits: Sind solche Fragen nicht schon deshalb müßig, weil jede Population ohnehin ihr eigenes Aussehen bevorzugt? Im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen meinte Darwin beispielsweise, die Menschen anderer Rassen würden ihr jeweiliges Aussehen dem der Europäer vorziehen. Die einzige Studie, die sich der Frage angenommen hat, kommt aus Australien. Sie vergleicht die Schönheitsnoten, die Europäer, Afrikaner und Asiaten von unterschiedlichen Jurys erhalten haben, die einmal aus weißen Australiern, ein andermal aus asiatischen Australiern oder HongkongChinesen bestanden. Dabei ergab sich kein Hinweis auf eine Bevorzugung der eigenen Population. Genauso wenig hatte jene Population einen Bonus, mit der die jeweiligen Bewerter am meisten Umgang hatten – wie etwa im Fall von nach Australien ausgewanderten Asiaten. Das Ergebnis lässt uns also noch nicht vom Haken, denn die nächste Frage schließt sich gleich an: Würden bei einer globalen Schönheitskonkurrenz möglicherweise bestimmte Populationen, etwa Indonesier oder Iren oder Westafrikaner, besser abschneiden als andere (die dann vielleicht sogar nicht einmal die Stimmen ihres eigenen Landes hinter sich hätten)? »Ich würde behaupten, dass unter den Arabern, Indern und (vor allem) Chinesen ein höherer Anteil an schönen Individuen zu finden ist als in den meisten westlichen Gesellschaften«, schreibt etwa der Historiker Arthur Marwick in seinem Standardwerk Beauty in History. Privatmeinung eines Privatdozenten? Oder steckt doch mehr dahinter? Gibt
es so etwas wie ein Bruttoschönheitsprodukt der unterschiedlichen Landstriche? Es wird Sie nicht überraschen, dass sich so gut wie keine systematische Forschung zu dem Thema findet. Ich will trotzdem eine Spekulation wagen (die sich aber immerhin auf die Befunde der Schönheitsforschung stützt): Diejenige Population dürfte auf das Treppchen steigen, die a) über die glattere Haut verfügt, b) deren Gesichter die größere Kontrastklarheit besitzen und c) die am ehesten dem Typus der »weiblichen« Schönheit entspricht.
Wo wir schon bei den Fettnäpfchen sind: Warum eigentlich werden Mischlinge oft als besonders schön empfunden? In einer ebenfalls aus Australien stammenden Untersuchung von Gillian Rhodes schnitten Gesichter, die am Computer aus Europäern und Japanern zusammengemixt worden waren, in der Schönheitswertung sowohl bei Europäern als auch bei Japanern deutlich besser ab als die beiden »Ausgangsprodukte«. Dasselbe galt auch für »echte« Mischlingsgesichter. Nur bei der Frage, warum das so ist, lässt uns die Forschung im Stich. Wir sind also wieder auf eigene Spekulationen angewiesen. Ein Faktor könnte sein, dass gemischte Gesichter unseren Hang zum prototypischen Durchschnitt befriedigen, denn durch die Mischung werden Extremmerkmale abgemildert. Dazu kommt möglicherweise, dass die aus zwei Quellen geschöpften Gesichter immer auch etwas »Interessantes« haben, etwas Neues, Vages, Undefiniertes, Geheimnisvolles, das zum Weiterbetrachten einlädt. Es ist wohl das, was wir mit »Exotik« meinen – das berühmte »gemäßigte Extrem«,
das schon Darwin als ästhetisches Grundprinzip jeder Mode anführte.
Warum (menschliche) Schönheit weiblich ist
Die nächste offene Frage wurde ja schon angeschnitten. Warum ist es eigentlich beim Menschen so anders gelaufen als beim Rest des Tierreichs, wo fast immer die Männchen das schöne Geschlecht geben? Zusätzlich zu den in Kapitel 6 genannten Ansätzen ergibt sich eine besonders interessante Spur aus den Überlegungen der Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy.⁹⁷ Darin spielt die Tatsache eine zentrale Rolle, dass das Menschenbaby in einem Maße von Schutz, Zuwendung, Pflege und »Erziehung« abhängt, wie das in keiner anderen Spezies der Fall ist. Ein großer Teil dieser Belastungen dürfte laut Hrdy auf den Schultern der Mütter gelegen haben. Wenn »allein erziehend« schon in unseren Kühlschrank- und Waschmaschinen-Zeiten ziemlich anstrengend klingt – in früheren Zeiten, in denen 13 Millionen Kilokalorien aufgewendet werden mussten, um ein Kind durchzubringen, war der Job schlichtweg nicht allein zu bewältigen. Der Fortpflanzungserfolg einer Frau hing folglich entscheidend von ihrer Fähigkeit ab, Hilfe von ihrer Umgebung zu mobilisieren. Neben der Unterstützung durch Großmütter und Tanten dürfte es dabei auch stark um männliche Hilfe gegangen sein, nicht unbedingt nur die eines Vaters, die oft wenig zuverlässig war, sondern auch die von anderen Männern. Hierzu steuern Ethnologen überzeugende Argumente bei: Bei vielen Naturvölkern haben Kinder mehrere »Väter«, und ihre Überlebenschancen sind dabei oft an die Zahl und den Status dieser Reservepapas gebunden. Frauen standen damit – viel mehr als Männer – unter permanentem »Verführungszwang«, um im Interesse ihres Nachwuchses möglichst viele Ressourcen auf sich zu ziehen.
So weit Hrdy. Es sei mir erlaubt, noch zwei Argumente ins Feld zu führen, die Hrdys Gedanken weiterspinnen. Argument Nr. 1: Wenn es wirklich so war, dass Frauen zum Wohl des Kindes Sexpartner, Großmütter, Tanten, Cousinen, Nachbarinnen, ja den ganzen Clan »verführen« mussten – ist es da nicht denkbar, dass sie sich dabei der »Waffen des Kindes« bedienten, also des Kindchenschemas?⁹⁸ Und damit eines der mächtigsten Programme »ausbeuteten«, die unser menschliches Verhalten steuern: den Zuwendungsreflex zu Babys und Kindern. Und könnte dieser Anklang an das süße Kind nicht wiederum einer der Gründe sein, warum wir das weibliche Modell als »schöner« empfinden? Argument Nr. 2: Das weibliche Geschlecht stand nämlich nicht nur unter »Schönheitszwang«, sondern auch unter »Kommunikationszwang« – und zwar zuallererst dem eigenen hilflosen Kind gegenüber, das vom ersten Tag an auf das Gesicht der Mutter fixiert ist. Und dieser Kommunikationszwang dürfte der Grund sein, warum das weibliche Gesicht in stärkerem Maße als das männliche zum Kommunikationsapparat umgebaut wurde. Es verlor seine Behaarung, die Augenbrauen setzten sich schärfer ab, die Augen wurden »offener« (d. h. weniger von Stirnwülsten überschattet) – alles Maßnahmen im Dienste erhöhter Signalklarheit. Und Signalklarheit – das wissen wir aus dem vorigen Kapitel – baut auf Kontraste, mithin auf eine unserer tief verwurzelten Wahrnehmungsvorlieben. Somit würde vielleicht auch die Architektur unseres optischen Apparats ihr Teil dazu beitragen, dass wir Frauengesichter als attraktiver empfinden. Es handelt sich hier, wohlgemerkt, um eine Spekulation, deren Stichhaltigkeit sich erweisen muss. Eine Schlussfolgerung aus den angestellten Überlegungen dürfen wir jedoch wohl schon guten Gewissens ziehen: Schönheit
beim Menschen ist mehr als ein »Gesundheitszeugnis«, es reicht tief in unser soziales Gefüge hinein.
»Schönheit ist Macht«
So lautet der Titel einer Studie, die sich mit dem Verhalten von Fußgängern beschäftigt. Was passiert, wenn zwei Menschen sich auf dem Bürgersteig entgegenkommen? Wer wem ausweicht, so das Ergebnis, hängt von der Attraktivität der Beteiligten ab. Wir weichen buchstäblich vor den Schönen zurück. Wenn sich Menschen frei im Raum verteilen, zeigt sich dasselbe Phänomen. Die Schönen (ebenso wie die Großen) haben ein größeres »Territorium« um sich. Wenn wir den sozialen Rang von Menschen beurteilen sollen, messen wir den Schönen automatisch einen höheren Status zu. Und als ob das nicht genug wäre: Wir halten sie auch noch in jeder Hinsicht für überlegen. Welche gesellschaftlichen Folgen dieser tief im Menschenhirn verankerte Reflex zeitigt, wird uns in den nächsten Kapiteln beschäftigen. Die Schönen sind nicht nur schön. Sie sind schön plus, eine Oberklasse, die uns einschüchtert wie eine Autoritätsperson, uns Herzklopfen und feuchte Hände bereitet. Im Schönen erkennen wir das Alpha-Tier, und umgekehrt im Hässlichen den Paria.⁹⁹ Nicht nur beim Zugang zum anderen Geschlecht ist Schönheit die große Weichenstellerin, sondern auch da, wo es um den Zugang zur Macht geht. Schon rein ökonomisch betrachtet besitzt der oder die Schöne etwas, was andere nicht haben – ein hoch begehrtes, aber knappes Gut. Und knappe Güter haben ihren Preis. In einer hierarchisch organisierten Gesellschaft mit ihren hochkomplexen sozialen Austauschbeziehungen
wird Schönheit deshalb zwangsläufig den Zugang zu anderen knappen Ressourcen erleichtern – Stichwort »Schönheit heiratet nach oben«. Und ganz gleich, ob hinter Schönheit zusätzlich noch irgendwelche »adaptiven« (also von sich aus mit einem Fortpflanzungsvorteil verbundenen) Qualitäten stecken, ob sie reiner Schmuck ist oder nur ein Nebenprodukt unserer Wahrnehmungsprozesse – aus evolutionsbiologischer Sicht läuft letztlich alles auf dasselbe Ergebnis hinaus: Die Gene der Schönen sind auf der Überholspur.¹⁰⁰ Schönheit hat auf das eigene Geschlecht mindestens genauso viel Macht wie auf das andere. Hätten wir sonst einen »Sinn« für die Schönheit unserer Geschlechtsgenossen oder -genossinnen? Offenbar verführen wir mit Schönheit nicht nur das andere Geschlecht, sondern auch das eigene, und das vielleicht sogar noch mehr. Männer haben ein stärkeres Bedürfnis, Hierarchien zu bilden, und möglicherweise spielt dabei auch Attraktivität eine größere Rolle als bei Frauen. In den viel studierten amerikanischen Ferienlagern ist der Anführer oft der am besten aussehende und athletischste Junge. Der Psychologe Cameron Anderson von der University of California stellte fest, dass neben »Extraversion«, also der Fähigkeit, auf andere zuzugehen, ohne die es bei beiden Geschlechtern nicht geht, auch Attraktivität über die Eignung zum AlphaTier entscheidet – aber nur bei Männern. Das alles bestätigt nur, was wir schon längst wissen: Männer sind optisch verführbarer. Dass es nicht bloß weibliche Schönheit ist, die sie verzaubert und manipuliert, dürfte allerdings nur den wenigsten von ihnen bewusst sein.
Schönheit ist mehr
Dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das von seiner Kultur genauso definiert wird wie von seiner Natur, ist auch der Grund, warum rein »biologische« Schönheitserklärungen von der Sorte »Gute Gene« beim Menschen so wenig fruchtbar sind. Es gibt an der sichtbaren Oberfläche des Homo sapiens buchstäblich keinen Quadratmillimeter, der nicht zum Spielball irgendwelcher Moden und Marotten werden könnte, und das gilt für das Gesicht genauso wie für den Körper. Die schönen langen Wimpern etwa, die wir heute mit allen Mitteln verlängert haben wollen, sollten in der Renaissance lieber »nicht sehr lang« sein. Auf Gemälden wurden sie oft einfach weggelassen. Viele heutige Amazonas-Indianer halten Wimpern für abscheulich und zupfen sie aus. Auch die »idealen« Augenbrauen sind alles andere als zeitlos. Im 14. und im 15. Jahrhundert wurden sie zusammen mit dem Haaransatz ausgezupft, um der Mode der »hohen Stirn« Genüge zu tun, wie sie etwa auf Gemälden von Jan van Eyck zu sehen ist. In unseren Tagen erleben wir den Modellwechsel weg von den »klassischen«, hoch geschwungenen Augenbrauenbögen der Marlene Dietrich oder Garbo hin zu etwas tieferen und stärkeren Varianten. Besonders begehrt ist nach Auskunft von Schönheitschirurgen die ansteigende Linie mit dem abrupten Knick im äußeren Drittel. Beim Mund dasselbe Spiel. Wo wir heute die betonte Oberlippe besonders lieblich finden, war im Mittelalter oder auch zu Raffaels Zeiten das kleine Mündchen mit betonter Unterlippe populär. Der heute gewünschte große Mund mit den vollen Lippen stellt eine historische Kuriosität dar. Auch die zurzeit geradezu kanonischen hohen Backenknochen
und »reifen« (d. h. konkaven) Wangen wurden nicht zu allen Zeiten hoch geschätzt. In der Renaissance beispielsweise gab man überwiegend schön runden Gesichtern den Vorzug. Im Zweifelsfall ist die soziale Programmierung durch unsere »zweite Natur«, die Kultur, stärker als jedes genetische Programm. Evolutionär betrachtet, sind viele unserer kulturellen Verhaltensweisen überflüssig oder gar echte Katastrophen – und haben es trotzdem geschafft, sich in Windeseile über den Globus auszubreiten. Ein markantes Beispiel ist der Schlankheitswahn, also die Vorliebe für Figuren in Gewichtsklassen, bei denen die Fruchtbarkeit deutlich eingeschränkt ist.
Menschliche Schönheit, so viel dürfen wir am Ende dieses Kapitels wohl sagen, ist keine einfache Melodie wie die des werbenden Amselmännchens, das im Frühling sein Weibchen anlockt, wenn die Hormone fließen. Natürlich ist der Schönheitssinn auch bei uns tief in unserem Nervenund Hormonsystem verankert. Diese biologische Melodie ist allerdings eingewoben in einen ganzen Klangteppich, der von unserer Kultur geliefert wird. Schönheit ist deshalb noch lange nicht »relativ«. Erinnern wir uns: 50 Prozent unseres Schönheitsurteils sind Geschmackssache. Ist das viel oder eher wenig? Kommt ganz darauf an. Für den Kulturbeobachter (dessen Augenmerk auf dem Unterschied zwischen den Menschen liegt) ist es ein Riesenunterschied. Dem Biologen (der die Gemeinsamkeiten untersucht) ist es nur ein Achselzucken wert. Der eine mag Broccoli, der andere keine Bohnen. Der Franzose mag Käse, der Chinese sieht darin verdorbene Milch. Bei Schokolade sind wir uns schon eher einig. Aber nie wird ein Mensch Geschmack für Papier oder Sägemehl
entwickeln. Denn die Vorfahren mit dieser Geschmacksrichtung wären samt ihren exotischen Genen schlichtweg verhungert. Bei der Schönheit ist es nicht anders. Wir tragen einen von Jahrtausenden und Jahrmillionen der Evolution geformten Schönheitssinn in uns, auch wenn wir uns dieses Erbes nicht bewusst sind. Dass dieser Schönheitssinn bei jedem Menschen durch kulturelle und persönliche Erfahrungen ganz individuell modelliert und modifiziert wird, ändert nichts an der elementaren Macht, die Schönheit über uns hat. Ob es dabei um gute Gene, schlechte Gene oder passende Gene geht oder ob es überhaupt nicht um Gene geht, sondern nur um die reine Sinnesfreude, durch nichts gedeckt als durch irgendeine Wahrnehmungsvorliebe, die unsere Neuronen kitzelt – egal. Wir können gar nicht anders, als in einem schönen Gesicht ein Versprechen zu sehen.
Dritter Teil Schön und gut
9 Den Schönen gibt’s der Herr im Schlaf Auch in einem Buch über Schönheit darf man sich mal so richtig gruseln. Am 2. Januar 2001 erdrosselt die 23-jährige Dajana K. die Frau ihres Geliebten, sägt ihr den Kopf ab und verbrennt die Leiche. Skandal genug, würde man meinen. Nicht jedoch für die BILD-Zeitung. »Wie kann eine so schöne Frau so grausam sein?«, fragt sie ihre Leser auf der Titelseite und bringt damit einen ganz anderen Skandal auf den Tisch: Dass eine Schöne so ein Biest sein kann. Wie kommt BILD eigentlich dazu? Ganz einfach: Sie spricht uns aus dem Herzen. Wenn Böses passiert, müssen Hässliche die Hand im Spiel haben. »Wer schön ist, ist auch gut«, so hat schon um 600 v. Chr. die griechische Dichterin Sappho diesen nicht gerade schönen Reflex des Menschen in Worte gefasst, vom Äußeren auf das Innere zu schließen. Begegnen wir einem fremden Menschen, entsteht in unserem Kopf eine Vorstellung von seinem Wesen, noch bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hat: Freund oder Feind? Intelligent oder dumm? Schüchtern oder zupackend? Fröhlich oder traurig? Im Handumdrehen ist auf diese Weise in unserem Hirn ein Phantasiegebilde entstanden, ein virtueller zweiter Mensch, der sich allerdings von unserem Gegenüber dadurch unterscheidet, dass er unser Geschöpf ist, mit unseren
Erinnerungen, Erfahrungen und Emotionen verwoben. Wir empfangen nicht ein Bild, sondern wir machen uns ein Bild. Bei unserem überstürzten Schöpfungsakt müssen wir allerdings mit äußerst spärlichen und ungenauen Informationen auskommen. Wir behelfen uns deshalb mit einem Trick und greifen auf vorgeformte Elemente zurück, Fertigbauteile sozusagen, die wir schon in uns vorfinden. Solche Versatzstücke nennt die Psychologie Stereotype.¹⁰¹ Jeder von uns hat »kistenweise« solcher Stereotype auf Vorrat. Ein Mensch mit hoher Stirn und Brille löst etwa die Assoziation »Intellektueller« aus. Ein kantiges Kinn signalisiert Dominanz und empfiehlt den Betreffenden als Führungspersönlichkeit. Übergewicht macht jemanden zum Phlegmatiker. Bei einem Gesicht mit großen Augen und kleinem Kinn greifen wir unwillkürlich in die Kiste mit den Attributen »kindlich«, »unschuldig« etc. Ein Stereotyp ist nichts anderes als ein mentales Bild, das auf groben Verallgemeinerungen beruht. Eine Art Karikatur, für die ein paar Pinselstriche genügen. Dabei spielt nicht etwa nur das bloße Aussehen eine Rolle. Ob uns jemand elastischen Schrittes entgegenschwingt oder plump einen Fuß vor den anderen setzt, macht ihn in unserer Wahrnehmung zu einem anderen Menschen. Das Gleiche gilt für die Stimme. Ein sonorer Bass oder ein piepsiges Stimmchen machen einen ziemlichen Unterschied für das Gesamtkunstwerk, das wir vor unserem inneren Auge zusammenpuzzeln. Hinzu kommt der Dialekt, beispielsweise Schwäbisch. »Das klingt so gemütlich«, sagt da der innere Einflüsterer, noch bevor das Gesprochene im bewussten Teil unseres Hirns angekommen ist. Voilà: Vor uns steht ein gemütlicher Mensch. Und so geht es weiter, von Stereotyp zu Stereotyp, in einem fort.
Halo-Effekt und andere Peinlichkeiten
Wie kommen solche Stereotype zustande? Und was für eine Rolle spielt dabei die Schönheit? Zu den allerersten Wissenschaftlern, die sich mit diesen Fragen beschäftigten, gehören Karen Dion und ihre Kolleginnen Ellen Berscheid und Elaine Walster – heute die drei großen alten Damen der Attraktivitätsforschung. Im Jahr 1972 veröffentlichten sie unter dem ebenso schlichten wie provokanten (von Sappho entlehnten) Titel »Was schön ist, ist gut« eine Studie, die längst in die Geschichte der Psychologie eingegangen ist: 60 Studenten bekamen Bilder von unterschiedlich attraktiven Menschen vorgelegt und sollten in einem detaillierten Fragebogen Auskunft geben, welchen Eindruck die Persönlichkeit der Abgebildeten auf sie machte. Das Ergebnis: Den attraktiven Zeitgenossen wurden durchgängig mehr Fähigkeiten und bessere Charaktereigenschaften angedichtet, und zwar unabhängig vom Geschlecht sowohl der Bewerteten als auch der Bewerter.¹⁰² »Attraktiven Personen«, so das Fazit der Wissenschaftlerinnen, »werden sozial erwünschte Eigenschaften in höherem Maß zugeschrieben als unattraktiven Personen«. Karen Dion und ihre Kolleginnen gaben dem Phänomen den schönen Namen Halo-Effekt (sprich: »heilo« – halo steht im Englischen für Glorienschein, Heiligenschein). Heute reden Forscher eher vom »Attraktivitätsstereotyp« und meinen damit die Tatsache, dass es von der Schönheit unseres Gegenübers abhängt, ob wir uns mehr aus der Kiste mit den »guten« oder mit den »schlechten« Bauteilen bedienen,
wenn wir uns ein inneres Bild von einer fremden Person machen.¹⁰³ Die Publikation trat eine wahre Lawine an ähnlichen Untersuchungen los, und alle erbrachten dasselbe Ergebnis: In unserer Vorstellung sind die Schönen den Normalsterblichen in so ziemlich allen Belangen überlegen. Wir halten sie für körperlich und psychisch gesünder, für glücklicher, selbstsicherer, liebenswürdiger, durchsetzungsfähiger und in jeder Hinsicht kompetenter. Auch in puncto Intelligenz sind sie ihren weniger bezaubernden Mitmenschen voraus – und zwar um Längen! Selbst zum Musiker sind sie angeblich besser geeignet, wie der britische Psychologe Adrian North herausfand: Er ließ Jugendliche die Musik von 20 Popkünstlern anhand von Videoclips bewerten. Erstaunlicherweise galten die attraktivsten Musiker auch als die besten. Kein Wunder, dass MTV & Co. sich zunehmend auf Musik fürs Auge spezialisieren.
Manchen mag es trösten, dass das Stereotyp auch in der umgekehrten Richtung gilt: Gute Menschen empfinden wir automatisch als schöner. Die Anthropologen Kevin Kniffin und David Sloan Wilson baten die Teilnehmer eines Archäologie-Camps darum, die Attraktivität ihrer Mitstreiter zu benoten, und zwar jeweils am Anfang wie am Ende des sechswöchigen Einsatzes. Dabei ergaben sich z. T. erhebliche Unterschiede in der Bewertung, je nachdem, wie viel Engagement und Teamgeist die zu beurteilende Person bewiesen hatte – allerdings nur dann, wenn die Bewertenden Frauen waren! Für sie scheint Schönheit ein Gesamtpaket zu sein, zu dem innere und äußere Faktoren gleichermaßen gehören. Das Schönheitsurteil von Männern
dagegen ist von charakterlichen Qualitäten weniger zu beeindrucken.
Wie viele Küsse Kinder kriegen
Die Macht des Halo-Effekts auf den Punkt gebracht hat die Entwicklungspsychologin Judith Langlois von der University of Texas. In einer so genannten Metaanalyse wertete sie alle bis dato erschienenen Studien zum Schönheitsstereotyp aus – ein heroisches Unterfangen, bei dem zigtausend Datensätze aus mehr als 900 Studien durch die statistische Mühle gedreht wurden – und gelangte zu dem lapidaren Ergebnis: »Attraktive Kinder und Erwachsene werden positiver beurteilt als unattraktive Kinder und Erwachsene, selbst von denen, die sie kennen.« Aber die Studie hält noch ein zweites Ergebnis parat: »Attraktive Kinder und Erwachsene werden auch positiver behandelt als unattraktive Kinder und Erwachsene, selbst von denen, die sie kennen.« Judith Langlois ist nicht nur die Autorin der größten Studie zum Attraktivitätsstereotyp, sondern auch die Frau, die eine unserer liebsten Überzeugungen auf dem Gewissen hat: dass Mutterliebe absolut und bedingungslos ist. Sie beobachtete 144 Mütter mit ihren Erstgeborenen auf der Wöchnerinnenstation. Im Vergleich zu den weniger attraktiven Kindern bekamen die süßesten Kleinen mehr Küsse, wurden öfter geknuddelt und angelacht.¹⁰⁴ Wenn schon das Mutterherz durch Äußerlichkeiten zu bestechen ist, überrascht es wenig, dass auch Fremde Schein und Sein nicht so recht auseinander halten können: Von den niedlichen Babys nahmen die Befragten eher an, dass sie ihren Eltern weniger Probleme machten, dass sie schlauer und liebenswürdiger seien. Wenn hübsche Kinder über die Stränge schlagen, müssen sie mit weniger Strafe
rechnen als andere. Karen Dion hat Erzieherinnen Falldarstellungen von Siebenjährigen vorgelegt, die etwas ausgefressen hatten. Ein Beispiel: »Peter hat ein Stück Eis in seinen Schneeball eingearbeitet und damit ein Kind verletzt.« War der »Peter« auf dem dazu gezeigten Foto hübsch, wurde sein Verhalten als »einmalige Entgleisung« abgetan, während dem weniger ansehnlichen »Peter« eine Karriere als Krimineller vorhergesagt wurde. Auch die unschuldigen Kinderlein selber sind alles andere als unvoreingenommen. Schon im Kindergartenalter geht es ums Aussehen, wie das Team von Judith Langlois feststellte. So ließ man in einem Kindergarten alle 59 Kinder fotografieren. Die Kleinen durften sich dann auf einer großen Pinnwand zwei Bilder von Kindern aussuchen, die sie »besonders mochten«. Was kam dabei heraus? Die Kinder waren umso beliebter, je hübscher sie waren. Vor allem Mädchen scheinen dazu zu neigen, ihre Freundinnen nach dem Äußeren auszusuchen.
Schöne bekommen bessere Noten
In einem 1973 durchgeführten Experiment bekamen 400 Lehrer und Lehrerinnen ein detailliertes Fünftklässlerzeugnis inklusive Fehlzeiten, Sozialverhalten etc. vorgelegt und wurden um ihre Prognose zur zukünftigen Entwicklung des Kindes gebeten. Alle Dossiers waren identisch, nur das beigefügte Foto zeigte mal ein hübscheres, mal ein weniger hübsches Gesicht. Wir ahnen es schon: Die Hübschen wurden als intelligenter und umgänglicher eingestuft und ihre weitere schulische Karriere als deutlich glorreicher prognostiziert. Bekommen anziehende Kinder tatsächlich bessere Noten? Die Psychologen David Landy und Harold Sigall von der University of Rochester in New York ließen ihre Studenten Lehrer spielen und Aufsätze benoten, die angeblich von Schülerinnen geschrieben worden waren. Wenn kein Foto beilag, vergaben sie für die gute Version 6,6 von zehn möglichen Punkten, für die schlechte 4,7. Die Noten änderten sich allerdings schlagartig, sobald das Aussehen ins Spiel kam. Ein schönes Foto half dem schlechten Aufsatz immerhin zu einem Anstieg um einen halben Punkt. Das wenig anziehende Bild auf dem Deckblatt des guten Aufsatzes dagegen führte zu einem Abschlag von 0,7 Punkten. Am schlimmsten traf es die schlechten Aufsätze mit hässlichem Bild: Sie brachen auf 2,7 ein – eine echte Bestrafung. Die Autoren der Studie zogen daraus den Schluss: Auch Schönheit gehört zum Talent. Dass echte Lehrer ihre Noten möglicherweise anders vergeben, hat sich in mehreren Studien als frommer Wunsch entpuppt. In der Schule – ganz besonders in »weichen«
Fächern wie Sachkunde oder Musik – gilt: Mit Grips kommt man weit, noch weiter aber mit einem günstigen Äußeren. Die Größe des Schönheitseffekts schwankt von Studie zu Studie beträchtlich: Einer französischen Untersuchung zufolge sind die Unterschiede zwischen den Noten der einzelnen Schüler zu 20 bis 40 Prozent durch das Äußere bedingt, andere Forscher fanden deutlich schwächere Zusammenhänge. Eine Beobachtung gilt allerdings fast durchgängig: Bei Mädchen scheint das Äußere in die Gesamtrechnung der Lehrer (und Lehrerinnen) stärker einzugehen als bei Jungs.
Da erscheint es fast wie ausgleichende Gerechtigkeit, dass Schüler das Schönheitsstereotyp umgekehrt auch auf ihre Lehrer anwenden. Schon Erstund Zweitklässler halten die attraktiveren Lehrer für die besseren. Und das Muster zieht sich dann durch bis an die Universität. Zwei Ökonomen der University of Texas nahmen sich die Bewertungen der Dozenten durch ihre Studenten vor (in Amerika ist es üblich, dass Professoren von ihren Studenten regelmäßig Noten für die Qualität ihres Unterrichts bekommen). Sie ließen die Attraktivität der Dozenten anhand von Fotos bewerten und stellten die so erhobenen Schönheitsnoten den Leistungsnoten gegenüber. Und tatsächlich: Das Grafikprogramm zeigt die berühmte ansteigende Gerade: die attraktiveren Dozenten galten als die besseren Lehrer.¹⁰⁵
Im Zweifel für die Schönen
»Obwohl sie einen hervorragenden Anwalt hatte, wäre ihr Prozess verloren gewesen, wenn sie nicht ihr Kleid geöffnet und die Richter durch den Glanz ihrer Schönheit bestochen hätte«, schreibt der französische Renaissance-Philosoph Michel de Montaigne einmal über die griechische Edelprostituierte Phryne. Sie war wegen Gottlosigkeit angeklagt worden, weil sie behauptet hatte, ihre Schönheit könne mit der von Aphrodite mithalten. In der Regel reicht freilich schon ein hübsches Gesicht, um Justitia für sich einzunehmen – wenn man es denn überhaupt mit ihr zu tun bekommt. Denn oft werden die Gutaussehenden erst gar nicht »gerichtsnotorisch«. Nicht, weil sie etwa die besseren Diebe, Betrüger oder Schwarzfahrer wären, sondern weil sie nach begangener Tat weniger häufig angezeigt werden. Wenn ein Ladendieb von anderen Kunden beim Klauen beobachtet wird, hängt es von seinem Äußeren ab, ob er verpfiffen wird. Und wird ein attraktiver Tatverdächtiger doch einmal angezeigt, trifft er zumeist auf mildere Richter. Wissenschaftler der Universität Houston kamen in ihrer Analyse von 2235 Gerichtsurteilen texanischer Gerichte zu dem Schluss: Die Richter gewährten systematisch Schönheitsrabatt! Für ein und dieselbe Straftat schwankte die Buße attraktivitätsabhängig zwischen 1400 und 400 Dollar. Besonders bei Sexualstraftaten werden Verdächtige mit weniger einnehmendem Äußeren häufiger angeklagt, härter bestraft und als gefährlicher eingestuft. Schönheit ist also eine Freundin bei Gericht. (Womit hübsche Frauen gleich zwei Freundinnen hätten, denn als Frau
können sie ohnehin bei fast jedem Verbrechen mit deutlich mehr Nachsicht rechnen.) Nur bei Betrug scheint Schönheit eher als verschärfender Umstand zu wirken – vielleicht deshalb, weil man (zu Recht) davon ausgeht, dass Schönheit bei der Tat geholfen hat. Sie wird nun quasi als Komplizin mit bestraft.
»Der Bischof ließ sie laden vor geistliche Gewalt, und musste sie begnaden, so schön war ihr’ Gestalt«, heißt es in der Sage von der schönen Loreley. Und es ist buchstäblich sagenhaft: Irgendetwas scheint sich in uns dagegen zu sträuben, asoziales Verhalten mit Schönheit zusammenzudenken. Es fühlt sich an wie Senf auf dem Marmeladenbrot. Eindrucksvoll wurde das durch ein Experiment aufgezeigt, bei dem der englische Fernsehsender BBC und die Tageszeitung Daily Telegraph ihre eigenen Zuschauer und Leser zu Versuchskaninchen machten. Beide Medien berichteten über einen fiktiven Gerichtsfall und veröffentlichten dazu das Foto des »Angeklagten«. In der einen Hälfte Großbritanniens hatte er eine krumme Nase, kleine, tief liegende Augen und war von gedrungener Gestalt, in der anderen war er ein hübscher Bursche. Schuldig oder nicht schuldig?, lautete die Frage an das Volk. Immerhin 60.000 Briten fühlten sich zu einer Wortmeldung berufen: In dem Teil der Insel, die mit dem unattraktiven Bild des angeblichen Angeklagten versorgt worden war, waren 40 Prozent von dessen Schuld überzeugt. Im anderen nur 29 Prozent. Wer meint, dass sich das nach Mittelalter anhört, hat nicht Unrecht. Wurden im Mittelalter zwei Menschen vor Gericht desselben Verbrechens bezichtigt, so hatten die
Geschworenen die offizielle Anweisung, denjenigen mit dem weniger angenehmen Äußeren zu verurteilen. Im Zweifel gegen die Hässlichen. Kann man gegen Justitias blindes Auge etwas tun? In den siebziger Jahren starteten amerikanische Politiker und Wissenschaftler gemeinsam ein unkonventionelles Experiment: Schönheitschirurgie für Schwerverbrecher. In dem New Yorker Gefängnis Rikers Island bekamen hundert Gefangene, die durch Narben, gebrochene Nasen oder sonstige Makel entstellt waren, vor ihrer Entlassung einen Termin beim plastischen Chirurgen. Wenn Hässlichkeit ein Stigma ist, so der dahinter stehende Gedanke, müsste man den Teufelskreis durch die Bekämpfung der Hässlichkeit durchbrechen können. Tatsächlich verbesserte sich die Prognose der Operierten gegenüber der ihrer unbehandelten Kollegen. Vielleicht wurden sie aber auch – schönheitsbedingt – nur seltener wieder ins Gefängnis gebracht … Also Schönheitschirurgie für alle, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten? Etwas weniger drastisch, aber genauso radikal ist der Vorschlag eines amerikanischen Rechtswissenschaftlers. Weil er das Schönheitsvorurteil für unausrottbar hält, fordert er, dass Angeklagte entweder überhaupt nicht mehr persönlich vor Gericht erscheinen müssten oder aber zumindest das Recht erhalten sollten, einen Stellvertreter zu schicken. Konsequent zu Ende gedacht würde das einen ganz neuen Gewerbezweig im Umfeld der Gerichte begründen: eine Art Model-Agentur, bei der man ein Double für den Gerichtssaal mieten könnte. Im Namen der Gerechtigkeit.
Hilf dir selbst – oder sei schön
Buchstäblich nirgends ist man davor gefeit, in irgendeinen Bluff von Schönheitsforschern verwickelt zu werden. Diese Erfahrung mussten Anfang der siebziger Jahre eine ganze Reihe von amerikanischen Autofahrern machen. Nichts ahnend fuhren sie den Highway entlang, als plötzlich auf dem Seitenstreifen eine Frau auftauchte, deren Auto offenbar eine Panne hatte. Anhalten oder nicht anhalten? Das war hier die Frage … Die Antwort wurde, wie sich herausstellte, stark von der Attraktivität der Hilfsbedürftigen beeinflusst. Untersuchungen zum »Hilfsverhalten« unserer Spezies gehören zum Standardrepertoire der Attraktivitätsforschung. Da hat z. B. jemand gerade kein Kleingeld bei sich. Ein alltägliches Problem mit einer einfachen Lösung: Man muss nur gut aussehen. Oder eine junge Frau hat sich angeblich auf dem Campus verlaufen. Gerne wird ihretwegen ein kleiner Umweg in Kauf genommen, allerdings nur, wenn sie auch schön ist. Typisch Mann, werden Sie sagen. Der Minirock hat in ihm diese merkwürdige Metamorphose ausgelöst, die aus einem Mann urplötzlich einen »Kavalier« macht.¹⁰⁶ Als »Ritter« ist er einem Ehrenkodex längst vergangener Zeiten unterworfen, in denen Ritterlichkeit zuallererst für hohen Status stand. Wenn weibliche Schönheit im Spiel ist, wächst ein Mann jedenfalls über sich selbst hinaus. Für eine Diplomarbeit ließ der angehende Wirtschaftswissenschaftler Ernst Roidl seine Lüneburger Kommilitonen die Hand in eiskaltes Wasser tauchen, und zwar so lange, bis sie es nicht mehr aushalten
konnten. Die Männer quälten sich fast doppelt so lange, wenn die »Versuchsleiterin« eine attraktive Frau war. In einigen Fällen musste das Experiment abgebrochen werden, um zu verhindern, dass sich übermotivierte Probanden Schaden zufügten. Der Mann hat offenbar das Bedürfnis, sich als toller Hecht zu präsentieren. Warum? Für Evolutionspsychologen ist der Fall klar: Er preist damit seine überlegenen Qualitäten an. Ein ähnliches Motiv könnte auch der männlichen Hilfsbereitschaft zugrunde liegen. Nicht auszuschließen (wer Männer kennt, würde vielleicht die Formulierung wählen: ziemlich wahrscheinlich), dass da irgendwo im Hinterstübchen die vage Hoffnung mitschwingt, nach vollbrachter Heldentat noch zum Kaffee gebeten zu werden. Ein Hauch von »Wie du mir, so ich dir«, der auch die »Großzügigkeit« von Schimpansenmännchen umgibt: Hat eines von ihnen Bananen, gibt es den bettelnden Weibchen welche ab – sofern diese attraktiv sind. Die wiederum erinnern den Bananenbesitzer an seine Kavalierspflicht, indem sie ihm ihr Hinterteil präsentieren. Aber auch Frauen – wir sind jetzt wieder bei den Menschen – engagieren sich lieber für Schöne, wie ein Experiment in der New Yorker U-Bahn zeigte. In einem der Wagen fällt plötzlich ein Mann um. Wovon hängt es ab, ob andere Fahrgäste ihm helfen? Richtig … Und zwar gilt das für Männer und Frauen gleichermaßen. Interessanterweise liegen die Verhältnisse vollkommen anders, wenn es darum geht, jemanden um Hilfe zu bitten. Hier haben wir eine regelrechte Scheu vor den Gutaussehenden und fragen eher die weniger Auffälligen nach dem Weg. Das gilt vor allem für Männer in Bezug auf gut aussehende Frauen, aber auch für Männer und Frauen dem eigenen Geschlecht gegenüber. Am wenigsten
Hemmungen haben Frauen gut aussehenden Männern gegenüber. Schönheit kann aber auch ein zweischneidiges Schwert sein. Attraktiven Frauen, die psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, kann es passieren, dass ihre Probleme zunächst gar nicht richtig ernst genommen werden. Denn viele Therapeuten gehen bei den Schönen automatisch davon aus, dass sie weniger stark gestört sind. Nichtsdestotrotz wenden sie sich ihnen intensiver zu: Frauen bekommen in psychiatrischen Kliniken z. B. mehr Einzeltherapie, wenn sie schön sind. Umgekehrt halten Patienten attraktivere Therapeuten für kompetenter.¹⁰⁷
Verkaufstalent Schönheit
Marketing-Professor Peter Reingen von der Arizona State University beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, welche zwischenmenschlichen Faktoren bei wirtschaftlichen Austauschprozessen am Wirken sind. In einem seiner Experimente ließ er seine Studenten Verkaufssituationen simulieren. Dabei kam immer wieder dasselbe Muster zum Vorschein: Je attraktiver der »Verkäufer«, desto eher lassen sich die »Kunden« etwas verkaufen. Im echten Leben ist das nicht anders: Attraktive Vertreter machen mehr Umsatz als weniger attraktive. Selbst an der Spendenbüchse macht Schönheit einen Unterschied. Peter Reingen ließ seine Studenten ausschwärmen und für die American Heart Association sammeln. Am Ende hatte der Teil mit dem angenehmeren Äußeren genau doppelt so viel zusammenbekommen wie der Rest. (Der Professor hatte dabei übrigens fürsorglicherweise sichergestellt, dass seine Schäfchen keinen Zusammenhang zwischen ihrem Erfolg und ihrem Aussehen ableiten konnten.) Überall auf der Welt machen sich Marketingabteilungen das Verkaufstalent der Schönheit zunutze. Verschiedene Studien zeigen, dass die Rücklaufquote von Fragebogenaktionen, Kundenbefragungen etc. mit der Attraktivität etwa der abgebildeten »Marketingleiterin« steigt.¹⁰⁸ Was aber hat Schönheit in dem Marktgeschehen zu suchen, das doch angeblich von den beiden unbestechlichen Mächten namens »Angebot« und »Nachfrage« regiert wird? Der Managementtheoretiker Matt Mulford von der London School of Economics rückte dem Rätsel 1998 zuleibe, und
zwar mit einem Spiel. Er ließ seine Probanden eine Version des so genannten Gefangenendilemmas spielen, das es in der Spieltheorie zu Berühmtheit gebracht hat. Dem Spiel liegt folgende Geschichte zugrunde: Zwei Gefangene sind eines Verbrechens angeklagt, das sie gemeinsam begangen haben. Da die Polizei jedoch keine Beweise hat, schlägt sie jedem der beiden einen Handel vor: Derjenige, der gesteht (und damit seinen Komplizen ans Messer liefert), kommt frei. Der infame Deal gilt jedoch nicht für den Fall, dass alle beide sich zu einem Geständnis durchringen – das Verbrechen muss schließlich gesühnt werden. Am besten wäre es für unsere beiden Kandidaten natürlich, zu schweigen wie ein Grab – in diesem Fall haben sie nämlich nur mit einer geringen Strafe (wegen illegalen Waffenbesitzes) zu rechnen. Andererseits ist die Versuchung groß, die eigene Haut auf Kosten des anderen zu retten. Nur: Hegt der nicht vielleicht dieselben Hintergedanken? Ein echtes Dilemma …, das sich in ein schönes Spiel umsetzen lässt. Zwei Spieler haben jeweils zwei Karten zur Verfügung, eine »gute« (»Ich bin verschwiegen«) und eine »gemeine« (»Ich hau dich in die Pfanne«). Spielen beide die gute Karte aus, bekommen sie jeweils 10 Cent von der Spielbank. Legen beide die gemeine Karte, haben alle beide verloren (und müssen Geld an die Spielbank abgeben). Nun könnten sich die beiden Ganoven ein schönes Leben auf Kosten der Spielbank machen und schön nett miteinander sein … Wenn da nicht die Verlockung des großen Geldes wäre: Wer nämlich den anderen betrügt, streicht doppelt ein – sofern sein Mitspieler die »gute« Karte gespielt hat. Wer betrogen wird, muss dagegen doppelt bluten (in unserem Beispiel also 20 Cent abgeben). In jeder Runde muss aufs Neue entschieden werden, ob man sich auf den anderen
verlassen will oder lieber nach dem Motto »Think dirty« verfährt. Ein fieses Spiel – und ein fieses Ergebnis: Am Ende gingen die Schönen mit mehr (Spiel)geld in der Tasche nach Hause. Wie ist das zu erklären? Die Mitspieler bringen den Schönen offenbar schlichtweg mehr Vertrauen entgegen – und spielen ihnen gegenüber deshalb häufiger die »gute« Karte aus. Genau derselbe Mechanismus scheint im wirklichen Leben am Werk zu sein: Schönen Menschen wird beispielsweise eher ein Geheimnis anvertraut. Der oder die Schöne besitzt gleichsam ein Vertrauenskapital. Kein Wunder also, dass in Werbespots, Anzeigen und auf Plakaten ausschließlich schöne Menschen auftauchen. Kein Argument ist konsumanregender als Schönheit.
10 Schönheitskapitalismus In deutschen Firmen, Behörden und Einrichtungen gehen jedes Jahr zigmillionen Bewerbungen ein, und über jede einzelne hat irgendein Abteilungsleiter, Personalchef oder auch die Sekretärin zu entscheiden. Und dabei kommt das kleine Bildchen vorne auf dem Lebenslauf groß raus. Schon im Bruchteil einer Sekunde hat es seine Wirkung entfaltet und den Betrachter mit seinen Signalen manipuliert. Und je nachdem, wie diese beschaffen sind, ist plötzlich die Aufmerksamkeit geweckt oder das Quäntchen an Wohlwollen vorhanden, das es braucht, um über eine kleine Unebenheit im Lebenslauf hinwegzusehen. Die in den paar Quadratzentimetern des Bildchens enthaltene Information wirkt quasi intravenös, während die anderen Fakten – Schulabschluss, Lebenslauf – erst einmal die Wächter des Bewusstseins passieren und deren kritischem Urteil standhalten müssen. Am Ende wird der Auswählende natürlich objektive Gründe für seine Wahl anführen, aber die Chancen stehen gut, dass ihm ein Teil seiner Beweggründe von seinem Unbewussten eingeflüstert wurde – und dort schwingt unser Stereotyp das Zepter. Auch das auf die Vorauswahl folgende Bewerbungsgespräch ist eine klassische »Auf-den-ersten-Blick-Situation«, bei der es vorzugsweise um das geht, was die Augen wahrnehmen: Gesicht, Figur, Haarschnitt, Kleidung, Mimik, Gestik. Ein Heimspiel für die Schönheit, wie verschiedene Studien nachgewiesen haben: Attraktivere Bewerber haben bei Einstellungen die besseren Karten, und auch später kommen sie schneller auf der Karriereleiter voran. Die
Erfahrung des Personalchefs spielt bei diesen Entscheidungen übrigens keine Rolle: Ob alter Hase oder blutiger Anfänger, alle lassen sie sich von Schönheit umgarnen.
Ende der 1990er Jahre wurde ein mexikanisches Restaurant in Houston, Texas, für sechs Wochen zum Schauplatz eines Experiments. 51 Kellner und Kellnerinnen hatten sich bereit erklärt, einen Fragebogen auszufüllen, sich von einer zehnköpfigen Jury in Schönheitsklassen aufteilen und tagtäglich ihre Umsätze und Trinkgeldeinnahmen protokollieren zu lassen. Beim Ergebnis mussten vermutlich alle Beteiligten erst einmal schlucken: Wie viel Trinkgeld eine Kellnerin einstreicht, hängt vor allem von ihrer Attraktivität ab, die Servicequalität ist dagegen nicht einmal halb so wichtig. Bei ihren männlichen Kollegen dagegen ist die äußere Erscheinung so gut wie egal, hier zählt fast ausschließlich das freundliche und aufmerksame Auftreten.¹⁰⁹
Bringt Schönheit auch in anderen Berufsfeldern einen geldwerten Vorteil? Einer der ersten Forscher, der sich mit dieser Frage beschäftigt hat, trägt den Namen – ja: Cash. Wie er herausfand, spiegelt sich die Attraktivität eines Angestellten tatsächlich auf seinem Lohnzettel wider.¹¹⁰
Warum Schöne mehr Urlaub machen
1994 versuchten die Ökonomen Daniel Hamermesh von der University of Texas und Jeff Biddle von der Michigan State University in einer groß angelegten Studie mit dem Titel »Schönheit auf dem Arbeitsmarkt«, die Größe des CashEffekts genauer zu bestimmen. Die Forscher griffen dabei auf Daten von verschiedenen Volkszählungen zurück, bei denen nicht nur Angaben zum Einkommen erhoben wurden, sondern die Interviewer die Interviewten auch noch – ohne deren Wissen – in fünf Attraktivitätskategorien einsortiert hatten. Das Ergebnis des statistischen Mammutunternehmens: Das schönste Drittel verdient etwa fünf Prozent mehr als der Durchschnitt, die Reizlosesten müssen einen Abschlag von fünf bis zehn Prozent hinnehmen. Ähnliche Studien aus anderen Ländern bestätigen das Ergebnis: Der Einkommensunterschied zwischen dem attraktivsten und dem unattraktivsten Drittel der Berufstätigen dürfte bei mindestens zehn Prozent liegen. In Zahlen ausgedrückt, bedeutet das – bei dem derzeitigen jährlichen Arbeitseinkommen der Deutschen von 1135 Milliarden Euro –, dass Jahr für Jahr gut 16 Milliarden »schönheitsbedingt« umverteilt werden! 16 Milliarden zusätzlich, die die Mitglieder der oberen Schönheitskaste jedes Jahr für Urlaub, Essen, Kino und Weihnachtsgeschenke ausgeben können.
Vielleicht verhält sich ein Arbeitgeber ja auch einfach nur rational, wenn er die Schönen bevorzugt? Schließlich zeigen Studien, dass Kunden lieber mit attraktiven Mitarbeitern zu
tun haben wollen. Die Gruppe um Daniel Hamermesh ist der Frage in der Werbebranche auf den Grund gegangen. Die Ökonomen rechneten für jede der untersuchten Firmen ihr »Schönheitskapital« aus (basierend auf dem Aussehen ihrer leitenden Angestellten) und setzten es in Beziehung zum wirtschaftlichen Erfolg. Und tatsächlich: Die Unternehmen mit der schöneren Führungsriege waren auch die erfolgreicheren (was Gewinne und Umsatzwachstum angeht). Mit den Gewinnenderen macht man mehr Gewinn. Es könnte also durchaus ökonomischer Rationalität entsprechen, wenn man die Schönen häufiger in Bereichen antrifft, in denen es auf Attraktivität ankommt – in Marketing und Verkauf beispielsweise. Eine »ökonomische Rationalität«, auf die sich vermutlich auch ein bekannter Modediscounter bei seiner Entscheidung berufen haben dürfte, alle Mitarbeiterinnen über fünfzig »auf Entwicklung und Optik« zu überprüfen und den »nicht Passenden nach Abwägung zu kündigen«. Das Argument der besseren Kundenbindung kann jedoch allenfalls die halbe Wahrheit sein. Denn Schöne werden nach Hamermeshs Studie auch dort bevorzugt, wo das Wort »Kunde« ein Fremdwort ist. Vielleicht liegt es ja am Boss, der eben am liebsten schöne Menschen um sich hat? Offenbar nicht, denn auch wo es keinen Boss gibt, gelten dieselben Schönheitsgesetze: Selbstständige spüren ihre Attraktivität genauso am Geldbeutel.¹¹¹
Warum Schönheit zählt
Der Harvard-Ökonom Markus Möbius und Tanya Rosenblat von der Wesleyan University sind der Frage nach dem Ursprung der Schönheitsprämie in einem trickreichen Experiment nachgegangen, dessen Ergebnisse sie 2004 unter der Überschrift »Why Beauty Matters« veröffentlichten. Sie teilten ihre Studenten in zwei Gruppen ein – »Arbeitnehmer« und »Arbeitgeber« – und ließen die beiden ein Spiel miteinander spielen. Die Arbeitnehmer hatten am Computer eine bestimmte standardisierte Aufgabe zu lösen, deren Schwierigkeit sich von Runde zu Runde steigerte. Dafür bekamen sie je nach Leistung Punkte gutgeschrieben. Nach jeder Runde standen Gehaltsverhandlungen an. Der Arbeitgeber gab dabei aufgrund der »Bewerbungsunterlagen« – in die sowohl die bisherige Leistung des Kandidaten als auch dessen Erwartung für die nächste Runde einflossen – eine Gehaltsofferte ab. Im Spiel wurde also eine Art virtueller Arbeitsmarkt simuliert. Der Clou am Versuchsaufbau: Ein Teil der Gehaltsverhandlungen beruhte lediglich auf einem schriftlichen Dossier, bei einem anderen Teil wurde dem Arbeitgeber ein Bild des Kandidaten mitgeliefert, und bei einem weiteren Teil verhandelten die Partner am Telefon oder gar von Angesicht zu Angesicht. Bevor wir zu dem beunruhigenden Ergebnis kommen, noch etwas zur Beruhigung: Möbius fand keinen Unterschied in den tatsächlichen Fähigkeiten seiner schönen oder weniger schönen Probanden. Trotzdem wurden die Schönen beim Gehalt klar bevorzugt – was sicherlich niemanden überrascht. Die eigentliche Frage lautete jedoch: Wie genau
kommt diese Bevorzugung zustande? Wie sich zeigte, lief die Schönheitsbevorzugung in dem Experiment über zwei »Kanäle«. Zum einen wurde den Schönen mehr zugetraut – das sattsam bekannte Stereotyp. Aber mindestens genauso stark wirkte sich aus, dass die schöneren Arbeitnehmer über ein höheres Selbstvertrauen und bessere kommunikative Fähigkeiten verfügten, die ihnen bei ihren Gehaltsverhandlungen von Nutzen waren. Schlicht ausgedrückt: Die Attraktiveren waren die besseren Selbstdarsteller.¹¹² Der Faktor Arbeit scheint zunehmend unter den Einfluss des Faktors Attraktivität zu geraten – eine Entwicklung, die durch den Aufstieg der Dienstleistungsbranche noch beschleunigt wird. Das immer größere Gewicht von Marketing, Werbung und PR, bei denen das Aussehen die Überzeugungsarbeit deutlich erleichtert, tut ein Übriges. In dem Maß, wie sich der Homo oeconomicus vom Produzenten zum Verkäufer entwickelt, steigt im »freien Spiel der Kräfte« die Schönheit in den Ring.¹¹³ Nur die Amtsstube leistet hartnäckig Widerstand gegen den Trend zur Armanisierung der Arbeitswelt. Hier haftet allzu viel Attraktivität und Modebewusstsein immer noch der Ruch des Unseriösen an. Nach einer französischen Untersuchung von 1988 achten Frauen im öffentlichen Dienst weniger auf ihre »Silhouette« (wie die Forscher sich ausdrücken), ihre Frisur, Make-up und Parfüm. Der durchschnittliche (französische) Mann im öffentlichen Dienst besitzt fünf Krawatten, ein Angestellter im privaten Sektor dagegen zehn. Nun ist der öffentliche Dienst in Frankreich vielleicht nicht das Maß der Dinge. Aber man hat es ja auch hierzulande gesehen, als die gute alte Post zum »Service Point« mutierte: Die Angestellten sind schicker geworden.
Hünen in Nadelstreifen
Erinnern Sie sich an die Diskussionen um die Volkszählung im Orwell-Jahr 1984? Inzwischen hat sich die Aufregung gelegt, »Big Brother« wird eher mit einer Fernsehsendung zusammengebracht, und für Datenschutz hat man ja jetzt einen Beauftragten. Einer von denen, die von den staatlich generierten Datenströmen profitieren, ist Guido Heineck, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität München. Er nahm sich die Daten vor und untersuchte, welchen Einfluss die Körpergröße auf den Lebensstandard hat. Das Ergebnis: Bei Frauen macht Größe keinen Unterschied, bei Männern jedoch sehr wohl – aber nur, wenn man ein Wessi ist. Für zehn Zentimeter mehr an Körpergröße gibt es vier Prozent mehr Gehalt (aufs Jahr gerechnet also immerhin ein halbes Monatsgehalt). Ein Mann zwischen 1,85 und 1,95 Meter verdient im Schnitt 15 Prozent mehr als sein Kollege unter 1,65 Meter.¹¹⁴ In den Chefetagen sind die Großen unter sich. Nicht einmal jeder zehnte Manager in den führenden deutschen Firmen ist unter 1,80 Meter. Fast die Hälfte misst über 1,90 Meter – zum Vergleich: der deutsche Durchschnittsmann ist 1,77 Meter groß –, und dabei handelt es sich wohlgemerkt um Menschen, die in Bürosesseln sitzen, und nicht um solche, die Bierkisten schleppen oder das Land verteidigen. Der australische Psychologe Paul Wilson ließ 1968 an seiner Universität einen Fremden einen Vortrag halten. Einmal gab er den Gast als Studenten von einer anderen Universität aus, ein andermal als Dozenten und schließlich als einen berühmten Professor der Elite-Universität Harvard. Hinterher
ließ er die Zuhörer jeweils die Größe des Vortragenden schätzen. Dabei wurden dem »Professor« fünf Zentimeter mehr zugemessen als dem »Studenten«. Eine interessante Entdeckung machte der Ökonom Nicola Persico (der selber eher klein von Statur ist). Er nahm sich die Daten von amerikanischen und britischen Langzeitstudien vor und stellte fest, dass die aktuelle Körpergröße als Erklärung für das höhere Einkommen größerer Menschen nicht ausreicht. Es kommt vielmehr darauf an, wie groß die Untersuchten als Jugendliche waren. Persicos Befund bestätigt einmal mehr, was Entwicklungspsychologen über die Entwicklung des Selbstwertgefühls herausgefunden haben: Je früher Jungs in die Pubertät eintreten (und damit ihre Altersgenossen kräfte- und größenmäßig überragen), desto stärker legen sie an Selbstvertrauen zu, und dieser Vorsprung bleibt auch im weiteren Leben bestehen. Hier ist es also wieder: Das Selbstvertrauen, das uns bereits bei den virtuellen Gehaltsverhandlungen der Wirtschaftswissenschaftler begegnet ist. Selbstvertrauen scheint zumindest einer der Schlüssel zur Schönheitsprämie zu sein.
Kennedy, Condi & Co.: Warum wir Schönheit wählen
Am Anfang seiner Karriere hatte John F. Kennedy ein Problem: seine Schönheit. Seine Berater befürchteten, das Wahlvolk könnte sein gutes, jugendliches Aussehen als Zeichen von Unerfahrenheit oder Eitelkeit nehmen. Am 26. September 1960 tritt Kennedy in einem Fernsehstudio in Chicago zu seinem ersten TV-Duell mit Richard Nixon an. 70 Millionen Zuschauer sitzen vor den Bildschirmen und sind begeistert von dem smarten Herausforderer mit dem Jungsgesicht. Hinterher steht fest, dass der Auftritt Kennedy zum Präsidenten gemacht hat.¹¹⁵ Ein neues Zeitalter hat begonnen: Schönheit kann Wahlen entscheiden. Auch in Deutschland mischt seit dem Beginn des Fernsehzeitalters Schönheit kräftig in der Politik mit. Denken wir an Willy Brandt, Helmut Schmidt, Björn Engholm, Petra Kelly (deren Aussehen möglicherweise die Grünen erst ins Parlament gebracht hat) – um nur einige Namen zu nennen. Vergessen wir dabei nicht, dass die entscheidenden Weichen einer Politikerkarriere in jungen Jahren gestellt werden. Selbst Helmut Kohl war in seinen Zeiten bei der Jungen Union nicht unattraktiv. Wahlkämpfe sind zunehmend PR-Schlachten, in denen vor allem zählt, wie der Kandidat »rüberkommt«. Inhalte sind dagegen zweitrangig. Beispiel George W. Bush. Man wagt es ja kaum zu sagen, aber er ist ein attraktiver Mann, auch er hat diesen jungenhaften Kennedy-Touch, den die Frauen lieben. Bei dem extrem knappen Ausgang seiner ersten Präsidentschaftswahl ist es sicher nicht zu weit hergeholt,
wenn man Bushs Wahlsieg – und damit den Irakkrieg – seinem Aussehen zuschreibt. Und schauen wir uns sein Kabinett an: lauter ansehnliche Leute, die einzige Frau an vorderster Front – Condoleezza Rice – sogar eine echte Schönheit (so wie auch ihr Vorgänger Colin Powell ein attraktiver Mann war). Der Trend zu einer schöneren Regierungsbank kann sich auf wissenschaftliche Fakten stützen. In einer kanadischen Studie teilten Forscher die Kandidaten zu den Parlamentswahlen vorab in drei Attraktivitätskategorien ein und stellten nach den Wahlen fest, dass die Schönsten fast dreimal mehr Stimmen erhalten hatten als die Unattraktivsten. Wer Politik macht, verkauft Meinungen, und Schönheit hilft dabei.¹¹⁶ Wir halten die Schönen für kompetenter, vertrauenswürdiger und überzeugender. Entsprechend setzen diese sich in Diskussionen auch eher durch, reden länger, werden seltener unterbrochen und erfahren mehr Zustimmung. Selbst Lügen kaufen wir ihnen eher ab.¹¹⁷
Weshalb die Reichen die schöneren Kinder haben
Erinnern Sie sich an den Film Pretty Woman, die Aschenputtel-Geschichte aus dem Jahr 1990? Armes Straßenmädchen trifft Millionär – nicht unbedingt eine Geschichte, die das Leben schreibt. Gleichwohl ist das Drehbuch selbst für den nüchternen Wissenschaftler nicht aus der Luft gegriffen. Eine der ersten Studien zum Thema »Soziale Mobilität via Attraktivität« begann Anfang der dreißiger Jahre in einer Schule in Oakland, Kalifornien. Ein paar Jahre lang beobachteten Pädagogen die Mädchen der sechsten Klasse und bewerteten sie dabei u. a. nach ihrer Schönheit. 1958 spürte der amerikanische Soziologe Glen Elder die inzwischen Mittdreißigerinnen wieder auf. Er interessierte sich dafür, ob sich aus den damaligen Unterlagen irgendwelche »Prädiktoren« ergaben, Faktoren also, mit denen sich der Lebensweg der Mädchen hätte vorhersagen lassen. Das Ergebnis: Der gesellschaftliche Status der Frauen – das hieß damals: der Status ihrer Männer – hing weder von ihren schulischen Leistungen noch von ihrer späteren Ausbildung ab, sondern schlicht und ergreifend von ihrem Aussehen. Diejenigen, die außergewöhnliche Sprünge in der sozialen Hierarchie gemacht hatten, waren auch als Mädchen die außergewöhnlich auffälligen Erscheinungen gewesen. Die Soziologen Richard Udry und Bruce Eckland kamen 1982 zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Sie interviewten 1300 Männer und Frauen fünfzehn Jahre nach deren HighschoolAbschluss. Je attraktiver das Foto der Frau im Jahrbuch der Klasse war, desto gebildeter und reicher war ihr späterer
Mann. Für Männer ließ sich ein solcher Zusammenhang nicht feststellen, im Gegenteil: Je attraktiver sie waren, desto ungebildeter war die Frau an ihrer Seite! Bei einer Frau entscheidet Schönheit nicht nur darüber, welche Partie sie macht, sondern ob sie überhaupt mit von der Partie ist. Unattraktive Frauen haben deutlich schlechtere Heiratschancen, vor allem dann, wenn sie stark übergewichtig sind. Merkwürdigerweise scheint Übergewicht bei Männern weniger nachteilig zu sein. Nach einer neueren Studie leben schwergewichtige Männer sogar eher überdurchschnittlich häufig in einer festen Beziehung! Wenn die Liaison der Schönen und der Reichen Folgen hat, dann diese: Die Kinder kommen nicht nur aus dem »besseren« Elternhaus, sondern haben auch – von der Mutter – die bessere Schönheitsmitgift geerbt. Ein doppelter Vorteil, der sich beispielsweise in einer deutschen Studie an 15bis 16-Jährigen aus dem Jahr 1979 ablesen lässt: Die Kinder aus Mittelschichtfamilien wurden als attraktiver beurteilt als Kinder ärmerer Eltern. Auch Glen Elder notierte in seiner Studie, dass die Mädchen aus der Unterschicht im Allgemeinen weniger attraktiv waren als die aus besser gestellten Familien. Wer schön ist, hat also gute Chancen, auch zu den Reichen zu gehören, und offenbar zeigt sich das auf jedem Pausenhof.
Bonität durch Attraktivität
Helfen Sie einem Mädchen, ihren Pullover auszufüllen! Falls das den Samariter in Ihnen weckt, können Sie auf der Internetseite www.giveboobs.com eine gute Tat tun. Dort sammelt die 23-jährige Michelle Geld für eine (inzwischen erfolgte) Brustvergrößerung. Sie ist eigentlich nicht unzufrieden mit ihren kleiner ausgefallenen Maßen, trotzdem schreibt sie: »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich finde meine Figur ganz o. k. Ich bin keine brustfixierte Psychopathin! Aber: Haben Sie jemals eine Extraportion Käse auf Ihre Pizza haben wollen? Dann werden Sie mich verstehen!« Wahrscheinlich weiß Michelle nicht viel von einem Denker namens Aristoteles, aber bei ihm hätte sie sich mit einem mindestens ebenso schlagkräftigen Argument munitionieren können. »Das Recht zu befehlen gebührt den schönen Menschen«, schreibt der griechische Philosoph, »und wenn es unter ihnen welche gibt, deren Schönheit jener der Götterstatuen nahe kommt, so steht ihnen auch die gleiche Verehrung zu.« Michelle hat das Prinzip verstanden: Mit der Vermehrung der Oberweite steht ihr, wenn auch nicht gleich mehr Verehrung, so doch mehr Aufmerksamkeit zu (und erst recht die Extraportion Käse auf der Pizza). Letztlich ist das Leben ein Markt und Schönheit ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt. Willst du was, musst du was geben. Die einen zahlen cash, die anderen mit der Kreditkarte Schönheit. Wer mit einem angenehmen Äußeren gesegnet ist, hat schlichtweg mehr Bonität und sammelt damit überall die
kleinen alltäglichen Vorteile ein, die das Leben leichter machen: mehr Aufmerksamkeit, hier und da ein Lächeln, wo andere auf verschlossene Gesichter treffen, die höflichere Behandlung am Ticketschalter, bereitwilligere Hilfe, mehr Konzilianz bei der Steuerprüfung. Von den »großen Dingen« ganz zu schweigen: bessere Chancen im Bewerbungsgespräch, höhere Gehälter, mehr Stimmen bei der Wahl, mehr Auswahl bei Freundschaften und in der Liebe. Wer schön ist, wird schon als Kind mit offeneren Armen empfangen, wird seltener von einem Spiel ausgeschlossen, weniger gehänselt, gemobbt und verprügelt, und diese wärmere Behandlung setzt sich im weiteren Leben fort. Kurzum: Wir leben in einer von Schönheit bestimmten Klassengesellschaft, nur wir merken es nicht.
Anatomie einer Klassengesellschaft
Für Ökonomen wie Sara Solnick von der University of Miami und Maurice Schweitzer von der University of Pennsylvania gleicht die Gesellschaft einem großen Basar. Wo wir gehen und stehen, sind wir – meist unbewusst und unterschwellig – am Verhandeln. Wie aber kommt es, dass die Schönen dabei fast immer mehr für sich herausholen? Fordern die Unattraktiven einfach weniger? Oder wird ihnen weniger angeboten? Zur Klärung der Frage haben die Ökonomen wieder mal zum Spiel gebeten. Hier die Regeln: Je zwei Spieler verhandeln um die Aufteilung einer Summe Geldes (in unserem Fall 10 Euro) – beispielsweise Sie und ich. Da ich Ihnen für den ersten Zug freundlicherweise den Vortritt lasse, sind Sie als Erstes dran, mir ein Angebot zu unterbreiten. Sie schreiben etwa auf einen Zettel: 4 Euro für Renz. Gleichzeitig notiere ich mir die Mindestsumme, ab der ich bereit bin, Ihr Angebot anzunehmen, sagen wir mal 2 Euro. Ist Ihr Angebot nun, wie in diesem Fall, höher als meine Mindestforderung, teilen wir uns das Geld nach Ihrem Vorschlag (Sie bekommen also 6 Euro und ich 4). Wenn ich allerdings mehr von Ihnen fordern würde, als Sie mir geben wollen (in unserem Beispiel also mehr als 4 Euro), verfällt für uns beide der Gewinn. Um das von Professor Solnick gefundene Ergebnis vorwegzunehmen: Mit wie viel Geld in der Tasche wir uns nach ein paar Runden trennen werden, hängt davon ab, wie attraktiv Sie sind. Im »echten« Experiment (bei dem die Kandidaten beim Spielen jeweils mit dem eingeblendeten Foto ihres Gegenübers am Computer verhandelten) »verdienten« die
Schönen acht bis zwölf Prozent mehr als die weniger Schönen.¹¹⁸
Bei der Suche nach einer Erklärung für dieses Ergebnis stießen die Forscher auf eine interessante Spur: Die Schönen unterscheiden sich in ihren Angeboten und Forderungen im Prinzip nicht von den weniger Schönen. Es sind die anderen, die sich gegenüber den Schönen anders verhalten – nämlich großzügiger: Sie bieten ihnen im Durchschnitt einen größeren Teil vom Kuchen an. Die Schönen herrschen also mit unserem vollen Einverständnis.
Das bevorzugte Geschlecht
Als Julia Roberts alias Erin Brockovich ihrem Chef das Geheimnis ihrer unerwarteten Rechercheerfolge erklären soll, wirft sie sich ins Hohlkreuz und antwortet: »Hey, wozu hab ich eigentlich Titten?« Frauen profitieren von ihrer Schönheit und setzen sie auch ein, so lautet das gängige Klischee – und es ist nicht einmal falsch. Bei den kleinen Dingen des Alltags haben attraktive Frauen tausend Vorteile. Wie groß ist aber die weibliche »Schönheitsdividende«, wenn es um Karriere und Gehalt geht?¹¹⁹ Der Frage gingen Madeline Heilman und Melanie Stopeck von der Columbia University Business School in einer Aufsehen erregenden Studie nach. Für den Mann fällt die Antwort, wir wissen es schon, eindeutig aus: Gutes Aussehen ist der Treibsatz für die Karriere. Und bei der Frau? Auch ihr hilft Schönheit – aber nicht immer. Wenn sie sich nämlich für eine Führungsposition bewirbt, trifft sie nicht selten auf das Vorurteil, sie wäre nur dank ihres guten Aussehens so weit gekommen. Bei Bewerbungen für TopPositionen werden deshalb eher die Reizloseren bevorzugt. Einen möglichen Grund für die Diskriminierung der Schönen sehen die Forscherinnen darin, dass gut aussehende Vertreter beider Geschlechter stärker »sexuell typifiziert«, d. h. als Mann oder Frau wahrgenommen werden. Und im Businessumfeld dürfte das der Frau eher zum Nachteil gereichen, da ihr klassischerweise weniger Durchsetzungskraft zugeschrieben wird.
Die Studie ist mittlerweile über zwanzig Jahre alt, und die Zeiten, in denen Führungspositionen noch reine Männerdomäne waren, haben sich in vielen Branchen geändert. Ganz verschwunden ist das Stereotyp von der schönen, aber leider inkompetenten Frau sicher noch nicht, wie die Mannheimer Soziologin Anke von Rennenkampff anhand von simulierten Bewerbungsgesprächen nachgewiesen hat. Besonders weiblich und attraktiv wirkende Bewerberinnen kamen häufiger ins Kreuzverhör. Die strenger, maskuliner und weniger attraktiv wirkenden Anwärterinnen bekamen dagegen eher Raum, sich über ihre Erfolge zu verbreiten. »Hauptsache nicht zu sexy, damit ja kein Zweifel an der Kompetenz aufkommt«, empfiehlt dementsprechend auch die Wirtschaftswoche ihren Leserinnen beim Thema Businessmode. Personalprofis raten Frauen beim Outfit konsequent zur maskulinen Aufrüstung, und das wird offenbar auch beherzigt: Je weiter man in den Etagen nach oben kommt, desto mehr sieht die Frau wie ein umgebauter Mann aus. Sie verliert Farben und Formen, steckt in einem grauen »Powersuit« und hat die Haare gebändigt. Wer jetzt aber denkt, dass im Beruf Kleidung vor allem für die Frau wichtig ist, irrt sich gewaltig! Das modische Auftreten des Mannes ist immer noch viel stärker reglementiert als das der Frau, und somit stehen für ihn auch mehr Fettnäpfchen bereit. Dennoch: Weibliche Schönheit entfaltet im Job durchaus Wirkung. In der schon erwähnten Studie von Daniel Hamermesh ist der an Frauen ausgeschüttete Schönheitsbonus fast genauso hoch wie der an Männer gehende. Das schönste Drittel der Männer verdiente fünf Prozent mehr als der Durchschnitt, bei den Frauen waren es vier Prozent. Beim »Hässlichkeitsmalus« gibt es jedoch
deutliche Unterschiede: Die unvorteilhaftesten Männer müssen einen Abschlag von zehn Prozent hinnehmen, Frauen dagegen »nur« einen von fünf Prozent.¹²⁰ In Sachen Übergewicht scheinen wiederum Frauen gegenüber Männern deutlich benachteiligt zu sein.¹²¹ Von den stark übergewichtigen Frauen finden viele nie einen festen Job, ganz im Gegensatz zu fettleibigen Männern – ein Faktum, das seine Entsprechung in der Benachteiligung von Männern mit Glatze findet.¹²²
Das Martyrium der Hässlichen
»Hässlich freilich nennen wir jemanden, wenn er drei Augen hat, ebenso wie den, der nur eines besitzt«, schreibt im 13. Jahrhundert Wilhelm von Auvergne in seinem Traktat über das Gute und das Böse. Menschen neigen dazu, jede Abweichung von der Norm reflexartig als »abartig« zu empfinden. Wer anders aussieht als die anderen, ist »aus der Art geschlagen«. In der Antike wurden alle Kinder, die irgendwie missgebildet waren, einfach ausgesetzt, ertränkt oder verbrannt. In den Kulturen, in denen Kindstötung üblich ist, trifft es in der Regel diejenigen, die irgendwie von der Norm abweichen. Im Benin beispielsweise gelten noch heute die Kinder als verhext (und werden dem Tod überlassen), deren Zähne in der »falschen« Reihenfolge durchbrechen. Es gehört zum festen Inventar an kollektiven Vorurteilen, dass die Hässlichen von Gott oder den guten Geistern verlassen sind. Im Mittelalter galten große Warzen und Muttermale als Eintrittspforten des Bösen und wurden von der Inquisition als Beweis dafür gesehen, dass das Opfer vom Teufel besessen war. Es ist schon ein Zeichen von humanistischem Fortschritt, wenn der französische Arzt Jean Riolan 1605 schreibt: »Man muss die Abnormalen, Zwerge, Makrozephalen, Sechsfingrigen etc. nicht töten, es reicht, sie vor den Blicken der anderen wegzuschließen.« Später kommen solche Geschöpfe dann als Kuriositäten in den Zirkus oder werden auf dem Jahrmarkt ausgestellt. Hässlichkeit entmenschlicht. Jemanden hässlich zu machen ist deshalb eine Waffe, die gerne gegen Minderheiten eingesetzt wird – denken wir nur an die Hetze der Nazis
gegen die Juden oder der weißen Rassisten gegen Schwarze. Schon im Alten Testament sind die »Aussätzigen«¹²³, zu denen nicht nur Lepröse, sondern auch mit Hautkrankheiten jedweder Art geschlagene Menschen gehören, zu einem Leben außerhalb der Gesellschaft verdammt. Eine Reise in Drittwelt-Länder stellt uns heute noch vor Augen, was es bedeutet, wenn Impfungen, z. B. gegen Kinderlähmung oder Masern, nicht verfügbar sind. Bis zu ihrer Ausrottung vor gut dreißig Jahren haben die Pocken weltweit Millionen von Menschen entstellt (ihnen »ihr Gesicht genommen«, wie es auf Französisch treffend heißt). Von hundert Menschen starben im 18. Jahrhundert 13 bis 14 an Pocken, genauso viele blieben ihr Leben lang von den Spuren der Krankheit gezeichnet. Zu solch infektionsbedingten Entstellungen kamen die Versehrungen durch Kriege, Arbeitsunfälle, ernährungsbedingte Krankheiten wie Rachitis, angeborene Erkrankungen wie Gaumenspalten, gegen die es noch kein Mittel gab. »Unattraktive Menschen sollten immer eine Maske tragen«, heißt es in einem der am weitesten verbreiteten Schönheitsratgeber der Renaissance. Hässlich zu sein war ein Delikt, das je nach Epoche mit Verschleiern, Wegschließen oder dem Scheiterhaufen bestraft wurde. Noch im Amerika der 1970er Jahre gab es in einigen Städten so genannte Ugly laws, die es der Polizei erlaubten, Leute mit »unansehnlichem Äußeren« von der Straße weg zu verhaften.
Abb. 35: Pieter Brueghel der Ältere: »Die Krüppel«, Paris, Musée du Louvre.
Der Mensch und seine Monster
Jede Gesellschaft hat ihr eigenes Verhältnis zur Schönheit und damit auch zu deren Schatten, der Hässlichkeit. So wie jede Epoche ihre eigenen Schönheitsikonen hat, hat jede auch ihre eigenen Monster, die das kollektive Unbewusste bevölkern. Neben den – selbstverständlich »göttlich« schönen – Göttern treiben sich auf dem Olymp auch einige Missgestalten herum und sorgen für reichlich Ärger. Sie wiegeln die Menschen auf, bringen alles durcheinander – haben also durchaus eine gewisse Macht. Die pittoresken Schattengestalten des Götterhimmels sind nicht etwa nur eine heidnische Spezialität. Auch das Christentum hat seine Monster. Das Mittelalter ist sogar geradezu besessen von ihnen, erfindet ganze Heerscharen an Phantasiewesen, malt sie in liebevollen Details aus und klassifiziert sie in so genannten Bestiarien, einer Art von Bestimmungsbuch für Monster. Die Menschen glauben an die Fabelwelt des Grauens genauso wie an Engel, Heilige und ihre Wundertaten. Dabei müssen die Monster nicht einmal unfreundlich sein. In der frühchristlichen Zeit ist Satan voller Grazie. Noch im 13. Jahrhundert sind die Monster eher Monsterchen – niedliche pullernde Fratzen an den Kirchenfassaden, mehr zum Lachen als zum Fürchten.¹²⁴ Das wird vom 14. Jahrhundert an anders. Europa wird von Düsternis erfasst, die Pest rafft ein Drittel der Bevölkerung dahin, das Kirchenschisma erschüttert die Seelen. Die Monster werden apokalyptisch. In ganz Europa tauchen in der Kunst infernalische Horrorszenen auf, wie auf den Gemälden von Hieronymus Bosch (1450–1516) oder
Brueghel dem Älteren (1530–1569), Visionen, die nicht als »schön« empfunden werden und die Menschen doch unwiderstehlich in Bann schlagen (siehe Abb. 36). Eine eigenartige Faszination scheint von den Monstern auszugehen, ein Grauen, das gleichzeitig abstößt und anzieht.
Abb. 36: Hieronymus Bosch: Antoniusaltar, Triptychon, Mitteltafel: Versuchung des Hl. Antonius, Detail (Lissabon, Museu Nacional de Arte Antiga).
Ganz besonders kultiviert wird dieses Gruselgefühl in der Romantik. Mit dem Horrorroman entsteht ein völlig neues Genre, das heute noch floriert. Frankenstein, 1818 erschienen, wurde bis heute rund 30-mal verfilmt. Der Held ist in der Seele gut, obwohl er so hässlich ist, dass sein Schöpfer vor ihm flieht. In Victor Hugos Glöckner von NotreDame findet sich dasselbe tragische Leitmotiv: Das gute Monster opfert sich für die schöne Esmeralda. Und wo zeigt sich ergreifender als im Phantom der Oper, dass ein mitfühlendes Herz auch in einem hässlichen Körper schlagen kann? Auch in unserer Zeit entfaltet das Hässliche seinen zwiespältigen Zauber. Die »Postmoderne« als Kunstepoche ist förmlich dadurch definiert, dass sie das Gefällige ablehnt und sich zu dessen Gegenpol hingezogen fühlt: dem Problematischen, Schweren, Komplizierten, Kranken, Schockierenden, Hässlichen. Es ist fast so, als ob man der Schönheit überdrüssig geworden wäre. Eine Gegenbewegung, sicher nicht für alle Ewigkeiten, aber notwendig wie ein Fernweh. Wer im allzu Bekannten zu ersticken droht, muss aufbrechen, ausbrechen. Gerade weil wir als biologische Wesen auf Schönheit geprägt sind, zelebrieren wir als Kulturwesen die Ambivalenz zu ihr, löcken wider den Stachel, zerren am Gängelband unseres evolutionären Erbes und trotzen uns so das bisschen an Freiheit ab, das uns erst zum Menschen macht.
11 Selbsttäuschung als Programm? Im Märchen sind die Guten schön und die Bösen hässlich. Wenn man Kindern eine Geschichte erzählt und dazu Bilder zeigt, die nicht in das Schema vom schönen Helden und hässlichen Bösewicht passen, fällt es ihnen schwerer, die Handlung zu verstehen. Man könnte fast meinen, wir hätten irgendeine Schaltung in unserem Hirn, die uns reflexartig das Schöne mit dem Guten, Angenehmen und Unbedenklichen zusammenbringen lässt, das Hässliche dagegen mit allem, was böse, gefährlich und ansteckend ist. Dementsprechend behandeln wir die Menschen auch. Und verstoßen damit, meist ohne es zu merken, gegen unsere ureigensten Überzeugungen: dass man eben nicht nach dem Äußeren gehen sollte, dass es auf das Herz ankommt und nicht auf die Hülle. Sind wir mit diesem paradoxen Programm etwa auf die Welt gekommen? Oder haben wir das fatale Stereotyp von unseren Eltern übernommen? Oder von den Medien? Beginnen wir unsere Spurensuche ganz an den Anfängen unserer Kultur, im klassischen Griechenland, bei einem Mann, der zu Recht als derjenige gilt, der Schönheit zum philosophischen Problem gemacht hat.
Schön und gut. Die Geschichte eines Missverständnisses
»Was ist das Schöne?« – Immer wieder kam Platon im Kreis seiner Denkerkollegen mit dieser Frage an. »Ein schönes Mädchen ist schön«, antwortet ihm ein gewisser Hippias zu Beginn des berühmten Streitgesprächs Hippias major. »Du hast wie immer Recht«, entgegnet darauf Platon, »aber auch eine schöne Stute ist schön.« Auch das gibt Platons Kontrahent mit Freuden zu, der gar nicht merkt, wie er aufs Glatteis geführt wird. »Auch eine schöne Leier«, fährt Platon fort, »eine schöne Kanne« usw. – bis Hippias zähneknirschend zugeben muss, dass er vielleicht doch nicht so genau weiß, was das Schöne ist. Immerhin einigen sich die beiden Philosophen am Ende darauf, dass auch das schönste Mädchen, verglichen mit einer Göttin, hässlich ist, »sowie der schönste Affe hässlich ist, mit dem menschlichen Geschlecht verglichen«. Affe – Mensch – Gott. Hier klingt schon an, was Platon später in seinem berühmten Gastmahl als Lösung für das Problem des Schönen präsentiert: seine Stufenleiter des Schönen. Ganz unten, am Fuß der Leiter, steht die Schönheit der irdischen Dinge, allen voran die Schönheit des menschlichen Körpers, welche jedoch von der Schönheit der Seele weit in den Schatten gestellt wird. Auf der nächsten Stufe folgen die »schönen Sitten und Lebensweisen«, doch noch höher stehen – man ist ja nicht umsonst Philosoph – »die schönen
Kenntnisse«. Aber auch Wissen ist nicht alles. Ganz oben, erstrebenswerter noch als alle dem Menschen mögliche Weisheit, regiert das größtmögliche Glück überhaupt: die Erkenntnis der Schönheit selbst. Ebendiese Idee der Schönheit – das ist der springende Punkt – ist gleichzeitig die höchste Wahrheit und das Gute an sich. Das Schöne lässt sich vom Guten so wenig trennen, dass Platon dafür einen einzigen Begriff verwendet: Kalokagathia, oft übersetzt als das »Zusammenfallen von Schönheit und Güte«. Das Schöne ist das Gute – und umgekehrt. Hier findet nun das Streitgespräch mit Hippias doch noch seine Lösung. Das Schöne ist eben nicht irgendeine Eigenschaft, die einem Gegenstand anhaftet (dem schönen Mädchen, der Stute oder der Vase), sondern es ist die Idee des vollkommenen Schönen, die in den schönen Dingen mehr oder weniger zum Vorschein kommt, die aber selber unendlich viel größer und schöner ist als jeder irdische Gegenstand. Ihr gegenüber, so Platon, verblassen selbst Gold, Schmuck und die »schönen Knaben und Jünglinge«. Das Schöne ist zu einer metaphysischen Wesenheit geworden.
Mittelalter: Schönheit wird göttlich – und gefährlich
Platons Idee wurde vom transzendenzsüchtigen Mittelalter begierig aufgegriffen und sollte ihm ihren Stempel aufdrücken: Im Schönen manifestiert sich Gott. Kein Wunder, dass man die christlichen Heiligen – wie seinerzeit die Heroen des griechischen Götterhimmels – zu Ausgeburten an Schönheit stilisierte. Paulus etwa, von dem es in zeitgenössischen Schriften heißt, dass er klein und kahl war, erscheint in den frühchristlichen Heiligenlegenden als Mann »voll Anmut«. »Sein Antlitz schien wie das eines Engels.« Platon lässt grüßen. Die Vergötterung der Schönheit zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Mittelalter. Das Äußere wird als Spiegel des Inneren gesehen. Der Engel Luzifer galt als der schönste aller Engel, als Teufel wurde er dann zum Ausbund an Hässlichkeit. Auch in den weltlichen Sagen und Liedern des Mittelalters kommt die Verbindung zwischen Aussehen und Charakter wie ein Naturgesetz daher. Aber das Christentum wäre nicht das Christentum, wenn es mit dem von den Heiden überkommenen Erbe nicht auch ein Problem hätte. Ein Heidenproblem. Die von Platon begründete Verehrung der Schönheit prallt mit voller Wucht auf die im Neuen Testament kultivierte Verachtung des Körpers. Das Wort »schön« oder »Schönheit« kommt im Neuen Testament nicht ein einziges Mal vor. Paulus erklärt das »Fleisch« sogar rundheraus für sündig.¹²⁵ Andererseits ist der Mensch das Ebenbild Gottes, und damit ist auch sein Körper göttlich.
»Wisset ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist?«, fragt Paulus im Korintherbrief.¹²⁶ Das christliche Verhältnis zur Schönheit wird zum dialektischen Hochseilakt. Schönheit ist göttlich, der Körper aber sündig – zumal der weibliche (weshalb Maria unbefleckt empfangen musste). Wahre Schönheit ist nur die innere Schönheit.¹²⁷ Für Augustinus, einen der prägenden Denker des Mittelalters, ist Schönheit zwar eine »Gabe Gottes« (corporis donum dei), aber er schränkt diese positive Wertung schnell wieder ein. Sie ist nur ein »minderes Gut« (bonum minimum), da nicht nur die Guten, sondern auch die Bösen daran teilhaben. Noch radikaler denkt der Kirchenvater Johannes Chrysostomus: Es sei fast unmöglich, dass in einem schönen Körper eine schöne Seele wohne, denn pflege man das eine, vernachlässige man das andere. Für ihn ist Schönheit ein »süßes Gift«, ein Hindernis auf dem Weg zum Heil.¹²⁸ Werden die weiblichen Mitglieder der Heiligenkaste beschrieben, bemüht man sich bei den körperlichen Attributen um Knappheit; allenfalls wird erwähnt, »dass das Innere noch schöner war als das Äußere«. Bezeichnenderweise hat die jüdische Tradition mit der Schönheit ihres weiblichen Personals überhaupt keine Probleme, im Gegenteil: In den Erzählungen des DiasporaJudentums wird die Schönheit von Judith, Ester oder Susanna geradezu stolz vorgeführt. Als Retterinnen ihres Landes können sie gar nicht schön genug sein, denn Schönheit ist ein Zeichen der Erwählung. Umso mehr Probleme hat man mit der Hässlichkeit Leas, die immerhin die Stamm-Mutter von sechs Stämmen ist. Das rühre vom vielen Weinen, so ein Erklärungsversuch, nachdem Lea
erfahren habe, dass sie Esau und nicht Jakob zur Frau gegeben werden soll. Das Christentum dagegen quält sich mit der Frage herum: Wie »schön« darf Jesus sein? Zeitweilig wird Christus als durchgeistigter Schmerzensmann dargestellt, dann wieder als Inkarnation der Sinnlichkeit, der »Schönste der Sterblichen«, in Renaissance und Barock gerne auch muskelbepackt (siehe Abb. 37), zuweilen sogar mit einer (stoffverhüllten) Erektion.
Abb. 37: Tizian: Auferstehung Christi (AveroldiAltarpolyptychon), Mitteltafel: Auferstehung Christi (Brescia,
San Nazzaro e Celso).
Dasselbe Hin und Her bei den Mariendarstellungen. Mal ist Maria die züchtige Jungfrau oder asexuelle Mutter, dann wieder eine attraktive Frau, umgeben von den sexuellen Symbolen aus dem Hohelied: Quell, Brunnen, Zeder, Lilie, Rose. Auf die Spitze getrieben wird das Doppelspiel zwischen »Mutter Gottes« und »Tochter Evas« bei Maria Magdalena, der »Sünderin«, in der heidnische Triebhaftigkeit und christliche Triebunterdrückung zusammenfallen (siehe Abb. 38). Auf den Bildern ist sie selbst als Büßerin sexy¹²⁹ – eine Figur, die so manchen männlichen Betrachter in größte Verwirrung gestürzt haben dürfte, wie etwa den armen Adson in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose. Immerhin waren vor der Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert die Heiligenbilder in den Kirchen die einzigen Darstellungen des menschlichen Körpers. Wie viel geheime Liebessehnsucht einsamer Jünglinge und Mönche muss ihnen zugeflossen sein? Wie viele verstohlen lüsterne Blicke haben ihre Körper abgetastet, die hohen geschwungenen Brauen, den rosigen Mund, die zarten Brüste …
Abb. 38: Tizian: Büßende Maria Magdalena (Florenz, Palazzo Pitti).
Kreuzzug gegen die Schönheit
Das »Problem« mit der Schönheit war natürlich zuallererst ein Problem der keuschen Kaste, später dann auch der protestantischen Fundamentalisten und Moralapostel jedweder Provenienz. Das »Volk« dürfte sich für theologische Winkelzüge à la »unbefleckte Empfängnis« nie wirklich begeistert haben, und selbstverständlich hatte der vom Klerus ausgerufene Kreuzzug gegen die sinnliche Schönheit nicht den Hauch einer Chance. Die Menschen taten weiterhin, was sie immer taten – allenfalls hatten sie jetzt ein schlechtes Gewissen dabei. Die überkommene Gleichsetzung von »gut« und »schön« erwies sich als unausrottbar. In der Renaissance, in der Platon und das Griechentum wieder hoch im Kurs stehen, wird die Fahne des Schönheitsstereotyps erst recht hochgehalten. »An sich ist nichts wahrscheinlicher, als dass eine Übereinstimmung zwischen Geist und Körper besteht«, schreibt Montaigne in seinen Essais. Er kann es kaum verwinden, dass Sokrates, für ihn der Inbegriff einer schönen Seele, so hässlich gewesen sein soll, und hat dafür keine andere Erklärung als die, dass »irgendeine Entwicklung … den normalen Gang unterbrochen hat«. Es bedurfte eines kleinen Königsberger Gelehrten namens Immanuel Kant, um den ewigen Zank um den moralischen Wert der Schönheit für absurd zu erklären. Mit einem Federstrich erledigte er sowohl Platons Schönheitskult als auch die Schönheitsverachtung von dessen Gegnern. Das Schöne ist schön, das Gute gut – und damit basta. Kants Bannfluch über die Verquickung von ästhetischem und
moralischem Urteil eroberte in Windeseile den philosophischen »Diskurs« und gehört heute zum philosophischen Mindeststandard. Und? Hat sich dadurch irgendetwas geändert? Mitnichten. (»Immerhin hat es mal einer gesagt«, könnte man die Kant’sche Erkenntnis überschreiben, wie so vieles in der Philosophie.) Unbeeindruckt von den Nachstellungen der Aufklärung, segelt unser Stereotyp weiter durch die Zeiten, und auch heute, wo es längst ins Fadenkreuz der harten Wissenschaft geraten ist, lässt es keine Anzeichen von Schwäche erkennen. In jedem Hollywoodfilm können wir uns davon überzeugen. Ob geschossen oder geküsst wird, wir können sicher sein, dass die Zuordnung des Guten und des Bösen dem Schema entspricht, das wir so lieben.¹³⁰
Andere Völker, andere Sitten?
Nun wäre es sicher übertrieben, Hollywood als den Gipfel der abendländischen Kultur zu bezeichnen, aber umso mehr drängt sich die Frage auf, ob wir es mit einem spezifisch abendländischen Phänomen zu tun haben. Haben nur wir hier im Westen den Tick, Schönheit mit Güte und Göttlichkeit gleichzusetzen? Fast alle Religionen kennen ein Paradies, und immer ist es der Ort der Schönheit, zu dem nur die Guten Zutritt haben. Im Islam hat jeder (Mann), der es bis hierhin geschafft hat, ein Anrecht auf 72 großäugige Frauen »mit schwellenden Brüsten«, die »weder Mensch noch Dschinn entjungfert hat«. Sie sind »so strahlend schön, wie wenn sie aus Hyazinth und Korallen wären«.¹³¹ Dagegen werden in den jeweiligen »Höllen« wahre Hässlichkeitsorgien gefeiert. Haben wir es beim Schönheitsstereotyp etwa mit einem weltumspannenden Phänomen zu tun? In den neunziger Jahren untersuchte Karen Dion, eine der »Erfinderinnen« des Halo-Effekts, chinesische Studenten aus Torontos Chinatown. In einer Kultur wie der asiatischen, so Dions Vermutung, in der die Gemeinschaft und nicht das Individuum im Mittelpunkt steht, müsste das Stereotyp weniger ausgeprägt sein. Schönheit des Einzelnen dürfte hier schlichtweg nicht so wichtig sein. Das Ergebnis ihrer Untersuchung bestätigt diese Annahme – allerdings nur zum Teil: Die »traditionell ausgerichteten« chinesischen Studenten verbinden Schönheit tatsächlich weniger hartnäckig mit Nettigkeit, Kontaktfreudigkeit und Offenheit. Bei der Zuschreibung von Erfolg und Fähigkeiten
zu den attraktiveren Zeitgenossen gibt es dagegen keinerlei Unterschiede zu den westlichen Individualisten. Eine ähnliche Untersuchung in Korea zeigte, dass dort vor allem die koreanischen Nationaltugenden stark mit Schönheit verknüpft werden: Sorge um andere und Rechtschaffenheit. Das Schönheitsstereotyp scheint also keine westliche Spezialität zu sein. Nur seine Inhalte unterscheiden sich von Kultur zu Kultur.
Nichts als Worte?
Platon war nicht der Erste, der das Gute und das Schöne sprachlich nicht auseinander halten konnte. Auch das erfolgreichste Buch der Geschichte musste hier mit einem einzigen Begriff auskommen. »Er sah, dass es gut war«, heißt es in der deutschen Version des biblischen Schöpfungsberichts. Hätte Martin Luther die Stelle mit »Er sah, dass es schön war« übersetzt, wäre das genauso richtig gewesen, denn »schön« und »gut« sind im Hebräischen ein und dasselbe Wort.¹³² In vielen afrikanischen und amerikanischen Sprachen herrscht derselbe Geiz: Ein einziger Begriff bedeutet »gut« oder »schön«, je nach Kontext. Das Deutsche hat hier zwar wie die meisten Sprachen zwei verschiedene Wörter, verwendet sie jedoch zum Teil so, als seien sie austauschbar. Wie sagen wir, wenn wir jemandem ein Kompliment machen? – »Gut siehst du aus!« Schönes Wetter ist für uns dasselbe wie gutes Wetter. »Das hast du aber schön gemacht« heißt: gut gemacht! In Frankreich konnte selbst eine Regierung einmal schön sein. »Unter einer schönen Regierung gebiert die Frau ohne Schmerzen«, rief der Maler David voll revolutionärer Inbrunst im Konvent aus. »Bon« und »beau« klingen im Französischen nicht nur ähnlich, sie gehen auch auf eine gemeinsame lateinische Wurzel zurück.¹³³ Auch die rituellen Masken vieler Naturvölker folgen dem ewigen Prinzip: Die guten Geister sind auch die schönen – und umgekehrt.
In fast allen Sprachen geht das jeweilige Wort für »schön« auf Begriffe zurück, die mit »Licht« und »Glanz« zu tun haben. Unser deutsches »schön« beispielsweise ist aus einer altgermanischen Wurzel hervorgegangen, die »glänzend, rein« bedeutet. (Diese Herkunft klingt etwa noch in unserem Verb »scheinen« an.)
Schon bei Platon zeichnet sich das Schöne durch »Glanz und Strahlkraft« aus – eine Vorstellung, die es dem christlichen Mittelalter ganz besonders antun sollte. Der Heiligenschein gehört deshalb zu den Heiligen wie die Sahne zur Torte. Und selbstverständlich muss er aus Gold sein. Das leuchtende Metall ist im Mittelalter das Symbol der göttlichen Schönheit und deshalb von einer magischen Aura umgeben, mehr Geist als Materie. Die alten Ägypter kannten für Schönheit und Sonnenlicht nur ein einziges Wort – »nfr« –, und hier liegt möglicherweise der Schlüssel zur Urverbindung zwischen Schönheit und Glanz. Seit jeher ist der Mensch auf das lebensspendende Licht der Sonne angewiesen. Alles, was leuchtet, ist damit schön und gleichzeitig gut. Dunkelheit dagegen kann nur schlecht und böse sein. Im Märchen wird das fleißige Mädchen von Frau Holle mit Gold überschüttet, die Faulenzerin dagegen mit Pech. Eine »schwarze Seele« oder ein »schwarzes Herz« gelten uns als Symbole des Bösen.¹³⁴ Das englische Adjektiv »fair« ist für die Verquickung von Schönem, Hellem und Gutem bezeichnend, denn es bedeutet schön, hell, klar, blond in einem – und gerecht. Vom strahlenden Glanz, wir wissen es aus der Putzmittelwerbung, ist es kein weiter Schritt zur Sauberkeit.
Auch dieser Begriff taucht regelmäßig auf, wenn man nach Wortbedeutungen gräbt. Dabei hat »sauber« immer auch eine metaphysische Seite, wie die Reinigungs- und Taufrituale in vielen Religionen eindrücklich belegen. »Pak«, das persische Wort für »sauber«, bezeichnet gleichzeitig den rechtgläubigen Muslim (von daher »Pak-istan«, das »Land der Sauberen«). Auch in unserer Sprache ist das Gute sauber, was sich in Begriffen und Wendungen wie »Saubermann« oder dem »reinen Gewissen« ausdrückt. Makellosigkeit (des Äußeren wie des Inneren) wird oft synonym mit Reinheit gebraucht – denken wir nur an das Sinnbild der jugendlichen Schönheit, die »reine Haut«. Umgekehrt ist der Feind »dreckig« oder ein »Dreckskerl«, »Schwein« etc. Eine solche Verbindung scheint selbst im Hirn von Affen zu existieren. Das Primatenforscher-Ehepaar Gardner brachte in den sechziger Jahren dem Schimpansenmädchen Washoe eine modifizierte Taubstummen-Zeichensprache bei, mit der Washoe nach drei Jahren 85 Wörter ausdrücken konnte. Als sie mit Herrchen und Frauchen einen Zoo besuchte, belegte sie die verschiedenen Affenarten zutreffend mit dem Begriff »Affe«. Rhesusaffen bezeichnete sie jedoch beharrlich als »dirty monkey« – und zwar deshalb, weil sie beim ersten Kontakt von den erwachsenen Rhesusmännchen bedroht worden war. Vorher hatte Washoe »dirty« nur zur Bezeichnung von Fäkalien benutzt. Wenn man weitergräbt, kommt noch etwas ins Spiel: Status. »Schön« hat in vielen Sprachen den Beigeschmack von Herrschaft und Überlegenheit, im Deutschen etwa, wenn jemand »klasse« oder »super« aussieht, oder wenn man einen schönen Ausblick einfach »herr-lich« findet. Wie das Schöne existiert auch das Hässliche in verschiedenen Inkarnationen. Schon das Wort »häss-lich«,
hassenswert. In vielen Sprachen wird Hässlichkeit mit Angst, Ekel und Unreinheit in Verbindung gebracht. Das englische »ugly« bedeutet »Furcht erregend«. Und natürlich schwingt immer wieder auch die Bedeutung von »Niedrigkeit« mit – niedriger Status genauso wie niedere Gesinnung. »Vilain« beispielsweise, das im Französischen sowohl »böse« als auch »hässlich« bedeutet, geht auf das lateinische »villanus« zurück, den ungebildeten Hinterwäldler.
Mentaler Mixer – von Kindesbeinen an
Schön, gut, sauber, mächtig: alles ist irgendwie miteinander versippt, verschwägert und verbandelt. In dieser Ursuppe von Bedeutungsinhalten scheint alles herumzuschwimmen, was uns Menschen als erwünscht gilt und was auf unsere grundsätzliche Zustimmung trifft. Wenn Sprache zeigt, was in unserem Kopf los ist, dürfen wir getrost auf ein Hirn schließen, das es mit der Ordnung nicht so genau nimmt. Ästhetische, moralische und soziale Kategorien werden permanent vermischt. Was uns gefällt, kommt in den einen, was uns missfällt, in den anderen Topf, und basta. Ob es ums Innere geht oder ums Äußere – egal. Der mentale Mixer scheint gewissermaßen zum Lieferumfang zu gehören. Judith Langlois ließ eine Mitarbeiterin, deren Gesicht durch professionelle Latexmasken, wie sie im Film verwendet werden, jeweils unterschiedlich attraktiv gestaltet wurde, mit Einjährigen spielen. Die Kinder waren von dem Unterschied beeindruckt: War die Frau schöner, beteiligten sie sich mehr am Spiel, waren ihr gegenüber offener und lächelten mehr. Das Klischee muss also schon im Kopf sein, wenn die Kleinen anfangen, die Welt auf zwei Beinen zu erkunden. Dem Forscher Adam Rubenstein, ebenfalls am Labor von Judith Langlois an der University of Texas, gelang es, das Stereotyp noch weiter zurückzuverfolgen: Er spielte Kleinkindern mal angenehme, mal unangenehme Stimmen vor und zeigte ihnen dazu zwei Fotos, eines von einem attraktiven, das andere von einem unattraktiven Gesicht. Und was taten die Kleinen? Bei der angenehmen Stimme blickten sie unwillkürlich zum schönen Gesicht, bei der
unangenehmen zum anderen. Dieses Reaktionsmuster bildet sich schon im Krabbelalter – ab dem 9. Monat – heraus. Die Standarderklärung der Sozialwissenschaften, die Theorie des »sozialen Lernens«, erweist sich in diesem Zusammenhang als wenig hilfreich. Sie erklärt das Stereotyp zum Ergebnis von Erziehung bzw. »Sozialisation« und macht vor allem die »Medien« dafür verantwortlich, dass es sich von Generation zu Generation weiter fortpflanzt. Doch abgesehen von ihrem eher wenig ausgeprägten Medienkonsum: Registrieren die Kleinen etwa schon im Säuglingsalter, dass die Schönen bevorzugt werden? Warum sollte sich in allen Kulturen und auf allen Kontinenten dieselbe Sozialisation abspielen? Und warum wird das Stereotyp im Lauf der Sozialisation nicht immer stärker? Gerade das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Kinder neigen offenbar noch stärker zu Stereotypen als Erwachsene. An der Erklärung des Schönheitsstereotyps beißt sich die Sozialisationstheorie die Zähne aus.
Der Wert der Verwechslung
Wie aber kommt das Stereotyp dann in die kleinen Gehirne? – Um es gleich vorwegzunehmen: Man weiß es nicht. Erstaunlicherweise hat sich die Schönheitsforschung mit der Frage bisher kaum befasst. Rätsel gibt vor allem die Frage auf, welchen evolutionären »Sinn« die unausrottbare Gleichsetzung von »schön« und »gut« haben soll. Was soll daran »adaptiv« sein – also mit einem Fortpflanzungsvorteil verbunden –, wenn wir einen schönen Menschen für den besseren Lehrer, Koch, Autofahrer, Politiker etc. halten? Und ihm zudem noch mehr moralische Integrität, Vertrauenswürdigkeit, Selbstlosigkeit oder Tierliebe zusprechen? Dabei kann unser Hirn die beiden Kategorien »gut« und »schön« auf der Ebene des bewussten Denkens ja durchaus sauber auseinander halten. Der Schlamassel spielt sich in unserem Unterbewussten ab, dort nämlich, wo es um die Bewertung von Sinneseindrücken geht. Hier kommen evolutionsgeschichtlich ältere, auf schnelle Reaktionen spezialisierte Hirnteile ins Spiel, die wir noch aus unserer »tierischen« Vergangenheit mit uns herumtragen. Diese uralten Schaltungen sind es, die das Gute und das Schöne ohne mit der Wimper zu zucken zusammenwürfeln. Dabei scheint insbesondere das so genannte Belohnungssystem eine tragende Rolle zu spielen, das Sie schon aus Kapitel 3 von den Versuchen in der Magnetresonanzröhre kennen. Die Neuronen dieses Schaltkreises haben die Aufgabe, die Sinneseindrücke in Empfindungen zu übersetzen und sie nach zwei simplen, aber für das Überleben grundlegenden Kriterien zu
sortieren: Nutzt es oder schadet es mir? Wenn »schön« und »gut« (genauso wie »sauber« und »mächtig«) dabei in einen Topf geraten, dann deshalb, weil es für »positive« Bewertungen nun einmal nur einen einzigen Topf gibt.¹³⁵ Damit wäre das Stereotyp eine Art »Nebenprodukt« der Evolution, eine unausweichliche Folge der evolutionären Logik, nach der eine neue Art bei ihrer Entwicklung eben nicht »von vorne« anfangen kann, sondern keine andere Wahl hat, als aus den vorgefundenen Bauteilen das Beste zu machen. Das Beste ist aber nicht immer wirklich »gut« (wie jeder weiß, der sich schon einmal verschluckt und damit Bekanntschaft mit einem anderen DesignKompromiss unseres Bauplans gemacht hat: der Kreuzung von Luft- und Speiseröhre). Die lästigsten Kompromisse sitzen dort, wo am heftigsten anund umgebaut wurde: in unserem Kopf. Unser zusammengestoppeltes Gehirn passt alles andere als perfekt zu unserem Leben als hochdifferenzierte soziale Spezies. Die hässlichen Folgen des ökonomischen Kompromiss-Prinzips der Evolution sind an unserem Stereotyp abzulesen: massenhafte Diskriminierung von Menschen, deren einziger Fehler darin besteht, dass sie gerade mit dem Gesicht auf die Welt gekommen sind, mit dem sie auf die Welt gekommen sind.
Wissen hilft
Was kann man gegen die Ungerechtigkeit tun? Brauchen wir ein Antidiskriminierungsgesetz zum Schutz der Hässlichen? Sollen mündliche Prüfungen und Kolloquien durch MultipleChoice-Fragebögen ersetzt werden? Bewerber bei Bewerbungsgesprächen hinter einen Vorhang verbannt werden, wie das in den USA von manchen Orchestern beim Vorspielen praktiziert wird? Brauchen wir eine(n) Schönheitsbeauftragte(n)? Wahrscheinlich keine gute Idee. (Wenn es auch durchaus eines Gedankens wert ist, warum in dem brandneuen Antidiskriminierungsgesetz das Aussehen auf der ansonsten sehr kompletten Liste der Diskriminierungstatbestände fehlt, die immerhin »das Geschlecht, die Rasse, die Hautfarbe, die ethnische oder soziale Herkunft, die genetischen Merkmale, die Sprache, die Religion, die Weltanschauung, die politische oder sonstige Anschauung, die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, das Vermögen, die Geburt, eine Behinderung, das Alter und die sexuelle Ausrichtung« umfasst.) Nein, was wir brauchen, ist Wissen. Und zu diesem Wissen gehört auch, dass wir auf die Entstehung des Stereotyps in unserem Kopf herzlich wenig Einfluss haben. Wenn wir einem Fremden begegnen, wird das Stereotyp aktiviert, noch bevor unser Denkorgan überhaupt mit dem Denken anfängt. Aber: Wir können uns durchaus bewusst machen, dass wir seiner Macht unterliegen, und mit diesem Wissen unsere Entscheidungen und Einschätzungen kritisch überprüfen. Allzu gerne wählen wir allerdings gerade den
entgegengesetzten Weg: Die meisten von uns wollen lieber nichts davon wissen, dass sie unter der Fuchtel stehen. Wer gibt schon gerne zu, dass er sich verführen lässt? Wenn man beispielsweise Pädagogen, Eltern und Profis gleichermaßen, mit den Ergebnissen der entsprechenden Studien konfrontiert, weigern sich die meisten anzuerkennen, dass auch ihr Verhalten gegenüber Kindern möglicherweise vom Schönheitsstereotyp beeinflusst ist. Gerne wird dabei auf die »Erfahrung« verwiesen. Offenbar schützt jedoch auch Erfahrung nicht vor dem mentalen Schlamassel, im Gegenteil. Nach einer französischen Studie sind es eher die jungen Lehrer und Lehrerinnen, die weniger vom Stereotyp beeinflusst werden. Die Macht der Schönheit ist Gegenstand kollektiver Verdrängung. So wenig wie in Lehrerzimmern oder an pädagogischen Hochschulen thematisiert wird, dass schöne Kinder mehr positive Verstärkung bekommen, so wenig gibt es an juristischen Seminaren Diskussionen darüber, dass Richter ihre Urteile von den schönen Augen der Angeklagten abhängig machen. Auch unter »Personalern« oder Gewerkschaftern ist der systematische Schönheitsbonus bisher nicht auf der Tagesordnung. Obwohl sie in unserem Unterbewussten bei vielen Entscheidungen die Fäden zieht, im »Licht« unseres Verstands zählt Schönheit weiterhin zur Kategorie »Gedöns«.
12 Schön, smart und glücklich? Ein Ergebnis der texanischen Mega-Studie über das Schönheitsstereotyp steht noch aus, und zwar das wichtigste: Sind die Schönen wirklich so, wie wir glauben, dass sie sind – nämlich besser als die Normalaussehenden? »Attraktive Kinder und Erwachsene«, so die Antwort der Studienleiterin Judith Langlois, »verhalten sich positiver als unattraktive Kinder und Erwachsene.« Inwiefern »positiver«? Zuallererst offenbar in der Art, wie sie auf die Welt zugehen. Attraktive Menschen sind demnach kontaktfreudiger und offener im Umgang mit ihren Mitmenschen.¹³⁶ Sie fühlen sich in Gesellschaft eher wohl, lächeln häufiger und haben weniger Angst davor, auf Ablehnung zu stoßen – kurz: sie sind selbstbewusster. Ein hinterlistiges Experiment aus den 1970er Jahren bestätigt diesen Befund. Ahnungslose Studenten waren der Einladung ihrer Professorin zu einem Einzelgespräch gefolgt, das angeblich der Studienberatung dienen sollte. Kaum hatte die Unterhaltung begonnen, wurde die Professorin von der Sekretärin ans Telefon gerufen – und ward nicht wieder gesehen. Wie verhält man sich in so einer Situation? Offenbar je nach Attraktivitätsgrad unterschiedlich: Die Schöneren wurden schneller ungeduldig und meldeten sich schon nach durchschnittlich 3 Minuten und 20 Sekunden bei der Sekretärin, die Unscheinbaren dagegen warteten geschlagene 9 Minuten.
Schöne können anscheinend besser für sich selber sorgen. Die von Judith Langlois analysierten Studien bescheinigen den Schönen aber zudem, dass sie »empathischer« und »sozial kompetenter« sind – sich also auch mehr um die anderen sorgen. Dabei scheinen nach einigen Untersuchungen attraktive Männer in höherem Maß über soziale Fähigkeiten zu verfügen als schöne Frauen. Die Mehrheit der Studien sieht dagegen keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern.
Vorurteil oder traurige Wahrheit?
Jetzt wird es heikel. Wie sieht eigentlich der Zusammenhang zwischen Attraktivität und antisozialem Verhalten aus? Neigen womöglich die Hässlichen mehr zum Verbrechen – wie es ihnen seit Jahrhunderten und Jahrtausenden unterstellt wird? Die Psychologen Norman Cavior und Ramona Howard ließen 159 Fotos von Insassen eines amerikanischen Jugendgefängnisses mit Fotos von 134 Highschool-Schülern vergleichen. Das Ergebnis: Die Gefängnisse scheinen tatsächlich von weniger attraktiven Menschen bevölkert zu sein. Platon hätte dazu vielleicht nur milde gelächelt, aber als aufgeklärter Mensch muss man doch erst einmal schlucken. Richard Wright liefert in seiner Encyclopedia of Criminology eine mögliche Erklärung für das Phänomen: Kriminelles Verhalten hat demnach mit Selbstwert zu tun – und damit auch mit dem Äußeren. Wer beispielsweise in der Jugend wegen irgendeines Makels gehänselt wird, könnte möglicherweise einen Knacks davontragen, der ihn dann zum Knacki macht.¹³⁷ Aber Wright schließt auch eine andere Erklärung nicht aus (die uns schon bekannt ist): Hässliche haben eben auch schlechtere Karten vor Gericht. Nicht weniger heikel die nächste Frage, die ja schon in Kapitel 8 angeschnitten, aber noch nicht beantwortet wurde: Sind die Schönen intelligenter? Nach den Stereotyp-Statistikern aus Texas fällt die Antwort bei Kindern ziemlich eindeutig aus: Schöne Kinder sind intelligenter – und zwar recht deutlich. Die »Effektstärke« betrug immerhin 60/40 – d. h., von hundert überdurchschnittlich attraktiven Kindern sind 60 auch
überdurchschnittlich intelligent, aus der Gruppe der unterdurchschnittlich Attraktiven sind es dagegen nur 40. Bei Erwachsenen allerdings ergibt sich gerade mal ein MiniEffekt von 52/48. Wie sich dieser Unterschied erklären könnte, wird uns noch beschäftigen. Fassen wir aber erst einmal die bisherigen Ergebnisse zusammen: – Die Schönen, als Gruppe gesehen, sind aufgeschlossener, kontaktfreudiger, sozial aktiver und selbstbewusster. – Schöne Menschen zeigen seltener sozial abweichendes Verhalten als weniger schöne. – Attraktive Kinder sind intelligenter als weniger attraktive. Für Erwachsene trifft dies wahrscheinlich auch zu, allerdings nur in sehr eingeschränktem Maß. – Aus Kapitel 8 wissen wir schon, dass der schönere Teil der Bevölkerung gegenüber dem unattraktiveren psychisch und möglicherweise auch körperlich gesünder ist.
Ein Körnchen Wahrheit?
Jetzt aber zum Kleingedruckten, das in diesem Fall besonders aufmerksam zu lesen ist. Zuallererst handelt es sich bei all diesen Aussagen um statistische Zusammenhänge, die durch den Vergleich von Durchschnitten zustande kommen. Der Durchschnitt sagt jedoch nichts darüber aus, wo sich der Einzelne befindet. In jeder Gruppe – bei den »Schönen« genauso wie bei den »weniger Schönen« – gibt es genug Menschen, die in keiner Weise dem Durchschnitt entsprechen, ja sogar das glatte Gegenteil davon darstellen. Und: Die Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Gruppe sind größer als die zwischen den Gruppen selber. Die Ergebnisse geben also keine Aussagesätze von der Sorte her: »Schöne sind Stimmungskanonen«, »stehen immer im Mittelpunkt« etc. Jeder kennt genug Schöne, bei denen das nicht so ist. Vor allem aber: Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen sind recht gering. Bei den »sozialen Fähigkeiten« gibt Judith Langlois beispielsweise eine »Effektstärke« von 55/45 an – von hundert überdurchschnittlich Attraktiven sind demnach 55 auch im Bereich soziale Fähigkeiten überdurchschnittlich, aus der Gruppe der unterdurchschnittlich Attraktiven sind es 45. Man muss also die Kirche im Dorf lassen: Nach den Langlois’schen Ergebnissen sind die Schönen zwar besser, aber eben nur ein bisschen. Und verglichen mit den Wundern, die wir nach dem Stereotyp von ihnen erwarten, sind sie sogar eine echte Enttäuschung.
Trotzdem – wie groß oder klein das »Körnchen Wahrheit« auch sein mag, das Judith Langlois an unserem Stereotyp ausgemacht hat – bedarf es einer Erklärung.
Warum sind die Schönen besser?
Die klassische Antwort lautet »Self fulfilling prophecy«, und sie kam 1968 mit einer inzwischen legendären Studie in die Welt. Damals fiel eine ganze Schar von Psychologen unter der Leitung von Robert Rosenthal in die Oak School in San Francisco ein, um ein auf den ersten Blick recht harmlos wirkendes Experiment durchzuführen. Alle Erst- bis Fünftklässler wurden einem Test unterzogen, mit dem angeblich alle diejenigen Schüler herausgefiltert werden sollten, von denen im kommenden Jahr besonders gute Leistungen zu erwarten waren. In Wirklichkeit war alles ein großer Bluff. Die Schüler, die den Lehrern hinterher als besonders entwicklungsfähig verkauft wurden, waren schon vorab per Los ausgewählt worden, und bei dem mirakulösen Vorhersagetest handelte es sich um einen simplen IQ-Test. Acht Monate später wurde derselbe Test dann an allen Schülern wiederholt. Und siehe da: Die Schüler mit dem »besonderen Potenzial« verzeichneten gegenüber dem Vorjahr einen deutlichen Anstieg ihrer Intelligenz.¹³⁸ Die sich selbst erfüllende Prophezeiung besagt im Kern: Wir verhalten uns so, wie man von uns erwartet, dass wir uns verhalten. Im Fall der Schüler der Oak School haben die Lehrer den Auserwählten offenbar durch mehr Beachtung und Förderung mehr Selbstvertrauen und Motivation eingeflößt, so dass am Ende aus einem Vorurteil Realität wurde. Nichts ist naheliegender, als das Prinzip auch auf die Schönheit anzuwenden. Dabei stößt man allerdings schnell auf ein Problem: Der schöne Effekt scheint nur im Kindesalter zu greifen. Schon an der Oak School war die
Wirkung der »Prophezeiung« umso geringer, je älter die Kinder waren. Und dieses Ergebnis steht ganz im Einklang mit dem von Judith Langlois erhobenen Befund, dass der zunächst vorhandene Intelligenzvorsprung schöner Kinder im Erwachsenenalter kaum mehr vorhanden ist. Womit sich sofort die Frage stellt: Warum ist das so? Schließlich lassen unsere hohen Erwartungen an unsere schönen Zeitgenossen nicht etwa deshalb nach, weil aus den schönen Kindern schöne Erwachsene geworden sind, von der Vorzugsbehandlung, die wir ihnen angedeihen lassen, ganz zu schweigen. Warum also, um alles in der Welt, ist das Körnchen Wahrheit so klein?
Von Schönheit unbeeindruckt?
Mit solchen Fragen beschäftigt sich eine junge Wissenschaftsdisziplin, die in letzter Zeit für einigen Wirbel gesorgt hat – die Verhaltensgenetik. Ihren Erkenntnissen zufolge wirken soziale Erwartungen zwar durchaus auf unser Verhalten ein und können es auch – kurzfristig – verändern. Das allerdings, was wir Persönlichkeit nennen – also die Tatsache, ob wir freundlich oder verschlossen sind, gewissenhaft oder schludrig, kompliziert oder unkompliziert, neugierig oder eher tumb –, ist von der »Umwelt« viel weniger beeinflussbar, als dies klassischerweise angenommen wurde.¹³⁹ Das gilt insbesondere für das Erwachsenenalter. Nach der Pubertät, so der Psychologe William James, hat der Charakter »abgebunden wie Gips«. Eine mögliche Erklärung für diese »Umweltresistenz« der Persönlichkeit liegt in dem von Verhaltensgenetikern und Pädagogen derzeit heiß diskutierten Modell des »GenUmwelt-Zusammenspiels«. Danach trifft ein Individuum mit seinen jeweiligen Anlagen nicht auf eine fixe, für alle gleiche Umwelt, sondern »gestaltet« sich quasi seine eigene Umwelt entsprechend seinen jeweiligen Begabungen. Ein Kind mit Bewegungsdrang etwa wird eher im Fußballclub oder Leichtathletikverein landen und damit in einer für seine Fähigkeiten förderlichen Umwelt. Ein träges Kind dagegen wird eher mit anderen trägen Kindern zusammen vor dem Fernseher sitzen. Genauso wird ein intelligentes, waches Kind eher zu Büchern greifen und auf diese Weise seine grauen Zellen mit Futter versorgen, was wiederum seine Intelligenz und Wachheit fördert. Im Ergebnis führt dieser subtile Mechanismus der »selbst gewählten Umwelt« dazu,
dass sich die Persönlichkeit tatsächlich viel stärker in die von den Genen vorgegebene Richtung entwickelt, als dies in der klassischen Psychologie für möglich gehalten wurde. Das »Gen-Umwelt-Zusammenspiel« erklärt letztlich auch, warum der Rückenwind von »Prophezeiungen« und Vorzugsbehandlungen im Erwachsenenalter so wenig trägt – warum also beispielsweise der IQ-Vorsprung schöner Kinder mit dem Älterwerden kleiner wird. Denn je älter wir werden, desto mehr haben wir das uns in die Wiege gelegte Entwicklungspotenzial selbst ausgereizt. Das Kind mit Bewegungsdrang ist zum Basketballprofi geworden, die Leseratte zum Literaturkritiker. Auch die tollsten Erwartungen ihrer Mitmenschen werden nicht mehr aus ihm herauskitzeln.
Eine Frage der Stichprobe?
Die sich selbst erfüllende Prophezeiung ist nicht die einzige Kandidatin auf dem Markt der Theorien und Hypothesen, die den Unterschied im Verhalten der Schönen und weniger Schönen zu erklären versuchen. Schauen wir uns also die Konkurrenz an. Nach der kanonischen Gute-Gene-Hypothese ist der Fall klar: Die Schönen haben nun einmal die besseren Gene und sind damit nicht nur gesünder und fruchtbarer, sondern auch intelligenter, sozial kompetenter, durchsetzungsfähiger etc. Die Erklärung hat allerdings einen Schwachpunkt: Wenn Schönheit wirklich ein »Qualitätsausweis« wäre, müssten sich die Schönen deutlicher von den anderen abheben, und zwar – das ist der Punkt – nicht nur von den Unattraktiven, sondern auch vom Durchschnitt. Für unser Schönheitsempfinden liegen nun einmal zwischen einem wirklich schönen Menschen und einem mittelprächtigen Exemplar unserer Spezies buchstäblich Welten, und entsprechend deutlich müsste auch der Unterschied in den »Qualitäten« ausfallen, die die beiden zu bieten haben. Dass dem nicht so ist, sondern der Unterschied im Gegenteil recht bescheiden ausfällt, ist für Leslie Zebrowitz, die »Erfinderin« der Hypothese der »schlechten Gene« – wir sind ihr schon in Kapitel 7 begegnet –, keine Überraschung. Ihr zufolge ist das, was wir als Schönheit empfinden, nichts anderes als die Abwesenheit von Hässlichkeit. Ein Zusammenhang zwischen Attraktivität und tatsächlichen »Qualitäten« sollte sich nach ihrer Meinung zwar durchaus
zeigen, jedoch nicht so sehr in der oberen Hälfte der Attraktivitätsskala, sondern vor allem in der unteren. Zebrowitz macht dabei auf einen aus ihrer Sicht schweren Mangel der von Langlois untersuchten Studien aufmerksam: Deren Stichproben sind nämlich alles andere als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Bis auf wenige Ausnahmen wurden sie an (amerikanischen) Studenten durchgeführt – aus dem nahe liegenden Grund, dass Studenten als Versuchskaninchen nun mal billig und willig sind. Damit fand jedoch der untere Teil der sozialen Hierarchie – und damit soziale, gesundheitliche und psychische Auffälligkeiten, die zumindest zum Teil auch mit optischen Auffälligkeiten einhergehen – keine Berücksichtigung, und entsprechend verfälscht dürften die Ergebnisse sein. Auf die Gesamtbevölkerung bezogen, so argumentiert Zebrowitz, würde der Zusammenhang zwischen dem Äußeren und dem Inneren vermutlich deutlicher ausfallen, denn sowohl die Attraktivitätswerte als auch die gemessenen Persönlichkeitseigenschaften dürften in der »realen Welt« stärker variieren als in der Welt der smarten 20-Jährigen aus den amerikanischen Vorstädten. Erste Ergebnisse unterstützen die »Bad-genes«-Hypothese. Für eine Bewertung allerdings ist es zu früh. Die Hypothese ist so jung, dass sie noch einige Zeit auf dem Prüfstand der Wissenschaft wird stehen müssen. Ob gute Gene, schlechte Gene oder auch »Self fulfilling prophecy« – bei der Bewertung der verschiedenen Erklärungsversuche darf eines nicht übersehen werden (was gerade die Anhänger der jeweiligen Lager gerne tun): Die Zusammenhänge lassen sich auch ohne große Theorien erklären, und zwar durch ein schlichtes soziologisches
Phänomen, das wir schon in Kapitel 8 am Beispiel der Intelligenz kennen gelernt haben – Stichwort »Schönheit heiratet nach oben«. Das Prinzip besagt, dass Schönheit und andere »sozial erwünschte Eigenschaften« in einer Gesellschaft, in der sich Partner gegenseitig frei wählen können, geradezu naturgesetzlich eine Koalition eingehen. Denn schöne Frauen haben nun einmal mehr Auswahl, und ihre Wahl trifft tendenziell eher auf Männer mit »sozial erwünschten« Eigenschaften, wie Intelligenz, Charme, Kreativität – womit sich dann bei den Kindern dieser glücklichen Verbindung die väterlichen und mütterlichen »Qualitäten« vereinigt finden. Welche Erklärung (oder welche Kombination von Erklärungen) am Ende die Nase vorne hat – sie wird nichts an unserem Schönheitsparadox ändern: Die Schönen werden von klein auf mit offeneren Armen empfangen, werden besser behandelt und haben mehr Wahlmöglichkeiten. Ihre Persönlichkeit jedoch scheint von all den Kniefällen ihrer Umgebung langfristig nur mäßig beeindruckt zu sein. Wir lassen uns zwar von der Schönheit anderer Menschen faszinieren, verführen und mitunter auch korrumpieren. Gegenüber unserer eigenen Schönheit jedoch – sofern wir damit »gesegnet« sind – scheinen wir zumindest einigermaßen resistent zu sein. Womit wir uns der letzten offenen Frage dieses Kapitels zuwenden können.
Macht Schönheit glücklich?
Wenn man Frauenzeitschriften (oder auch Männerzeitschriften, von »Herrenmagazinen« ganz zu schweigen) durchblättert, kann es nicht den geringsten Zweifel geben. Schönsein – alternativ: eine schöne Frau besitzen – gilt schlechthin als Synonym für Glückseligkeit. Schönheit ist zusammen mit dem lieben Geld die Glücksphantasie unserer Zeit. Was sagt die Wissenschaft dazu?¹⁴⁰ Die Psychologin Debra Umberson von der University of Michigan nahm sich die Daten einer repräsentativen Umfrage an 3700 Amerikanern vor, bei der die Befragten – es gibt in Amerika nun einmal keinen Datenschutzbeauftragten – von den Interviewern klammheimlich in fünf Attraktivitätsklassen eingeteilt worden waren. Ihr Befund: Die Schönen sind nicht nur erfolgreicher, sondern auch glücklicher, zufriedener und weniger gestresst. Der Glücksforscher Ed Diener und sein Team von der University of Illinois betrachteten Umbersons Ergebnisse von Anfang an mit Misstrauen, denn so richtig glauben kann man als Sozialwissenschaftler einem in der Feldforschung erhobenen Befund erst dann, wenn man ihn in einem Experiment überprüft hat. 1995 taten sie genau das. Sie ließen 500 Versuchspersonen Fragebögen ausfüllen, mit denen der jeweilige Glückspegel – wissenschaftlich: SWB für subjective well-being – bestimmt wurde. Dann folgte die übliche Prozedur der Schönheitsbewertung, bei der sich die Jury jedoch nicht nur auf Fotos verließ, sondern auch zehnminütige Videosequenzen mit einbezog.
Ein Zusammenhang zwischen »SWB« und Attraktivität, so das Resümee der Autoren, ist durchaus vorhanden, er fällt aber ziemlich mäßig aus, auf jeden Fall deutlich geringer als in der Studie von Umberson. Interessant wird es dann aber vor allem, wenn man die Details betrachtet – etwa die Frage, ob Schönheit eher die mit ihr gesegneten Männer oder die Frauen glücklich macht. Da Frauen üblicherweise mehr als Männer über ihre Schönheit definiert werden, würde man erwarten, dass eher sie es sind, die von ihrer Schönheit profitieren. »Falsch«, sagen die Forscher aus Illinois – ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Glück und Schönheit ist nur bei Männern zu finden. Bei Frauen bleibt unter dem Strich allenfalls ein leichter Trend zu mehr Glückseligkeit durch Schönheit, wobei die Werte jedoch stark schwanken. Ein Teil der attraktiven Frauen scheint durchaus glücklicher zu sein als ihre weniger attraktiven Schwestern, doch andererseits gehören auch etliche Schöne zum unglücklicheren Bevölkerungsteil. Simpel ausgedrückt: »Manche Frauen macht Schönheit glücklich, andere unglücklich.« Noch einen weiteren interessanten Nebenbefund förderten die Forscher aus Illinois zutage: Die Glücklicheren tun mehr für ihre Schönheit. Sie machen sich mehr zurecht, achten stärker auf Kleidung und Frisur und greifen freudiger zu Haargel, Lippenstift und Wimperntusche – kurz: Sie setzen ihre Reize offensiver ein. Zumindest ein Teil des Zusammenhangs zwischen Glück und Schönheit sei demnach auf solche Verschönerungsmaßnahmen zurückzuführen. Worin liegt nun aber das Glück der Schönen? Woher kommt das Quäntchen an Zufriedenheit, das sie den anderen voraushaben?
»Die Schönen«, so Ed Dieners Antwort, »sind mit der affektiven Seite ihres Lebens zufriedener.«¹⁴¹ Auf Deutsch: Das Liebesleben ist es, das den Unterschied macht. Der Befund des Glücksforschers wird auch von Judith Langlois’ Studie bestätigt. Die sexuellen Erfahrungen der Schönen – Männer wie Frauen gleichermaßen – sind demnach nicht nur reichhaltiger, sondern auch befriedigender. Ein ähnliches Ergebnis ergibt sich aus einer spanischen Studie. Die eigene Beziehung wurde darin als umso befriedigender eingestuft, je attraktiver der jeweilige Partner ist, ob es sich nun um Verheiratete oder frisch Verliebte handelte. (Umgekehrt macht übrigens auch eine glückliche Beziehung einen Menschen attraktiver – zumindest in den Augen seines Partners. Glückliche Paare geben einander systematisch bessere Schönheitsnoten als jene, denen der Schwung abhanden gekommen ist.) Abgesehen vom Liebesleben jedoch unterscheiden sich Schöne und weniger Schöne so gut wie nicht in ihrer Glücksbilanz, ob es nun um die Zufriedenheit mit der Arbeit, der Gesundheit oder der Familie geht.
Warum fällt der Beitrag der Schönheit zur individuellen Glückseligkeit, ganz entgegen unseren Erwartungen und Phantasien, so bescheiden aus? David Myers, einer der profiliertesten Glücksforscher, nimmt zur Erklärung gerne seinen Fernseher als Beispiel. Als er sein erstes flimmerndes und rauschendes Schwarzweißgerät bekam, konnte er sein Glück kaum fassen. Heute ist er frustriert, wenn an seinem Flachbildschirm einmal die Farbe wegbleibt. Mit dem guten Aussehen ist es offenbar wie mit dem Geld: Je mehr wir
haben, desto mehr wollen wir. Es gibt kein Genug. Glück nutzt sich ab. Je mehr Glücksgefühle wir erfahren, desto mehr brauchen wir auch davon, um uns glücklich zu fühlen – und so rennen wir im ewigen Hamsterrad des Glücks. (Immerhin, dies als kleiner Trost, gilt das auch in der umgekehrten Richtung: Nach einem Schicksalsschlag rappeln sich die guten Gefühle langsam wieder auf und erreichen im Lauf der Zeit wieder ihr Ausgangsniveau.) Mit der Schönheit ist es nicht anders: Egal, wie schön wir geboren sind, über kurz oder lang haben wir uns an die Vorzugsbehandlung unserer Zeitgenossen gewöhnt – und fangen an davon zu träumen, noch schöner zu sein. Schönheit und Glück – unser Traumpaar scheint nicht ganz zu halten, was es verspricht. Vielleicht auch deshalb, weil wir in unseren Phantasien von Glamour und Glückseligkeit schlichtweg ausgeblendet haben, dass Schönheit auch ihre Schattenseiten hat.
Die dunkle Seite des Stereotyps
Im Jahr 1975 forderten die amerikanischen Psychologen Marshall Dermer und Darrel Thiel ihre Studentinnen auf, unterschiedlich schönen Frauen aus einer vorgegebenen Liste bestimmte Charaktereigenschaften zuzuordnen. Wie nicht anders zu erwarten, schnitten die Schöneren dabei in fast allen »Persönlichkeitsdimensionen« besser ab. Aber eben nicht in allen: Gerade die besonders attraktiven Frauen – und dasselbe gilt auch für besonders attraktive Männer, wie spätere Studien zeigten – wurden als »eingebildet«, »eitel«, »oberflächlich« und »zu Affären neigend« eingestuft. Dazu wurde ihnen noch der in der damaligen Zeit schwerwiegende Makel angehängt, dass sie es an »Mitgefühl mit den Unterdrückten der Welt« mangeln ließen. Mit einem Wort: Schöne stehen unter dem Generalverdacht des Egoismus.¹⁴² Woher kommt es aber, dieses merkwürdige Doppelspiel, das wir mit den Schönen treiben? Wir heben sie – auf fast allen Gebieten – in den Himmel, um sie dann doch vom Sockel zu stoßen. Bei kniffligen Fragen lohnt es sich immer, einmal bei den Wirtschaftswissenschaften vorbeizuschauen, bei denen ja das Spielen derzeit schwer in Mode ist. James Andreoni und Ragan Petrie von der University of Wisconsin ließen ihre Kandidaten im Jahr 2004 ein so genanntes Gemeinwohlspiel spielen. Das Spiel wird in vier Gruppen à fünf Spieler in mehreren Runden am Computer ausgetragen, wobei jeder Teilnehmer stets die Bilder seiner Mitspieler auf dem Bildschirm hat. Jedem Spieler stehen in jeder Runde 20 Chips zur Verfügung, die reihum »investiert« werden
müssen, und zwar entweder zum eigenen Wohl oder zu dem der Gruppe. Am Ende jeder Runde wird abgerechnet: Für jeden aufs eigene Konto angelegten Chip bekommt der Spieler zwei Cent ausgezahlt, ein ins Gemeinwohl investierter Chip bringt dagegen nur einen Cent – allerdings für jeden Spieler der Gruppe. Wer sich also für die altruistische Variante entscheidet, setzt einen »sicheren« Cent in den Sand, hat dabei aber Aussicht auf vier weitere Cent – sofern die anderen sich auch für das Allgemeinwohl entschieden haben. Der Gruppe als Ganzer geht es also umso besser, je weniger »egoistische« Spielzüge gemacht werden. Nach einer bestimmten Anzahl von Runden werden die Gruppen neu zusammengewürfelt, bis am Ende jeder einmal mit jedem gespielt hat. Wie sieht nun das Ergebnis aus? Der Beitrag der Schönen zum Allgemeinwohl ist weder größer noch kleiner. Die Mitspieler verhalten sich ihnen gegenüber jedoch trotzdem anders, und zwar genauso, wie Sie das von den Spielen aus Kapitel 9 und 10 kennen: Je mehr Schöne eine Gruppe enthält, desto großzügiger sind die Mitspieler bei ihren Zügen. Am Ende gehen die Schönen deshalb mit mehr Geld nach Hause. Aber, und das ist der Clou, der für die »dunkle Seite« entscheidend ist: Wenn dasselbe Spiel mit einer kleinen Abänderung gespielt wird – dass nämlich jeder Spielzug aller Mitspieler auf dem Bildschirm eingeblendet wird –, wenn also die egoistischen oder altruistischen Beiträge jedes Einzelnen bekannt sind, verwandelt sich die Schönheitsprämie in eine Strafe: Die Schönen verdienen plötzlich weniger. Wie ist das zu erklären? Die Wissenschaftler äußern folgende Vermutung: Von den Schönen erwartet man
einfach mehr – und ist dann enttäuscht, dass sie sich doch so verhalten wie ganz normale Menschen. Die Schönen können eigentlich nur enttäuschen. Wir haben sie in den Adelsstand erhoben und erwarten nun unterbewusst, dass sie sich gefälligst auch entsprechend benehmen – großzügiger, selbstloser, mitreißender, kurz: besser. Da sie das aber partout nicht tun wollen, ist unsere Enttäuschung groß, wir schreien »Verrat« und unterstellen ihnen Egoismus, so wie wir eben auch einen »echten« Adligen einen Geizkragen nennen, der dem Bettler nicht mehr Münzen gibt als wir selber.
Problemfall Superschöne
In einem Experiment aus den siebziger Jahren wurden Studenten und Studentinnen auf die (fingierte) Suche nach einer Mitwohngelegenheit geschickt. Am Ende waren es gerade die Superattraktiven, die leer ausgingen. »Menschen können zu perfekt sein« heißt der Titel einer Studie, die hierüber etwas näher Auskunft gibt. Ganz ähnlich wie in dem oben geschilderten Experiment von Dermer und Thiel mussten Frauen ihr Urteil über Frauen abgeben, die man zuvor in fünf Attraktivitätsklassen eingeteilt hatte. Selbstverständlich kam auch hier der altbekannte »HaloEffekt« zum Tragen: je attraktiver die Frau, desto mehr Fähigkeiten wurden ihr zugetraut. Bei den Egoismuswerten ergab sich jedoch das interessante Bild, dass die zweitattraktivste Gruppe nicht nur deutlich besser als die Spitzengruppe abschnitt, sondern auch der durchschnittlich attraktiven Gruppe überlegen war. Sogar bei der Frage nach der »Beliebtheit als Freundin« waren es die Zweitschönsten, die gegenüber den Allerschönsten die Nase (leicht) vorn hatten. Am besten scheint frau also zu fahren, wenn sie zwar schön ist, aber nicht zu schön. Die offensichtlichste Erklärung für das Phänomen lautet schlicht: Eifersucht. Wer alle Aufmerksamkeit der Umgebung anzieht wie ein Staubsauger, ist ein Problem für die anderen, die leer ausgehen. Wahrscheinlich ist die Sache aber vielschichtiger. »Meine Schönheit ist nicht nur ein Geschenk, sie ist auch ein Verhängnis«, lässt Sandor Marai seine Gräfin von Parma im gleichnamigen Roman zu ihrem Geliebten Giacomo sagen.
»Wohin ich gehe, erwecke ich Leidenschaften, und wie der Rutengänger die in der Tiefe sprudelnden Quellen, so fühle ich das Verlangen der Männer, die mir begegnen.« Vermutlich kann man als Normalsterblicher nie wirklich ermessen, was es heißt, »Traumfrau« zu sein. Aber Marais Gräfin gibt uns zumindest eine Ahnung davon: Attraktivität kann ein echtes Handicap sein. Eine »Schönheit« steht quasi permanent im Rampenlicht. Sie geht als Wunder durch die Welt, genauer: als Projektionsfläche für die Sehnsüchte fremder Menschen. Wo sie geht und steht, liegen Blicke auf ihr. Ihre Schönheit stachelt auf, schüchtert aber auch ein. Man macht ihr Platz, geht ihr damit aber auch aus dem Weg. Sie gehört nie so recht dazu, immer ist sie etwas Besonderes. Superschöne lernen von klein auf, sich abzuschotten. Sie wissen die Radarschirme ihrer (männlichen) Umgebung beständig auf sich gerichtet und haben sich deshalb diesen vagen Blick zugelegt, der ihnen die Aura der Unnahbarkeit einbringt, für sie aber ein notwendiger Schutz ist. Denn jeder erwiderte Blick, jedes kleinste Zeichen der Freundlichkeit führt zu unklaren Situationen.
Bin ich gemeint?
Dass Männer viel weniger von dieser Schattenseite der Schönheit betroffen sind, liegt womöglich daran, dass sie nicht im gleichen Maß über ihr Äußeres definiert werden. Vielleicht gibt es auch eine rein biologische Erklärung für den Geschlechtsunterschied: Die Wirkung attraktiver Frauen auf Männer ist nicht nur »rein optisch«, sondern bezieht den Unterleib ein. Der Psychologe James Roney zahlte männlichen Studenten zehn Dollar für die Teilnahme an einem Test, mit dem angeblich die chemische Zusammensetzung des Speichels bestimmt werden sollte. In Wirklichkeit ging es um die Frage, wie ihr – im Speichel gemessener – Testosteronspiegel auf die fünfminütige Unterhaltung mit einer hübschen Laborantin reagierte. Das Ergebnis überraschte selbst den Forscher: Die Testosteronausschüttung der Probanden war durch den Kontakt mit der Schönen um glatte 30 Prozent angestiegen. Weibliche Schönheit wirkt wie ein visuelles Pheromon. Sie mobilisiert die Sexualhormone ihrer männlichen Umgebung und löst das entsprechende Balzverhalten aus. Die chemisch stimulierten Männer fangen an zu flirten, werden witziger, wagemutiger und aufmerksamer. Schöne und weniger schöne Frauen sind also buchstäblich von anderen Männern umgeben: von solchen im »Werbemodus« die einen, von Männern im »Normalmodus« die anderen. (Ob die jeweilige Frau nun das eine oder das andere als Voroder Nachteil empfindet, steht auf einem anderen Blatt.) In dieser »Herrschaft über den Testosteronspiegel« liegt vielleicht die Macht begründet, die schöne Frauen über ihre männliche Umgebung haben. Eine Macht jedoch, mit der
man erst einmal umgehen können muss. Das wandelnde Glücksversprechen anderer zu sein, ist keine leichte Rolle. »Alle wollen mit dir ins Bett. Wenn du einen geschäftlichen Termin auf den Abend legst, ist das schon eine Zweideutigkeit. Alle wollen mit dir zu tun haben, aber oft geht es gar nicht um Aufträge, sondern nur um einen Vorwand, dass sie sich mit dir treffen können. Du weißt nie wirklich, um was es geht«, sagt die – sehr attraktive – Leiterin einer Berliner PR-Agentur. Für viele Ausnahmeschönheiten sind Kontakte mit dem anderen Geschlecht ein beständiger Balanceakt. Ob im Privatleben oder im Beruf, immer geht es – ob ausgesprochen oder nicht – zuerst um ihr Aussehen und erst dann um sie als Person. Wie kann eine schöne Frau wissen, ob ein Lob wirklich ihr gilt und nicht ihrer Schönheit? In der Liebe herrscht dieselbe Unklarheit. Was Verehrer verehren, ist nun einmal vor allem – Schönheit. Und auf die ist – so empfinden es nicht wenige der Betroffenen – keineswegs Verlass. Auch die Allerschönste ist nicht vor Selbstzweifeln gefeit. Wir mögen es als Luxusproblem abtun, aber wer ständig über seine Schönheit definiert wird, sieht diese mit kritischerem Blick: Bin ich wirklich so schön? Schön genug? So wie sich Superreiche nicht mit dem durchschnittlichen Reihenhausbesitzer vergleichen, messen sich auch Superschöne in erster Linie mit ihresgleichen. Und da gibt es immer noch Schönere. Selbst Supermodels werden von so genannten speciality models mit »perfekten« Lippen, Händen, Füßen, Beinen etc. in den Schatten gestellt. Hollywood-Körper bestehen oft aus den Busen, Pos, Händen und Beinen mehrerer Menschen. Wer aufs Aussehen fixiert ist, kann immer nur sehen, was ihm fehlt.
Da wäre es also wieder, das Hamsterrad des Glücks.
Bei dir bist du schön
Dem Rätsel, warum Schönheit so wenig ausrichten kann, wenn es ums Glück geht, sind zwei deutsche Psychologen nachgegangen. Tobias Greitemeyer von der Technischen Universität Chemnitz und Felix Brodbeck von der Universität München ließen ihre Kandidaten zunächst eine ganze Batterie an Persönlichkeitstests ausfüllen, bei denen es um die Zufriedenheit mit sich selbst und dem Leben ging. Dann kam das Äußere dran. Dabei wurden die Kandidaten nicht nur von Fremden benotet, sondern mussten auch ihre eigene Schönheit beurteilen. »Objektive« Schönheit, »subjektive« Schönheit, Lebenszufriedenheit – was haben sie alle miteinander zu tun? Zwischen der »objektiven« Schönheit und der Lebenszufriedenheit fand sich (genau wie in der Studie von Ed Diener) so gut wie kein Zusammenhang. Diejenigen jedoch, die ihrer Schönheit auch selbst gute Noten gegeben hatten, wiesen auch deutlich höhere Zufriedenheitswerte auf. Schönheit macht also durchaus glücklich – allerdings nur, wenn man sich selbst auch schön fühlt. Erstaunlicherweise hat aber die gefühlte Schönheit offenbar ziemlich wenig mit der tatsächlichen Schönheit zu tun. Nur wenige Menschen etwa schätzen sich als unterdurchschnittlich schön ein, der große Rest verfährt bei seinem Aussehen lieber nach dem Prinzip »rosarote Brille«, wie er das auch bei seiner Intelligenz tut: 95 Prozent der Menschen halten sich in Umfragen für überdurchschnittlich intelligent. In den oberen Schönheitssphären gilt dagegen eher die umgekehrte Maxime. Viele der besonders Attraktiven »wissen« nicht um ihre Schönheit und schätzen sich weniger schön ein, als sie
von anderen wahrgenommen werden. Das subjektive Schönheitsempfinden scheint zum Mittelwert zu tendieren. Bei der gefühlten Schönheit spielt in erster Linie das Selbstwertgefühl eine Rolle. Ein positives Selbstbild beinhaltet in aller Regel auch ein positives Bild vom eigenen Körper. Nur wer zufrieden ist, kann sich selber gegenüber Milde walten lassen und muss sich nicht als Schönheitsjury in eigener Sache betätigen. Wer sich dagegen als Person in Frage stellt, zweifelt oft auch an seiner äußeren Wirkung. Dabei kommen zum Teil groteske »Fehleinschätzungen« zustande – in beide Richtungen. Männer neigen eher als Frauen dazu, ihr Äußeres zu überschätzen – ganz so, wie das von ihrem höheren Selbstwertpegel her auch zu erwarten wäre. Dass Schönheit als subjektives Gefühl wenig damit zu tun hat, wie andere uns sehen, zeigt auch eine große Umfrage unter den Leserinnen von Psychology Today. Mehr als die Hälfte gab darin an, dass sich ihr Aussehen im Lauf des Lebens stark geändert habe – und zwar eher zum Positiven. Die Älteren (45 bis 54 Jahre alt) waren mit ihrem Aussehen im Durchschnitt zufriedener, als sie es als Jugendliche und junge Erwachsene gewesen waren. Besonders stark nahm im Lauf des Lebens die Zufriedenheit derjenigen zu, die sich in ihrer Kindheit und Jugend als »hässliche Entchen« empfunden hatten. Als 50-Jährige fühlten sie sich fast ebenso wohl in ihrem Körper wie die Normalos. Was wir daraus schließen können? Für unser Wohlbefinden zählt weniger, was andere von uns denken und erwarten oder was sie uns Gutes (oder Schlechtes) tun, sondern zuallererst, was wir selber von uns halten. Wir können noch so viel Rückenwind haben, die Segel müssen wir selber setzen. Wir können mit Freundlichkeit und Vorschusslorbeeren überhäuft werden – doch was nützt es,
wenn wir im Grunde unseres Herzens nicht glauben, es wert zu sein? Nicht, ob andere zu uns kommen, zählt, sondern ob wir selber zu uns stehen. Wer glaubt, dass Schönheit in den wirklichen Stürmen des Lebens irgendetwas ausrichtet, weiß nicht, dass es darin gar nicht um die anderen geht. Nur wir selber sind es, die uns glaubhaft die Gewissheit geben können, die alle Menschen ein Leben lang suchen: Bei mir bist du schön.
Vierter Teil Und erlöse uns von der Schönheit?
14* Ausweitung der Problemzone(n) (* Für die vorliegende E-Book Ausgabe ist Kap. 13 der Originalausgabe entfallen – die ursprüngliche Kapitel- und Abbildungs-Nummerierung wird jedoch beibehalten)
Mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts wird das Korsett, das mit einer kurzen Unterbrechung fünf Jahrhunderte lang den Körper der Frau in »Form« gezwungen hat, plötzlich überflüssig.¹⁴³ Und mit den künstlich übertriebenen kommen sofort auch die natürlichen Rundungen aus der Mode. Von nun an regiert die schlanke Linie. Fast über Nacht wird alles modern, was im alten, anständig-blasshäutigen Regime verboten war: Bewegung! Luft! Licht! Die bewegte Jugend zieht ins Freie. Und entledigt sich gleich ihrer Kleider. Die erste, 1902 gegründete, FKK-Zeitschrift heißt Die Schönheit. Schön, jung, schlank, nackt: Schon in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts ist damit der Megatrend geboren, der das gesamte Jahrhundert bestimmen soll. Mit den 1896 abgehaltenen ersten Olympischen Spielen der Neuzeit wird Sport zur Freizeitbeschäftigung Nummer eins. Postkarten kraftstrotzender »Athleten« kursieren, ihre Darbietungen ziehen Tausende Zuschauer an. Für Frauen gelten vor allem Gymnastik, Fahrradfahren, Rollschuhfahren und Eiskunstlauf als angemessen. Schwimmen wird für beide Geschlechter von einer medizinischen Maßnahme zum Vergnügen. Mit dem Bewegungsboom bricht auch die große Zeit der Diäten an. Wer sich die neu erfundenen
Badezimmerwaagen nicht leisten kann, greift auf die öffentlichen Waagen zurück, die flächendeckend installiert werden.
Forever young
Nach dem Ersten Weltkrieg gesellt sich zum Ideal der gesunden »Natürlichkeit« der großstädtisch-dekadente Gegentyp der »Garçonne«, die ihre Weiblichkeit noch gründlicher abgelegt hat als ihr jugendbewegtes Pendant. Der Busen ist mit einem Leibgürtel flach gedrückt, die Haare sind kurz geschnitten. Ein roter Schmollmund, schwarz umrandete Augen und ein blasser Teint sorgen für die in den »Roaring Twenties« angesagte Verruchtheit. Die Schönheitsköniginnen der Stunde sind gertenschlanke Nackttänzerinnen, wie etwa Mata Hari oder Josephine Baker. Die Nazis setzen dieser in ihren Augen »entarteten« Schönheitsströmung ein jähes Ende, das Körperideal der »Natürlichkeit« übernehmen sie dagegen gerne, FKK inbegriffen.¹⁴⁴ Etwas mehr Fraulichkeit darf jetzt wieder sein, aber Schlanksein ist weiterhin ein absolutes Muss. (So soll sich Goebbels persönlich um die Gewichtsprobleme der Nachwuchsschauspielerin Ingrid Lutz gekümmert haben.) Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt eine kurze, für das 20. Jahrhundert einmalige Renaissance der üppigen weiblichen Formen ein. Der von Hollywood mit Marilyn Monroe begonnene Trend wird schnell vom europäischen Film übernommen und bringt die Kurvenstars der fünfziger Jahre hervor, wie etwa Brigitte Bardot, Gina Lollobrigida oder Anita Ekberg (siehe Abb. 40).
Abb. 40: Anita Ekberg in »La dolce vita« (1959) von Federico Fellini.
Aber das Pendel kommt schnell zurück. Jugendliche Elfen wie Audrey Hepburn oder, in den Sechzigern, Mia Farrow und Catherine Deneuve übernehmen. Die Jugendbewegung der 68er ist auch in ihrem Körperideal radikaler als ihre Vorgängerin vom Anfang des Jahrhunderts. Ein nie da gewesener Schlankheitskult greift um sich, dessen Ikone das britische Lolita-Model Twiggy wird (siehe Abb. 41).
Abb. 41: Twiggy, 1966.
Die Beat- und Hippie-Kultur bringt eine weibliche, verspieltbunte Note in die Mode. In der Alternativbewegung der späten siebziger Jahre nähern sich die Geschlechter einander dann bis zur Ununterscheidbarkeit an: Beide lassen sich die Haare wachsen, die Frau zieht Männerkleider an. Der jetzt (wieder) ganz imperative Drang zur »Natürlichkeit« artet in eine reizlose Antiästhetik aus, weibliche Formen verschwinden unter Schlabbergewändern, und die Nutzung der formenden Kraft des BHs wird sozialkritisch hinterfragt.
Mitte der achtziger Jahre kommt dann mit Wucht die Mode zurück, zumindest die Frauenmode. Minirock und Dessous, in den siebziger Jahren als Unterdrückungsinstrumente verpönt, machen Karriere. Nach der weichen Welle der (Spät)hippies wird das Körperideal nun buchstäblich härter: Die Bodybuilding-Welle erfasst Mann und Frau gleichermaßen und prägt heute immer mehr das Erscheinungsbild amerikanischer Studenten.¹⁴⁵ In den neunziger Jahren wird Mode pluralistisch wie nie zuvor und bewegt sich von nun an hart an der Grenze zur Beliebigkeit. Neben der Kleidung erfasst sie – mit Tattoos, Piercing und kosmetischen Operationen – zunehmend den Körper selber.¹⁴⁶
Zur Knechtschaft befreit?
Das 20. Jahrhundert hat den Körper mehr und mehr von seinen Hüllen befreit. 1910 stellte der erste unter dem Rocksaum sichtbare Knöchel einen Skandal dar, genauso wie es Mitte der zwanziger Jahre das Knie tat und 1964 die erste Busenenthüllung am Nobelstrand von St. Tropez. Hat die Entblößung des Körpers den Menschen auch von den Zwängen des Modediktats befreit? Paradoxerweise ist das Gegenteil der Fall. Das Korsett ist zwar weggefallen, aber die Normen sitzen jetzt porentief. »Es gibt kein Modediktat für Kleider mehr. Das Modediktat betrifft den Körper«, schreibt die deutsch-norwegische Journalistin Ebba Drolshagen. Der Zwang geht nicht mehr von einer veralteten puritanischen Moral aus, sondern von der gerade aktuellen ästhetischen Norm. Denn nicht jeder kann sich den geforderten Körpereinsatz »erlauben«. Sich vor anderen auszuziehen, ist längst keine Frage der Scham mehr, sondern eine Frage der richtigen Figur. Wo es früher Tabuzonen gab, die unter dicken Schichten von Stoff verborgen lagen, sind heute selbst die Schamhaare öffentlich. Kleider sind eher dazu da, den Körper zu enthüllen, als ihn zu verhüllen. Anstatt über Schnittmuster, Farben oder Saumlängen redet man heute über »Reiterhosen«, Zellulitis, Waschbrettbäuche und Tränensäcke. Der Körper hat eine Bedeutung erlangt, die er, zumindest in der neueren Geschichte, noch nie hatte. Der nächste Schritt, nämlich diesen Körper zu verändern, ist da nur konsequent. »Bodystyling« ist nichts als die Fortsetzung der Mode mit anderen Mitteln.
Der medial-industrielle Komplex
Den Körper zu gestalten ist der Geschäftszweck einer ganzen Industrie. L’Oréal, der weltgrößte Kosmetikkonzern, ist an der Börse dreimal so viel wert wie der größte Autohersteller, General Motors. Die Schönheitsindustrie erwirtschaftet weltweit schätzungsweise 180 Milliarden Dollar Jahresumsatz. Ihre Wachstumsrate übertrifft die der übrigen Wirtschaftszweige um das Doppelte. Amerikaner geben jedes Jahr mehr Geld für Schönheit als für Bildung aus. In kaum einem anderen Marktsegment spielt der Preis der Produkte eine ähnlich geringe Rolle. Die Gläubigkeit der Kundschaft schlägt sich in geradezu traumhaften Gewinnspannen nieder. L’Oréal machte im Jahr 2004 bei 14,5 Milliarden Euro Umsatz einen Gewinn von 2,1 Milliarden Euro. Der schreibende Arm der Schönheitsindustrie, die Beauty & Lifestyle-Presse, die die Produkte unters Volk bringt, besteht allein in Deutschland aus knapp hundert Titeln mit einer jährlichen Gesamtauflage von 150 Millionen. Dazu kommen jedes Jahr Hunderte von Ratgebern in Buchform und Diät-, Fitness- und OP-Shows auf allen privaten Sendekanälen. Die Themen gehen dabei nicht so schnell aus: Kosmetik, Workout, Diät, Anti-Aging, Botox, chemisches Peeling, Laserabrasion, Liposuction und zunehmend gern auch die »richtige« OP. Die Botschaft, die dabei mitschwingt, ist immer gleich: Wer nur wirklich will, kann seinen »Traumbody«, Knackarsch, Superbusen, Babyhaut etc. bekommen, und das im Handumdrehen sowie auf denkbar sanfte und »natürliche« Weise.
Wie neue Krankheiten entstehen
Wunderbarerweise sind die Problemzonen mit derselben Vermehrungsrate gesegnet wie die Möglichkeiten der Abhilfe. Mit jeder neu entdeckten Behandlungsmöglichkeit werden immer mehr Zustände »problematisch« und tendenziell »krankhaft«. Hinter der Ausweitung der therapiebedürftigen Tatbestände steckt letztlich nichts anderes als eine im Schönheitsbusiness grassierende Umdefinition des Begriffs »Normalität«. Normal ist nicht mehr, was der Mehrzahl der Bevölkerung zu Eigen ist – »normal« entspricht jetzt dem Aussehen der auf dem Cover der jeweiligen Zeitschrift abgebildeten Personen. Mit der »Zellulitis« beispielsweise wurde, als der Begriff 1973 erstmalig in Vogue auftauchte, quasi über Nacht ein Zustand, der 80 Prozent der Frauen betrifft, zu einer behandlungsbedürftigen Krankheit. Seither leidet die Mehrheit der Frauen am genetischen Programm des weiblichen Homo sapiens, in der Unterhaut Fett zu speichern.¹⁴⁷ Dass der inkriminierte Zustand mit Salben, Cremes oder Tabletten nicht behandelbar ist, tut dem Geschäft keinen Abbruch, im Gegenteil: In jeder Ausgabe wird den Frauen von neuem suggeriert, sie könnten mit den angepriesenen Mittelchen Abhilfe schaffen. Was für die normale weibliche Hautbeschaffenheit zutrifft, gilt auch für die weibliche Körperform. Die Rundungen, die der normale – im Sinn von durchschnittliche – weibliche Körper jenseits der Teenie-Jahre aufweist, werden heute erbittert bekämpft (siehe Abb. 42).
Abb. 42 u. 43: Heute gilt der Kampf ganz besonders den weiblichen Rundungen um Becken und Hüfte – gerade dort, wo sie in vielen Kulturen als Inbegriff weiblicher Schönheit galten und gelten (links: »Stern« vom 26.02.2004, rechts: Torso der Nofretete, Louvre, Paris).
Auch ein anderer Normalzustand des weiblichen Körpers, nämlich seine Behaarung, ist auf dem besten Weg zur Krankheit. Galt in viktorianischen Zeiten der Kampf noch in erster Linie dem Damenbart, so weitete sich die Kampfzone mit dem Zurückweichen der Kleidung auf den ganzen Körper aus. Zunächst kamen die Achselhaare ins Visier, heute sind
auch Schamhaare und Beinbehaarung zunehmend inakzeptabel. 92 Prozent der amerikanischen Schülerinnen und Studentinnen entfernen sich regelmäßig Bein- und Achselhaare, und das im Durchschnitt schon ab zwölf Jahren. Die häufigste Begründung lautet: »Körperhaare sind grausig.« Eine durchgreifende Therapie für das Leiden ist auch schon in Sicht, denn ein Unternehmen entwickelt Strumpfhosen mit »haarwuchshemmenden Aktivkörpern«. Angeführt wird die Hitliste der behandlungspflichtigen Normalzustände jedoch seit jeher vom Alter. Schon in TeenieZeitschriften wird die gerade der Babycreme entronnene Kundschaft mit Werbung für Anti-Falten-Cremes traktiert. Botox-Injektionen, mit denen die Gesichtsmuskulatur lahm gelegt wird, so dass die Haut mangels Bewegungsmöglichkeit auch keine Falten mehr werfen kann, haben unter allen Methoden der ästhetischen Medizin die höchsten Wachstumsraten. Wenn Schönheit und Jugendlichkeit einmal eine Gunst der Natur waren, ist ihr Fehlen heute eine Krankheit.
Schönheit auf allen Kanälen
Wer sich krank fühlt, hat allen Grund dazu. Denn welchen Sender wir auch anschalten, welches Druckwerk wir aufschlagen, welche Internetseite wir auch anklicken: Überall springen uns schöne Menschen in die Augen. Im Kino, auf der Bühne, beim Schlagerwettbewerb – nur Schönheiten. Das Prinzip gilt längst auch in der vormals verstaubten Klassiksparte: Die Schönheit der weltbesten Sängerinnen nähert sich der Schönheit ihrer Stimmen zusehends an. Selbst im Sport breiten sich die Schönen aus. Veranstalter von Tennisturnieren zahlen satte Aufpreise für schöne Spielerinnen. Egal, in welcher Disziplin – gut gebaute Sportlerinnen zieht es nach der ersten Medaille immer öfter ins Fotostudio des Playboy. In Talkshows kommen nicht nur die Gäste des Talkmasters aus der obersten Schönheitskaste, sondern auch die Zuschauer, zumindest wird uns das von der Kamera so suggeriert. »Als Kameramann wird von dir erwartet, dass du attraktive Menschen filmst. Keine 70-Jährigen oder so«, sagt dazu ein Profi. In der Werbung begegnet man dem Prinzip in seiner reinsten Form: Sie präsentiert uns die Schönsten der Schönen, von Scouts und Agenten auf der ganzen Welt zusammengesucht und ausgesiebt, von Heerscharen von Spezialisten in stundenlangen Prozeduren noch schöner gemacht und dann von den renommiertesten Fotografen und Kameraleuten ins beste Licht gerückt. Was uns in den Medien vor Augen geführt wird, ist buchstäblich eine zweite Realität. In ihr ist Schönheit, die ja per definitionem Ausnahme ist, die Regel.
Die Dauerstimulation durch schöne Mitmenschen ist etwas vollkommen Neues in der Geschichte unserer Art.¹⁴⁸ Unsere jagenden und sammelnden Vorfahren lebten in kleinen Gruppen von vielleicht 30 Mitgliedern zusammen. Wahrscheinlich lernten sie in ihrem Leben nicht mehr als 500 unterschiedliche Gesichter kennen, darunter mit Sicherheit nur sehr wenige wirklich schöne. Heute sehen wir zig Schönheiten an einem einzigen Abend, strahlend und im besten Fortpflanzungsalter. Ein »Sozialexperiment gigantischen Ausmaßes« sieht der Soziologe Bernd Guggenberger in der medialen Schönheitsberieselung. Könnte uns der Dauerkonsum von Schönheit am Ende krank machen? So wie uns Zucker mangels genetischer Vorbereitung krank macht? Ist die Inflation von Schönheit vielleicht sogar für die zunehmende Vereinzelung der Menschen verantwortlich?
Vergleichsweise hässlich?
Der Mensch hat einen tiefsitzenden Hang, sich mit anderen zu vergleichen. Gegenüber den Medienschönheiten kann er dabei nur den Kürzeren ziehen. Sind wir also immer »vergleichsweise hässlich«? Machen uns die Schönen aus der Werbung zu Selbstwertzwergen? In einer amerikanischen Studie legte man zwei Gruppen von 14- bis 18-jährigen Schülerinnen Bilder aus der Werbung vor. Während allerdings die eine Gruppe die Originalbilder zu Gesicht bekam, waren die jeweiligen Models für die andere Gruppe mit einem Bildbearbeitungsprogramm leicht übergewichtig gestaltet worden. Bei der anschließenden Fragebogenaktion zeigte sich, dass sich die mit den schlanken Models Konfrontierten für deutlich weniger attraktiv hielten als die zweite Gruppe. Andere Untersuchungen kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass der Zusammenhang zwischen »Schönheitskonsum« und Selbstwertgefühl nicht ganz so einfach ist. Erstens lassen sich offenbar nicht alle Menschen durch den Vergleich mit anderen gleichermaßen »runterziehen«. Zweitens kommt es sehr darauf an, mit wem man sich vergleicht. In einer Untersuchung des amerikanischen Psychologen Thomas Cash von der Old Dominion University zeigte sich, dass die Selbsteinschätzung der eigenen Attraktivität zwar deutlich litt, wenn man Frauen mit Bildern superattraktiver Geschlechtsgenossinnen konfrontierte. Allerdings blieb der Effekt aus, wenn man die Schönen zusammen mit einem eingeblendeten Produktnamen präsentierte und damit suggerierte, dass es sich um Models handelte. Das Ergebnis spricht dafür, dass wir uns nur
innerhalb unserer »Liga« vergleichen – so wie wir uns bei der Frage nach unserer Sportlichkeit ja auch eher mit dem bierbäuchigen Kollegen vergleichen als mit Michael Ballack. Ob wir aber gegen den Vergleich mit den Medienschönheiten wirklich so resistent sind, darf bezweifelt werden. Studien zeigen seit Kriegsende mit monotoner Regelmäßigkeit, dass das Selbstbild der Befragten kontinuierlich schlechter wird. In einer Umfrage stieg der Anteil derjenigen, die sich als unzufrieden mit ihrem Körper bezeichneten, zwischen 1972 und 1997 von 23 auf 56 Prozent bei den Frauen und von 15 auf 43 Prozent bei den Männern. Die Fälle von Essstörungen haben sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht.¹⁴⁹ Auch die Zuwachsraten der Schönheitsindustrie sprechen nicht gerade dafür, dass das Schönheitsbombardement spurlos an uns vorübergeht. Die kosmetische Industrie verfügt über ein jährliches Werbebudget von 40 Milliarden Dollar, und diese Goldgrube ist auch die eigentliche Zielgruppe der Schönheitsblätter. Die Tatsache, dass zwei Drittel ihres Umsatzes aus der Werbung kommen, zwingt den Redaktionen die produkttypische Bewusstseinsspaltung auf. »Wir Frauen sind stark und selbstbewusst« heißt die Botschaft, wenn es etwa um Jobs und Männer geht – der Körper aber ist eine einzige »Problemzone«.
Glücksphantasie Schönheit
»Wäre ich schöner, wäre ich glücklicher« – dieser Gedanke gehört zusammen mit dem Traum vom großen Geld zum harten Kern der modernen Glücksphantasien. In einer Umfrage von Psychology Today gaben 15 Prozent der Frauen und elf Prozent der Männer an, für ihr Idealgewicht würden sie fünf Jahre ihres Lebens opfern. Nach einer anderen, ebenfalls in den USA durchgeführten Umfrage würden zwölf Prozent aller Eltern ihr Kind abtreiben, wenn es die genetische Veranlagung zur Fettleibigkeit hätte. In TV-Shows wird die Sehnsucht nach einem vermeintlich glücksträchtigeren Aussehen gnadenlos ausgebeutet. »Ein neues Aussehen, ein neues Lebensgefühl – träumen auch Sie davon?«, heißt es auf der Website von RTL, auf der Kandidatinnen für die OP-Show Alles ist möglich gesucht werden. »Wir helfen Ihnen, Ihre Träume wahr werden zu lassen. Straffer Busen, perfekte Zähne, eine gerade Nase, ein toller Look – egal, welches Problem, Spezialisten könnten Ihnen Lösungen anbieten.« Unter 4000 Bewerbern wurden zwölf ausgewählt, die ihr Problem im Beisein der Nation beheben lassen durften. Die Konkurrenz bei Pro Sieben setzte mit der 2004 ausgestrahlten Doku-Show The Swan noch eins drauf. »Ob Single oder Mutter, Hausfrau oder Selbstständige – Sie alle haben den gleichen Traum!«, weiß der Sender, vom »hässlichen Entlein« zum »wunderschönen Schwan« zu werden. In den USA, dem Heimatland der Show, erlebten jede Woche 15 Millionen Zuschauer die Höhen und Tiefen der Verwandlung mit, an der Chirurgen, Zahnärzte,
Fitnesstrainer, Ernährungsberater, Kosmetiker und Psychologen zwei Monate lang hart arbeiteten. Damit war The Swan eine der erfolgreichsten Serien überhaupt. In Deutschland brachte es die von Verona Pooth moderierte Sendung auf eine Quote von 14 Prozent. Es geht noch extremer. In der MTV-Show I want a famous face ließen sich die Kandidaten gleich ihr ganzes Gesicht so umoperieren, dass sie hinterher möglichst aussahen wie ihre Idole aus der Glotze – Britney Spears, Jennifer Lopez oder Brad Pitt.
Eine einzigartige Macke?
Ist der Wahnsinn noch zu überbieten? Wohl kaum, so zumindest der Eindruck, der sich aufdrängt. Unter Kommentatoren und Kulturkritikern gilt es als ausgemacht, dass wir in einer einzigartig schönheitsbesessenen Epoche leben. Ein Blick zurück und zur Seite lässt jedoch Zweifel an unserer Einzigartigkeit aufkommen. Immerhin zwängte sich noch vor 150 Jahren die Hälfte der »zivilisierten« Menschheit in einen Apparat aus Walfischgräten oder Stahlschienen, der ihr kaum noch Platz zum Atmen ließ. Die präsentable Figur war eine echte Aufgabe, die allmorgendlich langwierige Schnürungszeremonien erforderte, und zwar schon von Kindesbeinen an, so dass sich mit der Zeit der Rippenkasten verengte und sich die Organe entsprechend verschoben. Eine Prozedur, gegenüber der eine OP geradezu als artgerechte Lösung erscheint. Und weitere 150 Jahre zuvor hätte sich kein respektables Mitglied der Oberschicht ohne eine monströse, mit einer dicken Mehlschicht bedeckte Perücke und einen gipsartigen Anstrich auf der Haut aus dem Haus getraut. Zusätzlich zum Korsett musste die Frau schwere Reifröcke mit sich herumschleppen, die jede Fortbewegung zur Qual machten. Zu Nofretetes Zeit wurde nicht die geringste Behaarung am Körper geduldet; man zupfte jedes einzelne Haar gnadenlos aus. Erst recht aber lassen die Schönheitsanstrengungen der »primitiven« Kulturen daran zweifeln, dass wir modernen Menschen den Schönheitswahn erfunden haben. Gegenüber den Ziernarben, durchbohrten Gliedmaßen, Tattoos und
deformierten Körperteilen der Naturvölker ist unser heutiger Weg zum jeweiligen Schönheitsideal ein Spaziergang (siehe Abb. 44).¹⁵⁰
Abb. 44: Für die Angehörigen dieses nordamerikanischen Indianerstammes gehörte die Spitzform des Schädels zum Aussehen eines »Menschen«. Schon die Köpfe der Säuglinge wurden deshalb in eine Konstruktion von Holzplatten eingespannt, um das Schädelwachstum in die gewünschte Richtung zu zwingen.
Wer schön sein will, muss leiden. Bei den Buschmännern der Kalahari-Wüste wird selbst in Hungersnöten tierisches Fett verwendet, um den Körper zum Glänzen zu bringen – womit die Buschmänner genau dieselbe Priorität setzen, die schon im allerersten schriftlichen Zeugnis der Menschheit überliefert ist: »Was muss ich dir geben, wenn ich dich nehme?«, fragt Gilgamesch darin seine Angebetete Ischtar. »Brauchst du Salbe für den Leib, oder brauchst du Gewänder?« Erst danach fragt er noch: »Fehlt es dir etwa an Brot oder Nahrung?« Dass auch der Jugendwahn genauso wenig eine Erfindung unserer Zeit ist, auch das wissen wir von Gilgamesch, der auf der Suche nach einer ewige Jugend verheißenden Pflanze alle erdenklichen Todesgefahren auf sich nimmt. Eines hebt unsere Epoche jedoch tatsächlich von allen vorhergehenden ab: Zum ersten Mal ist die Beschäftigung mit Schönheit und Schönheitsverbesserung nicht einer kleinen Schicht von Müßiggängern vorbehalten, sondern hat buchstäblich alle Schichten erfasst. Der einst elitäre Schönheitswahn ist demokratisiert worden. Was unseren modernen Schönheitswahn aber am meisten von allen seinen Vorgängern unterscheidet, ist die Tatsache, dass Schönheit durch den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in einem Maße machbar geworden ist, wie das zu keiner Zeit vorher auch nur denkbar gewesen wäre.
15 Schönheit in Zeiten ihrer Machbarkeit Im Jahr 2004 bietet ein Lebensmitteldiscounter in Österreich eine Botox-Behandlung zum Vorzugspreis von 149 Euro an. Auch Schönheitskliniken setzen zunehmend auf Laufkundschaft, die sich ihre Peelings und Straffungen in der Mittagspause abholt. Die Branche spricht (auf Englisch natürlich, das klingt so schick) vom »Lunchtime-Konzept«. »Damit ist es jetzt möglich, nach einer Behandlungsdauer von ca. einer Stunde wieder zur Arbeit zurückzukehren«, heißt es etwa auf der Internetseite der Berliner Charité. War der Gang zum Schönheitschirurgen noch in den achtziger Jahren so tabubeladen wie eine Abtreibung und wurde von der Geheimhaltungsstufe her entsprechend behandelt, so kann sich heute auf der Siegerstraße sehen, wer die Dienste der Schönheitsmacher in Anspruch nimmt. »Gutes Aussehen ist ein Beweis erfolgreicher Lebensführung, sowohl im privaten wie im beruflichen Bereich. So steht heute Schönheitschirurgie bei Frauen wie bei Männern für gesteigertes Selbstbewusstsein, mehr Vitalität und Frische und nicht zuletzt auch für Karriere und persönlichen Erfolg«, lautet etwa die »Philosophie« einer großen Klinikkette.
Schön gemacht
»Ästhetische Medizin« ist innerhalb von wenigen Jahren vom Schickeriathema auf dem Planeten Hollywood zu einem Thema der Straße geworden. Der Anteil derjenigen, die Schönheitsoperationen ablehnen, nimmt rapide ab. Nach einer Forsa-Umfrage von 2004 für den Stern haben 70 Prozent der Deutschen mittlerweile keine Einwände gegen Schönheitschirurgie mehr. 23 Prozent der deutschen Frauen zwischen 30 und 40 würden einen Eingriff machen lassen, wenn er nicht so teuer wäre. In Amerika haben sich fünf Prozent der College-Studenten bereits unters Messer begeben. Die Hauptgründe für die neue Popularität liegen im technisch-medizinischen Fortschritt, denn neue Methoden und bessere Techniken erlauben immer zeitsparendere und schonendere Eingriffe. Dazu kommt der rapide Preisverfall, der Schönheit durch Skalpell und Laser auch für Normalverdiener erschwinglich gemacht hat – zumal die Ratenfinanzierung über einen Kredit immer gebräuchlicher wird. 70 Prozent der Klienten amerikanischer Schönheitschirurgen verdienen weniger als 50.000 Dollar im Jahr, 30 Prozent sogar weniger als 25.000. Es ist vor allem dem Einsatz der Massenmedien zu verdanken, dass medizinische Schönheitsverbesserung heute nicht nur »normal« geworden ist, sondern regelrecht hip. In vielen Medien kommt sie als eine Art neuer Trendsport daher. »Coole Faltentherapie nach heißen Sommertagen« heißen jetzt die Werbesprüche der Branche, oder »smart operations for smart people«. Smart people gehen nicht durch den Hintereingang zu »ihrem« Chirurgen
und haben kein Problem damit, dass man weiß, was an ihnen gemacht wurde. Die Ergebnisse der »smart operations« werden auf Rating-Seiten im Internet stolz der Öffentlichkeit zur Bewertung vorgelegt.
Der Boom in Zahlen: Im Jahr 2004 wurden nach Angaben der American Society for Aesthetic Plastic Surgery in den USA 11,9 Millionen schönheitsmedizinische Eingriffe vorgenommen,¹⁵¹ das bedeutet gegenüber dem Vorjahr einen Anstieg um 44 Prozent, gegenüber 1997 um 465 Prozent. Für das neue Aussehen blätterten die »Patienten« 12,5 Milliarden Dollar hin. Die häufigsten Eingriffe waren Fettabsaugungen (478.251), Nasen- (305.000) und Augenlidkorrekturen (334.052). Die Hitliste der nichtchirurgischen Eingriffe wird von Botox-Injektionen angeführt, das mit drei Millionen Behandlungen und einer Zuwachsrate von 280 Prozent innerhalb von vier Jahren alle anderen Verfahren überholt hat. Die Zahlen für Deutschland nehmen sich dagegen (noch) recht bescheiden aus: 2004 wurden ca. 450.000 schönheitschirurgische Behandlungen durchgeführt, der Umsatz der Branche beträgt hierzulande rund 1,6 Milliarden Euro. Wer aber ist es eigentlich, der sich da operieren lässt? 90 Prozent der schönheitschirurgischen Kundschaft sind Frauen, und zwar meist im Alter zwischen 35 und 50 Jahren. Ein knappes Viertel ist unter 35, ein Drittel über 50. Kinder unter 18 machen zwei Prozent aus. Bemerkenswerterweise gehen nicht etwa die Hässlichen, sondern die mittleren bis höheren Schönheitsklassen zum Chirurgen.
Die meisten Kunden sind nach den entsprechenden Studien mit dem Ergebnis zufrieden. Ob sie danach auch mit ihrem Leben zufriedener sind? – Die Frage ist wegen der unsicheren Datenlage schwierig zu beantworten. Tendenziell scheinen sich vor allem Brustverkleinerungen positiv auf die Lebensqualität auszuwirken. Männer, jüngere Patienten, Depressive oder Angstgestörte scheinen dagegen weniger zu profitieren, und noch weniger Zufriedenheit stellt sich bei Menschen mit gestörtem Körperbild ein (die immerhin sechs bis 15 Prozent der Klientel von Schönheitschirurgen stellen sollen.¹⁵² Ein beunruhigendes Ergebnis erbrachte eine schwedischniederländische Studie an 3521 Patientinnen, die sich den Busen durch Silikonimplantate hatten vergrößern lassen. Bei ihnen wurde nicht nur eine in den Folgejahren nach der Operation deutlich erhöhte Sterblichkeit festgestellt, sondern auch eine um das Dreifache erhöhte Selbstmordrate. Dieser Befund wurde inzwischen in mehreren Studien bestätigt, die darüber hinaus bei den operierten Patientinnen eine Häufung von psychischen Auffälligkeiten feststellten – die Frauen wurden im Jahr vor der Operation häufiger psychotherapeutisch behandelt, und auch die Anzahl der Einweisungen in psychiatrische Kliniken lag deutlich höher. Ob eine Schönheits-OP also wirklich zu mehr Lebenszufriedenheit verhilft, hängt offenbar sehr von der jeweiligen Persönlichkeit ab.
Schönheit aus der Retorte
Das goldene Zeitalter der Schönheitschirurgie ist gerade angebrochen, und schon ist die nächste Gründerwelle in Sicht. Mit dem Fortschritt der Reproduktionsmedizin ergeben sich immer mehr Möglichkeiten, die Weichen zum perfekten Körper schon vor der Zeugung richtig zu stellen. Wer in puncto Schönheit nur das Beste für sein Kind will, ist bei Ron Harris richtig. Der Ex-Playboy-Fotograf bietet seit dem Jahr 1999 auf seiner Website www.ronsangels.com Zugang zu den denkbar schönsten Ei- und Samenzellen. Seine Kaufargumente sind simpel: »Schönheit wird Ihren Kindern bei ihrem Streben nach Glück und Erfolg helfen.« Dabei bezieht er sich ganz explizit auf die Natur, in der Schönheit nun einmal »an den Meistbietenden« gehe. Nur konsequent, dass er sein Business als Auktion aufzieht: Die Ei- und Samenzellen der in seinem Katalog geführten Schönheiten werden meistbietend versteigert, im Fall von Eizellen fällt der Hammer in der Regel bei Geboten zwischen 15.000 und 150.000 Dollar. Dass es sich hierbei nicht um Zukunftsmusik handelt, zeigt die Tatsache, dass Harris mit seiner Geschäftsidee nach eigenen Angaben bis heute 39 Millionen Dollar Umsatz gemacht hat.
Eine andere Zukunftstechnik hat schon ein paar Jahrtausende auf dem Buckel: das Frisieren von Bildern. Wir dürfen uns ziemlich sicher sein, dass schon Nofretetes berühmte Büste attraktiver ausgefallen ist als das Original. Dasselbe gilt auch für die Büsten der Cäsaren, die von ihren Schöpfern genauso aufgehübscht wurden wie später die
Porträts der Aristokraten und Päpste in den Ateliers der Renaissance. Mit der Erfindung von Fotografie und Film kam die Retusche gleich mit auf die Welt. Allein das Hollywood-Studio MGM beschäftigte in der Nachkriegszeit 22 Vollzeit-Retuscheure. Mit dem Siegeszug des Computers verschoben sich die Grenzen zwischen realer und geschönter Bilderwelt noch weiter. Heute ist auf den Covers der Zeitschriften buchstäblich kein Model mehr zu sehen, das wirklich so aussieht, wie es wirklich aussieht.¹⁵³ Hier wurde ein Auge hellblauer gemacht, dort ein Nasenrücken begradigt, Zähne geweißt, ein Busen aufgepumpt. Ganz im Zentrum aller Bemühungen steht jedoch die Makellosigkeit der Haut. Dass sie von allen Schönheitsfaktoren unbestritten die erste Geige spielt, wissen Sie aus Kapitel 2 von den MorphingVersuchen der Regensburger Wissenschaftler um Martin Gründl. Auch das Gesicht in Abb. 45 stammt aus den Regensburger Computern. Es ist kein reales Wesen, sondern das Ergebnis einer »Morphing«-Prozedur, bei der 22 Originalgesichter elektronisch übereinander gelagert wurden. Aber nicht etwa irgendwelche Gesichter, sondern ganz besondere – nämlich die der Siegerinnen der einzelnen Landesausscheidungen bei der Wahl zur Miss Germany 2001. Alle Schönheiten waren gebeten worden, sich ungeschminkt ablichten zu lassen.
Abb. 45: »Virtuelle Miss Germany 2001«, bestehend aus den 22 Siegerinnen der Landesausscheidungen (Gründl et al. 2001)
Das virtuelle Geschöpf ist übrigens am 25. Juni 2002 im Regensburger Donauzentrum gegen die echten – ebenfalls ungeschminkten – Miss-Germany-Kandidatinnen angetreten. Was meinen Sie, wer gewonnen hat? Ja, tatsächlich – und zwar deutlich. Während sich die »Miss Bremen« als schönste der echten Schönheiten mit 4,9 (von sieben) zufrieden geben musste, erhielt ihre synthetische
Kollegin 6,2 Punkte. Und die dürfte sie zu einem guten Teil ihrem unerreichbar glatten Teint zu verdanken haben. Dazu kommt, wie Ihr geübtes Auge vielleicht schon erkannt hat: Die virtuelle Miss Germany ist von ihren Gesichtsproportionen her ziemlich kindlich. Sie wirkt jünger, als es die »echten« Teilnehmerinnen im Durchschnitt waren, und ist damit ein gutes Beispiel für die Komponente »Kind« in der schönen Frau – zu erkennen vor allem an der gedrungeneren Kieferpartie, d. h. dem im Vergleich zur »Durchschnittsfrau« auf S. 48 geringeren Abstand zwischen Mund und Kinn. Die Schöne hat außerdem eine etwas vollere Oberlippe, etwas höher stehende Augenbrauen, die die Augen größer erscheinen lassen, und etwas schmalere Wangen. Der Sieg hat einen bitteren Beigeschmack. Offenbar fahren wir auf ein Wesen ab, das uns mit einer Makellosigkeit verführt, die buchstäblich nicht von dieser Welt ist – und doch den Standard darstellt, an dem sich fortan alle zu messen haben.
Schönheit im digitalen Zeitalter
Die Entwicklung geht unaufhaltsam weiter. Inzwischen werden am Computer Models erschaffen, die keinerlei Zutaten von menschlichen Wesen mehr brauchen, sich aber bewegen und sogar reden können wie echte Menschen – und das in 3D-Optik. Das erste digitale Model ist bereits bei einer renommierten Modelagentur unter Vertrag. 2004 fanden zum ersten Mal Wahlen zur »Miss Digital World« statt, bei denen per Mausklick oder SMS die schönsten virtuellen Kreationen gekürt wurden. Claudia Schiffer und Heidi Klum konkurrieren von nun an mit Gesichtern und Körpern, die nicht altern, nie ihre Tage haben, nie schlecht gelaunt sind und in Paris und New York gleichzeitig beim Shooting sein können – und die mit der rasanten Entwicklung der Speicherchiptechnologie jeden Tag perfekter werden. Aber ist diese künstliche, makellose Schönheit nicht langweilig und kalt? – Tatsache ist, dass uns allzu perfekte Schönheit oft kalt lässt. Wir vermissen an ihr den Anknüpfungspunkt zu Normalsterblichen, eine Brechung der Perfektion wie etwa den abgebrochenen Zahn der Rossellini oder eine leichte Asymmetrie – kurz, die Menschlichkeit.
Abb. 46: Kaya, eine der Preisträgerinnen im Wettbewerb 2004. »Ich versuche eine realistisch aussehende Frau zu schaffen, die Sängerin oder Schauspielerin werden könnte«, sagt ihr Schöpfer, der brasilianische Computerkünstler Alceu Baptistão.
Aber selbst dieser Einwand prallt an der neuen Technik ab, denn auch der Makel lässt sich digital konstruieren. Nicht nur die Schönheiten werden immer perfekter, perfiderweise werden selbst ihre Makel perfekter, um uns noch effizienter zu verführen und zu umgarnen.
Was ist echt an dem, was wir sehen? Schon heute ist die Frage kaum zu beantworten. Schönheit lässt sich synthetisieren, wie man einen Diamanten synthetisieren kann, der ohne die Hilfe von Experten nicht mehr vom Original zu unterscheiden ist – außer dass er sogar noch härter ist als der echte. Brauchen wir am Ende womöglich auch für Menschen ein Echtheitszertifikat?
Der Fall Sloggi
Die Analogie mit dem Diamanten hat allerdings einen Haken – denn der künstliche Diamant ist zwar härter, aber nicht schöner. Beim Menschen kommt dagegen der fatale Umstand hinzu, dass die künstliche Schönheit auch noch die schönere ist. Wir bevölkern die Welt also mit Wesen, gegenüber denen unsere eigene Schönheit verblassen muss. Und mit denen wir uns doch, ob wir wollen oder nicht, vergleichen müssen. Die neue Dimension von Schönheit trägt – nur um ein Beispiel zu nennen – den Namen »Sloggi«. Um ihr angestaubtes FeinrippImage aufzumöbeln, hob die Unterwäschemarke »Triumph« im Jahr 2001 eine Kollektion für die jüngere Kundschaft aus der Taufe – und nannte sie »Sloggi«. Die Kampagne setzt voll auf die Künste der Pixelvirtuosen: Beine wurden verlängert, Pos gerundet, Taillen verengt – und vor allem natürlich: Haut geglättet.
Abb. 47: Werbeplakat für »Sloggi«-Tangas.
»Sloggi« war nun nicht die erste Kampagne, die Körper digital aufmotzte. Was die Sloggi-Bilder jedoch einzigartig machte, war die Tatsache, dass sie gerade wegen der Verwendung »artifizieller Überwesen« (Neue Zürcher Zeitung) ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten. In Basel wurden die entsprechenden Plakate nach Protesten der Bevölkerung sogar von den Stadtbehörden verboten. In Frankreich beschäftigte sich das Parlament auf Antrag der früheren Familienministerin Ségolène Royal mit dem Fall, nachdem
feministische Gruppen landesweit gegen die Sloggi-Plakate mobilisiert hatten. Anfang 2004 startete die Kosmetikmarke Dove eine groß angelegte Kampagne, die wie eine Gegenoffensive wirkt. Anstatt langer Beine und weggepixelter Fältchen werden »ganz normale« Frauen in Szene gesetzt, die mit ihren paar Kilo zu viel ganz offensichtlich glücklich und zufrieden sind – Dove sei Dank. Flankiert wird die Anzeigen- und Plakataktion von einer »wissenschaftlichen« Studie, in der die »echte Wahrheit über Schönheit« – so der Titel – zutage gefördert und per Pressemitteilung unters Volk gebracht wird. »Die deutschen Frauen sagen perfekten Superkörpern den Kampf an«, heißt es da. Frauen wollen demnach gar nicht perfekt aussehen, sondern »natürlich«. Mit der »Initiative für wahre Schönheit« im Internet setzt sich Dove an die Spitze der Bewegung. Die Kampagne wurde inzwischen nicht nur mit dem begehrten »EFFIE« der Werbebranche ausgezeichnet, auch kommerziell ist sie ein voller Erfolg. Dove verzeichnet seit Beginn der Aktion deutliche Umsatzsteigerungen. Inzwischen wurde die »No models«-Idee von Nike (»Mein Hintern ist groß«) und »Du darfst« (»Endlich! Frauen dürfen wieder Kurven haben«) übernommen.
Abb. 48: »Dove«-Werbung.
Öfter mal was Neues
Ist sie also da, die lang ersehnte Wende? Die »neue Weiblichkeit«, die sich nicht mehr ins Korsett der von Hungermodels aufgestellten Schönheitsstandards zwängen lässt? Gemach. Zunächst einmal ist die Dove-Idee eine Mode, und von Moden wissen wir, dass sie die Tendenz haben, wieder zu verschwinden. Die No-Model-Masche wurde auch nicht von Dove erfunden. In den achtziger Jahren etwa ließ Esprit die eigenen Mitarbeiterinnen auf Plakaten posieren. Die Wende wird seit Jahrzehnten in ziemlich regelmäßigen Abständen ausgerufen. Werbung und Medien leben nun mal von immer neuen Trends. »Endlich sind wieder weibliche Formen angesagt«, steht dann in den Blättern. Elle beispielsweise informierte ihre Leserinnen im Winter 2003 über den Anbruch der Ära der »rundlichen, gitarrenförmigen Figur«. Wenn ein bekannter Star nach der Geburt eines Kindes Gewichtsprobleme bekommt – sofort ist der Trend geboren. »Ja, wir wollen Moppel-Verona«, heißt es dann anlässlich des ersten öffentlichen Auftritts der jungen Mutter nach der Entbindung. Die Realität scheint sich gleichwohl um die medialen Inszenierungen wenig zu scheren. Weltweit ist der Schlankheitswahn ungebrochen. Zusammen mit der globalisierten Leitkultur breitet er sich immer mehr auch auf die ehemals weißen Flecken der Landkarte aus. In Afrika und Asien beispielsweise gehören Essstörungen zu den Erkrankungen mit den höchsten Zuwachsraten. Und trotzdem – natürlich wird die Wende kommen.
Denn auch der fettfreie Körper ist nichts als eine Mode, die früher oder später den Weg jeder Mode gehen wird und für die Spätere nur noch ein Kopfschütteln übrig haben werden. »Sie fasteten, turnten und kotzten« wird dann vielleicht irgendwo auf dem Grabstein unserer Epoche stehen. Ob der Wendepunkt am Ende wirklich die Dove-Kampagne gewesen sein wird oder »Moppel-Verona«, darf mit Recht bezweifelt werden. Viel eher könnte ein Paradigmenwechsel zum Umdenken beitragen, der sich derzeit im wissenschaftlichen Überbau abzeichnet: Immer mehr Studienergebnisse weisen darauf hin, dass das derzeitige (auch von der Medizin aufs Heftigste propagierte) Prinzip »Je schlanker, desto besser« nicht etwa der Garant für ein langes und gesundes Leben ist, sondern dass auch etwas fülligere Formen einem langen Leben nicht im Wege stehen. Nachdem die Medizin über Jahrzehnte noch jeder Diät-, Fitness- und Abmagerungsmode die Argumente geliefert hat, scheinen die festgefügten Dogmen von früher allmählich ins Wanken zu geraten.
Schöner Mann ante portas?
Aber Achtung: Auch wenn der Schlankheitswahn eines Tages tatsächlich abserviert werden sollte, heißt das noch lange nicht, dass das Streben nach Schönheit zu Ende ist. Global gesehen, hat der Siegeszug des Schönheitswahns gerade erst begonnen. In Indien wächst der Verkauf von Faltencremes derzeit jährlich um 40 Prozent, und in Brasilien gibt es mehr »Avon Ladies« (900.000) als Männer und Frauen in der Armee. Zunehmend erfasst die Schönheitswelle auch den Mann. 1957 wurde in der Pariser Agentur von Catherine Harlé zum ersten Mal ein männliches Model aufgenommen. Noch in den achtziger Jahren waren die Kummerkästen der Frauenmagazine angefüllt mit Fragen wie »Wie bringe ich meinen Mann ins Bad?«. Heute verfügt zumindest der junge Mann über ein ganzes Arsenal an Gels, Wässerchen etc. im Badezimmer, mit denen er die Haare nach der aktuellen Fasson in Szene setzt sowie Körpergerüche und optische Makel bekämpft. Mit dem »Waschbrettbauch« hat er inzwischen sogar sein eigenes Schönheitssymbol – Muskeln, von denen er noch vor zehn Jahren gar nicht wusste, dass er sie besitzt. Auch an seinen anderen Muskeln muss er, seit er sie nicht mehr für die Arbeit braucht, im Fitness-Studio hart arbeiten.¹⁵⁴ Eine Bauarbeitersilhouette gehört unter amerikanischen College-Studenten mittlerweile zum Mainstream. Ohrschmuck, Fingerringe und Piercings diffundieren langsam aus dem Schwulenmilieu in die Mitte der Gesellschaft. Glaubt man Karl Lagerfeld, ist das nur der Anfang: »Die Männer werden Schmuck, Federn und Perlen tragen und sich schminken.«
Doch so imposant die Zuwachsraten auf der männlichen Seite auch sind, an der Tatsache, dass der Markt der Schönheitsanstrengungen von Frauen dominiert wird, hat das erst einmal nichts geändert. Nach wie vor ist die Kundschaft der Schönheitsdoktoren so gut wie ausschließlich weiblich. Von 100 Models sind 85 Frauen. Modehäuser setzen drei Viertel ihres Umsatzes mit weiblicher Kundschaft um, bei der Haute Couture sind es sogar 95 Prozent. 90 Prozent aller Produkte der Beauty- und Lifestyle-Presse richten sich an Frauen. Evolutionspsychologisch gedacht gibt es, wie wir wissen, gute Gründe, warum der Mann in Sachen Schönheit immer hinterherhinken wird. Dass der schöne Mann derzeit allerdings Boden gutmacht, ist unbestritten. Ob das so weitergeht, wird sich zeigen – und genauso, ob es sich für ihn am Ende als Segen oder Fluch herausstellt.
Schöner, schlanker, jünger?
Wie wird es weitergehen mit der Schönheit? Hiermit seien ein paar Prognosen gewagt: 1. Ob mit oder ohne Mann, der Schönheitswahn wird weitergehen. Wir haben in diesem Buch genug Argumente gehört, warum Schönheit nicht um ihren zentralen Platz in unseren Sehnsüchten zu fürchten braucht. Zu allen Zeiten haben Menschen einen erklecklichen Teil ihrer Ressourcen in die Steigerung und Erhaltung ihrer Schönheit investiert. In dem Maße, wie sich unser Wohlstand mehrt, werden das auch unsere Schönheitsbemühungen tun. 2. Der Jugendlichkeitswahn wird weiter um sich greifen. In einer alternden Gesellschaft ist Jugend ein knappes Gut und wird damit geradezu naturgesetzlich zum Objekt der Begierde. 3. Mit dem technologischen Fortschritt wird Schönheit in immer höherem Maße machbar. Und was machbar ist, so lehrt die Geschichte, wird auch gemacht. Insbesondere der Einsatz von nichtchirurgischen Hautverjüngungstechniken, wie etwa Botox, wird schon in naher Zukunft so »normal« sein wie der Gang zum Zahnarzt. 4. Die rasante Entwicklung der Schönheitstechnologien wird den Graben zwischen Arm und Reich weiter aufreißen. So wie wir heute die Herkunft eines Menschen am Zustand seiner Zähne ablesen können, werden wir es in Zukunft an seiner faltenfreien Haut tun. 5. Der Zwang zum Schönsein wird weiter zunehmen. Das heißt aber nicht, dass alle mit fliegenden Fahnen mitmachen
werden. Jede Entwicklung bringt auch Gegenkräfte hervor. Wo ein Wert sich verabsolutiert, erhalten andere Werte eine Chance. Jedoch nicht etwa Hässlichkeit, deren Kult angeblich im Kommen ist, der aber mehr wie ein Pfeifen im Walde wirkt.¹⁵⁵ Nein, es wird diejenigen geben, die einfach nicht mitmachen, sich dem Stress nicht unterwerfen, nicht alles machen, was machbar ist, und sich ihrer Schönheit trotzdem (oder gerade deswegen) erfreuen.
16 Jenseits des Schönheitswahns Wer hat uns den Schönheitswahn überhaupt eingebrockt? Wenn Menschen plötzlich massenhaft vom Wunsch beseelt und gequält sind, ihr Aussehen zu verbessern, muss daran doch irgendjemand die Schuld tragen. Die Männer, so lautet seit jeher die Antwort des Feminismus. Was wir Schönheit nennen, ist demnach nichts anderes als ein »Mythos«, dessen einziger Zweck darin besteht, Frauen klein zu halten. Das »schöne Geschlecht« soll sich mit Wimperntusche und Schnittmustern beschäftigen, um ja nicht auf den Gedanken zu kommen, nach der wirtschaftlichen Macht der Männer zu greifen. »In dem Maß, wie es Frauen gelang, sich vom Kinder-KücheKirche-Weiblichkeitswahn freizumachen«, schreibt die amerikanische Publizistin Naomi Wolf in ihrem 1990 erschienenen Weltbestseller Mythos Schönheit, »übernahm der Schönheitsmythos dessen Funktion als gesellschaftliches Herrschaftsinstrument.« Die griffige Formel von der Weltverschwörung der Männer hat inzwischen einen Großteil ihrer Anhängerinnen verloren, darunter auch Teresa Riolan, die in ihrem Buch Inventing Beauty die Geschichte der großen Erfindungen der Schönheitsbranche beschreibt. »So sehr es anfangs auch die Feministin in mir ärgerte«, schreibt sie im Vorwort, »muss ich doch zugeben, dass die treibende Kraft hinter vielen dieser Erfindungen Frauen sind.« Wie Riolan
nachweist, lauten bis heute nur ein Prozent aller US-Patente auf Frauen. Wenn es aber um Schönheitspflege geht – vom Lippenstift bis zum High-Tech-Epiliergerät –, sind es fast zwei Drittel.
Das unbarmherzige Geschlecht
Ganz besonders der Schlankheitswahn wird seit jeher den Männern angelastet, und diese Überzeugung hat bis heute nicht an Popularität eingebüßt. Psychologische Untersuchungen kommen jedoch in schöner Regelmäßigkeit zu dem Ergebnis, dass die Schlankheitsnormen der Frauen deutlich strenger sind als die der Männer. Fragt man Frauen nach ihrem Traumgewicht und Männer nach dem Gewicht ihrer Traumfrau, ergibt sich ein Unterschied von sage und schreibe 1,5 Body-Mass-Indexpunkten, also ungefähr vier Kilogramm. Die unterschiedlichen Geschmäcker schlagen sich beispielsweise darin nieder, dass die Models in Männerzeitschriften deutlich fülliger sind als ihre Kolleginnen in den Frauenzeitschriften (wenn auch immer noch unter dem Durchschnittsgewicht). Offenbar sind es also die Frauen, die mit ihrer Weiblichkeit mehr Probleme haben als die Männer. Was sich im Dezember 2004 anlässlich der Premiere des zweiten Bridget-Jones-Films in der ZEIT nachlesen ließ, ist dafür symptomatisch. Die Hauptdarstellerin Renée Zellweger hatte für den Film 13 Kilo zugenommen, um so richtig aus allen Abendkleidern zu platzen, wie es das Drehbuch vorsah. »Sie sieht einfach fabelhaft aus«, schreibt der Kulturredakteur Jörg Lau. »Leider scheint sie das selber anders zu sehen und hat sich gleich nach Drehschluss wieder auf ihr mageres kleines Selbst zurechtgehungert. Ich habe es nicht über mich gebracht, die Pressekonferenz aufzusuchen.«
Fast könnte man sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem Schönheitskult den Feminismus gleichermaßen geboren wie beendet hat. Ein Schönheitswettbewerb war 1968 der Anlass für die erste feministische Demonstration der Gegenwart. Rita Freedman beschreibt in ihrem Buch Die Opfer der Venus, wie dabei auf der Strandpromenade von Atlantic City eine riesige Mülltonne mit Lockenwicklern, Perücken, falschen Wimpern und Büstenhaltern gefüllt wurde. Ob danach wirklich Feuer an diese »Folterinstrumente des weiblichen Lebens« gelegt wurde, ist immer noch umstritten; trotzdem hatte die Bewegung ihren Namen weg: »Bra-Burners«. Bald aber wurde die Frage nach dem Umgang mit der Schönheit zum Spaltpilz der feministischen Bewegung: Der fundamentalistische Teil lehnte jede Schönheitsanstrengung ab, nicht nur für sich selber, sondern auch für ihre Mitschwestern. »Wie können Sie Feminismus predigen, wo Sie so angezogen sind?«, bekam eine modebewusste Aktivistin von einer Mitstreiterin zu hören. Die »Schönen« wurden mehr und mehr zu Abtrünnigen. Germaine Greer, eine der Urmütter der Bewegung, stellt sogar Schönheit an sich unter Generalverdacht, da sie die »Glotzaugen der Männer« anziehe: »Ein voller Busen ist in Wirklichkeit ein Mühlstein am Hals einer Frau.« Während der harte Kern der Bewegung weiterhin die Entlarvung des von Männern geschaffenen »Schönheitsmythos« betreibt,¹⁵⁶ hat die wachsende Mehrheit der Frauen mit Lippenstift und Minirock längst kein Problem mehr. Vor allem die Jüngeren haben entdeckt, dass sich Kajal und Karriere genauso wenig ausschließen wie Spazierengehen und Kaugummikauen, ja, dass Schönheit durchaus dabei behilflich sein kann, die männlichen Machtbastionen zu stürmen.
Aber irgendjemand muss doch schuld sein!
Die Suche nach den für den Schönheitskult Verantwortlichen muss also weitergehen. Zum Glück steht schon ein neuer Kandidat bereit: die Medien. Schließlich sind sie es, die bestens davon leben, uns mit Schönheit zu überschwemmen und zu verunsichern. Nur – den Schönheitswahn gab es schon zu garantiert medienfreien Zeiten. Bereits vor mindestens 4000 Jahren verwendeten die Menschen Schminke. Wo immer ein Fürstengrab ausgegraben wird, finden sich unter den Grabbeigaben bei den Frauen Salbentöpfchen und Haarnadeln. Ohne Zweifel können die Medien Modetrends verstärken und beschleunigen. Aber haben sie wirklich die Macht, den Menschen etwas einzuimpfen, was diese gar nicht wollen? Keine Zeitschrift würde verkauft, wenn wir sie nicht kaufen würden. Und jede Fernbedienung hat einen Aus-Knopf. Wenn die Medien den Schönheitswahn wirklich erfunden hätten, dann genauso den Fußball-»Wahn«, den Promi-»Wahn«, den Nachrichten-»Wahn«, den Krimi- und Spielfilm-»Wahn«. Viel wahrscheinlicher ist, dass all diesen Spielarten des »Wahnsinns« irgendwelche menschlichen Bedürfnisse zugrunde liegen – nach dem Anblick schöner und berühmter Menschen, nach Informationen und nach Geschichten aller Art – und dass diese von den Medien gewinnbringend bedient werden. Dasselbe könnte auch für unseren nächsten Kandidaten gelten, der im Zusammenhang mit dem grassierenden »OPWahn« gerne als Schuldiger ins Spiel gebracht wird: die Ärzteschaft. Schließlich sind es die Ärzte, die sich an all den
Operationen, Peelings, Laserbehandlungen und Fettabsaugungen eine goldene Nase verdienen. Ohne Ärzte keine Operationen, so einfach ist die Welt. Nur: Gäbe es ohne Operationen etwa keinen Schönheitswahn mehr? Elizabeth Haiken zeigt in ihrer Geschichte der kosmetischen Chirurgie, dass zumindest in deren Anfangszeiten eindeutig die Patienten und nicht die Ärzte der Motor der Bewegung waren. Sie waren es, die auf die Änderung ihres Äußeren drangen (meist ging es dabei um die Anpassung der Nasenform der nach Amerika eingewanderten Männer [!] an die herrschende Norm der White Anglo Saxon Protestants), während die Ärzte ihre Kunst auf das »rein medizinisch« Indizierte beschränken wollten. Mittlerweile wird die »ästhetische Indikation« ernster genommen, und mancher Arzt hat die Skrupel, die ihm der hippokratische Eid auferlegt angesichts der satten Gewinne, die im Schönheitsgeschäft winken, gründlich abgestreift.¹⁵⁷ Trotzdem stehen hinter jeder Operation immer noch der Wunsch und die Investitionsbereitschaft eines »Kunden«.
Vielleicht sollten wir unsere Suche nach einem Schuldigen einfach bleiben lassen. Stellen wir uns der schlichten Wahrheit, dass es den Schönheitswahn nur gibt, weil wir selber nach Schönheit und Jugendlichkeit gieren, weil wir ein besseres Aussehen mit Glückseligkeit gleichsetzen, weil wir uns in unserer alternden Haut nicht wohl fühlen. Wir sind es, die jeden Trend mitmachen und uns jedes wirkungslose Püderchen und Wässerchen andrehen lassen. Wir sind nicht die armen Opfer irgendwelcher dunklen Verschwörungen. Der Schönheitswahn sitzt zwischen unseren eigenen Ohren.
Und wennschon?
Zeit für eine heikle Frage. Was ist eigentlich so schlimm am »Schönheitswahn«? »Wir wären dumm, wollten wir nicht gefallen und verführerisch sein«, schreibt die Biologin Nancy Etcoff. Wer wollte ihr widersprechen? Schönheit zahlt sich trefflich aus. Was ist schon gegen ein bisschen Lippenstift, Kajal und Rouge einzuwenden? Und warum dann nicht gleich das volle Programm buchen? Botox macht Ihr Gesicht wirklich glatter, und das zum Preis von dreimal Volltanken. Warum also nicht ein Spritzchen in Ehren? Und die Tränensäcke? Ein Minieingriff, und Sie sind das Problem für die nächsten zwanzig Jahre los. Und die Nase, die schon immer gestört hat? Oder der Busen? Wo verläuft die Grenze? Sie sehen schon: ein kniffliges Problem, das nach Expertenrat schreit. Stellen wir die Fragen also an die beiden exklusiv für dieses Buch engagierten Spezialisten, Dr. Pro und Prof. Contra. – Sehr geehrter Dr. Pro, sehr geehrter Prof. Contra, was für Mittel darf man bei der Selbstverschönerung einsetzen? CONTRA: Ich lehne Schönheitsoperationen strikt ab. Jeder ist nun mal so, wie er ist … PRO: Haben Sie vielleicht auch was gegen Schminken? Gehören Sie vielleicht zu so einer Fundi-Sekte? Auch ein BH ist ein Täuschungsmanöver … CONTRA: Natürlich, aber Sie werden doch zugeben, dass ein Eingriff in Vollnarkose unnatürlicher ist als so ein Kleidungsstück oder ein Strich mit dem Lippenstift.
PRO: Was heißt hier natürlich? Ist eine Blinddarm-OP etwa natürlich? CONTRA: Nein, aber notwendig. Ich bin nicht gegen das medizinisch Notwendige. PRO: Aber wer entscheidet, was medizinisch notwendig ist? Wenn jemand von einem Unfall ein entstelltes Gesicht davonträgt, darf er sich doch auch operieren lassen? Auch wenn das rein medizinisch gesehen nicht notwendig wäre … CONTRA: Eine echte Entstellung ist ein durchaus legitimer Grund für einen Eingriff … PRO: Aber wo bitte ist der Unterschied – ob jemand von einem Unfall entstellt ist oder von einem genauso zufälligen genetischen Unfall betroffen ist, der ihn aber genauso entstellt? Wer definiert denn, was eine Entstellung ist? Wenn Ihnen ein Zahn fehlt, gehen Sie doch auch zum Zahnarzt und lassen sich ihn ersetzen. Und Ihre Kinder sind in kieferorthopädischer Behandlung. CONTRA: Eine Schönheitsoperation ist schließlich etwas anderes als eine Zahnspange! PRO: Inwiefern? CONTRA: Immerhin können Leute an einer Schönheitsoperation sterben … PRO: Dann müssten Sie zumindest gegen eine Faltenbehandlung mit Botox-Spritzen nichts einzuwenden haben, Todesfälle sind uns da noch nicht bekannt geworden …
CONTRA: Ich weiß. Aber muss denn alles gemacht werden, was machbar ist? Das Altern gehört nun mal zum Leben. Falten sind auch ein Zeichen von Reife. PRO: Das erzählen Sie mal einer vierzigjährigen Verkäuferin im Modegeschäft, die um ihren Job bangt … Ist es etwa die Schuld der Betroffenen, dass sie aufs Abstellgleis geschoben werden, sobald die ersten Falten auftauchen? CONTRA: Sollen wir also noch alle als Fünfzigjährige so rumlaufen wie Britney Spears? PRO: Wenn die Leute sich dabei wohler fühlen, warum nicht? CONTRA: Und der, der nichts an sich machen lässt, vielleicht weil er das Geld nicht hat, was wird aus dem? PRO: Soziale Gerechtigkeit ist nicht unser Thema. CONTRA: Nein, aber ich mache mir trotzdem Sorgen um die Gesellschaft als Ganzes. Denn so sehr der Einzelne vielleicht von einer Operation profitiert, so sehr setzt die Operiererei uns alle unter noch größeren Druck. Wer mit fünfzig noch so aussieht wie ein Fünfzigjähriger, gehört irgendwann zu den Verlierern. Wir werden nur noch Normbodys um uns haben und alles andere als entsprechend hässlich empfinden … Abartig. Ein Hängebusen wird uns vorkommen wie ehemals ein Kropf … PRO: Und was wäre dabei? Ist die Welt etwa schlechter geworden, seit man keinen Kropf mehr sieht?
Abb. 49: Piero della Francesca: Porträt des Federigo di Montefeltro, 1472 (Florenz, Galleria degli Uffizi). So einen Typ wird es unter der Herrschaft der Skalpell-Diktatur nie mehr geben. Schade eigentlich?
Sie sehen selbst: Auch unsere Experten bringen uns nicht weiter. – Und ich fürchte, auch ich werde Ihnen nicht viel weiterhelfen können. Sosehr es Sie vielleicht enttäuschen wird – von einem Autor werden nun einmal Rat, klare Ansagen, Leitlinien erwartet –, aber auch ich kann eine gewisse Ratlosigkeit nicht abstreiten. Was den Schönheitswahn angeht, bin auch ich Teil des Systems.
Eigentlich finde ich Schönheitsoperationen äußerst unsympathisch. Ich bin überzeugt davon, dass wir als Gesellschaft den falschen Weg einschlagen, wenn wir alles machen, was machbar ist. Schon heute empfinde ich die ganzen Silikon-gefüllten Oberweiten im Fernsehen als Plage. Ich kenne (wie Sie inzwischen ja auch) die Ergebnisse der Forschung, wonach die Eingriffe die Betreffenden nicht unbedingt glücklicher machen. Wenn es aber um mich und die meinen geht … Selbstverständlich würde ich meine Kinder zum Chirurgen schicken, wenn sie wegen Segelohren unter dem Spott ihrer Mitschüler zu leiden hätten. Und ich selber? Ich kann gut mit dem Älterwerden leben, aber eine Warze auf der Nase? Wahrscheinlich würde mich das zum Chirurgen treiben. Ich finde eine Sendung wie The Swan pervers, und die meisten der Eingriffe sind für mein Gefühl das Risiko nicht wert. Und doch – wenn ich an manche der operierten »Tatbestände« denke, fühle ich mich außerstande, den ersten Stein zu werfen. Auch ich bin nicht resistent gegen die Verführungen des Machbaren. Wenn es eines Tages eine Schönheitspille geben sollte, ohne Risiken und Nebenwirkungen – natürlich würde ich sie nehmen. Auch ich würde in den Jungbrunnen steigen.
Schönheit – ein Spiel
Jeder wird seine ganz persönliche Grenze zwischen »erlaubter« und »nicht mehr erlaubter« Schönheitsverbesserung ziehen und dabei seine ganz eigenen Argumente haben. Vielleicht verläuft die Grenze aber auch ganz woanders? Nicht irgendwo zwischen Haarefärben und Facelift, sondern dort, wo Schönheit aufhört, ein Spiel zu sein, und in Schönheitszwang umschlägt. Denn Schönheits»pflege« ist zuallererst Selbstinszenierung und damit ein Spiel, das uns quasi in die Wiege gelegt ist. Nicht umsonst ist »Verkleiden« das beliebteste Kinderspiel, rührt es doch an ein allgemein menschliches Bedürfnis: sich selber zu erschaffen. Wer mit seinem Äußeren spielen kann, entwirft sich immer wieder selber neu und ergreift damit von sich selber Besitz. Wohl dem also, der mit seinem Äußeren spielen kann. Ein Quäntchen Narzissmus hat noch niemandem geschadet. (Vielleicht ist es das, was mich manchmal bedauern lässt, nicht als Frau auf die Welt gekommen zu sein. Denn ihr gehört die Spielwiese. Als Frau – natürlich würde ich mich schminken! Natürlich würde ich meine Reize – soweit sie vorhanden wären – »ins Spiel bringen«.) Vielleicht liegt gerade hier das eigentliche Problem an unserem Verhältnis zur Schönheit – dass es eben längst kein Spiel mehr ist, sondern unter der Hand zur Hochleistungsveranstaltung mutiert ist. An die Stelle von Spaß ist puritanischer Ernst gerückt. Überall Gebote, Verbote, Todsünden, verbiesterter Perfektionismus, phantasielose Normierung. Jeder ist ängstlich auf seine
jeweiligen Defizite fixiert und arbeitet verbissen gegen sie an. Haben all die Schönheitsblätter denn noch irgendetwas Spielerisches an sich? Die lustvolle Maskerade ist zu einer ängstlichen Maskierung geworden. Unter einer lockerflockigen Oberfläche von »Beauty«, »Body«, »Wellness«, »Wir Powerfrauen« etc. regiert eine pubertäre, hochnotpeinliche Atmosphäre der Selbstunsicherheit. Von lustvoller Inszenierung keine Spur, stattdessen: Dauerstress. »In 3 Tagen zum Traumbody« wird da von Woche zu Woche aufs Neue von irgendwelchen Schönheitsprofis zum Programm erhoben, was wiederum all jene unter Druck setzt, die auch nach drei Wochen noch keinen Traumbody vorweisen können.
Die Schönheitsfalle
Die Schönheitsindustrie und ihr schreibender Arm haben das Spiel gründlich verdorben. Egal, mit wie viel Schönheit jemand gesegnet ist, froh kann keiner daran werden. Denn es gibt immer ein »noch schöner«. Alle rennen im Hamsterrad und sind damit Opfer des »Paradoxons des Glücks«: Je mehr wir einer Sache nachjagen, desto unglücklicher werden wir. Yuppies, die hinter dem großen Geld her sind, sind im Durchschnitt unglücklicher als solche, denen Geld egal ist. Dasselbe gilt auch für die Schönheit. Studie um Studie bringt dasselbe »paradoxe« Ergebnis: Je mehr sich eine Frau mit ihrem Körper beschäftigt, desto unzufriedener ist sie mit ihm. Oder umgekehrt: Diejenigen scheinen ihr Äußeres am ehesten akzeptieren zu können, die sich am wenigsten über ihr Aussehen definieren. Der aus der eigenen Schönheit gezogene Selbstwert muss wackelig sein. Wie wir aus Kapitel 12 wissen, geht es beim Selbstwertgefühl erstaunlich wenig um die Meinung der anderen. Viel entscheidender ist, ob man sich selber akzeptieren kann, und das wiederum hat mit dem Äußeren recht wenig zu tun. Im Gegenteil: Wer allzu sehr aufs Äußere setzt, ist eher versucht, an den Türen vorbeizulaufen, die zu dauerhafter Zufriedenheit führen. Schönsein hilft zwar bei der Extraportion Käse auf der Pizza; sie macht die Umgebung freundlicher und hilfsbereiter und beschleunigt die Karriere. Sie bewirkt sogar – machen wir uns da nichts vor –, dass die mit ihr Gesegneten mehr vom Begehren und der Liebe ihrer Mitmenschen auf sich ziehen.
Aber macht all das auch glücklich? Von Bewunderung lebt man nicht; auch nicht davon, begehrt zu werden. Nicht Geliebtwerden macht glücklich, sondern wenn man selber liebt. Denn nur die Liebe, die man selber gibt, kann man auch empfinden. Wer Schönheit mit Glück verwechselt, sitzt in der Falle.
Die hohe Kunst der Schönheitsabwehr
Sollen wir also den ganzen Schönheitszirkus mit Verachtung strafen und uns anstatt dem Schönen dem Guten und Wahren zuwenden? »Wahre Schönheit kommt von innen« – dieser Spruch gehört ohnehin zum Grundbestand unserer Glaubensgewissheiten. Er bietet nicht nur Trost, sondern auch die ultimative Lösung unseres Problems mit der Schönheit: Wenn es gar nicht das Äußere ist, das wir als schön empfinden, sondern das Innere, ist Schönheit schlicht wegdefiniert. Im Grunde ist dann jeder schön, für irgendjemanden, auf seine Weise. Amen. Eine andere Methode, sich das »Problem Schönheit« vom Leib zu halten, besteht darin, Schönheit (und die Schönen) abzuwerten. »Eine Schönheit ist eine Frau, der man alles zutraut, aber sonst nicht viel« – der Volksmund ist reich an Sprüchen, mit denen die Schönen in moralischen Misskredit gebracht werden sollen. Das Äußere kann demnach – ganz nach unserer abendländischen Logik – nur auf Kosten des Inneren blühen.¹⁵⁸ Auch der Intellekt muss zwangsläufig von einem angenehmen Äußeren in Mitleidenschaft gezogen werden. Claudia Schiffer und andere Models als dumm zu bezeichnen, gehört geradezu zum guten Ton unter uns »Gebildeten«. Damit teilen die Schönen das Schicksal der Hochbegabten, die ja allseits als »Überflieger«, »Streber«, »sozial Behinderte« etc. bekannt sind. Zum bunten Formenkreis der Schönheitsabwehr gehört auch die Aussage, dass »schöne Gesichter alle gleich aussehen« (nämlich »nichts sagend«, »flach«, »langweilig« etc.). Der Popularität der Überzeugung tut es keinen Abbruch, dass sie
sich nicht auf gesicherte wissenschaftliche Ergebnisse berufen kann. Wohl scheinen wir uns besonders hässliche Gesichter eher leichter einprägen zu können. Dasselbe scheint nach einigen Studien aber auch für sehr attraktive Menschen zu gelten. Eine ebenfalls klassische Spielart des Abwertungsprinzips lautet: »Schönheit ist kalt«. Schon im Märchen wimmelt es von schönen, aber »stolzen« – sprich kalten – Königinnen und Prinzessinnen. »Echte«, warme, unschuldige Schönheit geht meist mit irgendeinem schweren Schicksal einher – das Mädchen ist entweder arm oder verzaubert oder verwaist, also hilfsbedürftig, und deshalb nicht in der Lage, allzu wählerisch zu sein (und etwa den Prinzen oder König abblitzen zu lassen). Sobald Schönheit Macht über uns hat, setzt offenbar ein Drang ein, sie abzuwerten.
Aufruhr in der Luft
Der Abwertungsreflex folgt geradezu zwangsläufig aus unserem Unterlegenheitsgefühl gegenüber den Schönen, welches wiederum das Produkt unserer eingefleischten Gleichsetzung von »schön« und »gut« ist. Wie wir aus dem dritten Teil dieses Buches wissen, können wir gar nicht anders, als die Schönen auch als besser und mächtiger zu empfinden. Die Wirklichkeit mag unser Stereotyp noch so Lügen strafen – wir fühlen uns den Schönen unterlegen. Und diesen unseren Minderwertigkeitskomplex bekommen nun die Schönen zu spüren. Wer fühlt sich schon gerne unterlegen? »Schönheit regiert über unsere Gefühle, beherrscht unseren Willen und versklavt unsere Freiheit und verursacht unglaubliche Sehnsüchte, Exzesse an Leidenschaft und Feuer der Sinnlichkeit«, schreibt der französische Renaissance-Gelehrte David de Flurance Rivault. Schönheit ist eben nicht nur Genuss, sondern hat stets auch etwas von Freiheitsberaubung. Natürlich sind wir selber es, die der schönen Kellnerin mehr Trinkgeld geben, schöne Menschen zuvorkommender behandeln und ihnen mehr zutrauen. Aber sosehr wir dies alles auch von ganzem Herzen tun – aus freiem Willen tun wir es nicht. Denn Schönheit hat – für Männer wahrscheinlich noch mehr als für Frauen – mit Begehren zu tun. Ein schönes Gesicht zieht uns an, ob wir wollen oder nicht, wir müssen hinschauen, müssen bewundern, müssen ihm unsere Aufmerksamkeit schenken. Schönheit »betört« – macht uns zum Tor. Sie macht uns verletzlich, unsicher, ungeschickt. »Schönheit bringt dich aus dem
Gleichgewicht«, sagt die französische Philosophin Simone Weil. Und deshalb liegt auch permanent Aufruhr in der Luft.¹⁵⁹ Versklavt, wie wir sind, müssen wir dauernd wider den Stachel löcken, versuchen wir die klein zu machen, denen wir zu Füßen liegen, um unsere Selbstachtung nicht ganz zu verlieren. Natürlich ändert das nichts an der Tatsache, dass Schönheit alle Macht über uns hat. Es ist eine symbolische Auflehnung, eine Art Zwergenaufstand. Sobald die nächste Schönheit ums Eck kommt, bringen wir ihr mit Freuden wieder unser »Vivat!« aus.
Schönheit, Trauer und Tod
Ein besserer Umgang mit der Schönheit setzt Ehrlichkeit voraus. Die Macht der Schönheit lässt sich nicht einfach abschaffen. Die Realität hat sich noch nie groß verändert, nur weil wir sie nicht wahrhaben wollen. Natürlich gibt es gute Gründe, mit der Ordnung der Dinge nicht einverstanden zu sein, mit der Tyrannei des Äußeren zu hadern, die himmelschreiende Ungerechtigkeit anzuprangern, die Schönheit mit sich bringt, und gegen sie anzugehen. Die Macht der Schönheit jedoch zu leugnen ist einfältig und auch nicht hilfreich. Sosehr sie auf den ersten Blick wie Antipoden aussehen, in Wirklichkeit sind Schönheitsverleumdung und Schönheitswahn nur die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Wenn etwa die Journalistin Waltraud Posch in einem der vielen gutmenschlichen Bücher gegen den Schönheitswahn schreibt, »dass erotische Anziehungskraft kein Privileg der Jugend ist«, sondern auch die »Spuren des gelebten Lebens, wie Falten, Brillen, füllige Hüften und ein reifes, würdevolles Äußeres durchaus sexuell anziehend« seien, dann steckt hinter diesen salbungsvollen Worten letztlich dasselbe Motiv, das auch hinter dem Schönheitswahn steckt – nämlich Verdrängung. Was auf den ersten Blick wie ein Angriff auf den grassierenden Jugendwahn daherkommt, ist doch nichts als die »politisch korrekte« Version davon. Wer nicht wahrhaben will, dass Altern etwas mit dem Verschwinden von Schönheit zu tun hat, ist ein ebenso effizienter Verdrängungskünstler wie derjenige, der sein Heil in ewiger Jugend sucht. Beide sind
sich in einem Punkt einig: in der Verdrängung des Alterns, des Verfalls, des Todes.
Der Skandal der Schönheit ist der Skandal des Lebens: Dass es irgendwann zu Ende geht. Denn Schönheit ist in gewisser Weise das Leben selber: seine Essenz, seine Blüte, der Ausgangspunkt neuen Lebens. Und doch – oder gerade deshalb – trägt Schönheit den Keim des Todes schon in sich. Vielleicht rührt sie uns gerade deshalb so an – durch ihre Vergänglichkeit. Denn im Abschied von der Schönheit liegt auch ein Abschied vom Leben. Unser Jugendlichkeitskult ist im Grunde eine Form der Todesverdrängung. Die verzweifelten Versuche, die eigene Jugend festzuhalten, sind nichts als der Versuch, um die Trauer des Abschieds herumzukommen. So gesehen ist Jugendlichkeit geradezu zwangsläufig zum goldenen Kalb unserer individualistisch-säkularen Kultur geworden, die das Jenseits abgeschafft hat und jetzt in Todesfurcht erstarrt ist und sich nur noch aus reiner Gewohnheit auf ein Schriftstück beruft, in dem Worte stehen wie »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen«. In Wirklichkeit ist ihr jedes Mittel recht, wenn es nur dazu hilft, gerade dies zu verdrängen: Dass wir sterben müssen. Mit Hochdruck wird deshalb daran gearbeitet, die menschliche Lebensspanne zu verlängern und Frauen auch noch im hohen Alter das Kinderkriegen zu ermöglichen. »Es ist ein überholtes Argument, dass ältere Frauen keine Babys mehr haben sollten, nur weil sie zu alt sein werden, um sie großzuziehen«, stellt soeben Nature, die führende Wissenschaftszeitschrift der Welt, in einem Leitartikel fest. Hinter all der Anstrengung steht nur ein einziges Motiv: nicht »bedenken« zu müssen.
Das Problem an unserem »Schönheitswahn« ist nicht, dass wir Schönheit anbeten. Unser Problem ist, dass wir ihre Vergänglichkeit verdrängen. Und deshalb ist Schönheit ein Wahn geworden. Wir haben uns damit auf eine Schlacht eingelassen, bei der wir nur verlieren können. »Man macht das Leben zunichte, wenn man es ewig haben will«, sagt der Philosoph Wilhelm Schmid, »so wie man eine Lust zunichte macht, wenn man sie immer genießen will. Alle Lust will Ewigkeit, aber die Ewigkeit ist ihr Tod. Gäbe es den Tod nicht, müsste man ihn erfinden, um nicht ein unsterblich langweiliges Leben zu führen.«¹⁶⁰
Bildnachweis Abb. 1–4, 7, 35–38, 49: Digitale Bibliothek, Sonderband Die virtuelle Galerie: 25 000 Meisterwerke, Frankfurt a. M. 2004, Lizenzausgabe mit frdl. Genehm. The Yorck Project GmbH, Berlin. Abb. 5–6: Aus: Ingrid Loschek, Reclams Modeund Kostümlexikon, 4. Aufl., Stuttgart 1999, S. 53. Abb. 8, 44: Aus: Julian Robinson, The Quest for Human Beauty. An Illustrated History, New York 1998. Abb. 9: Aus: J. S. Pollard, »Attractiveness of composite faces. A comparative study«, International Journal of Comparative Psychology 8 (2) 1995, S. 77–83. Abb. 10, 12, 45: Aus: C. Braun, M. Gründl, C. Marberger & C. Scherber, Beautycheck. Ursachen und Folgen von Attraktivität, Regensburg 2001; mit frdl. Genehm. von Martin Gründl, Universität Regensburg. Abb. 11, 28–29, 32: Grafik: S. Adler, Lübeck. Abb. 13: B. Hückstedt, »Experimentelle Untersuchungen zum ›Kindchenschema‹«, Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie, 1965. Abb. 14: Foto: J. Hudelmayer, Esslingen. Abb. 15–16: V. S. Johnston und M. Franklin, »Is Beauty in the Eye of the Beholder?«, Ethology and Sociobiology 14(3) 1993, S. 183–199. Abb. 17: Foto: Eugene Robert Richee. Aus: Jacobsen, Prinzler, Sudendorf (Hrsg.), Filmmuseum Berlin, Berlin 2000.
Abb. 18: Buchcover der Biographie über Isabella Rossellini, Some of me, München 1999 (Foto: Brigitte Lacombe). Abb. 19: Aus: Terry Landau, About Faces, New York 1989. Abb. 20: Aus: K. Kampe, C. Frith, R. Dolan & U. Frith, »Reward value of attractiveness and gaze«, Nature 413 (2001), S. 589. Abb. 21: Foto: Naturgeschichtliches Museum der Stadt Wien, http://donsmaps.com/willendorf.html Abb. 22: http://www.konferenzkultur.de/deutsch/mbk_bilder_1.html. Abb. 23: Aus: Steven Gaulin & Donald McBurney, Psychology. An Evolutionary Approach, Upper Saddle River, NJ, 2001, S. 218. Abb. 24: Aus: Philippe Perrot, Le corps féminin. XVIIIe–XIXe siècle, Paris 1984, S. 71. Abb. 25, 26: Aus: Amotz und Avishag Zahavi, Signale der Verständigung. Das Handicap-Prinzip, Frankfurt a. M. 1998. Abb. 27: Zeichnung: Oswald Huber, Spektrum der Wissenschaft, Juli 2004, S. 107. Abb. 30: Nach Irenäus Eibl-Eibesfeld, Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, 6. Aufl., München 1980, S. 140. Abb. 31: http://www.world-of-barbie.de/presse.htm. Abb. 33: S. Ghirlanda, L. Jansson, M. Enquist, »Chickens prefer beautiful humans«, Human Nature 13 (2002), S. 383– 389.
Abb. 34: M. Law Smith, D. Perrett, B. Jones, R. Cornwell, F. Moore, D. Feinberg, L. Boothroyd, S. Durrani, M. Stirrat, S. Whiten, R. Pitman & S. Hillier, »Facial appearance is a cue to oestrogen levels in women«, The Proceedings of the Royal Society of London Series B, 273 (2006), S. 135–140. Abb. 40: Filmmuseum Berlin – Deutsche Kinemathek. Abb. 41: Aus: Ingrid Loschek, Fashion of the Century, München 2001. Abb. 42: Titelseite des Magazins Stern vom 26. Februar 2004. Abb. 43: Louvre, Paris, http://www.louvre.or.jp/louvre/anglais/collec/ae/hist2.htm. Abb. 46: Mit frdl. Genehm. von Alceu Baptistão (www.vetorzero.com.br/kaya). Abb. 47: www.sloggi.com. Abb. 48: Mit frdl. Genehm. von Ogilvy & Mather GmbH & Co. KG.
Anmerkungen
Anmerkungen
[←1] Die Homosexualität der Griechen ist in Wirklichkeit Päderastie – die allerdings keine verpönte Subkultur darstellt, sondern eine geachtete Institution. Der Knabe der Oberschicht wird unter der Obhut eines älteren Mannes zu einem reifen Staatsbürger erzogen, wobei schon die Bezeichnung des Lehrers als »Liebhaber« zeigt, dass unter Reife nicht nur die geistige Reife verstanden wird. Um die schönsten »Geliebten« entbrannten regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Lehrern. Das Ausbildungsverhältnis dauerte in der Regel vom 12. bis zum 17. Lebensjahr an. Danach galt der junge Mann als geschlechtsreif und konnte sich anderen Ufern zuwenden – und im reiferen Alter wieder den Knaben.
[←2] Zu dieser Zwiespältigkeit der »mittelalterlichen Seele« siehe auch: Umberto Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter (Eco 1991).
[←3] www.perceptionlab.com. Weitere wissenschaftliche OnlineExperimente von Schönheitsforschern finden Sie auf der buchbegleitenden Homepage www.schoenheitsformel.de.
[←4] Weltexperte bei der Frage nach der Beurteilerübereinstimmung ist der Saarbrücker Psychologe Ronald Henss (siehe Literaturliste; eine gute Zusammenfassung bietet Kapitel 6 in Henss 1992).
[←5] Frauen machen in den Experimenten ihrem Ruf als schönes Geschlecht alle Ehre und bekommen in aller Regel bessere Noten als Männer – und zwar vor allem von ihren Geschlechtsgenossinnen. An der populären Vorstellung, dass Frauen sich in Zickenmanier gegenseitig abwerten, ist also nichts dran. Das schlechtere Abschneiden von Männern liegt vor allem daran, dass der weibliche Teil der Jury ihnen relativ schlechte Noten verpasst, von ihren Geschlechtsgenossen bekommen Männer dagegen ganz passable Noten (sie profitieren also genauso wie das weibliche Geschlecht vom so genannten Eigengruppenbonus). Frauen bewerten auch ihr eigenes Aussehen durchweg kritischer – Männer neigen dagegen dazu, sich notorisch zu überschätzen. Geschlechtsunterschiede gibt es auch bei der Frage der Urteilerübereinstimmung: Personen des anderen Geschlechts werden generell mit höherer Übereinstimmung beurteilt als die des eigenen. Wenn nach der Schönheit von Männern gefragt wird, streuen die Bewertungen stärker – und zwar vor allem, wenn es sich um eine männliche Jury handelt. Frauen werden dagegen einheitlicher beurteilt, von Männern noch mehr als von Frauen. Die Kriterien weiblicher Schönheit sind offenbar enger umschrieben als die der männlichen (siehe auch: Marcus & Miller 2003).
[←6] Dabei macht es keinerlei Unterschied, ob es in den Experimenten um die Bewertung der »Attraktivität« oder der »Schönheit« eines Menschen geht. Die beiden Begriffe überschneiden sich offenbar in einem so hohen Maß, dass sie in psychologischen Versuchen praktisch nicht voneinander zu trennen sind. Siehe dazu z. B. Henss 1992, S. 253 und 320; Cunningham et al. 1990.
[←7] Dabei wird die Übereinstimmung umso stärker ausfallen, je ähnlicher sich Betrachter und Betrachteter in ihren Physiognomien sind und je mehr und länger sie miteinander Umgang gepflegt haben.
[←8] Aber nicht jede Körperveränderung ist notwendigerweise dem Reich der künstlichen, modischen Schönheit zuzurechnen. Make-up, das eine glatte Haut simuliert, soll ja eher den »natürlichen« Reiz verstärken, genauso wie wir mit Kosmetik rote Lippen röter machen, weiße Zähne weißer, das Strahlen der Augen strahlender. Kleidermode spielt heutzutage fast immer auf beiden Registern der Schönheit: Einerseits soll sie den Körper betonen und damit die natürlichen Reize der Weiblichkeit und Männlichkeit verstärken (denken wir an die Schulterpolster des Sakkos). Andererseits soll sie verhüllen, die natürliche Form abschaffen und durch eine andere ersetzen (Stichwort Hut), Status demonstrieren oder schlicht: mal was Neues zeigen.
[←9] Zu seinen Entdeckungen gehört unter anderem die Standardabweichung, die aus der modernen Statistik nicht mehr wegzudenken ist. Francis Galton ist der Vetter von Charles Darwin.
[←10] Was Männer angeht, ergaben sich in anderen Untersuchungen mit Durchschnittsbildern z. T. widersprüchliche Ergebnisse – möglicherweise deshalb, weil das Männergesicht durch die Überlagerungstechnik weicher, also weniger männlich erscheint. In den Experimenten von Karl Grammer etwa wurden männliche Durchschnittsbilder als weniger attraktiv eingeschätzt (z. B. Grammer & Thornhill 1994). In den meisten Studien gilt der attraktivitätssteigernde Effekt der Durchschnittsbildung aber auch für Männer. Wir werden auf die der Männlichkeit innewohnende Zwiespältigkeit noch zu sprechen kommen.
[←11] Die Arbeit der Regensburger Psychologen gewann im Jahr 2003 den Studienpreis der Körber-Stiftung. Die genauen Ergebnisse der Studie finden sich auf www.beautycheck.de.
[←12] Die Autoren waren selber überrascht, dass die durchschnittlichen Schönheitsnoten so schlecht ausfielen. Möglicherweise lag das daran, dass die Begutachtung nicht im stillen Kämmerlein erfolgte, sondern in der quasi öffentlichen Atmosphäre eines Einkaufszentrums. Das öffentliche Urteil fällt, wie wir aus Kapitel 1 wissen, generell schlechter aus als das private.
[←13] Die entsprechenden Bilder finden Sie in der »Beautycheck«Studie (www.beautycheck.de) auf S. 27 und 40.
[←14] In einer Studie an der Universität Istanbul wurden die Gesichter von türkischen Jugendlichen vermessen. Nur an einem einzigen der 228 männlichen und an keinem der 272 weiblichen Gesichter fanden sich irgendwelche »klassischen« Maße (Bozkir et al. 2003). Genauso ernüchternd sind die an einem anderen »klassischen« Volk gewonnenen Ergebnisse: Der Mailänder Anatom Virgilio Ferrario vermaß die Gesichter attraktiver italienischer Fernsehschauspielerinnen mit einem dreidimensionalen Infrarotsystem und verglich sie mit denen gewöhnlicher Römerinnen. Dabei fand er keinerlei Hinweis darauf, dass die größere Schönheit der Schauspielerinnen irgendetwas mit dem neoklassischen Kanon zu tun hat (Ferrario et al. 1995). Auch der Papst der »fazialen Morphometrie«, wie die wissenschaftliche Gesichtsvermessung heißt, der Kanadier Leslie Farkas vom Hospital for Sick Children in Toronto, konnte in einer groß angelegten Untersuchung, in der er Abstände, Winkel und Proportionen attraktiver Frauengesichter mit denen unattraktiver Gesichter verglich, keinerlei Bestätigung für den antiken Regelkanon finden. Klassische »Idealmaße« kamen in der attraktiven Gruppe nicht häufiger vor als in der unattraktiven.
[←15] www.perceptionlab.com
[←16] Zum selben Ergebnis kam auch der Italiener Virgilio Ferrario, dessen Hightech-Vermessungsprogramm uns aus Anmerkung 6 bekannt ist. Seine TV-Schauspielerinnen zeichneten sich gegenüber der normalen Italienerin vor allem durch eine kleinere Nase und eine niedrigere Kieferpartie aus – was aber nicht heißt, dass der Unterkiefer unterentwickelt war, im Gegenteil! Die Schönheiten hatten im Durchschnitt durchaus kräftige, breitere Kiefer – aber eben weniger hohe.
[←17] Bei der Frage nach der Herkunft der Unterschiede in der Gesichtsanatomie von Mann und Frau ist die Datenlage nicht berauschend. Vor allem die Rolle der Geschlechtshormone im Wachstumsprozess des Gesichtsschädels ist nicht systematisch erforscht. Kompliziert wird die Diskussion noch dadurch, dass die Gesichtsform möglicherweise schon durch pränatale Hormonspiegel, z. B. von Testosteron, beeinflusst wird (siehe dazu: Fink et al. 2005; im Gegensatz zu dieser Studie sehen Koehler et al. 2004 jedoch keinen Zusammenhang zwischen vorgeburtlichem Testosteronspiegel und männlicher Gesichtsform).
[←18] Gesichter liegen quasi irgendwo auf einem Kontinuum zwischen Babyface und reifem Gesicht, wobei der äußerste Pol der »Reife« das »extrem männliche« Gesicht darstellt. Erwachsene Männergesichter liegen im Durchschnitt näher am »Reife«-Pol, Frauengesichter dagegen etwas näher am Kindchen-Pol. Allerdings sind beide Kategorien nicht klar getrennt und können sich durchaus überschneiden. Warum das männliche Gesicht gleichzeitig eine Tendenz hin zum Neandertaler- bzw. Affengesicht hat, wird uns in Kapitel 5 beschäftigen.
[←19] So originell das von Johnston verwendete Verfahren ist, so problematisch ist die Unterfütterung der Ergebnisse mit Evolutionstheorie. Nach Johnston ist die attraktive weibliche Gesichtsform das Ergebnis einer optimalen Balance von männlichen und weiblichen Hormoneinflüssen während des Entwicklungsprozesses und damit ein Hinweis auf maximale Fruchtbarkeit. Wir werden auf diese »Fruchtbarkeitshypothese« in Kapitel 8 zurückkommen.
[←20] Johnstons Kollege Doug Jones nahm sich 1995 die Gesichter der Covergirls von Vogue und Cosmopolitan vor und stellte sogar fest, dass ihre Gesichtsproportionen denen eines sechsbis siebenjährigen Kindes entsprachen (Jones 1995).
[←21] Cunninghams Modell läuft unter dem Namen »Multiple Fitness«oder auch »Multiple Motive«-Hypothese. Hierzulande wird sie manchmal auch »Theorie der Merkmalsausprägung« genannt. Cunningham entwickelt ausgehend von den »Grundzutaten« von Kindlichkeit, Reife und Expressivität (zu denen in späteren Fassungen der Theorie noch weitere Faktoren hinzukamen) eine ganze Typologie von Gesichtern. Am unwiderstehlichsten ist demnach ein Gesicht, bei dem alle drei Komponenten in hoher Ausprägung vorkommen. Cunningham taufte diese Idealkonstellation »Alpha-Muster« oder auch »Engel«. Je nachdem, wie die einzelnen Komponenten in einem Gesicht gewichtet sind, kommen andere Muster zustande, z. B. die »Eisprinzessin«, in Cunninghams Typologie das »DeltaMuster«, das hohe Reifeanteile mit einem geringen Maß an Kindlichkeit und Expressivität verbindet, eine Mischung, die mehr durch ihre Eleganz als durch ihre Süße wirkt.
[←22] Ein Lächeln macht jedoch aus einem Frosch noch lange keinen Prinzen. In einem Experiment brachte das breite Lächeln im Durchschnitt einen Aufstieg um zwei Rangplätze (von 29) ein (Reis et al. 1990).
[←23] Die hervorgehobene Rolle der Augenbrauen im emotionalen Signalsystem dürfte ihrer möglicherweise »ursprünglicheren« Funktion, das Auge vor Schweiß zu schützen, den Rang abgelaufen haben. Fast alle Emotionen, wie etwa Freude, Angst und Wut, beziehen die Augen und die Stirn ein. Und ohne Augenbrauen wäre auch der Ausdruck der Überraschung so gut wie unlesbar.
[←24] Testosteron ist so etwas wie das »Marketing- und AkquiseHormon« des Mannes. Sein Basisspiegel ist zwar angeboren, er hängt jedoch stark von den Umständen ab. Singles haben beispielsweise höhere Spiegel als Verheiratete, genauso wie Sieger (sei es im 5000-Meter-Lauf oder im Schachspiel) mehr Testosteron haben als Verlierer. Auch Frauen unterliegen der Wirkung von Testosteron, dessen Spiegel ist bei ihnen jedoch deutlich geringer als bei Männern. Allerdings haben Unterschiede zwischen verschiedenen Frauen dieselben Auswirkungen wie bei Männern: Frauen mit viel Testosteron im Blut sind dominanter, gehen öfter fremd und lächeln seltener (Pinker 2002, S. 348).
[←25] Möglicherweise haben die widersprüchlichen Ergebnisse bei der Bewertung männlicher Schönheit mit den unterschiedlichen Methoden zu tun, die in den verschiedenen Experimenten zum Einsatz kamen. Eine weibliche Note im Gesicht eines Mannes wurde vor allem in solchen Studien bevorzugt, die als »Stimulusmaterial« am Computer generierte Gesichter einsetzten, die aus einer Vielzahl von Einzelgesichtern gemorpht und dann wiederum in die weibliche bzw. männliche Richtung übertrieben worden waren. Experimente mit echten Gesichtern ergaben dagegen, dass Männlichkeit einem männlichen Gesicht durchaus steht – allerdings darf es des Guten auch nicht zu viel sein: extrem männliche Ausführungen schnitten durchgehend schlecht ab (siehe hierzu Rhodes 2006).
[←26] Die Zerlegung in »Schönheitsfaktoren« ist Stärke und Schwäche der Cunningham’schen Theorie gleichzeitig. Sie erlaubt eine Systematisierung, die jedoch auch etwas Künstliches hat. Denn viele Zutaten lassen sich nur schwer den einzelnen »Qualitäten« zuordnen. Große Augen etwa sind sowohl Kindchen- als auch Ausdrucksmerkmal. Auch bei der Frage, warum nur eine bestimmte Auswahl an Reifeoder Kindchenzeichen attraktiv ist, andere jedoch nicht (wie etwa Pausbacken), wirkt die Theorie etwas gezwungen.
[←27] Wie das auch aus den Karikatur-Versuchen von David Perrett hervorgeht. Für Karl Grammer stellen die Merkmale weiblicher Attraktivität ein ganz neues »Muster« dar, das er als »sexy-Schema« bezeichnet und das seiner Ansicht nach auf der Wirkung von Östrogen beruht (Grammer 1993; mehr zu dieser »Fruchtbarkeitshypothese« in Kapitel 8. Der Spur von »Kindlichkeit als übertriebene Weiblichkeit« folgen wir in Kapitel 7).
[←28] Je aktiver die Amygdala ist, desto mehr sind wir emotional aufgewühlt. Interessanterweise geht die Aktivierung der Amygdala mit einer Dämpfung der Aktivität der Hirnrinde einher, also einer Einschränkung der »kognitiven« Funktionen wie Urteilsfähigkeit oder Gedächtnis. Wir schirmen uns also bei unserer ersten »Blickdiagnose« quasi vom Einfluss des Bewusstseins ab. Wenn es um schnelle, reflexartige Entscheidungen geht, kann das neu erworbene komplizierte und störanfällige Denkorgan nur hindern.
[←29] Allenfalls ein auffallend rot geschminkter Mund kann zur Bearbeitungsreihenfolge Mund-Auge-Nase führen (Carbon 2003). Beim Komplex »Augen« scheinen dabei auch die Augenbrauen eine wichtige Rolle zu spielen. Wenn man aus bekannten Gesichtern die Augenbrauen wegretuschiert, ist die Wiedererkennung stärker beeinträchtigt, als wenn man das Auge selbst wegretuschiert (Sadr et al. 2003).
[←30] Nancy Etcoff ist die Autorin des Buches Survival of The Prettiest (dt.: Nur die Schönsten überleben, München 2001).
[←31] Der in der Forschung gebräuchliche Name »Belohnungssystem« ist etwas irreführend, denn genau genommen geht es bei diesem Schaltkreis um die Erwartung einer Belohnung (in Form von Sinneslust) und nicht um die Belohnung selber. Das »Belohnungssystem« hat mit dem Begehren oder Wollen zu tun – die Lust selber, das Mögen, ist in anderen, nicht von Dopamin befeuerten Schaltkreisen verankert.
[←32] Sex dagegen scheint wieder einen anderen Sitz im Hirn zu haben. Die bei sexueller Erregung aktivierten Strukturen sind weder mit den Bahnen der Schönheit noch mit denen der Liebe verbunden (Arnow et al. 2002; Redoute et al. 2000).
[←33] Es gab sogar Phasen, in denen die Mutter sexy war. Nach dem Ende der Schreckensherrschaft Robespierres wurde es in Paris kurzzeitig Mode, durch eingelegte Bauchpolster eine Schwangerschaft zu simulieren (Friedell 1976, S. 917).
[←34] Man hätte gar nicht bis Amazonien reisen müssen. Es reicht schon, hundert Jahre in unserer eigenen Geschichte zurückzugehen, um festzustellen, dass um die Jahrhundertwende fülligere Taillen »in« waren – möglicherweise eine Art Aufjubeln nach der Befreiung des Körpers von der jahrhundertelangen Gefangenschaft durch das Korsett.
[←35] Eine Ausnahme macht wohl die Brust des jungen Mädchens, die durchaus erotische Aufmerksamkeit findet, wie Irenäus Eibl-Eibesfeld notiert (Eibl-Eibesfeld 1984/86, S. 320).
[←36] Aber Napoleon … maß immerhin 1,68 m und war damit für seine Zeit überdurchschnittlich groß. Der Mythos vom kleinen Kaiser beruht auf einem Umrechnungsfehler. Trotzdem ist an dem Einwand etwas dran: Bernie Ecclestone, der »Pate« der Formel 1, misst 1,60 m. Aristoteles Onassis kam auf 1,65 m. Bezeichnend, dass kleine Erfolgsmenschen eher Selfmademen sind – im Rudel dagegen zählt Größe. Mehr hierzu in Kapitel 10.
[←37] Ebenso: »Eure Hoheit«.
[←38] Beim Trend zur Bräune könnte daneben auch die allmähliche Ausbreitung eines »Multikulti-Schönheitsideals« eine Rolle spielen (siehe Kap. 10).
[←39] Blondinen-Witze spielen mit einem weit verbreiteten, in vielen Studien belegten Stereotyp, nach dem Blondinen als weniger gescheit, schwächer und unterwürfiger beurteilt werden. In einem Experiment wurden dieselben 21 Frauen einmal blond, ein anderes Mal brünett präsentiert. Die Blondinen wurden von den Versuchspersonen als attraktiver, femininer, emotionaler und genusssüchtiger eingestuft, die Brünetten dagegen als intelligenter (Cunningham et al. 1989).
[←40] Solange sich die Umwelt nicht verändert, ist Evolution ein langsamer Prozess. Wenn der Selektionsdruck jedoch entsprechend hoch ist, können sich Arten »rasend schnell« verändern. Beispiel Mensch. Erst vor 55 000 Jahren als kleiner Clan von schwarzer Hautfarbe aus Afrika ausgewandert, entwickelte er innerhalb von gerade 2200 Generationen die enorme Vielfalt an Physiognomien und Gestalten, die heute den Globus bevölkern – in der zwei Milliarden Jahre alten Evolution von Lebewesen ein Wimpernschlag.
[←41] Dabei werden durchaus nicht nur Charme und Verführungskünste eingesetzt. Bei vielen Arten wird die Konkurrenz zwischen den Männchen mit roher Gewalt ausgetragen, wie etwa bei den Revierkämpfen der Hirsche. Die Weibchen geben sich dann dem jeweiligen Sieger hin. Die Biologen sprechen in diesem Fall von intrasexueller Selektion – im Gegensatz zur intersexuellen Selektion, bei der die Mitglieder des einen Geschlechts ihre jeweiligen Favoriten aus dem anderen Geschlecht auswählen. Oft kommen bei einer Art auch beide Formen des Wettbewerbs vor, das Männchen muss dann durch Kraft genauso wie durch Schönheit glänzen.
[←42] Auch nichtsexuelle Signale können jedoch auffällig sein, wie etwa der Farbcode mancher Schmetterlinge im Amazonasbecken, der sich in erster Linie an die potenziellen Fressfeinde wendet. Im Grunde ist sexuelle Selektion ein Sonderfall – wenn auch der bedeutendste – der Signalselektion.
[←43] Viele der Signale nehmen wir nicht einmal wahr, etwa viele Düfte, Lichtoder Schallfrequenzen (wie die des Walgesangs). Die Welt ist voller Signale, die aber nur von dem wahrgenommen werden, der über die entsprechenden Antennen verfügt.
[←44] »Runaway« heißt eigentlich »Ausreißer«. Die RunawayHypothese kommt auch unter dem Namen »Darwin-FisherHypothese« oder auch »sexy-son«-Hypothese vor.
[←45] Gerne wird von Fisherianern auch auf das bei vielen Tierarten bekannte Phänomen verwiesen, dass der Grad der Ornamentierung vom Alter des Tieres abhängt. Die Schmuckfedern des Paradiesvogel-Männchens beispielsweise wachsen nach jeder Mauser zu noch imposanterer Länge heran – obwohl die genetische Qualität des Vogels von Saison zu Saison sicher die gleiche geblieben ist. (Der Befund ist allerdings auch nicht unbedingt mit »reiner Mode« zu vereinbaren, sondern scheint auf eine ganz andere Gesetzmäßigkeit hinzuweisen: Offenbar spielt bei der Wahlentscheidung des Weibchens die so genannte phänotypische Qualität ihres potenziellen Partners eine Rolle, also sein Gesundheits- und Ernährungszustand. Und die hängt wiederum eng mit seinem Status zusammen: Fast überall im Tierreich sind diejenigen Männchen die prächtigsten, die auf der sozialen Leiter am höchsten stehen – und das sind auffallend oft gerade die älteren Tiere.
[←46] Ein Phänomen, das man auch als »Status-Handicap« bezeichnen könnte.
[←47] Warum sind wir als einzige von 200 Affenarten unbehaart? Hierzu hat sich der Autor in seinem Blog auf http:schoenheitsformel.de/blog/warum-sind-wir-eigentlichnackt/ Gedanken gemacht.
[←48] Aus der Sicht der »Guten-Gene«-Theorie macht das auch durchaus Sinn, denn schon allein die Tatsache, dass er es bis ins reife Alter geschafft hat, spricht für Qualität.
[←49] Ob hinter der Tatsache, dass die Frau den größeren Teil ihres erwachsenen Lebens von der Fortpflanzung ausgeschlossen ist, ein evolutionärer »Sinn« steckt – und wenn ja, welcher –, gehört derzeit zu den spannendsten Fragen der Evolutionstheorie. Nach der so genannten GroßmütterHypothese hat sich die frühe Menopause deshalb entwickelt, weil die Enkel der auf diese Weise von der unmittelbaren Reproduktionsarbeit freigestellten Großmütter durch deren Mithilfe Überlebensvorteile hatten. Nach Meinung des Gießener Evolutionsbiologen Eckard Voland muss diese Hypothese jedoch differenziert werden: Erstens scheint die ausgedehnte Großmutterzeit nicht auf einer Vorverlegung der Menopause zu beruhen, sondern auf einer Ausweitung der Lebensspanne. Und zweitens scheint Großmutter nicht gleich Großmutter zu sein. Nach Volands Auswertungen von ostfriesischen Kirchenbüchern aus dem 18. und 19. Jahrhundert hatten Kinder mit einer Großmutter zwar bessere Überlebenschancen, aber nur, wenn es sich dabei um die Großmutter mütterlicherseits handelte! Wenn bei der Geburt eines Kindes dagegen nur noch die Großmutter väterlicherseits am Leben war, hatte das auf seine Überlebenswahrscheinlichkeit sogar negative Auswirkungen. Eine Erklärung sieht Voland darin, dass Mütter durch die Anwesenheit einer sie kontrollierenden und Ansprüche stellenden Schwiegermutter unter stärkerem Stress stehen (Voland & Beise 2005, siehe auch Voland et al. 2005).
[←50] In einem Experiment des Sozialpsychologen Douglas Kenrick sollten Frauen und Männer die Mindestanforderungen angeben, die sie an einen Partner in Sachen Status, Freundlichkeit, emotionale Stabilität und Attraktivität stellen. Frauen waren bei allen Kriterien kritischer als Männer, außer bei der Attraktivität (Kenrick et al. 1993). - In einer weltweiten Umfrage des Evolutionspsychologen David Buss, an der über 10.000 Menschen aus 37 unterschiedlichen Kulturen teilnahmen, legten Frauen in allen Kulturen mehr Wert auf gute finanzielle Aussichten ihres Partners als Männer. Beim Aussehen war es gerade andersherum (Buss 1989). Allerdings ist es nicht unproblematisch, von Umfragen auf das tatsächliche Verhalten von Menschen zurückzuschließen. Dies wird auch aus einer Metaanalyse von Alan Feingold deutlich: Männer legen in den von ihm analysierten Studien zwar tatsächlich deutlich mehr Wert auf das Äußere ihrer Partnerin. Allerdings zeigte sich, dass in den Studien, die das tatsächliche Verhalten von Probanden untersuchten, der Unterschied zwischen Männern und Frauen deutlich geringer ausfiel (Feingold 1990).
[←51] Die Bedeutung der Väter in unserer evolutionären Vergangenheit ist bis heute sehr umstritten. Den größten Teil der Nahrung besorgen in so gut wie allen Naturvölkern die Frauen (siehe z. B. Miller 2001, S. 218 ff. und 349 ff.). Das Jagen der Männer scheint in vielen Fällen mehr eine Art von »nützlichem Sport« zu sein, bei der es neben der Nahrungsgewinnung auch stark um Statusgewinn (und damit um den Erfolg bei den Frauen) geht.
[←52] Sogar im Tierreich ist nachgewiesen, dass das Balzverhalten umweltabhängig sein kann. Bei der Fischart der Schnappgrundeln fangen Weibchen an, aktiv und aggressiv um Männchen zu werben, wenn diese in der Unterzahl sind. Die Männchen wiederum werden in diesem Fall genauso wählerisch, wie es normalerweise die Weibchen sind (Forsgren et al. 2004).
[←53] Die Literaturwissenschaftler Jonathan Gottschall und Amy Gardiner untersuchten die Märchen und Mythen der unterschiedlichsten Völker rund um den Erdball: Wenn von Schönheit die Rede ist, geht es fast immer um Frauen (Gottschall & Gardiner 2005).
[←54] Wir haben deshalb eine Art von Programm in uns, das uns vor Inzest bewahrt. Schon 1894 vertrat E. Westermarck die Hypothese, dass sich zwischen zusammen aufgewachsenen Kindern keine sexuelle Anziehung entwickelt, auch wenn sie genetisch nicht verwandt sind. Dies wurde durch Untersuchungen in israelischen Kibbuzim eindrucksvoll bestätigt. Unter 2769 untersuchten Ehen war keine einzige von gemeinsam Aufgewachsenen. Die Hemmung, sich später ineinander zu verlieben, scheint sich dabei im Sandkastenalter vor dem sechsten Lebensjahr zu entwickeln (Eibl-Eibesfeld 1986, S. 332 ff.).
[←55] Die Psychologin Lisa DeBruine von der McMaster University im kanadischen Hamilton legte Versuchspersonen Bilder zur Attraktivitätsbewertung vor. Was diese jedoch nicht wussten: einem Teil der Gesichter waren am Computer ihre eigenen Porträts beigemischt worden. Durchgehend standen die manipulierten, vertrauteren Gesichter höher im Kurs – allerdings nur dann, wenn Frauen Bilder von Frauen und Männer Bilder von Männern bewerteten. Wenn es um das andere Geschlecht ging, fiel das Urteil genau andersherum aus: Die Versuchspersonen schienen von den ihnen ähnelnden Gesichtszügen weniger angezogen. DeBruine sieht hierin einen Schutzmechanismus, der uns daran hindern soll, uns mit Familienmitgliedern einzulassen. Bei »sozialen Partnern« dagegen scheint uns der Anklang an die eigenen Gene eher vertrauensvoll zu stimmen (DeBruine 2004, siehe auch DeBruine et al. 2005a, DeBruine 2005).
[←56] histos, griechisch = Gewebe, compatibility, englisch = Vereinbarkeit. Beim Menschen spricht man auch von HLA – Human Leucocyte Antigen. Um keine Verwirrung zu stiften, verwende ich auch beim Menschen den Begriff MHC.
[←57] Jacob et al. 2002. Bei dieser Abgleichung der Gerüche spielt offenbar nur der vom Vater ererbte Satz an MHC-Genen eine Rolle.
[←58] Die nahe liegende Frage, ob sich beim »Sehtier« Mensch die passende MHC-Kombination vielleicht auch sehen lässt, führte übrigens in den beiden ihr gewidmeten Untersuchungen zu eher ernüchternden Antworten. In der ersten Studie ließ sich keinerlei Verbindung zwischen Attraktivität und passendem MHC-Satz feststellen, in der anderen war der Zusammenhang sogar negativ (Thornhill et al. 2003, Roberts et al. 2005). In der letztgenannten Studie fand sich allerdings ein anderer Zusammenhang zwischen Attraktivität und MHC: Diejenigen Gesichter wurden als attraktiver bewertet, deren Besitzer einen hohen Grad an so genannter Heterozygozität beim MHC aufweist, also ein breites Spektrum an MHC-Bausteinen (siehe dazu auch Kapitel 8).
[←59] Rikowski & Grammer 1999. Der – auch von den Autoren – oft zitierte Zusammenhang, dass auch Frauen in der fruchtbaren Phase ihres Zyklus schöne Männer am Geruch erkennen könnten, ist statistisch nicht eindeutig und damit nach guter wissenschaftlicher Sitte bis auf weiteres nicht der Rede wert.
[←60] Männernasen dagegen scheinen für die Symmetrie von Frauen wenig sensibel zu sein. Siehe dazu Thornhill & Gangestad 1999, Thornhill et al. 2003.
[←61] Allerdings scheinen nicht alle Menschen für alle Pheromone gleichermaßen sensibel zu sein. Zusammen mit der Tatsache, dass beim Menschen nur noch fünf Gene für Pheromonrezeptoren aktiv sind (im Gegensatz z. B. zu 150 aktiven Genen bei Nagetieren) spricht dieser Befund dafür, dass sich unser »sechster Sinn« für Pheromone evolutionär gesehen auf dem Rückzug befindet. Auch von einem eigenständigen, auf Pheromone spezialisierten Riechorgan (dem so genannten Vomeronasalen Organ, das sich ebenso wie die Geruchsneuronen in der Nasenschleimhaut befindet) sind beim Menschen nur noch Spuren zu finden.
[←62] Collins & Missing 2003. In einer aktuellen britischen Studie wird eine Verbindung zwischen Stimmhöhe und Attraktivität hergestellt – attraktive Frauen haben demnach die höheren Stimmen (Feinberg et al. 2005). Tatsächlich scheint die Stimmhöhe vom Östrogenspiegel abzuhängen – bei Frauen mit hohen Stimmen wurden höhere Östrogenspiegel nachgewiesen (Abitbol et al. 1999). Auf die hinter solchen Befunden steckende »Fruchtbarkeitshypothese« kommen wir in Kapitel 8 zu sprechen.
[←63] Wie bei vielen anderen Arten gehört auch beim Homo sapiens der Tanz zum Repertoire des Werbungsverhaltens. Nach einer neueren Studie des Evolutionspsychologen William Brown und seiner Kollegen von der Rutgers University in New Jersey an jamaikanischen Jugendlichen scheinen Tanzkünste tatsächlich eine biologische Botschaft zu transportieren. 186 Jugendliche mussten eine Minute lang vor der Kamera auf den aktuellen Radiohit tanzen. Mit der so genannten motion-capture-Technik wurden dabei nur die Tanzbewegungen selbst aufgenommen, sämtliche Hinweise auf die Identität, Kleidung oder das Geschlecht der Tänzer entfielen. Als die so abstrahierten Darbietungen einer Jury von Gleichaltrigen vorgespielt wurden, stellte sich heraus, dass sie als umso attraktiver bewertet wurden, je symmetrischer der Körperbau des Tänzers war (Brown et al. 2005).
[←64] Im Englischen wird von sensory bias gesprochen (bias: Neigung, Hang, Vorliebe), manchmal auch von receiver bias, womit die Tatsache angesprochen wird, dass die Vorliebe vom Empfänger ausgeht.
[←65] Wissenschaftler sprechen dabei von der so genannten McGurk-Illusion, benannt nach Harry McGurk, einem Entwicklungspsychologen von der University of Surrey in England.
[←66] Die klassische Erklärung der Gute-Gene-Theorie für unsere Bevorzugung von Durchschnittlichkeit stammt von Donald Symons. Seiner Meinung nach arbeitet die Evolution im Normalfall gegen Extreme (Etcoff 1994). Vögel mit besonders langen oder besonders kurzen Flügeln etwa sterben häufiger im Sturm. Ein Tier, das sich also angeborenerweise zum durchschnittlichen Erscheinungsbild seiner jeweiligen Art hingezogen fühlte, hatte damit in der Evolution die besseren Karten.
[←67] Es sei noch mal an die genaue Bedeutung des Begriffs »Durchschnittlichkeit« erinnert: gemeint ist nicht etwa »durchschnittliches Aussehen«, sondern die durch mathematische Durchschnittsbildung geschaffene »mittlere« Form.
[←68] Aber wie beim Gesicht ist der »Superstimulus« aus den vier schönsten Körpern noch deutlich attraktiver (Baumgartner 2003).
[←69] In der »klassischen« Verhaltensforschung ist dieser Hang zum Extremen unter dem Namen »Supernormalität« schon lange bekannt, siehe z. B. Eibl-Eibesfeld 1980, S. 140 ff.
[←70] Demnach wirkt vor allem das Schwarz um die Augen. Die Bedeutung des Lippenstifts war dagegen nicht so groß, und Rouge wirkte, wenn überhaupt, nur in Kombination mit Lippenstift. Bei unserer Bewertung spielt jedoch nicht nur eine Rolle, wie sich eine Frau schminkt, sondern überhaupt die Tatsache, dass sie es tut, und damit das Signal sendet: »Ich beteilige mich am erotischen Spiel.«
[←71] Damit findet letztlich auch Darwins Idee, dass Schönheit nicht mit »Vernunft«, sondern mit Geschmack zu tun hat, eine Erklärung über die Wahrnehmungsvorlieben. (Vielleicht ist Ihnen ja schon aufgefallen, dass an dieser Stelle verkehrte Welt gespielt wird: Gerade die heutigen »Darwinisten« sind es, die diesen Gedanken ihres Gründungsvaters – mit dem Schlachtruf »Gute Gene!« – am vehementesten bekämpfen. Die Idee, dass Ornamente einen Hinweis auf die Qualität eines Individuums geben, stammt von Darwins Zeitgenossen und Forscherkollegen Alfred Russel Wallace, der fast zeitgleich, aber unabhängig von Darwin die Evolutionstheorie begründete.)
[←72] Dass es sich dabei nicht um einen »bewussten« Akt handelt, kann nicht oft genug betont werden. Evolution hat keinen Willen, sondern bringt in einem ewigen Spiel von Versuch und Irrtum das Merkmal bzw. Verhalten hervor, das am besten zur jeweiligen Umgebung »passt« – und zu dieser Umgebung gehört auch der jeweilige Partner.
[←73] Dabei dürfte einer neueren Studie zufolge auch eine Rolle spielen, ob es der Vater oder die Mutter ist, welche über das Geschlecht des Nachwuchses bestimmen (Albert & Otto 2005). Im »XY«-System der Säugetiere ist dies das Männchen: Je nachdem, ob dieses sein Xoder Y-Chromosom weitergibt, wird das Kind männlich oder weiblich. Bei Vögeln oder Schmetterlingen dagegen wird das Geschlecht der Nachkommen von der Mutter bestimmt – sie ist nämlich »ZW«, während der Vater »ZZ« ist und damit bei der Festlegung des Geschlechts keine Rolle spielt. Wenn die für ein bestimmtes, auffälliges Ornament verantwortlichen Gene nun auf dem Z-Chromosom sitzen (was sie häufig zu tun scheinen), haben Weibchen ein Interesse, eine Vorliebe für auffällig ornamentierte Männchen zu entwickeln – denn dieses wird sein ZChromosom in jedem Fall weitervererben und damit für auffällig ornamentierten, also begehrten männlichen Nachwuchs sorgen. Dieser Fitness-Vorteil der männlichen Nachkommen wiegt die Tatsache, dass der weibliche Teil der Nachkommenschaft das Handicap zu tragen hat, dass sie durch das schmückende Z-Chromosom des Vaters für ihre Fressfeinde sichtbarer sind, mehr als auf. Im XY-System liegt der Fall jedoch anders: Hier sollte sich ein Weibchen eher für einen unauffälligeren Gatten interessieren. Denn wenn die für die Ornamentierung verantwortlichen Gene auf dem XChromosom sitzen (was häufig der Fall ist), erscheinen sie nur bei der Tochter – womit das entsprechende Weibchen ein doppeltes Problem hat: ihre männlichen Nachkommen sind nicht »sexy«, ihre weiblichen dagegen haben das schmückende Gen geerbt – das sie leichter zur Beute werden lässt.
Ob sich also – unter den Bedingungen der Damenwahl, wie sie bis auf wenige Ausnahmen in allen Arten vorherrscht – ein »Runaway« hin zu einer auffälligen Ornamentierung des männlichen Geschlechts entwickelt, hängt möglicherweise vom chromosomalen System ab. Sollten sich diese an mathematischen Modellen gewonnenen Erkenntnisse in der Realität bestätigen, könnte eine Schlussfolgerung daraus lauten, dass sich das Paradebeispiel Pfau oder auch andere stark geschmückte Vogelarten als Erklärungsmodell für die sexuelle Selektion bei Säugetieren und insbesondere beim Menschen nicht eignen.
[←74] Schon Darwin, der noch nichts von »Gipfelverschiebung« wusste, kam aus seinen Beobachtungen an Tieren zu dem Schluss, dass als treibende Kraft hinter den Kaprizen der Mode die menschlichen Bedürfnisse nach »Neuigkeit« und »Übertreibung« stecken: »Wenn alle Frauen so schön wären wie die Venus von Medici, würde uns dies für einen Moment bezaubern. Aber schon bald würden wir nach Abwechslung verlangen, und sobald wir sie bekommen hätten, wünschten wir uns bestimmte Merkmale stärker herausgehoben« (zitiert nach Cunningham & Shamblen 2003, Übersetzung von mir). Sehr schön ist dieses Prinzip in dem Buch von George Hersey, Verführung nach Maß illustriert (Hersey 1998).
[←75] http://www.improb.com.
[←76] Ob »Qualität« dann allerdings zwangsläufig mit »Guten Genen« verbunden sein muss, ist damit noch nicht gesagt. Die Fähigkeit, ein Handicap zu tragen, spricht erst einmal dafür, dass das Tier über ausreichende »phänotypische« Qualität verfügt – und die hängt auch von »äußeren« Faktoren ab, etwa davon, ob das Tier ausreichend Nahrung zur Verfügung hatte oder auch schlichtweg mehr Glück bei der Wahl des Reviers.
[←77] Die Hypothese hat ihren endgültigen Namen offenbar noch nicht gefunden. Zum ersten Mal taucht sie 1997 unter dem Namen »Sickness overgeneralisation« auf (Zebrowitz 1997, S. 121). Nachdem sie in Folgepublikationen als »Bad genes hypothesis« angesprochen wird (z. B. Zebrowitz & Rhodes 2003, Zebrowitz et al. 2004), bekam sie in einer neueren Publikation den Namen »Fitness overgeneralisation hypothesis« (Zebrowitz & Montepare 2005).
[←78] Eine Variante der Theorie kommt von Justin Park von der University of British Columbia. Unsere Abneigung gegen Anomalien ist demnach nicht (nur) deshalb entstanden, um uns vor den falschen Genen zu schützen, sondern viel allgemeiner vor allen Artgenossen, die uns mit Krankheiten anstecken könnten. Das Problem dabei ist auch hier unser Hang zur Übertreibung: denn wir können im Einzelfall nur schwer zwischen Zeichen von ansteckender Krankheit und harmlosen Normabweichungen, wie Leberflecken, Narben, Schuppenflechte etc. unterscheiden. Das Mikroskop war nun mal noch nicht erfunden, als der Mechanismus in die Welt kam (Park et al. 2003).
[←79] Paradoxerweise stammt die Formulierung von einem der Hauptvertreter der Gute-Gene-Hypothese, dem Wiener Verhaltensforscher Karl Grammer (siehe Grammer et al. 2002).
[←80] Zeki kann als so etwas wie der Gründungsvater der Neuroästhetik angesehen werden. 2001 gründete er das Institute of Neuroesthetics in Berkeley, California (http://www.neuroesthetics.org).
[←81] Wobei es allerdings sicher nicht zum Amüsement jedes Kollegen beigetragen haben dürfte, dass er in einem Interview auf die Frage nach der Originalität seiner Ideen lapidar erklärte: »Wenn ich so weit sehen kann, dann deshalb, weil ich auf den Köpfen von Pygmäen stehe.« (Sharpening Up »The Science of Art«, An Interview with Anthony Freeman, Ramachandran 2001)
[←82] Im Hintergrund lauert dabei die knifflige Frage, warum der Mensch überhaupt Lust an Kunst (sei es nun bildende Kunst, Musik oder erzählte Geschichten) empfindet. Ist Kunst nur ein Nebenprodukt der Evolution, wie der Evolutionspsychologe Steven Pinker argumentiert? Er bezeichnet sie als »Lusttechnologie«, die dritte neben der feinen Küche und der Pornographie– letztlich eine »Erfindung«, mit der der Mensch das »Schloss zu seinem eigenen Belohnungssystem knacken kann« (Pinker 1997). Oder sind Lust und Glück etwa ein eigenständiger Fitnessfaktor, wie der Münchner Literaturwissenschaftler Karl Eibl (der sich dabei auf Gedanken von Tooby & Cosmides 2001 stützt) behauptet (Eibl 2004)?
[←83] Kognitive Theorien sind jedoch nicht minder »evolutionär« als die evolutionspsychologischen. In beiden Denkschulen ist Schönheit ein Signalsystem, das das Individuum verwendet, um sein (im Sinne der Evolution) vordringlichstes Problem zu lösen: seine Gene weiterzubringen. Nur: Bei den Theorien der Wahrnehmungsvorlieben kommt der Evolutionsdruck primär vom Signalempfänger, wogegen bei evolutionspsychologischen Theorien der Sender (bzw. seine Qualitäten) im Mittelpunkt steht.
[←84] Dabei scheint der Unterschied in beiden Fällen weniger auf einer Bevorzugung der besonders Attraktiven zu beruhen als auf einer Benachteiligung der besonders Unattraktiven, insbesondere der übergewichtigen Frauen und der kleinen Männer (Pawlowski et al. 2000; siehe auch Nettle 2002a + b).
[←85] Hier ergibt sich eine interessante Parallele zum Tierreich: Bei einigen Arten leisten die begehrteren Männchen weniger Elternarbeit. So helfen attraktive – in diesem Fall große – Borkenkäfer-Männchen ihrem Weibchen zwar dabei, Tunnel für die Brut ins Holz zu bohren, und verteidigen die Nester dann auch gegen Feinde. Allerdings verlassen sie ihre Familie früher, als es ihre kleineren Geschlechtsgenossen tun. Die Forscher erklären dieses Verhalten damit, dass die größeren Chancen eines attraktiven Käfers auf eine weitere Paarung das höhere Risiko für die erste Brut mehr als aufwiegen (Reid & Roitberg 1995).
[←86] Das würde heißen, dass die schönen Männer ihre Seitensprünge mit den weniger schönen Frauen absolvieren – was zwar nicht unmöglich, aber wenig wahrscheinlich ist. Viel eher steckt hinter dem Mysterium der in Umfragen zum Sexleben wohlbekannte Hang der Befragten, mit ihren Erfolgen entweder zu prahlen (Männer) oder – im Sinn von »sozialer Erwünschtheit« – hinterm Berg zu halten. Rein rechnerisch müsste jedenfalls die Anzahl von heterosexuellen Partnern bei Männern und Frauen einigermaßen gleich sein.
[←87] Wenn dem so ist, warum werden wir dann nicht immer schöner? Mit dieser interessanten Frage beschäftigt sich die Abteilung FAQ auf der buchbegleitenden Website www.schoenheitsformel.de.
[←88] Dieses Ergebnis der Studie ist jedoch alles andere als gesichert. Mehr dazu unter www.schoenheitsformel.de.
[←89] Siehe dazu z. B. das Buch von Robin Baker, Krieg der Spermien, Bergisch Gladbach 1999. Wissenschaftlich sorgfältiger, aber auf Englisch: Tim Birkhead, Promiscuity, London 2000.
[←90] Was natürlich nicht heißt, dass Intelligenz ausschließlich vererblich ist. Kanazawa et al. geben in ihrer Publikation eine Erblichkeit von 40–80 Prozent an (Kanazawa et al. 2004).
[←91] Von den ursprünglich fotografierten 59 Frauen wurden die 27 geschminkten Frauen ausgeschlossen, da sich zeigte, dass sich bei ihnen keinerlei Zusammenhang zwischen der Attraktivitätsbewertung und ihren Hormonspiegeln ergab. Neben Östrogen wurde in der Studie auch Progesteron bestimmt. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Hormon- und Attraktivitätswerten zeigte sich jedoch nur beim Östrogen (Law Smith et al. 2006).
[←92] Wenn die Attraktivität des (weiblichen) Körpers also zumindest teilweise auf das Wirken von Hormonen zurückzuführen ist, und die des Gesichts möglicherweise ebenfalls (wenn auch wahrscheinlich zu einem viel kleineren Teil), stellt sich die Frage, ob es vielleicht einen Zusammenhang zwischen einem schönen Gesicht und einem schönen Körper gibt. Die Frage ist auch aus theoretischer, evolutionsbiologischer Sicht interessant. Wenn Schönheit nämlich gute Gene signalisiert, lassen sich daraus zwei Schlüsse ziehen: Entweder die verschiedenen Komponenten der Schönheit (Figur, Haut, Symmetrie, Gesichtsform etc.) sind allesamt Marker für diese zugrunde liegende Gesamtqualität – so genannte single-ornament-Hypothese –, oder jede Komponente steht für eine andere genetische Qualität: die Hautglattheit z. B. für Parasitenfreiheit, die Symmetrie für »Entwicklungsstabilität« etc. – multiple-ornamentHypothese (siehe z. B. Møller & Pomiankowski 1993). Die einzige Untersuchung, die der Frage beim Menschen nachgeht, stammt von Randy Thornhill und Karl Grammer (Thornhill & Grammar 1999). Eine eingehendere Diskussion der Studie finden Sie auf der buchbegleitenden Website www.schoenheitsformel.de (unter „Fußnoten“)
[←93] Damit dürfte das Signal, das der Bart transportiert, eher »Würde« als sexuelle Attraktivität heißen (siehe dazu Cunningham et al. 1997).
[←94] Die Gute-Gene-Hypothese dagegen postuliert, dass ein linearer Zusammenhang über die ganze Attraktivitätsskala hinweg besteht.
[←95] Allerdings sind die Zusammenhänge nur sehr schwach (Wilson & Barrett 1987).
[←96] Auch das Alter unseres Traumpartners könnte mit unseren frühkindlichen Erfahrungen zu tun haben. In einem Experiment an David Perretts Facelab zeigten sich diejenigen unter den Versuchspersonen, deren Eltern bei ihrer Geburt über 30 waren, von Gesichtern angezogen, die älter als der Durchschnitt waren; dabei waren die weiblichen Vorlieben offenbar von deren Vätern, die männlichen von den jeweiligen Müttern beeinflusst (Perrett et al. 2002).
[←97] Siehe dazu Hrdys Buch Mutter Natur.
[←98] Damit hätten wir eine dritte Erklärung für den Faktor »Kindlichkeit« in der Schönheitsformel – neben der These, dass das »Kindchenschema« einem Gesicht Jugendlichkeit verleiht, und der These von der »Wegentwicklung vom Affenmodell« (siehe Kapitel 5 und 6).
[←99] Wobei sich die Frage aufdrängt, was für eine merkwürdige »Leistungs«gesellschaft das eigentlich ist, in der die Leistung eines erklecklichen Anteils der Bevölkerung schlichtweg darin besteht, dass er mit dem richtigen Gesicht geboren wurde. Mehr zum »Schönheitskapitalismus« in den Kapiteln 9 und 10.
[←100] Ein Zusammenhang, der leider in den allermeisten evolutionspsychologischen Veröffentlichungen übersehen wird. Selbst wenn Schönheit »an sich« nicht »adaptiv« wäre, Schönsein ist es allemal.
[←101] Das Wort kommt ursprünglich aus dem Druckgewerbe und bezeichnete eine Art Druckplatte. Die Tatsache, dass der Begriff einen negativen Beiklang (im Sinne eines »Vorurteils«) hat, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stereotypbildung ein notwendiger Prozess ist. Ohne Stereotype würde das Individuum in der von seinem Sensorium permanent eingehenden Datenflut versinken. Stereotype als jederzeit verfügbare mentale Blaupausen ermöglichen eine grobe zeit- und energiesparende Orientierung in einer Welt, die ohne Verallgemeinerung nicht zu bewältigen wäre. Gerade in dieser – notwendigen – Verallgemeinerung liegt denn auch das Problem von Stereotypen. Denn selbst wenn sie, auf Gruppen angewandt, akkurat wären (was sie, zumindest in grober Annäherung, zumeist auch tatsächlich sind), können sie dem Individuum nie und nimmer gerecht werden. So hat das Stereotyp vom fleißigen Deutschen beispielsweise gute Argumente auf seiner Seite, wenn man es auf die Gesamtheit der Deutschen bezieht. Im Einzelfall liegt es jedoch oft vollkommen daneben. Zur Zweischneidigkeit des Stereotyps siehe z. B. Pinker 2002, S. 201 ff.
[←102] Die positive Bewertung der Schönen hatte eine Ausnahme: von den Schönen wurde nicht erwartet, dass sie die besseren Eltern abgeben (bei dieser Frage ergab sich kein Unterschied zu den durchschnittlich Attraktiven).
[←103] Dabei ist das Attraktivitäts-Stereotyp bei den unterschiedlichen Persönlichkeitseigenschaften unterschiedlich stark ausgeprägt. Am stärksten ist es bei Eigenschaften, die mit sozialer Kompetenz zu tun haben (z. B. Beliebtheit, Extraversion); mittelstark, wenn es um die Frage der intellektuellen Kompetenz und Leistungsfähigkeit geht. Bei den sonstigen Persönlichkeitsdimensionen finden sich eher geringe Effekte. Schönheit kann – zumindest bei den Superschönen – sogar negativ auf die Persönlichkeit abfärben. Mit dieser »dunklen Seite des Stereotyps« beschäftigt sich Kapitel 12.
[←104] Da passt es ins Bild, was Studien in Kalifornien und Massachusetts herausgefunden haben: Von den Kindern, die wegen Misshandlung durch die Eltern einen vom Gericht bestellten Vormund hatten, waren relativ viele unattraktiv (McCabe 1988).
[←105] Beim Vergleich zwischen männlichen und weiblichen Dozenten zeigte sich, dass die Bewertung der Männer dreimal so stark vom Aussehen abhing wie die der Frauen. Genauso sind es offenbar die männlichen Studenten, die stärker von der Schönheit ihrer Dozenten beeindruckbar sind als ihre Kommilitoninnen (Hamermesh & Parker 2003).
[←106] »Kavalier« kommt von frz. »chevalier« – Reiter, Ritter (le cheval = Pferd).
[←107] McNeill 2001, S. 393 f. Schönheit kann für die psychotherapeutische Beziehung noch ein anderes Problem bedeuten: Die Schönen können ihren Therapeuten besser an der Nase herumführen, wenn es darum geht, an den eigentlichen Knackpunkt eben nicht zu kommen. Sie haben schlichtweg mehr Macht über ihn – in einer Therapie definitiv kein Vorteil.
[←108] Die Rücklaufquoten einer Fragebogenaktion war über doppelt so hoch, wenn auf dem Anschreiben eine hübsche Frau abgebildet war. Dies gilt sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Kunden (Rugiero & Dommeyer 1996). Nach einer anderen Studie ist es offenbar besser, Mailings ganz ohne Bild zu verschicken, als ein wenig attraktives Gesicht abzubilden (Caballero & Pride 1984)
[←109] Lynn & Simons 2000. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse findet sich in Hergovich 2001, S. 194. Interessanterweise gelten die Zusammenhänge nur für die Abendschicht. Beim Mittagessen scheinen die Gäste ein völlig anderes »Trinkgeldverhalten« an den Tag zu legen. Wer sich für die Wissenschaft vom Trinkgeld interessiert, findet in einem Review von Ofer H. Azar von der School of Management der Ben-Gurion University of the Negev interessante Fakten und Kuriositäten (Azar 2002). Ein paar Beispiele: In einer der vorgestellten Studien steigerten sich die Trinkgeldeinnahmen von durchschnittlich 15 auf 23 Prozent, wenn sich der oder die Kellner(in) den Gästen mit Namen vorstellte. Eine andere Studie kommt zu dem denkwürdigen Ergebnis, dass Freundlichkeit einen positiven Einfluss auf die Höhe des Trinkgeldes hat – allerdings nur »in einigen Fällen« … Nach Auskunft wieder einer anderen Publikation kam es dem Umsatz der Kellnerin zugute, wenn sie eine Sonne auf den Bon malte, genauso, wenn sie »Danke« draufschrieb. Wenn eine Kellnerin den Kunden oder die Kundin berührte, wenn sie die Rechnung brachte, hatte auch das nach Auskunft einer der untersuchten Studien einen positiven Effekt – bei der weiblichen Kundschaft sogar mehr als bei der männlichen.
[←110] Cash et al. 1977. Anfang der 1990er Jahre nahm sich Cashs Kollegin Irene Frieze von der University of Pittsburgh die Jahrbücher einer betriebswirtschaftlichen Fakultät vor. Sie ließ die Fotos mehrerer Jahrgänge von einer Jury nach ihrer Attraktivität bewerten und spürte anschließend die einzelnen Absolventen in ihren jeweiligen Firmen auf. Das Ergebnis ihrer Recherchen: Attraktive Männer verdienten vom Start weg mehr als ihre weniger ansehnlichen Kollegen, und dieser Abstand vergrößerte sich im Lauf der Karriere noch. Attraktive Frauen hatten zwar am Anfang keinen Vorteil, im weiteren Berufsleben setzten sie sich aber deutlich von ihren reizloseren Kolleginnen ab. In Zahlen ausgedrückt, verdienten Männer für jede Attraktivitätseinheit (auf einer fünfstufigen Skala) 2600 Dollar pro Jahr mehr, bei Frauen waren es 2150 Dollar (Frieze et al. 1991). Eine kanadische Studie stellte zwar einen signifikanten Gehaltsunterschied zwischen attraktiven und unattraktiven Männern fest. Das Gehalt von Frauen dagegen war in dieser Studie nicht von ihrer Attraktivität beeinflusst (Roszell et al. 1989). In einer Untersuchung an 11.000 Briten im Alter von 33 Jahren kam der Londoner Professor Barry Harper zu dem Ergebnis, dass die Schönsten nicht viel mehr verdienten als der nationale Durchschnitt. Die am wenigsten Attraktiven mussten sich allerdings mit einem um 15 Prozent (Männer) bzw. elf Prozent (Frauen) niedrigeren Gehalt begnügen (Harper 2000).
[←111] Eine Studie an Rechtsanwälten ergab folgende Ergebnisse: 1) Die besser aussehenden Anwälte verdienten deutlich mehr als ihre weniger gut aussehenden Kollegen. 2) Selbstständige Anwälte sind attraktiver als die im Staatsdienst. 3) Die Wahrscheinlichkeit, dass männliche Anwälte schon früh in ihrer Karriere Partner in einer Kanzlei werden, steigt mit ihrer Schönheit (Biddle & Hamermesh 1998).
[←112] Auch hier ist, um es genau zu nehmen, letztlich ein Stereotyp am Wirken. Wir erwarten vom brillanten Selbstdarsteller, dass er mehr kann – große Klappe heißt aber noch lange nicht bessere Leistung.
[←113] Vor allem zwei Entwicklungen trugen zu dieser Karriere der Schönheit mit bei: Der Siegeszug der großen Kapitalgesellschaften gegenüber den traditionellen Familienunternehmen, und damit der Aufstieg der smarten Business-School-Absolventen, die den eher bodenständigen, bisweilen schrulligen Inhabertyp verdrängen. Zum Zweiten die Auflösung des öffentlichen Dienstes (bzw. seine Umdefinition zum Dienstleister), die dem Ärmelschoner zugunsten des Anzugs den Garaus gemacht hat.
[←114] Heineck 2004, hier findet sich auch eine Übersicht über die relevante Literatur. Die Ergebnisse von Guido Heineck entsprechen dem, was andere Forscher für die USA und Großbritannien herausgefunden haben: In einer US-Studie an Betriebswirten aus dem Jahr 1990 wurde ein »Größenzuschlag« auf das Jahresgehalt von 570 Dollar für jeden zusätzlichen Inch (ca. 2,5 cm) an Körpergröße errechnet. Eine Studie an Briten ergab, dass jeder Inch an überdurchschnittlicher Körpergröße einen Gehaltsbonus von 1,7 Prozent bringt (Bild der Wissenschaft, 7/2004, S. 84 ff.).
[←115] Nach Schätzungen hat Kennedy allein durch diesen Fernsehauftritt zwei Millionen Wähler gewonnen. Die Wahl ging am Ende mit einer hauchdünnen Mehrheit von 112.000 Stimmen an Kennedy. Bezeichnenderweise waren die Zuhörer, die die Debatte am Radio verfolgten, eher von Nixon angetan (Amadieu 2002, S. 189 ff.; Marwick 1988, S. 392 ff.).
[←116] Dass Schönheit das Verkaufen von Meinungen erheblich erleichtert, demonstrierte die Sozialpsychologin Shelly Chaiken im Jahr 1979 in einem Experiment. Sie beobachtete eine studentische Unterschriftensammlung auf dem UniCampus, bei der es darum ging, die Leitung der Mensa dazu zu bringen, vegetarische Menüs anzubieten. Chaiken stellte fest, dass 53 Prozent der von den schönen männlichen Aktivisten Angesprochenen bereit waren, ihre Unterschrift zu geben, bei den weniger Bezaubernden waren es nur 38 Prozent, und damit ein ganzes Drittel weniger. Attraktive Frauen bekamen nicht ganz so viele Unterschriften zusammen wie ihre männlichen Kollegen aus der Schönheitselite (47 Prozent), hier war aber der Unterschied zu den weniger hübschen noch deutlicher (29 Prozent) (Chaiken 1979).
[←117] Spielt es dabei eine Rolle, ob man Mann oder Frau ist? Nach einer Untersuchung von Kathryn Lewis und Margaret Bierly aus dem Jahr 1990 sind Frauen die geborenen Politprofis, zumindest wenn sie schön sind. Denn in diesem Fall profitieren sie – genauso wie ihre männlichen Kollegen – vom Schönheitsbonus, den sie sowohl von männlichen als auch weiblichen Wählern erhalten. Zusätzlich liegen sie jedoch in der Gunst der weiblichen Wählerschaft deutlich vorne – einfach weil sie eine Frau sind: Frauen halten Politikerinnen für kompetenter als Politiker, bei männlichen Wählern macht das Geschlecht bei der Einschätzung der Kompetenz dagegen keinen Unterschied (Lewis & Bierly 1990). Diese Ergebnisse von Lewis und Bierly stehen im Widerspruch zu früheren Studien, in denen nur das männliche Politik-Personal vom Schönheitsbonus profitierte, Frauen also tendenziell mit dem bekannten Vorurteil zu kämpfen hatten, das auch am Arbeitsplatz auf sie wartet: schön, aber leider inkompetent. Spiegeln die Ergebnisse von Lewis und Bierly möglicherweise eine Trendwende wider? Wird Frauen in dem Maß, wie Politik eben nicht mehr reine Männerdomäne ist, auch mit weniger Vorurteilen begegnet?
[←118] Damit wurden also die tatsächlichen, in der freien Wildbahn herrschenden Verhältnisse in etwa bestätigt. Auch ein anderer Befund der Studie spiegelt die reale Welt wider: Männer verdienten in dem Experiment 13–17 Prozent mehr als Frauen. Interessant ist auch folgender Aspekt: Während die anderen Spieler den Schönen mehr anbieten, fordern sie gleichzeitig auch mehr von ihnen! Schönheit ist also durchaus ein zweischneidiges Schwert. Auf diesen Aspekt werden wir in Kapitel 12 eingehen.
[←119] Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um die Frage, ob Männer oder Frauen besser verdienen oder bei Karrierechancen diskriminiert werden. Hier ist der Befund eindeutig: Männer verdienen in gleicher Position und bei gleicher Qualifikation weiterhin deutlich mehr als Frauen. Hier geht es um die Frage, welchen Unterschied Schönheit in dem Spiel macht und ob der Effekt bei beiden Geschlechtern unterschiedlich ist. Im Berufsleben profitiert der schöne Mann offenbar doppelt: erstens als Mann und zweitens als schöner Mann. Bei Frauen dagegen spielt sich die Bevorzugung der Schönen vor dem Hintergrund eines allgemeinen Geschlechtsmalus ab.
[←120] Wie erklärt sich der gegenüber unattraktiven Männern niedrigere Abschlag für unattraktive Frauen? Eine von Daniel Hamermesh angegebene Erklärungsmöglichkeit lautet so: Die unvorteilhaftesten Frauen befinden sich gar nicht auf dem Arbeitsmarkt (ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt ist elf Prozent geringer als der Durchschnitt) – berufstätige Frauen wären demnach also durchschnittlich hübscher als nicht berufstätige. Hamermesh gibt jedoch an, dass der Effekt nicht ausreicht, um die ganze Lücke zwischen den Geschlechtern zu erklären.
[←121] Nach einer Studie verdienen amerikanische Frauen bei 20 Prozent Übergewicht 4000 Dollar weniger p. a., bei gleicher Qualifikation und Stellung (Frieze et al. 1991). Dabei scheint Übergewicht für weiße Frauen ein deutlich größeres Handicap zu sein als für schwarze Frauen (Cawley 2000).
[←122] Hauptsache Haare. Eine Studie von Ronald Henss mit manipulierten Bewerbungsfotos zeigt, dass Männer mit Glatze deutlich seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden. Sie gelten als weniger karriereorientiert und weniger kreativ (Henss 2001).
[←123] Das Schicksal der Betroffenen wird schon an der Herkunft des Begriffes »Aussatz« klar: Es lässt sich auf »draußen sitzen« zurückführen (Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl.).
[←124] Nach der mittelalterlichen Dialektik haben auch die hässlichen Dinge ihren Platz in Gottes Schöpfung. Das Böse stört zwar die Ordnung, aber es hat trotzdem die ihm von Gott zugewiesene Aufgabe, nämlich das Gute umso leuchtender strahlen zu lassen: »Die Gerechtigkeit der Guten holt sich ihren Ruhm aus den Strafen der Gottlosen«, schreibt beispielsweise Johannes Scotus Eriugena im 9. Jahrhundert (zitiert in Eco 2004, S. 85).
[←125] Auch im Alten Testament klingt hier und da schon die Ambivalenz zur (weiblichen) Schönheit an: »Lass dich nach ihrer Schönheit nicht gelüsten, in deinem Herzen, und lass dich nicht fangen durch ihre Augenlider«, heißt es beispielsweise in den Sprüchen Salomos (6, 25). Mehr dazu in Synnott 1989, S. 617 ff.
[←126] Im Grunde ist das ambivalente Verhältnis zum Körper schon in der Leib-Seele-Dichotomie des abendländischen Denkens angelegt. Denn in dem Moment, in dem man die Seele vom Körper trennt, stehen sich die beiden Teile des »Individuums« (was eigentlich so viel bedeutet wie »unteilbar«) zwangsläufig als Konkurrenten gegenüber: Wer hat das Sagen? Wer führt wen? Wertet man den einen Teil auf, wertet man den anderen ab. Erst die moderne Hirnforschung hat einen Schlussstrich unter den ewigen Antagonismus gesetzt: Es gibt keine immaterielle Seele, alle »geistigen« Vorgänge sind an Materie gebunden. Wenn man unser inneres Erleben als unsere »Seele« bezeichnen will, so sind alle mentalen Vorgänge körperlich und »seelisch« gleichzeitig.
[←127] Dieselben Verrenkungen muss man auch bei der Frage des Hässlichen machen. Einerseits muss das Hässliche nach dem eingefleischten Reflex einfach schlecht sein, also eine von Gott gesandte Strafe. Andererseits ist auch der Krüppel ein »leidendes Glied Christi«, und damit ein Prüfstein für die Barmherzigkeit des Einzelnen.
[←128] Bei dem Hindernis handelt es sich fast ausschließlich um den weiblichen Körper. »Die Schönheit der Frauen des weltlichen Staates lenken die Söhne des Gottesstaates vom Pfad der Tugend ab«, heißt es etwa im Gottesstaat des Augustinus (zitiert nach Stemmler 1988, S. 171).
[←129] Maria Magdalena ist nicht umsonst die Schutzpatronin des Parfüm-, Kosmetik- und Schmuckgewerbes, v. a. aber der Friseure.
[←130] Eine Analyse von Kinofilmen über fünf Jahrzehnte zeigt das klassische Muster: Die Attraktiven spielen die »guten« Rollen (Smith et al. 1999). Der Grund liegt darin, dass wir schöne Menschen als vertrauenswürdiger und sympathischer wahrnehmen und uns deshalb leichter mit ihnen identifizieren.
[←131] 55. Sure. Die Ikonographie des Göttlichen ist beispielsweise im (schiitischen) Islam und Christentum so gut wie identisch. Wer den Iran bereist, meint überall auf Bilder von Jesus und Maria zu stoßen: schöner Jüngling mit Bart, »heilige« engelsgleiche Jungfrau – die in diesem Fall aber den Religionsstifter Hussein und seine Frau Fatima, die Tochter Mohammeds, darstellen.
[←132] Das hebräische »tob« steht für gut und schön gleichermaßen (Stemmler 1988, S. 44).
[←133] Nämlich »bonus«. »Bellus« ist ursprünglich die Verkleinerungsform von »bonus«. (Das spanische Wort für »schön« – »bonito« – folgt demselben Prinzip. (Mehr zu den etymologischen Verbindungen siehe Henss 1992, S. 86 ff.)
[←134] Weiß und Schwarz sind archetypische Antagonisten und als solche in allen Kulturen sprachlich besonders hervorgehoben (d. h. als Wörter definiert) – wogegen die anderen Farben (mit Ausnahme von Rot) oft nicht sprachlich abgebildet werden. Donald E. Brown führt die Begriffe Schwarz und Weiß deshalb auf seiner Liste der Universalien (siehe z. B. Pinker 2002, S. 435 ff.).
[←135] Dafür spricht auch die Tatsache, dass das Stereotyp in beide Richtungen austauschbar ist – wir empfinden nicht nur die Schönen als besser, sondern umgekehrt auch die Guten als schöner (umgekehrtes Stereotyp, siehe Kapitel 9).
[←136] Ein nettes Experiment dazu wurde von Psychologiestudenten der University of Pennsylvania durchgeführt. Sie ließen 50 Kommilitoninnen von Studierenden einer Nachbaruniversität nach Attraktivität bewerten und sortierten sie in zwei Töpfchen: die zehn Schönsten (»Highs«) und die zehn Reizlosesten (»Lows«). Dann ging es hinaus ins »Feld« – ins lustige Studentenleben, also auf Partys und in College-Bars. Dort lungerten unauffällige Gestalten mit Notizblöcken herum und beobachteten das Verhalten ihrer nichts ahnenden »Zielpersonen«. Das Ergebnis: Die »Highs« wurden nicht nur von deutlich mehr Leuten angesprochen, sondern gingen auch ihrerseits aktiver auf andere zu als die »Lows«. Bei ihren Kontakten kam es zu mehr körperlicher Nähe (abzulesen an der Strichliste für »hugging, touching, kissing«) – und zwar sowohl mit Frauen als auch mit Männern. Das nette Experiment wurde in der hauseigenen Psychologiezeitschrift veröffentlicht (Prestia et al. 2002).
[←137] Wright 2004. Da Selbstwert nur mäßig mit dem tatsächlichen Aussehen zusammenhängt (s. u.), ist diese Erklärung jedoch sicher nicht ausreichend. Möglicherweise fällt die in Kapitel 8 und 10 angesprochene Tatsache, dass Schönheit ungleich über die gesellschaftlichen Klassen verteilt ist, stärker ins Gewicht (siehe auch Burns & Farina 1992).
[←138] Der durchschnittliche IQ-Anstieg bei den 20 Prozent Auserwählten betrug vier Punkte, bei den jüngeren Schülern war der Effekt ausgeprägter als bei den den älteren (Rosenthal & Jacobson 1968). Die Theorie heißt im angloamerikanischen Sprachraum auch: »social expectancy theory«, also Theorie der sozialen Erwartungen. Oder auch – nach dem Titel der Originalpublikation von Robert Rosenthal und Lenore Jacobson, Pygmalion in the Classroom – »Pygmalion Effect«.
[←139] »Persönlichkeit« darf nicht mit »Sozialisation« verwechselt werden. Sozialisation ist die Übernahme der Werte und Normen der Umgebung, und hier ist selbstverständlich die Umgebung der entscheidende Faktor. Es macht einen Unterschied, ob ein Kind in einer Villa im Grunewald, einem Ghetto in Chicago oder im amazonischen Regenwald aufwächst. Persönlichkeit ist dagegen sozusagen die Veranlagung für die Art, wie wir mit der jeweils vorgefundenen Umwelt umgehen.
[←140] Merkwürdigerweise scheinen die Kollegen von der Glücksbrigade das Thema Schönheit kaum auf der Rechnung zu haben. Selbst in der Glücksformel, dem kompetentesten populärwissenschaftlichen Buch zum Thema, wird Schönheit mit keinem Wort erwähnt.
[←141] Stimmt es also gar nicht, was wir jeden Tag der Regenbogenpresse entnehmen? Dass sich die Schönen öfter scheiden lassen? Gescheiterte Beziehungen scheinen den Karriereweg der Stars und Sternchen zu pflastern. Manfred Hassebrauck nennt es den Hollywood-Effekt (Hassebrauck & Küpper 2002, S. 122) und will damit auch die höheren Scheidungsraten von Lehrern und Professoren erklären: Wer attraktiven Angehörigen des anderen Geschlechts besonders viel ausgesetzt sei, so Hassebraucks Spekulation, bildet ein unrealistisch hohes »Anspruchsniveau«, demgegenüber die eigene Partnerin nur alt aussehen kann. Eine andere Erklärung ist vielleicht stichhaltiger: Eine Ehegemeinschaft ist immer auch eine Wertegemeinschaft. Und je mehr sich die Partner an äußeren Werten orientieren (Reichtum, Berühmtheit, Schönheit), umso labiler dürfte die Konstruktion sein.
[←142] Dass an dem Vorurteil nichts dran zu sein scheint, steht auf einem ganz anderen Blatt. Langlois bescheinigt den Schönen tendenziell sogar ein Mehr an Mitgefühl (Langlois et al. 2000). Aber es wäre freilich das erste Stereotyp, das sich um die Realität geschert hätte.
[←143] Die Ausführungen über die Entwicklung der Schönheitsvorstellungen im 20. Jahrhundert stützen sich vor allem auf die Bücher von Otto Penz (Penz 2001), Arthur Marwick (Marwick 1988), Pascal Duret & Peggy Roussel (Duret & Roussel 2003) und Wilhelm Trapp (Trapp 2003). Mehr Informationen zur verwendeten Literatur finden Sie in der kommentierten Bücherliste auf der buchbegleitenden Website www.schoenheitsformel.de.
[←144] Die 1942 erlassene »Polizeiverordnung zur Regelung des Badewesens«, in der gemischtgeschlechtliches Nacktbaden ausdrücklich erlaubt wird, war bis in die sechziger Jahre hinein in der BRD gültig.
[←145] Muskeln sind ein schönes Beispiel für das Zusammenfallen von Status- und Schönheitsmerkmalen. Was in früheren Zeiten einmal ein Ausweis von harter Arbeit und damit Unterprivilegierung war, ist heute ein Luxusmerkmal, in dem viel Zeit und teures Geld – und harte Arbeit – stecken.
[←146] Heute sind in Deutschland bereits 20 Prozent der Teenies gepierct, in den USA 50 Prozent (Der Spiegel 25/2003).
[←147] Der Begriff »Cellulite« war wohl in Frankreich schon seit 150 Jahren gebräuchlich. Das »-itis« in der Endung, das im Ärztelatein eine Entzündung suggeriert, dürfte den Aufstieg der Orangenhaut zur Krankheit stark gefördert haben – genauso der von »Experten« gerne verwendete Begriff der »Panniculose«, dessen Endung »-ose« auf eine chronische Erkrankung hindeutet.
[←148] Man kann die gesamte Menschheitsgeschichte unter diesem Aspekt sehen: Das Trachten des Menschen geht in erster Linie danach, sein »Belohnungssystem« (siehe Kapitel 3) zu stimulieren. Beispiel »kulinarische Lust«: Während der Affe noch darauf angewiesen ist, zufällig auf ein paar Honigwaben zu stoßen, hat der Mensch Wege gefunden, die Stimulation seines Belohnungssystems in die eigene Hand zu nehmen – indem er sich beigebracht hat, Zucker und Fett zu produzieren. Als ebensolche Stimulanzien können Kunst und Kultur, alle Sorten von Drogen, Pornographie – und eben auch Schönheit gesehen werden (siehe auch die entsprechende Fußnote in Kapitel 7).
[←149] 95 Prozent der von Essstörungen Betroffenen sind Frauen. In Europa erkranken zwei Prozent aller Frauen an Bulimie, eine von 500 an Anorexie. Die Erkrankten stammen meist aus der Mittelund Oberschicht. Am häufigsten kommen sie aus Milieus, in denen der Körper eine hohe Bedeutung hat, wie etwa bei Tänzerinnen und Models. Aus nichtwestlichen Kulturen sind nur ganz vereinzelte Fallberichte bekannt geworden. Essstörungen sind jedoch nicht nur eine Frage des Milieus (etwa einer aufs Aussehen fixierten Familie), sondern offenbar spielt auch die Persönlichkeit eine Rolle (und damit eine genetische Disposition, siehe Kapitel 12) (Davis et al. 2004). Sind die Schönen anfälliger für Essstörungen? Es sieht ganz so aus. Eine Untersuchung an amerikanischen CollegeStudentinnen fand einen klaren Zusammenhang zwischen Attraktivität und Essstörungen (Davis et al. 2000). Der Grund liegt möglicherweise darin, dass das Selbstwertgefühl bei den attraktiven Frauen stärker an ihrem Körper hängt und sie deshalb mehr Aufmerksamkeit auf Gewicht und Figur legen. Dass Männer weniger an Essstörungen leiden, heißt nicht, dass sie keine Körperbildstörungen entwickeln würden. Harrison Pope berichtet in seinem Buch Der AdonisKomplex, dass in der amerikanischen Bodybuilder-Szene etwa neun Prozent unter »muskulärer Dysmorphophobie« leiden, also einer Störung der Selbstwahrnehmung, ähnlich der Magersucht. Die Betroffenen empfinden ihre aufgepumpten Muskeln als mickrig, so wie sich eine aus Haut und Knochen bestehende Magersüchtige als zu fett einstuft.
[←150] Wobei es im Fall der Naturvölker weniger um die individuelle Schönheit geht als um soziale »Zugangscodes« – die jedoch selbstverständlich ästhetisch aufgeladen sind (siehe dazu Kapitel 1).
[←151] Alle Zahlen nach American Society for Aesthetic Plastic Surgery (http:// www.cosmeticplasticsurgerystatistics.com/statistics.html). Wirklich verlässliche Datenquellen sind nicht vorhanden, wie sich aus den großen Diskrepanzen zu den Daten der American Society of Plastic Surgeons (www. plasticsurgery.org) ergibt.
[←152] Im Ärztelatein wird von Dysmorphophobie gesprochen. Dysmorphophobie-Patienten empfinden sich bzw. einen Teil ihres Körpers als hässlich, obwohl der Außenstehende keinen oder nur einen geringfügigen Makel wahrnehmen kann. Bei solchen Patienten gehört der Gang zum Chirurgen praktisch zum Krankheitsbild. Die Erkrankung ist wie Depressionen mit Serotoninaufnahmehemmern und Verhaltenstherapie behandelbar; rund zwei Drittel der Patienten sprechen darauf an.)
[←153] In die Trickkiste der Verschönerungskünstler geschaut werden kann z. B. bei www.elektronische-schoenheit.de.
[←154] Hinter exzessiven Schönheitsanstrengungen lugt nicht selten das protestantische Leistungsethos hervor. Ein durchgestylter Body sagt: »Ich fresse nicht, sondern ich arbeite. Ich genieße nicht, sondern ich mühe mich ab für ein höheres Ziel.« Dieses höhere Ziel des immer perfekteren Körpers kann Lebensinhalt werden. Wer sich jeden Tag aufs Neue an die Arbeit an seinem Körper machen muss (darf?), hat ein effizientes Programm gegen die Angst vor der Leere, das Halt, Struktur und »Sinn« gibt.
[←155] Bezeichnenderweise ist auf dem Cover des entsprechenden Buches Herrlich hässlich! von Harald und Regina Gasper (Gasper & Gasper 2005) ein ausgesprochen hübsches Gesicht abgebildet, das man ein bisschen auf hässlich geschminkt hat. Auch ein Buch über Hässlichkeit braucht Schönheit, um sich zu verkaufen.
[←156] »Der Schönheitskult hält Frauen in Atem, schränkt ihren Lebens- und Gedankenkreis ein und sorgt dafür, dass männliche Machtdomänen nicht gefährdet werden«, heißt es beispielsweise in dem Buch Körper machen Leute von Waltraud Posch (Posch 1999, S. 35).
[←157] Die »Koalition gegen den Schönheitswahn« der deutschen Ärzteschaft, die anlässlich der OP-Show The Swan im Jahr 2004 gegründet wurde, ist zumindest ansatzweise auch eine Koalition gegen die Schönheitsdoktoren, die ja außerhalb der gedeckelten Honorartöpfe operieren und damit sicher auch den Neid des einen oder anderen Kollegen wecken (von denen allerdings so mancher auch nicht zimperlich ist, wenn es darum geht, dem Patienten eine »Wunschleistung« zu verkaufen, die bisweilen nicht weniger hart an der Grenze des medizinisch Indizierten liegt wie ein rein »ästhetischer« Eingriff).
[←158] Letztlich spiegelt sich in unserer Ambivalenz zur Schönheit die Einstellung unserer Kultur zum Körper wider – die von einem ewigen, unauflöslichen Widerspruch zwischen dem Inneren und dem Äußeren ausgeht. Im Zweifelsfall ist es das Innere, das als die eigentliche Qualität gilt, während das Äußere, als die »bloße Hülle«, notorisch in der Defensive ist.
[←159] Brillant wird dieser Zwergenaufstand gegen die Macht der Schönheit in dem Buch Einfach schön von Bernd Guggenberger, von dem auch dieses Zitat stammt, aufgespießt (Guggenberger 1997, S. 226)
[←160] Wilhelm Schmid, Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2000, S. 26.