Das Begriffspaar Erscheinung/Ding an Sich Und Der Gebrauch Der Denkvermogen: Eine Metaphysikkritische Interpretation (German Edition) 3495996478, 9783495996478

Die vorliegende Arbeit beschaftigt sich mit dem Begriffspaar "Erscheinung / Ding an sich" in der Philosophie K

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German Pages 414 [415] Year 2023

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Abkürzungsverzeichnis und Zitierweise
Einleitung
Erstes Kapitel: Exemplarische Positionen der Forschung und ihre Thesen
1. Das Affektionsproblem und das »Ding an sich« als Realgrund der Erscheinung
2. Das »Ding an sich« als Grenzbegriff
3. Die Zwei-Welten-Lesart
4. Die Zwei-Perspektiven-Lesart
5. Die Lesart der zwei verschiedenen Arten von Eigenschaften
6. Die Lesart der ›empirischen Unterscheidung‹
7. Kritische Zusammenfassung der repräsentativen Positionen
Teil 1: Die kosmologische Antinomie ist der Mittelpunkt der Metaphysikkritik Kants
Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik und der Rolle des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«
1. Kants Verständnis der Metaphysik im systematischen und historischen Sinn
1.1 Systematisierung der Metaphysik durch die natürliche Tendenz der Vernunft und die Relation »Bedingt/Unbedingt«
1.2 Metaphysik als Kampfplatz: die endlose Streitigkeit der Metaphysik
2. Metaphysikkritik als Kritik der Erkenntnisvermögen und ihrer Begriffe
2.1 Begriff und Urteil als ›Baustoffe‹ der Metaphysik und Metaphysik als Wissenschaft
2.2 Kants Kritik am ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ und ihr Einfluss auf das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich«
2.2.1 Allgemeine (formale) und transzendentale Logik
2.2.2 Verstandesbegriff und Vernunftbegriff
2.2.3 Die Rolle der Sinnlichkeit beim Erkenntnisgewinn
2.2.4 Analytisches/synthetisches Urteil
2.3 Drei Schichten in der ›Umänderung der Denkart‹ und zwei Teile der Metaphysik
3. Das Vorhandensein des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« in Kants Metaphysikkritik
3.1 Analyse dreier Schlüsselstellen in der B-Vorrede der KrV
3.2 Anspruch einer angemessenen Interpretation des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« und die Einführung der P3
Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser zum Verständnis des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«
1. Vorbemerkung: Warum kann die kosmologische Antinomie als Wegweiser für das Verständnis des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« gelten?
1.1 Die kosmologische Antinomie und das übersinnliche Feld: Widerstreit der Vernunft mit sich selbst
1.2 Die kosmologische Antinomie und das sinnliche Feld: die Art und Weise, die sinnliche Gegebenheit zu bestimmen
2. Analyse des dialektischen Arguments und Kants Aufdeckung dieses Arguments als Fehlschluss
2.1 Die Struktur des dialektischen Arguments
2.1.1 Erster Schnitt: Die allgemeine Problemstruktur des dialektischen Arguments und der Obersatz
2.1.2 Zweiter Schritt: Das präzisierte Bedingte im Untersatz und vier dialektische Argumente
2.1.3 Dritter Schnitt: Der Schluss und die Gegebenheit des Unbedingten
2.2 Kants Aufdeckung des kosmologischen Arguments als ein »Sophisma figurae dictionis«
2.2.1 Textanalyse
2.2.2 Metaphysikkritik-Analyse
a.) In Bezug auf die allgemeine/transzendentale Logik
b.) In Bezug auf den Verstandes-/Vernunftbegriff
c.) In Bezug auf die Rolle der Sinnlichkeit
d.) In Bezug auf das analytische/synthetische Urteil
2.3 Das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« aus der Perspektive dieser Aufdeckung
3. Zwei Überlegungen aus der obigen Analyse für weitere Arbeiten zur Interpretation des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«
3.1 Erste Überlegung: Bezieht sich »Ding an sich« und »Erscheinung« auf das/ein Ding selbst oder die Art und Weise, das Ding/ein Ding zu begreifen?
3.2 Zweite Überlegung: Kritisiert Kant die Vermögen selbst oder ihren Gebrauch?
Teil 2: Der Gebrauch der Vermögen und die Antwort auf P3
Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch und das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich«
1. Kurze Erläuterung der Urteilstafel und der Kategorien
2. Gegenstände der Sinne als Dinge an sich auszugeben, ist das Resultat des transzendentalen Verstandesgebrauchs
2.1 Zwei Merkmale des transzendentalen Verstandesgebrauchs
2.2 Transzendentaler Verstandesgebrauch und Kants Metaphysikkritik
2.2.1 Allgemeine/transzendentale Logik
2.2.2 Verstandes-/Vernunftbegriff
2.2.3 Die Rolle der Sinnlichkeit
2.2.4 Analytisches/synthetisches Urteil
2.3 Zwei Arten, um durch den transzendentalen Verstandesgebrauch die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben
2.3.1 Bestimmungsart-These: die erste Art, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben
a.) Das Begriffspaar »Inneres/Äußeres« und Gegenstände der Sinne im transzendentalen/empirischen Verstandesgebrauch
b.) Wie sieht eine »Begründung« der Analogien der Erfahrung unter dem transzendentalen Verstandesgebrauch aus?
c.) Dass Dinge »uns affizieren« und dass sie »an sich sind« als zwei Bestimmungszugänge der Dinge: Was heißt es, dass wir keine Dinge an sich, sondern nur (ihre) Erscheinungen kennen?
2.3.2 Existenzart-These: die zweite Art, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben
a.) Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn als »Dinge an sich«
b.) Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn und der transzendentale Verstandesgebrauch
3. Die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« ist das Resultat des empirischen Verstandesgebrauchs
3.1 Zwei Merkmale des empirischen Verstandesgebrauchs und die Möglichkeit des synthetischen Urteils a priori
3.2 Empirischer Verstandesgebrauch in der transzendentalen Ästhetik
3.3 Empirischer Verstandesgebrauch in der transzendentalen Analytik
4. Die Stelle B 306 im Phaenomena/Noumena-Kapitel und Noumenon im negativen/positiven Verstand
4.1 Noumenon im negativen Verstande
4.2 Noumenon im positiven Verstande und Grenzbegriff
4.2.1 Widerlegung des Dogmatismus
4.2.2 Widerlegung des Empirismus
5. Zusammenfassende Antwort zu P3.1
Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch und das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich«
1. Die Vernunftideen werden durch den konstitutiven Vernunftgebrauch als »Erscheinungen« ausgegeben
2. Die Vernunftideen werden durch den regulativen Vernunftgebrauch als »Dinge an sich« bestimmt
3. Warum sollen die Vernunftideen laut Kant als Dinge an sich nicht als »Erscheinungen« bestimmt werden? (als Antwort auf P3.2)
Sechstes Kapitel: Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs und das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich«
1. Der Zusammenhang der Ideenlehre mit der praktischen Philosophie in Bezug auf das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich«
2. Das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« und zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs
Teil 3: P1, P2 und die allgemeine Bedeutung des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«
Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive
1. Antwort auf P1 durch die Darstellung der Kontinuität zwischen Verstandesgebrauch und Vernunftgebrauch
1.1 Skizze der Metaphysikkritik Kants in ihrer Gänze und das Begriffspaar »Ding an sich/Erscheinung« im polemischen Sinn
1.1.1 Der transzendentale Verstandesgebrauch bezieht sich auf Dinge überhaupt
1.1.2 Die Wirkung des transzendentalen Verstandesgebrauch: Das Unbedingte kann nicht ohne Widerspruch gedacht werden
1.1.3 Die Gemeinsamkeit des transzendentalen Verstandesgebrauchs und des konstitutiven Vernunftgebrauchs
1.1.4 Das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« im polemischen Sinn
1.2 Skizze des Resultats der Metaphysikkritik Kants und die »Erscheinung/Ding an sich«-Unterscheidung im kantischen Sinn (Antwort auf P1)
1.2.1 Der empirische Verstandesgebrauch bestimmt die Grenze des theoretischen Erkenntnisanspruchs
1.2.2 Das Unbedingte kann nur ohne Widerspruch gedacht werden, wenn es theoretisch unbestimmt bleibt
1.2.3 Die »Erscheinung/Ding an sich«-Unterscheidung im kantischen Sinn (Antwort auf P1)
2. Antwort auf P2: »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der »Erscheinung«
2.1 Das Problem des Zugrundeliegenden und die Vernunftideen im regulativen Sinn
2.2 Die Vernunftidee »Seele« im regulativen Sinn als das Zugrundeliegende der inneren Erscheinung
2.3 Die Vernunftidee »Welt« im regulativen Sinn als das Zugrundeliegende der äußeren Erscheinung
3. Exkurs: Das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich«
3.1 Das Subjekt als »Erscheinung«
3.2 Das Subjekt als »Ding an sich« im theoretisch-philosophischen Kontext
3.3 Das Subjekt als »Ding an sich« im praktisch-philosophischen Kontext
4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen und Beantwortung zweier Schwerpunkte aus dem ersten Kapitel
4.1 Auseinandersetzung mit den Rezeptionen
4.2 Beantwortung zweier Schwerpunkte
Schlussbetrachtung: Die chemische Methode Kants und die allgemeine Bedeutung des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«
Literaturverzeichnis
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Das Begriffspaar Erscheinung/Ding an Sich Und Der Gebrauch Der Denkvermogen: Eine Metaphysikkritische Interpretation (German Edition)
 3495996478, 9783495996478

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Alber Thesen Philosophie

ϑ Siyan Yu

Das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« und der Gebrauch der Denkvermögen Eine metaphysikkritische Interpretation

Alber Thesen Philosophie Band 89

Siyan Yu

Das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« und der Gebrauch der Denkvermögen Eine metaphysikkritische Interpretation

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Jena, Univ., Diss., 2022 ISBN 978-3-495-99647-8 (Print) ISBN 978-3-495-99648-5 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

Meinen Großeltern gewidmet

你證我證,心證意證。 是無有證,斯可云證。 無可云證,是立足境。 —《紅樓夢》曹雪芹

Anmerkung: Die oben auf Chinesisch dargestellte Lyrik ist zitiert vom Roman Der Traum der Roten Kammer. Der Hauptfigur dieses Romans, Jia Baoyu, drückt durch diese Lyrik (vermittelst der daoistischen Philosophie) sein romantisches Leiden aus. M.E. versinnbildlicht diese Lyrik minimalistisch und poetisch den Zusammenhang dreier Themenbereiche (Erkenntnistheorie, Ideenlehre und Morallehre) in der Philosophie Kants, welcher bedeutungsvoll für das Verständnis des Begriffspaars „Erscheinung / Ding an sich“ ist.

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Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete Version meiner Disser­ tation, die im Wintersemester 2021/2022 von der philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommen und im Rahmen der Disputation am 06.07.2022 verteidigt wurde. An aller­ erster Stelle möchte ich meiner Betreuerin Prof. Dr. Andrea Marlen Esser danken, die jeden Schritt meiner Promotion mitverfolgte und unterstützte. Sie hat mir die Freiheit gelassen, meinen Weg zu finden und stand gleichzeitig jederzeit für ein Gespräch zur Verfügung. Ihre philosophische Offenheit und integrative Haltung inspirierten mich immer wieder. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Andreas Schmidt für die Übernahme des Zweitgutachtens und die hilfreichen Diskussionen. Von großer Bedeutung war die durchgeführte Korrektur von Herrn Tim Kriewitz, der mir durch seine dauerhafte Geduld und Freundlichkeit half. Mein Dank gilt ebenfalls allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Oberseminars beim Lehrstuhl der praktischen Philosophie für das Gedankenaustausch. Herrn Wolfgang Kienzler, Herrn Niklas Sommer, Herrn Chao Pang, Frau Ruiting Fang und Frau Anqi Fu danke ich für das kritische Lesen meiner Rohfassung. Persönlich danke ich vor allem Herrn Siegfried Obst, der nicht nur eine Menge von der Korrektur übernahm, sondern mir auch darüber hinaus beratend zur Seite stand. Dank Familie Obst und Fami­ lie Salvino fühlte ich mich in Jena geborgen und heimatlich. Weiter möchte ich auch meiner Familie in China für ihre Unterstützung und Geduld danken. Letztlich danke ich dem China Scholarship Council für ein vierjähriges Stipendium. Jetzt bin ich als ein Dozent in der Guiz­ hou-Universität tätig. Herzlich danke ich auch meinen Kolleginnen und Kollegen des philosophischen Instituts der Guizhou-Universität und des Forschungszentrums der Phänomenologie und deutscher klassischen Philosophie der Guizhou-Universität für die positive Arbeitsatmosphäre und vielen lehrreichen Weiterdiskussionen zum Thema „Ding an sich“. Ich bin dem "Guohui" Humanities Develop­

9

Danksagung

ment Fund of Guizhou University sehr dankbar für die Unterstützung der Publikation meiner Dissertation. Guiyang, Februar 2023

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Siyan Yu

Inhaltsverzeichnis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Abkürzungsverzeichnis und Zitierweise . . . . . . . . .

19

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Erstes Kapitel: Exemplarische Positionen der Forschung und ihre Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

1. Das Affektionsproblem und das »Ding an sich« als Realgrund der Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . .

35

2. Das »Ding an sich« als Grenzbegriff . . . . . . . . . . .

40

3. Die Zwei-Welten-Lesart . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

4. Die Zwei-Perspektiven-Lesart . . . . . . . . . . . . . .

45

5. Die Lesart der zwei verschiedenen Arten von Eigenschaften

49

6. Die Lesart der ›empirischen Unterscheidung‹ . . . . . . .

51

7. Kritische Zusammenfassung der repräsentativen Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

Teil 1: Die kosmologische Antinomie ist der Mittelpunkt der Metaphysikkritik Kants . . . . . . . . . . . .

57

Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik und der Rolle des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« . . . . . . . . . . . . . . .

59

1. Kants Verständnis der Metaphysik im systematischen und historischen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Systematisierung der Metaphysik durch die natürliche Tendenz der Vernunft und die Relation »Bedingt/ Unbedingt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

62

11

Inhaltsverzeichnis

1.2 Metaphysik als Kampfplatz: die endlose Streitigkeit der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Metaphysikkritik als Kritik der Erkenntnisvermögen und ihrer Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Begriff und Urteil als ›Baustoffe‹ der Metaphysik und Metaphysik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . 2.2 Kants Kritik am ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ und ihr Einfluss auf das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Allgemeine (formale) und transzendentale Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Verstandesbegriff und Vernunftbegriff . . . . 2.2.3 Die Rolle der Sinnlichkeit beim Erkenntnisgewinn . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Analytisches/synthetisches Urteil . . . . . . 2.3 Drei Schichten in der ›Umänderung der Denkart‹ und zwei Teile der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Vorhandensein des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« in Kants Metaphysikkritik . . . . . . . . . . . . 3.1 Analyse dreier Schlüsselstellen in der B-Vorrede der KrV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Anspruch einer angemessenen Interpretation des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« und die Einführung der P3 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser zum Verständnis des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung: Warum kann die kosmologische Antinomie als Wegweiser für das Verständnis des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« gelten? . . . . 1.1 Die kosmologische Antinomie und das übersinnliche Feld: Widerstreit der Vernunft mit sich selbst . . . . 1.2 Die kosmologische Antinomie und das sinnliche Feld: die Art und Weise, die sinnliche Gegebenheit zu bestimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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74 76 77 79 80 83 87 93 99 104 105 117

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124 125 128

Inhaltsverzeichnis

2. Analyse des dialektischen Arguments und Kants Aufdeckung dieses Arguments als Fehlschluss . . . . . . 2.1 Die Struktur des dialektischen Arguments . . . . . . 2.1.1 Erster Schnitt: Die allgemeine Problemstruktur des dialektischen Arguments und der Obersatz 2.1.2 Zweiter Schritt: Das präzisierte Bedingte im Untersatz und vier dialektische Argumente . . 2.1.3 Dritter Schnitt: Der Schluss und die Gegebenheit des Unbedingten . . . . . . . . 2.2 Kants Aufdeckung des kosmologischen Arguments als ein »Sophisma figurae dictionis« . . . . . . . . . . 2.2.1 Textanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Metaphysikkritik-Analyse . . . . . . . . . . a.) In Bezug auf die allgemeine/ transzendentale Logik . . . . . . . . . . . b.) In Bezug auf den Verstandes-/ Vernunftbegriff . . . . . . . . . . . . . . c.) In Bezug auf die Rolle der Sinnlichkeit . . d.) In Bezug auf das analytische/synthetische Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« aus der Perspektive dieser Aufdeckung . . . . . . . . . . . 3. Zwei Überlegungen aus der obigen Analyse für weitere Arbeiten zur Interpretation des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Erste Überlegung: Bezieht sich »Ding an sich« und »Erscheinung« auf das/ein Ding selbst oder die Art und Weise, das Ding/ein Ding zu begreifen? . . . . 3.2 Zweite Überlegung: Kritisiert Kant die Vermögen selbst oder ihren Gebrauch? . . . . . . . . . . . . .

132 133 133 137 139 140 141 150 150 154 157 162 167

172

173 175

Teil 2: Der Gebrauch der Vermögen und die Antwort auf P3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch und das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« . . . . . . . . . . . . . . .

183

1. Kurze Erläuterung der Urteilstafel und der Kategorien . .

185

13

Inhaltsverzeichnis

2. Gegenstände der Sinne als Dinge an sich auszugeben, ist das Resultat des transzendentalen Verstandesgebrauchs 2.1 Zwei Merkmale des transzendentalen Verstandesgebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Transzendentaler Verstandesgebrauch und Kants Metaphysikkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Allgemeine/transzendentale Logik . . . . . . 2.2.2 Verstandes-/Vernunftbegriff . . . . . . . . . 2.2.3 Die Rolle der Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . 2.2.4 Analytisches/synthetisches Urteil . . . . . . 2.3 Zwei Arten, um durch den transzendentalen Verstandesgebrauch die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Bestimmungsart-These: die erste Art, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . a.) Das Begriffspaar »Inneres/Äußeres« und Gegenstände der Sinne im transzendentalen/empirischen Verstandesgebrauch . . . . . . . . . . . . b.) Wie sieht eine »Begründung« der Analogien der Erfahrung unter dem transzendentalen Verstandesgebrauch aus? . . . . . . . . . c.) Dass Dinge »uns affizieren« und dass sie »an sich sind« als zwei Bestimmungszugänge der Dinge: Was heißt es, dass wir keine Dinge an sich, sondern nur (ihre) Erscheinungen kennen? . . . . . . . . . . 2.3.2 Existenzart-These: die zweite Art, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . a.) Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn als »Dinge an sich« . . . . . . . . . b.) Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn und der transzendentale Verstandesgebrauch . . . . . . . . . . . .

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195 196 205 206 208 214 215 217 220

220 229

235 246 246 251

Inhaltsverzeichnis

3. Die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« ist das Resultat des empirischen Verstandesgebrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zwei Merkmale des empirischen Verstandesgebrauchs und die Möglichkeit des synthetischen Urteils a priori 3.2 Empirischer Verstandesgebrauch in der transzendentalen Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Empirischer Verstandesgebrauch in der transzendentalen Analytik . . . . . . . . . . . . . .

258 258 262 267

4. Die Stelle B 306 im Phaenomena/Noumena-Kapitel und Noumenon im negativen/positiven Verstand . . . . . . . 4.1 Noumenon im negativen Verstande . . . . . . . . . 4.2 Noumenon im positiven Verstande und Grenzbegriff 4.2.1 Widerlegung des Dogmatismus . . . . . . . . 4.2.2 Widerlegung des Empirismus . . . . . . . . .

276 279 283 284 286

5. Zusammenfassende Antwort zu P3.1 . . . . . . . . . . .

289

Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch und das Begriffspaar »Erscheinung/ Ding an sich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293

1. Die Vernunftideen werden durch den konstitutiven Vernunftgebrauch als »Erscheinungen« ausgegeben

. . .

293

2. Die Vernunftideen werden durch den regulativen Vernunftgebrauch als »Dinge an sich« bestimmt . . . . .

298

3. Warum sollen die Vernunftideen laut Kant als Dinge an sich nicht als »Erscheinungen« bestimmt werden? (als Antwort auf P3.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303

Sechstes Kapitel: Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs und das Begriffspaar »Erscheinung/ Ding an sich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der Zusammenhang der Ideenlehre mit der praktischen Philosophie in Bezug auf das Begriffspaar »Erscheinung/ Ding an sich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

313

2. Das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« und zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs . . . . . . . .

317

15

Inhaltsverzeichnis

Teil 3: P1, P2 und die allgemeine Bedeutung des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«

. . .

329

Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive . . . . . . . . . . . .

333

1. Antwort auf P1 durch die Darstellung der Kontinuität zwischen Verstandesgebrauch und Vernunftgebrauch . . . 1.1 Skizze der Metaphysikkritik Kants in ihrer Gänze und das Begriffspaar »Ding an sich/Erscheinung« im polemischen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Der transzendentale Verstandesgebrauch bezieht sich auf Dinge überhaupt . . . . . . . 1.1.2 Die Wirkung des transzendentalen Verstandesgebrauch: Das Unbedingte kann nicht ohne Widerspruch gedacht werden . . . 1.1.3 Die Gemeinsamkeit des transzendentalen Verstandesgebrauchs und des konstitutiven Vernunftgebrauchs . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« im polemischen Sinn . . . . . . . . . . . . . 1.2 Skizze des Resultats der Metaphysikkritik Kants und die »Erscheinung/Ding an sich«-Unterscheidung im kantischen Sinn (Antwort auf P1) . . . . . . . . . . 1.2.1 Der empirische Verstandesgebrauch bestimmt die Grenze des theoretischen Erkenntnisanspruchs . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Das Unbedingte kann nur ohne Widerspruch gedacht werden, wenn es theoretisch unbestimmt bleibt . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Die »Erscheinung/Ding an sich«Unterscheidung im kantischen Sinn (Antwort auf P1) . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antwort auf P2: »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der »Erscheinung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das Problem des Zugrundeliegenden und die Vernunftideen im regulativen Sinn . . . . . . . . . 2.2 Die Vernunftidee »Seele« im regulativen Sinn als das Zugrundeliegende der inneren Erscheinung . . . . .

16

333

336 336 339 341 343 344 344 345 345 347 351 361

Inhaltsverzeichnis

2.3 Die Vernunftidee »Welt« im regulativen Sinn als das Zugrundeliegende der äußeren Erscheinung . . . . . 3. Exkurs: Das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich« 3.1 Das Subjekt als »Erscheinung« . . . . . . . . . . . 3.2 Das Subjekt als »Ding an sich« im theoretischphilosophischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Subjekt als »Ding an sich« im praktischphilosophischen Kontext . . . . . . . . . . . . . .

363 371 372 373 379

4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen und Beantwortung zweier Schwerpunkte aus dem ersten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Auseinandersetzung mit den Rezeptionen . . . . . . 4.2 Beantwortung zweier Schwerpunkte . . . . . . . . .

387 387 400

Schlussbetrachtung: Die chemische Methode Kants und die allgemeine Bedeutung des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« . . . . . . . . . . . . . . .

405

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungsverzeichnis und Zitierweise

Kant wird nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissen­ schaften (Akademie Ausgabe) zitiert. Angegeben werden Kurztitel oder Sigle, Band der Akademie-Ausgabe (AA), Seite. Bei der Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (A: 1781) und der zweiten Auflage (B: 1787) nach der Edition des Textes von Jens Timmermann in der Phil. Bibliothek Meiner Verlag (Hamburg) 1998 angegeben. KrV

Kritik der reinen Vernunft [zitiert nach der ersten und der zweiten Auflage]

Prol.

Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) [AA 04]

GMS

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) [AA 04]

KpV

Kritik der praktischen Vernunft (1788) [AA 05]

KU

Kritik der Urteilskraft (1790) [AA 05]

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Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« (im Folgenden als »Ersch./D.a.s.« abgekürzt) in repräsentativen Schriften der Philosophie Kants. Ich werde mich in meiner Untersuchung mit dem Begriffspaar »Ersch./ D.a.s.« beschäftigen und nicht nur mit der ›Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich‹, wie es in der Kantforschung häufig geschieht. Der Grund dafür ist, dass mit dem Begriffspaar »Ersch./ D.a.s.« in dieser Arbeit die Gesamtheit der Fragestellungen, die mit dem Begriff »Erscheinung« und mit dem Begriff »Ding an sich« verbunden sind, in ihrer Kontinuität bestimmt und bearbeitet wird. Die Frage nach der Unterscheidung von »Ersch./D.a.s.« erweist sich vor diesem Hintergrund meiner Ansicht nach nur als ein Teilproblem dieser umfassenderen Fragestellung, mit der drei Problemstellungen verbunden sind, die ich in der vorliegenden Arbeit untersuchen und einer Lösung zuführen möchte: (P1) Die Unterscheidung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich«: In diesem Zusammenhang möchte ich die Lesart ver­ teidigen, dass Kant damit deutlich machen will, dass »Erschei­ nung[en]« gerade nicht »Ding[e] an sich« sind und man nicht die Dinge, wie sie an sich selbst sein mögen, sondern nur ihre Erscheinungen erkennen kann (vgl. AA04: 289).1 (P2) Das Verhältnis zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich«: Diese Fragestellung bezieht sich auf die von Kant an verschiedenen Stellen getätigte Aussage, dass »Ding an sich« das Zugrundeliegende (oder den Grund) der »Erscheinung« bezeichne (B XXVIf).

1 Aber der Begriff »Ding[e] an sich« in diesem Zusammenhang wird nicht als die von uns unabhängige und daher objektive Dinge verstanden (wie es häufig in der Kantforschungen geschieht), sondern als regulative Vernunftideen, die nur durch das Denken vorgestellt werden können.

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Einleitung

(P3) Die Relation zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« in den drei Themenbereichen2 der kritischen Philosophie Kants: Die Frage nach dem Verhältnis der beiden Glieder des Begriffs­ paars muss in drei Schritten bearbeitet werden und teilt sich entsprechend in drei untergeordnete Fragen: (P3.1): Wie muss die Relation zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« in Kants Erkenntnistheorie bestimmt werden? (P3.2): Wie muss die Relation zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« in Kants Ideenlehre bestimmt werden? Und schließlich (P3.3): In welcher Relation stehen »Erscheinung« und »Ding an sich« in der praktischen Philosophie (bzw. in der Moralphilosophie) Kants? Die Krux, das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« angemessen, d. h. kohä­ rent und konsistent zu interpretieren, liegt in der Beantwortung der Frage, ob und – wenn ja – wie P1 und P2 in einen schlüssigen Zusammenhang gebracht werden können. Ein Problem der Kantfor­ schung besteht meines Erachtens darin, dass in der Regel nur eine Beschäftigung mit P1 und P2 stattfindet und P3 außer Acht gelassen wird. Dabei wird das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« unter der bloß erkenntnistheoretischen Perspektive interpretiert. Das »Ding an sich« sei das Affizierende und die »Erscheinung« sei dessen Resultat. Diesbezüglich stellt Vaihinger drei Modelle auf, um mit ihnen das Kausalverhältnis zwischen »Ding an sich« und »Erscheinung« inner­ halb des erkenntnistheoretischen Kontextes zu erklären. Er gesteht aber zu, dass alle Modelle problematisch und in sich widersprüchlich seien (vgl. Vaihinger 1892: 53; auch das erste Kapitel dieser Arbeit). Die vorliegende Interpretation will zeigen, dass P1 und P2 nur dann konsistent und schlüssig interpretiert werden können, wenn man adäquat P3 erörtert hat. Erst dadurch wird klar werden, dass P1 und P2 nicht nur innerhalb der Erkenntnistheorie Kants interpre­ tiert werden können, sondern dass es sich um eine Fragestellung handelt, die nur im Rahmen der gesamten kantischen Philosophie als einer »Metaphysikkritik« adressiert werden kann. Ich werde daher In der vorliegenden Arbeit wird die kantische Philosophie in drei Themenbereiche eingeteilt. Dies ist keineswegs gegen Kants zweifache Einteilung der Philosophie (als theoretische und praktische) (vgl. AA05: 171f) gerichtet, denn die dreifache Einteilung bezieht sich auf den Gebrauch der Denkvermögen, wodurch der metaphysikkritische Charakter der kantischen Philosophie in Bezug auf das Thema »Erscheinung/Ding an sich« deutlich herausgearbeitet werden kann. Dazu werden sowohl das Angriffsziel der Metaphysikkritik als auch das Resultat der Metaphysikkritik hervorgehoben. Die zweifache Einteilung ist eher als ein Resultat der Metaphysikkritik zu betrachten. 2

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Einleitung

die metaphysikkritische Intention der drei Themenbereiche (Erkennt­ nistheorie, Ideenlehre und praktische Philosophie) der kritischen Philosophie Kants herauszuarbeiten versuchen und mich unter dieser Perspektive dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« nähern. Die Untersu­ chung von P3 und der damit verbundenen drei Unterfragen fördert daher auch die fundamentale Struktur der gesamten Problematik des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« zutage. Die vorliegende Arbeit bemüht sich deshalb darum, P1 und P2 vor dem Hintergrund dieser funda­ mentalen Struktur zu interpretieren. In einem ersten Schritt werden zunächst auf dieser Grundlage repräsentative Ansätze in Bezug auf das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« (das Thema des ersten Kapitels) skizziert. Danach wird die Perspek­ tive der Metaphysikkritik (das Thema des zweiten und dritten Kapi­ tels) dargelegt und eine systematische Interpretation des Begriffs­ paars »Ersch./D.a.s.« in Bezug auf P3 (das Thema des vierten (P3.1), fünften (P3.2) und sechsten (P3.3) Kapitels) unternommen. Nachdem P1 und P2 im siebten Kapitel beantwortet werden, wird die allgemeine Bedeutung des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« in der Schlussbetrach­ tung aufgezeigt. Kein anderes Begriffspaar scheint so eng mit Kants Philosophie und mit der von ihr vollzogenen kopernikanischen Wende verbunden zu sein wie das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.«. Weiterhin scheint kein anderes Begriffspaar so viele Kontroversen und Kritik provoziert zu haben. Umstritten in der Rezeptionsgeschichte ist vor allem, ob und wie genau P1 mit P2 in einen konsistenten Zusammenhang gebracht werden kann. Würde das »Ding an sich« in P2 als das Affizierende gedeutet, würde eine von Kant unzulässige Anwendung der Kausalität (im Sinne eines Verstandesbegriffs) außerhalb der »Erscheinung« für möglich erklärt (worauf schon Jacobi mit seinem berühmten Einwand, den er aus einer ausschließlich erkenntnistheoretischen Perspektive formuliert, hinweist). P2 spielt aus der Perspektive der praktischen Philosophie Kants eine entscheidende Rolle bei der Rechtfertigung der Verbindlichkeit des Menschen zur Moral: denn in diesem Zusam­ menhang heißt es, die Verstandeswelt enthalte den Grund der Sin­ nenwelt (vgl. AA04: 453). Nimmt man die Verstandeswelt aber in einer verdinglichten Weise an (wie es im Rahmen der Zwei-WeltenLesart3 der Fall ist), so würde Kants Morallehre metaphysisch-ontolo­ gisch fundiert, während Kant seine Morallehre doch explizit kritisch 3

Vgl. Abschnitt 3 im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit.

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Einleitung

begründen will. Bis heute diskutieren Kantforscher_innen darüber, wie das Verhältnis von »Erscheinung« und »Ding an sich« innerhalb der kantischen Philosophie zu bestimmen ist und welche Folgen die jeweilige Bestimmung für die weitere Interpretation der kantischen Philosophie hat. Trotz der langen Interpretationsgeschichte ist dieses Begriffspaar, dem sowohl in der theoretischen als auch in der prak­ tischen Philosophie Kants eine fundamentale Funktion zukommt, höchst umstritten. Zu dieser Geschichte der Interpretationen werde ich im ersten Kapitel dieser Arbeit sechs exemplarischen Positionen und ihre Lösungsvorschläge ausführlich darstellen. In der Kantforschung der Gegenwart stellen die sog. »Zwei-Wel­ ten-Lesart« und die sog. »Zwei-Perspektiven-Lesart« einflussreiche Interpretationslinien dar. Die Zwei-Welten-Lesart gründet auf einer metaphysischen Hypothese, der zufolge »Erscheinung« und »Ding an sich« zwei ontologisch unterschiedliche Entitäten seien; entsprechend muss die Sinnenwelt von der Verstandeswelt unterschieden und zugleich die Verstandeswelt als eine metaphysische ›Hinterwelt‹ der Sinnenwelt verstanden werden. Demgegenüber gelangt die Zwei-Per­ spektiven-Lesart durch eine sprachliche Analyse des Begriffs »Ding an sich« dazu, dass damit die Perspektive gekennzeichnet ist, unter der das ›Ding an sich selbst betrachtet‹ wird. Entsprechend handelt es sich bei der Unterscheidung von »Ersch./D.a.s.« um eine Differenzierung, die an einem und demselben Gegenstand vollzogen wird, sofern er einerseits als »Erscheinung« und andererseits an sich selbst betrachtet werden kann. Unter »Ding an sich« sei dann die philosophische Reflexion der »Erscheinung« zu verstehen. Zu beiden Lesarten finden sich passende Belege aus den oft als ›ambivalent‹ beurteilten Darstellungen Kants (vgl. B XXVIIf; A 358; AA04: 314f; AA04: 354f; AA 04: 451; AA05: 344), von denen man­ che außerdem meinen, dass sie sich je nach Gebiet (also in der theo­ retischen und in der praktischen Philosophie) unterscheiden. So meint etwa Höffe, dass die Zwei-Perspektiven-Lesart für die praktische Philosophie plausibel sei. Denn auf der Grundlage dieser Lesart könne man ein Handeln sowohl einem verantwortlichen Täter zuordnen und dann moralisch beurteilen (›noumenale Perspektive‹) als auch aus den empirischen Umständen der Handlung (›phänomenale Perspektive‹) erklären. Dagegen scheint, wie Höffe betont, die Zwei-Welten-Lesart besser geeignet zu sein, den fundamentalen Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft selbst zu erklären (vgl. Höffe 2011: 199f).

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Einleitung

Wie bereits am Anfang dieser Einleitung eingeführt, möchte ich dagegen zeigen, dass P3 und ihre drei Unterfragen als die fundamentale Struktur der gesamten Problematik des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« rekonstruiert werden können. P1 und P2 werden dann auf der Grundlage dieser fundamentalen Struktur interpretiert. Um diese Struktur aber herauszuarbeiten, ist zunächst zu klären und zu bestimmen, in welchem Zusammenhang die drei Themenbereiche der kritischen Philosophie (Erkenntnistheorie, Ideenlehre und praktische Philosophie) stehen. Dieser Zusammenhang zeigt sich m. E. darin, dass alle drei Themenbereiche Kants Metaphysikkritik beinhalten. Dies wird im zweiten Kapitel thematisiert.4 Darin soll gezeigt werden, dass sich Kants Metaphysikkritik primär auf die kritische Annahme des ›Grundsatzes der reinen Vernunft‹ (vgl. A 308/B 364) konzen­ triert ist: »wenn das Bedingte gegeben sei, so sei auch das Unbedingte gege­ ben/aufgegeben.«

Ich verstehe diesen Grundsatz auf folgende Weise: Das Bedingte hat nach Kant mit den Gegenständen der Sinne (in der Erkenntnis­ theorie) zu tun und wird durch den Verstandesgebrauch konstruiert. Das Unbedingte hat nach Kant mit den Vernunftideen (in der Ide­ enlehre) zu tun und wird durch Vernunftgebrauch eröffnet. Das Unbedingte hat im praktischen Kontext auch mit dem moralischen Bestimmungsgrund des Willens (in der praktischen Philosophie) zu tun und wird durch den praktischen Vernunftgebrauch eröffnet. Kants Auflösung der kosmologischen Antinomie konkretisiert seine kriti­ sche Annahme des ›Grundsatzes der reinen Vernunft‹ und steht daher im Zentrum seiner Metaphysikkritik. Im dritten Kapitel wird das dia­

Ein grundlegendes Problem bei den historischen Rezeptionen ist, dass viele Interpreten das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« aus der bloß erkenntnistheoretischen Perspektive betrachten. Ignoriert wird hier aber, dass das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« auch in der Ideenlehre Kants und in seiner praktischen Philosophie vorhanden ist (vgl. den dritten Abschnitt des zweiten Kapitels). Eine Lesart, die aus der reinen erkenntnistheoretischen Perspektive gewonnen ist, wird auf die gesamte Philosophie Kants unreflektiert übertragen (wie bei der Zwei-Perspektiven-Lesart der Fall ist). Die Zwei-Welten-Lesart betrachtet das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« im Zusammenhang der theoretischen und praktischen Philosophie Kants, aber diese Lesart versucht Kants Philosophie, in die Richtung der neuen Begründung der Metaphysik zu interpretieren. Dazu wird der Begriff »Ding an sich« als etwas Objektiv-Realistisches angenommen (vgl. Abschnitt 3 des ersten Kapitels und Abschnitt 6.2 des fünften Kapitels). 4

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Einleitung

lektische Argument5 sorgfältig behandelt, welches die gemeinsame Problemstruktur der kosmologischen Antinomie aufzeigt. ›Das bis­ herige Verfahren der Metaphysik‹ hält dieses Argument nach Kants Ansicht für wahr (vgl. A 497f/B 525f). Durch dieses Fürwahrhalten wird die Gegebenheit des Unbedingten abgeleitet, was Kant allerdings für problematisch hält. Mit der Voraussetzung der Gegebenheit des Unbedingten eröffnet sich aber die kosmologische Antinomie. Die Ursache dieses Fürwahrhaltens ist nach Kants Diagnose die proble­ matische Annahme des Bedingten. Kant hält dieses Argument für einen Fehlschluss, weil das Bedingte im Obersatz und im Untersatz in verschiedenen Bedeutungen genommen wird. Daher kann der problematische Schluss (das Unbedingte sei gegeben) nicht abgelei­ tet werden. Durch diese Auflösung der kosmologischen Antinomie zeigt Kant den problematischen Charakter, der in der bloßen Annahme des Bedingten und des Unbedingten liegt. Beide Annahmen sind Gegen­ stand seiner Metaphysikkritik. Kant führt dann jedoch eigene Bestim­ mungen des Bedingten und des Unbedingten ein. Diese Bestim­ mungsweisen sind das Ergebnis seiner Metaphysikkritik. Zwischen dem Gegenstand der Kritik der Metaphysikkritik Kants und dem Resultat derselben deutlich zu unterscheiden ist zentral für eine über­ zeugende Antwort auf die Problemstellung P3. Denn diese Unter­ scheidung muss auch in Bezug auf den ›Gebrauch der Denkvermögen‹ (Verstand und Vernunft) präzisiert werden. Ausgeführt werden in diesem Zusammenhang jeweils zwei Arten des Verstandesgebrauchs, zwei Arten des Vernunftgebrauchs und zwei Arten des praktischen Gebrauchs der Vernunft. Die von Kant als problematisch angesehenen Arten des Gebrauchs der Denkvermögen sind wiederum die Gegen­ stände der Kritik seiner Metaphysikkritik. Demgegenüber sind die von Kant dargelegten Arten des Gebrauchs der Denkvermögen in seiner Metaphysikkritik begründet und sollen die problematischen Arten des Gebrauchs der Denkvermögen ersetzen. Die Frage nach dem Was in dieser Ersetzung lässt sich also auf dreierlei Weise bestimmen: die Gegenstände der Sinne (in der Erkenntnistheorie), die Vernunftideen (in der Ideenlehre) und der 5 »Die ganze Antinomie der reinen Vernunft beruht auf dem dialektischen Argu­ mente: Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben; nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben; folglich etc.« (A 497/B 525).

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moralischen Bestimmungsgrund des Willens (in der praktischen Philosophie). Die Frage nach dem Wie tritt ebenfalls in drei Formen auf: die zwei Arten des Verstandesgebrauchs, die zwei Arten des Vernunftgebrauchs und die zwei Arten des praktischen Gebrauchs der Vernunft. Die Bedeutungen des Begriffs »Erscheinung« und des Begriffs »Ding an sich« sowie die Beziehung der beiden Begriffe werden in Bezug auf diese Ersetzung genau bestimmt. Das heißt, dass das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« als das durch das Wie konstruierte Was in dieser Arbeit herausgearbeitet wird.6 Darüber hinaus bemühe ich mich im vierten, fünften und sechsten Kapitel darum, eine systematische Interpretation über die gesamte Problematik des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« innerhalb der kriti­ schen Philosophie Kants (der Erkenntnistheorie, der Ideenlehre und der praktischen Philosophie) durchzuführen. Vor allem werden P3 und ihre drei Unterfragen systematisch beantwortet. Im vierten Kapi­ tel wird das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« im Zusammenhang der Erkenntnistheorie (P3.1) behandelt. Im fünften Kapitel wird dieses Begriffspaar im Zusammenhang der Ideenlehre (P3.2) erörtert. Im sechsten Kapitel wird dasselbe Begriffspaar im Zusammenhang der praktischen Philosophie (P3.3) diskutiert. Im vierten Kapitel wird in Bezug auf die zwei Arten des Verstan­ desgebrauchs aufgezeigt, dass der Versuch, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben, das Resultat des transzendentalen Verstandesgebrauchs ist, den Kant kritisiert und ablehnt. Demgegen­ über ist der Versuch, die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« zu bestimmen, das Resultat des empirischen Verstandesgebrauchs, den Kant als richtig auszuweisen versucht. In diesem Zusammenhang (der Erkenntnistheorie) wird der Begriff »Erscheinung« im kantischen Sinn und der Begriff »Ding an sich« im polemischen Sinn von Kant ver­ wendet. Im fünften Kapitel wird in Bezug auf die zwei Arten des Ver­ nunftgebrauchs dargelegt, dass die Bestimmung der Vernunftideen als »Dinge an sich« nach Kant das Resultat des regulativen Vernunft­ In der Rezeptionsgeschichte wird »Ding an sich« häufig als das Was bzw. ›die wahren Dinge‹ verstanden. Demgegenüber werde ich zeigen, dass sowohl »Ding an sich« als auch »Erscheinung« die Folgen der unterschiedlichen Arten des Gebrauchs der Denkvermögen in den drei Themenbereichen sind. Der Zusammenhang zwischen dem Begriffspaar »Ersch.« und »D.a.s.« und dem Gebrauch der Denkvermögen ist m. E. noch nicht erforscht. 6

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Einleitung

gebrauchs. Demgegenüber ist der Versuch, die Vernunftideen als »Erscheinungen«7 auszugeben, das Resultat des konstitutiven Ver­ nunftgebrauchs, den Kant kritisiert und ablehnt. In diesem Zusam­ menhang (der Ideenlehre) wird der Begriff »Ding an sich« im kanti­ schen Sinn und der Begriff »Erscheinung« im polemischen Sinn von Kant verwendet. Die gesamte Problematik des Begriffs »Erscheinung« und des Begriffs »Ding an sich« im Kontext der theoretischen Philosophie wird dann im vierten und fünften Kapitel herausgearbeitet. Dies dient als den Leitfaden für die Erklärung des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« in der praktischen Philosophie. Im sechsten Kapitel wird in Bezug auf zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs erklärt, warum Kant den moralisch-praktischen Bestimmungsgrund des Willens mit dem Begriff »Ding an sich« zusammenschließt, während der Begriff »Erscheinung« mit den technisch-praktischen Bestimmungsgründen des Willens verbunden wird. Daneben wird auch erläutert, wie man das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich« nicht durch eine ontologische Annahme (wie im Rahmen der Zwei-Welten-Lesart), sondern durch den Gebrauch der Denkvermögen schlüssig rekonstru­ ieren kann. Das Subjekt als »Erscheinung« zu bestimmen, ist ein Resultat des empirischen Verstandesgebrauchs, und das Subjekt als »Ding an sich« zu bestimmen, ist ein Resultat des regulativen Ver­ nunftgebrauchs. Nach der Behandlung der drei Fragen in Bezug auf P3 wird deutlich, dass die Begriffe des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« einander in den drei Themenbereichen der kritischen Philosophie Kants als Resultate der zwei kontradiktorischen Arten des Gebrauchs der Denk­ vermögen (Verstand und Vernunft) gegenüberstehen. Das liegt daran, dass die zwei Arten des Gebrauchs der Denkvermögen einander in jedem Themenbereich der kritischen Philosophie einerseits als Gegenstand der Metaphysikkritik, aber andererseits auch als das Es scheint merkwürdig zu behaupten, dass die Vernunftideen als »Erscheinungen« durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Denkvermögen (bzw. der Vernunft) angenommen werden. Es wird aber im dritten Kapitel durch die Analyse der kosmo­ logischen Antinomie und auch in Abschnitt 2.3 des vierten Kapitels dieser Arbeit erklärt, dass die Vernunftideen (die auf das Unbedingte bezogen sein sollen) als ein Bedingtes angenommen werden, wenn man sie durch Prädikate bestimmen wolle. Zum Beispiel nimmt man durch die Urteile (dass die Welt endlich/unendlich sei) die Welt als ein Gegebenes in der Welt, das auf das Bedingte bezogen ist. In diesem Sinn spricht Kant davon, dass die Vernunftideen »in Erscheinung« (B XXX) angenommen werden würden. 7

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Resultat der Metaphysikkritik gegenüberstehen. Das bedeutet kon­ kret: (P3.1) Kant kritisiert, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben. Dies geschieht im transzendentalen Verstan­ desgebrauch, der Gegenstand der Metaphysikkritik in Bezug auf das Bedingte ist. Kant geht es dagegen darum, die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« zu bestimmen. Dies leistet der empirische Verstandesgebrauch, der das Resultat der Metaphy­ sikkritik in Bezug auf das Bedingte ist. (P3.2) Kant kritisiert, die Vernunftideen als »Erscheinungen« auszugeben. Dies geschieht im konstitutiven Vernunftgebrauch, der aber gerade Gegenstand der Metaphysikkritik in Bezug auf das Unbedingte ist. Kant begründet demgegenüber, dass die Vernunftideen als »Dinge an sich« zu bestimmen sind. Dies leistet der regulative Vernunftgebrauch, der das Resultat der Metaphysikkritik in Bezug auf das Unbedingte ist. (P3.3) Kant kritisiert, den moralischen Bestimmungsgrund des Willens mit dem Begriff »Erscheinung« zu verbinden. Dies geschieht im praktischen Gebrauch der empirisch bedingten Vernunft, der Gegenstand der Metaphysikkritik in Bezug auf das Unbedingte im praktischen Kontext ist. Kant begründet die Ver­ bindung des moralischen Bestimmungsgrund des Willens mit dem Begriff »Ding an sich«. Dies leistet der praktische Gebrauch der reinen Vernunft, der das Resultat der Metaphysikkritik in Bezug auf das Unbedingte im praktischen Kontext ist. Mit diesem Ergebnis kann man wiederum durch die metaphysikkri­ tische Perspektive im siebten Kapitel auf P1 und P2 zurückblicken. Die Aussage aus P1, man könne nur die »Erscheinung« und nicht das »Ding an sich« erkennen, wird auf P3.1 zurückgeführt: Man erkennt laut Kant die Gegenstände der Sinne durch den empirischen Verstandesgebrauch und nicht durch den transzendentalen Verstan­ desgebrauch. Letzterer sei, so Kant, eine problematische Anwendung der Kategorien. Darunter werden von Kant sowohl der Dogmatismus als auch der Empirismus sowie der transzendentale Realismus (auch der empirische Idealismus) subsumiert (vgl. Abschnitt 2 des vierten Kapitels). Die Aussage aus P2, »Ding an sich« sei das Zugrundelie­ gende oder der Grund der »Erscheinung«, wird auf P3.2 zurückge­ führt: Die Vernunftideen im regulativen Sinn als »Dinge an sich« sind laut Kant das Zugrundeliegende oder der Grund der »Erscheinung«.

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Einleitung

Durch P3.3 wird die Verwendung des Begriffs »Ding an sich« auch im praktischen Kontext als das Zugrundeliegende der Erscheinung entmystifiziert. Der Begriff »Ding an sich« wird in P1 im polemischen Sinn und in P2 im kantischen Sinn verwendet. Die große Verwirrung in der Rezeption entsteht dadurch, dass das »Ding an sich« im polemischen Sinn (in Bezug auf die Gegenstände der Sinne und auf den transzendentalen Verstandesgebrauch) mit dem »Ding an sich« im kantischen Sinn (in Bezug auf die Vernunftideen und auf den regulativen Vernunftgebrauch) verwechselt wird.8 P1 wird im siebten Kapitel dahingehend beantwortet, dass die Unterscheidung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« bei Kant mit der Unterscheidung zwischen den Gegenständen der Sinne als »Erscheinungen« und den regulativen Vernunftideen als »Dingen an sich« konvergiert. P2 wird im siebenten Kapitel dahingehend beantwortet, dass die regulativen Vernunftideen als »Dinge an sich« das Zugrundeliegende der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« sind. Ich hoffe daher am Ende der Arbeit (vgl. Schlussbetrachtung dieser Arbeit) gezeigt zu haben, dass der Einwand, Kant habe den Begriff »Ding an sich« inkonsistent verwendet, sich aus der Perspek­ tive des Gebrauchs der Denkvermögen (Verstand und Vernunft) entkräften lässt. Sowohl der transzendentale Verstandesgebrauch (in Bezug auf »Ding an sich« im polemischen Sinn) als auch der regulative Vernunftgebrauch (in Bezug auf »Ding an sich« im kantischen Sinn) Die Interpretation des Neukantianismus (»Ding an sich« als Grenzbegriff) stellt m. E. den Zusammenhang zwischen dem Begriff »Ding an sich« und den Vernunft­ ideen richtig dar. Das Problem bei dieser Interpretation liegt aber darin, dass sie den Begriff »Ding an sich« im polemischen Sinn (in Bezug auf die Gegenstände der Sinne) ignoriert. Daher ist die Interpretation des Neukantianismus nicht in der Lage, die Bedeutung des Begriffs »Ding an sich« in der Erkenntnistheorie Kants zu erklären. Interpretationen (wie ich über das Affektionsproblem im ersten Kapitel thematisieren werde), die die Bedeutung des Begriffs »Ding an sich« innerhalb der Erkenntnistheorie Kants als Grund der »Erscheinung« zu erklären versucht, halten den Begriff »Ding an sich« im polemischen Sinn für den Begriff »Ding an sich« im kantischen Sinn. Die sog. »Zwei-Welten-Lesart« und die sog. »Zwei-Perspektiven-Lesart« sind m. E. nicht stichhaltig aufgrund der gleichen Verwechslung (vgl. Abschnitt 5 des vierten Kapitels). In der Rezeptionsgeschichte sucht man nach Belieben Kants Formulierungen als Belege, um seine Interpretation zu rechtfertigen. Man ignoriert aber den systemati­ schen Zusammenhang zwischen dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« und dem Gebrauch der Denkvermögen. Dieser Zusammenhang wird in der vorliegenden Arbeit aufge­ zeigt, sodass die systematische Funktion des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« gezeigt werden kann. 8

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Einleitung

sowie der praktische Gebrauch der reinen Vernunft (in Bezug auf »Ding an sich« im kantischen Sinn in der praktischen Philosophie) sind je für sich ein alleiniger Gebrauch der Denkvermögen. Das heißt im Rahmen der ›Zwei-Stämme-Lehre‹ Kants aber, dass die Denkvermögen (Begriff) nicht mit der Sinnlichkeit (Anschauung) zur Anwendung (auf die Gegenstände der Sinne, die Vernunftideen und den moralischen Bestimmungsgrund des Willens) gelangen. Der Wortlaut »an sich« bezeichnet genau diese – alleinige – Anwendung. Unter jeweils bestimmten Umständen wird diese Anwendung von Kant dann entweder kritisiert oder als angemessen und begründet eingeschätzt. Dieses »an sich« ist auf keinen Fall als eine Unabhängig­ keit vom Subjekt zu verstehen, sondern nur als eine Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit. Die Unabhängigkeit vom Subjekt suggeriert ein vorausgesetztes An-sich-Sein, das in der vorliegenden Arbeit als ein Missverständnis des Begriffs »Ding an sich« (d. i. Verdinglichung des Begriffs »Ding an sich«) erarbeitet werden soll. Demgegenüber bedeutet die Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit immer eine Abhän­ gigkeit von dem Denken (bzw. vom Begriff). Das heißt, was Kant als »Ding an sich« bezeichnet, ist immer mit der logischen Möglichkeit des Denkens verbunden, aber niemals mit der realen Möglichkeit des Erkennens, denn für Kant müssen immer beide Vermögen (Sinnlich­ keit und Denken) bei der Erkenntnis involviert sein.

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Erstes Kapitel: Exemplarische Positionen der Forschung und ihre Thesen

Als Kern der kantischen Philosophie gilt das Begriffspaar »Ersch./ D.a.s.«. Was wird in der Kantforschung unter diesem Begriffspaar verstanden? Im Laufe der Rezeptionsgeschichte wurde das Verhältnis zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« auf verschiedene Weise gedeutet. Im Sinne repräsentativer Interpretationslinien lassen sich sowohl historisch als auch systematisch sechs Positionen voneinander unterscheiden.9 Die Kernthesen dieser sechs Positionen werden im vorliegenden Kapitel auf ihre zentralen Argumentationen hin unter­ sucht. Dabei soll das Hauptaugenmerk auf diejenigen Probleme gelegt werden, in die diese Interpretationslinien ungeachtet ihrer Differen­ zen gleichermaßen geraten. Eine Kritik an diesen Positionen soll erst im späteren Verlauf der Arbeit erfolgen, nämlich dann, wenn ich jene gemeinsame Problematik meiner Interpretation gegenüberstelle. In Bezug auf das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« steht in der KantRezeption die Frage der Affektion im Zentrum. Die Affektion bezieht sich auf die Relation vom Ding zum Subjekt. Dabei sind zwei Fra­ gen wichtig: ob man bei Kant das Affizierende als »Ding an sich« verstehen kann und ob das »Ding an sich« der Realgrund der Erschei­ nung ist. Im ersten Unterkapitel (1.) werden diese Fragen anhand der Positionen von Jacobi, Schopenhauer, Vaihinger und Adickes diskutiert. Im zweiten Unterkapitel (2.) wird der Neukantianismus erörtert, der die Kritik der reinen Vernunft als eine philosophische Begründung der Naturwissenschaft versteht. Entsprechend dieser epistemologischen Lesart interpretiert Cohen den kantischen Begriff »Ding an sich« als einen Grenzbegriff. Im dritten Unterkapitel (3.) werden dagegen eine Reihe von Philosophen (Wundt, Martin und Heimsoeth) diskutiert, die am Anfang des 20. Jahrhunderts Kants Werk als neue Begründung der Metaphysik betrachten. Dabei wird Eine ausführliche Rezeptionsrekonstruktion in Bezug auf das Begriffspaar »Ersch./ D.a.s.« findet man etwa bei Herring (1953), Martin (1969) und Dalbosco (2002). 9

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Erstes Kapitel: Exemplarische Positionen der Forschung und ihre Thesen

das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« metaphysisch-ontologisch gedeutet. Neben Wundt sehe ich auch Schönecker als einen Vertreter dieser Lesart an, die er vor allem in Bezug auf Kants praktische Philosophie zur Geltung bringt. In Unterkapitel (4.) betont Prauss im Rahmen seiner Sprachanalyse der KrV den Punkt, dass die Unterscheidung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« als Unterscheidung zwischen zwei Perspektiven auf ein und denselben Gegenstand ver­ standen werden müsse. Diese Überlegung entspricht auch den Aus­ führungen von Allison. Neben diesen vier Zugangsweisen wurden in jüngerer Zeit noch sogenannte realistische Lesarten entwickelt, wie etwa die von Rosefeldt, in der die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung als Unterscheidung zweier verschiedener Arten von Eigenschaften eines sinnlichen Dinges verstanden wird. Dies wird im fünften Unter­ kapitel dargelegt. Im Rahmen des von ihm selbst so genannten Neuen Realismus interpretiert Gabriel den Begriff »Erscheinung« als Kennzeichnung einer ›perspektivischen Entität‹ und den Begriff »Ding an sich« als Auszeichnung einer aperspektivischen Entität. Dies ist eine typische Lesart der ›empirischen Unterscheidung‹ und wird im sechsten Unterkapitel diskutiert. Schließlich werden im siebten Unterkapitel die obigen Interpretationen auf ihre Schwierigkeiten und problematischen Konsequenzen hin ausgewertet. Dabei wird man sehen, dass sie sich in den Interpretationen des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« auf dieselben Stellen im kantischen Text beziehen, diese dann aber unterschiedlich interpretieren. Zum Beispiel beziehen sich viele dieser Interpretationen auf Kants Formulierung »Ding an sich als das Zugrundeliegende der Erscheinung«10 und deuten diese Formulierung dann aber ganz unterschiedlich. Diese gemeinsamen Bezugspunkte sollen der folgenden Untersuchung als Leitfaden die­ nen, da sich an ihnen entscheidet, welche Interpretation für das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« angemessen ist. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werde ich zunächst nur die unterschiedlichen Wege der Interpretationen darstellen; eine ausführ­ liche Kritik werde ich erst im vierten und fünften Kapitel formulieren.

10 Z. B. B XXVIIf; AA04: 314f; Prol. § 32; AA04: 336; Prol. § 49; A 358; AA04: 354f; Prol. § 57; AA 04: 451 und in der KU (AA05: 176; AA05: 196; AA05: 344).

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1. Das Affektionsproblem und das »Ding an sich« als Realgrund der Erscheinung

1. Das Affektionsproblem und das »Ding an sich« als Realgrund der Erscheinung In diesem Abschnitt versuche ich zwei Problemstellungen, die sich innerhalb einer bestimmten Interpretationslinie des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« ergeben, unter Bezugnahme auf vier Autoren zu skizzieren. Die erste Problemstellung ist das sog. Affektionsproblem. Da Kant der Auffassung ist, dass Erscheinungen nur Vorstellungen der Sinne sind, wurde in der Rezeptionsgeschichte der kantischen Philosophie schon früh die Frage gestellt: Was affiziert unsere Sinne, sodass wir Erscheinungen als Vorstellungen haben können? Die zweite Problemstellung steht im engen Zusammenhang mit dieser Frage und dem damit verbundenen Affektionsproblem. Bezeichnet Kants Rede vom »Ding an sich« den Realgrund der Erscheinungen oder eine Art der Letztrealität? In der Tat lassen sich Stellen in Kants KrV finden und als Belege heranziehen, an denen Kant vom ›transzendentalen Gegenstand/Objekt‹, von »Ding an sich« oder der intelligiblen Ursache (vgl. A 494/B 522) als dem »objektiven Grunde« der Erscheinung spricht.11 Bereits Jacobi hat in seiner Beilage »Ueber den Transscendentalen Idealismus« zu seinem Buch David Hume Über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch einen Einwand gegen Kants transzendentalen Idealismus erhoben. Sein Einwand kann kurz in zwei Punkten zusammengefasst werden. Der erste Punkt ist, dass Erscheinungen eine äußere Ursache benötigen, die nicht nur eine Vorstellung in uns ist, sondern als etwas Reales außerhalb von uns existiert. Und diese Ursache kann nicht ihrerseits wieder Erscheinung sein, »[d]enn gleich das Wort Sinnlichkeit ist ohne alle Bedeutung, wenn nicht ein distinctes reales Medium zwischen Realem und Rea­ lem, ein würkliches Mittel von Etwas zu Etwas darunter verstanden w[ird]« (Jacobi 2004 [1787]: 109 [304]). Der zweite Punkt ist, dass die Interpretation des »Dinges an sich« als die äußere Ursache der »Erscheinung« mit Kants kritischer Ob alle Begriffe, wie transzendentaler Gegenstand/Objekt, »Ding an sich« und die intelligible Ursache gleichgesetzt werden können, werde ich am siebten Kapitel der vorliegenden Arbeit thematisieren. An dieser Stelle geht es nur um eine Skizze der Rezeption. Im Laufe dieser Skizze wird man sehen, dass viele Autoren diese Begriffe als identisch ansehen.

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Erstes Kapitel: Exemplarische Positionen der Forschung und ihre Thesen

Wende nicht in Einklang gebracht werden kann, da dabei ja ein unzulässiger, nicht auf Sinnlichkeit bezogener Gebrauch der Kate­ gorie der Kausalität in Anspruch genommen werden müsste, der nicht mit der kantischen Philosophie vereinbar wäre 12. Kant nämlich lehrt uns, dass der Begriff der Kausalität bzw. alle Verstandesbegriffe und ihre Grundsätze Gültigkeit beanspruchen können, wenn sie auf Erscheinungen bezogen werden. In diesem Sinn formuliert Jacobi seinen berühmten Einwand gegen Kants Philosophie, »daß [er] ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben konnte« (Jacobi 2004 [1787]: 109 [304]). Die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung sei laut Jacobi die »Voraussetzung«, um die kantische Philosophie verstehen zu können. Zugleich hat Jacobi mit dem zweiten Punkt deutlich gemacht, dass die kantische Philosophie, wenn man die »Ersch./D.a.s.«-Unterschei­ dung konsequent zur Geltung bringt, in einen Widerspruch gerät, sofern auf ihrer Grundlage die Voraussetzung selbst dann als nicht mehr haltbar erscheint. Bei Schopenhauer werde ich auf sein Verständnis des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« im theoretischen Sinn eingehen, das er im Anhang seines Buches Die Welt als Wille und Vorstellung mit dem Titel »Kri­ tik der kantischen Philosophie« thematisiert.13 Schopenhauer lobt die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung als »Kants größtes Verdienst« (Schopenhauer 1989a: 564), da Kant den Nachweis dafür erbringt, dass »zwischen den Dingen und uns immer noch der Intellekt14 steht, weshalb sie nicht nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, erkannt werden können« (ebd.). Schopenhauer erkennt in dieser Hinsicht Schulze hat ein ähnliches Argument in seinem Buch Aenesidemus eingeführt. Er weist darauf hin, dass der Gebrauch der Kategorie der Kausalität bei Kant nur innerhalb der Erscheinungswelt zulässig ist und das Affektionsproblem daher nicht durch eine Kausalitäts-Erklärung gelöst werden kann (vgl. Schulze 1996: 184). 13 Auf Schopenhauers These, dass das »Ding an sich« der Wille sei, kann ich hier nicht eingehen, weil sie meiner Meinung nach nichts mehr mit einer kantischen Interpreta­ tion zu tun hat, sondern Schopenhauers eigenem Philosophieren entstammt. 14 Das Wort »Intellekt« wird bei Schopenhauer als Gehirn in dieser »Kritik der kantischen Philosophie« identifiziert (vgl. Schopenhauer 1989a: 569). Auch findet sich eine Stelle in seinem Werk »Parerga und Paralipomena«, an denen er Kants Form der Erkenntnisarten (begriffliche und sinnliche) als die »wesentlichen und gesetzmä­ ßigen Funktionen unsers eigenen Intellekts« (Schopenhauer 1989b: 104) bezeichnet. Daher kann man »Intellekt« bei Schopenhauer mit dem Ausdruck »Vermögen« bei Kant gleichsetzen. 12

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1. Das Affektionsproblem und das »Ding an sich« als Realgrund der Erscheinung

eine enge Verbindung zwischen Kant und Locke und sieht Kant als Vollender der Philosophie Lockes. Locke habe nur die sekundären Eigenschaften der Dinge, wie Klang, Geruch, Farbe, Härte usw., auf die Affektionen der Sinne bezogen. Kant gehe insofern weiter, dass er auch Raum, Zeit und Kausalität auf »den Anteil der Gehirnfunk­ tionen« (ebd. 565) zurückgeführt habe. Daher ist laut Schopenhauer Kants Unterscheidung der »Erscheinung« vom »Dinge an sich« »die Lehre von der gänzlichen Diversität des Idealen und Realen« (ebd. 566). Schopenhauer hat also das »Ding an sich« als das Reale und Erscheinung demgegenüber als das Ideale angesehen. In diesem Sinn nennt Schopenhauer das »Ding an sich« die äußere Ursache der Emp­ findung (vgl. ebd. 588). Denn was dem Ideal korrespondiert, muss etwas Unabhängiges sein, das auf das »Ding an sich« zutrifft. Da laut Schopenhauer Kants »Erscheinung« nur ideal ist, ordnet er Kant dem Idealismus zu (vgl. ebd. 586), auch wenn Kant dieser Zuordnung an manchen Stellen sogar explizit widerspricht. Schopenhauer kritisiert Kant auch in Bezug darauf, dass Kant die bloß relative Erscheinung als Ideal nicht »aus der einfachen, so naheliegenden, unleugbaren Wahrheit ›Kein Objekt ohne Subjekt‹ ableitete« (ebd.). Das heißt, dass das Konzept »Objekt« notwendigerweise auf das »Subjekt« bezogen ist. Beide stehen gegeneinander. Das Ergebnis der Transzen­ dentalphilosophie Kants ist für Schopenhauer, »daß die objektive Welt, wie wir sie erkennen, nicht dem Wesen der Dinge an sich selbst angehört, sondern bloße Erscheinung desselben ist, bedingt durch eben jene Formen, die a priori im menschlichen Intellekt (d. h. Gehirn) liegen, daher sie auch nichts als Erscheinungen enthalten kann« (ebd. 569). Vaihinger formuliert nach einer ausführlichen rezeptionsgeschichtli­ chen Darstellung drei mögliche Modelle in Bezug auf den affizieren­ den Gegenstand, die er als Trilemma bezeichnet. »Kant lehrt also eine doppelte Affection, eine transscendente und eine empirische« (Vaihinger 1892: 52). Er ist der Auffassung, dass alle Modelle proble­ matisch und in sich widersprüchlich sind: 1)

Entweder versteht man unter denselben die Dinge an sich; dann gerathen wir auf den von Jacobi, Aenesidem u. A. schon aufgedeckten Widerspruch, dass wir die Kategorien Substantia­ lität und Causalität, welche doch nur innerhalb der Erfahrung Sinn und Bedeutung haben sollen, ausserhalb derselben anwen­ den. […]

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Erstes Kapitel: Exemplarische Positionen der Forschung und ihre Thesen

2)

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Oder wir verstehen unter den afficirenden Gegenständen die Gegenstände im Raume; da nun diese nach Kant aber doch nur Erscheinungen sind, also unsere Vorstellungen, so gerathen wir auf den Widerspruch, dass dieselben Erscheinungen, die wir erst auf Grund der Affection haben, uns eben jene Affection verschaffen sollen. […] Oder wir nehmen eine doppelte Affection an, eine transscen­ dente durch die Dinge an sich und eine empirische durch die Gegenstände im Raume, so gerathen wir auf den Widerspruch, dass eine Vorstellung des transscendentalen Ich nachher für das empirische Ich ein Ding an sich sein soll, dessen Affection nun im Ich ausser und hinter jener transscendentalen Vorstellung des Gegenstandes noch eine empirische ebendesselben Gegenstan­ des hervorrufen soll. (Vaihinger 1892: 53)

Beim ersten Modell ist dieses Affizierende das »Ding an sich«. Aber der Einwand von Jacobi, dass in diesem Fall ein unzulässiger Ver­ standesgebrauch in Bezug auf die Kausalität und deren Anwendung außerhalb der Erfahrung stattfinden würde, scheint für Vaihinger überzeugend zu sein. Das zweite Modell trifft laut Vaihinger nicht auf Kants Überlegungen zu, weil die Gegenstände im Raum schon Erscheinungen bzw. unsere Vorstellungen sind. Das Affizierende darf aber laut Vaihinger nicht die bloße Vorstellung, sondern muss etwas von der Vorstellung Verschiedenes sein; anderenfalls käme es zu der widersprüchlichen Aussage, dass unsere Vorstellungen uns affizieren. Im dritten Modell erwägt Vaihinger eine doppelte Affektion, wobei eine transzendentale Affektion durch die Dinge an sich und eine empi­ rische Affektion durch die Gegenstände im Raum nahegelegt werden. Dieses Modell ist für Vaihinger widersprüchlich, weil hier jenes, was eine Vorstellung des transzendentalen Ichs ist, zugleich ein »Ding an sich« für das empirische Ich sein soll. Die Affektion dieses »Dings an sich« hinter der transzendentalen Vorstellung des Gegenstandes soll noch einen entsprechenden empirischen Gegenstand verlangen. Adickes erörtert die Problematik der Beziehung zwischen »Erschei­ nung« und »Ding an sich« in seinem Werk Kant und das Ding an sich. Seine Argumentation lässt sich in zwei Thesen zusammenfassen. Die erste These besteht in der Aussage, dass sich die »Ersch/D.a.s.«Unterscheidung auf ein und dasselbe ›Etwas‹ richtet. Nach Adickes sollen »Erscheinung« und »Ding an sich« nicht als zwei verschiedene

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1. Das Affektionsproblem und das »Ding an sich« als Realgrund der Erscheinung

Wesen und auch nicht als Urbild und Abbild betrachtet werden, sondern als ein Etwas mit zwei Seiten15: [E]s ist jedesmal nur ein Etwas, das einerseits uns erfahrungsmäßig gegeben ist, aber nur als Erscheinung in unseren Anschauungs- und Auffassungsformen, andererseits aber auch ganz unabhängig davon ein Dasein an und für sich hat, als solches zwar für uns in keiner Weise erkennbar, wohl aber vielleicht für einen anders gearteten, intuitiven Verstand (Adickes 1924: 21).

Dieses Etwas wird einerseits als Erscheinung betrachtet, als die wir es erkennen können, weil es »erfahrungsmäßig« ist. Aber andererseits ist dieses Etwas ein Dasein, das an und für sich ist. Als Dasein an sich ist dieses Etwas unabhängig von den Anschauungsformen und für uns unerkennbar. Dies gilt auch für das Ich: »das einmal an und für sich ist, zeitlos und darum unerkennbar, andererseits in meinem empirischen Bewußtsein und dessen in der Zeit verlaufenden Veränderungen erscheinungsweise von mir, d. h. also von ihm selbst, erlebt und erkannt wird« (ebd. 25). Im zweiten Punkt geht es darum, dass das »Ding an sich« der Grund der Erscheinung ist. Adickes meint, dass diese Überzeugung für Kant in seiner ganzen kritischen Zeit »die transsubjektive Existenz einer Vielheit von Dingen an sich, die unser Ich affizieren, eine nie bezweifelte, absolute Selbstverständlichkeit gewesen« (ebd. 4) sei. Zu der transsubjektiven Existenz der Dinge an sich meint Adickes, dass, »wenn man den Begriff und das Wort ›Erscheinung‹ auf einen Erfahrungsgegenstand anwendet, man damit zugleich ein ihm ent­ sprechendes »Ding an sich« als einen außerhalb unseres Bewußtseins existierenden, also transsubjektiven Gegenstand voraussetzt« (ebd. 5, Anm.). Um seine Auffassung zu rechtfertigen, gibt Adickes viele Stellen16 in Kants Werk an, an denen Kant davon spricht, dass das »Ding an sich« der Grund der Erscheinung ist. Alle diese Stellen zeigen überzeugend, so Adickes, dass die Existenz der Dinge an sich bei Kant ohne Zweifel ist, und zwar so, dass »Erscheinungen Dinge an sich voraussetzen und auf sie Anzeige tun« (ebd. 9). Das Verhältnis zwischen Ich an sich und Ich als Erscheinung wird von Adickes Darum wird Adickes von Dalbosco als Wegweiser der Zwei-Perspektiven-Lesart (Prauss und Allison) zugerechnet (vgl. Dalbosco 2002: 132). 16 Die Stellen sind in der KrV B XXVIf, B 55, B 235, A 358, A 387, B 522, B 536 und in den Prol. § 13, Anm. II, III und § 36, § 57, § 59, sowie in GMS AA 04: 451, auch in KU AA05: 196. 15

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wie alle Sinnenobjekte so charakterisiert, dass »ein Ich an sich den Erscheinungen unseres Bewußtseinslebens zu Grunde liegt« (ebd.). Schließlich betrachtet Adickes Kants »Ersch./D.a.s.«-Unter­ scheidung als einen Unterschied zwischen Denken und Erkennen, da die Voraussetzung des Erkennens für Kant die Verbindung von Begriff und Anschauung ist. Die Kategorien allein können niemals Erkenntnis vom an sich Seienden verschaffen, wohl aber können wir ein solches denken (vgl. ebd. 158).

2. Das »Ding an sich« als Grenzbegriff Als Vertreter des Neukantianismus versteht Cohen das Problem der Erkenntnis als den Angelpunkt der KrV. In seinem Buch Kants Theorie der Erfahrung beschäftigt sich Cohen mit Kants Erkenntnistheorie im Sinne einer philosophischen Rechtfertigung und Grundlegung der Naturwissenschaft. Dazu nimmt Cohen insbesondere den Begriff der Erfahrung in den Blick und interpretiert entsprechend auch den Begriff des »Dings an sich« vor diesem Hintergrund. Das »Ding an sich« muss ihm zufolge als das »Ganze der Erfahrung« verstanden werden (Cohen 1885: 503). In der Folge dieses Verständnisses setzt Cohen die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung in Bezug zur Unterscheidung zwischen Zufälligkeit und Notwendigkeit und ordnet die Erscheinung dem Zufälligen zu, während er das »Ding an sich« (im Sinne des Ganzen der Erfahrung) als etwas Notwendiges erkennt, dessen Funk­ tion darin liegt, den ›Bezirk der Erfahrung‹ zu begrenzen (vgl. Cohen 1877: 31). Und ob nun dieses Ganze der Erfahrung, diese Erfahrung selbst als Gegenstand, diese Natur, die doch der Inbegriff der Grundsätze ist, ob sie, indem sie als »Ding an sich« gedacht wird, dadurch aufhört, zufällig zu sein, das ist die Frage, welche die ganze Bedeutung des »Ding an sich« angehet (Cohen 1885: 504).

Da das Ganze der Erfahrung selbst nicht erscheinen kann, also keine Erscheinung ist, so ist es selbst zwar denkbar, aber nicht erkennbar. Aus dieser Perspektive wird das »Ding an sich« von Cohen mit den Vernunftideen (Vernunftbegriff) identifiziert. Denn das »Ding an sich« ist »ein Ding, das nicht anschaubar, sondern nur denkbar ist, das in seiner Leistung als Begriff seine Geltung vollendet« (ebd. 505). Entsprechend ist für Cohen auch deutlich, dass die kantischen Begriffe

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3. Die Zwei-Welten-Lesart

transzendentales Objekt, transzendentale Idee, systematische Einheit und Unbedingtes mit dem Begriff »Ding an sich« gleichgesetzt werden können. In der Folge gelangt Cohen zu der Überzeugung, dass das, was die transzendentale Idee bei Kant leistet, auch der Begriff des »Dings an sich« leistet. Die Idee wird notwendig gedacht, wenn das Zufällige das Unbedingte fordert. So ist auch der Begriff »Ding an sich« als ein Grenzbegriff zu fassen: »wenn wir an den thatsächlichen Bedürfnissen der Wissenschaft seine positive Aufgabe hervortreten sehen. In solcher Einsicht wird der Gedanke lebendig: dass der Grenz­ begriff gedacht werden müsse, wenngleich sein Gegenstand nicht angeschaut werden kann« (ebd. 508). Der entscheidende Unterschied der Auffassung des »Dings an sich« bei Cohen von den oben gezeigten Auffassungen (von Jacobi bis Adickes) ist, dass Cohen das »Ding an sich« nicht etwa dem jeweils einzelnen Gegenstand unterlegt, sondern er unter »Ding an sich« die Gesamtheit der Erfahrung versteht. Für Cohen ist daher auch die Stelle B 522 in der ersten Kritik bedeutend, an der Kant das transzendentale Objekt als Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen bezeichnet. Entsprechend ist »Ding an sich« für Cohen »der Ausdruck alles wissenschaftlichen Umfangs und Zusammenhangs unserer Erkenntnisse, wie für die ›wirklichen Dinge der vergangenen Zeit‹ als ihr transscendentaler Gegenstand die ›Geschichte‹ hier namhaft gemacht ist« (ebd. 518f).

3. Die Zwei-Welten-Lesart Um die sog. Zwei-Welten-Lesart17 zu verdeutlichen, beziehe ich mich auf Wundt und in der gegenwärtigen Diskussion auf Schönecker als Repräsentanten dieser Interpretationslinie. Wundt spricht von zwei getrennten Welten, Schönecker von einer ontologischen Valenz18 des Menschen als »Ding an sich«. Wundts Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« kann in zwei Punkten zusammengefasst werden. Der erste Punkt ist, dass Eine ähnliche Position vertritt auch Martin (vgl. 1969: 216f). Der Ausdruck »Valenz« wird bei Schönecker nicht ausführlich gedeutet. Vermutlich möchte Schönecker mit dem Begriff ausdrücken, dass Kant dem menschlichen Dasein an sich einen absoluten Wert zuschreibt (vgl. AA04: 428; GMS). 17

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die Gegenstände der Erfahrung bzw. Erscheinungswelt bei Kant als empirisch wirklich anerkannt werden. Der zweite Punkt ist, dass die Erscheinungswelt als abhängig von der Verstandeswelt wird, in dem Sinne, dass die Verstandeswelt der Grund der Erscheinungswelt ist. In Wundts Buch Kant als Metaphysiker – ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert wird Kants Erkenntnistheorie kaum thematisiert. Vielmehr teilt Wundt Kants ganzes System in zwei Teile, wobei der eine Teil der Naturwissen­ schaft, der andere Teil der Metaphysik gewidmet sei. Dieser, der Naturwissenschaft, ordne Kant den sog. Mechanismus, das Kau­ salprinzip nach Ursache und Wirkung, zu, während er jener, der Metaphysik, die Teleologie und ihr Prinzip der finalen Kausalität zuschreibe. Dementsprechend beziehe sich die Naturwissenschaft auf die sinnliche Welt und die Metaphysik auf die übersinnliche Welt (vgl. Wundt 1924: 112f). Wundt bezeichnet Kants Erkenntnistheorie als eine erfolgreiche Begründung der Naturwissenschaft bzw. von New­ tons Naturlehre. Doch nach seinem Verständnis sei Kants Ziel dabei nicht allein die philosophische Begründung der Naturwissenschaft, sondern eine Neubegründung der Metaphysik; was er tatsächlich erreiche, sei dann sogar die Begründung einer neuen Metaphysik (vgl. ebd. 376). Es wurde bereits erwähnt, dass es eine zentrale Überzeugung Wundts sei, dass Kant die Gegenstände der Erfahrungs- bzw. Erschei­ nungswelt als empirisch wirklich anerkenne. Wundt betrachtet die sinnliche Welt entsprechend nicht als Schein, sondern als »empi­ risch[e] Realität« (ebd. 202). Er behauptet damit, dass Kant zur Beurteilung der Erfahrung einen ganz neuen Grund vorgelegt habe. Da Kant die Sinnlichkeit im Unterschied zur Schulmetaphysik nicht als eine verworrene Vorstellungsart, sondern als eine ursprüngliche und dem Verstand gegenüberstehende, von ihm unterschiedene Vor­ stellungsart ansieht, besitzen wir auch »die wahre Wirklichkeit in der Erfahrung« (ebd. 205) und können davon ausgehen, »daß von dieser Erfahrung allgemeingültige Erkenntnis möglich sei« (ebd.). Auf diese Weise unterscheidet sich, wie Wundt deutlich macht, auch Kants Ansatz signifikant von der älteren, durch Leibniz und Wolff ausgestal­ teten Zwei-Welten-Lehre, in der die Welt sinnlich ist, insofern sie angeschaut wird, und intelligibel, insofern sie deutlich erkannt wird. Der zweite zentrale Aspekt von Wundts Lesart liegt darin, dass Kant die Erscheinungswelt von der Verstandeswelt abhängig mache, denn »[d]er Begriff der Erscheinung deutet nach Kants immer wie­

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3. Die Zwei-Welten-Lesart

derholter Erklärung auf etwas hin, das ihm entspricht und selbst nicht Erscheinung ist« (ebd. 206). Dieses »etwas« ist als »Ding an sich« zu bezeichnen. Wundt betont, dass die Interpretation des »Dings an sich« »das eigentliche Kreuz aller Kant-Erklärer« (ebd.) darstelle, insofern sie sich an diesem Begriff abarbeiten müssten. Aber er verweist zugleich auf viele Stellen (A 250f; AA 04: 350f; B XXVII), an denen Kant davon spricht, dass die größte Ungereimtheit darin liege, keine »Dinge an sich« einzuräumen. Auf jene Stellen verweist Wundt, um zu belegen, dass das »Ding an sich« den Grund der Erscheinungen darstelle. Entsprechend interpretiert Wundt das »Ding an sich« als Noumenon, das von Kant als unerkennbar und denknotwendig charakterisiert wird. Doch er behauptet dann, dass Kant den positiven Gebrauch der Noumena nur innerhalb unserer »Erkenntnis« ablehne, da sich das Noumenon auf das Unbedingte beziehe, sich die Erkenntnis dagegen auf das Bedingte richte. Dement­ sprechend hält er es für möglich, Noumena in der übersinnlichen Welt bzw. Metaphysik (für Wundt bezeichnen beide Ausdrücke dasselbe) positiv zu verwenden, und weist darauf hin, »daß Kant sie [s. c. die positive Bedeutung der Noumena] sehr bestimmt bezeichnet« (ebd. 212). Wundts Interpretation von Kants Ziel liegt darin, dass dieser eine neue Metaphysik zu begründen gedenke. Daher sei das, was Kant in der Erfahrungstheorie entwickele, letztlich nur eine Vorbereitung auf dieses eigentliche Ziel. Der Ausgangspunkt von Kants neuer Metaphysik liege gerade in der zugelassenen positiven Verwendung der Noumena. In diesem Zusammenhang wird die KrV von Wundt nicht als eine philosophische Arbeit verstanden, der es primär und ausschließlich um eine Grundlegung des Erfahrungsund Erkenntnisbegriffs gehe, sondern um einen möglichen syste­ matischen Zusammenhang reiner metaphysischer Begriffe, denen objektive Realität zukomme. Schönecker hat in seinem mit Allen Wood zusammen verfassten GMS-Kommentar Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«: Ein einführender Kommentar die Zwei-Welten-Lesart besonders in Bezug auf die praktische Philosophie vertreten. In diesem Buch hat Schönecker zuerst eine Interpretation der »Ersch./D.a.s.«-Unter­ scheidung im allgemeinen Sinn vorgelegt: Da Raum und Zeit nur Anschauungsformen a priori sind, »können die Attribute, die wir diesen sinnlich gegebenen Gegenständen als Erscheinungen betrachtet zusprechen, nicht die Attribute dieser Gegenstände als Dinge an

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sich betrachtet sein« (Schönecker und Wood 2011: 188; Hervorhe­ bungen durch den Verfasser). Der Autor hat in diesem Satz »als Erscheinungen betrachtet« und »als Dinge an sich betrachtet« kursiv hervorgehoben, und er hat »die Attribute dieser Gegenstände« als Erscheinungen und Dinge an sich betont. So scheint Schönecker an dieser Stelle eine Zwei-Perspektiven-Lesart zu vertreten oder einer Lesart zu folgen, die in der Unterscheidung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« die Bestimmung zweier Attribute desselben Dinges sieht (eine Position, die von Rosefeldt [s. u.] verteidigt wird). So spricht Schönecker einige Zeilen später davon, dass die »Ersch./ D.a.s.«-Unterscheidung nicht ontologisch, sondern epistemologisch zu verstehen sei. Als Richtlinie der Interpretation müsse Kants Selbst­ interpretation aus dem Opus postumum gelten: »Die Unterscheidung des so genannten Gegenstandes an sich im Gegensatz mit dem in der Erscheinung […] bedeutet nicht ein wirkliches Ding, was dem Sinnengegenstande gegenübersteht« (AA 22: 24; Abkürzung vom Verfasser). Aber Schönecker nimmt Kants Erscheinungsbegriff als Erscheinung von etwas, und dieses »etwas« ist das »Ding an sich«, wovon wir kein Wissen haben und nie haben können, doch, »wenn es uns affiziert, dann ist es Gegenstand der Sinnlichkeit und ihrer subjektabhängigen Anschauungsformen« (Schönecker und Wood 2011: 189). Schönecker versteht Kants Formulierung also in dem Sinne, dass »hinter den Erscheinungen doch die Sachen an sich selbst (obzwar verborgen) zum Grunde liegen müssen« (AA04: 459). Diese Annahme zugrunde liegender Dinge an sich ist für Schöneckers Interpretation entscheidend, denn daraus ergibt sich eine Teilung von zwei Welten: »Die Welt der Dinge als Erscheinungen betrachtet, nennt Kant Sinnenwelt; die gleiche Welt als Welt der Dinge an sich betrachtet, heißt auch Verstandeswelt« (Schönecker und Wood 2011: 189). Für Schönecker stellt sich nun die Frage, warum der Mensch sich als ein Wesen, das zur Verstandeswelt und zur Sinnenwelt gehört, dem Gesetz der Verstandeswelt unterwerfen soll. Zur Beantwortung verweist Schönecker auf eine Stelle aus der GMS (AA04: 453).19 Die Antwort seiner Rekonstruktion dieser Stelle lautet: 19 Diese Stelle lautet: »Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mit­ hin auch der Gesetze derselben, enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist, und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein

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4. Die Zwei-Perspektiven-Lesart

(OG) Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt enthält, weil sie mithin auch den Grund der Gesetze der Sinnenwelt enthält, weil sie also in Ansehung meines Willens, der ganz zu ihr gehört, unmittelbar gesetzgebend ist und weil sie also auch in Ansehung meines Willens als eine Verstandeswelt gedacht werden muß, die den Grund der Sinnenwelt und den Grund der Gesetze derselben enthält, so werde ich mich als ein Wesen, das sich zugleich als Glied der Verstandeswelt (Intelligenz) und als Glied der Sinnenwelt betrachtet, dem Gesetze der Verstandeswelt, mithin der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz der Verstandeswelt enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen und folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperative und die diesem Prinzip gemäßen Handlungen als Pflichten ansehen müssen. (ebd. 200; Hervorhebung durch den Verfasser)

Er bezeichnet sie als »Kants ontoethischen Grundsatz« (Schönecker und Wood 2011: 199). Diese Rekonstruktion beruht auf der gerade dargestellten Interpretation der »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung, der zufolge das »Ding an sich« bzw. die Verstandeswelt der Grund oder das Zugrundeliegende der Erscheinung- bzw. Sinnenwelt sei. Der Gedanke, dass der Wille als intelligibles Vermögen das eigentliche Selbst des Menschen ist, im Unterschied zum Menschen, sofern er nur Erscheinung seiner selbst ist, bildet den Kern des ontoethischen Grundsatzes. Entsprechend drückt Schönecker diesen seinen Gedan­ ken folgendermaßen aus: »Es führt kein Weg daran vorbei: Kant begründet die Gültigkeit des KI [d. i. des kategorischen Imperativs] mit der Superiorität des ontologischen Status der Verstandeswelt. […]. Der Mensch als ›Ding an sich‹ (und damit als ›eigentliches Selbst‹) hat eine höhere ontologische Valenz als der Mensch als Erscheinung« (ebd. 201).

4. Die Zwei-Perspektiven-Lesart Prauss hat in seinem Buch Kant und das Ding an sich zunächst darauf aufmerksam gemacht, dass der Ausdruck »Ding an sich«, der in der zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d.i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperative und die diesem Prinzip gemäßen Handlungen als Pflichten ansehen müssen« (AA04: 453).

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Erstes Kapitel: Exemplarische Positionen der Forschung und ihre Thesen

Literatur häufig benutzt wird, eigentlich die Kurzform für »Ding an sich selbst betrachten« sein soll. Die Betonung liege nicht auf dem »Ding«, sondern dem »Betrachten« (vgl. Prauss 1989: 22f). Dann heißt es nicht, den Gegenstand als »Erscheinung« und »Ding an sich« zu betrachten, sondern den Gegenstand als Erscheinung und an sich selbst zu betrachten. Die erste Formulierung ermögliche eine »Hypostasierung«, die das »Ding an sich« objektiviere, die sogar »eine Art von metaphysischer Hinterwelt« behaupte (ebd. 28). Einer solchen Zwei-Welten-Lesart stellt Prauss eine Zwei-PerspektivenLesart entgegen. Ein Grundsatz dieser Lesart ist, dass man den Fokus auf das Betrachten legt. Das Betrachten ist hier »eine besondere Art philosophischer Reflexion auf das Ding« (ebd. 23). Wenn man mit Prauss den Gegenstand als Erscheinung und an sich selbst betrachtet, bedeutet das, dass dieser Gegenstand zuerst als Erscheinung gegeben ist. Erst dann betrachtet man diese Erscheinung als »Ding an sich«. Es stellt sich jedoch die Frage, wofür man das Ding als an sich selbst überhaupt betrachten soll. Doch es ist nicht notwendig, hinsichtlich der kantischen Erfahrungstheorie, die sinnlichen Dinge als Erscheinung und zugleich als an sich selbst zu betrachten20. Es ist für Prauss schon ausgeschlossen, dass wir zur Vorstellung bzw. Erscheinung durch das affizierende »Ding an sich« kommen. Denn im Gegensatz zur Zwei-Welten-Lesart gilt das »Ding an sich« hier nicht als Ursache für die Erscheinung. Prauss möchte aber mit seiner »trans­ zendental-zweistufigen Reflexion« (ebd. 62) die »Nutzbarkeit« des »Dinges an sich« finden, bzw. er stellt die Frage, wozu wir das »Ding an sich« überhaupt benötigen. Die erste Stufe der transzendentalphiloso­ phischen Reflexion habe zum Ergebnis, dass das empirische Ding als Erscheinung zu erfassen sei. Und das Ergebnis der zweiten Stufe sei, dasselbe Ding wieder an sich zu betrachten. Bezüglich der Notwendig­ keit der Betrachtung desselben Dings als Erscheinung und gleichzeitig als Ding an sich ist Prauss der Auffassung, dass Kants Ansätze »nicht zahlreich und deutlich genug« seien (vgl. ebd. 89). Denn Kants transzendentalphilosophische Theorie der Erfahrung wird von Prauss als »eine nichtempirische Theorie« des »Empirischen« (ebd. 124) verstanden. Prauss sieht die »Nutzlosigkeit« des »Dinges an sich« in der Erkenntnistheorie ganz klar: Je mehr man sich von der 20 Prauss (1989: 92f) lehnt eine Interpretation von der »analytischen Notwendigkeit« in Bezug auf »Ding an sich« und »Erscheinung« ab, in der behauptet wird: die »Dinge an sich selbst zu betrachten« kann analytisch aus ihrem Begriff als Erscheinungen selbst hergeleitet werden.

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4. Die Zwei-Perspektiven-Lesart

kantischen Theorie der Erfahrung überzeugen lässt, desto mehr muss man sich auch davon überzeugen, dass die Dinge der Erfahrung eben nur Erscheinungen sein können; und es ist fragwürdig, wenn man die Dinge danach wieder als etwas anderes als Erscheinungen betrachten kann (vgl. ebd. 68). Denn Prauss hält für wahr, dass Kants »Ding an sich« bzw. die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung nur für die Begründung der Erkenntnistheorie zur Verfügung steht, sodass durch seine zweistufige Theorie Kants »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung auf eine Theorie der Erfahrung beschränkt wird. Deshalb bleibt bei Prauss unbeantwortet, weshalb das Ding »an sich selbst« zu betrachten ist. Ein anderer Vertreter der Zwei-Perspektiven-Lesart ist Allison. Es ist bekannt, dass Allison von Prauss beeinflusst ist (vgl. Alli­ son 2004: 51f). Er versteht das »Ding an sich« auch als »Ding an sich selbst betrachten«. Die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung ist ihm zufolge nicht die ontologische Unterscheidung zweier Entitäten, sondern eine Unterscheidung zwischen »two ways of considering things (as they appear and as they are in themselves)« (Allison 2004: 16). Nach Allison untergräbt eine ontologische Interpretation notwendigerweise die empirische Realität der Erscheinung, wodurch die Erscheinungen von »as they appear« zu »seem to us«” entwertet werden, wohingegen die »Dinge an sich« von »they are« zu »they really are« aufgewertet werden. Mit einer starken Ablehnung der Zwei-Welten-Lesart, »whatever it may be, it cannot be a distinction between how things seem to be to beings like us and how they really are« (ebd. 47), führt Allison den Begriff »epistemic conditions« ein, um zu zeigen, dass wir zwei »radically distinct epistemic relations to objects, neither of which is ontologically privileged« haben (ebd.). Außerdem hat Allison zwei »metaphilosophische« Positionen21 entwickelt, den transzendentalen Idealismus und den transzenden­ talen Realismus, um seine Interpretation gegenüber der konven­ tionalen Position (im englischsprachigen Raum) zu untermauern. Im Rahmen der Terminologie Allisons werden Rationalismus und

21 Allison selbst versteht unter den transzendentalen Realismus nicht als eine meta­ physische Position im traditionalen Sinn, sondern einen Standpunkt, den die Befür­ wortern der verschiedenen metaphysischen Positionen gemeinsam haben. Daraus werden viele metaphysische und epistemologische Fragen mit einem theozentrischen Perspektiven behandelt, »which systematically ignores the role of spatiotemporal conditions in the conception of how such totalities are given« (Allison 2014: 395). Gleichzeitig ist der transzendentale Idealismus auch ein Standpunkt zu betrachten.

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Erstes Kapitel: Exemplarische Positionen der Forschung und ihre Thesen

Empirismus unter dem transzendentalen Realismus subsumiert.22 Aufgrund dessen kann man den ambivalenten Gebrauch des Begriffs »Ding an sich« erklären. Vor allem sind die beiden für ihn »two mutually exclusive and all-inclusive metaphilosophical alternatives or standpoints« (Allison 2004: xv). Die konventionale Position (auch Guyer23) basiert nach Allison auf »dogmatic transcendentally realistic assumptions« (ebd.). Die Sinnlichkeit wird hier als ein Erkenntnis­ vermögen verneint (vgl. ebd. 27). Sie spielt aber laut Allison für Kants Lehre eine große Rolle. Darum fasst Allison den Hauptunter­ schied zwischen transzendentalem Idealismus und transzendentalem Realismus zusammen: dieser ist ein »anthropocentric model of cogni­ tion« und jener ein »theocentric model of knowledge« (ebd. xvi). Daraus folgt, dass im Modell des transzendentalen Idealismus der Verstand und die sinnliche Anschauung und im Modell des transzen­ dentalen Realismus Verstand und intellektuelle Anschauung betont werden. Letztlich ist der transzendentale Idealismus für Allison »a doctrine of epistemological modesty, since it denies finite cognizers like ourselves any purchase on the God´s-eye view of things« (ebd. xvi). Aufgrund dieser Bescheidenheit (modesty) seien »Dinge an sich« für uns unerkennbar. Laut Allison begründet das theozentristi­ sche Modell des transzendentalen Realismus zwei philosophischen Allison ist der Auffassung, dass Rationalismus und Empirismus für Kant nur zwei unterschiedliche Formen der transzendentale Realismus, weil die beiden eine »underlying assumption« gemeinsam haben. Die menschlichen Erkenntnisvermögen müssen durch eine Norm der putativen göttlichen Erkenntnisvermögen bestimmt werden. Dieses Vermögen muss nicht konzeptionell (non-conceptual) sein. Der Unterschied zwischen den beiden philosophischen Schule liegt darin, wie viele Grade diese intuitiven Erkenntnisvermögen für den Mensch erreichbar ist, deshalb ist der Unterschied nur ein »family quarrel«. (vgl. Allison 2004: xvii). 23 Guyer ist der Auffassung: »According to transcendental idealism, we can know the fundamental laws of nature with complete certitude because they are not descriptions of how things are in themselves independently of our perception and conception of them, but are rather the structure that the laws of our own minds impose upon the way things appear to us« (Guyer 2006: 2). In diesem Zitat differenziert Guyer »Things in themselves« von »things appear to us “. Der Maßstab ist, ob Dinge (»Things«) unabhängig von unserer Wahrnehmung und Vorstellung sind. In seinem Buch Kant and the claims of knowledge vertrittt Guyer die Behauptung, dass Kant ein normales Objekt zu einer bloßen Vorstellung des Objekts degradiert oder zeiträumliches Objekt mit bloßen mentalen Entitäten identifiziert (vgl. Guyer 1987:335). Damit ist gezeigt, dass Guyer behauptet, dass das »Ding an sich« uns affiziert. Die Voraussetzung von Kants Erkenntnistheorie sei die Annahme der ontologischen Existenz der Dinge, die unabhängig von uns seien. So kann man Guyer auch unter der Zwei-Welten-Theo­ rie subsumieren. 22

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5. Die Lesart der zwei verschiedenen Arten von Eigenschaften

Schulen: Empirismus und Rationalismus. Diese enthalten: »an illicit extension of the categories to things in general« (ebd. 325). Kant kriti­ siert die beiden Schulen dafür, dass sie die sinnliche Anschauung nicht als transzendentale Bedingung der menschlichen Erkenntnis aner­ kennen. Zusammenfassend kann man bei der Zwei-Perspektiven-Lesart fest­ halten, dass die Unterscheidung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« darauf ausgerichtet ist, dass man ein und denselben Gegen­ stand, der zu den Gegenständen der Sinne gehört, vor allem als »Erscheinung« annimmt und danach als »Ding an sich« durch philo­ sophische Reflexion erwirbt.

5. Die Lesart der zwei verschiedenen Arten von Eigenschaften Rosefeldt hat in seinem Artikel Dinge an sich und der Außenweltskep­ tizismus über ein Missverständnis der frühen Kant-Rezeption eine Interpretation zur Unterscheidung von »Erscheinung« und »Ding an sich« entwickelt, die sich von den Ansätzen von Prauss und Allison dahingehend unterscheidet, dass die Rede von Perspektiven nicht methodologisch, sondern ontologisch ist. In diesem Sinne geht es nicht darum, zwei Weisen zu unterscheiden, mit denen dasselbe Ding thematisiert werden kann, sondern um zwei verschiedene Arten von Eigenschaften, die derselbe Gegenstand hat (vgl. Rosefeldt 2012: 21, Anm.). Bei den zwei verschiedenen Arten von Eigenschaften meint Rosefeldt die subjektabhängigen und die subjektunabhängigen Eigenschaften von Gegenständen (vgl. ebd. 23). Kants Aussage, dass wir die Dinge nicht so kennen, wie sie an sich selbst sind, sondern nur, wie sie uns affizieren, bedeutet für Rosefeldt, dass wir ausschließ­ lich subjektabhängige Eigenschaften von Gegenständen erkennen können. Ferner ist anzunehmen, dass dieselben Gegenstände auf irgendeine Form an sich selbst beschaffen sind, d. h. irgendwelche subjektunabhängige Eigenschaften haben müssen, auch wenn wir nicht wissen, welche subjektunabhängigen Eigenschaften dies sind (vgl. ebd. 22f). Um das zu verdeutlichen, nimmt Rosefeldt ein analo­ gisches Beispiel für die zwei Arten von Eigenschaften: Giftig zu sein ist einerseits eine Eigenschaft, die von uns ver­ schiedenen Dingen zukommt – z. B. Fliegenpilzen –, andererseits

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Erstes Kapitel: Exemplarische Positionen der Forschung und ihre Thesen

eine Eigenschaft, die diese von uns unabhängigen Gegenstände nur in Relation zu uns haben, Fliegenpilze z. B. nur deswegen, weil wir auf eine bestimmte Weise, nämlich mit Vergiftungssymptomen, auf sie reagieren. Wären wir biologisch anders gebaut, wären Fliegenpilze auch nicht giftig. Trotzdem hängt das Giftigsein der Fliegenpilze natürlich nicht ausschließlich von uns ab, sondern liegt ebenso an einer von uns unabhängigen Eigenschaften des Pilzes – einer Eigen­ schaft, die ihm an sich selbst zukommt. (ebd. 23f) Denn im analogischen Sinne sind die raumzeitlichen Eigenschaf­ ten subjektabhängig, und die subjektunabhängigen Eigenschaften beziehen sich darauf, wie die Dinge an sich selbst beschaffen sein mögen. Rosefeldt schreibt: In analoger Weise ist die Tatsache, dass raum-zeitliche Eigen­ schaften den wahrgenommenen Dingen nicht an sich selbst zukom­ men, sondern subjektabhängig sind, damit verträglich, dass diese Dinge auch an sich selbst irgendwie beschaffen sind, d. h. subjektun­ abhängige Eigenschaften haben, ja sogar haben müssen, um subjekt­ abhängige Eigenschaften zu haben. So wie der Pilz nur deswegen giftig sein kann, weil er eine bestimmte chemische Beschaffenheit hat, die für unsere Reaktion auf ihn verantwortlich ist, so müssen die Gegenstände unserer Sinne auch irgendwelche subjektunabhängigen Eigenschaften haben, um uns erscheinen, d. h. Vorstellungen in uns erregen zu können. […] Nach diesem Modell ist die Weise, wie die Dinge an sich selbst beschaffen sind, also mitverantwortlich dafür, wie sie uns erscheinen: Dass uns überhaupt etwas als raum-zeitlich strukturiert erscheinen kann, liegt an uns und unseren Anschauungs­ formen. Aber dass uns dieser Gegenstand rund und jener eckig erscheint, liegt darüber hinaus auch an diesen Gegenständen. So wie es an uns liegt, dass wir überhaupt mit Vergiftungssymptomen auf etwas reagieren können, aber nicht allein an uns liegt, dass der Fliegenpilz giftig, der Steinpilz aber essbar ist. Dies liegt auch an der jeweiligen chemischen Beschaffenheit dieser beiden Pilze. Anders als in der Pilzanalogie können wir laut Kant allerdings überhaupt keine der subjektunabhängigen Eigenschaften der von uns wahrgenommen Gegenständeerkennen und also auch von keiner solchen Eigenschaft wissen, dass sie der Grund dafür ist, dass uns das Ding auf die-und-die Weise erscheint. Und genau dies besagt seine These von der Uner­ kennbarkeit der Dinge an sich. (ebd. 24) In diesem Zitat sieht man deutlich, dass Rosefeldt die »Ersch./ D.a.s.«-Unterscheidung vom Gegenstand als Eigenschaft des Gegen­

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6. Die Lesart der ›empirischen Unterscheidung‹

standes versteht. So wird die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung von Kant nicht mehr als eine ontologische Unterscheidung zwischen zwei Entitäten oder zwei Perspektiven eines Dinges, sondern als eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Eigenschaften eines Dinges interpretiert. Das Verhältnis zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« wird von Rosefeldt so behandelt, als ob die subjektunabhängige Eigen­ schaft »mitverantwortlich« für die subjektabhängige Eigenschaft sei. Der Fliegenpilz habe eine subjektabhängige Eigenschaft: ›giftig für uns‹, aber diese Eigenschaft setze eine subjektunabhängige Eigen­ schaft ›giftig an sich‹ voraus.24 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rosefeldt zunächst ein und denselben Gegenstand wie in der Zwei-Perspektiven-Lesart annimmt. Er unterscheidet anschließend zwei ontologische Arten von Eigenschaften: subjektabhängig und subjektunabhängig. Dem­ entsprechend baut Rosefeldt seine These mit Kants These der Uner­ kennbarkeit des »Dings an sich« so auf, dass die subjektunabhängigen Eigenschaften uns unbekannt sind, während die subjektabhängigen Eigenschaften uns bekannt sind. Schließlich ist der unbekannte Teil dieses Gegenstandes der Grund für den bekannten Teil, letztlich für den Gegenstand im Ganzen.

6. Die Lesart der ›empirischen Unterscheidung‹ Im empirischen Sinn wird die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung so verstanden, dass die Erscheinungen eines Dinges, die wesentlich sind und für jeden menschlichen Sinn überhaupt gelten, von demjenigen, was nur in zufälliger Weise besteht und auf eine besondere Stellung oder Organisation eines Sinnes gültig ist, unterschieden werden (vgl. A 45/B 62). In der jüngsten Zeit wird die »Ersch./D.a.s.«-Unterschei­ dung von dem Neuen Realismus, wie Gabriel die Grundüberzeugung seiner Position nennt, als eine ›empirische Unterscheidung‹ interpre­ tiert. 24 Natürlich ist »giftig zu sein« nur im analogischen Sinn in Bezug auf die subjektun­ abhängige Eigenschaft gemeint, wie Rosefeldt sagt: »Anders als in der Pilzanalogie können wir laut Kant allerdings überhaupt keine der subjektunabhängigen Eigen­ schaften der von uns wahrgenommen Gegenstände erkennen.« (Rosefeldt 2012: 24).

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Erstes Kapitel: Exemplarische Positionen der Forschung und ihre Thesen

Der Neue Realismus wird von Gabriel als ein Gegenentwurf zu Kants vermeintlichem Konstruktivismus bezeichnet. Gabriel zufolge gründet der Konstruktivismus auf der Annahme, dass es überhaupt keine Fakten, keine Tatsachen an sich gebe und alle Tatsachen nur durch menschliche »vielfältige Diskurse oder wissenschaftliche Methoden« konstruiert würden (Gabriel 2013: 11). Um den Neuen Realismus als eine neue und angemessenere Einstellung zur Welt zu vermitteln, skizziert Gabriel in seinem Buch Warum es die Welt nicht gibt das von ihm sogenannte Vesuv-Beispiel. »Nehmen wir an, Astrid befinde sich gerade in Sorrent und sehe den Vesuv, während wir (also Sie, lieber Leser, und ich) gerade in Neapel sind und ebenfalls den Vesuv betrachten« (Gabriel 2013: 14). An diesem Beispiel versucht Gabriel drei Position zu verdeutlichen. Eine metaphysische Position25 würde seiner Ansicht nach behaupten, dass der Vesuv in diesem Szenario der einzige wirkliche Gegenstand ist. Der Konstruktivismus (dem Gabriel auch Kants Theorie zurechnet) nimmt demgegenüber an, dass es drei Gegenstände gibt: den Vesuv für Astrid, den Vesuv und den Vesuv des Lesers. »Dahinter gebe es entweder überhaupt keinen Gegenstand oder doch keinen Gegenstand, den wir jemals zu erken­ nen hoffen könnten« (ebd. 14). Der Neue Realismus versucht nun, Metaphysik und Konstruktivismus in gewisser Hinsicht »zusammen­ zuzählen«, denn diesem zufolge gibt es »mindestens vier Gegen­ stände«: den Vesuv, den Vesuv von Sorrent aus gesehen (Astrids Perspektive), den Vesuv von Neapel aus gesehen (die Perspektive des Autors) und den Vesuv von Neapel aus gesehen (die Perspektive des Lesers). Während Gabriel hinsichtlich der Wirklichkeit die Metaphy­ sik als eine »Welt ohne Zuschauer« und den Konstruktivismus als »die Welt der Zuschauer« bezeichnet, charakterisiert er seinen Neuen Realismus als eine Lehre, in der »weder ausschließlich die Welt ohne Zuschauer noch ausschließlich die Welt der Zuschauer« entworfen wird (ebd. 15). Aus dieser Skizze wird deutlich, dass Gabriel Kants Theorie so versteht, dass darin der Vesuv als ein »Ding an sich« und die drei Perspektiven von verschiedenen Individuen als seine korrespondierenden und voneinander unterschiedenen »Erscheinun­ gen« betrachtet werden. Das menschliche Erkenntnisvermögen sei demzufolge weder in der Lage, den »Vesuv an sich« hinter seinen 25 In diesem Buch definiert Gabriel Metaphysik als den Versuch, »eine Theorie des Weltganzen zu entwickeln. Sie soll beschreiben, wie die Welt in Wirklichkeit ist, nicht, wie die Welt uns vorkommt, wie sie uns erscheint« (Gabriel 2013: 10f).

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6. Die Lesart der ›empirischen Unterscheidung‹

Erscheinungen zu erkennen, noch als Gegenstand anzunehmen. Eine etwas stärker diskursiv orientierte Argumentation in Bezug auf die Beziehung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« findet man in Gabriels Monographie Sinn und Existenz: Eine realistische Ontologie: Meines Erachtens bestünde das angemessene Phänomenalisierungs­ modell unter kantischen Prämissen genau darin, Erscheinungen als unproblematischen Zugang zu Aspekten von Dingen an sich aufzufas­ sen. Erscheinungen wären nicht ein Aspekt neben anderen, sondern diejenigen Aspekte, unter denen uns Dinge an sich erscheinen. Die­ ses Modell wäre keine Zwei-Aspekte-Theorie, sondern eine Theorie, der zufolge Aspekte sich auf Dinge an sich unter einer bestimmten Beschreibung beziehen, weil sie schlichtweg Eigenschaften dieser Dinge sind. Man gewinnt demnach keinen besseren Einblick in die Dinge an sich, wenn man von allen Beschreibungen abstrahiert, die an unsere Formen der Rezeptivität gebunden sind, weil unsere Formen bereits unproblematisch geeignet dafür sind, Dinge an sich aspekthaft zu erfassen. Dieses Modell wäre auch keine Zwei-Welten-Theorie, da Dinge an sich nicht zu einer Welt gehörten, die jenseits unserer kogniti­ ven Reichweite läge. Dinge an sich hätten nicht weniger Eigenschaften als diejenigen, die wir mit artspezifischen Beschreibungen ausdrücken, sondern mehr Eigenschaften, als wir aufgrund unserer Endlichkeit – das heißt aufgrund unserer artspezifischen kognitiven Ausstattung – erkennend erfassen können. (Gabriel 2016: 111; Hervorhebung durch den Verfasser)

An dieser Stelle zeigt sich, dass Kants »Dinge an sich« für Gabriel »aperspektivische Entitäten« (ebd. 457) sind. Sie seien so gesehen »wahre Beschreibungen« (ebd. 325) und »affizieren uns« (ebd. 104). Weiter soll sogar »jede wahre Erkenntnis […] Erkenntnis eines Dinges an sich (oder einer Tatsache an sich)« (Gabriel 2013: 154) sein. »Ding an sich« ist nach Gabriels Verständnis also der aper­ spektivische Status von einem Ding, und seine »Erscheinung« ist entsprechend eine perspektivische Begrenzung desselben. Weil eine unzählbare Anzahl an unterschiedlichen Perspektiven auf ein Ding gegeben werden kann, ist es in zahllosen Erscheinungen präsent, die sich aber alle auf dasselbe Ding beziehen. Dieses Ding wird von Gabriel »Ding an sich« genannt.

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Erstes Kapitel: Exemplarische Positionen der Forschung und ihre Thesen

7. Kritische Zusammenfassung der repräsentativen Positionen Aus der vorangegangenen Skizze wird deutlich, dass die Interpretatio­ nen des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« höchst unterschiedlich ausfal­ len können. Alle hier vorgestellten Interpretationen berufen sich zwar auf Kants Texte und nehmen zur Stützung ihrer Argumentationen mitunter sogar dieselben Stellen in Anspruch, doch sie unterscheiden sich inhaltlich gravierend voreinander. Alle Interpretationen drehen sich thematisch um P1 (die Unterscheidung zwischen »Ersch.« und »D.a.s.«) und P2 (»D.a.s.« als das Zugrundeliegende der »Ersch.«). Die Schwierigkeit, das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« zu interpretieren, liegt hauptsächlich darin, eine Interpretation zu finden, die für P1 und P2 konsistent ist (vgl. Einleitung der vorliegenden Arbeit). Wollte man dies weiter ausführen, ließen sich vier thematische Schwerpunkte festlegen, die in den vorgestellten Interpretationen dieses Kapitels auf verschiedene Weise bearbeitet werden. Diese the­ matischen Schwerpunkte sollen im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit als Anhaltspunkte dienen, um am Ende diesen Interpretations­ linien eine weitere Lesart des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.«, die ich im Folgenden zu entwickeln versuche, entgegenzustellen. #1: Die zwei von allen verhandelten Interpretationen anerkannten Bestimmungen des »Dings an sich« lauten, dass es unerkennbar und denknotwendig ist. Aus diesen beiden Bestimmungen leiten viele Interpreten eine Bezie­ hung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« ab. Die Gemein­ samkeit der verschiedenen Lesarten (außer dem Neukantianismus) besteht darin, dass ihnen zufolge die »Erscheinung« und das »Ding an sich« auf Gegenstände der Sinne bezogen seien. Davon unabhängig ist dann die weitere Entscheidung darüber, ob die »Erscheinung« und das »Ding an sich« im Sinn von zwei Entitäten (bei der Zwei-WeltenLesart), zwei Perspektiven eines Dinges (bei der Zwei-PerspektivenLesart) oder zwei Arten von Beschaffenheiten (Lesart von Rosefeldt) interpretiert werden müssen. #2: Die Rede von »Ding an sich« wird als Angabe einer Ursache oder eines Grundes der Erscheinung gedeutet. Davon unabhängig ist die Entscheidung, ob das »Ding an sich« im ontologischen Sinn (Zwei-Welten-Lesart; Adickes) oder im erkennt­

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7. Kritische Zusammenfassung der repräsentativen Positionen

nistheoretischen Sinn (Cohen) oder im empirischen Sinn (Gabriel) verstanden werden kann. Lediglich im Rahmen der Zwei-Perspekti­ ven-Lesart ist dieses Verhältnis dann umgekehrt: Hier wird das »Ding an sich« nicht als der Grund der »Erscheinung« genommen, sondern als Resultat einer transzendentalphilosophischen Reflexion auf die Erscheinung bestimmt. #3: Kann man das »Ding an sich« mit transzendentalem Gegen­ stand und Noumenon gleichsetzen? Diese Frage lässt sich bei Cohen und der Zwei-Welten-Lesart positiv beantworten. Im Unterschied dazu wird sie im Rahmen einer Zwei-Perspektiven Lesart verneint. #4: Das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« tritt bei Kant in verschiedenen Kontexten seiner Philosophie auf (erkenntnistheoretisch, im übersinnlichen Feld, praktisch), woraus sich wiederum jeweils verschiedene Lesarten ergeben haben, die möglicherweise aber nur im Rahmen der jeweiligen Kontexte zur Anwendung gebracht werden können. Die oben verhandelten Ansätze reflektieren die­ ses Problem nicht. Entweder behandeln die Autoren das Begriffs­ paar »Ersch./D.a.s.« bloß aus der erkenntnistheoretischen Per­ spektive oder sie übertragen ihre verkürzte Lesart einfach auf die gesamte kritische Philosophie Kants. Interpretatorisch bleibt aber gerade die Herausforderung, eine konsequente und schlüssige Rekonstruktion und Lesart zum Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« zu entwickeln, die sich auf alle Teile der kritischen Philosophie Kants anwenden lässt.

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Teil 1: Die kosmologische Antinomie ist der Mittelpunkt der Metaphysikkritik Kants

Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik und der Rolle des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«

Im letzten Kapitel wurde gezeigt, dass sich die Unterschiede der ver­ schiedenen Rezeptionen des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« besonders deutlich bei der Beantwortung der Frage zeigen, welche Absicht Kant mit seinem Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft verfolgt hat. Zum Beispiel versteht der Neukantianismus die KrV als die Rechtfertigung der Naturwissenschaft, während die Autoren der metaphysischen Rezeption, wie Wundt, Martin und Heimsoeth, Kants Kritik als Begründung einer neuen Metaphysik verstehen. Daraus folgt, dass der Neukantianismus den Begriff »Ding an sich« als Grenzbegriff26 versteht und die metaphysische Rezeption ihn als intelligible Welt, die von der sinnlichen Welt ontologisch verschieden ist, betrachtet. Im Folgenden nenne ich dies die Ansichts-Problematik. Weiter wurde im letzten Kapitel festgestellt, dass die meisten Rezeptionen das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« auf Kants Erkenntnistheorie beziehen, ohne sich darum zu kümmern, welche Rolle dieses Begriffspaar bei der Ideenlehre Kants (welche Kant in der transzendentalen Dialektik der KrV thematisiert) und seiner praktischen Philosophie spielt. Zweifellos spielt das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« auch in der Ideen­ lehre eine Rolle und gilt als eine Voraussetzung der praktischen Philosophie Kants: Ohne jene Denkmöglichkeit der Freiheit, die Kant durch die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung begründet, steht die Idee der Freiheit mit der Naturnotwendigkeit im Widerspruch. Daher ist es fragwürdig, ob eine Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.«, die nur auf einen Teil der kantischen Philosophie bezogen ist (in der Rezeptionsgeschichte zumeist die Erkenntnistheorie), angemessen sein kann. Im Folgenden nenne ich dies die Vollständigkeits-Problema­ tik. 26 Vgl. Abschnitt 1.2 des ersten Kapitels: Cohen und das »Ding an sich« als Grenzbe­ griff.

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Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik

Daraus folgt, dass die Erkenntnistheorie, Ideenlehre und die praktische Philosophie bei Kant nicht vereinzelt betrachtet werden, sondern unter der Metaphysikkritik als eine Ganzheit subsumiert werden, wie ich es in diesem Kapitel darzulegen beabsichtige.27 Wich­ tig ist, dass die Kontinuität der Bedeutung des Begriffspaars »Ersch./ D.a.s.« im Kontext dieser Ganzheit darzulegen ist. In diesem Kapitel beschäftige ich mich daher mit der Frage: Welcher Bezug besteht zwischen dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« und der Metaphysikkritik Kants? Daher beschäftige ich mich weniger mit den üblicherweise zitierten Stellen in Bezug auf das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.«, son­ dern mit den genannten Ansichts- und Vollständigkeits-Problema­ tiken, um dadurch die Rolle des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« im kantischen System zu erhellen. Dieses Kapitel dient als eine Vor­ überlegung für eine systematische Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.«. Im ersten und zweiten Abschnitt beschäftige ich mich mit der Ansichts-Problematik, also der Frage, welches Motiv Kant in der KrV bzw. in den Prol. verfolgt. Meine These ist, dass sowohl die Erkenntnistheorie als auch die Ideenlehre zu Kants Metaphysikkritik gehören. Man sieht Kants metaphysikkritisches Motiv deutlicher, wenn man den Zusammenhang der verschiedenen Abhandlungen begreift. In Abschnitt 1 wird Kants Verständnis der Metaphysik im systematischen und historischen Sinn skizziert. In Abschnitt 2 wird eine Präzisierung der kantischen Metaphysikkritik dargelegt, der zufolge Kants Kritik an der Metaphysik eigentlich als eine Kritik der Erkenntnisvermögen und ihrer Begriffe zu verstehen ist. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels beschäftige ich mich mit der Vollständigkeits-Problematik, die sich an folgender Frage zeigt: Befin­ det sich das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« in der gesamten Metaphysik­ kritik oder nur in einem Teil davon? Meine These hierzu ist, dass das Die kritische Philosophie bzw. die Kritik der reinen Vernunft als eine Metaphysik­ kritik zu interpretieren, sei laut M. Baum »eine zwar weitbekannte, aber offenbar auch uninteressante Tatsache« (Baum 1986: 175). Diese Aussage von Baum ist eher eine allgemeine Widerlegung des Neukantianismus, der die KrV als eine Theorie der Erfahrung deutet. In dieser Arbeit werde ich in Bezug auf meine Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« die kritische Philosophie Kants als eine Metaphysikkri­ tik interpretieren. Diese Metaphysikkritik wird zweifach eingeteilt: das Angriffsziel der Metaphysikkritik und das Resultat der Metaphysikkritik. Die beiden werden durch eine Auseinandersetzung der unterschiedlichen Arten des Gebrauchs der Denkvermö­ gen (Verstand und Vernunft) präzisiert. Dadurch wird die kritische Philosophie m. E. als eine Metaphysikkritik ausgeführt. 27

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1. Kants Verständnis der Metaphysik im systematischen und historischen Sinn

Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« in seinem Vorkommen in der ganzen Metaphysikkritik interpretiert werden muss. Dieses ist sowohl in der Erkenntnistheorie als auch in der Ideenlehre sowie in der praktischen Philosophie vorhanden. Dadurch versuche ich einen anderen Weg zur Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« zu finden, der nicht mit der sprachlichen Analyse der einschlägigen Stellen anfängt, son­ dern mit einem angemessenen Verständnis der kritischen Philosophie (besonders in Bezug auf die Beziehung zwischen der Erkenntnistheo­ rie und Ideenlehre), damit man das Vorhandensein des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« in der ganzen kritischen Philosophie Kants (nicht nur in der Erkenntnistheorie) einordnen kann. Dementsprechend ist dieses Kapitel so gegliedert, dass (in Abschnitt 1) Kants Verständnis der Metaphysik zunächst vergegen­ wärtigt wird. Danach (in Abschnitt 2) versuche ich zu zeigen, dass Kant seine Metaphysikkritik zu einer Kritik der Erkenntnisvermögen (im weiteren Sinn) bzw. ihrer Begriffe präzisiert. Dadurch werden sowohl die Erkenntnistheorie als auch die Ideenlehre Kants Metaphy­ sikkritik untergeordnet. Es wird gezeigt, dass eine wirklich praktische Philosophie (im moralisch-praktischen, nicht technisch-praktischen Sinn) aufgrund dieser Metaphysikkritik möglich ist. Schließlich (in Abschnitt 3) möchte ich das Vorhandensein des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« in dieser Metaphysikkritik aufzeigen und in drei Themenbereiche der kantischen Philosophie (Erkenntnistheorie, Ide­ enlehre und praktische Philosophie) einordnen.

1. Kants Verständnis der Metaphysik im systematischen und historischen Sinn In diesem Abschnitt werde ich Problemkomplexe in zwei Unterab­ schnitten bearbeiten. Zuerst (1.1) möchte ich Kants Auffassung der Metaphysik vergegenwärtigen, die für eine systematische Einordnung von Kants Verständnis der Metaphysik notwendig ist. Danach (1.2) betrachte ich Kants Metapher »Metaphysik als Kampfplatz«, die sich vor allem in den beiden Vorreden der KrV findet, um herauszuarbei­ ten, wie Kant mit der Metaphysik im historischen Sinn umgeht.

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Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik

1.1 Systematisierung der Metaphysik durch die natürliche Tendenz der Vernunft und die Relation »Bedingt/Unbedingt« Im diesem Unterabschnitt werden zwei Thesen diskutiert. Die erste These ist, dass die natürliche Tendenz der Vernunft vom Sinnlichen zum Übersinnlichen durch die Relation »Bedingt/Unbedingt« ausge­ drückt wird. Die zweite These ist, dass alle metaphysischen Themen auf diese Relation bezogen werden können. Man kann sowohl die theoretische als auch die praktische Philosophie Kants (oder die the­ menorientierte Einteilung der kantischen Philosophie: Erkenntnis­ theorie, Ideenlehre und praktische Philosophie) aus der Perspektive dieser Relation betrachten. Bevor ich im Folgenden die beiden Thesen ausführe, möchte ich kurz auf die Bedeutung der Kategorien (bzw. der Verstandesbegriffe) eingehen. Die von Kant behauptete Vollständigkeit28 der Verstandes­ begriffe bzw. der Kategorien ist wichtig, insofern alle Thesen der tradi­ tionellen Metaphysik dadurch auf die Relation »Bedingt/Unbedingt« bezogen werden können. Die Metaphysik habe, so Kants Diagnose, sich nur mit dem reinen Denken und seinen Begriffen beschäftigt (vgl. A XIV). Die Kategorien des Verstandes seien die vollständige Aufzählung der Funktionen des Denkens (vgl. A 79/B 105) und dabei die einzigen Begriffe, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen (vgl. A 290/B 346). Daher werden alle Tafeln in der (theoretischen und praktischen) Philosophie Kants durch die Tafel der Kategorien gebildet (vgl. AA04: 325). Im Folgenden wird verdeutlicht, dass sowohl das Bedingte als auch das Unbedingte durch die Kategorien und ihre Erweiterung im übersinnlichen Feld (als Vernunftideen; vgl. A 409/B 436) zu bestimmen sind. Zur ersten These. Durch die Relation »Bedingt/Unbedingt« wird man in die Lage versetzt, die Metaphysik und alle ihre Themen systematisch zu erfassen. So zumindest kann Kant verstanden wer­ den, wenn er in der Vorrede der ersten Auflage der KrV schreibt: »ich erkühne mich zu sagen, daß nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden« (A XIII). Im Folgenden versuche ich zuerst, Kants Gedanken zu verdeutlichen, dass die Metaphysik nicht mit den gegebenen Dingen, sondern nur 28 Das werde ich in Abschnitt »1. Kurze Erläuterung zur Urteilstafel und der Katego­ rien« im 4. Kapitel diskutieren.

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1. Kants Verständnis der Metaphysik im systematischen und historischen Sinn

mit der Vernunft zu tun hat. Dann wird gezeigt, dass die Steigerung der Vernunft vom Sinnlichen zum Übersinnlichen durch die Relation »Bedingt/Unbedingt« ausgedrückt wird. Letztlich werde ich zeigen, wie laut Kant alle metaphysischen Themen auf diese Relation bezo­ gen werden. Der Anspruch, dass alle metaphysischen Themen zu einer sys­ tematischen Einheit gebracht werden, stammt aus Kants Auseinan­ dersetzung mit der Schulmetaphysik, dass die Metaphysik lediglich »mit der Vernunft selbst und ihrem reinen Denken zu tun habe« (A XIV). Daher beschäftigt sich nach Kant jeder, der sich mit den ver­ schiedenen Themen der Metaphysik beschäftigt – wie etwa mit der Möglichkeit des freien Willens, der Beschaffenheit der Seele, oder der Existenz Gottes – reflektiert oder unreflektiert mit der Vernunft selbst29. Denn die Vernunft leitet uns auf solche Themen hin. Dieser Gedanke wurde von Kant im § 56 im Werk Prol. geäußert: denn wir haben es alsdann gar nicht mit der Natur oder überhaupt mit gegebenen Objecten, sondern blos mit Begriffen zu thun, die in unserer Vernunft lediglich ihren Ursprung haben, und mit bloßen Gedanken=Wesen, in Ansehung deren alle Aufgaben, die aus dem Begriffe derselben entspringen, müssen aufgelöset werden können, weil die Vernunft von ihrem eigenen Verfahren allerdings vollständige Rechenschaft geben kann und muß. Da die psychologische, kosmo­ logische und theologische Ideen lauter reine Vernunftbegriffe sind, die in keiner Erfahrung gegeben werden können, so sind uns die Fragen, die uns die Vernunft in Ansehung ihrer vorlegt, nicht durch die Gegenstände, sondern durch bloße Maximen der Vernunft um ihrer Selbstbefriedigung willen aufgegeben und müssen insgesammt hinreichend beantwortet werden können. (AA04: 349)

Vor dieser Überlegung schreibt Kant, dass viele Fragen nach den Eigenschaften der sinnlichen Gegenstände uns in vielerlei Hinsicht unbegreiflich seien. Z. B., wenn man nach der Existenz eines schwar­ zen Schwans fragt, jedoch nur weiße Schwäne gesehen hat, kann der schwarze Schwan nur gedacht werden. Die Existenz eines schwarzen 29 Vgl. auch AA04: 349, Anm.: »es klingt also nur paradox und ist übrigens nicht befremdlich, zu sagen, in der Natur sei uns vieles unbegreiflich (z. B. das Zeugungsver­ mögen), wenn wir aber noch höher steigen und selbst über die Natur hinaus gehen, so werde uns wieder alles begreiflich; denn wir verlassen alsdann ganz die Gegenstände, die uns gegeben werden können, und beschäftigen uns blos mit Ideen, bei denen wir das Gesetz, welches die Vernunft durch sie dem Verstande zu seinem Gebrauch in der Erfahrung vorschreibt, gar wohl begreifen können, weil es ihr eigenes Product ist.«

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Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik

Schwans kann nur bestätigt werden, wenn dieser wahrgenommen werden kann. Wenn wir aber vom Sinnlichen zum Übersinnlichen übergehen, sei alles wieder begreiflich. Denn, wie im ersten Satz dieses Zitats behauptet wird, haben wir nichts mit den Gegenständen der Erfahrung zu tun, sondern nur mit den Vernunftbegriffen. Sie sind »bloße […] Gedanken=Wesen«. Daher kann man behaupten, dass alle Themen, die auf den Vernunftideen beruhen, hinreichend beantwortet werden können, da uns die Themen »nicht durch die Gegenstände, sondern durch bloße Maximen der Vernunft« gegeben sind. Dieser Gedanke von Kant enthält schon seine Metaphysikkritik: die Vernunftideen bezeichnen die subjektive Notwendigkeit der Ver­ nunft, nicht die objektive (wie der Dogmatismus behauptet). Die Notwendigkeit, die Vernunftideen zu denken, bildet die Gemeinsamkeit der Position Kants und der des Dogmatismus.30 Die drei Klassen von Ideen (psychologische, kosmologische und theologi­ sche), die jenseits der Erfahrung liegen, bilden die drei Hauptstücke der transzendentalen Dialektik. Diese Ideen sind nicht willkürlich gedacht, sondern betreffen immer das »Bedürfnis der Vernunft«: Denn die menschliche Vernunft geht unaufhaltsam, ohne daß bloße Eitelkeit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfniß getrieben, bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungs­ gebrauch der Vernunft und daher entlehnte Principien beantwortet werden können; und so ist wirklich in allen Menschen, so bald Vernunft sich in ihnen bis zur Speculation erweitert, irgend eine Metaphysik zu aller Zeit gewesen und wird auch immer darin bleiben (B 21).

Dieses »Bedürfnis« der Vernunft macht die ›Wirklichkeit‹ der Meta­ physik aus. Man mag unterschiedliche Gedanken über die Metaphy­ sik haben, aber das »Bedürfnis« der Vernunft ist in der Tat »in allen Menschen« vorhanden. Dieses »Bedürfnis« der Vernunft wird von Kant als eine Steigerung der Vernunft vom Sinnlichen zum Übersinn­ lichen beschrieben: Sie [die menschliche Vernunft] fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entfernteren Bedingungen. Da sie aber gewahr wird, daß auf diese Art ihr Geschäfte jederzeit unvoll­ endet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören, so sieht sie sich 30 Der Empirismus verneint diese Notwendigkeit der Vernunftideen. Das wird in Unterabschnitt 1.2 dieses Kapitels näher betrachtet.

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1. Kants Verständnis der Metaphysik im systematischen und historischen Sinn

genöthigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen mögli­ chen Erfahrungsgebrauch überschreiten und gleichwohl so unverdäch­ tig scheinen, daß auch die gemeine Menschenvernunft damit im Ein­ verständnisse steht. Dadurch aber stürzt sie sich in Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen sie zwar abnehmen kann, daß irgendwo verborgene Irrthümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann, weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Gränze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probirstein der Erfahrung mehr anerkennen. Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik. (A VII f.; Ergänzung durch den Verfasser)

Nun lässt sich fragen, wie die Vernunft in der Metaphysik vom Sinn­ lichen zum Übersinnlichen aufsteigt. Es ist hilfreich, um diese Stei­ gerung der Vernunft zu verstehen, wenn man die Relation »Bedingt/ Unbedingt« ins Gespräch bringt. Am Anfang der transzendentalen Dialektik »von dem reinen Gebrauche der Vernunft« spricht Kant von der Aufgabe der Vernunft: »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird« (A 307/B 364). Diese Vollendungs-Aufgabe der Ver­ nunft spiegelt sich in dem zuvor angeführten Zitat zum »Bedürfnis« der Vernunft wider. Kant nennt diesen Satz die logische Maxime. Diese Maxime fungiert als ein Prinzip der reinen Vernunft: wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gege­ ben (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten). (A 307f/B 364)

Es wurde in diesem Zitat klar gezeigt, dass Kant das Verhältnis zwi­ schen dem Bedingten und Unbedingten durch einen hypothetischen Satz zu klären versucht: ›wenn das Bedingte gegeben ist, so ist das Unbedingte gegeben.‹ Die kritische Annahme dieses ›Grundsatzes der reinen Vernunft‹ Kants werde ich im dritten Kapitel weiter ausfüh­ ren. Im Zusammenhang der rationalen Kosmologie sieht man klar, dass das Bedingte sich auf das Sinnliche und das Unbedingte sich auf das Übersinnliche bezieht.31 Daher ist die Steigerung der Ver­ nunft vom Sinnlichen zum Übersinnlichen durch diesen ›Grundsatz‹ Denn in der Kosmologie geht es darum, »die Vernunft auf die objektive Synthesis der Erscheinungen« (A 406/B 433) anzuwenden. Das Bedingte bezieht sich hier auf die Erscheinung. Dieser Punkt wird im dritten Kapitel ausführlich dargestellt.

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Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik

(vom Bedingten zum Unbedingten aufzusteigen) der reinen Vernunft bestimmt. Also ist diese Steigerung nicht willkürlich und gesetzlos, sondern verläuft vom Bedingten durch seine Bedingungen zum Unbe­ dingten. Es ist hier noch nicht die Rede davon, ob dieser Grundsatz objektiv gültig ist. Deutlich ist jedoch, dass dieser Grundsatz und damit auch die Relation »Bedingt/Unbedingt« die Grundstruktur der kantischen Philosophie ausmacht. Dies wird in der zweiten These näher dargelegt. Die zweite These ist: Alle metaphysischen Themen können auf diese Relation bezogen werden. Der Bezug unterscheidet sich jedoch je nach metaphysischem Thema. Dies wird im Folgenden näher betrachtet. Die Relation »Bedingt/Unbedingt« spielt sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Philosophie Kants (bzw. in der themenorientierten Einteilung der kantischen Philosophie in Erkenntnistheorie, Ideenlehre und praktische Philosophie) eine wichtige Rolle. Im Folgenden wird gezeigt, dass die gesamte Struktur der KrV mit der Steigung der Vernunft bzw. der »Bedingt/Unbe­ dingt«-Relation in Verbindung gesetzt werden kann. Danach gebe ich eine Erklärung dafür, warum und wie die praktische Philosophie im Rahmen dieser Relation zu betrachten ist. Ich fange mit dem Zusammenhang zwischen der Ideenlehre (transzendentale Dialektik) und dem Unbedingten an. Danach wird der Zusammenhang zwischen der Erkenntnistheorie (transzendentale Ästhetik und Analytik) und dem Bedingten erläutert. Wenn man diese Steigerung der Vernunft vom Sinnlichen zum Übersinnlichen bei der Ideenlehre betrachtet, stimmt sie mit der Aufgabe der Ver­ nunft bzw. den dreifachen Ideen (psychologische, kosmologische und theologische) überein. Denn die Aufgabe der Vernunft ist »von der bedingten Synthesis, an die der Verstand jederzeit gebunden bleibt, zur unbedingten aufzusteigen, die er niemals erreichen kann« (A 333/B 390). Aus dieser Kontinuität vom Verstand zur Vernunft, vom Bedingten zum Unbedingten, folgt, dass es drei Klassen von Ideen gibt. Sie bilden die spezielle Metaphysik (metaphysica specialis)32. In 32 Historisch lässt sich sagen, dass Kants Einteilung der Metaphysik von der Schulp­ hilosophie geprägt ist (vgl. A 846/B 874). Dabei wird die Metaphysik als metaphysica generalis und metaphysica specialis eingeteilt. Die allgemeine Metaphysik (metaphy­ sica generalis) bezieht sich auf die Ontologie, die sich auf das Ding überhaupt bezieht. Die spezielle Metaphysik bezieht sich auf die rationale Psychologie, die rationale Kosmologie und die rationale Theologie. Über Kants Verständnis der Beziehung zwischen der allgemeinen und spezifischen Metaphysik gibt es nur wenige Belege

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der ersten geht es um die absolute Einheit des denkenden Subjekts, in der zweiten um die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung und in der dritten um die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt (vgl. A 334/B 391). Die Ideen liegen außerhalb der Grenzen der Erfahrung und beziehen sich auf die absolute Einheit bzw. das Unbedingte. Die drei Ideen bilden die ›Gegenstände‹ der spezifischen Metaphysik: Das denkende Subject ist der Gegenstand der Psychologie, der Inbe­ griff aller Erscheinungen (die Welt) der Gegenstand der Kosmologie, und das Ding, welches die oberste Bedingung der Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann, enthält (das Wesen aller Wesen), der Gegenstand der Theologie. Also giebt die reine Vernunft die Idee zu einer transscendentalen Seelenlehre (psychologia rationalis), zu einer transscendentalen Weltwissenschaft (cosmologia rationalis), endlich auch zu einer transscendentalen Gotteserkenntniß (theologia transscendentalis) an die Hand. (A 334f/B 391f)

Wie bereits erwähnt, werden die drei Klassen der Ideen von Kant aus den Kategorien hergeleitet. Die Unterthemen innerhalb der See­ lenlehre, der Kosmologie und der Theologie entsprechen laut Kant der Ordnung der Kategorien. Hier nehme ich nur die rationale Seelen­ lehre als Beispiel, um dieses Verhältnis zu erklären.33 In der rationalen Seelenlehre kennt man durch »die Topik der rationalen Seelenlehre« (A 344/B 402)34, die durch die Kategorien abgeleitet wird, alles, was in der rationalen Seelenlehre thematisiert werden kann:

in Kants Texten. In der Reflexion geht es darum, dass die allgemeine Metaphysik auf die Vernunft und ihre Begriffe ausgerichtet ist. Die spezielle Metaphysik bezieht sich darauf, dass die Vernunft auf die verschiedenen ›Objekte‹ angewendet wird (vgl. Refl. 4851; AA18: 09). Daher ist klar, dass die spezifische Metaphysik eigentlich eine Anwendung (›applicata‹) der allgemeinen Metaphysik ist (vgl. Refl. 4855). Über den historischen Ursprung und den ausführlichen philosophiegeschichtlichen Kontext der Gliederung der Metaphysik in eine metaphysica generalis und metaphysica specialis klärt der Artikel von Ernst Vollrath (1962) auf. 33 Die Themen der rationalen Kosmologie werde ich im dritten Kapitel ausführlich thematisieren. In der rationalen Theologie geht es nur um die Frage nach der Existenz Gottes. 34 »1. Die Seele ist Substanz. 2. Ihrer Qualität nach einfach. 3. Den verschiedenen Zeiten nach, in welchen sie da ist, numerisch=identisch, d.i. Einheit (nicht Vielheit). 4. Im Verhältnisse zu möglichen Gegenständen im Raume.« (A 344/B 402; diese Elemente sind bei Kant grafisch angeordnet, sodass sich eine Hierarchie ergibt. 1. ist übergeordnet, 2. und 3. befinden sich auf derselben Ebene und 4. ist untergeordnet.).

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Aus diesen Elementen [der Topik der rationalen Seelenlehre] entsprin­ gen alle Begriffe der reinen Seelenlehre lediglich durch die Zusam­ mensetzung, ohne im mindesten ein anderes Principium zu erkennen. Diese Substanz bloß als Gegenstand des inneren Sinnes giebt den Begriff der Immaterialität, als einfache Substanz der Incorruptibilität, die Identität derselben als intellectueller Substanz giebt die Personali­ tät, alle diese drei Stücke zusammen die Spiritualität; das Verhältniß zu den Gegenständen im Raume giebt das Commercium mit Körpern; mithin stellt sie die denkende Substanz als das Principium des Lebens in der Materie, d. i. sie als Seele (anima) und als den Grund der Ani­ malität, vor, diese, durch die Spiritualität eingeschränkt, Immortalität. (A 345/B 402; obige erläuternde Ergänzung und Hervorhebung durch den Verfasser)

Alle Begriffe, die in der rationalen Seelenlehre thematisiert werden, können durch die Zusammensetzung der vier ›Elemente‹ erkannt werden. Sie scheinen zu den unterschiedlichen Bereichen der Meta­ physik oder Philosophie zu gehören. Aber sie beziehen sich laut Kant eigentlich nur auf das Unbedingte, das das »Bedürfnis« der reinen Vernunft ausmacht. Daher ist klar, dass sich das übersinnliche Feld (das Unbedingte) auf die spezifische Metaphysik bezieht. Was hat dann das Bedingte mit der allgemeinen Metaphysik zu tun? Das Aufsteigen vom Bedingten zum Unbedingten ist analog zu der Steigerung der Vernunft vom Sinnlichen zum Übersinnlichen.35 Die Frage nach dem Unbedingten fängt immer mit dem gegebenen Bedingten an, das mit dem Verstand zu tun hat.36 Dieses gegebene Bedingte bezieht sich aber nur auf die Gegenstände der Sinne, die sich auf die rationale Kosmologie beziehen. Das Bedingte bei den anderen Ideen (Seele und Gott) ist nicht sinnlich gegeben, sondern nur auf transzendentale Begriffe bezogen: das Bedingte bei der Seele ist der »transsendentale […] Begriff[…] des Subjects« (A 340/B 397f). Das Bedingte bei Gott ist der transzendentale Begriff der »Gegenstände

35 Vgl. Refl. 6358: »Das Übersinnliche ist zu erforschen, ist also unausweichliche Auf­ gabe der Vernunft, was ausser mir oder in mir als nothwendig existirend angenommen werden muß, wenn nicht in theoretischer, doch in moralisch-practischer Rücksicht. Gott und Unsterblichkeit, welche durch das Gesetz der Freyheit (Moralität). Alle Phi­ losophie geht auf diese Puncte hinaus, nämlich vom Sinnlichen zum Ubersinnlichen zu streben (Metaphysik)« (AA18: 685). 36 Vgl. A 333/B 390: »daß in allen ihr Geschäfte [Geschäfte der Vernunft] sei, von der bedingten Synthesis, an die der Verstand jederzeit gebunden bleibt, zur unbedingten aufzusteigen, die er niemals erreichen kann.«

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überhaupt« (A 340/B 398). Die Besonderheit des Bedingten bei der rationalen Kosmologie macht die Antinomie im übersinnlichen Feld aus. Damit beginnt Kant seine Kritik der Vernunft. Die Ursache der Antinomie liegt im sinnlichen Feld. Das bedeutet, dass die problema­ tische Bestimmungsweise des Bedingten (als sinnlich Gegebenes) die Antinomie ausmacht.37 Daher beschäftigt Kant sich in ausführlich gestalteten Kapiteln, in der transzendentalen Ästhetik und Analytik, mit dem Bedingten. Dazu merkt Kant in der B-Einleitung der KrV an: [D]a es denn, wenn sie [die Vernunft] zuvor ihr eigen Vermögen in Ansehung der Gegenstände, die ihr in der Erfahrung vorkom­ men mögen, vollständig hat kennen lernen, leicht werden muß, den Umfang und die Grenzen ihres über alle Erfahrungsgrenzen versuch­ ten Gebrauchs vollständig und sicher zu bestimmen. (B 23; Ergänzung durch den Verfasser)38

Man könne nach Kant die Fähigkeit der Vernunft (im weiteren Sinne) im übersinnlichen Feld vollständig und sicher bestimmen, wenn man zuvor ihre Fähigkeit im sinnlichen Feld vollständig kenne. Dies soll kurz erklärt werden: die beiden durch Kants Kritik bestimmten Bedingungen der Erkenntnis sind Anschauung und Verstandesbegriff a priori, die mit den Bedingungen der allgemeinen Aufgabe der reinen Vernunft, der Beantwortung der Frage: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« (B 19), gleichzusetzen sind. Im übersinnlichen Feld fehlt die Bedingung der Anschauung. Damit sind synthetische Urteile a priori in diesem Feld (im theoretischen Kontext) auch nicht möglich. Die Vernunftbegriffe, die von Kant als ins Unbedingte erweiterte Verstandesbegriffe erfasst werden (vgl. A 409/B 436), schaffen allein keine Erkenntnis. Daher ist ersichtlich, dass die Ästhetik und Analytik keine geringe Rolle bei der Steigerung der Vernunft spielen. Man kann die »Bedingt/Unbedingt«-Relation mit den Themen­ komplexen der KrV in dem Sinne zusammenbringen, dass sich das

Dies werde ich im dritten Kapitel ausführlich thematisieren. Der Kontext dieses Zitats ist, dass die Kritik der Vernunft als ein Projekt nicht »von großer abschreckender Weitläuftigkeit« (B 23) sein kann. Denn sie hat nichts mit »Objekten der Vernunft« zu tun, sondern mit sich selbst, »mit Aufgaben, die ganz aus ihrem Schoße entspringen, und ihr nicht durch die Natur der Dinge, die von ihr unterschieden sind, sondern durch ihre eigene vorgelegt sind« (ebd.). Damit kann man auch die Hauptthese dieses Abschnitts bestätigen, dass die Metaphysik die Natur der Vernunft ausdrückt. 37

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Bedingte auf die transzendentale Ästhetik und Analytik und das Unbe­ dingte auf die transzendentale Dialektik bezieht39. Die Steigerung der Vernunft bzw. die »Bedingt/Unbedingt«Relation bildet das Essenzielle der Metaphysik. Das bedeutet, dass alle metaphysischen Themen notwendigerweise an diese Steigerung (der »Bedingt/Unbedingt«-Relation) gebunden sind. Aber das bedeutet nicht, dass man deswegen fehlerfrei Metaphysik betreiben könne, ohne dass weitere Kritik benötigt würde. Vielmehr besteht in Bezug auf die »Bedingt/Unbedingt«-Relation folgende Gefahr: Wenn man das Bedingte nicht richtig bestimmt, bestimmt man das Unbedingte auch nicht richtig. Es wird sich im Verlauf dieser Arbeit zeigen, auf welche Weise die Entfaltung dieses Punkts zum Verständnis des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« beiträgt. Ich werde diesen Punkt hier am Beispiel des Begriffs der Kausalität kurz erklären. Man versuchte in der vorkantischen Philosophie den Begriff der Kausalität40 als Mittel oder Beweisgrund für den übersinnlichen Erkenntnisanspruch zu verwenden.41 Demgegenüber beschränkt Kant durch seine Kritik die Gültigkeit des Begriffs der Kausalität auf das sinnliche Feld. Die Kausalität als ein Grundsatz im sinnlichen Feld ist so gesehen eher ein Resultat der Metaphysikkritik als eine originäre »Erfindung« Kants. So verhält es sich mit den Grundsätzen (Substanz und Gemeinschaft) in der kantischen Erkenntnistheorie. Der Kritikpunkt ist hier laut Kant, dass man die Gebrauchsbedingungen solcher Grundsätze im sinnlichen Feld (in Bezug auf das Bedingte) verkenne. Die Gebrauchs­ bedingungen bestünden darin, dass nicht nur die Begriffe a priori, sondern auch die Anschauung a priori im Gebrauch der Grundsätze notwendig seien. Daher kenne die vorkantische Philosophie auch 39 Die zwei Teile der Metaphysik, die Kant in der B-Vorrede der KrV thematisiert, erklärt auch diese Steigerung der Vernunft vom Sinnlichen zum Übersinnlichen. Dort spricht Kant davon, dass die Metaphysik aus zwei Teilen besteht, im ersten geht es um die Gegenstände der Sinne und im zweiten um das Feld des Übersinnlichen. Am wichtigsten ist, dass der zweite Teil »die wesentlichste Angelegenheit dieser Wissenschaft [der Metaphysik] ist« (B XIX). Eine ausführliche Analyse der zwei Teile der Metaphysik findet sich in Abschnitt 2.3 dieses Kapitels unter dem Titel »Drei Schichten in der Umänderung der Denkart und die zwei Teile der Metaphysik«. 40 Kants kritische Beschäftigung mit der Kausalität ist historisch als eine Ausein­ andersetzung mit dem Satz vom zureichenden Grund zu betrachten (vgl. Esser 2021: 48f). 41 Als Beispiel soll hier die Kausalität im kosmologischen Gottesbeweis (Vgl. A 604 / B 632) genannt sein. Dieses Beispiel wird in Unterabschnitt 2.2 (in diesem Kapitel) »D Analytisches/synthetisches Urteil« ausführlich behandelt.

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nicht den Geltungs- und Grenzbereich der Grundsätze (Substanz, Kausalität und Gemeinschaft42). Meine These, die in diesem Unterkapitel vorgestellt und im Verlauf der Arbeit immer weiter begründet wird, lautet: Wenn man das Bedingte nicht richtig bestimmt, bestimmt man auch das Unbedingte nicht richtig. Die vorkantische Philosophie beachtet die Gebrauchsbedingungen dieser Grundsätze im sinnlichen Feld (in Bezug auf das Bedingte) nicht. Daher kann man der vorkantischen Philosophie einen problematischen Gebrauch der Grundsätze im übersinnlichen Feld (in Bezug auf das Unbedingte) vorwerfen. Im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit wird gezeigt, dass die proble­ matischen Bestimmungsweise des Unbedingten durch die kosmologi­ sche Antinomie ausgedrückt wird, wobei man über die Gegebenheit des Unbedingten zwei kontradiktorische Behauptungen aufstellen kann. Diese Gegebenheit des Unbedingten setzt aber die problema­ tische Bestimmungsweise des Bedingten voraus, die sich auf die Gegenstände der Sinne bezieht. Beide (Gegebenheit des Unbedingten und die problematische Bedingungsweise des Bedingten) machen den Gegenstand der Metaphysikkritik aus. Demgegenüber machen die Nicht-Gegebenheit des Unbedingten und die von Kant berechtigte Bestimmungsweise des Bedingten die Resultate der Metaphysikkri­ tik aus. Diese These kann man auch auf die Denkvermögen bei Kant anwenden, indem man das sinnliche Feld (das Bedingte) auf den Ver­ stand und das übersinnliche Feld (das Unbedingte) auf die Vernunft bezieht. Darauf aufbauend lässt sich folgende These formulieren: Wenn man den Verstandesgebrauch beim Bedingten nicht richtig bestimmt, bestimmt man auch den Vernunftgebrauch beim Unbe­ dingten nicht richtig. Einen Beleg dafür, dass Kants kritische Bemü­ hung nicht eine Rechtfertigung der Naturwissenschaft ist43, sondern dass er vielmehr aus dem Gebrauch der Denkvermögen (Verstand und Vernunft) Konsequenzen zieht, gibt es in § 44 der Prol., in dem Kant die Frage, wie Metaphysik überhaupt möglich sei, erörtert: Indessen würde doch unsre mühsame Analytik des Verstandes, wenn unsre Absicht auf nichts anders als bloße Naturerkenntniß, so wie sie in der Erfahrung gegeben werden kann, gerichtet wäre, auch ganz Zu den Grundsätzen vgl. A 159/B 198. Der Neukantianismus vertritt diese These. Vgl. das erste Kapitel der vorliegen­ den Arbeit.

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überflüssig sein; denn Vernunft verrichtet ihr Geschäfte sowohl in der Mathematik als Naturwissenschaft auch ohne alle diese subtile Deduction ganz sicher und gut: also vereinigt sich unsre Kritik des Verstandes mit den Ideen der reinen Vernunft zu einer Absicht, welche über den Erfahrungsgebrauch des Verstandes hinausgesetzt ist, von welchem wir doch oben gesagt haben, daß er in diesem Betracht gänz­ lich unmöglich und ohne Gegenstand oder Bedeutung sei. Es muß aber dennoch zwischen dem, was zur Natur der Vernunft und des Verstandes gehört, Einstimmung sein, und jene muß zur Vollkommenheit der letztern beitragen und kann sie unmöglich verwirren. (AA04: 331)

Die Vernunft (im weiteren Sinn) läuft »ganz sicher und gut« ohne ein kritisches Philosophieren. Die Mathematik und die ›reine Natur­ wissenschaft‹44 sind laut Kant schon »den sichern Weg einer Wis­ senschaft gegangen« (B X), ohne vorher eine Kritik der Vernunft benötigt zu haben, obwohl die Mathematik und die ›reine Naturwis­ senschaft‹ bei Kant als Vernunftwissenschaften gelten. Viele Natur­ forscher haben nach Kant sogar ein falsches Verständnis über die Zeit und den Raum.45 Daher haben sie auch ein problematisches Verständnis über die Gegenstände der Sinne. Aber ihre Arbeiten in der Mathematik und ›reinen Naturwissenschaft‹ sind deshalb nicht völlig sinnlos. Solange sie in ihrem Forschungsfeld bleiben, sind die metaphysisch-philosophischen Reflexionen über die ›Beschaffenheit‹ der Zeit und des Raums für die Richtigkeit ihrer Arbeiten irrelevant. Wenn sie aber mit ihrem falschen Verständnis über die Zeit und den Raum über die Grenze des sinnlichen Felds hinausgehen und über die metaphysischen Themen (im übersinnlichen Feld) Aussagen treffen möchten, so würde ein Widerstreit der Vernunft mit sich selbst stattfinden. Im Verlauf dieser Arbeit soll deutlich werden, dass dieser Widerstreit der Vernunft mit sich selbst in die kosmologische Antinomie führt. Die Ursache der Antinomie besteht letztlich darin, dass eine problematische Bestimmungsweise des Bedingten vorliegt. Das Bedingte bezieht sich auf den Verstand, die Bestimmungsweise Vgl. B X: »Mathematik und Physik sind die beiden theoretischen Erkenntnisse der Vernunft, welche ihre Objecte a priori bestimmen sollen, die erstere ganz rein, die zweite wenigstens zum Theil rein, dann aber auch nach Maßgabe anderer Erkennt­ nißquellen als der der Vernunft«. 45 Die mathematischen Naturforscher nehmen laut Kant gewöhnlich die Zeit und den Raum als zwei unendliche und ewige Dinge an, um alles Wirkliche in ihnen zu fassen, und einige metaphysische Naturlehrer nehmen dieselben als von der Erfahrung abstrahierte Verhältnisse der Erscheinungen (vgl. A 39f/B 56f). 44

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des Bedingten geschieht daher durch den Verstandesgebrauch. Wenn dieser Verstandesgebrauch problematisch wäre, würde die Bestim­ mungsweise des Bedingten auch problematisch. Dieses Problemati­ sche erstreckt sich aufgrund der Relation »Bedingt/Unbedingt« dann letztlich auch auf die Bestimmungsweise des Unbedingten. Dadurch wird ein problematischer Vernunftgebrauch verursacht. Das richtig bestimmte Unbedingte spielt nicht nur eine wichtige Rolle in der theoretischen Philosophie Kants, sondern bildet den Ausgangspunkt für die praktische Philosophie Kants. Das heißt, dass Kant das Unbedingte (wie Seele, Freiheit und Gott) im übersinnlichen Feld als denknotwendig und zwar theoretisch-unbestimmt begreift. Dies schafft einen »Platz« (B XXX) dafür, das Unbedingte praktisch zu bestimmen. Nun aber möchte ich kurz das Verhältnis zwischen der prakti­ schen Philosophie und der »Bedingt/Unbedingt«-Relation weiter betrachten. In Bezug auf dieses Verhältnis stellen sich zwei grund­ legende Fragestellungen: Die erste ist die Frage nach dem morali­ schen Bestimmungsgrund des Willens. Die zweite ist die nach dem höchsten Gut als der unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft. Eigentlich bezieht sich nur die zweite Fragestellung auf die »Bedingt/Unbedingt«-Relation, denn es geht in ihr um das Fortschreiten vom »Praktisch-Bedingten« (AA05: 108) zum Praktisch-Unbedingten (dem höchsten Gut). Die erste Fragestellung, die Frage nach dem moralischen Bestimmungsgrund des Willens, richtet sich nur auf das Unbedingte selbst, denn die empirischen Bestimmungsgründe des Willens, die dem Bedingten zugerechnet werden müssen, werden von Kant als nicht-moralische Bestimmungsgründe abgelehnt. Daher geht es bei der ersten Frage­ stellung nicht um ein Fortschreiten vom Bedingten zum Unbedingten, sondern um eine moralische Willensbestimmung im Bereich des Unbedingten, das im theoretisch-philosophischen Kontext von Kant als theoretisch-unbestimmt bezeichnet wird.46 Aus der Betrachtung der Struktur der KpV begründen die beiden Fragestellungen die beiden Teile der Elementarlehre (Analytik und Dialektik): die Analytik in der KpV bezieht sich auf den moralischen Bestimmungsgrund des Willens. Die Dialektik in der KpV bezieht sich auf das höchste Gut.

46 Wie bereits gesagt, werden von Kant empirische Bestimmungsgründe des Willens (im Bereich des Bedingten) abgelehnt.

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Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik

Nun haben wir festgestellt, dass es in der Metaphysik für Kant im systematischen Sinn um die Steigerung der Vernunft vom Sinnlichen zum Übersinnlichen geht. Diese Steigerung stimmt mit der Aufgabe der Vernunft überein, das Unbedingte aus dem gegebenen Bedingten zu suchen. Sowohl die theoretische als auch die praktische Philosophie Kants (sowie deren Zusammenhang) kann man unter der »Bedingt/ Unbedingt«-Relation betrachten.

1.2 Metaphysik als Kampfplatz: die endlose Streitigkeit der Metaphysik Beim letzten Unterabschnitt (1.1) wurde diskutiert, worum es in der Metaphysik laut Kant geht. Sie ist fokussiert auf die Steigerung der Vernunft vom Sinnlichen zum Übersinnlichen. In diesem Unterab­ schnitt wird auf die Metaphysik im historischen Sinn eingegangen. Kant sieht die Metaphysik im historischen Sinn als einen Kampfplatz, auf dem die endlose ›Streitigkeit‹ stattfindet. Diese ›Streitigkeit‹ in der Metaphysik handelt davon, ob und wie man die »übersinnliche Erkenntnis« erlangt. Man mag aus seinem eigenen Interesse etwas über das Übersinnliche behaupten, und der Gegner etwas Gegentei­ liges behaupten, aber es fehlt eine allgemeine Richtlinie, um zu beurteilen, ob die Behauptungen und die Gegenbehauptungen über das Übersinnliche gerechtfertigt sind. Daher sind die Metaphysik bzw. das Feld des Übersinnlichen ein Kampfplatz, »auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können« (B XV). Wer sind die Fechter auf diesem Kampfplatz? Betrachten wir diesbezüglich eine Stelle aus der A-Vorrede der KrV: Anfänglich war ihre Herrschaft, unter der Verwaltung der Dogmatiker, despotisch. Allein weil die Gesetzgebung noch die Spur der alten Barbarei an sich hatte, so artete sie durch innere Kriege nach und nach in völlige Anarchie aus, und die Sceptiker, eine Art Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen, zertrennten von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung. Da ihrer aber zum Glück nur wenige waren, so konnten sie nicht hindern, daß jene sie nicht immer aufs neue, obgleich nach keinem unter sich einstimmigen Plane, wieder anzubauen versuchten. (A IX)

Diese Stelle kann man als eine literarische Beschreibung der ›Fechter‹ in der Metaphysik ansehen. Dazu zählt Kant sowohl den Dogmatis­

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1. Kants Verständnis der Metaphysik im systematischen und historischen Sinn

mus als auch den Skeptizismus. Neben den beiden Schulen erwähnt Kant an dieser Stelle eine andere Denkweise. Das ist laut Kant der von Locke vertretene Empirismus. In neueren Zeiten schien es zwar einmal, als sollte allen diesen Strei­ tigkeiten durch eine gewisse Physiologie des menschlichen Verstandes (von dem berühmten Locke) ein Ende gemacht und die Rechtmäßigkeit jener Ansprüche völlig entschieden werden; es fand sich aber, daß, obgleich die Geburt jener vorgegebenen Königin aus dem Pöbel der gemeinen Erfahrung abgeleitet wurde und dadurch ihre Anmaßung mit Recht hätte verdächtig werden müssen, dennoch, weil diese Genealogie ihr in der That fälschlich angedichtet war, sie ihre Ansprüche noch immer behauptete, wodurch alles wiederum in den veralteten, wurm­ stichigen Dogmatism und daraus in die Geringschätzung verfiel, daraus man die Wissenschaft hatte ziehen wollen. (A IX f.)

In dieser Stelle spricht Kant von Lockes »Physiologie des mensch­ lichen Verstandes«. Es wurde bereits beschrieben, dass sich diese Streitigkeit auf das Feld des Übersinnlichen bezieht, das über alle Grenzen der Erfahrung hinausreicht und deshalb niemals bestätigt werden kann. Die Physiologie bei Locke löst nach Kants Verständnis diese Streitigkeit so auf, dass Locke die Vernunftideen und deren Grundsätze als das von der Erfahrung Abgeleitete betrachtet. Kant kritisiert daran, dass »diese Genealogie ihr [der Metaphysik] in der That fälschlich angedichtet« worden sei.47 Die Vernunftideen sind also nach Kant nicht von der Erfahrung abgeleitet, sondern apriorisch. Kant sieht Locke als einen inkonsequenten Philosophen an, weil er mit den Ideen, die er von der Erfahrung abgeleitet hat, auf Erkenntnisse in Bezug auf das Feld des Übersinnlichen erschließen will (vgl. B 127). Daher ist Locke Kant zufolge wieder ein »Dogmatiker«, weil er mit der Erkenntnis im sinnlichen Feld die Möglichkeit der Vernunftideen verneint. Kant schreibt hierzu, dass der Empirismus in Ansehung der Ideen selbst dogmatisch werde und dasjenige dreist verneine, was über der Sphäre seiner anschauenden Erkenntnisse sei (vgl. A 471/B 499). Nun haben wir durch Kants Auffassung in der A-Vorrede drei historische Positionen48 in Bezug auf die metaphysischen Fragen des 47 In seiner A-Vorrede der KrV beschreibt Kant, dass es eine Zeit gegeben habe, in der die Metaphysik die Königin aller Wissenschaften genannt wurde (Vgl. A VIII). 48 In der Antinomie spricht Kant von zwei Hauptpositionen, nämlich Dogmatismus und Empirismus. Als historische Modelle nimmt Kant dafür Platonismus und Epi­

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Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik

Übersinnlichen gesehen. Der Dogmatismus als erste Position geht davon aus, dass man die Erkenntnis über das Feld des Übersinnlichen erhalten kann. Unter den Dogmatikern jedoch findet sich auch keine Übereinstimmung, wie man diese Erkenntnis erhält. Die zweite Posi­ tion ist Skeptizismus, der die Behauptungen des Dogmatismus argu­ mentativ zurückweist. Die dritte Position ist die von Locke bzw. des Empirismus. Er geht davon aus, dass die Vernunftideen (die Kant als Seele, Welt und Gott im übersinnlichen Feld versteht) zu verneinen seien. Abgeleitet wird dies aus der Erfahrung.

2. Metaphysikkritik als Kritik der Erkenntnisvermögen und ihrer Begriffe Im letzten Abschnitt (1. Kants Verständnis der Metaphysik im syste­ matischen und historischen Sinn) wurde dargestellt, dass die Meta­ physik für Kant eine Naturanlage der menschlichen Vernunft ist. Eine unvermeidliche Tendenz sei demnach, dass die Vernunft wegen ihres »Bedürfnisses« (das Unbedingte zu suchen) vom Sinnlichen zum Übersinnlichen aufsteige. Beim Unterabschnitt 1.2 »Metaphysik als Kampfplatz« wurde außerdem ausgeführt, dass die unterschiedliche Metaphysikströmungen unterschiedliche Ansätze entwickelt haben. Nun ist die Frage für dieses Unterkapitel: Wie kann eine Meta­ physikkritik von Kant durchgeführt werden? Kant widerlegt nicht direkt unterschiedliche Behauptungen in der Metaphysik, sondern untersucht Erkenntnisvermögen, aus denen jene Behauptungen ent­ springen. Woher kennt man die Erkenntnisvermögen? Man kennt sie laut Kant durch Begriffe49. Und man bildet Behauptungen als Urteile durch Begriffe. Daher ist die kantische Metaphysikkritik so kureismus (vgl. A 472/B 499). Wo befindet sich dann der Skeptizismus? In der Methodenlehre der KrV spricht Kant von der Beziehung zwischen Skeptizismus und Dogmatismus, dass der Skeptiker »der Zuchtmeister des dogmatischen Vernünftlers auf eine gesunde Kritik des Verstandes und der Vernunft selbst« (A 769/B 797). Wenn der Dogmatiker »dahin gelanget ist, so hat er weiter keine Anfechtung zu fürchten« (ebd.). Daher sagt Kant, dass der Skeptizismus für die Vernunftfragen nicht befriedigend, sondern »vorübend« (ebd.) ist. Der Skeptizismus spielt also eher die Rolle, die Dogmatiker zu aufzuwecken, nicht die Rolle, die Lösung der Vernunftfragen selbst zu finden. 49 Hier sind zwei Punkte anzumerken. Erstens geht es um die Beziehung zwischen Erkenntnisvermögen und Begriff. Warum erkennt man die Erkenntnisvermögen durch Begriffe? Am Anfang der transzendentalen Analytik der KrV spricht Kant davon,

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2. Metaphysikkritik als Kritik der Erkenntnisvermögen und ihrer Begriffe

zu verstehen, dass man sie durch die Kritik der Begriffe und Urteile erreichen kann. In diesem Sinn spricht Kant in einem Brief an Garve (am 07.08.1783) davon, dass die KrV »die Critik einer a priori urtheilenden Vernunft« (AA10: 340) sei. Im Gegenzug dazu kritisiert Kant den Dogmatismus, der korrespondierend das dogmatische Ver­ fahren der reinen Vernunft »ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens« (B XXXV) sei. Daher hat Kant seine Metaphysikkritik als eine Kritik der Ver­ mögen und ihrer Begriffe präzisiert. Das ist die Hauptthese dieses Abschnitts. Um dies zu begründen, werde ich im Folgenden drei Unterabschnitte anführen. In 2.1 ist zu analysieren, inwiefern Begriff und Urteil die ›Baustoffe‹ der Metaphysik sind. In 2.2 werde ich anhand von vier Punkten zeigen, was Kant gegen das ›bisherige Ver­ fahren der Metaphysik‹ in Bezug auf Begriff und Urteil einwendet. Am 2.3 analysiere ich zwei Stellen aus der B-Vorrede der KrV, in der Kant von der ›Umänderung der Denkart‹ und zwei Teilen der Metaphysik spricht. Damit wird deutlich, wie Kant seine Metaphysikkritik im Großen und Ganzen durchführt.

2.1 Begriff und Urteil als ›Baustoffe‹ der Metaphysik und Metaphysik als Wissenschaft Um die endlose Streitigkeit der Metaphysik aufzulösen, muss man zuerst etwas Gemeinsames bei den oben erörterten drei Positionen (Dogmatismus, Skeptizismus, Empirismus) finden. Durch die obige Analyse wurde verdeutlicht, dass sie alle mit der Metaphysik zu tun haben und dass die Metaphysik mit der Steigerung der Vernunft vom Sinnlichen zum Übersinnlichen zu tun hat. Die drei Einstellungen (Dogmatismus, Skeptizismus und Empirismus) werden unter Kants Charakterisierung »Metaphysik als Naturanlage (metaphysica natu­ ralis)« (B 22) subsumiert. »wenn man ein Erkenntnisvermögen ins Spiel setzt, so tun sich, nach den mancherlei Anlässen, verschiedene Begriffe hervor, die dieses Vermögen kennbar machen« (A 66/B 91). Diese Erklärung verdeutlicht Kants Überzeugung, dass wir die Erkenntnis­ vermögen nicht direkt kennen, sondern nur durch ihre Begriffe. Zweitens: Welches ist die Rolle der Sinnlichkeit? Ein wichtiger Einwand von Kant ist, dass die Sinnlichkeit ein ursprüngliches Erkenntnisvermögen ist. Aber die Sinnlichkeit hat laut Kant keine Funktion des Urteilens (vgl. A 293/B 350), und eine Behauptung bezieht sich immer auf ein Urteil. So wird keine Behauptung aus sinnlicher Wahrnehmung gebildet.

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Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik

Es gibt eine andere Gemeinsamkeit bei den drei Einstellungen. Sie alle haben mit Begriff und Urteil zu tun. Sie begründen ihre Thesen und polemisieren gegen die anderen Ansätze durch Begriffe und Urteile. Behauptungen, dass die Welt endlich oder dass der menschliche Wille frei sei, bestehen ausschließlich aus Begriffen und dadurch gebildeten Urteilen. Man soll dann weiter überlegen, ob man die Natur der Begriffe und Urteile hinreichend erkannt hat, die in der Argumentation verwendet worden sind. Daraus ergibt sich, dass man nicht direkt auf inhaltlicher Ebene die Behauptungen der Metaphysik kritisiert, sondern die Begriffe und Urteile, mit denen solche Behauptungen aufgestellt werden, proble­ matisiert. Dieses Vorgehen lässt sich wohl mit der Hauptfrage der KrV und auch der Prol., wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist (vgl. B 22; AA04: 365), verbinden. Denn Metaphysik als Wissenschaft kann nur durch die Kritik der Vernunft möglich sein. Aber die Kritik der Vernunft beschäftigt sich mit nichts anderem als mit den Begriffen und den dadurch gebildeten Urteilen: Damit sie [Metaphysik] nun als Wissenschaft nicht blos auf trügliche Überredung, sondern auf Einsicht und Überzeugung Anspruch machen könne, so muß eine Kritik der Vernunft selbst den ganzen Vorrath der Begriffe a priori, die Eintheilung derselben nach den verschiedenen Quellen, der Sinnlichkeit, dem Verstande und der Vernunft, ferner eine vollständige Tafel derselben und die Zergliederung aller dieser Begriffe mit allem, was daraus gefolgert werden kann, darauf aber vornehmlich die Möglichkeit des synthetischen Erkenntnisses a priori vermittelst der Deduction dieser Begriffe, die Grundsätze ihres Gebrauchs, endlich auch die Grenzen desselben, alles aber in einem vollständigen System darlegen. (AA 04: 365; obige erläuternde Ergänzung durch den Verfas­ ser)

An dieser Stelle zeigt Kant uns seinen zusammenfassenden Plan der Kritik der Vernunft. Vor allem ist es wichtig zu bestimmen, dass diese Kritik sich mit »de[m] ganzen Vorrath der Begriffe a priori« beschäftigt50. Dann ist zu bestimmen, aus welchen Quellen solche Begriffe entstehen. Danach sollen solche Begriffe vollständig dargestellt werden. Mit Kants Überzeugung, dass die Metaphysik ihrem Zweck nach aus lauter synthetischen Sätzen a priori besteht (vgl. B 18), stellt Vgl. AA 04: 273: Die Begriffe a priori machen »die Materie der Metaphysik und ihr Bauzeug« aus.

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2. Metaphysikkritik als Kritik der Erkenntnisvermögen und ihrer Begriffe

sich die Frage: Wie sind synthetische Sätze a priori möglich? Mit der Antwort darauf lässt sich klären, inwiefern die Metaphysik als Wis­ senschaft möglich ist. Sie ist nur insofern möglich, wie synthetische Sätze a priori gebildet werden können. Wenn dies nicht der Fall ist, gibt es keine Metaphysik als Wissenschaft. Daher liegt der Schwerpunkt, ob Metaphysik als Wissenschaft begründet werden kann, darin, ob man über die ›Baustoffe‹ der Meta­ physik, Begriffe und daraus gebildete Urteile, gründlich philosophiert hat, bevor man etwas behauptet. Dieses Philosophieren bezieht sich auf die Kritik der Vernunft. Diese Kritik beschränkt ihren Bereich nicht auf den themenorientierten Bereich der Naturphilosophie oder Moralphilosophie. Es geht um die Mittel des Philosophierens, die bei Kant Begriff und Urteil sind.

2.2 Kants Kritik am ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ und ihr Einfluss auf das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« Im letzten Abschnitt wurde an einem wichtigen Punkt betont, dass die Auflösung der Streitigkeit in der Metaphysik nicht darin besteht, direkt die Behauptungen zu problematisieren, sondern darin, die Natur der Begriffe und des Urteils, mittels derer solche Behauptungen gebildet werden, zu untersuchen. In diesem Abschnitt werde ich vier Punkte in Bezug auf Kants Metaphysikkritik darlegen, die sich auf die Natur der Begriffe und Urteile beziehen und für die weitere Entwicklung einer Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« hilfreich sind. Bei jedem Punkt erarbeite ich zuerst eine allgemeine Darstellung und gehe dann auf den jeweiligen Zusammenhang mit dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« ein. Es scheint so zu sein, als ob diese vier Punkte einfache Behauptungen der kantischen Philosophie wären. Aus der metaphysikkritischen Perspektive werden diese vier Punkte aber nicht nur als Behauptungen Kants betrachtet, sondern auch als Resultate der kantischen Metaphysikkritik. Dies setzt aber die vorherigen Gegenstände der Metaphysikkritik voraus. Durch diese Kontrastierung trägt die Deutung des Begriffspaars »Ersch./ D.a.s.« etwas Fruchtbares bei (wie im Verlauf der vorliegenden Arbeit gezeigt wird), indem mit ihr ein Kontrast zwischen dem Begriffspaar im kantischen Sinn und demselben im polemischen Sinn ausgemacht werden kann.

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2.2.1 Allgemeine (formale) und transzendentale Logik Die allgemeine oder formale Logik wird von Kant als reine formale Logik51 bezeichnet. Denn in ihr wird von allen Inhalten der Erkenntnis abstrahiert und sie bezieht sich nur auf »die Form des Denkens überhaupt« (A 55/B 79). Daher genügt sie nicht, um materielle objektive Wahrheit auszumachen (vgl. A 60/B 84). Versucht man allein mit dem Rekurs auf die allgemeine Logik, die »das ganze formale Geschäfte des Verstandes und der Vernunft« (ebd.) ausmacht, objektive Aussagen zu treffen, dann entsteht ein falscher Gebrauch der allgemeinen Logik, den Kant als Dialektik bezeichnet. Unter Dialektik ist hier nicht die transzendentale Dialektik zu verstehen, sondern »die allgemeine Logik, als Organon betrachtet« (A 61/B 86). Daraus entspringt der Hauptpunkt in der Metaphysikkritik Kants: Das ›bisherige Verfahren der Metaphysik‹ versucht, mit der formalen Logik als ein Organon (Instrument) seine metaphysischen Behauptungen zu beweisen und dadurch seine Erkenntnis sowohl im sinnlichen als auch im übersinnlichen Feld zu erweitern. Das allge­ meine Kriterium der formalen Logik ist der Satz des Widerspruchs. Er ist aber laut Kant nur »die negative Bedingung aller Wahrheit« (A 59/B 84). »Denn obgleich eine Erkenntnis der logischen Form völlig gemäß sein möchte, d. i. sich selbst nicht wiederspräche, so kann sie doch noch immer dem Gegenstande widersprechen« (ebd.). Einen Irrtum, der nicht die Form, sondern den Inhalt trifft, kann die allgemeine Logik nicht entdecken. Dagegen werden in der transzendentalen Logik nicht alle Inhalte weggelassen. Kant begründet das mit dem Resultat der transzenden­ talen Ästhetik, dass es noch das sinnliche Mannigfaltige a priori gibt. Daraus ergibt sich eine Logik, die »bloß die Regeln des reinen Denkens eines Gegenstandes« (A 55/B 80) enthält. Der entschei­ dende Unterschied ist, dass die formale Logik nur mit der Form des Denkens zu tun hat, aber die transzendentale Logik mit dem ›reinen 51 In der allgemeinen Logik unterscheidet Kant auch zwischen reiner und angewand­ ter Logik. Im allgemeinen Sinn spricht Kant immer von der reinen formalen Logik, die zwei Merkmale hat. »1) Als allgemeine Logik abstrahirt sie von allem Inhalt der Verstandeserkenntniß und der Verschiedenheit ihrer Gegenstände und hat mit als der bloßen Form des Denkens zu thun. 2) Als reine Logik hat sie keine empirische Principien, mithin schöpft sie nichts (wie man sich bisweilen überredet hat) aus der Psychologie, die also auf den Kanon des Verstandes gar keinen Einfluß hat. Sie ist eine demonstrirte Doctrin, und alles muß in ihr völlig a priori gewiß sein« (A 54/B 78).

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Denken eines Gegenstandes‹. Damit kümmert sich Letztere um »den Ursprung unserer Erkenntnisse von Gegenständen« (A 56/B 80). Dieser Ursprung ist der Verstand, aus dem die Verstandesbegriffe entspringen, die »völlig a priori sich auf Gegenstände beziehen« (A 85/B 118). Kant betont im Unterabschnitt »Von der Einteilung der transzendentalen Logik in die Transzendentale Analytik und Dialektik« (A 62f/B 87f) immer, dass die Bedingung der reinen Erkenntnis ist, »daß uns Gegenstände in der Anschauung gegeben sind, worauf jene angewandt werden können« (ebd.). Damit kündigt Kant eigentlich hier sein Resultat der Deduktion an. Dementspre­ chend bezeichnet er den Analytik-Teil der transzendentalen Logik als »eine Logik der Wahrheit« (A 62/B 87). Dagegen ist die transzen­ dentale Dialektik »eine Kritik des Verstandes und der Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs, um den falschen Schein ihrer grundlosen Anmaßungen aufzudecken« (A 63/B 88). Denn der Verstand ist »in Gefahr« (ebd.), wenn er im Modus »eine[s] materialen Gebrauch[s]« (ebd.) verfährt, der »über Gegenstände ohne Unterschied urteilt, die uns doch nicht gegeben sind, ja vielleicht auf keinerlei Weise gegeben werden können« (ebd.). Dieser materiale Gebrauch wird davon verursacht, dass man die allgemeine Logik als ein hinreichendes Kriterium für eine Wissenschaft hält. Eine Konsequenz der Unterscheidung der transzendentalen Logik von der allgemeinen ist, dass sich bei Kant der Gebrauch der Vermögen (Verstand und Vernunft) in zwei Stufen vollzieht. Die erste Stufe ist der logische Gebrauch derselben, der durch die allgemeine Logik geschieht. Die zweite Stufe ist der reine Gebrauch derselben, der durch die transzendentale Logik geschieht. Dies zeigt sich besonders am Anfang der transzendentalen Dialektik, denn hier entwickelt Kant eine zweistufige Darstellung der Vernunft. Der logische Gebrauch der Vernunft verhält sich zur Vernunft als Vermögen des Schlusses (vgl. A 303f/B 359f). Der reine Gebrauch der Vernunft52 verhält sich zur Vernunft als Erkenntnisvermögen, aus dem »synthetische […] Erkenntnis durch reine […] Vernunft« Hier ist zu bemerken, dass der reine Gebrauch der Vernunft nicht mit dem transzendentalen Vernunftgebrauch zu verwechseln ist. Der reine Gebrauch der Vernunft unterscheidet sich vom logischen Gebrauch der Vernunft, weil sich der reine Gebrauch derselben auf einen bestimmten Inhalt bezieht. Der transzendentale 52

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(A 306/B 363) entspringen kann. Das Verhältnis zwischen den zwei Stufen des Gebrauchs der Vermögen kann man wiederum von zwei Seiten aus betrachtet werden. Die eine Seite ist, dass der logische Gebrauch der Vermögen die Basis des reinen Gebrauches derselben ist. Der Satz des Wider­ spruchs, der das allgemeine Kriterium der allgemeinen Logik ist, ist auch ein Kriterium in der transzendentalen Logik. Wenn Kant die Kategorien aus der Urteiltafel und die Arten von Vernunftbegriffen aus den Arten von Vernunftschlüssen (vgl. A 304/B 361) herleitet, zeigt sich deutlich, dass der logische Gebrauch des Verstandes und der Vernunft die Basis des reinen Gebrauchs derselben ist. Die andere Seite ist, dass der logische Gebrauch des Verstandes und der Vernunft nicht über die formale Logik hinausreicht, welche nur »den Vorhof der Wissenschaften« (B IX) ausmacht. Die formale Logik ist jedoch keine Wissenschaft, die mit der inhaltlichen Erkennt­ nis zu tun hat: »und wenn von Kenntnissen die Rede ist, man zwar eine Logik zu Beurteilung derselben voraussetzt, aber die Erwerbung derselben in eigentlich und objektiv so genannten Wissenschaften suchen muß« (ebd.). Die Metaphysik enthält gewisse Erkenntnisse, die nicht durch die formale Logik zu erwerben sind. Das Ziel der KrV ist aber, herauszufinden, ob die Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Dazu soll man sich nicht nur mit der formalen Logik beschäftigen, sondern auch mit der transzendenten Logik. Wie oben erwähnt, besteht das bisherige Verfahren der Metaphysik darin, dass nur mit der formalen Logik versucht wird, die metaphysischen Fragen zu beantworten. Das reicht laut Kant nicht hin, um »materielle (objektive) Wahrheit« (A 60/B 85) auszumachen. Nun kann man sich fragen, was die Unterscheidung der formalen Logik in der Metaphysik von der transzendentalen Logik in derselben mit dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« zu tun hat. Die Anwendung der transzendentalen Logik in der Metaphysik ist das Resultat der Metaphysikkritik Kants, und die Anwendung der formalen Logik in der Metaphysik ist der Gegenstand derselben. Diese Ersetzung (die transzendentale Logik in der Metaphysik anstatt der formalen Logik in derselben) wird im Verlauf der vorliegenden Arbeit durch die Vernunftgebrauch unterscheidet sich vom empirischen Vernunftgebrauch, weil der transzendentale Vernunftgebrauch die Vernunftideen als objektiv und verdinglich ansieht. Das wird im fünften Kapitel in Bezug auf den konstitutiven/regulativen Vernunftgebrauch thematisiert.

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unterschiedlichen Arten des Gebrauchs der Denkvermögen (Verstand und Vernunft) präzisiert. Der transzendentale Verstandesgebrauch (wodurch die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« ausgege­ ben werden) und der konstitutive Vernunftgebrauch (wodurch die Vernunftideen als »Erscheinungen« ausgegeben werden) werden von Kant kritisiert und sind eigentlich die Resultate der Anwendung der formalen Logik (als Organon) in der Metaphysik, denn diese Anwen­ dung versucht durch die bloß formale Bedingung der Denkvermögen, die »materielle (objektive) Wahrheit« (ebd.) in der Metaphysik zu fundieren. Das Problem dieser Anwendung besteht darin, dass in der formalen Logik von allen Inhalten abstrahiert wird. Die Metaphy­ sik soll aber eine Wissenschaft mit Inhalt sein. Demgegenüber wer­ den der empirische Verstandesgebrauch (wodurch die Gegenstände der Sinne als »Erscheinung« bestimmt werden) und der regulative Vernunftgebrauch (wodurch die Vernunftideen als »Dinge an sich« bestimmt werden) von Kant eingeführt, und diese sind die Resultate der Anwendung der transzendentalen Logik in der Metaphysik.53 In ihrer Anwendung wird nicht von allem Inhalt abstrahiert. Das sinnliche Mannigfaltige a priori bildet eine unentbehrliche Bedin­ gung dieser Anwendung. Hier findet eine weitere Ersetzung (empiri­ scher Verstandesgebrauch anstatt transzendentaler und regulativer Vernunftgebrauch anstatt konstitutiver) statt, die als Konsequenz aus der ersten Ersetzung (die transzendentale Logik anstatt der formalen Logik in der Metaphysik) folgt. Eine ähnliche Ersetzung ist bezüglich des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« von besonderer Bedeutung (dieses Begriffspaar im kantischen Sinn anstatt im polemischen Sinn). Dies wird im Lauf der vorliegenden Arbeit thematisiert.

2.2.2 Verstandesbegriff und Vernunftbegriff Am Anfang der transzendentalen Dialektik gibt Kant stellt eine Stu­ fenleiter der Benennung der Vorstellungsart vor (vgl. A 320/B 376). Darin ordnet Kant die Verstandesbegriffe und Vernunftbegriffe der Vorstellungsart des reinen Begriffs zu. Zugleich unterscheidet er die beiden dahingehend, dass sie nicht aus einem Vermögen entspringen. Die beiden Vermögen (Verstand und Vernunft) beziehen sich dennoch 53 Der transzendentale/empirische Verstandesgebrauch wird im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit dargelegt, der konstitutive/regulative Vernunftgebrauch im fünf­ ten Kapitel.

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auf das Denken. Der reine Begriff, »so fern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit) heißt Notion. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff« (A 320/B 377). Dazu bemerkt Kant noch, dass es einem »unerträglich fallen« muss, »die Vorstellung der roten Farbe Idee nennen zu hören« (ebd.). Das Verhältnis zwischen Verstandesbegriff und Vernunftbegriff kann man daher auch von zwei Seiten aus betrachten. Einerseits sind die beiden Begriffe a priori. Anderseits sind sie unterschiedlich, weil sie nach Kant unterschiedliche Ursprünge haben. Zugleich aber gibt es bei diesem Unterschied noch eine Kontinuität, dass die Vernunftbe­ griffe die ins Unbedingte erweiterte Verstandesbegriffe sind (vgl. A 409/B 436). Im § 41 der Prol. benutzt Kant den ganzen Paragrafen dafür, um die Unterscheidung zwischen Verstandes- und Vernunftbegriff und ihren Beitrag für die Metaphysik zu verdeutlichen. Die Unterscheidung der Ideen, d. i. der reinen Vernunftbegriffe, von den Kategorien oder reinen Verstandesbegriffen, als Erkenntnissen von ganz verschiedener Art, Ursprung und Gebrauch, ist ein so wichtiges Stück zur Grundlegung einer Wissenschaft, welche das System aller dieser Erkenntnisse a priori enthalten soll, daß ohne eine solche Abson­ derung Metaphysik schlechterdings unmöglich oder höchstens ein regelloser, stümperhafter Versuch ist, ohne Kenntniß der Materialien, womit man sich beschäftigt, und ihrer Tauglichkeit zu dieser oder jener Absicht ein Kartengebäude zusammenzuflicken. Wenn Kritik der reinen Vernunft auch nur das allein geleistet hätte, diesen Unterschied zuerst vor Augen zu legen, so hätte sie dadurch schon mehr zur Aufklärung unseres Begriffs und der Leitung der Nachforschung im Felde der Metaphysik beigetragen, als alle fruchtlose Bemühungen den transscendenten Aufgaben der reinen Vernunft ein Gnüge zu thun, die man von je her unternommen hat, ohne jemals zu wähnen, daß man sich in einem ganz andern Felde befände als dem des Verstandes und daher Verstandes= und Vernunftbegriffe, gleich als ob sie von einerlei Art wären, in einem Striche hernannte. (AA04: 328f)

Die Wichtigkeit, die reinen Vernunftbegriffe von den Verstandesbe­ griffen zu unterscheiden, liege darin, dass ohne diese Unterscheidung die Metaphysik unmöglich oder nur ein regelloser Versuch sei. Die KrV deckt diesen Unterschied »zuerst« auf und hat damit mehr geleistet als das bisherige Verfahren der Metaphysik. Vorher wusste man nicht, so Kant, dass man sich »in einem ganz andern Felde als dem

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des Verstandes« befinde, wenn man sich mit den Vernunftbegriffen beschäftige, weil man nicht wie Kant gesehen hat, dass es noch einen Unterschied zwischen den Begriffen gibt, der in der Kontinuität besteht, dass die Vernunftbegriffe ins Unbedingte erweiterte Verstan­ desbegriffe sind (vgl. A 409/B 436). Wenn man diese Kritik an der Struktur der Elementarlehre, wie sie in der KrV erfolgt, berücksichtigt, sieht man deutlich, dass sich die transzendentale Analytik auf Verstan­ desbegriffe und die transzendentale Dialektik auf Vernunftbegriffe beziehen54. Diese gestufte Kontinuität vom Verstandesbegriff zum Vernunftbegriff passt genau zu der in Abschnitt 1.1 dieses Kapitels entwickelten These, dass sich die Metaphysik auf die Steigerung der Vernunft vom Sinnlichen zum Übersinnlichen bezieht. Nun kann man sich fragen, was diese Unterscheidung des Ver­ standesbegriffes vom Vernunftbegriff mit der »Ersch./D.a.s.«-Unter­ scheidung zu tun hat. An dieser Stelle möchte ich nur einen Punkt diesbezüglich ausführen: Wenn Kant von dem »Ding an sich« als dem Zugrundeliegenden der Erscheinung55 spricht, meint er meiner Lesart nach eigentlich, dass dieses »Ding an sich« als das Unbedingte bzw. die Vernunftidee im regulativen Sinn, die notwendig zu denken ist, zu verstehen ist. Das heißt, dass das »Ding an sich« hier nicht als ein sinnliches Dasein im transzendentalen Sinne interpretiert wird. Ein solches Dasein würde beinhalten, dass man Sinnliches als etwas von uns unabhängig Existierendes verstünde. Der Fehler dieser Interpretation besteht darin, dass das »Ding an sich« auf die Verstandesbegriffe bezogen wird.56 Eigentlich müsste es jedoch (so meine Lesart) auf Vernunftbegriffe bezogen werden. Diese These soll im fünften Kapitel der vorliegenden Arbeit weiter ausgeführt werden. Ich nenne hier nur eine Stelle, die aus der polemischen Abhandlung gegen Eberhard stammt: Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll. Damit möchte ich nur zeigen, wie Kant das »Ding an sich« als Vernunftbegriff im regulativen Sinn darstellt: 54 Die transzendentale Urteilskraft gehört zur transzendentalen Analytik bzw. der Analytik der Grundsätze. Denn die Urteilskraft geht darum, die Verstandesbegriffe auf Erscheinungen anzuwenden (vgl. A 132/B 171). 55 Z. B. B XXVIIf; AA04: 314f; Prol. § 32; AA04: 336; Prol. § 49; A 358; AA04: 354f; Prol. § 57; AA 04: 451 und in der KU (AA05: 176; AA05: 196; AA05: 344). 56 Hierbei ist zu beachten, dass die Bezogenheit des Dinges an sich auf die Verstan­ desbegriffe bereits problematisch ist, weil sie auf dem transzendentalen Verstandesge­ brauch beruht. Dieser Verstandesgebrauch wird im vierten Kapitel ausführlich behan­ delt.

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[1] Ein Object sich als einfach vorstellen, ist ein blos negativer Begriff, der der Vernunft unvermeidlich ist, weil er allein das Unbedingte zu allem Zusammengesetzten (als einem Dinge, nicht der bloßen Form) enthält, dessen Möglichkeit jederzeit bedingt ist. [2] Dieser Begriff ist also kein erweiterndes Erkenntnißstück, sondern bezeichnet blos ein Etwas, sofern es von den Sinnenobjecten (die alle eine Zusammenset­ zung enthalten) unterschieden werden soll. [3] Wenn ich nun sage: das, was der Möglichkeit des Zusammengesetzten zum Grunde liegt, was also allein als nicht zusammengesetzt gedacht werden kann, ist das Noumen (denn im Sinnlichen ist es nicht zu finden), so sage ich damit nicht: es liege dem Körper als Erscheinung ein Aggregat von so viel einfachen Wesen als reinen Verstandeswesen zum Grunde; sondern, ob das Übersinnliche, was jener Erscheinung als Substrat unterliegt, als Ding an sich auch zusammengesetzt oder einfach sei, davon kann niemand im mindesten etwas wissen. (AA08: 209, Anm.; Hervorhebung durch den Verfasser)

Kant setzt ganz selbstverständlich voraus, dass die sinnliche Gege­ benheit immer zusammengesetzt im Raum ist. Der Grund dieser Gegebenheit im Denken muss als etwas »Einfaches« vorgestellt wer­ den, da es für die Vernunft unvermeidlich ist, das Unbedingte (in diesem Fall als das Einfache) zu suchen. Aber Kant kritisiert in Bezug auf den Vernunftgebrauch, dass sie keinen konstitutiven Gebrauch hat, sondern nur den regulativen Gebrauch. Das heißt, dass dieses Einfache (als Unbedingtes) nicht auf die eine sinnliche Gegebenheit bzw. eine objektive Notwendigkeit des Seins, sondern auf eine subjek­ tive Notwendigkeit des Denkens bezogen ist. Daher ist das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der Erscheinung nicht das Dasein der sinnlichen Gegebenheit, sondern das »Ding an sich« als das Einfache das gedanklich Zugrundeliegende der Erscheinung, die jederzeit als zusammengesetzt vorzustellen ist. Mit dem ersten Satz [1] im Zitat zieht Kant deutlich das Einfache und das Zusammengesetzte mit der Relation »Bedingt/Unbedingt« zusammen. Im zweiten Satz [2] spricht Kant von der Unerkennbarkeit des Einfachen. Dieser Begriff ist »kein erweiterndes Erkenntnißstück«, sondern ein bloßes Etwas, das nur denkbar ist und »von den Sinnenobjecten (die alle eine Zusammensetzung enthalten) unterschieden werden soll«. Mit dem dritten Satz [3] behauptet Kant eigentlich die Unerkennbarkeit des »Dings an sich«. Der Grund dieser Behauptung bezieht sich nicht auf die Erscheinung als diejenige sinnliche Gegebenheit, die dogmatisch als »ein Aggregat von so viel einfachen Wesen als reinen Verstandes­

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2. Metaphysikkritik als Kritik der Erkenntnisvermögen und ihrer Begriffe

wesen« verstanden wird. Was meint Kant hier mit dem Aggregat von einfachen Wesen als reinen Verstandeswesen? Man erinnere sich an die Thesis der zweiten Antinomie, die die dogmatische Position darstellt: Die Erscheinung (Körper) besteht aus einfachen Teilen (Monaden) (vgl. A 434/B 462).57 Im Gegenzug dazu behauptet Kant, dass das Einfache (das einfa­ che Wesen) als das Unbedingte zu verstehen ist. Dies mag als Substrat der Erscheinung im übersinnlichen Sinn bezeichnet werden. Aber das Einfache ist in diesem Zusammenhang theoretisch-unbestimmt und daher als »Ding an sich« unbekannt. Das »Einfache als das Übersinnliche« ist vielmehr eine Forderung der Vernunft in Bezug auf das Unbedingte. »Dieser Begriff [das Einfache] ist also kein erweiterndes Erkenntnißstück« (AA08: 209, Anm.). Daher sieht man deutlich, dass die Bedeutung der Verstan­ desbegriff/Vernunftbegriff–Unterscheidung bei der »Ersch./D.a.s.«Unterscheidung auf das Verständnis des Einfachen zugespitzt ist. Was Kant beim »Ding an sich« kritisiert, ist, dass man das Einfache als einen Begriff in Bezug auf den Verstand annimmt. Daher handelt es sich um eine physikalische und erkenntnistheoretische Erklärungsart, wenn man die sinnliche Gegebenheit als die zusammengesetzten einfachen Wesen bezeichnet. Dagegen vertritt Kant, dass das Einfache kein Begriff in Bezug auf den Verstand, sondern auf die Vernunft ist. Damit zeigt sich die sinnliche Gegebenheit als das Zusammengesetzte im Raum, das durch die Sinnlichkeit und den Verstand erfasst wird. Man sieht das Einfache nur als das gesuchte Unbedingte, das von der Vernunft verlangt wird. Diese Erklärungsart ist transzendentalphilo­ sophisch, und zwar im regulativen Sinn. Dies wird im fünften Kapitel der vorliegenden Arbeit weiter ausgeführt.

2.2.3 Die Rolle der Sinnlichkeit beim Erkenntnisgewinn Kants Kritik an der Rolle der Sinnlichkeit beim Erkenntnisgewinn geht in zwei Richtungen. Einmal geht es um die Beziehung zwischen Sinnlichkeit und den Gegenständen der Sinne. Kant wendet sich hier gegen die »Leibniz-Wolffische Philosophie« (A 44/ B 61), die Historisch betrachtet bezieht sich die dogmatische Position der zweiten Antinomie auf die Monadologie: »Einfache Substanzen muß es geben, weil es Zusammengesetzte gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts anderes als eine Anhäufung oder ein Aggregat von Einfachen.« (Leibniz [übers. von Schneider] 2002: 111). 57

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den Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Denken nur als logisch betrachtet, wohingegen dieser bei Kant transzendental ist. Bei der anderen Richtung geht es um die Beziehung zwischen der Sinnlichkeit und den übersinnlichen Gegenständen. Im Folgenden möchte ich die beiden Richtungen im Zusammenhang mit der »Ersch./D.a.s.«Unterscheidung näher untersuchen: Die Leibniz=Wolffische Philosophie hat daher allen Untersuchungen über die Natur und den Ursprung unserer Erkenntnisse einen ganz unrechten Gesichtspunkt angewiesen, indem sie den Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellectuellen bloß als logisch betrachtete, da er offenbar transscendental ist und nicht bloß die Form der Deutlichkeit der Undeutlichkeit, sondern den Ursprung und den Inhalt derselben betrifft, so daß wir durch die erstere die Beschaffenheit der Dinge an sich selbst nicht bloß undeutlich, sondern gar nicht erkennen, und, so bald wir unsre subjective Beschaffenheit wegnehmen, das vorgestellte Object mit den Eigenschaften, die ihm die sinnliche Anschauung beilegte, überall nirgend anzutreffen ist, noch angetroffen werden kann, indem eben diese subjective Beschaffenheit die Form desselben als Erscheinung bestimmt. (A 44/B 61f)

Hier kritisiert Kant eine empirische Unterscheidung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich«. Dabei wird die wesentliche Beschaffenheit (zum Beispiel die Gestalt) des Dings als »Ding an sich« bezeichnet und die zufällig anhängten Eigenschaften (zum Beispiel Farbe) des Dings als »Erscheinung«. Das ist bei Kant aber nicht mit der »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung gemeint. In diesem Zusammen­ hang wird sie von Kant als transzendentaler Unterschied zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« (vgl. A 45/B 62) benannt. Nach diesem Verständnis der »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung Kants ken­ nen wir gar keine Dinge an sich, sondern nur Erscheinungen58. Durch die Kritik an der Leibniz-Wolffischen Philosophie hebt Kant die Funktion der Sinnlichkeit beim Erkenntnisgewinn hervor, dass wir die Dinge erkennen können, nur wenn sie durch die Sinnlichkeit (als ein Vermögen) gegeben werden.

58 Man muss darauf achten, dass Kant auch die Erscheinung nicht als Schein versteht, wenn er der Auffassung ist, dass wir nicht die Dinge, wie sie sind, sondern Dinge, wie sie uns erscheinen, erkennen. Wie erklärt man das Begriffspaar »wie sie sind« und »wie sie uns erscheinen«? Wie ist es möglich, zugleich Kant von einem idealistischen Vor­ wurf freizusprechen? Dies bezieht sich auf die zwei Arten des Verstandesgebrauchs, die ich in Abschnitt 2.3.1 im vierten Kapitel erklären werde.

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Die zweite Richtung, dass der Raum und die Zeit keine Bedin­ gungen der Dinge a priori sind, betont Kant besonders im Zusam­ menhang mit der natürlichen Theologie im Paragrafen »Allgemeine Anmerkungen zur Transzendentalen Ästhetik« in der zweiten Auf­ lage der KrV: In der natürlichen Theologie, da man sich einen Gegenstand denkt, der nicht allein für uns gar kein Gegenstand der Anschauung, sondern der ihm selbst durchaus kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung sein kann, ist man sorgfältig darauf bedacht, von aller seiner Anschauung (denn dergleichen muß alles sein Erkenntniß sein und nicht denken, welches jederzeit Schranken beweiset) die Bedingungen der Zeit und des Raumes wegzuschaffen. Aber mit welchem Rechte kann man dieses thun, wenn man beide vorher zu Formen der Dinge an sich selbst gemacht hat und zwar solchen, die als Bedingungen der Existenz der Dinge a priori übrig bleiben, wenn man gleich die Dinge selbst aufge­ hoben hätte: denn als Bedingungen alles Daseins überhaupt müßten sie es auch vom Dasein Gottes sein. Es bleibt nichts übrig, wenn man sie nicht zu objectiven Formen aller Dinge machen will, als daß man sie zu subjectiven Formen unserer äußeren sowohl als inneren Anschauungsart macht. (B 71f)

Es ist kein Zufall, dass Kant von der Beziehung zwischen den Anschauungsformen und der Theologie spricht. Letztere ordnet er als Thema dem übersinnlichen Feld zu. An dieser Stelle diskutiert Kant spezifisch den Widerspruch, dass man keinen übersinnlichen ›Gegen­ stand‹ widerspruchsfrei vorstellen kann, wenn man den Raum und die Zeit als »Formen der Dinge an sich selbst« bzw. »als Bedingungen der Existenz der Dinge a priori« betrachtet. Wenn man den Raum und die Zeit als objektive Formen aller Dinge bezeichnet und zugleich über das Dasein Gottes nachdenkt, würde daraus die widersprüchliche Forderung folgen, dass Raum und Zeit auch Bedingungen für Gott sein müssten.59 Und »wenn man gleich die Dinge selbst [in dem Fall das Dasein Gottes] aufgehoben hätte«, so bleiben der Raum und die Zeit als »Bedingungen der Existenz der Dinge a priori übrig«. Aber 59 In der Refl. 6353 im Jahr 1797 spricht Kant analog dazu davon, dass sich das System der Kritik der reinen Vernunft um zwei Kardinalpunkte dreht. Der eine ist die Idealität des Raumes und der Zeit, der andere ist die Realität des Freiheitsbegriffs. Die beiden zusammen sind »als System der Natur und der Freyheit, deren eines auf die Nothwendigkeit des Andern führt« (AA 18: 679). Es zeigt sich deutlich: ob man die Idealität des Raumes und der Zeit annimmt, beeinflusst das Nachdenken über das übersinnliche Feld.

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Gott soll in der Theologie als Urwesen gedacht werden, das »keines über sich hat« (A 578/B 606). Der Zusammenhang zwischen den Anschauungsformen und dem übersinnlichen Feld wird bei der kantischen These der Idealität des Raumes (vgl. A 28/B 44) und der der Zeit (vgl. A 35f/B 52) hervorgehoben. Das kann mit zwei einschlägigen Stellen verdeut­ licht werden. zugleich die Idealität des Raums in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden, d. i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen. Wir behaupten also die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller möglichen äußeren Erfahrung), obzwar die transscendentale Idealität desselben, d. i. daß er Nichts sei, so bald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen. (A 27f/B 43f) Dagegen bestreiten wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität, da sie nämlich, auch ohne auf die Form unserer sinnlichen Anschau­ ung Rücksicht zu nehmen, schlechthin den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft anhinge. Solche Eigenschaften, die den Dingen an sich zukommen, können uns durch die Sinne auch niemals gegeben werden. Hierin besteht also die transscendentale Idealität der Zeit, nach welcher sie, wenn man von den subjectiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahirt, gar nichts ist und den Gegenstän­ den an sich selbst (ohne ihr Verhältniß auf unsere Anschauung) weder subsistirend noch inhärirend beigezählt werden kann. (A 35f/B 52f)

In den beiden Zitaten äußert Kant, dass der Raum und die Zeit nichts sind, wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert. Bei dem Raum-Zitat verknüpft Kant die Themen der Idealität des Raumes mit den Dingen, die »durch die Vernunft an sich erwogen werden«. Nach obiger Erläuterung der Beziehung zwischen Raum/Zeit und der natürlichen Theologie sieht man deutlich, dass Gott einem solchen Ding zugeordnet wird, wie dies durch die Vernunft an sich erwogen werden. So steht die Idealität der Anschauungsformen mit dem übersinnlichen Feld unter der Perspektive der Metaphysikkritik in Zusammenhang. Was hat dieser Umstand mit der »Ersch./D.a.s.«-Unter­ scheidung zu tun? Die Freiheit ist nicht zu retten, wenn man die absolute Realität des Raumes und der Zeit behauptet. An der obigen Stelle haben wir gesehen, dass Kant nicht direkt die Idealität der Zeit behauptet, sondern die Behauptung der »absolute[n] Realität« der

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Zeit bestreitet, die die Auffassung widerspiegelt, dass die Zeit die Bedingung der (sowohl sinnlichen als auch übersinnlichen) Dinge sei. Um diese Behauptung zu widerlegen, schreibt Kant: »[H]ierin besteht also die transscendentale Idealität der Zeit«. Das heißt, dass die Zeit nur die subjektive Form der Anschauung ist und nicht die objektive Beschaffenheit der Dinge. Mit der bereits diskutierten Stelle über die natürliche Theologie wird deutlich, dass die absolute Realität des Raumes und der Zeit mit dem Denken der übersinnlichen ›Dinge‹ nicht vereinbar sein kann. [1] Es ist also nur die Frage: ob dem ungeachtet in Ansehung eben derselben Wirkung, die nach der Natur bestimmt ist, auch Freiheit stattfinden könne, oder diese durch jene unverletzliche Regel völlig ausgeschlossen sei. [2] Und hier zeigt die zwar gemeine, aber betrüg­ liche Voraussetzung der absoluten Realität der Erscheinungen sogleich ihren nachtheiligen Einfluß, die Vernunft zu verwirren. [3] Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. [4] Alsdann ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestim­ mende Ursache jeder Begebenheit, und die Bedingung derselben ist jederzeit nur in der Reihe der Erscheinungen enthalten, die sammt ihrer Wirkung unter dem Naturgesetze nothwendig sind. [5] Wenn dagegen Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der That sind, nämlich nicht Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind. (A 536f/B 564f; Ergänzungen durch den Verfasser)

Dieses Zitat stammt aus Kants Schrift Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen, in der er die Nicht-Widersprüchlichkeit zwischen der Kau­ salität aus der Freiheit und der Kausalität nach der Natur diskutiert. Mit dem ersten Satz [1] kündigt Kant die Schwierigkeit an, ob eine Wirkung nur nach der Naturkausalität zu bestimmen sei oder ob dieselbe Wirkung auch aus der Kausalität der Freiheit bestimmt werden könne. Im Anschluss daran löst Kant diese Schwierigkeit nicht unmittelbar auf, sondern kritisiert im zweiten Satz [2] die »betrügli­ che Voraussetzung der absoluten Realität der Erscheinungen« und ihre nachteilige Wirkung auf die Vernunft. Diese Voraussetzung macht die Vorstellung der Freiheit unmöglich. Die absolute Realität der Erscheinung beruht auf der absoluten Realität des Raumes und der Zeit, da die beiden die essenziellen Bedingungen der Erscheinung bzw. der Gegenstände der Sinne sind. In der Behauptung der abso­

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luten Realität der Erscheinungen werden die beiden Bedingungen als Eigenschaften der Dinge angenommen. Als Konsequenz dieser Interpretation ist der berühmte dritte Satz [3] zu verstehen, der besagt, dass wenn »Erscheinungen Dinge an sich selbst [sind], so ist Freiheit nicht zu retten«. In diesem Zusammenhang kann man sagen, dass sich »Dinge an sich« an dieser Stelle auf die durch die These der absoluten Realität des Raumes und der Zeit bestimmten Dinge beziehen. Das heißt, dass man den Raum und die Zeit als objektive Bedingungen für alle Dinge (sowohl sinnliche als auch übersinnliche) hält. Die »Erscheinungen« werden als »Dinge an sich« behandelt, wenn man den Raum und die Zeit nicht als subjektive Bedingungen, sondern als objektive Bedingungen ausmacht. Die Konsequenz daraus ist, dass alle sinnlichen Dinge unter dem ›Naturgesetz‹, das als »die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit« zu verstehen ist, betrachtet werden müssen. Zugleich sind alle übersinnlichen Dinge unmöglich zu denken. Denn, wie oben gezeigt wurde, soll Gott als Urwesen so gedacht werden, dass kein anderes Ding über ihm ist. Aber wenn man den Raum und die Zeit als objektive Bedingungen aller Dinge annimmt, so folgt daraus, dass es zuerst den Raum und die Zeit gibt und dann erst das Urwesen. Bei der Freiheit verhält es sich auch so, dass die Freiheit unmöglich vorzustellen ist, wenn man die absolute Realität des Raumes und der Zeit allen Dingen zuschreibt. Die gleiche Kritik übt Kant auch in der KpV: »Nimmt man nun die Bestimmungen der Existenz der Dinge in der Zeit für Bestimmungen der Dinge an sich selbst (welches die gewöhnlichste Vorstellungsart ist), so läßt sich die Notwendigkeit im Kausalverhältnisse mit der Freiheit auf keinerlei Weise vereinigen« (AA05: 94). Wie rettet man dann die Freiheit? Mittels der transzendentalen Idealität des Raumes und der Zeit. Dadurch werden der Raum und die Zeit zu zwei nur subjektiven Bedingungen des Menschen. Sie sind nichts in Bezug auf die Dinge, die »durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden« (A 27f/B 43f). In diesem Sinn äußert Kant im fünften Satz [5], dass Erscheinungen nicht Dinge an sich, sondern »bloße Vorstellungen« seien. Dieser Satz wird immer dahingehend kritisiert, dass Kant Erscheinung eigentlich als bloß subjektiven Schein verstünde. Im vierten Kapitel wird dieser Punkt im Zusam­ menhang mit den zwei Arten des Verstandesgebrauchs thematisiert. Dabei wird gezeigt, dass die Gegenstände der Sinne als »Dinge an

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sich« zu erkennen eigentlich der subjektive Schein ist, der durch den transzendentalen Verstandesgebrauch verursacht wird.60 Zusammenfassend lässt sich sagen: In diesem Unterabschnitt wurde Kants Position über den Raum und die Zeit im Zusammenhang der Metaphysikkritik diskutiert. Kants Position ist, dass Raum und Zeit eine empirische Realität und transzendentale Idealität haben. Die empirische Realität des Raumes und der Zeit sichert die empirische Realität aller sinnlichen Gegebenheiten. Die transzendentale Idealität derselben schafft den Platz der Denkmöglichkeit aller Dinge, die durch Vernunft erwogen werden. Dadurch widerlegt Kant die Lehre der Sinnlichkeit in der Leibniz-Wolffischen Philosophie, der zufolge die Sinnlichkeit nur eine verworrene Vorstellungsart sei. Kant widerlegt auch durch die transzendentale Idealität des Raumes und der Zeit die Behauptung der absoluten Realität derselben, die »die gewöhnlichste Vorstellungsart ist« (AA05: 94). Bezüglich des Verständnisses des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« wurde deutlich, dass Kant beim Satz, dass »Erscheinungen Dinge an sich selbst [sind], so ist Freiheit nicht zu retten«, sich auch auf die Idealität des Raumes und der Zeit bezieht. Daraus ergibt sich für uns zumindest ein Hinweis, dass »Erscheinung« und »Ding an sich« auf unterschiedlichen Annahmen des Raumes und der Zeit beruhen.61

2.2.4 Analytisches/synthetisches Urteil In Abschnitt 2.1 wurde festgelegt, dass Begriff und Urteil ›Baustoffe‹ der Metaphysik sind. Das bedeutet, dass alle metaphysische Behaup­ tungen aus Urteilen bestehen. Aber Urteile bestehen wiederum nur aus Begriffen. Die Sinnlichkeit selbst liefert keine Erkenntnis, weil sie nicht urteilt (vgl. A 293/B 350). Im Unterabschnitt »B. Verstandesbe­ griff und Vernunftbegriff« haben wir Kants Kritik am Begriff a priori

60 Über den Satz »so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind« und den Zusammenhang mit der Idealität des Raumes und der Zeit werde ich im fünften Kapitel in Verbindung mit dem regulativen Vernunftgebrauch diskutieren. 61 Wie die unterschiedlichen Annahmen des Raumes und der Zeit die unterschied­ liche Bestimmungsweisen der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« und als »Erscheinung« ausmachen, wird im vierten Kapitel in Zusammenhang mit dem transzendentalen und empirischen Verstandesgebrauch behandelt.

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kennengelernt.62 Nun wird thematisiert, was Kant am Urteil bzw. an der Urteilsart in Bezug auf das ›bisherige Verfahren der Metaphysik‹ kritisiert. Die wichtigste Kritik ist für Kant, dass das ›bisherige Verfah­ ren der Metaphysik‹ nicht die Frage »Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?« stellt. Daher wird nicht nach dem Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen gefragt. (vgl. B 19). Hier möchte ich nicht auf die Möglichkeit der synthetischen Urteile a priori eingehen, sondern auf deren Voraussetzung, die der Unterschied zwischen analytischem und synthetischem Urteil ist. Genauer gesagt, ich möchte hier einen Zusammenhang aufzeigen zwischen diesem Unterschied und der Unerkennbarkeit des »Dings an sich«. Alle Urteile können laut Kant aufgrund des Verhältnisses eines Subjekts zum Prädikat in analytische und synthetische Urteile auf­ geteilt werden. In analytischen Urteilen wird das Prädikat mit dem Subjekt durch Identität (d. i. wenn das Prädikat schon im Subjekt enthalten ist) verknüpft, in synthetischen Urteilen aber ohne Identität (vgl. A 6f/B 10f). Analytische Urteile kann man Erläuterungsurteile nennen, synthetische Urteile Erweiterungsurteile. Im dogmatischen Verfahren der Metaphysik werden nur »Begriffe, die wir uns a priori von Dingen machen« (B 19) zergliedert und analytisch erläutert. Kant zufolge soll Metaphysik aber »ihrem Zwecke nach aus lauter synthetischen Sätzen a priori« (B 18) bestehen63. Ausgangspunkt der KrV ist, dass in allen theoretischen Wissen­ schaften der Vernunft synthetische Urteile a priori als Prinzipien ent­ halten sind (vgl. B 14). Metaphysik als eine theoretische Wissenschaft, die für »die Natur der menschlichen Vernunft unentbehrlich« (B 18) ist, soll auch diese Erkenntnisse enthalten. Wenn man aber diese Unterscheidung der Urteile nicht kennt und sich der Grenzen und der gültige Bereich der synthetischen Sätze a priori nicht reflektiert ist, würden Sätze, die nur eine logische Erörterung des Denkens sind, für eine metaphysische Bestimmung des Objekts gehalten (vgl. B 409).

62 Zusammenfassend lässt man sagen, dass die Begriffe a priori weiter in Verstandes­ begriffe und Vernunftbegriffe unterteilt werden können. 63 In den Prol. unterscheidet Kant noch zwischen Urteilen, die zur Metaphysik gehören, und Urteilen, die eigentlich metaphysische Urteile sind. »Unter jenen sind sehr viele analytisch, aber sie machen nur die Mittel zu metaphysischen Urtheilen aus, auf die der Zweck der Wissenschaft ganz und gar gerichtet ist, und die allemal synthetisch sind« (AA04: 273).

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Aus der Tatsache, dass im ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ der Unterschied zwischen analytischem und synthetischem Urteil unbekannt ist, folgen für Kant zwei problematische Konsequenzen, die für die Metaphysik schädlich seien. Eine ist, dass man durch Zer­ gliederung der Begriffe (d. h., dass man die Prädikate, die im Subjekt enthalten sind, verdeutlicht) glaubt, dass eine neue Erkenntnis durch diese Zergliederung gewonnen werde (vgl. B 9). Die Zergliederung der Begriffe dient nach Kant nur als Begriffserläuterung, nicht als Erweiterung der Erkenntnis. Die andere Konsequenz ist, dass man wegen des Mangels der Anschauung a priori kein synthetisches Urteil a priori im übersinnlichen Feld bilden kann. Wenn man dies nicht beachtet, würde man ein synthetisches Urteil a priori bilden, das nicht objektiv gültig wäre. Kants Kritik an der letzten Konsequenz ist für seine Metaphysikkritik von besonderer Bedeutung, denn sie führt Kant zu dem Schluss, dass »über das Feld möglicher Erfahrung hinaus aber es überall keine synthetische Grundsätze a priori geben könne« (A 248/B 304f). Daher werden alle Versuche der Erkenntniserweite­ rung im übersinnlichen Feld, wo sich die drei essenziellen Themen der Metaphysik, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit (vgl. A 337/B 395, Anm.) befinden, von Kant als unmöglich angesehen, weil sich auf diese Themen keine Anschauung a priori beziehen lässt. Nun stellt sich die Frage: Was hat diese Unterscheidung zwischen analytischem und synthetischem Urteil mit der »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung zu tun? Meine These ist, dass die Grenze der Erkenntnis mit dem Umfang der synthetischen Urteile zusammenfällt. Der Umfang der synthetischen Urteile (in der theore­ tischen Philosophie Kants) ist wiederum der Umfang der Erscheinun­ gen. Im Folgenden werde ich diesen Punkt mit dem Beispiel der »Kausalität« erklären, mit dem ich den Zusammenhang zwischen analytischem/synthetischem Urteil und transzendentalem/empiri­ schem Verstandesgebrauch aufzeige. In Unterabschnitt 2.1 dieses Kapitels wurde bereits verdeutlicht, dass Begriff und Urteil ›Baustoffe‹ der Metaphysik sind. Ein Urteil besteht ausnahmelos aus Begriffen. Das bedeutet, dass alle meta­ physischen Behauptungen als Urteile, die aus Begriffen bestehen, betrachtet werden müssen. Verstand und Vernunft werden von Kant als Vermögen des Urteilens verstanden (vgl. A 69/B 94). Ihre Begriffe werden im Urteil verbunden und verwendet. Unter bestimmten Bedingungen wird ein Urteil als Regel, Gesetz, Grundsatz usw.

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bezeichnet64. Durch Kants Unterscheidung zwischen analytischem und synthetischem Urteil wird hervorgehoben, dass unsere Erkennt­ nis durch ein Urteil erweitert werden kann, insofern dieses Urteil synthetisch ist. Aus bloßen Begriffen kann keine synthetische, son­ dern nur analytische Erkenntnis erlangt werden (vgl. A 47/B 64). Laut Kant kann eine Synthesis in Bezug auf Erkenntnis aber nur durch Anschauung möglich sein (vgl. AA04: 269). Zugleich ist das Feld, worauf die Anschauung bezogen werden kann, das Feld der Erschei­ nung. Ein synthetisches Urteil hat nur innerhalb des sinnlichen Feldes die Möglichkeit, die Erkenntnis zu erweitern. Nun wird der Zusammenhang zwischen dem transzenden­ talen/dem empirischen Verstandesgebrauch und dem analytischen und synthetischen Urteil näher betrachtet: Ein synthetisches Urteil (a priori) hat nur mit dem empirischen Verstandesgebrauch zu tun. Dem transzendentalen Verstandesgebrauch entspringt nur vermeintlich ein synthetisches Urteil. Der Verstand ist die Quelle der Grundsätze (vgl. A 159/B 198), und der Gebrauch des Verstandes ist nichts anderes als die Anwen­ dung seiner Begriffe. Kant definiert zwei Arten vom Gebrauch eines Begriffs. Dadurch wird der Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Begriffs und der Dinge expliziert: Der transscendentale Gebrauch eines Begriffs in irgend einem Grund­ satze ist dieser: daß er auf Dinge überhaupt und an sich selbst, der empirische aber, wenn er bloß auf Erscheinungen, d. i. Gegenstände einer möglichen Erfahrung, bezogen wird. (A 238/B 298)

Diese Stelle befindet sich im Kapitel »Phaenomena und Noumena«, in dem Kant seine wichtige These ankündigt, dass der Verstand von allen seinen Grundsätzen a priori immer nur empirischen, niemals aber transzendentalen Gebrauch machen kann (vgl. ebd.). Daher kann man festhalten, dass sich der »Gebrauch eines Begriffs« an dieser Stelle auf die Verstandesbegriffe bezieht. Der von Kant kritisierte und abge­ lehnte transzendentale Verstandesgebrauch bezieht sich auf »Dinge

In der A-Deduktion der KrV sagt Kant, dass die Regel heißt, dass »die Vorstellung einer allgemeinen Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltige (mithin auf einerlei Art) gesetzt werden kann« (A 113). Und »wenn es so gesetzt werden muß« (ebd.), dann ist eine Regel Gesetz. 64

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überhaupt und an sich selbst«.65 Dieser Verstandesgebrauch beachtet die Anschauung a priori als Bedingung der synthetischen Urteile a priori nicht. Der von Kant begründete empirische Verstandesgebrauch bezieht sich auf die »Erscheinungen, d. i. Gegenstände einer mögli­ chen Erfahrung«. Dieser Verstandesgebrauch beachtet die Anschau­ ung a priori als Bedingung der synthetischen Urteile a priori.66 Aus dieser Beziehung wird klar, dass der empirische Verstandesgebrauch immer mit den Anschauungsformen (Raum und Zeit) zu tun hat, während dies beim transzendentalen Verstandesgebrauch nicht der Fall ist. Aus dem letzten Abschnitt wird deutlich, dass das synthetische Urteil auch mit der Zeit (eine der beiden Anschauungsformen) zu tun hat, während das bei dem analytischen Urteil nicht der Fall ist. Nun soll die Kausalität als ein Beispiel für diese Überlegung demonstriert werden. Die Kausalität67 als ein Grundsatz wird von Kant durch den empirischen Verstandesgebrauch anerkannt. Damit distanziert sich Kant vom ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ (vor allem vom Dogmatismus). Die Kausalität wird zwar als ein Grundsatz von diesen Verfahren immer anerkannt und angewendet, aber die ›bisherigen Verfahren‹ vernachlässigen die Bedingungen des synthetischen Urteils a priori.68 Daher ist die Kausalität für diese Verfahren einfach ein Urteil, das nur Begriffe gebraucht. Kants Kritik an den ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ ist, dass man die Kausalität als eine bloße begriffliche Verbindung von Ursache und Wirkung ansieht. Nach Kant soll ein Drittes gegeben werden. Dieses Dritte ist die Zeit, die eine Anschauungsform ist. Ohne diese Anschauungsform kann der Begriff »Ursache« nicht von dem Begriff »Wirkung« unterschieden werden. Darüber hinaus würde der Begriff »Ursache« keine Bestimmung mehr haben: Vom Begriffe der Ursache würde ich (wenn ich die Zeit weglasse, in der etwas auf etwas anderes nach einer Regel folgt) in der reinen Kategorie nichts weiter finden, als daß es so etwas sei, woraus sich auf das 65 Mit dem Begriff »Dinge überhaupt« oder »Gegenstand überhaupt« (A 290/B 346) meint Kant die allgemeinste Vorstellung von einem Etwas, solange es nicht selbst widerspricht (vgl. AA04: 332). Also ist das ein Oberbegriff im abstraktesten Sinn. 66 Über die beiden Arten des Verstandesgebrauchs werde ich im vierten Kapitel Weiteres darlegen. 67 Historisch betrachtet bezieht sich Kants Kritik an der Kausalität auf seine kritische Annahme des Satzes des zureichenden Grundes (vgl. Esser 2021: 48). 68 Bei Hume gibt es gar kein Urteil a priori. Die Kausalität ist für ihn eine Gewohnheit aus der Erfahrung.

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Dasein eines andern schließen läßt; und es würde dadurch nicht allein Ursache und Wirkung gar nicht von einander unterschieden werden können, sondern weil dieses Schließenkönnen doch bald Bedingungen erfordert, von denen ich nichts weiß, so würde der Begriff gar keine Bestimmung haben, wie er auf irgend ein Object passe. (A 243/B 301)

Ohne die Bedingung der Zeit bezieht sich der Begriff der Ursache laut Kant nicht auf ein Objekt, sondern nur auf ein Etwas, das aus dem bloßen Verstande gedacht wird. In diesem Fall bezieht sich der Begriff der Wirkung auch nur auf ein Etwas. Dadurch werden »Ursache und Wirkung gar nicht von einander unterschieden«, weil man hier nur durch den Verstand ein Etwas für die beiden Begriffe »Ursache und Wirkung« denkt, was eine begriffliche Vorstellung ist. Was Kant in seinen Ausführungen der Kausalität hinzufügt, ist die Zeit als ein Drittes, durch die man die beiden Begriffe (Ursache und Wirkung) zusammenbringen kann. Dadurch erhalten die Begriffe »Ursache« und »Wirkung« ihre Bestimmungen durch die Zeit. Das Kausalitätsurteil nach Kants Verständnis ist also ein syn­ thetisches Urteil (a priori), während es seine Vorgänger nur als ein Urteil betrachteten, das einfach aus Begriffen besteht, weil sie die Bedingungen des synthetischen Urteils und den Unterschied zwischen synthetischem und analytischem Urteil nicht kennen. Die Kausalität als ein synthetisches Urteil bedarf nicht nur der Begriffe, sondern auch der Zeit als Drittes. Dazu zieht Kant konsequent eine andere Schlussfolgerung, der zufolge die Kausalität nur innerhalb jenes sinnlichen Feldes gültig ist, indem die die Zeit als Bedingung vorhanden ist. Dies ist auch Kants Kritik an der Vorstellung, dass man die Kausalität durch den transzendentalen Verstandesgebrauch auf das Ding überhaupt anwendet. Das bedeutet, dass man die Kausalität als einen objektiv-gültigen Grundsatz auch im übersinnlichen Feld anwendet. Dies zeigt sich deutlich beim kosmologischen Gottesbe­ weis. In diesem Gottesbeweis versucht man von etwas, das im sinnli­ chen Feld da ist, auf das Dasein Gottes als ursprünglichen Urheber zu schließen. Dies kritisiert Kant in vier Punkten. Hier soll jedoch wegen des Bezugs zu meinem Thema nur auf einen dieser Punkte eingegangen werden: Da befindet sich denn z. B. 1) der transscendentale Grundsatz, vom Zufälligen auf eine Ursache zu schließen, welcher nur in der Sinnen­ welt von Bedeutung ist, außerhalb derselben aber auch nicht einmal einen Sinn hat. Denn der bloß intellectuelle Begriff des Zufälligen kann gar keinen synthetischen Satz, wie den der Causalität hervorbringen,

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und der Grundsatz der letzteren hat gar keine Bedeutung und kein Merkmal seines Gebrauchs, als nur in der Sinnenwelt; hier aber sollte er gerade dazu dienen, um über die Sinnenwelt hinaus zu kommen. (A 609/B 637)

Kausalität hat laut Kant nur in der Sinnenwelt ihre objektive Gültig­ keit, weil sie neben zwei Begriffen (Ursache und Wirkung) noch die Zeit als das Dritte verlangt, um die beiden Begriffen zu verknüpfen. Der Fehler im kosmologischen Gottesbeweis besteht darin, dass man die Kausalität nur als eine begriffliche Verbindung ansieht. Das ist aber genau das Merkmal des transzendentalen Verstandesgebrauchs. Kant schließt aus der Ablehnung des transzendentalen Verstandes­ gebrauchs, dass »über das Feld möglicher Erfahrung hinaus aber es überall keine synthetische Grundsätze a priori geben könne« (A 248/B 304f). Daher werden alle theoretischen Versuche, die drei essenziellen Themen der Metaphysik, Gott, Freiheit und Unsterb­ lichkeit (vgl. A 337/B 395, Anm.) zu bestimmen, von Kant als gescheitert angesehen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Kant zeigt, dass die Bedin­ gungen des synthetischen Urteils nicht nur Begriffe, sondern auch Anschauungsformen sind. Diese beiden Bedingungen stimmen mit den Bedingungen der Erscheinung überein. Daher lässt sich sagen, dass der Umfang der synthetischen Urteile der Umfang der Erschei­ nungen ist.

2.3 Drei Schichten in der ›Umänderung der Denkart‹ und zwei Teile der Metaphysik Es wurde bereits Kants Kritik am ›bisherigen Verfahren der Meta­ physik‹ im systematischen Sinn dargestellt. Jetzt möchte ich Kants Metaphysikkritik in Bezug auf die Vermögen (Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft) im Ganzen erhellen. Dazu diskutiere ich zwei Stellen aus der B-Vorrede der KrV. Die eine Stelle bezieht sich auf die drei Schichten in der ›Umänderung der Denkart‹. Die andere Stelle bezieht sich auf die zwei Teile der Metaphysik. Daran ist bereits abzulesen, dass Kants Metaphysikkritik immer eine systematische Einheit dar­ stellt.

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Die drei Schichten in der Umänderung der Denkart Kants ›Umänderung der Denkart‹ – »die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten« (B XVI) – verläuft entsprechend der unterschiedlichen Vermögen (Sinnlichkeit, Verstand und Ver­ nunft) in drei Schichten. Die erste bezieht sich auf die Anschauung: In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegen­ stände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Object der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen. (B XVII)

Eine Voraussetzung aller Schichten ist, dass man in der Metaphysik auch alle Erkenntnisse a priori (d. i. unabhängig von der Erfahrung) bzw. die Bedingungen davon suchen möchte. Kants Kritik verweist auf die Frage, ob und inwiefern solche Erkenntnisse möglich sind. In diesem ersten Schritt behauptet Kant, dass die Anschauungen a priori (Raum und Zeit) subjektive Bedingungen sind. Dementgegen wurden sie im bisherigen Verfahren der Metaphysik als Beschaffenheit der Dinge betrachtet, oder die Sinnlichkeit wurde für eine undeutliche Vorstellungsart gehalten (die Leibniz-Wolffische Philosophie, vgl. A 44/B 62).69 Allein mit den Anschauungen erhält man noch keine Erkenntnisse, da sie kein Urteil enthalten. Für Kant ist das Urteil die allgemeinste Form der Erkenntnis. Dazu braucht es immer Begriffe. Hinzu kommt jedoch ein zweiter Schritt, der sich auf die Regel des Verstandes bezieht: so kann ich entweder annehmen, die Begriffe, wodurch ich diese Bestimmung zu Stande bringe, richten sich auch nach dem Gegen­ stande, und dann bin ich wiederum in derselben Verlegenheit wegen der Art, wie ich a priori hievon etwas wissen könne; oder ich nehme an, die Gegenstände oder, welches einerlei, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt werden, richte sich nach diesen Begriffen, so sehe ich sofort eine leichtere Auskunft, weil Erfahrung selbst eine Erkenntnißart ist, die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin Die Schädlichkeit der beiden Positionen in Bezug auf die Sinnlichkeit habe ich in Abschnitt 2.2 dieses Kapitels unter »C. die Rolle der Sinnlichkeit beim Erkenntnisge­ winn« diskutiert.

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a priori voraussetzen muß, welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird, nach denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung nothwendig richten und mit ihnen übereinstimmen müssen. (B XVII)

In der zweiten Schicht stellt Kant seine Position dem Empirismus und dem Skeptizismus entgegen. Während Locke die Begriffe a priori aus der Erfahrung ableiten möchte, möchte Hume die Begriffe a priori verneinen (vgl. A 94/B 127). Kant vertritt eine dem Empirismus entgegengesetzte Position, der zufolge es nicht nur Begriffe a priori gibt, sondern auch die Kategorien als Begriffe a priori, die Erfah­ rung ermöglichen. Unterdessen positioniert sich Kant auch entgegen dem Rationalismus und behauptet, dass die Kategorien, obwohl sie Begriffe a priori sind, nur mit der sinnlichen Bedingung auf die Gegen­ stände der Sinne anwendbar sind. Diese werden von Kant als reine Verstandesbegriffe im empirischen Gebrauch bezeichnet. Diesbezüg­ lich kritisiert Kant die reinen Verstandesbegriffe im transzendentalen Gebrauch, der beinhaltet, dass man alle Gegenstände als Gegenstände an sich selbst betrachtet, ohne die Restriktion auf unsere Sinnlichkeit zu beachten (vgl. A 139/B 178). Bis jetzt bezieht sich Kants Kritik nur auf das Verfahren im Feld des Sinnlichen bzw. der Gegenstände der Sinne. Es gibt noch einige Begriffe oder dadurch geschaffene Gegenstände in der Metaphysik, die nicht sinnlich gegeben werden können, aber trotzdem notwendig gedacht werden müssen. Wie soll man mit ihnen umgehen? Daraus folgt die dritte Schicht, die sich auf die Vernunftbegriffe bezieht: Was Gegenstände betrifft, so fern sie bloß durch Vernunft und zwar nothwendig gedacht, die aber (so wenigstens, wie die Vernunft sie denkt) gar nicht in Erfahrung gegeben werden können, so werden die Versuche sie zu denken (denn denken müssen sie sich doch lassen) hernach einen herrlichen Probirstein desjenigen abgeben, was wir als die veränderte Methode der Denkungsart annehmen, daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen. (BXVIII)

Im letzten Schritt geht es um die reinen Vernunftbegriffe oder trans­ zendentalen Ideen, die die Erfahrung übersteigen. Kant verneint solche Begriffe nicht, weil sie durch die Vernunft, insofern diese das Unbedingte sucht, »notwendig gedacht« werden müssen. Dem­ gegenüber verneint der Empirismus die Vernunftideen. Aber Kant verneint die objektive Realität der Vernunftideen. Demgegenüber behauptet der Dogmatismus die objektive Realität der Vernunftideen.

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Kants kritisiert den transzendentalen Schein, demzufolge man die Vernunftbegriffe, die eigentlich nur subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe und für den Verstand da sind, für eine objektive Notwendigkeit hält (vgl. A 297/B 354). Mit dem letzten Satz dieser Stelle erläutert Kant den Zusammen­ hang zwischen den drei Schichten: die Umänderung der Denkart in den ersten beiden Schichten (Sinnlichkeit und Verstandesbegriffe) ergibt, dass die objektive Realität der Begriffe a priori durch die Anschauung a priori bestätigt werden soll. Das gibt uns »einen herrlichen Probirstein« für den Versuch, die dritte Schicht, also die objektive Realität der Vernunftbegriffe, zu bestimmen. Die objektive Realität der Vernunftbegriffe lässt sich nach Kant nicht bestätigen, da es keine Anschauung a priori im übersinnlichen Feld gibt. Daher zeigt sich in der dritten Schicht der Umänderung der Denkart, dass die Vernunftbegriffe nicht als objektiv notwendig, sondern nur als subjektiv notwendig gelten.

Zwei Teile der Metaphysik Nun möchte ich zeigen, dass die Metaphysik insgesamt von Kant in zwei Teile aufgeteilt wurde, die mit den oben genannten drei Schichten der ›Umänderung der Denkart‹ übereinstimmen. Dazu soll eine Stelle zitiert werden, in der Kant von den zwei Teilen der Metaphysik spricht. Diese Stelle befindet sich genau nach der Stelle zu den drei Schichten: [1] Dieser Versuch gelingt nach Wunsch und verspricht der Metaphysik in ihrem ersten Theile, da sie sich nämlich mit Begriffen a priori beschäftigt, davon die correspondirenden Gegenstände in der Erfah­ rung jenen angemessen gegeben werden können, den sicheren Gang einer Wissenschaft. [2] Denn man kann nach dieser Veränderung der Denkart die Möglichkeit einer Erkenntniß a priori ganz wohl erklären und, was noch mehr ist, die Gesetze, welche a priori der Natur, als dem Inbegriffe der Gegenstände der Erfahrung, zum Grunde liegen, mit ihren genugthuenden Beweisen versehen, welches beides nach der bisherigen Verfahrungsart unmöglich war. [3] Aber es ergiebt sich aus dieser Deduction unseres Vermögens a priori zu erkennen im ersten Theile der Metaphysik ein befremdliches und dem ganzen Zwecke derselben, der den zweiten Theil beschäftigt, dem Anscheine nach sehr nachtheiliges Resultat, nämlich daß wir mit ihm nie über die Grenze möglicher Erfahrung hinauskommen können, welches doch gerade die wesentlichste Angelegenheit dieser Wissenschaft ist. [4]

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Aber hierin liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats jener ersten Würdigung unserer Vernunfterkenntniß a priori, daß sie nämlich nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt liegen lasse. (B XVIIIf)

Insgesamt wird deutlich, dass der erste Teil der Metaphysik, wie ihn Kant im ersten Satz [1] darstellt, die Beziehung zwischen den Begriffen a priori und den Gegenständen in der Erfahrung behandelt. Der zweite Teil der Metaphysik, ausgedrückt durch den dritten Satz [3], behandelt wiederum das Hinauskommen »über die Grenze mög­ licher Erfahrung«. Dieser Teil ist jedoch »gerade die wesentlichste Angelegenheit dieser Wissenschaft«. Wenn man die beiden Teile der Metaphysik hinsichtlich der Reihenfolge der KrV verortet, bezieht sich der erste Teil auf die erste Abteilung der Elementarlehre bzw. die transzendentale Ästhetik und Analytik und der zweite Teil auf die zweite Abteilung der Elementarlehre bzw. die transzendentale Dialektik. Kant nennt den zweiten Teil der Metaphysik auch das übersinnliche Feld (vgl. B XXI). Im Umkehrschluss kann man den ersten Teil als das sinnliche Feld bezeichnen. Diese Einteilung kann man auch in der Preisschrift über die Fort­ schritte der Metaphysik finden, in der Kant die Metaphysik wie folgt definiert: »[S]ie ist die Wissenschaft, [die] von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschrei­ ten« (AA20: 260) gedenkt. Zum Sinnlichen zählt Kant nicht nur die Vorstellung in Bezug auf die Sinnlichkeit, sondern auch den Verstand und seine reinen Begriffe a priori als das »Nichtsinnliche« (ebd.), dessen Anwendung nur auf die Gegenstände der Sinne bezogen ist. Im Folgenden soll die Beziehung dieser Momente miteinander erhellt werden. Das Resultat des ersten Teils ist sehr nachteilig für den zweiten Teil, weil Kant durch seine Kritik die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori innerhalb der Erfahrung bzw. dem Feld des Sinnlichen einschränkt. Eine Erweiterung der Erkenntnis a priori im Feld des Übersinnlichen ist damit unmöglich. Umgekehrt liegt die »Gegenprobe« im Feld des Übersinnlichen für dasjenige, was Kant am Feld des Sinnlichen rechtfertigt. Dies erinnert an den indirekten Beweis der transzendentalen Idealität der Erscheinung (vgl. A 506/B 534) bei der Antinomie und dem »Probirstein« bei der dritten Schicht der Umänderung der Denkart. Durch die beiden Textanalysen zu den drei Schichten in der Umänderung der Denkart und den zwei Teilen der Metaphysik sieht

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man deutlich, dass sich die ersten zwei Schichten in der Umände­ rung der Denkart auf den ersten Teil der Metaphysik beziehen. Man soll nach Kant die Gegenstände der möglichen Erfahrung mit zwei Bedingungen a priori erfassen: Anschauung und Begriff. Dieses Resultat ist nachteilig für die Versuche des Erkenntnisgewinns über die Grenze der Erfahrung hinaus, wie es im ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ versucht wurde. Nichtsdestotrotz ist der zweite Teil der Metaphysik für Kant auch die »wesentlichste Angelegenheit« der Metaphysik. Denn das übersinnliche Feld bezieht sich auf das Unbedingte, das von der Vernunft notwendig gesucht wird. Das Verhältnis zwischen den beiden Teilen der Metaphysik bei Kant besteht zunächst darin, dass die kritische Auseinandersetzung des ersten Teils zur Folge hat, dass im zweiten Teil keine Erkenntniser­ weiterung möglich ist. Ihm zufolge haben die Vernunftideen nur sub­ jektive Notwendigkeit. Hierzu lässt sich vermuten, dass das Begriffs­ paar »Ersch./D.a.s.« bzw. die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung nicht einfach nur hinsichtlich Kants Erkenntnistheorie bzw. den ersten Teil der Metaphysik von Relevanz ist, sondern auch die Ideenlehre bzw. den zweiten Teil der Metaphysik betrifft. Dieser Zusammenhang wird im nächsten Abschnitt behandelt.

3. Das Vorhandensein des Begriffspaars »Erscheinung/ Ding an sich« in Kants Metaphysikkritik Durch obige Analyse wurde verdeutlicht, dass Kant mit der KrV bzw. den Prol. nicht nur eine neue Erkenntnistheorie erarbeitet hat, sondern auch eine systematische Metaphysikkritik übt. Dies ist aber auch nicht eine Widerlegung bestimmter Behauptungen, sondern eine Kritik an den reinen Vermögen, aus denen die metaphysischen Begriffe und Urteile entspringen. Die zentrale Frage für diese Untersuchung ist: Welche Rolle hat das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« in Kants Metaphysikkritik? In der B-Vorrede der KrV findet man nicht nur Kants Grundplan der Metaphysikkritik und ihre Wirkung auf die praktische Philosophie, sondern auch Überlegungen über die Rolle des Begriffspaars »Ersch./ D.a.s.«. Daher versuche ich in diesem Abschnitt (besonders in Unter­ abschnitt 3.1), die Funktion des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« in dieser Metaphysikkritik anhand von drei Schlüsselstellen der B-Vorrede herauszuarbeiten. Das Ziel dieser Analyse ist nicht, alle Probleme an

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3. Das Vorhandensein des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«

diesen Stellen zu lösen, sondern die Rolle des Begriffspaars »Ersch./ D.a.s.« in Kants System herauszuarbeiten.

3.1 Analyse dreier Schlüsselstellen in der B-Vorrede der KrV Die drei Schlüsselstellen in der B-Vorrede werden im Folgenden in der Reihenfolge, wie sie auch bei Kant vorkommen, behandelt. Die erste Stelle handelt davon, dass man nur ›Dinge aus doppelten Gesichts­ punkten‹ betrachtet. Das mag zunächst wie eine Zwei-PerspektivenLesart erscheinen. Doch im Folgenden werde ich nachweisen, dass es an dieser Stelle um die kosmologische Antinomie geht, nicht um die Gegenstände der Sinne. Diese Antinomie bezieht sich auf die beiden Teile der Metaphysik. Die zweite Stelle handelt von der Beziehung zwischen dem Begriff »Ding an sich« und dem Unbedingten. Die dritte Stelle handelt von der Wirkung der notwendig zu machenden »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung in der praktischen Philosophie. Hier ist noch nicht der Platz, um eine vollständige Interpretation dieser Stellen durchzuführen, sondern durch die Analyse derselben nachzuweisen, dass das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« tatsächlich in der ganzen Metaphysikkritik Kants von Bedeutung und für die Metaphy­ sikkritik wichtig ist. Zusätzlich zeigen diese drei Stellen selbst schon deutlich die Relevanz der Antinomie für das Begriffspaar »Ersch./ D.a.s.«, die ich im nächsten Kapitel ausführlich thematisieren werde.

Stelle 1: »wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichts­ punkte betrachtet« Diese dem Naturforscher nachgeahmte Methode besteht also darin: die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, was sich durch ein Experiment bestätigen oder widerlegen läßt. Nun läßt sich zur Prüfung der Sätze der reinen Vernunft, vornehmlich wenn sie über alle Grenze möglicher Erfahrung hinaus gewagt werden, kein Experiment mit ihren Objecten machen (wie in der Naturwissenschaft): also wird es nur mit Begriffen und Grundsätzen, die wir a priori annehmen, thunlich sein, indem man sie nämlich so einrichtet, daß dieselben Gegenstände einerseits als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfah­ rung, andererseits aber doch als Gegenstände, die man bloß denkt, allenfalls für die isolirte und über Erfahrungsgrenze hinausstrebende Vernunft, mithin von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden

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können. Findet es sich nun, daß, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkte betrachtet, Einstimmung mit dem Princip der reinen Vernunft stattfinde, bei einerlei Gesichtspunkte aber ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entspringe, so entscheidet das Experiment für die Richtigkeit jener Unterscheidung. (B XVIII, Anm.)

Diese Stelle befindet sich als Fußnote nach der Vorstellung der ›Umänderung der Denkart‹, die schon in Abschnitt 2.3 »drei Schichten in der Umänderung der Denkart und die zwei Teile der Metaphysik« thematisiert wurde. Diese Stelle ist eine Anmerkung für den dritten Schritt der ›Umänderung der Denkungsart‹, in dem Kant diskutiert, wie man mit den ›Gegenständen‹ umgehen soll, die »bloß durch Ver­ nunft und zwar nothwendig gedacht, die aber (so wenigstens, wie die Vernunft sie denkt) gar nicht in der Erfahrung gegeben werden kön­ nen« (ebd.). Hier ist bereits mindestens ein Hinweis darauf gegeben, worum es bei dieser Stelle geht. Dem Anschein nach unterstützt diese Stelle die Zwei-Perspektiven Lesart70, da Kant hier deutlich sagt, dass man »die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkte betrachtet«. Ich werde entgegen dieser Interpretation jedoch behaupten, dass es in dieser Stelle nicht darum geht, einen sinnlichen Gegenstand unter zwei Gesichtspunkten (als »Ding an sich« und als »Erschei­ nung«) zu betrachten, sondern dass die Stelle sich eigentlich auf die Antinomie bezieht. Kants Formulierung »Sätze der reinen Ver­ nunft« bezieht sich auf die Thesen und Antithesen der Antinomie. Die doppelten Gesichtspunkte sind eigentlich die Beschreibung der empirischen und dogmatischen Verfahren, die die Antinomie bilden. Wenn man nur einen Gesichtspunkt berücksichtigt, gerät man in den unvermeidlichen Widerstreit der Vernunft mit sich selbst, weil man zu den empirischen und dogmatischen Verfahren immer auch wider­ spruchsfrei Gegenthesen entwickeln kann. Im Folgenden versuche ich zunächst zu erhellen, was Kant mit »[den] Sätze[n] der reinen Vernunft« an dieser Stelle meint, danach untersuche ich, was Kant mit »dieselben Gegenstände« in diesem Zusammenhang meint. Zuletzt möchte ich aufzeigen, was diese Stelle mit der »Ersch./D.a.s.«-Unter­ scheidung zu tun hat. Erstens: was ist mit den »Sätze[n] der reinen Vernunft« gemeint? Die »Sätze der reinen Vernunft« sind auf das übersinnliche Vgl. Dalbosco 2002: 176. Der Verfasser hat genau mit dieser Stelle für die Zwei-Perspektiven-Lesart plädiert.

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Feld bezogen. Daher spricht Kant davon, dass wir »kein Experiment mit ihren Objecten machen (wie in der Naturwissenschaft)« können. Im übersinnlichen Feld gibt es laut Kant keine Objekte, die sinnlich gegeben sind, sondern nur die Vernunftideen, die nur die subjektive Notwendigkeit der Vernunft aufzeigen. Damit wird deutlich, dass die Sätze, die zur Prüfung herangezogen werden, nicht aus dem Verstand kommen, sondern aus der Vernunft. Denn der Verstand und die Ver­ standesbegriffe beziehen sich immer auf die sinnlichen Wahrneh­ mungen und überschreiten niemals die Grenze aller möglichen Erfah­ rung. Nur die Vernunft versucht die große Mannigfaltigkeit der Erkenntnisse des Verstandes auf die kleinste Zahl der Prinzipien zu bringen und dadurch die höchste Einheit zu bewirken (vgl. A 305/B 362). Daraus ergibt sich, dass Kant an dieser Stelle nicht vom Feld des Sinnlichen schreibt, sondern vom Feld des Übersinnlichen. Ähnlich adressiert Kant im § 42 der Prol.: Alle reine Verstandeserkenntnisse haben das an sich, daß sich ihre Begriffe in der Erfahrung geben und ihre Grundsätze durch Erfahrung bestätigen lassen; dagegen die transscendenten Vernunfterkenntnisse sich weder, was ihre Ideen betrifft, in der Erfahrung geben, noch ihre Sätze jemals durch Erfahrung bestätigen, noch widerlegen lassen; daher der dabei vielleicht einschleichende Irrthum durch nichts anders als reine Vernunft selbst aufgedeckt werden kann, welches aber sehr schwer ist. (AA04: 329)

An dieser Stelle gibt uns Kant auch einen anderen Hinweis. Solche Sätze der reinen Vernunft in der Stelle der B-Vorrede beziehen sich eigentlich nur auf die kosmologische Dialektik bzw. die Antinomie und nicht auf die anderen Ideen, denn die Sätze der »transscendenten Vernunfterkenntnisse« können nicht durch Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden. Vielmehr kann der sich »einschleichende Irrthum« nur durch reine Vernunft selbst aufgedeckt werden. Es gibt laut Kant nur bei der kosmologischen Idee (Welt) Antinomien. Darin werden Thesen und Antithesen gebildet, die in sich selbst wider­ spruchsfrei sind. Weil sowohl die Thesen und Antithesen begründbar sind, besteht der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst. Dabei ist hervorzuheben, dass es Fehler beim Denken der kosmologischen Idee gibt. Die anderen Ideen der spekulativen Vernunft (Seele und Gott) führen nicht zur Antinomie, weil nur der Erkenntnisanspruch an die Seele und an Gott laut Kant den transzendentalen Schein mit sich bringt. Der Schein bezieht sich auf eine Anmaßung des Vermögensgebrauchs, wenn man die Vermögen auf die Vernunftideen

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konstitutiv anwenden möchte. Die Verneinung dieses Erkenntnisan­ spruchs bringt keinen transzendentalen Schein. Daher bringen die Vernunftideen (Seele und Gott) nur »einen bloß einseitigen Schein« (A 406/B 433). Es fehlt dann bei den Ideen (Seele und Gott) ein »mit sich selbst Konflikt«-Charakter. Daher ist man auch nicht in der Lage, sie aus einem doppelten Gesichtspunkt zu betrachten. Nun wird festgehalten, dass die »Sätze der reinen Vernunft« an dieser Stelle weder auf den Erfahrungsgegenstand noch auf die anderen Ideen, sondern nur auf die kosmologische Antinomie bezogen sind. Zweitens: Was ist mit »denselben Gegenständen« gemeint? Der Plan von Kant zur Prüfung der Sätze der reinen Vernunft ist, »dieselben Gegenstände einerseits als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung, andererseits aber doch als Gegenstände, die man bloß denkt, allenfalls für die isolirte und über Erfahrungsgrenze hinausstrebende Vernunft« zu betrachten. Daraus folgt, dass 1.) »dieselbe[n] Gegenstände« laut dem Plan »dieselben« bleiben und dennoch 2.) in der Lage sein sollen, unter dem »doppelten Gesichtspunkte« betrachtet zu werden. Noch wichtiger ist 3.), dass, wenn diese doppelten Betrachtungen an den Gegenständen nicht stattfinden, »bei einerlei Gesichtspunkte[n,] aber ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft mit sich selbst«. 1.) Die »Sätze der reinen Vernunft« wurden bereits als die Thesen und Antithesen in der kosmologischen Antinomie identifiziert. »Die­ selbe Gegenstände«, auf die sich die Sätze beziehen müssen, sind die kosmologischen Ideen bzw. die »Weltbegriffe« und »Naturbegriffe« (A 420f/B 447f). Die Weltbegriffe kann man als mathematisches Ganzes begreifen. Die Naturbegriffe kann man als dynamisches Ganzes begreifen. Das mathematische Ganze bezieht sich auf die Zusammensetzung oder Teilung der Erscheinungen. Das dynamische Ganze bezieht sich auf die Entstehung und die Abhängigkeit des Daseins der Erscheinungen. Dies bildet die vierfache Antinomie, die sich auf dieselben Gegenstände bezieht: »das Ganze aller Erscheinun­ gen und die Totalität ihrer Synthesis« (A 418/B 446). 2.) Es wurde dargelegt, dass sich dieser doppelte Gesichts­ punkt auf die Thesen und Antithesen der Antinomie bezieht. Kant beschreibt den Empirismus dahingehend, dass dieser »dieselben Gegenstände […] als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung« betrachtet. Dagegen beschreibt er den Dogmatis­ mus dahingehend, dass dieser »[…] [dieselben Gegenstände] als Gegenstände, die man bloß denkt, allenfalls für die isolirte und über

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Erfahrungsgrenze hinausstrebende Vernunft« betrachtet. Denn der Empirismus fordert eine empirische Erklärungsart, die nicht nur in Bezug auf alle Erscheinungen in der Welt, sondern auch auf die Welt als Vernunftidee angewendet werden soll. Dagegen fordert der Dogmatismus außer der empirischen Erklärungsart bezüglich der Erscheinungen noch eine intellektuelle Erklärungsart, die nur durch die Vernunft vorgestellt werden kann (vgl. A 466/B 494). Exemplarisch, soll dies an einem Streitpunkt zwischen Dogmatismus und Empirismus aufgezeigt werden: Dem Empirismus zufolge habe die Welt keinen Anfang und keine Grenzen im Raum, sondern sei unendlich (vgl. A 427/B 455). Dagegen behauptet der Dogmatismus, dass die Welt einen Anfang in der Zeit habe und dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen sei (vgl. A 426/B 454). Der Empirismus nimmt »dieselben Gegenstände«, die Ganzheit der Erscheinungen bzw. die Welt, mit dem Sinne und Verstand wahr. Daher ist es ganz natürlich für ihn, weder Anfang noch Grenzen in der sinnlichen Welt anzutreffen. Der Dogmatismus verlangt dagegen eine intellektuelle Erklärungsart für die Ganzheit der Erscheinungen oder die Welt. Aber ein Begriff wie »Anfang der Welt« kann man nur durch »die isolirte und über Erfahrungsgrenze hinausstrebende Vernunft« den­ ken. Daher spricht Kant davon, dass die Maxime des Dogmatismus über die kosmologische Idee »nicht einfach« (A 466/B 494) ist. Das bedeutet, dass der Dogmatismus außer der empirischen Erklärungsart innerhalb der Erscheinungen noch eine intellektuelle Erklärungsart fordert. Dagegen ist die Maxime des Empirismus gleichförmig (vgl. A 465/B 493). Die Ursache dieser entgegengesetzten Behauptun­ gen stammt allerdings aus den bereits genannten Erklärungsarten. Kant zufolge sind die Argumentationen der beiden Thesen jeweils in sich logisch konsistent. Das Problem liegt aber darin, dass die Gegenstände der Sinne in der Welt und die Welt selbst gleichartig angenommen werden. Das heißt, dass die Dogmatismus und Empi­ rismus zwar entgegengesetzte Thesen über die Welt, aber zugleich ein problematisches Verständnis über die Weltbegriffe hätten, sodass diesen Behauptungen »ein[] leeren und bloß eingebildete[r] Begriff von der Art, wie uns der Gegenstand dieser Ideen gegeben wird, zum Grunde lieg[t]« (A 490 / B 518). Wie bereits diskutiert, gibt es bei den Sätzen der anderen Ideen (Seele und Gott) diese Antinomie nicht. Daher ist es unmöglich, die Seele oder Gott aus doppelten Gesichts­ punkten zu betrachten. Damit ist klar, dass nur die Antinomie bzw.

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die Weltbegriffe in der Lage sind, aus doppelten Gesichtspunkten zu betrachten. 3.) Wie soll man dann den nachfolgenden Satz verstehen? Kant schreibt: »Findet es sich nun, dass, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkte betrachtet, Einstimmung mit dem Princip der reinen Vernunft stattfinde, bei einerlei Gesichtspunkte aber ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entspringe, so entscheidet das Experiment für die Richtigkeit jener Unterschei­ dung.« Kant definiert die Vernunft in der Dialektik als das »Vermögen der Principien« (A 299/B 356). Dadurch werden der Verstand und die Vernunft als Denkvermögen differenziert. Die Vernunft wendet sich niemals unmittelbar dem sinnlich Mannigfaltigen oder irgendei­ nem Gegenstand, sondern dem Verstand zu, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben die Einheit a priori durch Begriffe zu geben. Das Prinzip der Vernunft ist, wie oben erläutert, mit dem gegebenen Bedingten das Unbedingte zu suchen. Der fundamentale Unterschied zwischen Kant und seinen Vorgängern ist, dass dieses Prinzip der Ver­ nunft für Kant nur die subjektive Notwendigkeit ausdrückt, während der Dogmatismus es für objektive Notwendigkeit hält.71 Im letzten Fall entspringt »ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft mit sich selbst«: die Welt habe keinen Anfang, so ist sie für euren Begriff zu groß; denn dieser, welcher in einem successiven Regressus besteht, kann die ganze verflossene Ewigkeit niemals erreichen. Setzet, sie habe einen Anfang, so ist sie wiederum für euren Verstandesbegriff in dem nothwendigen empirischen Regressus zu klein (A 486/B 514).

Kant zufolge hat man nur ein »Richtmaß« (A 489/B 517), demzufolge die Idee nach der möglichen Erfahrung beurteilt werden muss und nicht umgekehrt, die mögliche Erfahrung nach der Idee. So ist die Welt als eine Idee nicht ein An-sich-Seiendes, sondern drückt aus­ schließlich durch die Vernunfteinheit die subjektive Notwendigkeit aus. »[D]as Experiment« bezieht sich auf die oben zitterte Stelle der ›Umänderung der Denkungsart‹, besonders auf die These: »daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen«. Das Prinzip der Vernunft, das Unbedingte zu suchen, liegt nicht in den Dingen, sondern in uns. Daher ist die Welt als Der Empirismus hält dieses Prinzip unreflektiert wie der Dogmatismus, weil der Empirismus auch das gesuchte Bedingte in der Antinomie als gegeben voraussetzt. Diesen Punkt werde ich im dritten Kapitel weiter diskutieren.

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Ganzes, die die Vernunft als das Unbedingte sucht, auch nicht objektiv gegeben, sondern sie drückt nur eine subjektive Notwendigkeit der Vernunft aus. Mit dieser Vorüberlegung lässt sich sagen, dass die Suche nach dem Unbedingten keinen Widerspruch mit dem Prinzip der reinen Vernunft darstellt. Die Welt (das Unbedingte) ist gar kein An-sichSeiendes. Jeder der bisherigen Gesichtspunkte (Dogmatismus oder Empirismus) setzt aber voraus, dass die Welt als ein An-sich-Seiendes gegeben ist. Daher entsteht die Antinomie. Die ›doppelten‹ Gesichts­ punkte implizieren die Überlegung, dass die Voraussetzung (die Welt sei An-sich-Seiendes) problematisch ist. Was hat diese Stelle mit der »Ersch./D.a.s.«-Unterschei­ dung zu tun? Wie bereits aufgezeigt wurde, bezieht sich diese Stelle eigentlich nur auf die Antinomie und nicht darauf, dass die sinnliche Gegebenheit aus zwei Gesichtspunkten zu betrachten sei. Der transzendentale Idealismus sei laut Kant der Schlüssel zur Auf­ lösung der kosmologischen Dialektik bzw. der Antinomie (vgl. A 490/B 518). Der transzendentale Idealismus betrifft die »Ersch./ D.a.s.«-Unterscheidung, wie Kant im sechsten Abschnitt der Antino­ mie zusammenfasst: daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen, sind, die so, wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben (A 490f/B 518f).

An dieser Stelle wird verdeutlicht, dass es bei dem transzendentalen Idealismus eigentlich um die Art und Weise geht, wie wir die Gegen­ stände der Erfahrung betrachten sollen. Diese Art und Weise beein­ flusst wiederum die Art und Weise, wie wir die transzendentalen Ideen ansehen. Laut Kant taucht das Problematische bei den ›Betrach­ tungsweisen‹ der Vernunftideen des Dogmatismus und des Empiris­ mus in der Antinomie auf, weil zwei kontradiktorischen Behauptun­ gen begründet werden können. Dieses »neue […] Phänomen der menschlichen Vernunft« (A 407/B 433) verlangt eine Antwort, die man nicht mehr aus der parteiischen Perspektive (dem Dogmatismus oder dem Empirismus) beantworten kann. Kants Vorschlag ist, dass die unvermeidliche Antinomie auf »einer grundlosen Voraussetzung« (A 485/B 513) beruht. Und diese Voraussetzung geht wiederum zurück auf die Art und Weise, wie wir die Gegenstände der Erfahrung

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bestimmen. Man darf dann wohl erwarten, dass das kosmologische Argument (vgl. A 497/B 525), worauf die ganze Antinomie beruht, eine große Rolle beim Verständnis des transzendentalen Idealismus bzw. des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« spielt. Darauf werde ich im dritten Kapitel eingehen.

Stelle 2: »das Unbedingte nicht an Dingen, so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst angetroffen werden müsse« [1] Aber hierin liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahr­ heit des Resultats jener ersten Würdigung unserer Vernunfterkenntniß a priori, daß sie nämlich nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt liegen lasse. [2] Denn das, was uns nothwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst nothwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten und dadurch die Reihe der Bedingun­ gen als vollendet verlangt. [3] Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntniß richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, daß das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne; dagegen, wenn man annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr als Erscheinungen richten sich nach unserer Vorstellungsart, der Widerspruch wegfalle; [4] und daß folglich das Unbedingte nicht an Dingen, so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst angetroffen werden müsse: so zeigt sich, daß, was wir anfangs nur zum Versuche annahmen, gegründet sei. (B XXf; Hervorhebung durch den Verfasser)

Diese Stelle befindet sich nach der ersten Stelle (B XVIII, Anm.) und der Stelle über die zwei Teile der Metaphysik (vgl. Unterabschnitt 2.3 dieses Kapitels). Der erste Satz, in dem Kant von der Wirklichkeit und der Unerkennbarkeit der Dinge an sich spricht, scheint hoch­ problematisch zu sein. Wie gesagt, ist noch nicht der Punkt der Arbeit erreicht, an dem diese Problematik entschlüsselt werden soll. Stattdessen ist vorerst nur durch die Analyse dieser Stelle zu zeigen, dass das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« in der Metaphysikkritik Thema ist. Zuvor schauen wir auf den zweiten Satz. Das »Ding an sich« und das Unbedingte werden von Kant so zusammengezogen, dass es das

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Unbedingte ist, »welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten und dadurch die Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt«. Daher bezieht sich das »Ding an sich« eigentlich auf das Feld des Übersinnlichen. Denn das Unbedingte bei Kant ist eine andere Bezeichnung für die transzendentalen Ideen (vgl. A 326/B 379). Im dritten Satz führt Kant zwei Situationen im Zusammenhang mit der ›Umänderung der Denkungsart‹ an. Die erste Situation ist, dass »das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne«, wenn man annimmt, dass sich unsere Erfahrungserkenntnis »nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst« richtet. Die zweite Situation ist, dass man annimmt, dass sich »diese Gegenstände« als Erscheinungen nach unserer Vorstellungsart richten. Dann fällt der Widerspruch, das Unbedingte zu denken, weg. Mit dieser Auf­ zählung betont Kant den Zusammenhang zwischen den (sinnlichen) Gegenständen als »Erscheinungen«, nicht als »Dinge an sich« und der widerspruchfreien Vorstellung der Ideen. Dies hebt den Zusam­ menhang zwischen transzendentaler Analytik und transzendentaler Dialektik hervor. Wie oben anhand der ersten Stelle gezeigt wird, beeinflusst die Art und Weise, wie man die Gegenstände der Sinne betrachtet, die Art und Weise, wie man die transzendentalen Ideen betrachtet. Hier wird auch klar, dass die Rolle des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« bei Kant nicht nur in der Erkenntnistheorie von Bedeutung ist, sondern auch in der Ideenlehre. Durch die »Ersch./D.a.s«-Unterscheidung stehen die beiden in einem Zusammenhang. Dieser Zusammenhang wird hier noch nicht ausführlich erläutert, da es dabei um die Frage geht, wie sich die ›Betrachtungsweisen‹ der Gegenstände der Sinne und die der transzendentalen Ideen zueinander verhalten. Dies kann jedoch erst erklärt werden, wenn man das kosmologische Argument analysiert hat.72 Damit werde ich mich im dritten Kapitel dieser Arbeit beschäftigen. Ein Ziel dieser Analyse ist es, diesen Zusammenhang zwischen Analytik und Dialektik zu betonen, damit das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« bzw. die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung nicht als eine Problematik der bloßen Erkenntnistheorie betrachtet wird. Im vierten Satz spricht Kant darüber, dass das Unbedingte nicht an Dingen, sofern wir sie kennen, sondern an Dingen, sofern wir sie 72 Mit dem kosmologischen Argument meine ich: »Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben; nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben; folglich etc.« (A 497 /B 525).

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nicht kennen, als ›Sachen an sich selbst‹ angetroffen werden muss. Worin besteht der Zusammenhang zwischen der Unerkennbarkeit der Dinge und dem Unbedingten? Das menschliche Erkennen ist laut Kant jederzeit diskursiv (vgl. A 68/B 93). Das bedeutet, dass wir ein Subjekt nicht durch dasselbe erkennen, sondern nur durch Prädikate erkennen können. Das Erkennen bedeutet hier, das Subjekt durch Prädikate zu bestimmen. Ist es bei einem Subjekt unmöglich, durch Prädikate zu bestimmen, ist es unerkennbar. Das Unbedingte wird in diesem Kontext als unbestimmt und daher unerkennbar bezeichnet. Das impliziert einen Zusammenhang zwischen »unbe­ stimmt/bestimmt« und »unbedingt/bedingt«. Etwas zu bestimmen bedeutet im theoretischen Kontext, dass man durch die Verstandesbegriffe Prädikate hinzufügt. Dies setzt die Bedingung voraus, dass dieses Etwas uns sinnlich gegeben werden kann, da die Verstandesbegriffe nur einen empirischen Gebrauch haben (vgl. A 246/B 303). Ein Gegenstand der Sinne kann durch­ gängig bestimmt werden, wenn er mit allen empirischen Prädikaten verglichen wird, die an demselben bejahend oder verneinend vorge­ stellt werden (vgl. A 581/B 609). Etwas Unbestimmtes zu sein, heißt dann, dass es nichts als Gegebenes zu bestimmen ist, bzw. dass etwas keine empirischen Prädikate aufweist. Das Unbestimmte bedeutet hier nicht, dass etwas noch nicht bestimmt ist, sondern nicht bestimmt werden kann. Es ist dann unmöglich, dieses Etwas durch die Verstandesbegriffe zu bestimmen. Die Vernunftideen können nicht sinnlich gegeben werden. Daher sind sie auch nicht durch den empi­ rischen Verstandesgebrauch zu bestimmen. Daher sind sie auch nicht zu erkennen, da keine empirischen Prädikate zu den Vernunftideen hinzugefügt werden können. In diesem Sinne spricht Kant davon, dass das Unbedingte an Dingen, sofern wir sie nicht kennen, angetroffen werden muss. Der Wortlaut »muss« betont einen Kritikpunkt am konstitutiven Vernunftgebrauch73. Denn der Vertreter des konstitutiven Vernunft­ gebrauchs würde die Ideen durch empirische Prädikate zu bestimmen versuchen. Das heißt, dass im konstitutiven Vernunftgebrauch das Unbedingte, das auf die Vernunftideen bezogen ist, bestimmt werden würde. Ein bestimmtes Unbedingtes wäre eigentlich ein Bedingtes. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der kosmologischen Antinomie, dass man über die Welt (als ein Unbedingtes) zwei kontradiktorische, 73

Dies werde ich im vierten Kapitel ausführlich diskutieren.

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aber begründbare Behauptungen aufstellen kann, z. B. die Welt sei endlich/unendlich. Die beiden Bestimmungen setzen voraus, dass die Welt ein gegebenes Ding ist. Wenn die Welt nicht gegeben ist, so ist sie auch nicht durch Prädikate wie »endlich/unendlich« zu bestim­ men. Versucht man durch diese Prädikate die Welt zu bestimmen, würde die Welt nicht als ein Unbedingtes, sondern als ein Bedingtes verstanden werden. Wenn etwas unbestimmt ist, würde kein Prädikat auf dieses Etwas angewendet werden. Daher ist uns dieses Etwas unbekannt. In diesem Zusammenhang gewinnt die bekannte kantische These der Unerkennbarkeit der »Dinge an sich« eine ganze neue Bedeutung.74 Die Dinge an sich sind für uns unbekannt, weil sie sich auf die Vernunftideen beziehen, wie Kant an dieser Stelle darlegt. Diese Unerkennbarkeit ist sogar ein Muss, denn andernfalls würden die Vernunftideen sich »jederzeit in Erscheinung verwandeln« (B XXX). Daher verbindet Kant die Unerkennbarkeit der »Dinge an sich« mit dem Unbedingten. Dieser Punkt wird im dritten Abschnitt des fünften Kapitels der vorliegenden Arbeit weiter diskutiert.

Stelle 3: »die durch unsere Kritik nothwendiggemachte Unterscheidung der Dinge als Gegenstände der Erfahrung von eben denselben als Dingen an sich selbst wäre gar nicht gemacht« [1] Nun wollen wir annehmen, die durch unsere Kritik nothwendigge­ machte Unterscheidung der Dinge als Gegenstände der Erfahrung von eben denselben als Dingen an sich selbst wäre gar nicht gemacht, [2] so müßte der Grundsatz der Causalität und mithin der Naturmechanism in Bestimmung derselben durchaus von allen Dingen überhaupt als wirkenden Ursachen gelten. [3] Von eben demselben Wesen also, z. B. der menschlichen Seele, würde ich nicht sagen können, ihr Wille sei frei, und er sei doch zugleich der Naturnothwendigkeit unterworfen, d. i. nicht frei, ohne in einen offenbaren Widerspruch zu gerathen, weil ich die Seele in beiden Sätzen in eben derselben Bedeutung, nämlich 74 Die allgemeine Deutung der Unerkennbarkeit der »Dinge an sich« bezieht sich darauf, dass »Dinge an sich« uns unbekannt seien, weil sie (als Gegenstände der Sinne) unabhängig von unserer Sinnlichkeit existieren würden. In Abschnitt 2.3.2 des vierten Kapitels wird gezeigt, dass diese Deutung problematisch ist: die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben, ist eigentlich eine Aktion des transzendentalen Verstandesgebrauchs, den Kant kritisiert.

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als Ding überhaupt (als Sache an sich selbst), genommen habe und ohne vorhergehende Kritik auch nicht anders nehmen konnte. […] [4] Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des nothwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der speculativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten benehme, weil sie sich, um zu diesen zu gelangen, solcher Grundsätze bedienen muß, die, indem sie in der That bloß auf Gegenstände möglicher Erfahrung reichen, wenn sie gleichwohl auf das angewandt werden, was nicht ein Gegen­ stand der Erfahrung sein kann, wirklich dieses jederzeit in Erscheinung verwandeln und so alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft für unmöglich erklären. (B XXVIIff; Ergänzungen durch den Verfasser)

Diese Stelle bezieht sich auf die mögliche Konsequenz, die sich erge­ ben würde, wenn die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung nicht gemacht werden würde. Vom zweiten Satz bis zum vierten Satz lassen sich drei Themen über die Konsequenz entnehmen: die Denkmöglichkeit der Freiheit, der freie Wille und der praktische Gebrauch der Vernunf­ tideen. Sie stehen alle im Zusammenhang mit der praktischen Philo­ sophie. Im ersten Satz spricht Kant von der »nothwendiggemachte[n] Unterscheidung« zwischen der »Erscheinung« und dem »Ding an sich«. Diese wird sie so beschrieben, dass »Dinge als Gegenstände der Erfahrung von eben denselben als Dingen an sich« zu unterschei­ den sind. In der weiteren Beschäftigung dieser Arbeit müssen zwei Probleme gelöst werden. Eines ist die Frage nach der Notwendig­ keit dieser Unterscheidung, das zweite Problem bezieht sich darauf, wie man die Formulierung ›eben denselben‹ verstehen kann. Im zweiten Satz spricht Kant über die Konsequenz im übersinnlichen Feld, wenn man die »Ersch. /D.a.s.«-Unterscheidung nicht treffe. In diesem Fall würde die Kausalität bzw. der Naturmechanismus alle Dinge überhaupt bestimmen. Mit dem Begriff »Dinge überhaupt« oder »Gegenst[ä]nd[e] überhaupt« (A 290/B 346) meint Kant die allgemeinste Vorstellung von Etwas, solange es sich nicht selbst widerspricht (vgl. AA04: 332). Also ist es ein Oberbegriff im abstrak­ testen Sinn. Im jetzigen Kontext kann man sowohl die sinnlichen Dinge als auch die übersinnlichen Dinge dem Begriff »Dinge über­ haupt« zuordnen. Die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung dient dazu, dass nicht alle Dinge von der Kausalität bestimmt werden. Laut Kant hat die Kausa­ lität nur innerhalb der sinnlichen Dinge bzw. der Gegenstände der

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Sinne ihre Gültigkeit. Darüber wurde in Abschnitt 2.2 in Bezug auf die absolute Idealität des Raumes und der Zeit diskutiert. Wenn diese bei­ den die Bedingungen aller Dinge wären, stünde nach Kant alles unter der Kausalität. Die übersinnlichen Dinge bzw. die transzendentalen Ideen sind nicht von der Kausalität zu bestimmen, wenn man den Raum und die Zeit nur als subjektive Bedingungen des Subjekts sieht. Damit ist es bei Kant möglich, wie im dritten Satz thematisiert, die menschliche Seele »in zweierlei Bedeutung« nehmen zu können, dass »ihr Wille sei frei, und er sei doch zugleich der Naturnothwendigkeit unterworfen, d. i. nicht frei, ohne in einen offenbaren Widerspruch zu gerathen«. Für die weiterführende Argumentation wird es wichtig sein zu erklären, was es bedeutet, die Seele in zweierlei Bedeutung zu nehmen und warum es keinen Widerspruch gibt, wenn man die Seele in zweierlei Bedeutung betrachtet. Auch was Kant damit meint, wenn die Seele als ein »Ding an sich« betrachtet wird, soll ausgeführt werden. Die »Ersch. /D.a.s.«-Unterscheidung ist nicht nur ein bloßes ›Wortspiel‹ bei Kant. Wie bereits gezeigt wurde, nimmt sie eine zentrale Rolle in der Erkenntnistheorie, der Ideenlehre und der Meta­ physikkritik ein. Das heißt aber auch, dass innerhalb der praktischen Philosophie die »Ersch. /D.a.s.«-Unterscheidung nicht gleichgültig vorausgesetzt werden darf. Im vierten Satz spricht Kant von der Konsequenz für die praktische Philosophie, wenn die »Ersch./D.a.s.«Unterscheidung nicht gemacht werden würde. Die drei Vernunftideen (Seele, Freiheit und Gott) können nicht aufgrund des praktischen Gebrauchs der Vernunft angenommen werden, wenn der Erkenntnis­ anspruch der spekulativen Vernunft im übersinnlichen Feld nicht kritisiert und abgelehnt wird. Daher ist das Ziel dieses Abschnitts erreicht, dass das Begriffs­ paar »Ersch./D.a.s.« nicht bloß in der Erkenntnistheorie Kants von Bedeutung ist, sondern auch in der Ideenlehre und in der praktischen Philosophie, und sogar als die Voraussetzung derselben gelten kann.

3.2 Anspruch einer angemessenen Interpretation des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« und die Einführung der P3 Durch die Analyse der obigen Stellen wurde verdeutlicht, wo das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« zum Tragen kommt: nämlich in der

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Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik

Erkenntnistheorie, in der Ideenlehre und in der praktischen Philoso­ phie. Aus der Perspektive der Metaphysikkritik ist das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« in zwei Teilen der Metaphysik, im Feld des Sinnlichen und des Übersinnlichen, vorzufinden. Nicht nur die Anwesenheit, sondern auch die Rolle des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« für die kantische Philosophie, sowohl für die theoretische als auch für die praktische, wurde auch durch die obige Analyse genauer erklärt. Diese Analyse hat auch ergeben, dass die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung die Grundthese des transzendentalen Idealismus bildet. Diesen sieht Kant als den Schlüssel für die Auflösung der kosmologischen Dia­ lektik an. Mit der »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung bzw. dem trans­ zendentalen Idealismus weist Kant jeden Erkenntnisanspruch im übersinnlichen Feld zurück. Das ist eine Grenzziehung, die überhaupt erst einen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft ermöglicht. Weil das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« in der ganzen kantischen Philosophie zum Tragen kommt, soll das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« (als in der gesamten Problematik) konsistent und schlüssig inter­ pretiert werden. Mit einer konsequenten Erklärungsart meine ich, dass die Bedeutung des »Dings an sich« und der »Erscheinung« in einem einheitlichen Sinn dargestellt werden kann, ohne hinsichtlich eines theoretischen und eines praktischen Gebrauchs differenzieren zu müssen. Um dieses Ziel zu erreichen, soll die Vollständigkeits-Problematik (die am Anfang dieses Kapitels skizziert wird) ins Gespräch gebracht werden. Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, beziehen sich die meisten Rezeptionen des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« nur auf Kants Erkenntnistheorie. Die Bedeutung dieses Begriffspaars in der Ideen­ lehre und in der praktischen Philosophie wird ignoriert. Durch die Analyse der obigen drei Stellen wird auch der Zusammenhang zwi­ schen der Erkenntnistheorie und der Ideenlehre sowie der praktischen Philosophie skizzenhaft erhellt: ohne die Denkmöglichkeit der Frei­ heit, die Kant durch die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung versichert, ist die Idee der Freiheit mit der Naturnotwendigkeit widersprüch­ lich. Diese Widersprüchlichkeit blockiert die praktische Anwendung der Freiheit. In diesem Zusammenhang wird hier P3 (und die drei Unterfra­ gen P3.1, P3.2 und P3.3) eingeführt und im Lauf der vorliegenden Arbeit ausführlich (im vierten, fünften und sechsten Kapitel) beant­ wortet. Dadurch wird die Grundlage einer konsistenten Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« gegeben, indem dieses Begriffspaar

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3. Das Vorhandensein des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«

in den drei Themenbereichen der kantischen Philosophie erörtert werden kann. Die Antwort auf P1 (die Unterscheidung zwischen »Ersch./D.a.s.«) und die auf P2 (»D.a.s.« als das Zugrundeliegende der »Ersch.«) können durch die Antwort auf P3 leicht angesehen wer­ den. P3 lautet: Wie steht die Relation zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« in drei Themenbereichen der Philosophie Kants? Entsprechend werden drei Unterfragen formuliert. P3.1: Wie muss die Relation zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« in Kants Erkenntnistheorie bestimmt wer­ den? P3.2: Wie muss die Relation zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« in Kants Ideenlehre bestimmt werden? P3.3: In welcher Relation stehen »Erscheinung« und »Ding an sich« in der praktischen Philosophie Kants? Anmerkung zu P3.1: In der Erkenntnistheorie wird die Frage nach der »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung zuerst aufgeworfen. Daher ist es für die ganze Interpretation der Philosophie Kants wichtig, insgesamt herauszufinden, was Kant damit meint, wenn er in der Erkenntnis­ theorie über die Begriffe »Ersch.« und »D.a.s.« spricht. Die Schwierig­ keit ist aber, wie bereits bekannt, dass Kants diesbezügliche Aussagen über das Verhältnis zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« ambivalent erscheinen. An manchen Stellen spricht er davon, dass die Erscheinung zwei Seiten hat, die eine sei das Objekt an sich, die andere sei die auf die Form der Anschauung dieses Objekts betrachtete Erscheinung (vgl. A 38/B 55). An anderen Stellen lehnt er »Dinge an sich« als Erkenntnisobjekte ab, da es gänzlich außer unserer Erkennt­ nissphäre ist, wie Dinge an sich selbst sein mögen (A 190/B 235). Aber gerade an solchen Stellen heißt es auch, dass »Dinge an sich« uns affizieren (vgl. ebd.). Ähnliche Wendungen finden sich auch im Werk Prol., wenn es heißt, dass wir die Dinge an sich nicht erkennen können, sondern nur ihre Erscheinungen (vgl. AA04: 289). Nicht verwunderlich ist, dass so vielfältige Interpretationen in Bezug auf die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung in der Erkenntnistheorie unter­ nommen wurden, wie auch schon im ersten Kapitel dargestellt wurde. Problematisch ist es dabei freilich, wenn immer nur die zur bereits gefassten Interpretation passenden Belege aus den »ambivalenten« Darstellung Kants ausgewählt und für die eigenen Interpretation ausgewertet werden, um damit zugleich die anderen Interpretatio­

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Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik

nen widersprüchlich erscheinen zu lassen, sie abzuschwächen oder zu widerlegen. Kant selbst hat erstaunlicherweise betont, dass die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung keineswegs schwer nachzuvollzie­ hen sei und dass dazu »kein subtiles Nachdenken erfordert« (AA 04: 451; GMS) werde. Dieses Zitat stammt aus dem Zusammenhang der praktischen Philosophie. Wie ich im Laufe meiner Interpretation zeigen werde, ist die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung trotz der oben genannten ambivalenten Anwendungen im erkenntnistheoretischen Zusammenhang tatsächlich nicht schwer nachzuvollziehen. Anmerkung zu P3.2: Die in der Erkenntnistheorie eingeführte »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung ist bei Kant nicht nur in erkennt­ nistheoretischer Hinsicht wichtig, sondern spielt auch eine entschei­ dende Rolle in der Ideenlehre bzw. in seiner Theorie der Freiheit, denn wie der berühmte Satz lautet »sind Erscheinungen Dinge an sich, so ist Freiheit nicht zu retten« (A 536/B 564). Darüber hinaus wurde oben bereits an der dritten Stelle erwähnt, dass die »Ersch./ D.a.s.«-Unterscheidung auch dem ›Glauben‹ »Platz« schafft, wie Kant betont. Im Zusammenhang der Ideenlehre hat die »Ersch./D.a.s.«Unterscheidung noch eine weitere zentrale Funktion, die ihrerseits die Voraussetzung dafür ist, mit der Unterscheidung die »Freiheit zu retten« und dem Glauben »Platz zu schaffen«, da sie bzw. der transzendentale Idealismus nämlich auch der Schlüssel zu Auflösung der kosmologischen Dialektik ist (vgl. A 490/B 518). Das ist deshalb der Fall, weil Kant der Auffassung ist, dass Freiheit und der moralische Glaube sowie alle anderen transzendentalen Ideen jenseits des sinn­ lichen Feldes angesiedelt werden müssen und nicht unmittelbar mit Anschauung verbunden werden können. Das hat zugleich zur Folge, dass man sie nicht zum Gegenstand einer Erfahrungserkenntnis machen kann. Die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung und insbesondere die Annahme von »Dingen an sich« eröffnen damit die Denkmöglich­ keit des übersinnlichen Feldes. Anmerkung zu P3.3: In der praktischen Philosophie werden die Begriffe »Erscheinung« und »Ding an sich« auch von Kant verwendet. Kant verbindet den moralischen Bestimmungsgrund des Willens mit dem Begriff »Ding an sich« bzw. »Verstandeswelt« und lehnt zugleich ab, diesen Bestimmungsgrund mit dem Begriff »Erscheinung« bzw. »Sinnenwelt« zu verbinden (vgl. AA04: 452f; AA05: 28f). Wenn man das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« bzw. »Sinnenwelt/Verstandeswelt« nur aus der Perspektive der praktischen Philosophie zu begreifen versucht, scheint es so zu sein, dass man eine metaphysisch-onto­

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3. Das Vorhandensein des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«

logische Voraussetzung der Zwei-Welten annehmen muss (wie die Zwei-Welten-Lesart suggeriert). M. E. ist diese Annahme unnötig, wenn man zuerst P3.1 und P3.2 schlüssig beantwortet. Im Zusammenhang mit der praktischen Philosophie Kants wird auch die Frage nach dem Verständnis des Ichs als »Erscheinung« und »Ding an sich« diskutiert (wenn auch nur als ein Exkurs). Die »Ersch./ D.a.s.«-Unterscheidung eröffnet in der Ideenlehre das übersinnliche Feld, insofern Kant damit ohne Widerspruch zeigen kann, dass das handelnde Subjekt in Bezug auf seinen intelligiblen Charakter frei ist, zugleich aber seine Handlungen in Bezug auf seinen empirischen Charakter als Erscheinungen unter Naturgesetzen stehen (vgl. A 540/B 568). Diesen Gedanken, dass das Ich als »Erscheinung« und »Ding an sich« betrachtet werden muss, hat Kant in vielen Texten (vgl. AA04: 451f GMS; AA05: 97f KpV) geäußert. Dieser bildet den Kern seiner praktischen Philosophie. Die Frage, die sich nun diesbezüglich stellt, lautet: Wie ist das Ich als »Ding an sich« und »Erscheinung« zu verstehen? Hat das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« hier dieselbe Bedeu­ tung wie in der Erkenntnistheorie? Kants Ausdrücke über dieses Begriffspaar in der Erkenntnistheorie scheinen schon problematisch und ambivalent zu sein (vgl. Anmerkung zu P3.1). Soll man anneh­ men, dass Kant in der praktischen Philosophie in Bezug auf das Ich als »Erscheinung« und »Ding an sich« eine neue Bedeutung entwickelt, die mit dem Verständnis von »Dingen an sich« in der theoretischen Philosophie nichts zu tun hat? Kant ist sich aber der Kontinuität zwischen seiner theoretischen und praktischen Philosophie bewusst. Oben wurde gezeigt, dass die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung aus der Erkenntnistheorie stammt. Sie bezieht sich auf die Ideenlehre und dadurch auch auf die praktische Philosophie. In der Vorrede der KpV spricht Kant über diese Kontinuität, dass man die Gegenstände der Sinne nur für »Erscheinungen« hält, aber gleichwohl das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende annimmt. Diese Annahme ermöglicht dann, die Realität der Freiheit und das Subjekt als »Ding an sich«75 zugleich zu denken (vgl. AA 05: 6 KpV). Diese Annahme scheint in der theoretischen Philosophie jedoch sehr problematisch zu sein, da, wie in der Anmerkung zu P3.1 aufgezeigt wurde, das Resultat der kantischen Erkenntnistheorie lautet, dass wir nur »Erscheinun­ gen« erkennen können, niemals »Dinge an sich«. Die Annahme, dass »Dinge an sich« den »Erscheinungen« zugrunde lägen, würde 75

Dieses Problem wird im siebten Kapitel ausführlich diskutiert.

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Zweites Kapitel: Eine Vorüberlegung zu Kants Metaphysikkritik

dieses Resultat schwer nachvollziehbar machen. Aber ohne diese Annahme ist die praktische Philosophie problematisch, weil von der Denkmöglichkeit der Freiheit nichts übrigbleiben könnte. Denn die Kausalität würde auf das Ding überhaupt angewendet werden, wenn die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung ausbleibt (vgl. B XXVII). Daher soll man einerseits diese Annahme in der theoretischen Philosophie erklären, ohne das Resultat der kantischen Erkenntnistheorie zu unterschlagen. Andererseits soll diese Annahme in der praktischen Philosophie verwendet werden können. Um diesen Problemen zu entgehen, soll eine angemessene Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« gefunden werden, die diese drei Fragen konsequent und einheitlich beantwortet. Was den vierten Punkt aus dem 7. Abschnitt des ersten Kapitels anbe­ langt, kann eine konsequente und schlüssige Lesart in Bezug auf das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« dann entwickelt werden, wenn aus den drei Themenbereichen der kritischen Philosophie Kants eine einheitliche Rekonstruktion erfolgen kann. Die Möglichkeit einer einheitlichen Lesart dieser drei Themenbereiche tut sich in Kants Metaphysikkritik auf. Daher lässt sich die kritische Philosophie als eine Metaphysikkritik Kants rekonstruieren. Wichtig ist auch zu unterscheiden, was zum einen Gegenstand dieser Metaphysikkritik ist und was zum anderen das Resultat derselben ist. Die kosmologi­ sche Antinomie steht m. E. im Zentrum von Kants Metaphysikkritik. Es wird im nächsten Kapitel darauf eingegangen, inwiefern die Anti­ nomie einen hilfreichen Hinweis für das Verständnis des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« liefert.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser zum Verständnis des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«

Im zweiten Kapitel wurde verdeutlicht, dass Kants Metaphysikkri­ tik als eine Kritik der Vermögen und ihrer Begriffe durchgeführt werden kann. Das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« ist in allen Teilen die­ ser Metaphysikkritik (Erkenntnistheorie, Ideenlehre und praktische Philosophie) von Bedeutung. Am Ende des zweiten Kapitels wird der Anspruch erhoben, das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« in Bezug auf diese drei Teile konsequent zu interpretieren. Damit ist nicht nur gemeint, dass das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« innerhalb der drei Teile der kantischen Philosophie untersucht wird, sondern dass das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« in Bezug auf den Zusammenhang zwischen diesen Teilen untersucht werden muss. In diesem Kapitel möchte ich diesen Zusammenhang zwischen der Erkenntnistheorie und der Ideenlehre durch die Analyse der kosmologischen Antinomie und ihres ›dialektischen Arguments‹ aufzeigen. Im Folgenden werde ich zuerst eine Vorbemerkung (1) machen, um zu verdeutlichen, warum ich bei einer Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« mit der Antinomie anfange. Danach (2) analysiere ich das dialektische Argument, worauf die vierfache Anti­ nomie76 beruht, und zeige, dass Kants Aufdeckung dieses Arguments ein Fehlschluss ist. Im Abschnitt 2.3 werde ich unter Betrachtung des entwickelten Verständnisses des dialektischen Arguments der Antinomie das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« untersuchen und den systematischen Status der Antinomie in Kants KrV verdeutlichen. Schließlich (3) werde ich zwei Überlegungen aus diesem Kapitel folgern, die für das nächste Kapitel von Bedeutung sind.

76 Thematisch bezieht sich die vierfache Antinomie auf zwei kontradiktorische Aussagen über die Größe der Welt, die Teilbarkeit der Materie, die erste Ursache und das notwendige Wesen.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

1. Vorbemerkung: Warum kann die kosmologische Antinomie als Wegweiser für das Verständnis des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« gelten? Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, eine angemessene Interpreta­ tion des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« zu geben. Diese Interpretation müsste üblicherweise bei der transzendentalen Ästhetik beginnen, wo Kant erstmals über die Beziehung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« spricht (vgl. A 27f/B 43f). Ich werde in dieser Arbeit jedoch mit einer Analyse der Antinomie bzw. des dialektischen Argu­ ments anfangen. Der Grund dafür liegt darin, dass, wie man bereits in der Rekapitulation der Rezeptionsgeschichte sehen konnte, eine einheitliche Auffassung des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« aufgrund der »ambivalenten«77 Ausdrücke derselben in der transzendentalen Ästhetik und Analytik schwer zu fassen ist. Diese »Ambivalenz« besteht darin, dass man, wie es bei den meisten Interpretationen der Fall ist, das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« bzw. die »Ersch./D.a.s.«Unterscheidung nur innerhalb der Erkenntnistheorie interpretiert. Um diese »Ambivalenz« aufzulösen, ist es wichtig, die Rolle des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« im Kontext der gesamten Philosophie Kants zu interpretieren. Im zweiten Kapitel wurde erläutert, dass das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« tatsächlich in der ganzen Philosophie Kants vorhanden ist.78Aber dieses Vorhandensein, das im zweiten Kapitel herausgearbeitet wurde, ist bislang rein additiv dargestellt. Ist dieses Vorhandensein tatsächlich nur additiv zu denken oder besteht ein systematischer Zusammenhang? Meine These ist, dass die Antinomie den Ausgangspunkt bildet, um das Begriffspaar »Ersch./ D.a.s.« in verschiedenen Bereichen von Kants Philosophie systema­ tisch und angemessen zu erfassen. Die Besonderheit der Antinomie in der kantischen Philosophie ist, dass sie einerseits mit dem sinnlichen und andererseits mit dem übersinnlichen Feld zu tun hat. Das bedeu­ tet, dass sie nicht nur im Zusammenhang mit der Erkenntnistheorie, Das Wort »ambivalent« wird im letzten Satz mit Anführungszeichen gesetzt, weil ich durch meine Arbeit zeigen werde, dass die Ausdrücke des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« in der Ästhetik und Analytik eigentlich nicht ambivalent sind, sondern nur so zu sein scheinen. 78 Das Resultat des zweiten Kapitels ist, dass die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung in der Erkenntnistheorie, in der Ideenlehre und in der praktischen Philosophie zum Tragen kommt. Aus der Perspektive der Metaphysikkritik ist sie sowohl im Feld des Sinnlichen als auch im Feld des Übersinnlichen vorzufinden. 77

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1. Vorbemerkung

sondern auch mit der Ideenlehre und der praktischen Philosophie steht. Diese Besonderheit der Antinomie birgt die Möglichkeit, die Rolle der »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung deutlicher herauszuarbei­ ten. Im Folgenden möchte ich anhand von zwei Punkten begründen, warum die Antinomie für das Verständnis des Begriffspaars »Ersch./ D.a.s.« wichtig ist. Der erste Punkt (1.1.) behandelt die Beziehung zwi­ schen der Antinomie und dem übersinnlichen Feld. Im zweiten Punkt (1.2) hingegen geht es um die Beziehung zwischen der Antinomie und dem sinnlichen Feld.

1.1 Die kosmologische Antinomie und das übersinnliche Feld: Widerstreit der Vernunft mit sich selbst Das Unbedingte ist für Kant die allgemeine Bezeichnung für die transzendentalen Ideen. Die wesentliche Aufgabe der Metaphysik bezieht sich laut Kant auf die drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterb­ lichkeit (vgl. A 337/B 395, Anm.). Aber die kosmologische Antinomie hat ihre Besonderheit, dass sie durch These und Antithese einen »Widerstreit der Vernunft mit sich selbst« bildet. Im Brief an Chr. Garve vom 21.09.1798 erklärt Kant, dass sein Weg zur »Critik der Vernunft« mit der Antinomie angefangen hat: Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: »Die Welt hat einen Anfang –: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten : Es ist Freyheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freyheit, sondern alles ist in ihm Naturnothwendigkeit«; diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben. (AA 12: 257f)79

Die Antwort auf die Frage, warum es gerade die kosmologische Anti­ nomie ist und nicht die anderen Themen der Metaphysik, die Kant Vgl. auch Prol.: »Dieses Product [die kosmologischen Ideen] der reinen Vernunft in ihrem transscendenten Gebrauch ist das merkwürdigste Phänomen derselben, wel­ ches auch unter allen am kräftigsten wirkt, die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken und sie zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft selbst zu bewegen.« (AA04: 338). 79

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

aus dem sogenannten ›dogmatischen Schlummer‹ erwecken, besteht darin, dass die Weltbegriffe, auf die sich die Antinomie bezieht, von den Begriffen Gott und Untersterblichkeit der Seele grundlegend verschieden sind.80 Gott und die Unsterblichkeit der Seele bilden nur »einen bloß einseitigen Schein« (A 406/B 433). Das bedeutet, dass, wenn man den Erkenntnisanspruch auf die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele erhebt, man die Grenze der Erfahrung überschreiten und daher seine Behauptungen im Feld des Übersinn­ lichen rechtfertigen müsste. Wenn man die Existenzen derselben verneint, überschreitet man aber nicht die Grenzen der Erfahrung. Daher entspringt kein transzendentaler Schein aus Vernunftbegriffen bei der Behauptung des Gegenteils. Es ist kein Hindernis, die Exis­ tenz der Seele und die Existenz Gottes zu behaupten. Denn eine solche Behauptung enthält in sich keinen Widerspruch und über diese Behauptung weiß der Gegner genau so wenig wie der Vertreter der Auffassung (vgl. A 673/B 701). Ganz anders verhält es sich bei den kosmologischen Ideen. Die Vernunft stößt auf eine Antinomie, »wenn sie solche zu Stande brin­ gen will« (ebd.). Unter der Antinomie versteht Kant den »Widerstreit der Gesetze« (A 407/B 434). Spezifisch geht es hier nur um die kosmologischen Ideen bzw. die Weltbegriffe, »die absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen« (ebd.). Dazu lassen sich zwei kontradiktorische Behauptungen entwickeln, welche an sich ohne Widerspruch und begründbar sind (vgl. A 421/B 449; AA04: 340). Damit wird verständlich, warum Kant behauptet, dass die Antinomie ihn aus dem dogmatischen Schlummer aufgeweckten habe und »zur Critik der Vernunft selbst hintrieb« (AA12: 257f). Denn durch die Begründbarkeit der zwei kontradiktorischen Behauptungen bei der kosmologischen Idee zeigt sich »ein neues Phänomen der menschli­ chen Vernunft« (A 407/B 433), woraus »eine ganz natürliche Anti­ thetik« (ebd.) entspringt. Eine solche dialektische Lehre wird sich nicht auf die Verstandeseinheit in Erfahrungsbegriffen, sondern auf die Vernunfteinheit in bloßen Ideen beziehen, deren Bedingungen, da sie erstlich als Synthesis nach Regeln dem Verstande und doch zugleich als absolute Einheit derselben 80 Der Punkt, dass die Antinomie Kant aus dem dogmatischen Schlummer aufweckt, diskutiere ich nur im systematischen Sinn. Eine entwicklungsgeschichtliche Darstel­ lung und Diskussion findet sich in Riveros Buch im Abschnitt 3.4: »Der Ursprung der Transzendentalphilosophie und die Frage nach der Antinomie: eine Diskussion« (Rivero 2014: 110f).

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1. Vorbemerkung

der Vernunft congruiren soll, wenn sie der Vernunfteinheit adäquat ist, für den Verstand zu groß und, wenn sie dem Verstande angemessen, für die Vernunft zu klein sein werden; woraus denn ein Widerstreit entspringen muß, der nicht vermieden werden kann, man mag es anfangen, wie man will. (A 422/B 450)

An dieser Stelle sagt Kant, dass die Antinomie »die Vernunfteinheit in bloßen Ideen« betreffe. Das bedeutet, dass man sich das Unbedingte bei der rationalen Kosmologie (in Bezug auf die Welt) vorzustellen versucht. Diese Vorstellung ruft einen Widerstreit hervor, wenn man zwei gleichermaßen begründete kontradiktorische Prädikate zu diesem Unbedingten hinzufügt. Ich nehme die Weltgröße als Beispiel, um dies zu erklären. Wenn man sich dieses Unbedingte nach der empirischen Syn­ thesis des Verstandes so vorstellt, dass die Welt endlich sei, so ist diese Vorstellung für die Vernunft ›zu klein‹. Denn die Vernunft fragt immer nach einer höheren Bedingung. Was wäre die Bedingung für die Grenze der Welt, wenn diese Grenze als ein Bedingtes betrachtet werden würde? Wenn man sich dieses Unbedingte nach der Vernunft vorstellt, dass die Welt unendlich sei, so ist diese Vorstellung für den Verstand ›zu groß‹, denn diese »unendliche« Vorstellung ist für den Verstand durch seine empirische Synthesis unzugänglich, da er nicht durch einen sinnlich fortgesetzten Regress dazu gelangen kann. Die Vorstellung des kosmologischen Unbedingten soll jedoch einerseits dem Verstand angemessen sein und andererseits der Vernunft, wie Kant in dem obigen Zitat ausführt. »Diese vernünftelnde Behauptungen« (ebd.), welche aus diesem Widerstreit »zu klein/zu groß«81 entspringen, »eröffnen also einen dialektischen Kampfplatz« (ebd.). Diese Situation ist eigentlich ein Vorteil für die menschliche Vernunft. Kant nennt die Antinomie »de[n] beste[n] Prüfungsversuch der Nomothetik« (A 424/B 452), denn die Antinomie macht auf »die Momente in Bestimmung ihrer Grundsätze [Grundsätze der Vernunft] aufmerksam« (ebd.), die die Fehltritte der Vernunft in abstrakter Spekulation nicht leicht aufde­ cken könne. Die Frage ist dann, wie man mit der Antinomie, ›dem neuen Phänomen der Vernunft‹, umgehen solle. Kant fordert an dieser Stelle, dass man nicht die Antinomie als ein bloßes »Spielgefecht« (A 464/B Über diesen »zu klein/zu groß«-Widerstreit legt Kant eine ausführliche Deutung vor, vgl. A 486f/B 514f.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

492) ansieht, sondern »über den Ursprung dieser Veruneinigung der Vernunft mit sich selbst« (ebd.) nachsinnen soll. Dieser Ursprung betrifft die Frage, ob die Art und Weise, wie wir die Gegenstände der Sinne annehmen, problematisch ist. Kant ist bestrebt, diese Problematik unparteiisch zu erörtern. Dabei versucht Kant die The­ sen und Antithesen in den vierfachen Antinomen zuerst als freien und ungehinderten Wettstreit untereinander (vgl. A 425/B 453) darzustellen, um anschließend zu zeigen, ob ihre kontradiktorischen Behauptungen auf einer problematischen Voraussetzung beruhen, sodass sie eigentlich »um Nichts streiten« (A 501/B 529). Diese »fal­ sche Voraussetzung« leitet zum zweiten Punkt über. Worin besteht die Beziehung zwischen der Antinomie und dem sinnlichen Feld?

1.2 Die kosmologische Antinomie und das sinnliche Feld: die Art und Weise, die sinnliche Gegebenheit zu bestimmen Im letzten Abschnitt wurde verdeutlicht, dass sich die Antinomie als ein Widerstreit der Vernunft mit sich selbst auf das übersinnliche Feld bezieht. Der Ursprung dieses Widerstreits liegt aber im sinnlichen Feld. Denn die Suche nach dem Unbedingten (in diesem Fall die Welt) verlangt ein gegebenes Bedingtes. Dieses Bedingte ist in der Kosmologie Gegenstand der Sinne. Dies kann durch den ›Grundsatz‹ der Vernunft erklärt werden: Wenn das Bedingte gegeben sei, so sei das Unbedingte gegeben/aufgegeben (vgl. zweites Kapitel). Dement­ sprechend ist der ›Inhalt‹ der Antinomie laut Kant »die unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen in der Erscheinung« (A 406/B 433). Das heißt, dass es bei der Antinomie einerseits um die Synthesis der Erscheinungen und andererseits um die unbedingte Totalität als Welt geht. Aber diese Totalität selbst ist das Resultat der Synthesis der Erscheinungen. Die Art und Weise der Annahme der Synthesis der Erscheinungen beeinflusst, wie die unbedingte Totalität als Welt angenommen wird. Mit dieser Bemerkung möchte ich im Folgenden zwei Punkte diskutieren, welche sich auf die Wichtigkeit der Antinomie für das Verständnis der »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung beziehen. Der erste Punkt ist, dass die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung das Resultat des transzendentalen Idealismus ist. Der transzendentale Idealismus ist laut Kant der Schlüssel zur Auflösung der Antinomie. Durch diesen systematischen Zusammenhang kann man die Rolle der »Ersch./

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1. Vorbemerkung

D.a.s.«-Unterscheidung in der Erkenntnistheorie besser verstehen. Der zweite Punkt ist, dass die Art und Weise, wie man die Gegen­ stände der Sinne annimmt, als »Erscheinungen« oder als »Dinge an sich«, eigentlich nur wichtig ist, wenn ein Bezug auf die Antino­ mie besteht. Zum ersten Punkt: Kant sieht den transzendentalen Idealismus als den Schlüssel zur Auflösung der Antinomie. Das zeigt sich nicht nur in der Beziehung zwischen dem sinnlichen und dem übersinnli­ chen Feld, sondern auch in der eindeutigen Position von Kant im transzendentalen Idealismus, wonach die Gegenstände der Sinne nur als »Erscheinungen«, nicht als »Dinge an sich« angenommen werden sollen. Dagegen findet man viele Stellen in der Ästhetik und Analytik, in denen die Beziehung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« ambivalent erscheint, wie im ersten und zweiten Kapitel gezeigt wurde. Im sechsten Abschnitt der Antinomie fasst Kant seine Grundposition des transzendentalen Idealismus zusammen. [1] Wir haben in der transscendentalen Ästehtik hinreichend bewiesen: daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen, sind, die so, wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben. Diesen Lehrbegriff nenne ich den transscendentalen Idealism. [2] Der Realist in transs­ cendentaler Bedeutung macht aus diesen Modificationen unserer Sinn­ lichkeit an sich subsistirende Dinge und daher bloße Vorstellungen zu Sachen an sich selbst. [3] Man würde uns Unrecht thun, wenn man uns den schon längst so verschrieenen empirischen Idealismus zumuthen wollte, der, indem er die eigene Wirklichkeit des Raumes annimmt, das Dasein der ausgedehnten Wesen in demselben leugnet, wenigstens zweifelhaft findet und zwischen und Wahrheit in diesem Stücke keinen genugsam erweislichen Unterschied einräumt. […] [4] Unser transscendentaler Idealism erlaubt es dagegen: daß die Gegenstände äußerer Anschauung, eben so wie sie im Raume ange­ schauet werden, auch wirklich sind und in der Zeit alle Veränderungen, so wie sie der innere Sinn vorstellt. (A 490f/B 518f; Hervorhebung durch den Verfasser)

Der erste Satz [1] zeigt Kants Position. Der zweite Satz [2] benennt die Position, gegen die er sich richtet: den »Realist[en] in transscen­

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

dentaler Bedeutung«. Mit dem dritten Satz [3] verweist Kant auf die Position des empirischen Idealismus und mittels des vierten Satzes [4] entkräftet Kant mit seinem empirischen Realismus des Raums und der Zeit den Vorwurf, dass sein transzendentaler Idealismus eine Art empirischer Idealismus sei. Insgesamt entspricht Kants Position der des transzendentalen Idealismus. Diese Position enthält zwei Teilpositionen, die Kant in der transzendentalen Ästhetik verdeutlicht. Eine ist die transzendentale Idealität des Raumes und der Zeit, die andere ist die empirische Realität des Raumes und der Zeit. Mit dem ersten Satz [1] artikuliert Kant eigentlich nur die erste Teilposition (die transzendentale Ideali­ tät des Raumes und der Zeit). Das heißt, dass alle Gegenstände der möglichen Erfahrung nichts als Erscheinungen sind. Sie werden im Raum und in der Zeit betrachtet. Weiter kritisiert Kant an der Posi­ tion des »Realist[en] in transscendentaler Bedeutung«, dass dieser die Erscheinungen zu »Sachen an sich selbst« mache.82 Durch den vierten Satz [4] wiederholt Kant seine Behauptung der empirischen Realität des Raumes und der Zeit und kritisiert damit den empirischen Idealismus. Er kritisiert hierbei, dass das Dasein der ausgedehnten Wesen im Raum geleugnet werde. An dieser Stelle gibt es also zwei entgegengesetzte Positionen über die Betrachtungsweisen der sinnlichen Gegebenheit83, die eigentlich auf der Betrachtungsweise des Raumes und der Zeit beru­ hen. Kants transzendentale Idealität des Raumes und der Zeit steht im Gegensatz zu der absoluten Realität derselben. Ebenso steht Kants empirische Realität des Raumes und der Zeit im Gegensatz zu der empirischen Idealität derselben. Der zweite Punkt ist auf die Art und Weise bezogen, wie man die Gegenstände der Sinne annimmt: als »Erscheinungen« oder als »Dinge an sich«. Eine besondere Bedeutung dessen stellt sich nur 82 Die Position des transzendentalen Realismus steht in einem historisch nicht ganz klaren Verhältnis zu der Position der absoluten Realität der Zeit, auch wenn eine gewisse Nähe zwischen den Positionen vorhanden zu sein scheint (vgl. A 35f/B 52f.). Im zweiten Kapitel wurde diese Position in dem Abschnitt »Die Rolle der Sinnlichkeit beim Erkenntnisgewinn« diskutiert. Im vierten Kapitel wird die Auffassung der absoluten Realität der Zeit mit dem transzendentalen Verstandesgebrauch verbunden. 83 Hier fehlt eigentlich noch eine Position, die Kant kritisiert. Es ist die Position der Leibniz-Wolffischen Philosophie, in der die Sinnlichkeit als ein verworrenes Vermö­ gen angesehen wird. Darauf werde ich in Abschnitt 2.3 dieses Kapitels zurückkommen.

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1. Vorbemerkung

ein, wenn man sie auf eine kosmologische Ebene bzw. die Antino­ mie bezieht. Es wurde bereits dargestellt, dass Kant eindeutig zeigt, dass die sinnliche Gegebenheit als »Erscheinungen« und nicht als »Ding an sich« anzunehmen ist. Diese Position beruht aber auf der Doppelthese über die transzendentale Idealität und die empirische Realität des Raumes und der Zeit. Die Frage ist nun, warum man die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« annehmen soll. Die Mathematik und Naturwissen­ schaft sind schon ihren »sicheren Weg einer Wissenschaft« (B X) gegangen, ohne zuvor eine Kritik der Vernunft benötigt zu haben. Schwieriger ist, dass viele Naturforscher nach Kant das problemati­ sche Verständnis über Zeit und Raum haben. Zum Beispiel nehmen mathematische Naturforscher gewöhnlich Zeit und Raum als zwei unendliche und ewige Dinge wahr, um alles Wirkliche in sich zu erfassen. Solange sie in ihrem Forschungsfeld bleiben, sind philosophi­ sche Reflexionen über die Art und Weise, wie man die Gegenstände der Sinne annimmt, für sie sogar irrelevant. Die Notwendigkeit, die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« und nicht als »Dinge an sich« anzunehmen, steht in engem Zusammenhang mit der kosmo­ logischen Idee. So schreibt Kant am Ende des sechsten Abschnitts der Antinomie »Der transscendentale Idealism, als der Schlüssel zu Auflösung der kosmologischen Dialektik« (A 490/B 518): Nur in anderweitiger Beziehung, wenn eben diese Erscheinungen zur kosmologischen Idee von einem absoluten Ganzen gebraucht werden sollen, und wenn es also um eine Frage zu thun ist, die über die Grenzen möglicher Erfahrung hinausgeht, ist die Unterscheidung der Art, wie man die Wirklichkeit gedachter Gegenstände der Sinne nimmt, von Erheblichkeit, um einem trüglichen Wahne vorzubeugen, welcher aus der Mißdeutung unserer eigenen Erfahrungsbegriffe unvermeidlich entspringen muß. (A 497/B 524f)

Der ›trügliche Wahn‹ bezieht sich auf die Antinomie bzw. den transzendentalen Schein. Nur wenn man die Grenze der Erfahrung überschreitet und die Welt als ein Thema der Metaphysik begreift, kann man die Antinomie antreffen. Ob die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« oder als »Dinge an sich« genommen werden, ist nur für die Aufdeckung des kosmologischen Arguments als Fehlschluss bzw. die Auflösung der Antinomie relevant. In diesem Zusammenhang ist leicht zu verstehen, warum Kant die Metapher »aus dem Schlummer erwecken« verwendet, denn

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

man erwacht häufig, nachdem eine merkwürdige Sache im Traum geschehen ist. Die Antinomie ist »das merkwürdigste Phänomen« (AA 04: 338). Aber dieses Phänomen besteht nur auf der kosmologi­ schen Ebene der Metaphysik, die die Naturwissenschaftler nicht als Forschungsthema ansehen. Nun ist zu klären, worin das Problem der Antinomie besteht. Laut Kant besteht das Problem nicht in der Argu­ mentation der Behauptungen, sondern in »der Mißdeutung unserer eigenen Erfahrungsbegriffe«. Kant versteht hier die Erfahrungsbe­ griffe nicht als empirische Begriffe, sondern vielmehr als die Art und Weise, »wie man die Wirklichkeit gedachter Gegenstände der Sinne nimmt«. Das heißt, dass die Antinomie (im übersinnlichen Feld) notwendigerweise erfordert, zum sinnlichen Feld zurückzugehen und unsere Betrachtungsweise der sinnlichen Gegebenheit zu überprüfen. Warum ist dies notwendigerweise erfordert? Die Antinomie bezieht sich auf die Vorstellungen der Weltbegriffe, die sich auf das Unbe­ dingte beziehen. Dieses Unbedingte ist ein Resultat der Synthesis der sinnlichen Gegebenheit, die sich auf das Bedingte bezieht. Ist die ›Betrachtungsweise‹ dieses Bedingten für die Antinomie verant­ wortlich? Dies wird durch eine Analyse des dialektischen Arguments in der rationalen Kosmologie gezeigt. Es ist Folgendes festzuhalten: Die Art und Weise, wie man die Gegenstände der Sinne fasst, ist nicht entscheidend für die Mathematik und Naturforschung per se, sondern bedeutungsvoll für die Antinomie, die sich auf die Totalität der Gegenstände der Sinne bezieht und ein Thema der Metaphysik ist.

2. Analyse des dialektischen Arguments und Kants Aufdeckung dieses Arguments als Fehlschluss In diesem Abschnitt möchte ich durch die Analyse des dialektischen Arguments zeigen, wo die Problematik unserer ›Betrachtungsweise‹ der sinnlichen Gegebenheit liegt und wie diese Problematik als ein Wegweiser für eine angemessenen Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« dienen kann. In Unterabschnitt 2.1 erläutere ich die Struktur des dialektischen Arguments, auf dem alle Antinomien beruhen. Danach verdeutliche ich in Abschnitt 2.2, wie Kant dieses Arguments als Fehlschluss bzw. ein »Sophisma figurae dictionis« aufdeckt. Im Anschluss werde ich in Abschnitt 2.3 diskutieren, was Kants Aufdeckung für das Verständnis des Begriffspaars »Ersch./ D.a.s.« bedeutet.

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2. Analyse des dialektischen Arguments

2.1 Die Struktur des dialektischen Arguments In diesem Abschnitt werde ich in drei Schritten (im Rahmen des Obersatzes, Untersatzes und Schlusses) die Struktur des dialektischen Arguments in der Antinomie darstellen. Im ersten Schritt werde ich die allgemeine Problemstruktur des dialektischen Arguments darstellen und den Obersatz erläutern. Im zweiten Schritt werde ich vier dialektische Argumente in Bezug auf die vierfache Antinomie anführen, die sich aus der allgemeinen Problemstruktur speisen. Das Ziel ist es, damit das Bedingte im Untersatz zu konkretisieren. Im dritten Abschnitt werde ich analysieren und aufzeigen, wie sich das Unbedingte auf die Gegebenheit der absoluten Totalität bezieht. Alle Thesen und Antithesen in der Antinomie liegen darin begründet, dass man diese Gegebenheit der absoluten Totalität annimmt, obwohl man dieselbe Gegebenheit zugleich in einem unterschiedlichen und entgegengesetzten Sinn interpretiert hat.

2.1.1 Erster Schnitt: Die allgemeine Problemstruktur des dialektischen Arguments und der Obersatz Kant subsumiert alle Teile der vierfachen Antinomie unter einer Problemstruktur, die er als das dialektische Argument bezeichnet. Auf diesem basieren alle kosmologischen Thesen und Antithesen.84 Die ganze Antinomie der reinen Vernunft beruht auf dem dialektischen Argumente: Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben; nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben; folglich etc. (A 497/B 525)

Die Abkürzung »etc.« verweist darauf, dass Kant das dialektische Argument nicht vollständig ausführt. Das ganze Argument als Modus ponens kann so notiert werden: Obersatz: Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben. Untersatz: Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben. 84 Hier ist zu beachten, dass dieses Argument von Kant als Fehlschluss bezeichnet. Daher ist die folgende Darstellung dieses Arguments nur eine Rekonstruktion und keine Beurteilung aus der kantischen Perspektive. Kants Berichtigung dieses Argu­ ments ist Thema des nächsten Abschnitts.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

Schluss: Folglich ist uns die ganze Reihe aller Bedingungen der Gegenstände der Sinne gegeben. Der Obersatz ist der ›Grundsatz‹ der reinen Vernunft, wie Kant schon in der Einleitung zur ganzen Dialektik formuliert hat. Für Kant ist dieser ›Grundsatz‹ als eine logische Maxime der Vernunft nicht problematisch, sondern es ist problematisch, wenn man ihn als ein objektives Prinzip der Vernunft gebraucht. Um den Obersatz zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Einleitung der Dialektik, in der Kant über diesen Grundsatz der Vernunft spricht: [1] der eigenthümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt (im logi­ schen Gebrauche) sei: zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird. [2] Diese logische Maxime kann aber nicht anders ein Principium der reinen Vernunft werden, als dadurch daß man annimmt: wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeord­ neter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten). [3] Ein solcher Grundsatz der reinen Vernunft ist aber offenbar syn­ thetisch; das Bedingte bezieht sich analytisch zwar auf irgend eine Bedingung, aber nicht aufs Unbedingte. […] (A 307f/B 364f; Anmer­ kung durch den Verfasser)

Diese Stellen machen den wesentlichen Teil des Abschnitts »C. Von dem reinen Gebrauche der Vernunft« in der Einleitung der transzen­ dentalen Dialektik auf. Mit dem ersten Satz [1] leitet Kant aus dem logischen Gebrauch der Vernunft den Grundsatz der Vernunft im logi­ schen Gebrauch ab. Die Vernunft verlangt, das Unbedingte zu finden, damit die Einheit der bedingten Erkenntnis des Verstandes vollendet werden kann. Kant bezeichnet diesen Grundsatz im zweiten Satz [2] als eine »logische Maxime«. Das bedeutet, dass dieser Grundsatz eine logische Forderung der Vernunft anzeigt, die die Vernunft aus ihrem eigenen Interesse, nicht aus der Beschaffenheit des Objekts verlangt. Daher ist die Maxime der Vernunft subjektiv, nicht objektiv (vgl. A 666/B 694). Diese Maxime kann als »ein Principium der reinen Vernunft« gelten, wenn man annimmt, wie im Satz [2], »wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander unterge­ ordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten)«. Man sieht klar, dass diese Annahme mit dem Obersatz des dialektischen Arguments identisch ist. Wichtig ist hier, dass die Gegebenheit des

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2. Analyse des dialektischen Arguments

Bedingten und die Gegebenheit des Unbedingten hier im logischen Sinn und nicht im realen Sinn zu verstehen sind. Mit dem dritten Satz [3] bestimmt Kant den Obersatz als ein syn­ thetisches Urteil, denn das Bedingte bezieht sich auf seine Bedingung, aber nicht auf das Unbedingte. Mit Kants Unterscheidung zwischen analytischem und synthetischem Urteil85 kann man dies so verstehen, dass das Bedingte als ein Begriff außerhalb des Unbedingten liegt. Ein synthetisches Urteil braucht dann immer ein Drittes, und das ist die Zeit. Daher soll man laut Kant überprüfen, ob man bei den beiden Begriffen (Bedingtes/Unbedingtes) in diesem Urteil dieses Dritte findet.86 [4] Ob nun jener Grundsatz, daß sich die Reihe der Bedingungen (in der Synthesis der Erscheinungen, oder auch des Denkens der Dinge überhaupt) bis zum Unbedingten erstrecke, seine objective Richtigkeit habe oder nicht; welche Folgerungen daraus auf den empirischen Verstandesgebrauch fließen, [5] oder ob es vielmehr überall keinen dergleichen objectivgültigen Vernunftsatz gebe, sondern eine bloß logische Vorschrift, sich im Aufsteigen zu immer höhern Bedingungen der Vollständigkeit derselben zu nähern und dadurch die höchste uns mögliche Vernunfteinheit in unsere Erkenntniß zu bringen; [6] ob, sage ich, dieses Bedürfniß der Vernunft durch einen Mißverstand für einen transscendentalen Grundsatz der reinen Vernunft gehalten worden, der eine solche unbeschränkte Vollständigkeit übereilter Weise von der Reihe der Bedingungen in den Gegenständen selbst postulirt; was aber auch in diesem Falle für Mißdeutungen und Verblendungen in die Vernunftschlüsse, deren Obersatz aus reiner Vernunft genommen worden (und der vielleicht mehr Petition als Postulat ist), und die von der Erfahrung aufwärts zu ihren Bedingungen steigen, einschleichen mögen. (A 307f/B 364f; Ergänzungen durch den Verfasser)

Vom vierten [4] bis zum sechsten Satz [6] beschreibt Kant die ver­ schiedenen Möglichkeiten, wie man den Obersatz mit drei Ob-Sätzen verstehen kann. Im vierten Satz [4] fragt Kant, ob der Grundsatz der Vernunft bzw. der Obersatz seine objektive Richtigkeit habe. Diese Frage beantwortet Kant im Folgenden mit Nein. Im fünften Satz [5] gibt Kant eigentlich die Antwort, wenn auch in Form einer indirekten Frage, dass der ›Grundsatz‹ der Vernunft nur »eine bloß logische Vor­ 85 Das habe ich am zweiten Kapitel diskutiert. Vgl. Abschnitt 2.2: Kants Kritik am ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ und ihr Einfluss auf das Begriffspaar »Ersch./ D.a.s.« im zweiten Kapitel. 86 Ich werde in Abschnitt 2.2.2. dieses Kapitels zu diesem Punkt zurückkehren.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

schrift« sei. Er dient nur dazu, sich »im Aufsteigen zu immer höheren Bedingungen der Vollständigkeit derselben zu nähern und dadurch die höchste uns mögliche Vernunfteinheit in unsere Erkenntniß zu bringen«. Dies steht dem objektiven Verständnis des Grundsatzes der Vernunft im vierten Satz [4] entgegen. Mit dem sechsten Satz [6] erklärt Kant, auch in der Form eines indirekten Fragesatzes, dass der Grundsatz der Vernunft eigentlich ein »Bedürfnis« der Vernunft zeige. Dieses »Bedürfnis« wird durch »einen Mißverstand für einen transscendentalen Grundsatz der reinen Vernunft gehalten«. Dieses Missverständnis ist, dass man einen konstitutiven Gebrauch der reinen Vernunft, während Kant nur einen regulativen Gebrauch der­ selben vertritt (vgl. A 644/B 672). Letzterer versteht den Grundsatz der Vernunft bzw. den Obersatz als ein »Bedürfnis« der Vernunft, wohingegen Ersterer ihn als ein objektives Prinzip derselben begreift. Der Obersatz ist dann »mehr Petition als Postulat«. Der Untersatz besagt: »nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben« (A 497/B 525). Das Bedingte wird hier also nicht nur im abstrakten Sinn verwendet, sondern gilt auch für die Gegenstände der Sinne. Der Begriff »Gegenstände der Sinne« wird von Kant fast Synonym zu dem Begriff der Erscheinungen gebraucht (vgl. A 34/B 51). Ich möchte aber hier für die Anwendung der beiden Begriffe Gegenstände der Sinne und Erscheinungen vorschlagen, dass man die Gegenstände der Sinne im neutralen Sinn und die Erschei­ nungen im kantischen Sinn verwenden soll. Das heißt, dass man unter dem Begriff »Gegenstände der Sinne« die sinnlichen Gegeben­ heiten versteht, während der Begriff »Erscheinungen« als der durch Kants Erkenntnistheorie geprägte Begriff »Gegenstände der Sinne« verstanden wird. Also fasst Kant die Gegenstände der Sinne in seiner Erkenntnistheorie als Erscheinungen. Dabei wird die Zusammenar­ beit der Sinnlichkeit und des Verstandes betont. In Abschnitt 2.3 des vierten Kapitels wird verdeutlicht, dass sowohl der Dogmatismus als auch der Empirismus laut Kant die Gegenstände der Sinne (als die sinnlichen Gegebenheiten) anerkennen. Die Differenz zwischen dem Dogmatismus und dem Empirismus sowie der Erkenntnistheorie Kants besteht nur darin, wie die Gegenstände der Sinne erkannt werden sollen. Kant führt bereits die Antinomie-Problematik vom Standpunkt seiner Erkenntnistheorie ein, nicht vom Standpunkt einer ›neutralen‹ Darstellung der Gegenstände der Sinne87. Daher werde 87

Vgl. Heimsoeth (1967: 202) und Malzkorn (1999: 78).

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2. Analyse des dialektischen Arguments

ich die zwei Begriffe – Gegenstand der Sinne und Erscheinung – differenzieren. Beide beziehen sich auf die sinnliche Gegebenheit. Die Erscheinung ist jedoch die von der kantischen Erkenntnistheorie geprägte sinnliche Gegebenheit, während Gegenstände der Sinne ›neutral‹ sind.

2.1.2 Zweiter Schritt: Das präzisierte Bedingte im Untersatz und vier dialektische Argumente In einem ersten Schritt wurde die allgemeine Problemstellung des dialektischen Arguments dargelegt. Im Untersatz wird darauf auf­ merksam gemacht, dass der Begriff »Gegenstände der Sinne« neutral verstanden werden soll. In Bezug auf die Präzision der vierfachen Antinomie werde ich vier dialektische Argumente darstellen, die aus der allgemeinen Problemstruktur des dialektischen Arguments mit den Kategorien abgeleitet werden können. Dazu ist noch nicht zu beurteilen, ob diese vier dialektischen Argumente laut Kant proble­ matisch sind. Im ersten Abschnitt der Antinomie »System der kosmologischen Ideen« (A 408f/B 435f) erklärt Kant, warum es nur vier kosmolo­ gische Ideen gibt. Die Vernunft erzeugt eigentlich keine Begriffe. Nur dem Verstand könnten die reinen und transzendentalen Begriffe entspringen. Vernunftbegriffe sind nur die zur absoluten Totalität erweiterten Verstandesbegriffe (vgl. ebd.). Aber nicht jeder Verstan­ desbegriff kann zur absoluten Totalität erweitert werden. Nur die Ver­ standesbegriffe, »in welchen die Synthesis eine Reihe ausmacht und zwar der einander untergeordneten (nicht beigeordneten) Bedingun­ gen zu einem Bedingten« (ebd.), können zu Vernunftbegriffen erwei­ tert werden. Daher gibt es eigentlich nur vier zu dieser Bedingung passende Verstandesbegriffe, die das System der kosmologischen Ideen bilden, wie ich in der folgenden Tabelle darstellen möchte.88

88 Der Inhalt meiner Tabelle fasst den ersten Abschnitt der Antinomie und die Fortschritts-Schrift zusammen. Vgl. A 409f/B 436f. und AA20: 288f.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser Quantität (extensive Größe: Zeit und Raum)

Qualität Relation (Realität/ (Kausalität) intensive Größe)

Modalität (Zufälligkeit)

Bedingte

Gegebener Augenblick und begrenzter Raum

Materie (Realität Gegebene im Raum) Wirkung

Das Zufällige im Dasein

Bedingung

Die ganze ver­ Die Teile laufende Zeit und ein anderer Raum als Bedin­ gung seiner Grenze

Die Reihe der Ursache

Verweist auf eine Bedin­ gung, darun­ ter ist dieses Zufällige not­ wendig

Gesuchtes Unbeding­ tes/ die absolute Vollständigkeit

Zusammenset­ zung des gegebe­ nen Ganzen aller Erschei­ nungen

Entstehung einer Erscheinung überhaupt

Abhängigkeit des Daseins des Verän­ derlichen in der Erschei­ nung

Teilung eines gegebenen Gan­ zen in der Erscheinung

Mit dieser Tabelle können wir vier dialektische Argumente rekon­ struieren. Der Obersatz soll von dieser Rekonstruktion ausgelassen und als ›Grundsatz‹ der Vernunft im allgemeinen Sinn angesehen werden89. Denn Kant setzt nur im Untersatz präzise das Bedingte als die Gegenstände der Sinne ein, und dadurch wird der Schluss, der sich auf die ganze Reihe aller Bedingungen der Gegenstände der Eine ähnliche Rekonstruktion findet sich auch bei Malzkorn (vgl. 1999: 104f). In seiner Rekonstruktion wird auch der Obersatz konkret benannt. Ich halte dies für ungerechtfertigt, weil Kant nur im Untersatz die konkrete Bedingung Argument einsetzt. Der Obersatz ist nur der allgemeine Grundsatz der Vernunft. Zum Beispiel ist das dialektische Argument in Bezug auf extensive Größe für ihn so: Obersatz: Wenn ein Gegenstand in Raum oder Zeit gegeben ist, dann ist das Ganze aller Gegenstände in Raum der Zeit ebenfalls gegeben. Untersatz: Nun ist uns ein Gegenstand in Raum oder Zeit gegeben. Schluss: Also ist das Ganze aller Gegenstände in Raum oder Zeit gegeben. Es wurde bereits erwähnt, dass der Obersatz für Kant nur eine logische Bedeutung hat. Das dialektische Argument kann nur insofern als Fehlschluss betrachtet werden, wenn das Bedingte im Obersatz und Untersatz in unterschiedlichen Bedeutungen angewendet wird. Wenn der Obersatz präzisiert würde, wie es bei Malzkorn der Fall ist, würde das Bedingte im Obersatz und im Untersatz mit der gleichen Bedeutung angenommen werden. Daher würde das dialektische Argument für wahr gehalten. In dem Fall würde die Antinomie nicht aufgelöst werden. Diese Kritik an Malzkorns Position basiert auf der Analyse des dialektischen Arguments, die in dieser Arbeit vorgestellt und in Abschnitt 2.2 dieses Kapitels ausgeführt wird. 89

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2. Analyse des dialektischen Arguments

Sinne bezieht, abgeleitet. Hier ist nur zu zeigen, wie das dialektische Argument unter den konkreten Bedingungen ausgedrückt wird. Ob der Schluss laut Kant problematisch ist, wird noch nicht diskutiert. Das erste dialektische Argument (1) bezieht sich auf die exten­ sive Größe: Untersatz (1): Nun sind uns der gegebene Augenblick und begrenzte Raum als bedingt gegeben. Schluss (1): Folglich ist uns die absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebenen Ganzen aller Erschei­ nung gegeben. Das zweite dialektische Argument (2) bezieht sich auf die inten­ sive Größe: Untersatz (2): Nun ist uns die ganze Materie als bedingt gegeben. Schluss (2): Folglich ist uns die absolute Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung gegeben. Das dritte dialektische Argument (3) bezieht sich auf die Kausalität: Untersatz (3): Nun ist uns eine gegebene Wirkung als bedingt gegeben. Schluss (3): Folglich ist uns die absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt gegeben. Das vierte dialektische Argument (4) bezieht sich auf die Zufälligkeit: Untersatz (4): Nun ist uns ein zufälliges Dasein als bedingt gege­ ben. Schluss (4): Folglich ist uns die absolute Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erschei­ nung gegeben.

2.1.3 Dritter Schnitt: Der Schluss und die Gegebenheit des Unbedingten Im letzten Schritt wurde das Bedingte in den vier dialektischen Argu­ menten konkretisiert. Der Schluss thematisiert die Gegebenheit des Unbedingten bzw. der absoluten Vollständigkeit. Hier werden die vier absoluten Vollständigkeiten nochmals zusammenfassend vorgestellt.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

1. 2. 3. 4.

Die absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung des gegebe­ nen Ganzen aller Erscheinungen (im Raum und in der Zeit) Die absolute Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Gan­ zen in der Erscheinung Die absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erschei­ nung überhaupt Die absolute Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen in der Erscheinung (vgl. A 415/B 443)

Alle Thesen und Antithesen in der Antinomie, die Kant dem Dog­ matismus und dem Empirismus zugeschrieben hat, setzten die Gege­ benheit des Unbedingten voraus. Der Empirismus, wie Kant ihn in der kosmologischen Antinomie rekonstruiert, setzt unreflektiert die Gegebenheit des Unbedingten voraus. Denn alle Antithesen in der Antinomie setzen die Thesen voraus. Alle Thesen, die dem Dogmatis­ mus zugeschrieben werden, werden aus dem dialektischen Argument abgeleitet. Der Schluss dieses Arguments ist, dass das Unbedingte uns gegeben sei. Der Dogmatismus und Empirismus interpretieren diese Gegebenheit laut Kant auf zwei verschiedene Weisen. Dies wird im folgenden Abschnitt (2.2) dieses Kapitels weiter diskutiert. Durch die drei Argumentationsschritte, die in diesem Kapitel vorgestellt wurden, wurden die Struktur des dialektischen Arguments dargestellt und der Obersatz, der Untersatz (das Bedingte) sowie der Schluss (das Unbedingte) analysiert. Der Obersatz ist nichts anderes als der Grundsatz der Vernunft. Im Untersatz wird das Bedingte nach der Ordnung der Kategorien in vier verschiedenen Weisen präzisiert. Daraus ergeben sich vier dialektische Argumente. Der Schluss bezieht sich auf die Gegebenheit des Unbedingten (der absoluten Vollständig­ keit). Alle Thesen und Antithesen beruhen auf dieser Gegebenheit des Unbedingten, obwohl sie diese unterschiedlich interpretieren.

2.2 Kants Aufdeckung des kosmologischen Arguments als ein »Sophisma figurae dictionis« Kant hat seine Aufdeckung des dialektischen Arguments als Fehlargu­ ment in vier Absätzen des siebten Abschnitts der Antinomie der rei­ nen Vernunft begründet (vgl. A 497/B 525–A 502/B 530). Der erste Absatz bezieht sich auf die Struktur des dialektischen Arguments, das in Abschnitt 2.1 bereits besprochen wurde. In diesem Abschnitt

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2. Analyse des dialektischen Arguments

beschäftige ich mich mit dem zweiten, dritten und vierten Absatz. Nach dieser Text-Analyse (2.2.1) wird eine Metaphysikkritik-Analyse (2.2.2) folgen, die auf Kants Metaphysikkritik beruht, die ich im zweiten Kapitel bearbeitet habe. Dadurch möchte ich zeigen, dass Kants Aufdeckung des dialektischen Arguments als Fehlschluss auf seiner Metaphysikkritik beruht. Hierbei ist noch einmal anzumerken, dass ich den Begriff »Gegenstand der Sinne/Gegenstände der Sinne« als die sinnli­ che Gegebenheit im neutralen Sinn und den Begriff »Erschei­ nung/Erscheinungen« als die sinnliche Gegebenheit im kantischen Sinn verstehe.

2.2.1 Textanalyse Bei der Textanalyse werde ich den zweiten, dritten und vierten Absatz in Kants Abschnitt »kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst« durchgehen und damit aufklären, wie Kant die Aufdeckung des dialektischen Arguments als Fehlschluss vornimmt. Die drei Absätze werden von mir in 16 Sätze unterteilt. Zunächst soll der zweite Absatz analysiert werden: [1] Zuerst ist folgender Satz klar und ungezweifelt gewiß: daß, wenn das Bedingte gegeben ist, uns eben dadurch ein Regressus in der Reihe Bedingungen zu demselben aufgegeben sei; denn dieses bringt schon der Begriff des Bedingten so mit sich, daß dadurch etwas auf eine Bedingung und, wenn diese wiederum bedingt ist, auf eine entferntere Bedingung und so durch alle Glieder der Reihe bezogen wird. [2] Die­ ser Satz ist also analytisch und erhebt sich über alle Furcht vor einer transscendentalen Kritik. Er ist ein logisches Postulat der Vernunft: diejenige Verknüpfung eines Begriffs mit seinen Bedingungen durch den Verstand zu verfolgen und so weit als möglich fortzusetzen, die schon dem Begriffe selbst anhängt. (A 497f/B 526; Hervorhebungen und Ergänzungen durch den Verfasser)

Im ersten Satz [1] stellt Kant einen »veränderten Obersatz« im Ver­ gleich zum Anfang seiner Aufdeckung des dialektischen Arguments dar. Der entscheidende Unterschied zum originalen Obersatz ist, dass Kant hier »aufgegeben« anstatt »gegeben« schreibt. Der Wortlaut »gegeben« bezieht sich auf eine Gegebenheit der absoluten Totalität. Der Wortlaut »aufgegeben« bezieht sich auf eine Aufgabe, die abso­ lute Totalität zu erreichen. Daraus ergibt sich im zweiten Satz [2], dass

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

dieser veränderte Obersatz ein analytisches Urteil ist, weil es immer um eine »Verknüpfung eines Begriffs mit seinen Bedingungen« geht. Die Bedingungen beziehen sich immer auf den Begriff des Bedingten, nicht auf das Unbedingte. Daraus »erhebt sich [der veränderte Ober­ satz] über alle Furcht vor einer transscendentalen Kritik«. Denn das Unbedingte beim veränderten Obersatz ist nur »ein logisches Postulat der Vernunft«. Das Postulat ist insofern logisch, nicht metaphysisch, wenn es nicht um die Gegebenheit des Unbedingten geht, sondern nur um die Aufgabe, das Unbedingte zu suchen (als die natürliche Tendenz der reinen Vernunft). Daher wird keine Gegebenheit des Unbedingten vorausgesetzt, sondern nur die Forderung der Vernunft, die Reihe der Bedingungen »so weit als möglich fortzusetzen«. Die Aufgabe, das Unbedingte durch die Vernunftideen zu suchen, ist nach Kant »in der Natur der menschlichen Vernunft gegründet« (A 323/B 380; vgl. auch das zweite Kapitel dieser Arbeit). Diesen Aufgabencharakter baut Kant in der ganzen transzendentalen Dia­ lektik auf. Im Anhang der transzendentalen Dialektik in »Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft« spricht er auch davon, dass die Ideen der reinen Vernunft »uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben« (A 669/B 697) seien. Weiter behauptet er dort auch, dass die Vernunftideen nicht dialektisch seien, sondern dass »ihr bloßer Mißbrauch« (ebd.) die Verantwortung für den transzendentalen Schein trüge. Kant verneint den ›Grund­ satz‹ der Vernunft nicht. Vielmehr hält Kant die Behauptung der objektiven Gültigkeit dieses ›Grundsatzes‹ für das Resultat eines problematischen Vernunftgebrauchs. Dies nennt Kant den konstituti­ ven Vernunftgebrauch. Dadurch werden die Vernunftideen als etwas Verdinglichtes angesehen. Stattdessen behauptet Kant den regulativen Vernunftgebrauch, durch den die Vernunftideen nur als Ausdruck der subjektiven Notwendigkeit verstanden werden. Durch das Unbe­ dingte als Aufgabe anstatt als Gegebenheit rechtfertigt Kant den ›Grundsatz‹ der Vernunft als eine Regel für das Subjekt (vgl. A 308/B 536) und nicht als eine Regel, durch die das Objekt bestimmt wird. Damit kündigt Kant bereits ein erstes Teilergebnis der Aufde­ ckung des Fehlschlusses an. Obwohl der originale Obersatz »so natür­ lich und einleuchtend scheint« (A 497/B 525), sei er aber »offenbar synthetisch« (A 308/B 364). Kant beginnt daher seine Aufdeckung mit dem veränderten Obersatz, der analytisch ist, und »erhebt sich [damit] über alle Furcht vor einer transscendentalen Kritik«. Auf den potenziellen Einfluss auf den Obersatz, der durch den Unterschied

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2. Analyse des dialektischen Arguments

zwischen analytischem und synthetischem Urteil entsteht, werde ich im nächsten Unterabschnitt zurückkehren. Die ersten zwei Sätze im dritten Absatz beziehen sich auf das Bedingte als »Ding an sich«: [3] Ferner: wenn das Bedingte so wohl, als seine Bedingung, Dinge an sich selbst sind, so ist, wenn das Erstere gegeben worden, nicht bloß der Regressus zu dem Zweiten aufgegeben, sondern dieses ist dadurch wirklich schon mit gegeben, und, weil dieses von allen Glie­ dern der Reihe gilt, so ist die vollständige Reihe der Bedingungen, mithin auch das Unbedingte dadurch zugleich gegeben, oder vielmehr vorausgesetzt, daß das Bedingte, welches nur durch jene Reihe möglich war, gegeben ist. [4] Hier ist die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung eine Synthesis des bloßen Verstandes, welcher die Dinge vorstellt, wie sie sind, ohne darauf zu achten, ob und wie wir zur Kenntniß derselben gelangen können. (A 498/B 526; Ergänzungen durch den Verfasser)

In diesem Abschnitt lässt sich der zentrale Moment der Aufdeckung des Fehlschlusses finden. Die Sätze [3] und [4] stehen den Sätzen [5] und [6] (siehe unten) entgegen. Die Sätze [3] und [4] beziehen sich auf das Bedingte und seine Bedingungen als »Ding an sich«. Dagegen beziehen sich die Sätze [5] und [6] auf das Bedingte und seine Bedingungen als »Erscheinung«. In Satz [3] beschreibt Kant den Fall (den er kritisiert), dass man das Bedingte und seine Bedingungen als »Dinge an sich« betrachtet. Alle Glieder der Reihe und das Unbedingte seien »zugleich gegeben, oder vielmehr vorausgesetzt«. Dieses gegebene Bedingte ist nur durch jene Reihe möglich. Was bedeutet aber das Bedingte als »Ding an sich«? Wird das »Ding an sich« hier als Letztrealität verstanden? Oder ist es die Ursache der Erscheinung? Oder wird es als ein unerkennbares Ding verstanden? Oder ist es eine philosophische Reflexion der Erscheinung?90 Mit dem vierten Satz [4] beantwortet Kant diese Frage teilweise. Das Bedingte mit seiner Bedingung steht unter der Synthesis des bloßen Verstandes, wenn man das Bedingte und seine Bedingung als »Ding an sich« betrachtet. Daher kann 90 Am Ende des ersten Kapitels habe ich eine Zusammenfassung der unterschied­ lichen Thesen des Begriffspaars »Ersch. /D.a.s.« vorgelegt. »Ding an sich« als Letz­ trealität, Grund der Erscheinung, ein unerkennbares Ding oder eine philosophische Reflexion der Erscheinung können zu den dort dargestellten Positionen gezählt wer­ den.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

das Bedingte als »Ding an sich« weder eine Letztrealität oder die Ursache der Erscheinung sein und auch nicht etwas Unerkennbares. Das Bedingte als »Ding an sich« bedeutet hier, dass man das Bedingte durch den bloßen Verstand denkt. Im Lauf der vorliegenden Arbeit wird verdeutlicht, dass das Bedingte als »Ding an sich« eigentlich Kants Kritik am Dogmatismus ist. Aber der Empirismus (in Bezug auf die kosmologische Antinomie) setzt nach Kants Rekonstruktion unre­ flektiert den Dogmatismus voraus, der besagt, dass das Unbedingte gegeben sei. Das Unbedingte kann insofern als gegeben angesehen werden, wenn das dialektische Argument für wahr gehalten wird. Dieses Fürwahrhalten ist laut Kant problematisch und setzt voraus, dass das Bedingte sowohl im Obersatz als auch im Untersatz als »Ding an sich« angenommen wird. Daher drückt das Bedingte als »Ding an sich« auch eine Kritik am Empirismus in Bezug auf die Antinomie aus. Im vierten Satz [4] führt Kant noch einen weiteren wichtigen Punkt für das Verständnis des Bedingten durch den bloßen Verstand aus. Der Verstand gibt die Dinge, »wie sie sind, ohne darauf zu achten, ob und wie wir zur Kenntniß derselben gelangen können«. Dieser Satz wird missverstanden, insofern man unter »wie sie sind« versteht, dass der Verstand uns die Dinge im wirklichen Sinn gibt, oder wenn man glaubt, durch den bloßen Verstand Dinge tatsächlich zu erkennen zu können. In demselben Satz widerlegt Kant dieses Missverständnis und behauptet, dass die Vorstellung91 der Dinge durch den Verstand nicht darauf achtet, »ob und wie wir zur Kenntniß derselben gelan­ gen können«. Wenn der Verstand nicht darauf achtet, ob wir zur Kenntnis der Dinge gelangen können, stellt sich die Frage, wie man behaupten könne, dass wir durch den Verstand Dinge erkennen, wie sie sind. Kants Hauptthese in der Erkenntnistheorie ist, dass wir die Gegenstände der Sinne nur durch die Kombination zwischen Verstand und Sinnlichkeit erkennen können (vgl. A 50/B 74; A 258/B 314). Das Bedingte wird im Untersatz des dialektischen Arguments mit den Gegenständen der Sinne gleichgesetzt. Daher kann Kant auch an dieser Stelle nicht meinen, dass wir durch den bloßen Verstand die Gegenstände der Sinne erkennen, wie sie sind, sondern nur, dass durch den Verstand allein die Gegenstände der Sinne nicht erkannt, sondern bloß gedacht werden, wenn der Verstand nicht in Verbindung 91 Der Begriff »Vorstellung« wird im allgemeinsten Sinn genommen. Das bedeutet, dass laut Kant Perzeption, Empfindung und Erkenntnis dem Begriff der Vorstellung zugeordnet werden (vgl. A 320/B 376f).

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2. Analyse des dialektischen Arguments

mit der Sinnlichkeit steht. Der Verstand als ein Denkvermögen ist ein Vermögen zum Urteil. Dafür ist keine Sinnlichkeit erforderlich. Aber in diesem Fall kann das Urteilen durch den bloßen Verstand bei Kant allein keinen Gegenstandsbezug haben, denn die Bedingung des Denkens ist nicht gleich wie die dieses Erkennens (Vgl. B 146). Im dritten Satz [3] wird zumindest ein Hinweis darauf gegeben, dass eine Beziehung zwischen dem Bedingten als »Ding an sich« und dem »Verstand allein im Betrieb« besteht. Auf diesen Punkt werde ich im nächsten Unterabschnitt im Zusammenhang mit der allgemeinen/transzendentalen Logik zurückkommen. Der Gegensatz der Sätze [3] und [4] wird von Kant in den Sätzen [5] und [6] diskutiert. Das Bedingte soll hier nicht als »Ding an sich« genommen werden, sondern als »Erscheinung«. Kants Aufdeckung des dialektischen Arguments als Fehlschluss beruht darauf, dass das Bedingte im Untersatz als »Erscheinung« angenommen werden soll. [5] Dagegen wenn ich es mit Erscheinungen zu thun habe, die als bloße Vorstellungen gar nicht gegeben sind, wenn ich nicht zu ihrer Kenntniß (d. i. zu ihnen selbst, denn sie sind nichts als empirische Kenntnisse) gelange, so kann ich nicht in eben der Bedeutung sagen: wenn das Bedingte gegeben ist, so sind auch alle Bedingungen (als Erscheinungen) zu demselben gegeben, und kann mithin auf die absolute Totalität der Reihe derselben keinesweges schließen. [6] Denn die Erscheinungen sind in der Apprehension selber nichts anders als eine empirische Synthesis (im Raume und der Zeit) und sind also nur in dieser gegeben. [7] Nun folgt es gar nicht, daß, wenn das Bedingte (in der Erscheinung) gegeben ist, auch die Synthesis, die seine empirische Bedingung ausmacht, dadurch mitgegeben und vorausgesetzt sei, son­ dern diese findet allererst im Regressus und niemals ohne denselben statt. [8] Aber das kann man wohl in einem solchen Falle sagen, daß ein Regressus zu den Bedingungen, d. i. eine fortgesetzte empirische Synthesis, auf dieser Seite geboten oder aufgegeben sei, und daß es nicht an Bedingungen fehlen könne, die durch diesen Regressus gegeben werden. (A 498f/B 526f; Hervorhebung durch den Verfasser)

Im fünften Satz [5] betrachtet Kant das Bedingte als »Erscheinung«, die eine bloße Vorstellung ist. Diese Vorstellung verlangt eine Gege­ benheit, die durch die Sinne ermöglicht wird. Daher kennt man das Bedingte und dessen Bedingungen in diesem Fall nur, wenn sie sinnlich gegeben werden. Dies unterscheidet sich davon, dass das Bedingte als »Ding an sich« (im Satz [3]) gegeben ist. Dort handelt es sich um eine ›logische Gegebenheit‹, die durch das Denken, nicht

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

durch die Sinne gegeben ist. Was ist dann die Besonderheit dieser sinnlichen Gegebenheit bzw. des Bedingten als Erscheinung? Mit dem sechsten Satz [6] erläutert Kant die Ursache dieser Besonderheit. »Denn die Erscheinungen sind in der Apprehension selber nicht anders als eine empirische Synthesis (im Raume und der Zeit) und sind also nur in dieser gegeben«. Die Erscheinungen sind hier als die Gegenstände der Sinne im Kontext der kantischen Erkenntnistheorie zu verstehen. Kant ist der Auffassung, dass wir die Gegenstände der Sinne (Gegenstände der Erfahrung) nicht nur durch den bloßen Verstand, sondern auch durch die Sinnlichkeit erkennen. Im Vergleich zur Vorstellung, dass das Bedingte nur durch den bloßen Verstand gedacht wird, ist hier die Sinnlichkeit bzw. die empirische Synthesis zusätzlich hervorgehoben. Dieser Zusatz verändert aber, wie das Bedingte angenommen wird. Erscheinungen können nur in einer empirischen Synthese gegeben werden. Diese Synthese kann deshalb nur sukzessiv erweitert werden. Das bedeutet, dass man in einer empi­ rischen Synthese Schritt für Schritt erfährt. Man kennt die nächste Bedingung des gegebenen Bedingten und dann die nächste Bedingung dieser Bedingung und so weiter. Der Grund dafür bezieht sich auf Kants Verständnis der Zeit. »Simultaneität und Sukzession sind die einzigen Verhältnisse in der Zeit« (A 182/B 226). Ich kehre zu diesem Punkt in Unterabschnitt 2.2.2 zurück. An dieser Stelle deutet sich aber schon an, dass der Unterschied zwischen dem Bedingten als »Ding an sich« und als »Erscheinung« daran festzumachen ist, ob man nur durch Verstand oder durch Verstand und Sinnlichkeit die Gegenstände der Sinne annimmt und ob die Bedingung der Zeit in der Synthese fehlt. Daher steht das Bedingte als »Ding an sich« zu dem Bedingten als »Erscheinung« im Gegensatz. In den Sätzen [7] und [8] folgert Kant, dass man nicht behaupten könne, dass die ganze Reihe und alle Bedingungen mitgegeben und vorausgesetzt seien, wenn man das Bedingte als Erscheinung ansieht. Man kann nur sagen, dass »ein Regressus zu den Bedingungen, d. i. eine fortgesetzte empirische Synthesis, auf dieser Seite geboten oder aufgegeben sei«. Kant verweist hier wieder auf die Aufgabe, das Unbedingte zu suchen, statt ihre Gegebenheit selbst. Nach der Erklärung der beiden Fälle, in denen im dritten Absatz das Bedingte als »Ding an sich« oder als »Erscheinung« interpretiert

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2. Analyse des dialektischen Arguments

worden ist, macht Kant im vierten Absatz das dialektische Argument als einen Fehlschluss aus.92 [9] Hieraus erhellt, daß der Obersatz des kosmologischen Ver­ nunftschlusses das Bedingte in transscendentaler Bedeutung einer reinen Kategorie, der Untersatz aber in empirischer Bedeutung eines auf bloße Erscheinungen angewandten Verstandesbegriffs nehme, folglich derjenige dialektische Betrug darin angetroffen werde, den man Sophisma figurae dictionis nennt. (A 499f/B 527f; Ergänzung durch den Verfasser)

Dieser Betrug sei »Sophisma figurae dictionis«. Ins Deutsche lässt sich dies als Trugschluss der Redensart übersetzen. Das heißt, dass »der medius terminus [Mittelbegriff] in verschiedener Bedeutung genommen wird« (AA09: 135). Im jetzigen Fall ist der »medius terminus« das Bedingte. Im neunten Satz [9] spricht Kant davon, dass das Bedingte mit zweierlei Bedeutungen verstanden werde. Im Obersatz des kosmologischen Vernunftschlusses wird das Bedingte »in transscendentaler Bedeutung einer reinen Kategorie« angenom­ men. Dagegen wird es im Untersatz »in empirischer Bedeutung eines auf bloße Erscheinungen angewandten Verstandesbegriffs« angenommen. Daher besteht der Fehlschluss laut Kant als »Sophisma figurae dictionis«. Das bisherige Verfahren der Metaphysik hält dieses Argument nicht für einen Fehlschluss, sondern für wahr. Denn diese Verfahren nimmt das Bedingte sowohl im Obersatz als auch im Unter­ satz in »transscendentaler Bedeutung einer reinen Kategorie«. Daraus wird der Schluss bzw. die Gegebenheit des Unbedingten abgeleitet. Das entscheidende Kriterium für die Frage, ob dieses Argument für wahr gehalten werden kann, besteht darin, wie das Bedingte im Unter­ satz bestimmt werden soll. Weil es bei dem Bedingten im Untersatz jedoch um die Gegenstände der Sinne geht, so ist das Problem der Art der Annahme des Bedingten zu einem erkenntnistheoretischen Problem geworden. Dieses lässt sich wie folgt formulieren: Wie werden die Gegenstände der Sinne von uns erkannt? Das Erkennen ist laut Kant eine Frage nach dem Gebrauch der Kategorien. Die beiden Annahmeweisen des Bedingten beziehen sich meiner Lesart nach eigentlich auf zwei Arten des Gebrauchs der Verstan­ desbegriffe bzw. Kategorien. Ein Gebrauch fasst das Bedingte »in transscendentaler Bedeutung einer reinen Kategorie«, und der andere 92 Das Argument der rationalen Psychologie wird von Kant auch als »sophisma figurae dictionis« identifiziert (vgl. A 402; B 411).

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

Gebrauch ist das Bedingte »in empirischer Bedeutung eines auf bloße Erscheinungen angewandten Verstandesbegriffs«. Wenn man auf die Sätze [3] und [5] zurückverweist, wird deutlich, dass der erste Gebrauch sich auf das Bedingte als »Ding an sich« bezieht und der zweite auf das Bedingte als »Erscheinung«. Die genauere Betrachtung über ihre Beziehung wird im nächsten Abschnitt dieses Kapitels behandelt. [10] Dieser Betrug ist aber nicht erkünstelt, sondern eine ganz natür­ liche Täuschung der gemeinen Vernunft. [11] Denn durch dieselbe setzen wir (im Obersatze) die Bedingungen und ihre Reihe gleichsam unbesehen voraus, wenn etwas als bedingt gegeben ist, weil dieses nichts andres, als die logische Forderung ist, vollständige Prämissen zu einem gegebenen Schlußsatze anzunehmen; [12] und da ist in der Verknüpfung des Bedingten mit seiner Bedingung keine Zeitordnung anzutreffen: sie werden an sich als zugleich gegeben vorausgesetzt. [13] Ferner ist es eben so natürlich (im Untersatze), Erscheinungen als Dinge an sich und eben sowohl dem bloßen Verstande gegebene Gegenstände anzusehen, wie es im Obersatze geschah, da ich von allen Bedingungen der Anschauung, unter denen allein Gegenstände gegeben werden können, abstrahierte. (A 499f/B 527f; Ergänzungen durch den Verfasser)

Vom zehnten Satz [10] bis zum 13. Satz [13] diskutiert Kant die Ursache dieses Fehlschlusses und stellt fest, dass dieser Betrug nicht künstlich gebildet wird, sondern »eine ganz natürliche Täuschung der gemeinen Vernunft« ist. Der Obersatz wird als eine »logische Forderung« angesehen, und daher wird keine Zeitordnung in der Verknüpfung des Bedingten mit seiner Bedingung mitgedacht. Diese natürliche Täuschung im Untersatz besteht darin, »Erscheinungen als Dinge an sich und eben sowohl dem bloßen Verstande gegebene Gegenstände anzusehen«. Das Gemeinsame der beiden Sätze ist, dass man von allen Bedingungen der Anschauung abstrahiert, wenn man mit »der gemeinen Vernunft« sowohl das Bedingte als auch dessen Bedingungen betrachtet. [14] Nun hatten wir aber hiebei einen merkwürdigen Unterschied zwischen den Begriffen übersehen. Die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung und die ganze Reihe der letzteren (im Obersatze) führte gar nichts von Einschränkung durch die Zeit und keinen Begriff der Succession bei sich. [15] Dagegen ist die empirische Synthesis und die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung (die im Untersatze subsumirt wird) nothwendig successiv und nur in der Zeit nach ein­

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2. Analyse des dialektischen Arguments

ander gegeben; [16] folglich konnte ich die absolute Totalität der Synthesis und der dadurch vorgestellten Reihe hier nicht eben so wohl, als dort voraussetzen, weil dort alle Glieder der Reihe an sich (ohne Zeitbedingung) gegeben sind, hier aber nur durch den successiven Regressus möglich sind, der nur dadurch gegeben ist, daß man ihn wirklich vollführt. (A 499f/B 527f; Ergänzungen durch den Verfasser)

Die Ursache dieser natürlichen Täuschung liegt nämlich darin, wie Kant in den Sätzen [14] und [15] schreibt, dass man »einen merk­ würdigen Unterschied zwischen den Begriffen [übersieht]« (Ergän­ zung durch den Verfasser). Mit den Begriffen meint Kant hier zwei Betrachtungsweisen über die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung. Die erste ist nur logisch, wie in den Sätzen [11] bis [13] dargelegt. Dies bedeutet, dass man alle Bedingungen der Anschauung (Zeit und Raum) von der Synthesis abstrahiert. Daher kann man sagen, dass nicht nur das Bedingte, sondern auch die ganze Reihe der Bedingungen sowie das Unbedingte gegeben sind. Denn diese ›Betrachtungsweise‹ führt keine »Einschränkung durch die Zeit und keinen Begriff der Succession bei sich«. Die Sukzession bezieht sich auf die bereits genannten Bedingungen der Anschauung, die bei dieser ›Betrachtungsweise‹ abstrahiert werden. Die zweite ist real, wie Kant in Satz [15] beschreibt. Die empirische Synthesis ist »nothwendig successiv und nur in der Zeit nach einander gegeben«. Daraus folgt nicht, dass die ganze Reihe gegeben ist, wie bei der logischen Betrach­ tungsweis der Synthesis, sondern nur die Bedingungen, die »durch den successiven Regressus möglich sind, der nur dadurch gegeben ist, daß man ihn wirklich vollführt«. Der Schwerpunkt ist auf die Frage zu setzen, wie man das Bedingte annimmt. Kant argumentiert, dass das Bedingte im Unter­ satz als »Erscheinungen« angenommen werden soll. Das dialektische Argument in der Kosmologie wird als Fehlschluss aufgedeckt, weil das Bedingte im Obersatz und Untersatz mit verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Daher sei das Unbedingte nicht selbst, sondern nur als Aufgabe gegeben, oder mit Kants Formulierung gesagt: aufgege­ ben (vgl. A 508/B 536). Dagegen wird dieses Argument für wahr gehalten, wenn man das Bedingte sowohl im Obersatz als auch im Untersatz als »Dinge an sich« annimmt. Dies hält Kant aber für problematisch. Es wurde bereits dargestellt, dass das Bedingte als »Erscheinung« oder als »Ding an sich« mit einigen Punkten zu tun hat: Die Synthesis der Reihe wird durch den Verstand und die Sinn­ lichkeit oder durch den bloßen Verstand angenommen. Das Bedingte

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

wird in empirischer Bedeutung oder transzendentaler Bedeutung der Kategorien angenommen. Auf diesen Ansatz und Kants Umgang damit werde ich im Folgenden mit einer Analyse der Metaphysikkritik bei Kant eingehen. Dabei soll verdeutlicht werden, dass Kants Aufde­ ckung eigentlich auf seiner Metaphysikkritik beruht.

2.2.2 Metaphysikkritik-Analyse Im zweiten Kapitel wurden in Abschnitt 2.2 »Kants Kritik am bis­ herigen Verfahren der Metaphysik und ihr Einfluss auf das Begriffs­ paar »Ersch./D.a.s.« anhand von vier Punkten in Bezug auf Kants Metaphysikkritik dargelegt, die sich auf die Natur des Begriffs und des Urteils beziehen. Sie beziehen sich auf die allgemeine/trans­ zendentale Logik, den Verstandes-/Vernunftbegriff, die Rolle der Sinnlichkeit und das analytische/synthetische Urteil. In diesem Unterabschnitt werde ich an diese vier Punkte anknüpfen, um zu zeigen, dass Kants Aufdeckung des kosmologischen Arguments als ein Fehlschluss eigentlich eine präzisierte Metaphysikkritik im kos­ mologischen Kontext ist. Ich werde zunächst die vier Punkte kurz wiederholen. Im Anschluss daran diskutiere ich deren Beziehungen mit Kants Aufdeckung des dialektischen Arguments als Fehlschluss. a.) In Bezug auf die allgemeine/transzendentale Logik Kants Kritik am Gebrauch der allgemeinen Logik ist, dass sie nicht dazu geeignet ist, metaphysische Behauptungen zu entwickeln, die sich auf Inhalte beziehen (vgl. A 60/B 84). Denn aller Inhalt der Erkenntnis wird in der allgemeinen Logik abstrahiert. Daher zeigt sie sich nur als »die Form des Denkens überhaupt« (A 55/B 79). Dem­ gegenüber werden in der transzendentalen Logik nicht alle Inhalte weggelassen. Es bleiben in der transzendentalen Logik die reinen Anschauungen bzw. »ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori« (A 76/B 102). Deswegen hat die transzendentale Logik mit dem »reinen Denken eines Gegenstandes« (A 55/B 80) zu tun. Dazu unterscheidet Kant noch zwei Arten des Gebrauchs des Verstandes und der Vernunft: den logischen und den reinen Gebrauch. Der logische Gebrauch geschieht durch die allgemeine Logik, während der reine Gebrauch durch die transzendentale Logik geschieht. Der logische Gebrauch stellt die Grundlage des reinen Gebrauchs dar,

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2. Analyse des dialektischen Arguments

aber der reine Gebrauch kann nicht mit dem logischen identifiziert werden. Denn während sich der reine Gebrauch auf die Metaphysik als Wissenschaft bezieht, bezieht sich der logische nur auf die allgemeine Logik, »den Vorhof der Wissenschaften« (B IX). Daher soll die allge­ meine Logik niemals als ein Organon benutzt werden. Unter Organon versteht Kant »eine Anweisung, wie ein[e] gewisse […] Erkenntniß zur Stande gebracht werden solle« (AA09: 13). Dazu wird nicht nur die Denkregel benötigt, sondern auch »die genaue Kenntniß der Wissenschaften, ihrer Objecte und Quellen [vorausgesetzt]« (ebd., Ergänzungen durch den Verfasser). Die allgemeine Logik kann nur formale Denkregeln geben, aber nicht die Objekte einer Wissenschaft, weil in der allgemeinen Logik von allem Inhalt abstrahiert wird. Die allgemeine Logik würde als Organon benutzt werden, wenn man sie als Mittel benutzt, um etwas Inhaltliches in der Metaphysik zu behaupten. Das ist laut Kant bei dem ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ der Fall. [Die] allgemeine Logik [ist], als Organon betrachtet, jederzeit eine Logik des Scheins, d. i. dialektisch […]. Denn da sie uns gar nichts über den Inhalt der Erkenntniß lehrt, sondern nur bloß die formalen Bedingungen der Übereinstimmung mit dem Verstande, welche übri­ gens in Ansehung der Gegenstände gänzlich gleichgültig sind: so muß die Zumuthung, sich derselben als eines Werkzeugs (Organon) zu gebrauchen, um seine Kenntnisse wenigstens dem Vorgeben nach auszubreiten und zu erweitern, auf nichts als Geschwätzigkeit hinaus­ laufen, alles, was man will, mit einigem Schein zu behaupten, oder auch nach Belieben anzufechten. (A 61/B 86; Ergänzungen durch den Verfasser)

Die allgemeine Logik lehrt bloß »die formalen Bedingungen der Über­ einstimmung mit dem Verstande«. Ein Urteil wird in der allgemeinen Logik nur dahingehend überprüft, ob es sich selbst widerspricht, also ob es nach dem Satz des Widerspruchs, der das allgemeine Kriterium der formalen Logik ist, als unmöglich oder möglich gilt. Diese Über­ prüfung bezieht sich jedoch nicht auf den Inhalt der Erkenntnis der Gegenstände. Daher ist die allgemeine Logik nicht hinreichend, um etwas Materielles zu überprüfen. Benutzt man die allgemeine Logik als ein Organon, um etwas Metaphysisches zu behaupten, wird diese Logik ›eine Logik des Scheins‹ sein. In welchem Zusammenhang steht dies mit Kants Aufde­ ckung des kosmologischen Arguments? Das Fürwahrhalten des dialektischen Arguments ist eigentlich ein Gebrauch der allgemeinen

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

Logik als Organon. Aus der Perspektive der transzendentalen Logik ist dieses Argument ein Fehlschluss. Die Ursache des Betrugs im dialektischen Argument bezieht sich auf eine als Organon benutzte allgemeine Logik. Aber dieses Argument bezieht sich auf die rationale Kosmologie, die ein Thema der Metaphysik, nicht der Logik ist. Das Bedingte und seine Bedin­ gungen in der rationalen Kosmologie haben einen Inhalt, der auf die Gegenstände der Sinne bezogen ist. Aus der Perspektive der allgemeinen Logik soll aber von diesem Inhalt abstrahiert werden, weil sich die Logik nur mit der Form des Denkens befasst. Hier handelt es sich also um eine Anwendung der allgemeinen Logik als Organon, denn man verwendet in der Gestalt der formalen Logik ein kosmologisches Argument. An dieser Stelle möchte ich auf die Sätze [10] bis [14] aus Kants Aufdeckung zurückkommen. [10] Dieser Betrug ist aber nicht erkünstelt, sondern eine ganz natür­ liche Täuschung der gemeinen Vernunft. [11] Denn durch dieselbe setzen wir (im Obersatze) die Bedingungen und ihre Reihe gleichsam unbesehen voraus, wenn etwas als bedingt gegeben ist, weil dieses nichts andres, als die logische Forderung ist, vollständige Prämissen zu einem gegebenen Schlußsatze anzunehmen; [12] und da ist in der Verknüpfung des Bedingten mit seiner Bedingung keine Zeitordnung anzutreffen: sie werden an sich als zugleich gegeben vorausgesetzt. [13] Ferner ist es eben so natürlich (im Untersatze), Erscheinungen als Dinge an sich und eben sowohl dem bloßen Verstande gegebene Gegenstände anzusehen, wie es im Obersatze geschah, da ich von allen Bedingungen der Anschauung, unter denen allein Gegenstände gegeben werden können, abstrahirte. [14] Nun hatten wir aber hiebei einen merkwürdigen Unterschied zwischen den Begriffen übersehen. Die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung und die ganze Reihe der letzteren (im Obersatze) führte gar nichts von Einschränkung durch die Zeit und keinen Begriff der Succession bei sich. (A 499f/B 527f; Ergänzungen durch den Verfasser)

Die Ursache dieser natürlichen Täuschung ist, dass man den Obersatz als eine logische Forderung annimmt, die die Vernunft durch ihren logischen Gebrauch natürlicherweise annimmt. Im Untersatz, wie Kant diesen in Satz [13] beschreibt, geschehe dasselbe wie im Ober­ satz. Und zwar seien die »Erscheinungen als Dinge an sich und eben sowohl dem bloßen Verstande gegebene Gegenstände anzusehen«. Unter Rückgriff auf die als Organon genutzte allgemeine Logik lässt sich erkennen, dass Kants Rede über die »Erscheinungen als Dinge

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2. Analyse des dialektischen Arguments

an sich« bedeutet, dass man mit dem Anspruch der allgemeinen Logik von allem Inhalt bei den »Gegenstände der Sinne als bedingt« (A 497/B 525) im Untersatz abstrahiert und sie als »dem bloßen Verstand gegebene Gegenstände« ansieht. Das ist auch eine logische Forderung, weil in der allgemeinen Logik von allem Inhalt abstrahiert wird. Nun ist das Bedingte als Gegenstand der Sinne durch die Abstrahierung der allgemeinen Logik nicht mehr ein Gegenstand der Sinne, sondern ein Gegenstand des Verstandes bzw. des Denkens. Die Ursache davon ist, wie Kant am Ende des Satzes [13] darlegt, dass »ich von allen Bedingungen der Anschauung, unter denen allein Gegenstände gegeben werden können, abstrahirte«. Auch aufgrund dieser Abstrahierung von allen Bedingungen der Anschauung führt die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung gar nicht die Zeitbedingung und »den Begriff der Succession« mit sich, wie Kant in Satz [14] zeigt. Im letzten Abschnitt wurde dargestellt, dass sowohl die Thesen und die Antithesen in der Antinomie von der Gegebenheit des Unbe­ dingten ausgehen. Das heißt, dass sowohl der Dogmatismus als auch der Empirismus die Gegebenheit der Unbedingten akzeptieren. Das bedeutet auch, dass sie das dialektische Argument für wahr halten. Die Ursache dafür ist, dass sie (Dogmatismus und Empirismus) die allgemeine Logik als Organon gebrauchen. Der Empirismus im Kontext der Antinomie (nicht im Kontext der Erkenntnistheorie) setzt aber unreflektiert die Gegebenheit der Unbedingten voraus, denn alle Antithesen (die Aussagen des Empirismus) in der kosmologischen Antinomie setzen die Thesen (die Aussagen des Dogmatismus) vor­ aus. Alle Thesen werden durch das Fürwahrhalten des dialektischen Arguments begründet. Aufgrund dieses Fürwahrhaltens wird die Gegebenheit des Unbedingten abgeleitet, die aus der kantischen Perspektive problematisch ist. Wenn der Empirismus die Thesen des Dogmatismus widerlegt, adressiert der Empirismus nicht diese Gege­ benheit des Unbedingten überhaupt, sondern nur die Bestimmung des gegebenen Unbedingten aus dem Dogmatismus. Nun ist klar, dass das Fürwahrhalten des dialektischen Argu­ ments auf der als Organon genutzten allgemeinen Logik beruht. Damit lässt sich erklären, warum der Dogmatismus und der Empiris­ mus gleichermaßen die Gegebenheit des Unbedingten akzeptieren, obwohl sie es auf unterschiedliche Weise interpretieren. Dies liegt daran, dass sie das dialektische Argument aus der Perspektive der formalen Logik gebrauchen und diese Logik als ein Organon verwen­

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

den. Im Zusammenhang mit der Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« wurde darüber hinaus festgestellt, dass sich Kants Redeweise von »Erscheinungen als Dinge an sich« sich in diesem Zusammenhang darum dreht, dass man die Gegenstände der Sinne (als das Bedingte und seine Bedingungen) von allen sinnlichen Bedin­ gungen abstrahiert. Daher werden die Gegenstände der Sinne als Gegenstände des Verstandes bzw. des Denkens ausgegeben. Das ist ein sehr wichtiger Punkt für den nächsten Abschnitt 2.3 dieses Kapi­ tels. b.) In Bezug auf den Verstandes-/Vernunftbegriff Kant sieht seine Unterscheidung des Vernunftbegriffs vom Verstan­ desbegriff als ein sehr »wichtiges Stück zur Grundlegung einer Wis­ senschaft, welche das System aller dieser Erkenntnisse a priori ent­ halten soll« (AA04: 328f; Prol. § 41). Ohne diese Unterscheidung ist die Metaphysik »schlechterdings unmöglich oder höchstens ein regel­ loser, stümperhafter Versuch« (ebd.). Kant kritisiert diesbezüglich, dass sich die Metaphysiker lange Zeit mit »den transzendenten Auf­ gaben der reinen Vernunft« beschäftigten, jedoch nicht ahnten, »daß man sich in einem ganz andern Felde befände als dem des Verstandes und daher Verstandes= und Vernunftbegriffe, gleich als ob sie von einerlei Art wären, in einem Striche hernannte« (AA04: 329). Durch diese Unterscheidung verweist Kant auch auf eine Kontinuität zwi­ schen Verstandesbegriff und Vernunftbegriff, die darin besteht, dass die Vernunftbegriffe die ins Unbedingte erweiterten Verstandesbe­ griffe sind (vgl. A 409/B 436). In welchem Zusammenhang steht dies mit der Unter­ scheidung mit dem dialektischen Argument bzw. Kants Auf­ deckung? Man kann das Bedingte und die Bedingung vom Unbe­ dingten nicht richtig unterscheiden, wenn man den Unterschied zwischen Verstandesbegriff und Vernunftbegriff nicht kennt. Wie sind das Bedingte und die Bedingung mit den Verstandes­ begriffe in Verbindung zu bringen und das Unbedingte mit den Ver­ nunftbegriffen? Wie oben erwähnt, es gibt eine Kontinuität zwischen Verstandes- und Vernunftbegriffen. Kant leitet die drei Arten der transzendentalen Ideen (psychologische, kosmologische und theolo­ gische) von den Kategorien ab. [E]s [werde] nur drei Arten von dialektischen Schlüssen geben […], die sich auf die dreierlei Schlußarten beziehen, durch welche Vernunft

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2. Analyse des dialektischen Arguments

aus Principien zu Erkenntnissen gelangen kann, und […] in allen [sei] ihr Geschäfte […], von der bedingten Synthesis, an die der Verstand jederzeit gebunden bleibt, zur unbedingten aufzusteigen, die er niemals erreichen kann. (A 333/B 390)

An dieser Stelle wird deutlich, dass der Verstand immer mit »der bedingten Synthesis« verbunden sei. Die Aufgabe der Vernunft sei es, durch diese bedingte Synthesis zum Unbedingten aufzusteigen. Und Kant betont an dieser Stelle, dass der Verstand dieses Unbedingte »niemals erreichen kann«. In Bezug auf die kosmologischen Ideen wird deutlich, dass sich das Bedingte und seine Bedingungen auf die Gegenstände der Sinne beziehen, während das Unbedingte auf die Weltbegriffe bezogen ist. Welche Konsequenzen hat es für die Unterscheidung »Bedingt/ Unbedingt«, wenn man die Unterscheidung zwischen Verstandesbe­ griff und Vernunftbegriff nicht kennt? Alle Thesen und Antithesen in der Antinomie setzen voraus, dass das Unbedingte wie das Bedingte und seine Bedingungen gegeben seien, obwohl sie die Gegebenheit des Unbedingten auf unterschiedliche Weise interpretieren. Das Pro­ blematische bei der Annahme der Gegebenheit des Unbedingten ist in Bezug auf den Verstandes- und Vernunftbegriff so zu verstehen93, dass man die Gegebenheit des Unbedingten als etwas Gleichartiges wie die Gegebenheit des Bedingten und der Bedingung ansieht. Da man nicht die Unterscheidung zwischen Verstandesbegriff und Vernunftbegriff kennt, glaubt man, dass sie gleichartig seien, weil sie Begriffe bzw. Produkte des Denkens seien. Aber aus Kants Perspektive sind die beiden Begriffe hinsichtlich »Art, Ursprung und Gebrauch« (AA04: 328) ganz unterschiedlich. Dies zeigt sich bei der Auflösung der mathematischen und dynami­ schen Ideen. Hierzu zitiere ich eine Stelle aus der KpV, »Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft«, in der Kant zusammenfassend über die beiden Arten von Ideen spricht: [1] Nun sind alle Kategorien in zwei Classen, die mathematische, welche blos auf die Einheit der Synthesis in der Vorstellung der Objecte, und die dynamische, welche auf die in der Vorstellung der Existenz der Objecte gehen, eingetheilt. [2] Die erstere (die der Größe und der Qualität) enthalten jederzeit eine Synthesis des Gleichartigen, 93 In Abschnitt 2.2.2 »C. In Bezug auf die Rolle der Sinnlichkeit« dieses Kapitels wird gezeigt, dass die Annahme der Gegebenheit des Unbedingten laut Kant problematisch ist, auch weil die Rolle der Sinnlichkeit bei dieser Annahme verkannt wird.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

in welcher das Unbedingte zu dem in der sinnlichen Anschauung gege­ benen Bedingten in Raum und Zeit, da es selbst wiederum zum Raume und der Zeit gehören und also immer wiederum bedingt sein müßte, gar nicht kann gefunden werden; daher auch in der Dialektik der reinen theoretischen Vernunft die einander entgegengesetzte Arten, das Unbedingte und die Totalität der Bedingungen für sie zu finden, beide falsch waren. [3] Die Kategorien der zweiten Classe (die der Causalität und der Nothwendigkeit eines Dinges) erforderten diese Gleichartigkeit (des Bedingten und der Bedingung in der Synthesis) gar nicht, weil hier nicht die Anschauung, wie sie aus einem Man­ nigfaltigen in ihr zusammengesetzt, sondern nur wie die Existenz des ihr correspondirenden bedingten Gegenstandes zu der Existenz der Bedingung (im Verstande als damit verknüpft) hinzukomme, vorgestellt werden sollte, und da war es erlaubt, zu dem durchgängig Bedingten in der Sinnenwelt (sowohl in Ansehung der Causalität als des zufälligen Daseins der Dinge selbst) das Unbedingte, obzwar übrigens unbestimmt, in der intelligibelen Welt zu setzen und die Synthesis transscendent zu machen […]. (AA05: 104; Ergänzungen durch den Verfasser)

Diese Stelle kann man auf vielfältige Weise interpretieren. Ich kon­ zentriere mich hier lediglich auf die ›Ungleichartigkeit‹ des Beding­ ten (und seiner Bedingung) vom Unbedingten. Im zweiten Satz [2] schreibt Kant, dass die mathematischen Ideen »jederzeit eine Synthesis des Gleichartigen« enthalten. Das bedeutet, dass sie sich nur auf eine Synthesis des Bedingten zu seiner Bedingung bezogen sind. Das Bedingte und seine Bedingungen (als Gegenstände der Sinne bzw. als Erscheinungen) können nur im Raum und in der Zeit gegeben sein. In der ganzen Synthesis findet »der Fortschritt von Erscheinungen zu Erscheinungen« (A 522/B 550) statt. In diesem Sinne spricht Kant davon, dass das Bedingte und seine Bedingungen gleichartig seien. Demgegenüber ist das Unbedingte, das in der ganzen mathematischen Synthesis nicht zu finden ist, etwas, das vom Bedingten und dessen Bedingungen zu unterscheiden ist, denn das Unbedingte kann nicht sinnlich gegeben werden. Daher kann man bei den ›mathematischen Ideen‹ nicht behaupten, dass die Welt endlich oder unendlich sei. Die Welt als ein Unbedingtes ist nicht gleichartig mit den Erscheinungen bzw. Gegenständen der Sinne in der Welt, die nur als das Bedingte und seine Bedingungen angenommen wer­ den können. Im Gegensatz dazu sei es laut Kant legitim, wie er in Satz [3] beschreibt, das Unbedingte als ein Ungleichartiges vom Bedingten

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2. Analyse des dialektischen Arguments

und dessen Bedingungen bei den ›dynamischen Ideen‹ (Kausalität und Notwendigkeit eines Dinges) zu denken. Denn hier geht es um die Letzterklärung der Existenz des Bedingten. Dies geschieht durch das Denken: Man nimmt die erste Ursache oder das notwendige Wesen an, um die Existenz des Bedingten als Wirkung oder als das Zufällige zu erklären. Diese Annahmen (erste Ursache und das notwendige Wesen) beziehen sich auf das gesuchte Unbedingte. Dieses Unbe­ dingte ist vom Bedingten und dessen Bedingungen ungleichartig, weil das Unbedingte nicht durch die Anschauung, sondern nur durch das Denken vorgestellt werden kann. Das Unbedingte zu suchen ist laut Kant eine natürliche Tendenz der menschlichen Vernunft (vgl. zweites Kapitel dieser Arbeit). Wenn man im sinnlichen Feld die Ursache der Existenz des Bedingten und die Notwendigkeit derselben nicht finden kann, schafft die Vernunft selbst durch das Denken das Unbedingte. Damit ist die Synthesis (vom Bedingten zum Unbeding­ ten) »transscendent«. Und das Unbedingte ist »unbestimmt«. Das bedeutet, dass man es nicht durch ein Prädikat bestimmen kann. Oder anders gesagt: Man kann dieses durch das Denken erworbe­ nes Unbedingte nicht erkennen. Das Unbedingte an dieser Stelle darf nicht mit dem Unbedingten, das durch das Fürwahrhalten des dialektischen Arguments abgeleitet und als gegeben angenommen wird, identifiziert werden, denn Kants Auflösung der dynamischen Antinomie setzt nicht die Gegebenheit des Unbedingten, sondern die ›Aufgegebenheit‹ des Unbedingten voraus. Wenn man diese Ungleichartigkeit aus der Perspektive der Begriffe a priori (Verstandes- und Vernunftbegriffe) betrachtet, wird die Erscheinung bzw. Erfahrung (das Bedingte und dessen Bedingun­ gen) bei Kant immer auf die Verstandesbegriffe bzw. Kategorien bezogen, und das Unbedingte wird auf die Vernunftbegriffe bezogen. Mit der Unterscheidung zwischen Verstandes- und Vernunftbegriff setzt Kant das Unbedingte ins übersinnliche Feld und das Bedingte und dessen Bedingungen ins sinnliche Feld. c.) In Bezug auf die Rolle der Sinnlichkeit Die Sinnlichkeit/die Anschauungsformen (Raum und Zeit) ist/sind für Kants ganze Philosophie bedeutungsvoll. Die Betonung der Rolle der Sinnlichkeit in der Erkenntnistheorie unterscheidet Kants Erkenntnistheorie von dem ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ (vgl. Unterabschnitt 2.2 im zweiten Kapitel). Beim dialektischen

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

Argument der Kosmologie kann man in Bezug auf die Sinnlichkeit zwei ›Betrachtungsweisen‹ des Bedingten und seiner Bedingung in dem Untersatz »Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben« (A 497/B 525) finden. Dies soll an einer Stelle im siebten Abschnitt der Antinomie (»kritische Entscheidung des kosmologi­ schen Streits der Vernunft mit sich selbst«) verdeutlicht werden, in der Kant über die zwei ›Betrachtungsweisen‹ des Bedingten als »Ding an sich« oder als »Erscheinung« spricht. Erstmal ist die ›Betrachtungsweise‹ das Bedingte und dessen Bedingung als »Dinge an sich«: Ferner: wenn das Bedingte so wohl, als seine Bedingung, Dinge an sich selbst sind, so ist, wenn das Erstere gegeben worden, nicht bloß der Regressus zu dem Zweiten aufgegeben, sondern dieses ist dadurch wirklich schon mit gegeben, und, weil dieses von allen Gliedern der Reihe gilt, so ist die vollständige Reihe der Bedingungen, mithin auch das Unbedingte dadurch zugleich gegeben, oder vielmehr vorausge­ setzt, daß das Bedingte, welches nur durch jene Reihe möglich war, gegeben ist. Hier ist die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung eine Synthesis des bloßen Verstandes, welcher die Dinge vorstellt, wie sie sind, ohne darauf zu achten, ob und wie wir zur Kenntniß derselben gelangen können. (A 498/B 526)

Nimmt man das Bedingte und dessen Bedingung als »Dinge an sich« an, sind sowohl die vollständige Reihe der Bedingungen als auch das Unbedingte »zugleich gegeben, oder vielmehr vorausgesetzt«. Warum ist das so? Eine Antwort liefert Kant im letzten Satz dieses Zitats mit der Überlegung, dass »die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung eine Synthesis des bloßen Verstandes« ist. Das bedeutet, dass man es hier mit dem bloßen Denken zu tun hat, das unabhängig davon ist, »ob und wie wir zur Kenntniß derselben gelangen können«. Das Bedingte als »Ding an sich« steht mit der Synthesis des bloßen Verstandes in Beziehung. Aber was hat dies mit der Sinnlichkeit zu tun? In der Synthesis des bloßen Verstandes wird die Rolle der Sinnlichkeit beim Erkenntnisgewinn vernachlässigt. Daher wird das Bedingte als »Ding an sich« angenommen. Hierzu schreibt Kant: [1] Denn durch dieselbe setzen wir (im Obersatze) die Bedingungen und ihre Reihe gleichsam unbesehen voraus, wenn etwas als bedingt gegeben ist, weil dieses nichts andres, als die logische Forderung ist, vollständige Prämissen zu einem gegebenen Schlußsatze anzuneh­ men; [2] und da ist in der Verknüpfung des Bedingten mit seiner

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2. Analyse des dialektischen Arguments

Bedingung keine Zeitordnung anzutreffen: sie werden an sich als zugleich gegeben vorausgesetzt. [3] Ferner ist es eben so natürlich (im Untersatze), Erscheinungen als Dinge an sich und eben sowohl dem bloßen Verstande gegebene Gegenstände anzusehen, wie es im Obersatze geschah, [4] da ich von allen Bedingungen der Anschauung, unter denen allein Gegenstände gegeben werden können, abstrahirte. [5] Nun hatten wir aber hiebei einen merkwürdigen Unterschied zwi­ schen den Begriffen übersehen. Die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung und die ganze Reihe der letzteren (im Obersatze) führte gar nichts von Einschränkung durch die Zeit und keinen Begriff der Succession bei sich. (A 500/B 528; Ergänzungen durch den Verfasser)

Diese Stelle folgt auf Kants Behauptung, dass der Betrug des dialekti­ schen Arguments nicht eine künstliche, sondern eine ganz natürliche Täuschung sei. Aber diese Täuschung stammt nicht aus der Vernunft selbst, sondern aus einem Gebrauch der Vernunft (im weiteren Sinne), den Kant für problematisch hält. In diesem Gebrauch wird die Rolle der Sinnlichkeit im Erkenntnisgewinn übersehen. Zunächst soll der dritte Satz [3] analysiert werden, da er direkt mit dem Untersatz des dialektischen Arguments zu tun hat und gut mit der obigen Analyse in Verbindung gebracht werden kann. In die­ sem Satz wiederholt Kant noch einmal, dass es natürlich sei, »Erschei­ nungen als Dinge an sich und eben sowohl dem bloßen Verstande gegebene Gegenstände anzusehen«. Wie ich bereits mehrfach betont habe, sind mit »Erscheinungen« hier die Gegenstände der Sinne gemeint. Das spiegelt sich auch in dem Untersatz wider: »Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben«. Bei Kant ist hier von den ›Betrachtungsweisen‹ der Gegenstände der Sinne die Rede. Die Gegenstände der Sinne (als Bedingtes und dessen Bedingungen) werden nach Kant als »Dinge an sich« angenommen, wenn sie als »dem bloßen Verstande gegebene Gegenstände« angesehen werden. Was heißt dann, die Gegenstände der Sinne als »dem bloßen Verstande gegebene Gegenstände« anzusehen? Kant erläutert dies im vierten Satz [4] so, dass man »von allen Bedingungen der Anschauung, unter denen allein Gegenstände gegeben werden kön­ nen, abstrahierte«. Mit anderen Worten: Die Rolle der Sinnlich­ keit beim Erkenntnisgewinn wird missverstanden, wenn man die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« bzw. als »dem bloßen Verstande gegebene Gegenstände« ansieht. In einer Synthesis des bloßen Denkens findet keine Einschränkung durch die Zeit und keine Sukzession statt, wie Kant im fünften Satz [5] betont. Die Zeit ist

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

eine Anschauungsform, und die Sukzession als ein Nacheinander bezieht sich auf die Zeitfolge. Zeit und Sukzession sind bei Kant jedoch auf die Sinnlichkeit zurückzuführen. Daher ist diese Position, die Gegenstände der Sinne und ihre Synthesis im Untersatz als »dem bloßen Verstande gegebene Gegenstände anzusehen«, nicht kantisch. Die Gegenstände der Sinne können laut Kant nur durch die Zusammenarbeit der Sinnlichkeit mit dem Verstand erkannt werden. Welche Rolle spielt die Sinnlichkeit bei der anderen ›Betrachtungs­ weise‹, die das Bedingte und dessen Bedingung als »Erscheinun­ gen« annimmt? Dagegen wenn ich es mit Erscheinungen zu thun habe, die als bloße Vorstellungen gar nicht gegeben sind, wenn ich nicht zu ihrer Kenntniß (d. i. zu ihnen selbst, denn sie sind nichts als empirische Kenntnisse) gelange, so kann ich nicht in eben der Bedeutung sagen: wenn das Bedingte gegeben ist, so sind auch alle Bedingungen (als Erscheinun­ gen) zu demselben gegeben, und kann mithin auf die absolute Totalität der Reihe derselben keinesweges schließen. Denn die Erscheinungen sind in der Apprehension selber nichts anders als eine empirische Synthesis (im Raume und der Zeit) und sind also nur in dieser gegeben. Nun folgt es gar nicht, daß, wenn das Bedingte (in der Erscheinung) gegeben ist, auch die Synthesis, die seine empirische Bedingung aus­ macht, dadurch mitgegeben und vorausgesetzt sei, sondern diese findet allererst im Regressus und niemals ohne denselben statt. Aber das kann man wohl in einem solchen Falle sagen, daß ein Regressus zu den Bedingungen, d. i. eine fortgesetzte empirische Synthesis, auf dieser Seite geboten oder aufgegeben sei, und daß es nicht an Bedin­ gungen fehlen könne, die durch diesen Regressus gegeben werden. (A 498f/B 526f)

Im Gegensatz zu jener Betrachtungsweise, die die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« annimmt, schreibt Kant, dass nicht alle Bedingungen und das Unbedingte zugleich gegeben sind, wenn man das Bedingte und seine Bedingung als »Erscheinungen« ansieht. Denn die »Erscheinungen« sind in einer empirischen Synthesis gegeben. Diese Synthesis kann nur im Raum und der Zeit Stück für Stück erfolgen. Daraus kann man nicht ableiten, wie in der ersten ›Betrach­ tungsweise‹, die das Bedingte und seine Bedingung als »Ding an sich« begreift, dass die ganze Reihe der Bedingungen zugleich gegeben ist. Hierzu schreibt Kant:

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2. Analyse des dialektischen Arguments

Dagegen ist die empirische Synthesis und die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung (die im Untersatze subsumirt wird) nothwendig successiv und nur in der Zeit nach einander gegeben; folglich konnte ich die absolute Totalität der Synthesis und der dadurch vorgestellten Reihe hier nicht eben so wohl, als dort voraussetzen, weil dort alle Glieder der Reihe an sich (ohne Zeitbedingung) gegeben sind, hier aber nur durch den successiven Regressus möglich sind, der nur dadurch gegeben ist, daß man ihn wirklich vollführt. (A 500/B 528f)

An dieser Stelle betont Kant zwei Begriffe: »nothwendig successiv« und »Zeitbedingung«. Mit diesen will er den Unterschied zwischen den zwei ›Betrachtungsweisen‹ der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« oder als »Erscheinungen« begreiflich machen. Das notwendig Sukzessive bei der empirischen Synthesis ist, dass man die Sinnlich­ keit bzw. die Zeitbedingung beim Erkennen der Gegenstände der Sinne nicht vernachlässigen darf. Mit dieser notwendig sinnlichen Bedingung kann Kant behaupten, dass der Regressus nur durch die Erfahrung gegeben ist. Aus dieser Analyse der zweifachen ›Betrachtungsweise‹ der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« und »Erscheinungen« kann man nun folgern, dass Kant beim Begriff »Ding an sich« im kosmologischen Argument weder von dem hinter der Erscheinung stehenden Dasein (wie es bei der Zwei-Welten-Lesart der Fall ist; vgl. das erste Kapitel dieser Arbeit) spricht, noch von einer philosophi­ schen Reflexion der Erscheinung (wie es bei der Zwei-PerspektivenLesart der Fall ist; vgl. das erste Kapitel dieser Arbeit), sondern von einer ›Betrachtungsweise‹ der Gegenstände der Sinne, in der man von allen sinnlichen Bedingungen beim Erkennen der Gegenstände der Sinne abstrahiert. Der Begriff »Erscheinung« steht im Gegensatz zu dieser ›Betrachtungsweise‹. Kant ist der Auffassung, dass die Antinomie nur dadurch aufge­ löst wird, dass man die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«, nicht als »Dinge an sich« betrachtet. Die »Ding an sich«-Betrach­ tungsweise ist sogar die Ursache, woraus die Antinomie entspringt. Daher ist »Ding an sich« und »Erscheinung« in Bezug auf die Gegen­ stände der Sinne ein Entweder-oder und kein Sowohl-als-auch. Die »Erscheinungs«-Betrachtungsweise ist laut Kant die einzig richtige Betrachtungsweise für die Gegenstände der Sinne. Aber das ist noch kein vollständiger Beweis für dieses Entweder-oder, sondern nur eine Schlussfolgerung aus der Analyse des kosmologischen Argu­ ments. Im vierten Kapitel werden die beiden ›Betrachtungsweisen‹

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

durch die zwei Arten des Verstandesgebrauchs (transzendentalen und empirischen) entsprechend meiner Lesart weiterentwickelt. Dadurch wird gezeigt, dass die beiden ›Betrachtungsweisen‹ der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« oder als »Erscheinungen« einander gegenüberstehen. Im Zuge der Argumentation wird aufgezeigt, dass es bei Kant notwendig ist, die Gegenstände der Sinne ausschließlich als »Erscheinungen« anzunehmen. d.) In Bezug auf das analytische/synthetische Urteil Kant kritisiert das ›bisherige Verfahren der Metaphysik‹. Es kenne den Unterschied zwischen dem analytischen und synthetischen Urteil bzw. der Möglichkeit des synthetischen Urteils a priori nicht. »[W]enn er nicht vorher jene Frage [Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?] hat gnugthuend beantworten können, so habe ich Recht zu sagen: es ist alles eitele, grundlose Philosophie und falsche Weisheit. Du sprichst durch reine Vernunft und maßest dir an, a priori Erkenntnisse gleichsam zu erschaffen, indem du nicht blos gegebene Begriffe zergliederst, sondern neue Verknüpfungen vorgiebst, die nicht auf dem Satze des Widerspruchs beruhen, und die du doch so ganz unabhängig von aller Erfahrung einzusehen vermeinst; wie kommst du nun hiezu, und wie willst du dich wegen solcher Anmaßungen rechtfertigen?« (AA04: 277; Prol. § 5)

Das allgemeine und negative Kriterium des Urteils ist der Satz des Widerspruchs. Durch die Unterscheidung zwischen dem analytischen und synthetischen Urteil bzw. der Möglichkeit der synthetischen Urteile a priori zeigt Kant, dass der Satz des Widerspruchs kein hinreichendes Kriterium für eine metaphysische Behauptung ist. Es gibt bei Kant zwei Bedingungen (reine Anschauung a priori und reine Verstandesbegriffe), um ein synthetisches Urteil a priori zu treffen. Die beiden bilden das sinnliche Feld bzw. das Feld möglicher Erfahrung. Daher behauptet Kant, dass »über das Feld möglicher Erfahrung hinaus aber es überall keine synthetische Grundsätze a priori geben könne« (A 248/B 304f). Die Metaphysik kann laut Kant nur als Wissenschaft begründet werden, wenn die Bedingungen des synthetischen Urteils a priori erfüllt werden können. Für die Aufdeckung des dialektischen Arguments in der rationa­ len Kosmologie kann man mit zwei Punkten zusammenfassen, die die Bedeutung der Unterscheidung zwischen analytischem und syntheti­

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2. Analyse des dialektischen Arguments

schem Urteil aufzeigen. Der erste Punkt ist, dass das Bedingte und seine Bedingungen mit dem Unbedingten nicht analytisch verknüpft werden können. Der zweite Punkt ist, dass diese Unterscheidung eine dialektische Entgegensetzung (nicht eine analytische) ermöglicht, mittels derer Kant bei der Auflösung der Antinomie die Thesen und Antithesen als beide falsch oder beide wahr bestimmen kann. Denn in einer analytischen Entgegensetzung muss die These wahr und die Antithese falsch sein oder umgekehrt. Zum ersten Punkt. ›Das bisherige Verfahren der Metaphysik‹ kennt die Unterscheidung zwischen dem analytischen und syntheti­ schen Urteil nicht. Daher weiß man anhand dieses Verfahrens nicht, wann das Subjekt mit einem Prädikat im analytischen Zusammen­ hang steht und wann im synthetischen Zusammenhang. Wenn das Subjekt und ein Prädikat im synthetischen Zusammenhang stehen, ist laut Kant immer ein Drittes nötig, um die beiden zu verbinden. Dieses Dritte ist die Zeit (vgl. A 139/B 178). Dieser Gedanke soll nun in Verbindung mit dem ›Grundsatz‹ der Vernunft gesetzt werden, der auch den Obersatz des kosmologischen Arguments bildet. [W]enn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gege­ ben (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten). (A 307f/B 364)

Dieser Satz ist »offenbar synthetisch; denn das [B]edingte bezieht sich analytische zwar auf irgend eine Bedingung, aber nicht aufs Unbe­ dingte« (A 308/B 364). Das bedeutet, dass das Unbedingte nicht aus dem Begriff des Bedingten und seiner Bedingung folgen kann. Wenn Kant seine Aufdeckung des dialektischen Arguments beginnt, benutzt er einen veränderten Obersatz94, den er als einen analytischen Satz bezeichnet. Denn in diesem Satz wird nur das Verhältnis zwischen dem Bedingten und seiner Bedingung im Sprechen genommen, nicht das Verhältnis zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten. Daher »erhebt [dieser Satz] sich über alle Furcht vor einer transzendentalen Kritik« (A 498/B 526, Ergänzungen durch den Verfasser). Die Unterscheidung zwischen dem analytischen und syntheti­ schen Urteil steht in einem engen Zusammenhang mit den drei 94 Der veränderte Obersatz ist: »wenn das Bedingte gegeben ist, uns eben dadurch ein Regressus in der Reihe aller Bedingungen zu demselben aufgegeben sei«. Eine ausführliche Analyse habe ich schon in Unterkapitel 2.1.1 dieses Kapitels dargelegt.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

diskutierten Punkten (der allgemeinen/transzendentalen Logik, dem Verstandes- und Vernunftbegriff und der Rolle der Sinnlichkeit). Das liegt daran, dass die Zeit als das Dritte im synthetischen Satz auch die Anschauungsform ist. Ein wichtiger Grund dafür, dass man die Unterscheidung zwischen dem analytischen und synthetischen Urteil nicht kennt, liegt darin begründet, dass man ausschließlich mit der allgemeinen Logik philosophiert. Der Anspruch dieser Logik ist, dass von allen Inhalten abstrahiert werden soll. Hierbei wird auch von der Zeit als Anschauungsform abstrahiert. Im Zusammenhang mit der allgemeinen Logik werden nur der logische Gebrauch des Verstandes und jener der Vernunft betrachtet. Der reine Gebrauch der beiden Vermögen, der nicht die Form des Denkens behandelt, sondern auch das »reine Denken eines Gegenstandes« (A 55/B 80), wird hingegen ignoriert. Zum zweiten Punkt. Die Unterscheidung zwischen dem analy­ tischen und synthetischen Urteil ermöglicht Kant zu behaupten, dass die Thesen und Antithesen in der mathematischen Antinomie beide falsch sein können. Unter einer analytischen Entgegensetzung muss die These wahr und die Antithese falsch sein oder umgekehrt. Denn bei einer analytischen Entgegensetzung gilt der Satz des Widerspru­ ches. Aber wenn die These und die Antithese in der synthetischen Opposition (bzw. Entgegensetzung) stehen, so können sie beide falsch sein. Die Thesen und Antithesen in der dynamischen Antinomie können in einer »berichtigten Bedeutung« (A 532/B 560) beide wahr sein, denn sie sind noch nicht hinreichend für eine analytische Entge­ gensetzung. Kant bezeichnet dies als dialektische Entgegensetzung (vgl. A 504/B 532) oder synthetische Opposition (vgl. AA20: 291). Ihnen entgegen benennt er die unter den Satz des Widerspruchs gestellte Entgegensetzung als logisch oder analytisch (vgl. A 504/B 532; AA20: 291). Die synthetische Entgegensetzung entspricht der trans­ zendentalen Logik, und die analytische Entgegensetzung entspricht der allgemeinen Logik. Der Hintergrund ist, dass in der transzenden­ talen Logik nicht von allem Inhalt abstrahiert wird, was in der allge­ meinen Logik jedoch der Fall ist. Die Thesen und die Antithesen in der mathematischen Antinomie sind falsch, weil sie eine synthetische Entgegensetzung bilden. Kant führt dies mit der ersten Antinomie näher aus. Sage ich demnach: die Welt ist dem Raume nach entweder unendlich, oder sie ist nicht unendlich (non est infinitus), so muß, wenn der erstere

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2. Analyse des dialektischen Arguments

Satz falsch ist, sein contradictorisches Gegentheil: die Welt ist nicht unendlich, wahr sein. Dadurch würde ich nur eine unendliche Welt aufheben, ohne eine andere, nämlich die endliche, zu setzen. Hieße es aber: die Welt ist entweder unendlich, oder endlich (nichtunendlich), so könnten beide falsch sein. Denn ich sehe alsdann die Welt als an sich selbst ihrer Größe nach bestimmt an, indem ich in dem Gegensatz nicht bloß die Unendlichkeit aufhebe und mit ihr vielleicht ihre ganze abgesonderte Existenz, sondern eine Bestimmung zur Welt als einem an sich selbst wirklichen Dinge hinzusetze, welches eben so wohl falsch sein kann, wenn nämlich die Welt gar nicht als ein Ding an sich, mithin auch nicht ihrer Größe nach weder als unendlich, noch als endlich gegeben sein sollte. (A 503f/B 531f)

Die Antithese der synthetischen Entgegensetzung (die Welt sei end­ lich) ist nicht der »Antithese« der analytischen Entgegensetzung (die Welt sei nicht unendlich) gleich. Denn durch den Satz »die Welt sei endlich« wird nicht nur die Unendlichkeit der Welt verneint, sondern auch die Endlichkeit der Welt behauptet. Durch den Satz »die Welt sei nicht unendlich« wird nur die Unendlichkeit der Welt verneint. Die Unendlichkeit der Welt und die Endlichkeit der Welt können eine synthetische Entgegensetzung bilden, weil beide die Welt als etwas »an sich selbst ihrer Größe nach [Bestimmtes]« ansehen. Das heißt, dass die Welt als eine Gegebenheit betrachtet wird. Kant schreibt an dieser Stelle, dass die Welt nicht ein »Ding an sich« sei. D. h., dass die Welt keine wirkliche Gegebenheit ist, die im Raum und in der Zeit steht, denn nur im Sinne der wirklichen Gegebenheit kann eine empi­ rische Bestimmung als Prädikat (endlich oder unendlich) zu dieser Gegebenheit hinzugefügt werden. Dadurch trifft man eigentlich ein Erfahrungsurteil, das bei Kant immer ein synthetisches Urteil ist (vgl. A 8/B 11). Warum wird die Welt sowohl in der These als auch in der Anti­ these für etwas Gegebenes gehalten? Beide halten das dialektische Argument für wahr. Aus diesem Argument wird die Gegebenheit des Unbedingten (in diesem Fall die der Welt) gefolgert. Wie bereits diskutiert, ist das dialektische Argument laut Kant ein Fehlschluss. Daher kann man auch nicht aus diesem Argument die Gegebenheit der Welt folgern. In diesem Sinne spricht Kant davon, dass die Welt nicht ein »Ding an sich« sei. Und warum sind die Thesen und Antithesen bei den dynami­ schen Ideen in einer berichtigten Bedeutung beide wahr? Dies hat mehr mit der analytischen Entgegensetzung zu tun. Hierzu soll nun

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

eine Stelle aus der Fortschritte-Schrift zitiert werden, in der Kant über die Auflösung der dynamischen Antinomie spricht: Drittens können Satz und Gegensatz auch weniger enthalten, als zur logischen Entgegensetzung erfordert wird, und so beyde wahr seyn, — wie in der Logik zwey einander bloß durch Verschiedenheit der Subjecte entgegengesetzte Urtheile (judicia subcontraria) — wie dieses mit der Antinomie der dynamischen Grundsätze sich in der That so verhält, wenn nämlich das Subject der entgegengesetzten Urtheile in beyden in verschiedener Bedeutung genommen wird, z.B. der Begriff der Ursache, als causa phaenomenon in dem Satz: Alle Kausalität der Phänomene in der Sinnenwelt ist dem Mechanism der Natur unterworfen, scheint mit dem Gegensatz: Einige Kausalität dieser Phänomene ist diesem Gesetz nicht unterworfen, im Widerspruch zu stehen, aber dieser ist darin doch nicht nothwendig anzutreffen, denn in dem Gegensatze kann das Subject in einem andern Sinne genommen seyn, als es in dem Satze geschah, nämlich es kann dasselbe Subject als causa noumenon gedacht werden, und da können beyde Sätze wahr seyn, und dasselbe Subject kann als Ding an sich selbst frey von der Bestimmung nach Naturnothwendigkeit seyn, was als Erscheinung, in Ansehung derselben Handlung, doch nicht frey ist. Und so auch mit dem Begriffe eines nothwendigen Wesens. (AA20: 291f)

Kant charakterisiert die Thesen und Antithesen in der dynamischen Antinomie als »judicia subcontraria«. Was bedeutet das? In der Jäsche-Logik wird ein Beispiel dafür gegeben: »Einige Menschen sind gelehrt, also sind einige Menschen nicht gelehrt« (AA09: 117). Hier findet keine »strenge Opposition« (ebd.) statt, weil im ersten Urteil nicht von denselben Menschen das behauptet wird, was im anderen Urteil verneint wird. Das ist auch bei der dynamischen Antinomie der Fall. In Bezug auf die dynamischen Ideen ist zu beachten, dass die Thesen und Antithesen beide wahr sind, weil sie noch nicht eine analytische Entgegensetzung erreichen. Man muss jedoch beachten, dass sie nicht im Sinne des Dogmatismus und Empirismus beiden wahr sind, sondern nur im kantischen bzw. kritischen Sinne. Das bedeutet, dass die Annahmen der Freiheit (in der dritten Antinomie) und eines notwendigen Wesens (in der vierten Antinomie) nur als »etwas zu denken« verstanden werden sollen, nicht als »etwas zu erkennen«. Das Unbedingte wird durch Kants Aufdeckung als nicht gegeben aufgezeigt, denn dieses Argument ist selbst ein Fehlargument. Dog­ matismus und Empirismus setzten die Gegebenheit des Unbedingten

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2. Analyse des dialektischen Arguments

voraus (wenn auch beim Empirismus nur unreflektiert), weil sie dieses Argument für wahr halten. Auf dieser Basis wollen sie dieses als gegeben betrachtete Unbedingte im theoretischen Sinn bestimmen bzw. erkennen. Bei Kant werden die Freiheit und das notwendige Wesen (als dynamische Ideen) nur als regulative Vernunftideen angenommen. Das heißt, dass sie als ungleichartige (intelligible) Bedingungen außerhalb der empirischen Reihe der Erscheinungen gedacht werden, »wodurch denn der Vernunft ein genüge getan und das Unbedingte den Erscheinungen vorgesetzt wird, ohne die Reihe der letzteren, als jederzeit bedingt, dadurch zu verwirren und den Verstandesgrund­ sätzen zuwieder, abzubrechen« (A 531/B 559). Daran erkennt man den Beitrag der Unterscheidung zwischen analytischem und syntheti­ schem Urteil, denn die (Natur-)Kausalität als ein synthetisches Urteil a priori hat ihre objektive Gültigkeit nur innerhalb der Erfahrung. Daher gibt es die Denkmöglichkeit der Freiheit. Würde die Kausalität für alle Dinge gelten, wäre die Idee der Freiheit im theoretischen Sinne schon widersprüchlich. Denn das Bedingte in der Reihe der empirischen Bedingungen würde von der Naturkausalität hinreichend bestimmt. Die Vorstellung einer intelligiblen Ursache (d. i. die Frei­ heit), die außerhalb der Reihe liegt und trotzdem dieses Bedingte bestimmen kann, bricht diese Reihe der Naturkausalität ab. Das wird im fünften Kapitel weiter mit zwei Arten des Vernunftgebrauchs the­ matisiert.

2.3 Das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« aus der Perspektive dieser Aufdeckung In diesem Abschnitt wird erläutert, dass durch die Analyse von Kants Aufdeckung des dialektischen Arguments als Fehlschluss eine sta­ bile Grundlage für das Verständnis des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« gegeben wird. Im Grunde genommen lehnt Kant aufgrund der Ent­ stehung der Antinomie sowohl die ›Annahmeweise‹ des Bedingten als auch die des Unbedingten (wie im bisherigen Verfahren der Meta­ physik verwendet) ab. Stattdessen entwickelt Kant durch die Aufde­ ckung und die Auflösung der Antinomie eine eigene ›Annahmeweise‹ des Bedingten und eine des Unbedingten. Das Begriffspaar »Ersch./ D.a.s.« bezieht sich inhaltlich genau auf diese ›Annahmeweisen‹ des Bedingten und Unbedingten.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

Diese Struktur enthält zwei Fälle und kann kurz wie folgt skizziert werden: A.

B.

Nimmt man das gegebene Bedingte als »Ding an sich« an, folgt daraus, dass das Unbedingte gegeben ist, weil das dialektische Argument für wahr gehalten wird. Dieses Gegebene kann durch zwei kontradiktorische Behauptungen (Thesen und Antithesen) bestimmt werden. Daher entsteht die Antinomie. Nimmt man das gegebene Bedingte als »Erscheinung« an, folgt daraus, dass das Unbedingte nicht gegeben ist, sondern nur aufgegeben (als Aufgabe gegeben) ist, weil das dialektische Argument ein Fehlschluss ist. Die im Fall »A.« entstehende Antinomie wird aufgelöst.

Die beiden Fälle stehen einander gegenüber und betreffen eigent­ lich zwei Verständnisse der Relation »Bedingt/Unbedingt«. In Abschnitt 1.1 des zweiten Kapitels dieser Arbeit wurde dargelegt, dass Kant durch die Relation »Bedingt/Unbedingt« die Metaphysik systematisiert. Denn diese Relation entspricht der natürlichen Ten­ denz der Vernunft. Dies bezieht sich auf den ›Grundsatz der Vernunft‹: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist das Unbedingte gegeben (vgl. A 307f/B 364f). Durch Kants Behandlung der Antinomie (Entdeckung, Aufde­ ckung und Auflösung) wird gezeigt, dass dieser ›Grundsatz‹ nur in einer berichtigten Bedeutung seine Gültigkeit haben kann. Das heißt, dass er nicht im konstitutiven Sinne verstanden werden soll, sondern nur im regulativen Sinne. Konstitutiv heißt hier, dass dieser ›Grund­ satz‹ »als Axiom, die Totalität im Object als wirklich zu denken« (A 508/B 536), zu verstehen ist. Regulativ heißt dagegen, dass dieser ›Grundsatz‹ nur »als ein Problem für den Verstand, also für das Subject, um der Vollständigkeit in der Idee gemäß den Regressus in der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten anzu­ stellen und fortzusetzen« (ebd.) zu verstehen ist. Daher kann man wiederum zwei Fälle in Bezug auf die ›Annahmeweisen‹ des Unbedingten benennen. A1. Diesen ›Grundsatz‹ als Axiom, d. i. objektiv gültig, anzunehmen, bedeutet, dass das Unbedingte als ein Gegebenes betrachtet wird. Das heißt, dass das Unbedingte als etwas Verdinglichtes betrach­ tet wird. Man versucht dies durch ein Prädikat zu bestimmen und darüber ›Erkenntnis‹ zu gewinnen. Das Unbedingte wird

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2. Analyse des dialektischen Arguments

deshalb »in Erscheinung verwandel[t]« (B XXX), und das macht die praktische Erweiterung der reinen Vernunft unmöglich. B1. Diesen ›Grundsatz‹ in der berichtigten Bedeutung anzunehmen bedeutet, dass das Unbedingte nicht als ein Gegebenes, sondern als ein Aufgegebenes zu begreifen ist. Das heißt, dass das Unbe­ dingte »als ein Problem für den Verstand« betrachtet werden soll, um die Vollständigkeit der Reihe der Bedingungen vorzustellen. Das Unbedingte kann nicht durch Prädikate bestimmt werden, und daher kann auch keine Erkenntnis davon zu gewinnen sein. Das Unbedingte muss deshalb »nicht an Dingen, so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst angetroffen werden« (B XX). Dies ermöglicht die praktische Erweiterung der reinen Vernunft (vgl. B XXI). Analog dazu wird das gegebene Bedingte in zwei Fällen angenommen. Diese zwei Fälle sind die Ursache der ›Annahmeweisen‹ des Unbe­ dingten: A2. Wenn man das Bedingte und seine Bedingung in einer Synthese des bloßen Verstandes als »Dinge an sich« annimmt, werden die Kategorien in transzendentaler Bedeutung angewendet. Daraus kann man folgern, dass das Bedingte, seine Bedingungen und sogar das Unbedingte zugleich gegeben sind. Von der Bedingung der Zeit wird in dieser Synthese abstrahiert. B2. Wenn man das Bedingte und seine Bedingung in einer empiri­ schen Synthesis im Raum und der Zeit als »Erscheinungen« annimmt, werden die Kategorien bzw. die Verstandesbegriffe »in empirischer Bedeutung« (A 499/B 527) angewandt. Das heißt, dass das Bedingte und seine Bedingung sukzessiv in der Zeit nacheinander gegeben sind. Daraus folgt, dass das Unbedingte nur als Aufgabe gegeben (›aufgegeben‹) ist. Von der Bedingung der Zeit wird in der empirischen Synthesis nicht abstrahiert. Nun ist zu zeigen, was dies mit dem Verständnis des Begriffs­ paars »Ersch./D.a.s.« zu tun hat. Das Bedingte bezieht sich in der kosmologischen Antinomie auf die Gegenstände der Sinne und das Unbedingte auf die Vernunftidee (Welt). Daher kann man die ›Annahmeweisen‹ des Bedingten und Unbedingten mit dem Begriffs­ paar »Ersch./D.a.s.« insofern in Verbindung bringen, dass mit den

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

verschiedenen ›Annahmeweisen‹ verschiedene Auffassungen des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« einhergehen: A3. Nimmt man die Gegenstände der Sinne (das Bedingte) als »Dinge an sich« an, folgt daraus, dass der ›Grundsatz‹ der reinen Vernunft objektiv gültig ist. Das Unbedingte wird dann als etwas Gegebenes angenommen. Dieses Gegebene wird durch Prädi­ kat im erkenntnistheoretischen Sinn bestimmt. Die Vernunft­ ideen (das Unbedingte) werden in diesem Fall als theoretisch bestimmte ›Erscheinungen‹ angenommen. B3. Nimmt man die Gegenstände der Sinne (das Bedingte) als »Erscheinungen« an, folgt daraus, dass der ›Grundsatz‹ der reinen Vernunft nur subjektiv gültig ist. Das Unbedingte ist deshalb nicht gegeben, sondern aufgegeben. Das heißt, dass es nur als Aufgabe für das Subjekt gegeben ist. Dieses Aufgege­ bene kann nicht durch Prädikat im erkenntnistheoretischen Sinn bestimmt werden. Die Vernunftideen (das Unbedingte) werden als theoretisch unbestimmte »Dinge an sich« angenommen. Die drei Hauptstücke der Elementarlehre der KrV (transzendentale Ästhetik, Analytik und Dialektik) decken mit ihren Themen die Gegen­ stände der Sinne und die Vernunftideen ab. Die transzendentale Ästhe­ tik und Analytik beziehen sich auf die Gegenstände der Sinne, und die transzendentale Dialektik bezieht sich auf die Vernunftideen. Diese Zuordnung der Themen wird von Kant in Bezug auf die menschlichen Erkenntnisvermögen näher bestimmt. Die transzendentale Ästhetik ist eine Erörterung der Sinnlichkeit, die transzendentale Analytik eine des Verstandes. Laut Kant ist die ›Annahmeweise‹ des Bedingten insofern richtig, wenn das Bedingte durch die Kombination der Sinn­ lichkeit und des Verstandes angenommen wird. Eine ›Annahmeweise‹ des Bedingten ist problematisch, wenn sie nur durch den Verstand gerechtfertigt wird. Die transzendentale Dialektik ist eine Erörterung der Vernunft und bezieht sich auf die ›Annahmeweisen‹ des Unbedingten. Auch hier folgen aus der Erörterung der Vernunft verschiedene ›Annahme­ weisen‹ des Unbedingten. Auch hier fordert Kant nur eine ›Annah­ meweise‹ des Unbedingten. Das Unbedingte würde hier fälschlicher­ weise als gegeben angenommen werden, wenn das Bedingte aus falschen Gründen als gegeben angenommen wird. Wenn das Bedingte zurecht als gegeben angenommen wird, folgt daraus jedoch nicht,

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2. Analyse des dialektischen Arguments

dass das Unbedingte gegeben ist. Laut Kant muss das Unbedingte als Aufgabe angenommen werden. Aus der Perspektive der Metaphysikkritik, wie sie im zweiten Kapitel ausgeführt wurde, befindet sich in der KrV nicht nur eine kantische Erörterung der menschlichen Erkenntnisvermögen (Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft), sondern auch ein polemischer Angriff auf die historische Erörterung solcher Vermögen. Daher ist in Bezug auf die ›Annahmeweisen‹ des Bedingten und Unbedingten zu unterscheiden, wann Kant von seiner eigenen Erörterung der Vermögen spricht und wann er die historische Erörterung kritisiert. Kant nennt die Anwendung der Vermögen bzw. ihrer Begriffe Verstandesgebrauch (vgl. A 238/B 298) und Vernunftgebrauch (vgl. A 515/B 543).95 Es gibt bei Kant keinen Gebrauch der Sinnlichkeit, weil sie keine Begriffe (a priori) produziert, durch die ein Urteil möglich ist. Aber die Frage, ob die Sinnlichkeit als ein selbstverständ­ liches Vermögen anzuerkennen ist, spielt eine entscheidende Rolle für Kants Metaphysikkritik. Ich nenne hier vorläufig96 die Art des Vermögensgebrauchs, die Kant behauptet, den richtigen Vermögens­ gebrauch und die Art des Vermögensgebrauchs, die Kant kritisiert und ablehnt, den problematischen Vermögensgebrauch. Daher kann man wiederum zwei Fälle in Bezug auf den Vermögensgebrauch (Verstandesgebrauch und Vernunftgebrauch) und die Anerkennung bzw. Nicht-Anerkennung der Sinnlichkeit darstellen. A4. Wenn man durch den problematischen Verstandesgebrauch (dabei wird die Sinnlichkeit nicht als ein vollständiges Ver­ mögen anerkannt) die Gegenstände der Sinne (das Bedingte) als »Dinge an sich« annimmt, so werden die Vernunftideen (das Unbedingte) durch den problematischen Vernunftgebrauch als »Erscheinungen« bestimmt. Dadurch wird der praktische Gebrauch der reinen Vernunft unmöglich. B4. Wenn man durch den richtigen Verstandesgebrauch (dabei wird die Sinnlichkeit als ein vollständiges Vermögen anerkannt) die Gegenstände der Sinne (das Bedingte) als »Erscheinun­ 95 Im 3.2 dieses Kapitels wird Vermögen vom Vermögengebrauch unterschieden und argumentiert, dass Kant nicht das Vermögen selbst kritisiert, sondern nur den unberechtigten Gebrauch des Vermögens. 96 Verstandesgebrauch und Vernunftgebrauch werden im vierten und fünften Kapi­ tel erörtert.

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

gen« annimmt, so werden die Vernunftideen (das Unbedingte) durch den richtigen Vernunftgebrauch als »Dinge an sich« bestimmt. Dadurch wird der praktische Gebrauch der reinen Vernunft ermöglicht. Das Hauptthema des zweiten Teils (viertes, fünftes und sechstes Kapitel) dieser Arbeit ist es, zu zeigen, wie die zwei Fälle bei A4 und B4 durch die inhaltliche Analyse der kantischen Philosophie (Erkennt­ nistheorie, Ideenlehre und die praktische Philosophie) gerechtfer­ tigt werden. Dieses Ergebnis von A/B bis A4/B4 ergibt eine klare Struktur zum Verständnis des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« in der Erkenntnis­ theorie und in der Ideenlehre. Um dieses Begriffspaar zu verstehen, braucht man nicht nur die Formulierungen der einschlägigen Stellen von Kant, auf die sich die im ersten Kapitel dargestellten Interpretatio­ nen beziehen. Jene Stellen erscheinen zum Teil ambivalent, und die genannten Interpretationen vernachlässigen die Rolle des Begriffs­ paars »Ersch./D.a.s.« im Kontext der Gesamtheit der kantischen Philosophie. Die Struktur, die ich in dieser Arbeit darstellen möchte, zeigt, wie das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« inhaltlich in Bezug auf die ganze Elementarlehre der KrV und formal in Bezug auf den ›Grundsatz‹ der reinen Vernunft zu verstehen ist. Diese Struktur zeigt auch den metaphysikkritischen Charakter des Begriffspaars »Ersch./ D.a.s.«. Damit ist die Frage dieses Kapitels, inwiefern die Antinomie als Wegweiser zum Verständnis des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« gelten kann, beantwortet.

3. Zwei Überlegungen aus der obigen Analyse für weitere Arbeiten zur Interpretation des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich« Durch die Abschnitte 1 und 2 dieses Kapitels wurde der besondere systematische Status der Antinomie in Kants Philosophie dargestellt. Sie hat einerseits mit dem sinnlichen Feld bzw. der Erkenntnistheorie, andererseits mit dem übersinnlichen Feld bzw. der Ideenlehre und der praktischen Philosophie zu tun. Es ist zur Bestimmung dieser Besonderheit sachgerecht, sich das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« in der ganzen Elementarlehre der KrV anzuschauen, als zu versuchen, dieses Verständnis nur aus der Erkenntnistheorie abzuleiten. Denn, wie man

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3. Zwei Überlegungen aus der obigen Analyse

durch das erste und zweite Kapitel gesehen hat, gibt es zahlreiche »ambivalente« Stellen in der transzendentalen Ästhetik und Analy­ tik sowie in den Prol. über das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.«. Wenn man stattdessen von der Antinomie ausgeht, um dieses Begriffspaar zu erklären, steht eine klare Struktur vor Augen, die sich auf die theoretische und praktische Philosophie Kants bezieht: Wenn man die Gegenstände der Sinne nicht als »Erscheinungen«, sondern als »Dinge an sich« annimmt, wird die Antinomie nicht aufgelöst. Daher wird auch kein praktischer Gebrauch der reinen Vernunft möglich. Wenn man hingegen die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« und nicht als »Dinge an sich« annimmt, löst man die Antinomie auf. Damit kann der praktische Gebrauch der reinen Vernunft stattfinden. Mit dieser Perspektive stelle ich im Folgenden zwei Überlegungen über das Verständnis des Begriffspaars »Ersch./D.a.s«, die aus der Analyse der Antinomie folgen. Diese Überlegungen sollen vorerst als Annahmen gelten, die aus der Analyse der Antinomie und ihrem dialektischen Argument folgen. Ob sie für die gesamte Philosophie Kants Gültigkeit haben, kann an dieser Stelle noch nicht belegt werden. Aufgrund der Besonderheit des systematischen Status der Antinomie ist jedoch davon auszugehen, dass die Überlegungen im zweiten Teil dieser Arbeit sowohl auf die Erkenntnistheorie als auch auf die Ideenlehre und die praktische Philosophie übertragbar sind. Die zwei Überlegungen befassen sich mit den folgenden Fragen: 3.1. Beziehen sich das »Ding an sich« und die »Erscheinung« auf Dinge oder auf die Art und Weise, Dinge zu begreifen? 3.2. Kritisiert Kant die Vermögen selbst oder den problematischen Gebrauch der Vermögen?

3.1 Erste Überlegung: Bezieht sich »Ding an sich« und »Erscheinung« auf das/ein Ding selbst oder die Art und Weise, das Ding/ein Ding zu begreifen? Durch die Analyse dieses Kapitels wurde nachgewiesen, dass mit dem Begriff »Ding an sich« bei Kant im dialektischen Argument nicht die Letztrealität gemeint ist, sondern eine ›Betrachtungsweise‹ der Gegenstände der Sinne. Diese ›Betrachtungsweise‹ lehnt Kant ab. Sie widerspricht der ›Betrachtungsweise‹ der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«, die Kant behauptet. Was ist der Unter­ schied zwischen den beiden Betrachtungsweisen der Gegenstände der Sinne? Die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben,

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

bedeutet, dass sie durch den bloßen Verstand angenommen werden. Die Gegenstände der Sinne als »Erscheinung« zu bestimmen, bedeu­ tet hingegen, dass sie durch die Kombination der Sinnlichkeit und des Verstandes angenommen werden. Denn zur Sinnlichkeit gehört bei Kant die Zeitbedingung. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen den Gegenständen der Sinne als »Dinge an sich« und als »Erscheinungen«. Wenn die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« angenommen werden, fehlt die Zeitbedingung. Diese Differenz besteht nicht im Ding, sondern darin, ob man die Sinnlichkeit als ein transzendentales Vermögen versteht. Die kantische Position wird an diesem Punkt von der Position des Dogmatismus in Bezug auf das Erkennen der Gegenstände der Sinne (vgl. A 44/B 61) distanziert. Auf diese Weise kann man die wichtigen Differenzen der beiden ›Betrach­ tungsweisen‹, die aus Kants Aufdeckung des kosmologischen Argu­ ments (vgl. A 497f/B 526) hervorgehen, in einer Tabelle darstellen. Dabei sieht man, dass diese Differenzen nicht bei den Gegenständen der Sinne liegen, sondern bei den unterschiedlichen Verständnissen der Vermögen (Sinnlichkeit und Verstand), mit denen man die Gegen­ stände der Sinne annimmt: Die Betrachtungsweise der Die Betrachtungsweise der Gegenstände der Sinne als Dinge Gegenstände der Sinne an sich als Erscheinungen Das Bedingte und dessen Bedingung als Ding an sich

Das Bedingte und dessen Bedingung als Erscheinung

Synthese des bloßen Verstandes

Empirische Synthese im Raum und in der Zeit

»in transscendentaler Bedeutung einer reinen Kategorie«

»in empirischer Bedeutung eines auf bloße Erscheinungen angewandten Verstandesbegriffs«

»ohne Zeitbedingung«; »zugleich gegeben«

»nothwendig successiv und nur in der Zeit nach einander gegeben«

Nun ist zu überlegen: Bezieht sich das Begriffspaar »Ding an sich« und »Erscheinung« auf die Gegenstände der Sinne oder vielmehr auf die Art und Weise, wie diese Gegenstände der Sinne zu erfassen sind? Insbesondere wurde das »Ding an sich« in der Rezeption als ein Etwas,

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3. Zwei Überlegungen aus der obigen Analyse

das von uns unabhängig da sei, interpretiert, und die »Erscheinung« hingegen als die Art und Weise, dieses Etwas zu erfassen. Laut meiner Lesart betrifft sowohl »Erscheinung« als auch »Ding an sich« nur die Art und Weise, wie die Gegenstände der Sinne zu erfassen sind. Es ist laut Kant nur richtig, wenn man die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« betrachtet. Denn dies macht die Antinomie auflös­ bar. Die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« anzunehmen, ist die Ursache der Antinomie. Mit diesen Vorüberlegungen werde ich im vierten Kapitel nachvollziehen, wie die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« oder als »Erscheinungen« angenommen werden.

3.2 Zweite Überlegung: Kritisiert Kant die Vermögen selbst oder ihren Gebrauch? Kants drei Hauptwerke heißen Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft und Kritik der Urteilskraft. Aber kritisiert Kant die Vermögen selbst oder kritisiert Kant vielmehr den problematischen Gebrauch der Vermögen? Kant spricht in der Einleitung der KrV davon, dass der Nutzen der Kritik negativ sei. Sie diene nicht zur Erweiterung der Vernunft, sondern nur zur Läuterung derselben, um die Vernunft von Irrtümern freizuhalten (vgl. A 11/B 25). Was ist mit diesen Irrtümern gemeint? Sie können sich nicht auf die Vernunft (im weiteren Sinn) per se beziehen, sondern nur auf den problematischen Gebrauch derselben. Dazu schreibt Kant im Anhang der transzendentalen Dialektik, wenn er vom »regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft« spricht: [1] Alles, was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist, muß zweck­ mäßig und mit dem richtigen Gebrauche derselben einstimmig sein, wenn wir nur einen gewissen Mißverstand verhüten und die eigentli­ che Richtung derselben ausfindig machen können. [2] Also werden die transscendentalen Ideen allem Vermuthen nach ihren guten und folglich immanenten Gebrauch haben, obgleich, wenn ihre Bedeutung verkannt und sie für Begriffe von wirklichen Dingen genommen werden, sie transscendent in der Anwendung und eben darum trüglich sein können. [3] Denn nicht die Idee an sich selbst, sondern bloß ihr Gebrauch kann entweder in Ansehung der gesammten möglichen Erfahrung überfliegend (transscendent), oder einheimisch (immanent) sein, nachdem man sie entweder geradezu auf einen ihr vermeintlich entsprechenden Gegenstand, oder nur auf den Verstandesgebrauch

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

überhaupt in Ansehung der Gegenstände, mit welchen er zu thun hat, richtet; [4] und alle Fehler der Subreption sind jederzeit einem Mangel der Urtheilskraft, niemals aber dem Verstande oder der Vernunft zuzuschreiben. (A 643/B 671; Ergänzungen durch den Verfasser)

Im ersten Satz [1] drückt Kant seine Grundüberzeugung in Bezug auf die Natur »unserer Kräfte« aus. Sie muss zweckmäßig und »mit dem richtigen Gebrauche derselben einstimmig sein«. Diese Zweckmäßig­ keit der menschlichen Vermögen bezieht sich auf eine Analogie zum ›organisierten Körper‹. Dazu schreibt Kant in der B-Vorrede, dass die Kritik der reinen spekulativen Vernunft »den ganzen Vorriß zu einem System der Metaphysik verzeichnen kann und soll« (B XXIII). »[Die Metaphysik ist] in Ansehung der Erkenntniß principien eine ganz abgesonderte, für sich bestehende Einheit […], in welcher ein jedes Glied wie in einem organisirten Körper um aller anderen und alle um eines Willen da sind, und kein Princip mit Sicherheit in einer Beziehung genommen werden kann, ohne es zugleich in der durchgän­ gigen Beziehung zum ganzen reinen Vernunftgebrauch untersucht zu haben.« (ebd.)

Dieser Satz kann als eine Erklärung für den ersten Satz [1] angesehen werden. Die Vernunft (im allgemeinen Sinn) kann nicht aus ihrer Natur selbst Täuschung enthalten, denn ansonsten wären wir nicht in der Lage, etwas durch die Vernunft als den obersten Gerichtshof zu beurteilen. Der Titel des Buches Kritik der reinen Vernunft zeigt schon, dass Kant die Vernunft kritisiert und zugleich kritisiert Kant die Vernunft mit der Vernunft. Wenn die Vernunft selbst problematisch ist, wäre es unmöglich, mit der Vernunft die Vernunft selbst richtig zu kritisieren. Später werde ich zeigen, dass der Gegenstand der Kritik nicht die Vernunft selbst ist, sondern der Gebrauch der Vernunft. Bezüglich der transzendentalen Ideen spricht Kant dann im zweiten Satz [2] davon, dass die Ideen »allem Vermuthen nach ihren guten und folglich immanenten Gebrauch haben«. Nur wenn ihre Bedeutung verkannt wird, wird ihre Anwendung transzendent und darum trügerisch. Diese problematische Anwendung wird von Kant später als konstitutiver Gebrauch der Vernunftideen charakterisiert (vgl. A 644/B 672). Ihr Merkmal ist, dass man die Ideen »für Begriffe von wirklichen Dingen genommen« hat. Demgegenüber setzt Kant den regulativen Gebrauch der Vernunftideen. Dessen Merkmal ist es, dass man die Vernunftideen nur für die Vollendung der Reihe der Bedingungen gebraucht. Dann kommt ein zentraler Gedanke im

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3. Zwei Überlegungen aus der obigen Analyse

dritten Satz [3] hinzu, dass »nicht die Ideen an sich selbst, sondern bloß ihr Gebrauch« problematisch sein können. Dieser problemati­ sche Gebrauch ist für die gesamte mögliche Erfahrung »überfliegend (transscendent)«. Wenn man aber diesen problematischen Gebrauch vermeidet, entspringt kein Schein mehr. Im vierten Satz [4] schreibt Kant dem problematischen Gebrauch der Vermögen einen »Mangel der Urtheilskraft« zu, nicht dem Verstand oder der Vernunft selbst. Kant beschreibt den problematischen Gebrauch der Vermögen als »Fehler der Subreption«. Diese »Subreption« bzw. in deutscher Übersetzung »Erschlei­ chung« wird von Kant als eine Verwechslung bezeichnet. Diese Ver­ wechslung kann im sinnlichen Feld bedeuten, »daß wir das Urtheil des Verstandes [für] Erscheinung halten« (Refl. 241; AA15: 092). Sie kann auch das übersinnliche Feld betreffen, wenn man einen Begriff für eine Sache, »das Subjective des Denkens für das Objective des Gedachten« (AA20: 349), hält. In beiden Fällen geht es eigentlich um einen problematischen Gebrauch der Vermögen und nicht um die Vermögen selbst. Aber woher weiß Kant, ob ein Vermögen richtig oder falsch gebraucht wird? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich an den systematischen Status der Antinomie erinnern, den ich in Abschnitt 1 dieses Kapitels diskutiert habe, dass nicht die anderen Ideen, sondern die Antinomie Kant aus dem dogmatischen Schlummer erwecke (vgl. AA12: 257). Die Ursache dafür ist, dass nur die Antinomie einen Widerstreit der Vernunft mit sich selbst aufzeigt. Dieser Widerstreit zeigt einen problematischen Gebrauch der Vermögen, wodurch die Vernunft selbstwidersprüchlich wird. Daher ruft Kant »zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft selbst« (AA04: 338) auf. Im Rekurs auf Abschnitt 2.3 haben wir die Auswirkungen der Auflösung der Antinomie in den drei Teilen der kantischen Philoso­ phie gesehen: Um die Antinomie aufzulösen, wendet sich Kant der ›Betrachtungsweise‹ der Gegenstände der Sinne zu und findet heraus, dass die ›Betrachtungsweise‹ der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« die Antinomie verursacht. Dazu schreibt Kant in § 52 der Prol.: Wenn wir, wie es gewöhnlich geschieht, uns die Erscheinungen der Sinnenwelt als Dinge an sich selbst denken; wenn wir die Grundsätze ihrer Verbindung als allgemein von Dingen an sich selbst und nicht blos von der Erfahrung geltende Grundsätze annehmen, wie denn dieses eben so gewöhnlich, ja ohne unsre Kritik unvermeidlich ist:

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Drittes Kapitel: Die kosmologische Antinomie als Wegweiser

so thut sich ein nicht vermutheter Widerstreit hervor, der niemals auf dem gewöhnlichen, dogmatischen Wege beigelegt werden kann, weil sowohl Satz als Gegensatz durch gleich einleuchtende klare und unwiderstehliche Beweise dargethan werden können – denn für die Richtigkeit aller dieser Beweise verbürge ich mich –, und die Vernunft sich also mit sich selbst entzweit sieht, ein Zustand, über den der Sceptiker frohlockt, der kritische Philosoph aber in Nachdenken und Unruhe versetzt werden muß. (AA04: 339f)

Die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« anzunehmen, ist, wie Kant an dieser Stelle schreibt, eine gewöhnliche Betrachtungsweise. Aus ihr entsteht der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst, d. i. die Antinomie. Kant ordnet sowohl den Dogmatismus als auch den Empirismus unter diese gewöhnliche Betrachtungsweise (vgl. Abschnitt 2.3 des vierten Kapitels). Die Antinomie kann nicht auf dem gewöhnlichen Weg »beigelegt werden«, aber trotzdem aufgelöst werden, weil nicht die Vernunft selbst das Problem darstellt, son­ dern deren Gebrauch. Durch den problematischen Gebrauch entsteht die gewöhnliche Betrachtungsweise. Um die Antinomie aufzulösen, muss dieser Gebrauch aufgehoben werden und ein neuer Gebrauch an dessen Stelle treten. Denn die Auflösung der Antinomie bezieht sich auf die ›Annah­ meweise‹ des Bedingten und des Unbedingten. Beide können auf den Verstand und die Vernunft zurückgeführt werden. In der prakti­ schen Philosophie spielt die praktische Vernunft eine entscheidende Rolle. Es ist nun zu erwarten, dass es im zweiten Teil dieser Arbeite insgesamt sechs Arten vom Gebrauch des Vermögens gibt und die Bestimmung des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« anhand dieser in vol­ lem Umfang stattzufinden hat.

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Teil 2: Der Gebrauch der Vermögen und die Antwort auf P3

In diesem Teil (viertes, fünftes und sechstes Kapitel) wird verdeutlicht, dass immer zwei kontradiktorische Arten des Gebrauchs der Denkver­ mögen in der Erkenntnistheorie, der Ideenlehre und der praktischen Philosophie Kants vorhanden sind. Es ist wichtig zu verstehen, welche Arten des Gebrauchs der Vermögen Kant selbst annimmt und welche er kritisiert. Das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« wird als Konsequenz der unterschiedlichen Arten des Gebrauchs der Vermögen auf die drei genannten Themenbereiche hin gedeutet. Dabei ist zu beachten, ob die Begriffe »Ding an sich« und »Erscheinung« im kantischen Sinn (als Resultat der Metaphysikkritik) oder im polemischen Sinn (als Gegenstand der Metaphysikkritik) verwendet werden. Damit korrespondierend sollen im Folgenden die drei Unterfragen aus P3 (P3.1, P3.2 und P3.3) beantwortet werden. Es folgt eine kurze Skizze dieser Beantwortung: a.) Antwort auf P3.1: Der von Kant behauptete empirische Verstan­ desgebrauch bestimmt die Gegenstände der Sinne als »Erschei­ nungen«. Der transzendentale Verstandesgebrauch, den Kant kritisiert, bestimmt hingegen die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«. Das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« dient hier der Beschreibung vom sinnlichen Feld bzw. den Gegenständen der Sinne. Das ist das Thema des vierten Kapitels. b.) Antwort auf P3.2: Im übersinnlichen Feld gibt es auch zwei Arten des Vernunftgebrauchs. Der konstitutive Gebrauch der Vernunft, den Kant kritisiert, bezieht sich auf Vernunftideen im konstitutiven Sinn. Die Vernunftideen werden auf diese Weise als »Erscheinungen« (d. i. etwas Verdinglichtes) erfasst. Demgegen­ über behauptet Kant den regulativen Vernunftgebrauch, durch den die Vernunftideen als »Dinge an sich« bestimmt werden. Das ist das Thema des fünften Kapitels. c.) Antwort auf P3.3: In der praktischen Philosophie lassen sich auch zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs in Bezug auf die Suche nach dem moralischen Bestimmungsgrund des Willens unterscheiden. Kant begründet den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft und bringt diesen mit dem Begriff »Ding an sich« zusammen. Demgegenüber wird der praktische Gebrauch der empirisch bedingten Vernunft (den Kant kritisiert) mit dem Begriff »Erscheinung« zusammengebracht. Das ist das Thema des sechsten Kapitels.

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P3 wird so beantwortet, dass sich »Erscheinung« und »Ding an sich« kontradiktorisch in allen drei Themenbereichen der kantischen Philosophie (Erkenntnistheorie, Ideenlehre und praktische Philoso­ phie) gegenüberstehen. Dies ist wichtig für die Beantwortung von P1 und P2, sowie für die Suche nach der allgemeinen Bedeutung des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«, wie es im dritten Teil der vorliegenden Arbeit thematisiert werden soll.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch und das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich«

Im Abschnitt 2.3.1 des letzten Kapitels wurde durch die Analyse des dialektischen Arguments der Antinomie gezeigt, dass es zwei Betrachtungsweisen der Gegenstände der Sinne gibt. Die erste ist die Betrachtungsweise der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«, bei der man die Gegenstände der Sinne durch den bloßen Verstand bzw. reine Verstandesbegriffe annimmt. Die zweite ist die Betrachtungs­ weise der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«, bei der man die Gegenstände der Sinne durch die Kombination der sinnlichen und begrifflichen Bedingungen (durch schematisierte Verstandesbegriffe) annimmt. Kant zufolge ist die erste Betrachtungsweise (Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«) problematisch, denn bei ihr bleibe der dialektische Fehlschluss des kosmologischen Arguments verborgen und verursache die Antinomie. Nur die zweite Betrachtungsweise (Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«) ist richtig. Dadurch werde der dialektische Fehlschluss des kosmologischen Arguments aufgedeckt und die Antinomie aufgelöst. Dieses Resultat ist nicht von der kantischen Erkenntnistheorie unabhängig97, sondern soll als eine Folge der kantischen Erkenntnis­ theorie für die Kosmologie angesehen werden. Denn die Gegenstände der Sinne als Erscheinungen und nicht als Dinge an sich zu erken­ nen, ist es, worauf die kantische Erkenntnistheorie verweist. Dieses steht in einem engen Zusammenhang mit Hauptfrage der kantischen Erkenntnistheorie, mit der sich Kant in der transzendentalen Ästhetik und Analytik beschäftigt: Kann man nur mit den reinen Verstandesbe­ griffen a priori (den Kategorien) die Gegenstände der Sinne erkennen oder benötigt man auch die Sinnlichkeit? Die Antwort auf diese Dieses Resultat ist auch nicht von der praktischen Philosophie Kants unabhängig, da die Auflösung der Antinomie die Denkmöglichkeit der Freiheit schafft. An dieser Stelle setze ich den Fokus auf die Folgen dieses Resultats für die kantische Erkenntnis­ theorie.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

Frage ist, dass laut Kant die Gegenstände der Sinne nur durch die Kombination der Verstandesbegriffen mit der Sinnlichkeit bestimmt werden können. In Bezug auf die Frage, wie man die Gegenstände der Sinne erkennen kann, werden zwei Arten des Verstandesgebrauchs von Kant charakterisiert (vgl. A 238/B 297f; A 246/B 303). Im Folgenden werde ich aufzeigen, dass der empirische Verstandesgebrauch sich darauf bezieht, dass man durch die Kombination der Sinnlichkeit und des Verstandes die Gegenstände der Sinne begreift. Der trans­ zendentale Verstandesgebrauch zeichnet sich dadurch aus, dass man durch den Verstand allein die Gegenstände der Sinne begreift. Die Gegenstände der Sinne werden im transzendentalen Verstandesge­ brauch als Dinge an sich und im empirischen Verstandesgebrauch als Erscheinungen angenommen. Daher sind »Erscheinung« und »Ding an sich« in diesem Zusammenhang die Resultate der beiden Arten des Verstandesgebrauchs. Aus der metaphysikkritischen Perspektive ist der transzendentale Verstandesgebrauch Gegenstand der Meta­ physikkritik Kants im sinnlichen Feld. Zugleich ist der empirische Verstandesgebrauch das Resultat der Metaphysikkritik Kants in dem­ selben Feld. In diesem Abschnitt möchte ich die beiden Arten des Verstandes­ gebrauchs in Bezug auf die Gegenstände der Sinne ausführlich behan­ deln. Dadurch wird aufgezeigt, was es bedeutet, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« oder als »Erscheinungen« zu begreifen. Die Struktur dieses Unterkapitels ist folgende: In 1. gebe ich eine kurze Erläuterung zur Urteilstafel und zu den Kategorien. In 2. werde ich die Beziehung zwischen dem transzendentalen Verstandesgebrauch und den Gegenständen der Sinne als »Dinge an sich« darstellen. In 3. werde ich die Beziehung zwischen dem empirischen Verstan­ desgebrauch und den Gegenständen der Sinne als Erscheinungen darstellen. In 4. werde ich durch die Stelle »B 306« die Struktur des Phaenomena/Noumena-Kapitels aufzeigen, damit das Noumenon ›im negativen Verstand‹ und ›im positiven Verstand‹ erklärt werden kann. In 5. gebe ich eine zusammenfassende Antwort auf P3.1 (in welcher Relation stehen »Ding an sich« und »Erscheinung« in der kantischen Erkenntnistheorie?).

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1. Kurze Erläuterung der Urteilstafel und der Kategorien

1. Kurze Erläuterung der Urteilstafel und der Kategorien Im Leitfadenkapitel der KrV gibt es zwei Tafeln von fundamentaler Bedeutung für die kantischen Philosophie: die Urteilstafel98 und die Kategorientafel. Die beiden Tafeln bilden die Grundstruktur der kantischen Philosophie.99 Für diese Arbeit, deren Hauptthema das Begriffspaar »Ersch./D.a.s« ist, wird eine kurze Erläuterung zu diesen zwei Tafeln genügen, um für die weitere Diskussion erhellen, dass es beim Verstandesgebrauch um die Anwendung der Kategorien geht. Die Kategorientafel entstammt der Urteilstafel. Im Folgenden werden hinsichtlich der Urteilstafel und der Kategorientafel drei Punkten diskutiert. (1) Aus Kants positiver Einschätzung der allgemeinen Logik folgen die Urteiltafel und die Kategorientafel. (2) Vom syste­ matischen Aufbau der Urteilstafel ausgehend wird gezeigt, dass die Urteilstafel nach der Idee einer transzendentalen Logik eingerichtet ist, obwohl alle Urteilsarten selbst schon in der allgemeinen Logik gefunden werden können. (3) Die Beziehung der Urteilstafel zur Kategorientafel wird aufgezeigt.

Kants positive Einschätzung der allgemeinen Logik und ihr Einfluss auf die Urteilstafel Die positive Einschätzung100 der allgemeinen Logik von Kant beinhal­ tet, dass alle einfachen Handlungen des Denkens vollständig und sys­ tematisch aufgezählt werden können, weil in der allgemeinen Logik Eigentlich hat Kant diese Tafel an keiner Stelle Urteilstafel genannt. In der KrV ist sie nicht betitelt. Der Titel des § 9 Von der logischen Funktion des Verstandes in Urteilen und der Satz vor der Tafel »so finden wir, daß die Funktion des Denkens in demselben unter vier Titel gebracht werden könne« (A 70/B 95) lassen sich mit Bezeichnungen wie »Tafel der logischen Funktion des Verstandes im Urteilen« oder »Tafel der Funktion des Denkens im Urteilen« verknüpfen. Im Werk Prol. wird die Tafel, um die es hier geht, von Kant als »logische Tafel der Urteile« bezeichnet. In dieser Arbeit wird diese Tafel wie auch in der Rezeption als Urteilstafel bezeichnet. 99 Brandt spricht sogar von dem Verhältnis zwischen der Urteilstafel und der gan­ zen KrV: »Und die Kritik selbst übernimmt nach der Urteilstafel die vielgliedrige Bauform mit ihren Kategorien (Begriffen), Grundsätzen (Urteilen), der Dialektik (Vernunftschlüssen) und dann viertens der Methodenlehre.« (Brandt 1991: 7). 100 Die negative Einschätzung wurde schon im zweiten Kapitel in Bezug auf Kants Metaphysikkritik unter dem Titel »A. allgemeine und transzendentale Logik« erwähnt. In der allgemeinen Logik wird aller Inhalt abstrahiert. Dies ist eine negative 98

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

von allen Inhalten abstrahiert wird (vgl. A XIV). Es wird argumentativ dargelegt, dass die positive Einschätzung der allgemeinen Logik die grundlegende Struktur der Urteilstafel untermauert. Kants Aufbau der Urteilstafel hat einen historischen Ursprung. Man findet alle Bezeichnungen für die logischen Funktionen des Verstandes, wie sie darin vorkommen, auch schon bei vorherigen Logikern.101 Dies liegt daran, dass Kant der Ansicht ist, dass die Logik seiner Zeit bereits vollständig ist. Und diese Ansicht formt die grundlegende Struktur der Urteilstafel. Wegen dieser Vollständigkeit der Logik ist Kant davon überzeugt, dass die formale Logik in der Lage ist, alle einfachen Handlungen des Denkens völlig und systematisch aufzuzählen (vgl. A XIV). An derselben Stelle in der A-Vorrede der KrV schreibt Kant: »ich erkühne mich zu sagen, daß nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden« (ebd.). Dieser Anspruch ist nicht »ruhmredig und unbescheiden«, weil es die Metaphysik »lediglich mit der Vernunft selbst und ihrem reinen Denken zu tun« hat. Die allgemeine Logik zeigt laut Kant alle »einfache Handlungen« (ebd.) des Denkens. Kant scheint davon überzeugt zu sein, dass alle einfachen Handlungen der Vernunft aufgezählt werden können und in der allgemeinen Logik schon aufgezählt worden sind. Die in der allgemeinen Logik vollständig aufgezählten Handlungen der Vernunft geben uns einen Hinweis darauf, dass man dadurch alle metaphysischen Themen aufzählen kann (vgl. A XIV). Mithilfe einer anderen Stelle, die dem Anfang der B-Vorrede der KrV entnommen ist, lässt sich Kants affirmative Haltung bezüglich der allgemeinen Logik nachweisen. Dort spricht Kant davon, welche Wissenschaft »den sicheren Gang« schon gegangen sei. Die Logik hat schon »von den ältesten Zeiten« (B VIII) an diesen sicheren Gang Einschätzung der allgemeinen Logik, weil die allgemeine Logik diesbezüglich für die Beschäftigung der Metaphysik nicht geeignet ist. 101 Tonelli hat in seinem Artikel Die Voraussetzungen zur Kantischen Urteilstafel in der Logik des 18. Jahrhunderts durch einen historischen Vergleich darauf hingewiesen, dass Kant seine Urteilstafel relativ frei aufgestellt hat. Bei der Qualität und der Quantität richtet er sich im Wesentlichen nach der Mehrheit der Logiker. Für die Relation und Modalität hat er die Lehren von Meier und Lambert umgestaltet und mit eigenen Elementen kombiniert. Tonelli weist auch darauf hin, dass die Frage der Einteilung der Urteilsarten im 18. Jahrhundert kein Streitpunkt war. Ein jeder Logiker dürfte nach eigenem Gutdünken entschieden haben, da die herrschenden Schulen keine einheitlichen Lehren in dieser Hinsicht aufwiesen (vgl. Tonelli 1966: 157–158).

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1. Kurze Erläuterung der Urteilstafel und der Kategorien

beschritten. Sie hat seit Aristoteles keinen Schritt rückwärts getan und auch keinen Schritt vorwärts. Sie scheint »geschlossen und vollendet zu sein« (ebd.). Die Grenze der Logik ist laut Kant dadurch bestimmt, dass sie eine Wissenschaft sei, die die formalen Regeln allen Denkens ausführlich darlege und Strenge beweise (vgl. B IX). Die Ursache dafür ist nach Kants Kenntnis, dass in der Logik von allem Inhalt abstrahiert wird. Sie hat nur mit den Vermögen (Verstand und Vernunft) und deren Form zu tun (vgl. ebd.). Jetzt soll zunächst beschrieben werden, wie Kants positive Ein­ schätzung der allgemeinen Logik die Urteilstafel formt. Die Urteilsta­ fel beinhaltet vier Titel: Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Warum sind es diese vier und kein anderen? Kant spricht in der KrV fast gar nicht darüber. Die historische Untersuchung von Tonelli belegt, dass die vier Titel schon vor Kant genutzt werden. Und doch gibt Kant uns einen Hinweis in dem Erklärungstext von der Urteilstafel102. Die Modalität der Urteile trägt nichts zum Inhalt des Urteils bei, denn Größe (Quantität), Qualität und Relation machen den Inhalt eines Urteils aus (vgl. A 74/B 99f). Genauer genommen bezieht sich die Quantität auf das Subjekt, die Qualität auf das Prädikat und die Relation auf das Verhältnis zwischen den beiden103. Diesen Zusammenhang, den Kant aus der Logiktradition übernimmt, spiegeln die ersten drei Titel in der Urteilstafel wider. Kants kritische Überarbeitung der traditionellen Ontologie zeigt, dass es sich bei der Modalität um eine besondere Funktion des Urteils handelt. Nun ist Kants Abweichen von der Logiktradition nachzuvollzie­ hen. Während sich die ersten beiden Titel der Kategorientafel (Qua­ lität und Quantität) auf das Subjekt und das Prädikat als zwei Teile innerhalb eines Urteils beziehen104, stellt die Relation ein Abweichen von diesen Titeln dar. Denn die von Kant dargestellte Relation findet sich nicht nur innerhalb eines Urteils, sondern auch zwischen zwei oder mehreren Urteilen. Das heißt, dass die kantische ›Relation‹ von der Logiktradition als zwei Stufen betrachtet wird. Bei der ersten 102 Auch die Nachschriften der Logik-Vorlesungen Kants aus den frühen 70er-Jahren geben immerhin einen Hinweis darauf, dass Kant in der Zeit schon die vier Titel, die er in der KrV verwendet, kannte. Die zwölf Abteilungen, die unter diese Titel geordnet werden, erscheinen jedoch zu dieser Zeit noch nicht. Vgl. hierzu Brandt 1991: 99–102. 103 Vgl. Refl. 3087 (AA 16: 651), wo Kant die Urteilslehre von Meiner zusammen­ fasst. Vgl. auch Brandt 1991: 46f. 104 Auf Kants Veränderung bei der Qualität und Quantität komme ich in Abschnitt 2 zurück.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

geht um das Subjekt und das Prädikat als zwei Begriffe in einem Urteil. Das Verhältnis des Prädikats zum Subjekt bezieht sich lediglich auf das kategorische Urteil. Bei der zweiten geht es um zwei oder mehrere Urteile. Hypothetische und disjunktive Urteile besitzen die Voraussetzung, dass bereits zwei oder mehr Urteile vorhanden sind. In der Logiktradition gilt die Einteilung »einfach/zusammengesetzt« (vgl. Tonelli 1966: 152f): das kategorische Urteil gehört zum »einfa­ chen«, das hypothetische und disjunktive gehört zum »zusammenge­ setzten«.105 Bei den zusammengesetzten Urteilen gibt es zwischen hypothetischem und disjunktivem Urteil eine Beziehung: wenn zwei Urteile im Verhältnis der Verknüpfung stehen, entsteht ein hypothe­ tisches Urteil, aber wenn die beiden im Verhältnis des Widerstreits stehen, entsteht ein disjunktives Urteil (vgl. AA24: 464).106 In der B-Deduktion spricht Kant seine Unzufriedenheit darüber aus, dass die Erklärung der Logiker über »ein Urteil überhaupt« (B 140) nur auf ein kategorisches Urteil passt. Zusammenfassend ist zu sagen, dass das kategorische Urteil als »einfach« im Gegensatz zum hypothetischen und disjunktiven Urteil als »zusammengesetzt« steht. Weiter steht das hypothetische Urteil im Gegensatz zum disjunktiven, wenn es sich auf zwei Urteile bezieht. Daran zeigt sich, dass Kants Einteilung hinsichtlich der Relation selbst eine Abweichung von der Logiktradi­ tion ist, da er die unterschiedlichen Ebenen (zwei Begriffe in einem Urteil/zwei oder mehrere Urteile) der Verhältnisse des Denkens unter dem Titel »Relation« subsumiert. Die Modalität in der Urteilstafel ist aus der Logiktradition übernommen.107 Kant verknüpft das problematische Urteil mit der Möglichkeit, das assertorische Urteil mit der Wirklichkeit und das apodiktische Urteil mit der Notwendigkeit. Dieser Zusammenhang bezieht sich im Laufe der KrV auf das Problem der Objektivität, die Kant der traditionellen Metaphysik (vor allem dem Dogmatismus) entgegensetzt (vgl. Heimsoeth 1956: 19ff.). Denn Kant unterscheidet die logische Möglichkeit von der realen Möglichkeit und kritisiert, dass (vor allem) der Dogmatismus diesen Unterschied nicht mache. 105 Vgl. Refl. 3089. Dort subsumiert Kant das kopulative, konditionale (hypotheti­ sche) und disjunktive Urteil unter zusammengesetzte Urteile. 106 Vgl. auch Brandt 1991: 100. 107 Tonelli zählt wenigstens 24 Philosophen vor Kant, die die Modalität als eine unabhängige Abteilung betrachtet haben (vgl. Tonelli 1966: 153). Im Neuen Organon hat Lambert den Unterschied des möglichen, wirklichen und notwendigen Satzes sowie seines Gegensatzes genannt (Lambert 1764 [1965]: 89).

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1. Kurze Erläuterung der Urteilstafel und der Kategorien

Dies spielt eine große Rolle für die zwei Arten des Verstandesge­ brauchs. Auf diesen Punkt werde ich im Folgenden zurückkommen. Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Aufteilung der vier Titel der vorangehenden Logiktradition folgt. Quantität bezieht sich auf das Subjekt, Qualität auf das Prädikat, Relation auf alle Verhältnisse des Denkens und die Modalität auf den Wert der Kopula. Aber die zwölf Momente zeigen Kants Überarbeitung der Logiktradition unter einer Idee der transzendentalen Logik. Dies wird das Thema des folgenden Absatzes sein.

Die Urteilstafel ist nach der Idee der transzendentalen Logik eingerich­ tet. Jeder Titel in der Urteilstafel hat jeweils drei Momente bzw. Untertitel. Diese Dreiheit zeigt selbst schon, dass die Urteilstafel nicht nach der formalen Logik eingerichtet ist, sondern nach der transzendentalen Logik. Zumindest müsste jede Einteilung a priori eine Dichotomie darstellen, wenn man dem Satz des Widerspruchs folgt.108 Zum Beispiel enthält die Qualität nach der formalen Logik das bejahende Urteil und das verneinende. Aber wenn man die Einteilung nach der Idee der transzendentalen Logik vornimmt, welche den Umfang und die objektive Gültigkeit des reinen Verstandes behandelt (vgl. A 57/B 81), wird eine Trichotomie gefordert.109 Das heißt, dass jeder Moment in der Urteilstafel dreifach ist. Daraus folgt, dass Kants Einrichtung der Urteilstafel schon die Idee der transzendentalen Logik

Vgl. Refl. 3025, 3026, 3030. Auch Kants zweite Anmerkung über die Kategorien (vgl. B 110). 109 Später in der KU spricht Kant über die Ursache, warum seine Einteilung in der reinen Philosophie immer dreiteilig ist. »Man hat es bedenklich gefunden, daß meine Eintheilungen in der reinen Philosophie fast immer dreitheilig ausfallen. Das liegt aber in der Natur der Sache. Soll eine Eintheilung a priori geschehen, so wird sie entweder analytisch sein nach dem Satze des Widerspruchs; und da ist sie jederzeit zweitheilig (quodlibet ens est aut A aut non A). Oder sie ist synthetisch; und wenn sie in diesem Falle aus Begriffen a priori (nicht wie in der Mathematik aus der a priori dem Begriffe correspondirenden Anschauung) soll geführt werden, so muß nach demjenigen, was zu der synthetischen Einheit überhaupt erforderlich ist, nämlich 1) Bedingung, 2) ein Bedingtes, 3) der Begriff, der aus der Vereinigung des Bedingten mit seiner Bedingung entspringt, die Eintheilung nothwendig Trichotomie sein.« (AA05: 197). 108

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

nahelegt,110 obwohl alle Urteilsarten so schon in der allgemeinen Logik gefunden werden können. Durch die obige Erklärung (vgl. zweites Kapitel dieser Arbeit) des Unterschiedes zwischen der allgemeinen und der transzendentalen Logik bemerkt man ein besonderes Merkmal der transzendentalen Logik, dass sie nicht die Formen des Denkens im Verhältnis aufein­ ander, sondern die Form des Denkens im Verhältnis zu möglichen Gegenständen betrifft. In dieser Logik wird nicht von allem Inhalt abstrahiert. Der darin bleibende Inhalt enthält »blos die Regeln des reinen Denkens eines Gegenstandes«. Jetzt ist die Frage, was mit die­ sem Inhalt gemeint ist. Am Anfang des § 10 Von den reinen Verstan­ desbegriffen oder Kategorien vergegenwärtigt Kant die Unterscheidung zwischen der allgemeinen und der transzendentalen Logik. Dort nennt Kant den Inhalt »ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori« (B 102), welches die transzendentale Ästhetik der transzendentalen Logik darbietet, um den reinen Verstandesbegriffen einen Stoff zu geben. Man bemerkt dies am Aufbau der Urteilstafel. In dem Erklä­ rungstext (A 71/B 96-A 76/B 101) spricht Kant von der Einteilung der Urteilstafel, in der die ersten zwei Titel, Quantität und Qualität, einen Inhalt haben. Damit ist die kantische Einteilung der Urteilsart von der »gewohnten Technik der Logiker« (A 70/B 96) wesentlich verschieden. Unter Ziffer 1 (Quantität) spricht Kant davon, dass das einzelne Urteil mit dem allgemeinen Urteil von den Logikern als identisch angesehen wird. Aber wenn man die beiden »bloß als Erkenntnis, der Größe nach« vergleicht, gibt es einen wesentlichen Unterschied. Die Größe bezieht sich für Kant auf die Anschauung (vgl. B 204). Es geht in der transzendentalen Logik um die reale Beziehung zwischen der Denkform und dem Mannigfaltigen, was sich auf die Anschauung bezieht. Es geht nicht wie in der allgemeinen Logik um eine logische Beziehung zwischen den Denkformen (also in diesem Fall zwischen einzelnem Urteil und allgemeinem Urteil). Nach der ›gewohnten Technik‹ der Logiker, die sich auf die allgemeine Logik

Dazu zeigt M. Wolff, dass die Urteilstafel in den Prolegomena als bloß logisch bezeichnet wird, weil sie dort nur als Formentafel, nicht als Funktionstafel gemeint ist. Demgegenüber wird die Urteilstafel als Funktionentafel in der KrV angesehen, und damit ist sie eine transzendentale Tafel (vgl. M. Wolff 1995: 31). 110

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1. Kurze Erläuterung der Urteilstafel und der Kategorien

bezieht, würde nur eine Zweiheit111 und nicht eine Dreiheit unter dem Titel der Quantität gegeben. Den gleichen Sachverhalt findet man auch bei Ziffer 2 (Qualität), bei der Kant das unendliche Urteil vom bejahenden unterscheidet. Die beiden würden in der allgemeinen Logik als gleich angesehen werden. Anders in der transzendentalen Logik: Dort wird das unendliche Urteil als ein besonderes Glied geschätzt. Denn »[d]iese unendliche Urtheile also in Ansehung des logischen Umfanges sind wirklich bloß beschränkend in Ansehung des Inhalts der Erkenntniß überhaupt« (A 73/B 98). Hier wird auch der Begriff des Inhalts betont, und zwar als der des Inhalts der Erkenntnis überhaupt. Wie soll man das verstehen? Was ist das Verhältnis zwischen diesem Inhalt der Erkenntnis überhaupt und das unendliche Urteil? Man kann sich dem Abschnitt Von dem transzendentalen Ideal (A 572/B 600-A 583/B 611) anschließen, wo Kant die Differenz zwischen Begriff unter dem Grundsatz der Bestimmbarkeit und Ding unter dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung ausführt. Der erste Fall beruht auf dem Satz des Widerspruchs, der ein bloß logisches Prinzip ist. Daher kann ein Begriff (A) von einem der beiden Prädikate bejahend (B) und verneinend (¬B) bestimmt werden. Im zweiten Fall aber wird das Ding nach dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung nicht nur mit seinem kontradiktorischen Prädikat verglichen, sondern auch mit der gesamten Möglichkeit, »als […] Inbegriff aller Prädikate der Dinge überhaupt«. Denn das Prinzip der durchgängigen Bestimmung betrifft den Inhalt, nicht bloß die logische Form. Dieses Prinzip enthält »eine transscendentale Voraussetzung, nämlich der Materie zu aller Möglichkeit, welche a priori die Data zur besonderen Möglichkeit jedes Dinges enthalten soll.« Es liegt nahe, diese »Materie« auf den »transzendentalen Inhalt« (A 79/B 105) zu beziehen, der dem empirischen Inhalt entgegensetzt ist.112 Daraus folgt, dass sich das unendliche Urteil auf den Vergleich eines Prädikats mit dem Inbegriff Vgl. »Daß allerwärts eine gleiche Zahl der Kategorien jeder Classe, nämlich drei, sind, welches eben sowohl zum Nachdenken auffordert, da sonst alle Eintheilung a priori durch Begriffe Dichotomie sein muß.« (B 110). 112 Zöller hat darauf hingewiesen, dass der eingeführte Begriff des transzendentalen Inhalts die Aufgabe habe, die notwendige Beziehung zwischen den Kategorien und dem Mannigfaltigen zu zeigen. Darüber hinaus werden die Kategorien als ›Begriffe von Gegenständen‹ bezeichnet. Aber der Beweis dieser notwendigen Beziehung wird in der transzendentalen Deduktion und dem Schematismus geliefert. Vgl. Zöller 1984: 102–103. 111

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

aller Prädikate der Dinge überhaupt bezieht. Daher drückt es eine beschränkende Funktion aus, die aber eine Idee der Totalität voraus­ setzt, die aber, Kants regulativen Gebrauch nach nur »dem Verstande die Regel seines vollständigen Gebrauch vorschreibt« (A 573/B 601). Es ist fragwürdig, ob auch die letzten beiden Titel, Relation und Modalität, die These, dass die Urteilstafel zur transzendentalen Logik gehört, bestärken, denn die Relation betrifft die Verhältnisse des Denkens »in Urteilen« (A 73/B 98) und die Modalität »den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt« (A 74/B 100). Es wurde bereits erwähnt, dass schon die kantische Einteilung der Relation von der traditionellen Einteilung abweicht. Es handelt sich bei der Einteilung der Relation um eine erweiterte Aufzählung der Verhältnisse im Denken. Für Kant zählt nicht nur das Verhältnis zwischen zwei Begriffen in einem Urteil (als Subjekt und Prädikat), für ihn zählen auch die Verhältnisse zwischen zwei oder mehreren Urteilen. Dagegen sind viele Logiker der Meinung, dass »die hypo­ thetischen sowohl als die disjunctiven Urtheile weiter nichts als verschiedene Einkleidungen der kategorischen seien und sich daher insgesammt auf die letztern zurückführen ließen« (AA09: 105).113 Bei der Modalität sagt Kant, dass sie »nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt« (A 74/B 100). Für meine Arbeit ist jedoch zunächst nur relevant, dass allein mit der Quantität und der Qualität die These zu begründen ist, dass die Urteilstafel nach der Idee der transzendentalen Logik eingerichtet ist. Die beiden Titel zeigen schon, dass man unter der Idee der transzen­ dentalen Logik, die nicht von allem Inhalt abstrahiert, die logischen Formen des Denkens anders organisieren soll als in der allgemeinen Logik, die von allem Inhalt abstrahiert. Die transzendentale Logik und ihre Anwendung in der Metaphysik ist das Resultat der Metaphy­ sikkritik Kants. Demgegenüber ist die Anwendung der allgemeinen Logik in der Metaphysik der Gegenstand der Metaphysikkritik Kants.

113 Vgl. auch B 140f: »Ich habe mich niemals durch die Erklärung, welche die Logiker von einem Urtheile überhaupt geben, befriedigen können: es ist, wie sie sagen, die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen. Ohne nun hier über das Feh­ lerhafte der Erklärung, daß sie allenfalls nur auf kategorische, aber nicht hypothetische und disjunctive Urtheile paßt (als welche letztere nicht ein Verhältniß von Begriffen, sondern selbst von Urtheilen enthalten), mit ihnen zu zanken (unerachtet aus diesem Versehen der Logik manche lästige Folgen erwachsen sind).«

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1. Kurze Erläuterung der Urteilstafel und der Kategorien

Kants Verknüpfung der Urteilstafel mit der Kategorientafel Sammelt man Kants Formulierungen in Bezug auf die Verknüpfung der Kategorien mit der Urteilstafel, findet man zwei miteinander in Zusammenhang stehende Hauptthesen. Eine ist vor § 9 zu finden, die andere im § 10. Man kann sich der Übereinstimmung der beiden Tafeln damit korrespondierend durch die folgende Beobachtung annä­ hern. Die erste Stelle im Abschnitt von dem logischen Verstandesge­ brauche überhaupt (vor § 9) lautet: Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urtheile zurück­ führen, so daß der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urtheilen vorgestellt werden kann. (A 69/B 94)

Die zweite Stelle in § 10 lautet: Dieselbe Function, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urtheile Einheit giebt, die giebt auch der bloßen Synthesis verschie­ dener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt. Derselbe Verstand also und zwar durch eben dieselben Handlungen, wodurch er in Begriffen vermittelst der analytischen Einheit die logische Form eines Urtheils zu Stande brachte, bringt auch vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt in seine Vorstellungen einen transscendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe heißen, die a priori auf Objecte gehen, welches die allgemeine Logik nicht leisten kann. (A 79/B 104f)

In der ersten Stelle setzt Kant das Urteilen und das Denken in Ver­ bindung. Kant zufolge ist der menschliche Verstand diskursiv, nicht intuitiv. Das heißt, dass eine Erkenntnis des Verstandes durch Begriffe möglich ist. Begriffe beruhen auf der Funktion bzw. der ›Einheit der Handlung‹, durch die verschiedenen Vorstellungen unter eine gemeinschaftliche Vorstellung geordnet werden. Von den Begriffen kann der Verstand keinen anderen Gebrauch machen, als dass er dadurch urteilt (vgl. A 68/B 93). Damit kann man alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so dass »der Verstand über­ haupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann« (A 69/B 94). Daher ist es erlaubt, die Funktionen des Verstandes vollständig zu finden, wenn man die Funktion der Einheit in den Urteilen vollständig

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

darstellen kann114 (A 69/B 94). Um dies auszuführen, soll man »von allem Inhalte eines Urteils überhaupt abstrahieren, und nur auf die bloße Verstandesform« (A 70/B 95) achten. Auf diese Weise bekommt man die Urteilstafel (vgl. ebd.), in der die Funktionen des Denkens unter vier Titel gebracht wird, die jeweils drei Momente bzw. Untertitel enthalten. Dann verknüpft Kant in der zweiten Stelle die Urteilstafel mit den Kategorien, indem er die zwei Funktionen gleichsetzt. Eine Funk­ tion gibt den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteil Einheit, die andere Funktion gibt der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellun­ gen in einer Anschauung Einheit. Diese Gleichsetzung erinnert an die notwendige Einheit der Apperzeption, die Kant im § 16 der B-Deduk­ tion thematisiert. Dort wird aufgezeigt, dass die Einheit der Apper­ zeption das Bewusstsein überhaupt sei und alle Vorstellungen unter dieser stehen müssten (vgl. B 132)115. Das bedeutet für die Verknüp­ fung der Urteilstafel mit der Kategorientafel, dass beide Tafeln ihren Ursprung in der Apperzeptionseinheit haben. Der Unterschied zwi­ schen den beiden Tafeln ist nur, dass die Urteilstafel sich auf die logi­ sche Form des Urteiles bezieht und die Kategorientafel auf die Syn­ thesis des Mannigfaltigen in der Anschauung. Die Kategorientafel hat immer »einen transscendentalen Inhalt« (A 79/B 105) und bezieht sich dadurch apriorisch auf das Objekt. Aber beide Tafeln haben als gleichen Ursprung die Apperzeptionseinheit und haben deshalb »[d]ieselbe Function« (A 79/B 104). Auf diese Weise verknüpft Kant die beiden Tafeln.

114 Dieser Satz scheint ein Zirkel in der Anordnung der Beweisziele zu sein, als wenn man die zwölf Funktionen dadurch finden wollte, dass man sie in einer Tafel einfach aufzählte. M. Wolff hat eine Lesart vorgeschlagen, um diesen Zirkel zu vermeiden, der beinhaltet, dass man »die Funktionen des Verstandes« (die gefunden werden sollen) mit den »Funktionen der Einheit in den Urteilen« (die man darstellen kann) nicht identifiziert. Nach dieser Lesart müssen die Funktionen des Verstandes die zwölf gesuchten logischen Funktionen sein, und demgegenüber sind die Funktionen der Einheit in den Urteilen die vier Titel (vgl. Wolff 1995: 41). 115 Das werde ich in Bezug auf den empirischen Verstandesgebrauch (in Abschnitt 1.2.3 dieses Kapitels) näher betrachten.

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2. Gegenstände der Sinne als D.a.s. als Resultat des Verstandesgebrauchs

2. Gegenstände der Sinne als Dinge an sich auszugeben, ist das Resultat des transzendentalen Verstandesgebrauchs Die Überschrift dieses Abschnitts ist zugleich die Hauptthese, die darin zum Ausdruck kommen soll. Die Gegenstände der Sinne als Dinge an sich auszugeben, bezeichnet meiner Lesart nach ein philo­ sophisches Verfahren in der Metaphysik, das Kant als ein problema­ tisches Verfahren ansieht und deshalb ablehnt. Das zentrale Merkmal dieses Verfahrens ist, dass der Verstand bzw. die Verstandesbegriffe allein (ohne mit der Sinnlichkeit verbunden zu werden) auf die Gegenstände der Sinne angewandt werden. Bei dieser alleinigen Anwendung der Verstandesbegriffe handelt es sich um den transzen­ dentalen Verstandesgebrauch. Die Zielerwartung dieses Verfahren ist, dass man durch den transzendentalen Verstandesgebrauch die Gegen­ stände der Sinne erkennen kann, wie sie wirklich sind. Was man dadurch laut Kant tatsächlich erreicht, ist nur eine subjektive Beurtei­ lung der Gegenstände der Sinne, die eine Spiegelung der reinen Ver­ standesbegriffe ist. Der transzendentale Verstandesgebrauch ist laut Kant eine problematische Anwendung der Verstandesbegriffe. Dieser problematischen Anwendung werden sowohl der Dogmatismus/der Empirismus als auch der transzendentale Realismus/der empirische Idealismus von Kant zugeordnet. Daher werden die Gegenstände der Sinne von den vier Positionen durch den transzendentalen Verstan­ desgebrauch als »Dinge an sich« ausgegeben. Im Folgenden werden zwei Thesen (Bestimmungsart-These in 2.3.1 und Existenzart-These in 2.3.2) dazu entwickelt, dass die Annahme der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« von den vier Positionen durch den transzen­ dentalen Verstandesgebrauch geschieht. Kant thematisiert den Verstand und dessen Gebrauch hauptsäch­ lich in der transzendentalen Analytik. Sie wird auch zweigeteilt: Der erste Teil ist die Analytik der Begriffe. Es geht hier um eine systema­ tische Darstellung der Verstandesbegriffe und die transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe. Der zweite Teil ist die Analytik der Grundsätze. Es geht hier um den Schematismus der Verstandesbe­ griffe und die systematische Darstellung aller Grundsätze des reinen Verstandes. Das Phaenomena/Noumena-Kapitel ist das dritte Haupt­ stück der Analytik der Grundsätze. Zur Analytik der Grundsätze gibt es auch einen Anhang, von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. Zu diesem Anhang gibt es noch eine Anmerkung. Im Folgenden versuche

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

ich hauptsächlich mit der transzendentalen Analytik meine These zu rechtfertigen, dass die Haltung, Gegenstände der Sinne als Dinge an sich auszugeben, das Resultat des transzendentalen Verstandesge­ brauchs ist. In Unterabschnitt 2.1. arbeite ich zwei Merkmale des transzendentalen Verstandesgebrauchs heraus. In Unterabschnitt 2.2 versuche ich aus der Perspektive der Metaphysikkritik Kants den transzendentalen Verstandesgebrauch zu verdeutlichen. Im Unterab­ schnitt 2.3. versuche ich zu zeigen, wie man die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« unter dem transzendentalen Verstandes­ gebrauch begreifen kann. Dabei werden zwei Thesen diskutiert: die Bestimmungsart-These und die Existenzart-These.

2.1 Zwei Merkmale des transzendentalen Verstandesgebrauchs In diesem Unterabschnitt werden zwei Merkmale des transzenden­ talen Verstandesgebrauchs verdeutlicht. Woran erkennt man den transzendentalen Verstandesgebrauch? Um diese Frage zu beantwor­ ten, möchte ich mich hier mit drei Stellen (A 247f/B 304f; A 289/B 345f; B 302) aus der transzendentalen Analytik auseinander­ setzen. Damit sollen zwei Merkmale des transzendentalen Verstan­ desgebrauchs hervorgehoben werden. Das erste Merkmal ist, dass der Verstand allein die Gegenstände der Sinne ›bestimmt‹, indem man beim transzendentalen Verstandesgebrauch von allen sinnlichen Bedingungen abstrahiert. Das zweite Merkmal ist, dass durch den transzendentalen Verstandesgebrauch die logische Möglichkeit des Begriffs für die reale Möglichkeit der Dinge gehalten wird, denn nach Kants Kritik bestimmt dieser Verstandesgebrauch gar keinen Gegen­ stand, sondern nur das Denken des Gegenstandes überhaupt. Das heißt, dass sich der transzendentale Verstandesgebrauch nur auf die subjektiv-logische Bestimmung des Denkens bezieht, nicht auf die objektive Bestimmung der Dinge. Daher beziehen sich die Gegen­ stände der Sinne als Dinge an sich (als Resultat des transzendentalen Verstandesgebrauchs) nicht auf wahre Dinge oder objektive Realität, sondern nur auf die logische Möglichkeit des Begriffes. Diese logi­ sche Möglichkeit des Begriffes wird aber von den Vertretern des transzendentalen Verstandesgebrauchs für die reale Möglichkeit des Dinges gehalten. Die erste Stelle, die ich für die Frage nach dem transzendentalen Verstandesgebrauch heranziehen möchte, ist A 247f/B 304f, die im

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2. Gegenstände der Sinne als D.a.s. als Resultat des Verstandesgebrauchs

Phaenomena/Noumena-Kapitel zu finden ist. Diese Stelle befindet sich nach dem Absatz, in dem Kant behauptet, dass die Ontologie der Analytik des reinen Verstandes Platz machen muss (vgl. A 246f/B 303). In Kants Analytik des reinen Verstandes geht es hauptsäch­ lich darum, die Anwendungsbedingungen der Verstandesbegriffe zu bestimmen. Der transzendentale Verstandesgebrauch ist nach mei­ nem Verständnis ein problematisches Verständnis der Anwendungs­ bedingung der Verstandesbegriffe. Diese Stelle wird zumeist als eine Warnung vor dem transzendentalen Verstandesgebrauch gelesen. Aber man wird im Laufe meiner Analyse sehen, dass Kant nicht nur vor dem transzendentalen Verstandesgebrauch warnt, sondern diesen auch als Kontrastfolie nutzt, um den spezifischen Charakter des empi­ rischen Verstandesgebrauchs (den Kant begründet und behauptet) zu verdeutlichen. Der transzendentale Verstandesgebrauch ist dem ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ zuzuordnen und mit Kants Metaphysikkritik nur negativ in Verbindung zu bringen. [1] Das Denken ist die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen. [1.1] Ist die Art dieser Anschauung auf keinerlei Weise gegeben, so ist der Gegenstand blos transscendental, und der Verstandesbegriff hat keinen andern als transscendentalen Gebrauch, nämlich die Einheit des Denkens eines Mannigfaltigen überhaupt. [2] Durch eine reine Kategorie nun, in welcher von aller Bedingung der sinnlichen Anschauung als der einzigen, die uns mög­ lich ist, abstrahirt wird, [2.1] wird also kein Object bestimmt, sondern nur das Denken eines Objects überhaupt nach verschiedenen modis ausgedrückt. [3] Nun gehört zum Gebrauche eines Begriffs noch eine Function der Urtheilskraft, worauf ein Gegenstand unter ihm subsum­ irt wird, mithin die wenigstens formale Bedingung, unter der etwas in der Anschauung gegeben werden kann. [4] Fehlt diese Bedingung der Urtheilskraft (Schema), so fällt alle Subsumtion weg; denn es wird nichts gegeben, was unter den Begriff subsumirt werden könne. [5] Der blos transscendentale Gebrauch also der Kategorien ist in der That gar kein Gebrauch und hat keinen bestimmten, oder auch nur der Form nach bestimmbaren Gegenstand. [6] Hieraus folgt, daß die reine Kategorie auch zu keinem synthetische Grundsatze a priori zulange, und daß die Grundsätze des reinen Verstandes nur von empirischem, niemals aber von transscendentalem Gebrauche sind, über das Feld möglicher Erfahrung hinaus aber es überall keine synthetische Grund­ sätze a priori geben könne. (A 247f/B 304f; Hervorhebung durch den Verfasser)

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

Im ersten Satz [1] betont Kant seine eigene Position, der zufolge das Denken ein Akt, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen, ist. Die Hauptfrage ist hier, wie das Denken seine objektive Gültigkeit bzw. objektive Realität schaffen kann. Kants Antwort auf diese Frage ist, dass das Denken insofern objektive Gültigkeit erschaf­ fen kann, wenn es sich vermittelst der gegebenen Anschauung auf einen Gegenstand bezieht. Im Anschluss daran spricht Kant in Satz [1.1] von einem hypothetischen Fall, der Kants eigenem Ansatz entge­ gensteht: Wenn die Anschauung »auf keinerlei Weise«116 gegeben ist, so ist der Gegenstand bloß transzendental und der Verstandesbegriff hat einen transzendentalen Gebrauch. Was ist der transzendentale Gebrauch der Verstandesbegriffe? In demselben Satz bezeichnet Kant ihn als »die Einheit des Denkens eines Mannigfaltigen überhaupt«. Hier sind die Verstandesbegriffe als bloße Gedankenformen gemeint, nicht die schematisierten Verstandesbegriffe117. Im zweiten Satz [2] wird der transzendentale Verstandesge­ brauch näher bestimmt. Die reine Kategorie bestimmt kein Objekt, wenn von allen Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert wird. In dem Fall wird nur das Denken eines Objekts überhaupt durch die Kategorie ausgedrückt. Hier liegt der große Unterschied zwischen »Objekt bestimmen« und »Denken eines Objekts überhaupt […] [ausdrücken]«. Denn »Objekt bestimmen« bedeutet bei Kant, dass die Verstandesbegriffe mithilfe der Sinnlichkeit ihre objektive Realität schaffen. Dagegen schaffen die Verstandesbegriffe durch »das Denken eines Objekts überhaupt« nicht ihre objektive Gültigkeit, sondern nur ihre subjektive Gültigkeit. Der transzendentale Verstandesgebrauch hat aber nur mit dem »Denken eines Objekts überhaupt« zu tun. Das heißt, dass der transzendentale Verstandesgebrauch »das Denken

Hier spricht Kant nicht direkt von einer sinnlichen Anschauung, sondern auch von einer anderen Art von Anschauung (wie die intelligible Anschauung). Das zeigt, dass Kant bei diesem hypothetischen Fall keine Art von Anschauung erlaubt. 117 Vgl. B 150: »Die reinen Verstandesbegriffe beziehen sich durch den bloßen Verstand auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, unbestimmt ob sie die unsrige oder irgend eine andere, doch sinnliche sei, sind aber eben darum bloße Gedankenfor­ men, wodurch noch kein bestimmter Gegenstand erkannt wird. Die Synthesis oder Verbindung des Mannigfaltigen in denselben bezog sich bloß auf die Einheit der Apperception und war dadurch der Grund der Möglichkeit der Erkenntniß a priori, so fern sie auf dem Verstande beruht, und mithin nicht allein transscendental, sondern auch bloß rein intellectual.« 116

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2. Gegenstände der Sinne als D.a.s. als Resultat des Verstandesgebrauchs

eines Objekts überhaupt« mit der Bestimmung des Objekts verwech­ selt.118 Mit den Sätzen [3] und [4] betont Kant (in Abgrenzung zum transzendentalen Verstandesgebrauch) wiederum die unentbehrliche Bedingung des Verstandesgebrauchs, wenn er Objekte bestimmen möchte. Diese Bedingung ist die Urteilskraft bzw. das Schema. Die Verstandesbegriffe müssen schematisiert werden, wenn sie auf die Gegenstände der Sinne angewendet werden sollen.119 Dies ist das Merkmal des empirischen Verstandesgebrauchs. Nun soll man im Kontrast zum empirischen Verstandesgebrauch darauf achten, dass dem transzendentalen Verstandesgebrauch dieser Schematis­ mus fehlt.120 In Satz [5] stellt Kant das zweite Merkmal des transzendentalen Verstandesgebrauchs dar, dass dieser Verstandesgebrauch keinen Gegenstand bestimmt. Dieses Merkmal wird schon im zweiten Satz [2] und in Satzteil [2.1] erwähnt. Kein Objekt wird durch die reine Kategorie (in der von allen Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert wird) bestimmt. Lediglich das Denken eines Objekts überhaupt wird durch die reinen Kategorien ausgedrückt. Dies ist das zweite Merkmal des transzendentalen Gebrauchs. Dies hat Kant im folgenden Absatz des Zitats nochmals betont: Da sie also (als blos reine Kategorien) nicht von empirischem Gebrau­ che sein sollen und von transscendentalem nicht sein können, so sind sie von gar keinem Gebrauche, wenn man sie von aller Sinnlichkeit absondert, d. i. sie können auf gar keinen angeblichen Gegenstand angewandt werden; vielmehr sind sie blos die reine Form des Ver­ standesgebrauchs in Ansehung der Gegenstände überhaupt und des

118 Vgl. auch A 239/B 298: »Ohne dieses [empirische Anschauung] haben sie [Verstandesbegriffe] gar keine objektive Gültigkeit, sondern sind ein bloßes Spiel, es sei der Einbildungskraft, oder des Verstandes, respective mit ihren Vorstellungen« (Ergänzungen durch den Verfasser). 119 Vgl. A 139/B 178: »Daher wird eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich sein, vermittelst der transzendentalen Zeitbestimmung, welche, als das Schema der Verstandesbegriffe, die Subsumtion der letzteren unter die erste vermit­ telt.« 120 Die Ursache dessen ist, dass sich der transzendentale Verstandesgebrauch auf die allgemeine Logik als Organon bezieht. Die allgemeine Logik als Organon zu benutzen ist laut Kant eine unberechtigte Anwendung der allgemeinen Logik. Im nächsten Unterabschnitt unter »A. Allgemeine/transzendentale Logik« erkläre ich ausführlich deren Beziehung.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

Denkens, ohne doch durch sie allein irgend ein Object denken oder bestimmen zu können. (A 248/B 305)

Die reinen Kategorien allein reichen für den empirischen Gebrauch nicht aus. Nach Kant ist der transzendentale Gebrauch eigentlich kein Gebrauch der Kategorie, weil die Kategorie durch die Abstrahierung der Sinnlichkeit nicht zu bestimmen ist. Daher ist die Kategorie als reine Gedankenform des Verstandes nicht fähig, ein Objekt zu bestimmen. Im sechsten Satz [6] betrachtet Kant den transzendentalen Ver­ standesgebrauch aus der Perspektive der Bedingungen des syntheti­ schen Urteils a priori in zwei Fällen. Der erste Fall ist, dass die reine Kategorie nicht hinreichend dafür ist, synthetische Urteile a priori zu bilden. Ein synthetisches Urteil a priori ist laut Kant das einzige Mittel, um die Erkenntnis a priori in der Metaphysik zu erweitern. Um ein solches Urteil zu bilden, braucht man jederzeit die Zeit als das Dritte, das nur bei dem empirischen Verstandesgebrauch (den schematisierten Kategorien) gefunden werden kann. Daher kann man durch den transzendentalen Verstandesgebrauch keine Erkenntnis im Feld möglicher Erfahrung erweitern121. Der zweite Fall ist, dass der transzendentale Verstandesgebrauch auch unfähig ist, über das Feld möglicher Erfahrung hinaus die Erkenntnis zu erweitern. Die Ursache ist gleich wie im ersten Fall, dass es keine Zeitbedingung als das Dritte im übersinnlichen Feld gibt. Der Grund, dass Kant die zwei Fälle diskutiert, ist die Bezogenheit des transzendentalen Verstandes­ gebrauchs auf »das Denken eines Objects überhaupt« (A 247/B 304). Der transzendentale Verstandesgebrauch bezieht sich dann nicht nur auf das Feld möglicher Erfahrung, sondern auch auf das übersinnliche Feld.122 Die beiden Felder bilden das Objekt überhaupt (oder den Gegenstand überhaupt bzw. die Dinge überhaupt). Laut Kant versucht Durch ein analytisches Urteil kann Kant zufolge keine Erkenntnis erweitert werden, denn das Prädikat gehört in diesem Fall zum Subjekt. Daher nennt Kant das analytische Urteil ein Erläuterungsurteil (vgl. A 7/B 10f). 122 Es scheint widersprüchlich zu sein, in Bezug auf Kant zu behaupten, dass sich der Verstandesgebrauch ihm nach auf das übersinnliche Feld beziehe, denn die Vernunft bzw. der Vernunftgebrauch bezieht sich laut Kant auf das übersinnliche Feld. Aber man soll hier darauf achten, dass der transzendentale Verstandesgebrauch eine von Kant kritisierte Position ist. Und zwar unterscheide ›das bisherige Verfahren in der Metaphysik‹ laut Kant Verstand und Vernunft nicht (vgl. AA04: 328f). Daher bezieht sich der transzendentale Verstandesgebrauch auf das Denken überhaupt bzw. das Denkvermögen, wenn es auf das übersinnliche Feld bezogen ist. Im fünften Kapitel 121

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2. Gegenstände der Sinne als D.a.s. als Resultat des Verstandesgebrauchs

die Ontologie Erkenntnisse über Dinge überhaupt zu gewinnen (vgl. A 247/B 303). Kants Kritik am transzendentalen Verstandesgebrauch kann daher aus der Perspektive der Metaphysikkritik als eine Kritik an der Ontologie betrachtet werden. Mit dieser Erklärung lässt sich die zweite Stelle analysieren, in der Kant am Ende der transzendentalen Analytik über die Ursache des transzendentalen Verstandesgebrauchs spricht123. [1] Die Kritik dieses reinen Verstandes erlaubt es also nicht, sich ein neues Feld von Gegenständen außer denen, die ihm als Erscheinungen vorkommen können, zu schaffen und in intelligibele Welten, sogar nicht einmal in ihren Begriff auszuschweifen. [2] Der Fehler, welcher hiezu auf die allerscheinbarste Art verleitet und allerdings entschul­ digt, obgleich nicht gerechtfertigt werden kann, liegt darin: daß der Gebrauch des Verstandes wider seine Bestimmung transscendental gemacht, und die Gegenstände, d. i. mögliche Anschauungen, sich nach Begriffen, nicht aber Begriffe sich nach möglichen Anschauungen (als auf denen allein ihre objective Gültigkeit beruht) richten müssen. [3] Die Ursache hievon aber ist wiederum: daß die Apperception und mit ihr das Denken vor aller möglichen bestimmten Anordnung der Vorstellungen vorhergeht. [4] Wir denken also Etwas überhaupt und bestimmen es einerseits sinnlich, allein unterscheiden doch den allgemeinen und in abstracto vorgestellten Gegenstand von dieser Art ihn anzuschauen; [5] da bleibt uns nun eine Art, ihn bloß durch Denken zu bestimmen, übrig, welche zwar eine bloße logische Form ohne Inhalt ist, uns aber dennoch eine Art zu sein scheint, wie das Object an sich existire (Noumenon), ohne auf die Anschauung zu sehen, welche auf unsere Sinne eingeschränkt ist. (A 289/B 345f; Ergänzungen durch den Verfasser)

»[E]in neues Feld« und »intelligibele Welten« im Satz [1] beziehen sich eigentlich auf das Resultat des transzendentalen Verstandesge­ brauchs, wenn es um die Gedankendinge im übersinnlichen Feld geht. Das heißt, dass der transzendentale Verstandesgebrauch auch über die Grenze der Erfahrung bzw. des sinnlichen Feldes hinaus­ geht. Da der transzendentale Verstandesgebrauch von allen sinnli­ chen Bedingungen der Gegenständen der Sinne (im sinnlichen Feld) erkläre ich die Kontinuität zwischen dem transzendentalen Verstandesgebrauch und dem konstitutiven Vernunftgebrauch. 123 Diese Stelle folgt auf den Abschnitt »Anmerkung zur Amphibolie der Reflexions­ begriffe« (A 268/B 324).

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

abstrahiert, bleibt die ›Erkenntnisbedingung‹ im transzendentalen Verstandesgebrauch nur das Denken. Die Annahme der Gegenstände der Sinne unter dieser ›Erkenntnisbedingung‹ sei gleich wie die Annahme der Gedankendinge im übersinnlichen Feld. Das heißt, dass die Bedingung des Denkens in diesem Fall mit der Bedingung des Erkennens verwechselt wird. Daher würde man durch den trans­ zendentalen Verstandesgebrauch einen Erkenntnisanspruch sowohl auf die Gegenstände der Sinne im sinnlichen Feld als auch auf die Gedankendinge im übersinnlichen Feld haben. Dies ist auch das, was ›das bisherige Verfahren der Metaphysik‹ durch die Ontologie erreichen möchte. Warum wird der Verstandesgebrauch hier transzendental? Weil, wie es im zweiten Satz [2] gesagt wird, »die Gegenstände, d. i. mögliche Anschauungen, sich nach Begriffen, nicht aber Begriffe sich nach möglichen Anschauungen (als auf denen allein ihre objective Gültigkeit beruht) richten müssen«. Kant stellt hier die Überlegung, dass sich »mögliche Anschauungen nach Begriffen richten« der, dass sich »Begriffe nach möglichen Anschauungen richten« gegenüber. Die Formulierung »Gegenstände, d. i. mögliche Anschauungen nach Begriffen richten« bezieht sich auf den transzendentalen Ver­ standesgebrauch und die Formulierung »Begriffe nach möglichen Anschauungen richten« bezieht sich auf den empirischen Verstandes­ gebrauch. Denn man sieht im transzendentalen Verstandesgebrauch die Kategorie als die einzige essenzielle Bedingung, die Gegenstände der Sinne und Ding überhaupt zu ›bestimmen‹. Dies geschieht mit der Abstrahierung von den sinnlichen Bedingungen. In diesem Sinn müssen die Gegenstände der Sinne sich nach Begriffen richten. Dagegen sieht man im empirischen Verstandesgebrauch (welchen Kant behauptet) die Sinnlichkeit und die Kategorie als essenzielle Bedingungen, die Gegenstände der Sinne zu bestimmen. Der Beitrag der Sinnlichkeit wird im empirischen Verstandesgebrauch nicht nur anerkannt, sondern auch als etwas Vorrangiges betrachtet. Denn ohne die Sinnlichkeit werden der Bedeutungsbezug bzw. Objektbezug der Kategorie nicht gerechtfertigt. So betont Kant im Satz [2], dass die Objektive Gültigkeit der Begriffe (der Kategorie) auf die möglichen Anschauungen beruht. Auf diesen Punkt werde ich in Abschnitt 3.3 dieses Kapitels zurückkommen. Am Ende des angeführten Zitats vertieft Kant den Grund des transzendentalen Verstandesgebrauchs. Im dritten Satz [3] wird die Apperzeption als das »stehende und bleibende Ich« (A 123) die

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Voraussetzung alles Verstandesgebrauchs (vgl. B 136) und der Mög­ lichkeit des Verstandes (vgl. B 137) behauptet. Der Grund, dass der transzendentale Verstandesgebrauch von Kant als problematisch bewertet wird, liegt vielmehr darin, wie man den Verstand und seine Begriffe anwendet. Dies hat aber auch mit der Einschätzung der Sinnlichkeit als ein Vermögen zu tun. Der transzendentale Verstan­ desgebrauch missachtet nach Kant den Beitrag der Sinnlichkeit im Erkennen und verleitet selbst zu einer Verabsolutierung der begriff­ lichen Erkenntniskomponente. So spricht Kant in den Sätzen [4] und [5] davon, dass durch das bloße Denken ein Begriff von »Etwas überhaupt« hervorgebracht wird. Dieses Etwas überhaupt kann alle denkbaren ›Dinge‹ bezeichnen, unabhängig davon, ob ein Ding sinn­ lich gegeben werden kann oder nicht. Bei der Bestimmung dieses Dinges wird die sinnliche Bestimmungsart von der begrifflichen Bestimmungsart unterschieden. »Wir« bestimmen Dinge schließlich nur durch das Denken bzw. durch die begriffliche Bestimmungsart. Die Ursache dafür, warum »wir« Dinge nur durch das Denken bestim­ men können, ist bei diesem Zitat nicht hinreichend klar erläutert. Im folgenden Abschnitt »2.2: B. Verstandes-/Vernunftbegriff« werde ich durch Kants Kritik an Leibniz124 zeigen, dass Kant in diesem Zitat das Verfahren des Dogmatismus beschreibt. Das Merkmal dieses Verfahrens ist, dass man von der sinnlichen Bestimmungsart beim Erkennen abstrahiert. Die Konsequenz ist, dass man nur durch das bloße Denken Dinge überhaupt zu erkennen versucht. Diese Aktion bezieht sich nur auf »eine bloße logische Form ohne Inhalt«. Es scheint aber dennoch so zu sein, dass alle denkbaren ›Dinge‹ durch das bloße Denken (ohne durch die Anschauung eingeschränkt zu sein) bestimmt werden können. Dies bezieht sich auf das zweite Merkmal des transzendentalen Verstandesgebrauchs. Im Folgenden möchte ich das zweite Merkmal des transzen­ dentalen Verstandesgebrauchs in Bezug auf das Begriffspaar »die logische Möglichkeit des Denkens/die reale Möglichkeit des Dinges« hervorheben, dass der transzendentale Verstandesgebrauch eigent­ lich kein Objekt bestimmt, sondern nur das Denken des Objekts im logischen Sinn vorstellt. Daher ist der Erkenntnisanspruch des transzendentalen Verstandesgebrauchs, die wahre Beschaffenheit der 124 Kants Kritik an Leibniz ist: »Leibniz intellektuierte die Erscheinungen« (A 271/B 327) und »Leibniz verglich demnach die Gegenstände der Sinne als Dinge überhaupt bloß im Verstande unter einander« (ebd.). Kant ordnet Leibniz daher unter den transzendentalen Verstandesgebrauch.

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Gegenstände der Sinne (nach seinem Verständnis aber als »Dinge an sich«) zu erkennen, gescheitert. Die dritte Stelle ist in B 302f. zu finden, die die Anmerkung zum Blendwerk-Vorwurf ist. Kant wirft seinen Vorgängern vor, dass sie nicht auf die Bedingungen zur Anwendung der Verstandesbegriffe achten, wodurch ihre Anwendung der reinen Verstandesbegriffe und der Grundsätze eigentlich ein bloßes Spiel des Verstandes mit seinen Vorstellungen wird (vgl. A 239/B 298). Die Verstandesbegriffe haben daher keinen Bedeutungs­ bezug. Die Ursache dieses ›Blendwerks‹ ist, dass man die logische Möglichkeit des Begriffs für die reale Möglichkeit der Dinge hält. Das zeigt Kant in B 302f.: Mit einem Worte, alle diese Begriffe [Verstandesbegriffe und ihre Grundsätze] lassen sich durch nichts belegen und dadurch ihre reale Möglichkeit darthun, wenn alle sinnliche Anschauung (die einzige, die wir haben) weggenommen wird, und es bleibt dann nur noch die logische Möglichkeit übrig, d. i. daß der Begriff (Gedanke) möglich sei, wovon aber nicht die Rede ist, sondern ob er sich auf ein Object beziehe und also irgend was bedeute. (B 302f., Anm.; Ergänzungen durch den Verfasser)

Wenn man, wie beim transzendentalen Verstandesgebrauch, alle sinnliche Anschauung wegnimmt, würde man die reale Möglichkeit der Verstandesbegriffe nicht aufzeigen. Es bleibt nur die logische Möglichkeit der Verstandesbegriffe übrig, dass sie eine bloße Denk­ möglichkeit haben, die keinen Bedeutungsbezug der Verstandesbe­ griffe zeigt. Das zweite Merkmal des transzendentalen Verstandesge­ brauchs ist, dass er sich nur auf die subjektiv-logische Bestimmung des Denkens bezieht und nicht auf die objektive Bestimmung der Dinge. Aber der transzendentale Verstandesgebrauch verwechselt die beiden Bestimmungen, als ob man durch den transzendentalen Verstandesgebrauch die wahren Dinge tatsächlich erkennen könne. Ich wiederhole die zwei Merkmale des transzendentalen Verstandes­ gebrauchs, die ich in diesem Unterabschnitt durch eine Analyse von drei Stellen herausgearbeitet habe. Das erste Merkmal ist, dass der Verstand durch seine Begriffe allein die Gegenstände der Sinne bestimmt, indem von allen sinnlichen Bedingungen abstrahiert wird. Das zweite ist, dass der Verstand allein eigentlich nur das Denken des Gegenstandes überhaupt bestimmt, nicht den Gegen­ stand. Daher bezieht sich der transzendentale Verstandesgebrauch nur auf die logische Bestimmung des Denkens, nicht auf die objektive

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Bestimmung der Dinge. Aber unter der Voraussetzung des transzen­ dentalen Verstandesgebrauchs erhält man die logische Bestimmung des Denkens für die objektive Bestimmung der Dinge. In diesem Sinn missversteht man die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«. Diese »Dinge an sich« beziehen sich nicht auf die wahren Dinge, son­ dern auf die als wahre Dinge vermeintlich gehaltene Bestimmung des Denkens. Die Frage, wie genau die Gegenstände der Sinne durch den transzendentalen Verstandesgebrauch als »Dinge an sich« begriffen werden, wird in Abschnitt 2.3 adressiert.

2.2 Transzendentaler Verstandesgebrauch und Kants Metaphysikkritik In diesem Unterabschnitt versuche ich mit den vier Punkten der Metaphysikkritik Kants, die ich im zweiten Kapitel dieser Arbeit her­ ausgearbeitet habe, zu zeigen, dass der transzendentale Verstandesge­ brauch eine von Kant kritisierte Position ist. Mit dieser Verknüpfung der Metaphysikkritik mit dem transzendentalem Verstandesgebrauch werde ich meine Hauptthese des Abschnitts 2.1 dieses Kapitels wei­ ter ausführen, dass das Resultat des transzendentalen Verstandesge­ brauchs ist, Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben. Bei jedem Punkt der Metaphysikkritik werde ich auf eine spe­ zifische Frage eingehen. Im Zusammenhang mit Punkt »A. Allge­ meine/transzendentale Logik« lege ich argumentativ dar, dass der transzendentale Verstandesgebrauch eigentlich eine Anwendung der allgemeinen Logik als Organon ist, die Kant als einen Fehlgebrauch der allgemeinen Logik ansieht. Bezüglich Punkt »B. Verstandes-/Ver­ nunftbegriff« möchte ich das Verhältnis zwischen Gegenstand über­ haupt und Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«/»Erscheinun­ gen« darstellen (dazu auch Kants Reduktion der Ontologie auf eine Analytik des reinen Verstandes). Denn es geht bei Kants Kritik an sei­ nen Vorgängern darum, dass sie den Unterschied zwischen Vernunft und Verstand nicht bedenken. Bezüglich Punkt »C. die Rolle der Sinn­ lichkeit« möchte ich durch Kants Kritik an der Leibniz-Wolffischen Philosophie aufzeigen, warum man im transzendentalen Verstandes­ gebrauch von den sinnlichen Bedingungen der Gegenstände der Sinne abstrahiert. Bezüglich Punkt »D. Analytisches/synthetisches Urteil« versuche ich aufzuzeigen, warum die Art der Erkenntniserweiterung

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im transzendentalen Verstandesgebrauch aus Kants Sicht problema­ tisch ist.

2.2.1 Allgemeine/transzendentale Logik Bezüglich Punkt »2.2.1. Allgemeine/transzendentale Logik« zeige ich argumentativ auf, dass der transzendentale Verstandesgebrauch eigentlich eine Anwendung der allgemeinen Logik als Organon in der Metaphysik ist, die Kant als einen Fehlgebrauch der allgemeinen Logik ansieht. Die allgemeine Logik abstrahiert von allem Inhalt der Erkenntnis und beschäftigt sich nur mit den Regeln aller logischen Beurteilung der Erkenntnis. Kant unterscheidet in ihr zwei Momente. Der erste Teil ist die Analytik, die sich auf den Inbegriff aller logischen Regeln des Verstandes und der Vernunft bezieht. Dieser Teil wird von Kant Kanon genannt (vgl. A 796/B 824) und bildet den negativen ›Probier­ stein‹ der Wahrheit (vgl. A 60/B 84). Der zweite Teil ist die Dialektik, die von der Anwendung der logischen Regeln des Verstandes und der Vernunft handelt, um Gegenstände zu beurteilen und um materielle (objektive) Wahrheit auszumachen (vgl. A 60/B 85). Diese Anwen­ dung ist laut Kant sehr problematisch, da die allgemeine Logik als Organon benutzt wird. Die grundlegende Ursache dafür, dass dies als problematisch gilt, liegt darin, dass in ihr von allem Inhalt in der allgemeinen Logik abstrahiert wird. Dies entspricht insofern dem ersten Merkmal des transzendentalen Verstandesgebrauchs, dass in beiden nur das Denken (als das begriffliche Vermögen) genutzt wird. Dies ist jedoch unproblematisch, sofern es nicht auf den Inhalt der Erkenntnis angewendet wird. Das heißt, dass die allgemeine Logik nicht problematisch ist, sondern deren Fehlgebrauch, der beinhaltet, dass man »über Gegenstände zu urteilen, und irgend etwas zu behaup­ ten« (A 60/B 85) versucht. Dabei wird laut Kant ein »Blendwerk von objektiven Behauptungen« (A 61/B 85) hervorgebracht. Dies stimmt mit dem zweiten Merkmal des transzendentalen Verstandes­ gebrauchs überein, in dem die subjektive Bestimmung des Denkens für die objektive Bestimmung des Dings gehalten wird. In dem folgenden Zitat aus der Einleitung der transzendentalen Analytik spricht Kant über den dialektischen Teil der allgemeinen Logik: [1] Nun kann man es als eine sichere und brauchbare Warnung anmerken: daß die allgemeine Logik, als Organon betrachtet, jederzeit

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eine Logik des Scheins, d. i. dialektisch, sei. [2] Denn da sie uns gar nichts über den Inhalt der Erkenntniß lehrt, sondern nur bloß die for­ malen Bedingungen der Übereinstimmung mit dem Verstande, welche übrigens in Ansehung der Gegenstände gänzlich gleichgültig sind: [3] so muß die Zumuthung, sich derselben als eines Werkzeugs (Orga­ non) zu gebrauchen, um seine Kenntnisse wenigstens dem Vorgeben nach auszubreiten und zu erweitern, auf nichts als Geschwätzigkeit hinauslaufen, alles, was man will, mit einigem Schein zu behaupten, oder auch nach Belieben anzufechten. (A 61/B 86; Ergänzungen durch den Verfasser)

Mit dem ersten Satz [1] lehnt Kant Idee, die allgemeine Logik als Organon zu benutzen, streng ab. Denn dies führe zu einer Logik des Scheins. Die Ursache davon ist, wie Kant in den Sätzen [2] und [3] erklärt, dass die allgemeine Logik nichts über den Inhalt der Erkenntnis aussagt, sondern nur die formalen Bedingungen derselben betrifft. Wenn man aber mit dieser formalen Logik den Inhalt der Erkenntnis zu beurteilen versucht, so entspringt nichts anders als »Geschwätzigkeit«, der vermeintliche objektive Behauptungen ent­ springen.125 Das zweite Merkmal des transzendentalen Verstandesgebrauchs ist, dass man »das Denken des Objekts« für das »Objekt« hält. Daher bezieht sich der transzendentale Verstandesgebrauch eigentlich nur auf die logische Bestimmung des Denkens, nicht auf die objektive Bestimmung der Dinge. Dies stimmt mit der »allgemeine[n] Logik als Organon« überein. Die allgemeine Logik betrifft nicht nur den Verstand, sondern auch die Vernunft. Daher ist die als Organon angewendete allgemeine Logik eigentlich sowohl der transzendentale Verstandesgebrauch als auch der transzendentale Vernunftgebrauch.126 Aus dieser Perspek­ tive kann man Kants ›kritisches Geschäft‹ so beurteilen, dass der ganze Beitrag der transzendentalen Logik (darin sind die transzen­ Es »liegt so etwas Verleitendes in dem Besitze einer so scheinbaren Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben, [...] daß jene allgemeine Logik [...] gleichsam wie ein Organon zur wirklichen Hervorbringung, wenigstens zum Blendwerk von objectiven Behauptungen gebraucht und mithin in der That dadurch gemißbraucht worden.« (A 60f/B 85). 126 Kant bezeichnet den konstitutiven Vernunftgebrauch als transzendentalen und den regulativen als empirischen, und so behauptet er, dass sowohl Verstand als auch Vernunft keinen transzendentalen Gebrauch haben (vgl. A 515/B 543). Ich kehre im fünften Kapitel zum transzendentalen Vernunftgebrauch zurück. 125

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

dentale Analytik und Dialektik) eine Aufdeckung der als Organon angewendeten allgemeinen Logik ist.

2.2.2 Verstandes-/Vernunftbegriff Im Punkt ».2.2.2 Verstandes-/Vernunftbegriff« möchte ich das Ver­ hältnis zwischen Gegenstand überhaupt und Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«/»Erscheinungen« darstellen (dazu auch Kants Reduktion der Ontologie auf eine Analytik des reinen Verstandes). Es geht hier um Kants Kritik an seinen Vorgängern, dass nicht zwischen Vernunft und Verstand trennen. Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft sowie zwischen Verstandes- und Vernunftbegriffen verdeutlicht auch die Grenze zwischen sinnlichen Dingen und übersinnlichen ›Dingen‹. Dazu kommt auch die Unterscheidung zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Metaphysik. Was man bei der Kant-Lektüre leicht ignoriert ist, dass Kant mit dieser Unterscheidung seine Vorgänger kritisiert. Ohne diese Unterscheidung sei Metaphysik sogar unmög­ lich (vgl. AA04: 328). Diese Unterscheidung hat auch ihre Wirkung auf die Dinge. Wenn Kant sagt, dass der transzendentale Verstandesgebrauch »auf Dinge überhaupt und an sich selbst, der empirische aber, wenn er bloß auf Erscheinungen, d. i. Gegenstände einer möglichen Erfah­ rung, bezogen wird« (A 238/B 297), scheint es so zu sein, dass Kant von zwei Gebieten der Dinge spricht. Ein Gebiet umfasst die »Dinge überhaupt und an sich selbst«, Das andere Gebiet umfasst »Erscheinungen, d. i. Gegenstände einer möglichen Erfahrung«. Die beiden scheinen nichts miteinander zu tun zu haben. Hier möchte ich indessen erstens mit Kants Kritik an Leibniz zeigen, wie man mit dem transzendentalen Verstandesgebrauch die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« annimmt und dass sie damit im Sinn von Dingen überhaupt angenommen werden. Zweitens werde ich dabei aufzeigen, warum die Ontologie (die sich auf die Dinge überhaupt bezieht) laut Kant auf die Analytik des reinen Verstandes (die von den Gegenständen der Sinne als »Erscheinungen« handelt) reduziert werden soll. Erstens. Die Ausführung des transzendentalen Verstandesgebrauchs von Leibniz und seine ›Intellektualisierung der Erscheinungen‹

Das Textstück »Amphibole der Reflexionsbegriffe« und seine Anmer­ kung kann als eine Leibniz-Kritik von Kant betrachtet werden.

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2. Gegenstände der Sinne als D.a.s. als Resultat des Verstandesgebrauchs

Denn Kant kritisiert intensiv die leibnizschen Konzepte, wie z. B. die Monade oder den »Satz des Nichtzuunterscheidenden« (A 264/B 320). Laut Kant missversteht Leibniz die Rolle der Sinnlichkeit beim Erkenntnisgewinn, wenn er annimmt, dass die Sinnlichkeit ein verworrenes Vermögen sei. Leibniz nehme nur die durch das Denken erhaltene Vorstellungen der Dinge ernst und bilde daraus »ein intellectuelles System der Welt« (A 270/B 326). Das ist aber nach Kant nur eine transzendentale Amphibolie (vgl. ebd.). Das heißt, dass Leibniz den empirischen Verstandesgebrauch mit dem transzen­ dentalen Verstandesgebrauch verwechselt (vgl. A 260/B 316). Daraus folgt, dass Leibniz die Erscheinung mit dem reinen Verstandesobjekt verwechselt (vgl. A 270/B 326) und die Erscheinungen »intellektu­ ierte« (A 271/B 327). D. h., dass Leibniz die sinnlichen Objekte für Objekte des reinen Verstandes hält. Ob Kants Kritik an Leibniz aus Sicht der leibnizschen Philosophie zutrifft, ist eine andere Frage und kann in dieser Arbeit nicht diskutiert werden. Kants Kritik an Leibniz ist ein gutes Beispiel, die Beziehung zwi­ schen transzendentalem Verstandesgebrauch und den Gegenständen der Sinne als »Dinge an sich« zu erklären. Leibniz verwendet laut Kant den transzendentalen Verstandesgebrauch bei den Gegenständen der Sinne, damit sie als »Dinge an sich« angenommen werden. Im Folgenden werde ich auf zwei Themen eingehen. Erörtert wird als Erstes: Was ist die Bedeutung davon, dass Leibniz die Erscheinun­ gen »intellektuierte«, und was hat dies mit dem transzendentalen Verstandesgebrauch zu tun? Anschließend wird geklärt: Was ist die Bedeutung davon, dass »Leibniz […] demnach die Gegenstände der Sinne als Dinge überhaupt bloß im Verstande unter einander [verglich]« (A 271/B 327). Zum ersten Thema: »Leibniz intellektuierte Erscheinungen« (ebd.) können so interpretiert werden, dass dieser dabei die Gegen­ stände der Sinne nur »mit dem Verstande und den abgesonderten formalen Begriffen seines Denkens« (A 270/ B 326) annimmt. Die Ursache dafür ist, dass er die Sinnlichkeit nur für »eine verworren[e] Vorstellungsart, und kein[en] besondere[n] Quell der Vorstellungen« (ebd.) hält. Ich nehme hier das erste Begriffspaar »Einerleiheit und Verschiedenheit« und das Beispiel »zwei Wassertropfen« aus dem Textstück der Amphibolie der Reflexionsbegriffe, um diesen Punkt zu verdeutlichen. [1] Wenn uns ein Gegenstand mehrmals, jedesmal aber mit eben den­ selben innern Bestimmungen (qualitas et quantitas) dargestellt wird,

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so ist derselbe, [2] wenn er als Gegenstand des reinen Verstandes gilt, immer eben derselbe und nicht viel, sondern nur Ein Ding (numerica identitas); [3] ist er aber Erscheinung, so kommt es auf die Verglei­ chung der Begriffe gar nicht an, sondern so sehr auch in Ansehung derselben alles einerlei sein mag, ist doch die Verschiedenheit der Örter dieser Erscheinung zu gleicher Zeit ein genugsamer Grund der numerischen Verschiedenheit des Gegenstandes (der Sinne) selbst. [4] So kann man bei zwei Tropfen Wasser von aller innern Verschiedenheit (der Qualität und Quantität) völlig abstrahiren, und es ist genug, daß sie in verschiedenen Örtern zugleich angeschaut werden, um sie für numerisch verschieden zu halten. [5] Leibniz nahm die Erscheinungen als Dinge an sich selbst, mithin für intelligibilia, d. i. Gegenstände des reinen Verstandes (ob er gleich wegen der Verworrenheit ihrer Vorstel­ lungen dieselben mit dem Namen der Phänomene belegte), und da konnte sein Satz des Nichtzuunterscheidenden (principium identitatis indiscernibilium) allerdings nicht bestritten werden; [6] da sie aber Gegenstände der Sinnlichkeit sind, und der Verstand in Ansehung ihrer nicht von reinem, sondern bloß empirischem Gebrauche ist, so wird die Vielheit und numerische Verschiedenheit schon durch den Raum selbst als die Bedingung der äußeren Erscheinungen angegeben. (A 263f/B 319f; Ergänzungen durch den Verfasser)

Vom ersten Satz [1] bis zum Satz dritten [3] beschreibt Kant zwei Möglichkeiten, um den numerischen Status eines Dinges oder Gegen­ standes zu beurteilen. Die Voraussetzung beider Möglichkeiten ist, dass »ein Gegenstand mehrmals, jedesmal aber mit eben densel­ ben innern Bestimmungen (qualitas et quantitas) dargestellt wird«. Bei der ersten Möglichkeit wird dieser Gegenstand als numerisch identisch betrachtet, wie sich im zweiten Satz [2] zeigt, wenn er als Gegenstand des reinen Verstandes genommen wird. Wenn er als Erscheinung, wie im dritten Satz [3], genommen wird, ist die Verschiedenheit der Orte ein hinreichender Grund dafür, dass zwei Gegenstände als numerisch verschieden zu beurteilen sind. Danach kommt das Wassertropfen-Beispiel im vierten Satz [4]. Dieses behandelt die Überlegung, dass dann, wenn zwei Wassertrop­ fen als Gegenstände der Sinne an verschiedenen Orten wahrgenom­ men werden, sie für numerisch verschieden gehalten werden müssen. Dagegen nimmt Leibniz, so legt Kant im fünften Satz [5] dar, »die Erscheinungen als Dinge an sich selbst, mithin für intelligibilia, d. i. Gegenstände des reinen Verstandes«. Das heißt, dass Leibniz die zwei Wassertropfen, die dieselbe innere Bestimmung haben, aber an verschiedenen Orten sind, für numerisch identisch hält. Da er die

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Sinnlichkeit als eine verworrene Vorstellungsart versteht, wird von der zur Sinnlichkeit gehörende Vorstellung abstrahiert. Infolgedessen sind zwei Wassertropfen von der Perspektive des Verstandes nicht voneinander zu unterscheiden, wenn sie die gleichen inneren Bestim­ mungen haben. Wenn man sich an die zweifache Einteilung in den Sätzen [2] und [3] erinnert, dass der Gegenstand des reinen Verstandes und der Gegenstand der Sinne zum Begriff »Etwas« gehören, heißt dies, dass Leibniz durch die Abstrahierung von den sinnlichen Vorstellungen den Gegenstand der Sinne als Gegenstand des reinen Verstandes identifiziert. Daher sagt Kant im fünften Satz [5], dass Leibniz »die Erscheinungen als Dinge an sich selbst, mithin für intelligibilia, d. i. Gegenstände des reinen Verstandes« nimmt. Diese Annahme von Leibniz ist mit der Abstrahierung der sinnlichen Vorstellungen an den Gegenständen der Sinne verbunden. So ist der Begriff »Dinge an sich« in diesem Zusammenhang so zu verstehen, dass die zwei Wassertropfen, die für Kant Erscheinungen sind, für Leibniz Dinge an sich sind. Was unverändert ist, ist dass die zwei Wassertropfen sowohl für Kant als auch für Leibniz als sinnliche Gegebenheit wahrgenom­ men werden. Der Unterschied zwischen den beiden Philosophen oder ihren Verfahren ist, dass Kant von den sinnlichen Bedingungen der Wassertropfen nicht abstrahiert, was Leibniz laut Kant hingegen tue, denn Leibniz hält die Sinnlichkeit für ein verworrenes Vermögen. Daher werden zwei Wassertropfen als Gegenstände des reinen Ver­ standes bzw. »Dinge an sich« angenommen. Im sechsten Satz [6] nutzt Kant sein Ergebnis aus der transzen­ dentalen Analytik, dass der Verstand in Bezug auf »die Gegenstände der Sinnlichkeit« »nicht von reinem, sondern bloß empirischem Gebrauche« ist, um Leibniz zu kritisieren. In Bezug auf den Wasser­ tropfen kann man sagen, dass der Verstand ihn durch den transzen­ dentalen (bzw. reinen) Gebrauch als »Ding an sich« und der Verstand ihn durch den empirischen Gebrauch als Erscheinung annimmt. Dies bedeutet, dass der erste Gebrauch nur durch die Verstandesbegriffe, während der zweite Gebrauch durch eine Kombination der Verstan­ desbegriffe mit der Sinnlichkeit den Wassertropfen erfolgt. Leibniz »intellektuiert« die Erscheinungen, indem er von den sinnlichen Bedingungen der Gegenstände der Sinne abstrahiert, denn er begreift die Gegenstände der Sinne durch den transzendentalen Verstandesge­ brauch.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

Zum zweiten Thema: Nach der Behandlung des ersten Themas, das sich damit beschäftigte, dass Leibniz die Erscheinungen »intellektu­ ierte«, sagt Kant ein paar Sätze später, dass »Leibniz […] demnach die Gegenstände der Sinne als Dinge überhaupt bloß im Verstande unter einander [verglich]« (A 271/B 327). Das Wort »demnach« deutet darauf hin, dass Kant hier eine Beziehung zwischen dem ersten und dem zweiten Thema, »die Gegenstände der Sinne als Dinge überhaupt bloß im Verstande«, aufbaut. Nun ist darzustellen, was es bedeutet, dass Leibniz die Gegenstände der Sinne als Dinge überhaupt bloß im Verstande vergleicht und was dies dann für das Argument in Gänze bedeutet. Aus dem letzten Zitat ist zu erkennen, dass es zwei Arten der Theoriebildung bezüglich der Gegenstände der Sinne gibt. Eine ist durch den transzendentalen Verstandesgebrauch gegeben und besteht darin, sie als Gegenstände des reinen Verstandes auszugeben. Die andere ist durch den empirischen Verstandesgebrauch gegeben und besteht darin, sie als Erscheinungen zu bestimmen. Nach Kant sollen die Gegenstände der Sinne nur als Erscheinungen bestimmt werden, sodass man die Gegenstände der Sinne nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit der Sinnlichkeit bestimmen soll. Leibniz ist aber dagegen, dass die Gegenstände der Sinne nur mit dem Verstand zu bestimmen sind, wenn er von den sinnlichen Bedingungen derselben abstrahiert. Deswegen besteht der Unterschied zwischen den Gegen­ ständen des reinen Verstandes und den Gegenständen der Sinne nicht mehr. Daher nimmt Leibniz, so Kant, die Gegenstände der Sinne auch als die Gegenstände des reinen Verstandes an. Der Wassertropfen wird in diesem Zusammenhang als ein »Ding an sich« angenommen. Das bedeutet, dass nur seine inneren Bestimmungen vermittelst des Verstandes zu ›erkennen‹ sind. Mit dem Begriff »Gegenstand überhaupt« oder »Ding über­ haupt« bezeichnet Kant alles, was man widerspruchsfrei durch das Denken bzw. durch die Kategorien vorstellen kann (vgl. Refl. 4276; AA17: 492). Diese Vorstellung bezieht sich nur auf das Denken, ohne zu fragen, ob sie sich auch auf die Sinnlichkeit bezieht. Dazu gehören im logischen Sinn selbstverständlich Gegenstände des Verstandes und Gegenstände der Sinne, weil beide zumindest die Bedingung des Denkens verlangen. Leibniz, wie bereits dargestellt wurde, bezieht sich auf die Gegenstände der Sinne nur durch das Denken (nach einer Abstrahierung von den sinnlichen Vorstellungen). Infolgedes­ sen gibt es keinen Unterschied zwischen den Gegenständen des

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reinen Verstandes und den Gegenständen der Sinne, da beide nur das Denken verlangen. Daher sagt Kant, dass Leibniz »demnach« die Gegenstände der Sinne als Dinge überhaupt bloß im Verstande vergleicht. Also werden die Gegenstände der Sinne zunächst durch eine Abstrahierung von den sinnlichen Vorstellungen derselben als Gegenstände des reinen Verstandes angenommen. Demnach sind sie nicht voneinander zu unterscheiden, weil es in diesem Fall nur das Denken verlangt. Dann ist es möglich, die Gegenstände der Sinne mit den Gegenständen des reinen Verstandes als Dinge überhaupt im Verstande, d. h. im Denken zu vergleichen. Was hat dies mit dem transzendentalen Gebrauch des Verstandes zu tun? Meine These ist, dass Gegenstände der Sinne für Gegenstände des reinen Verstandes gehalten werden, und dies stellt genau die Aktion des transzendentalen Gebrauches des Verstandes dar. Auch die Gegenstände der Sinne für Dinge überhaupt zu halten, bezieht sich auf dieselbe Aktion. Weil man bezüglich der Vorstellungen von allen sinnlichen Bedingungen abstrahiert, gibt es für das Denken keinen Unterschied zwischen den Gegenständen der Sinne und den Gegenständen des Verstandes. Die beiden können unter dem Begriff des Dings überhaupt durch das bloße Denken subsumiert werden.

Zweitens. Kants Reduktion der Ontologie auf die Analytik des Verstan­ des. Eine wichtige Wirkung aus Kants Kritik am transzendentalen Ver­ standesgebrauch ist, dass die Ontologie, die sich auf die Dinge über­ haupt bezieht, auf die ›bescheidene Analytik‹ des reinen Verstandes reduziert werden muss (vgl. A 247/B 303). Das bedeutet, dass man keine synthetischen127 Erkenntnisse a priori von dem Dinge überhaupt erwerben kann, sondern nur von den Gegenständen der Sinne als Erscheinungen. Die Möglichkeit der Ontologie wird von Kant infrage gestellt, weil das von ihr vorausgesetzte philosophische Verfahren aus Kants Sicht problematisch ist. Dieses Verfahren ist nach meiner Lesart 127 Auf das Element »synthetisch« im Begriff »synthetische Erkenntnisse a priori« werde ich in Punkt »D. Analytisches/synthetisches Urteil« in Abschnitt 2.2 dieses Kapitels zurückkommen. Hier betrachte ich nur die Beziehung der Ontologie von der Analytik des reinen Verstandes aus der Sicht der Beziehung des Dings überhaupt zu den Gegenständen der Sinne.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

der transzendentale Verstandesgebrauch. Nach meiner Erklärung bezüglich dieses Verstandesgebrauchs wird verdeutlicht, dass der reine Verstand im transzendentalen Gebrauch nicht weiß, wo »die Grenzen seines Gebrauchs« (A 238/B 297) liegen. Daher nimmt der Verstand im transzendentalen Gebrauch das Ding überhaupt als sein Forschungsfeld, ohne dass darüber reflektiert wird, ob er dazu fähig ist, Dinge überhaupt zu erkennen. Aus diesem Zusammenhang entspringt die Ontologie. In diesem Sinne sagt Kant, dass der stolze Name einer Ontologie, die von den Dingen überhaupt Erkenntnis gibt, »einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz machen« (A 247/B 303) muss. Die transzendentale Analytik zeigt, dass der Verstand nur einen empirischen Gebrauch hat. Darum bezieht er sich nur auf die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«, die im kantischen Sinn durch die Kombination des Verstandes mit der Sinnlichkeit zu bestimmen sind.

2.2.3 Die Rolle der Sinnlichkeit Das erste Merkmal dieses Verstandesgebrauchs bezieht sich auf die Abstrahierung von den sinnlichen Bedingungen beim Erkennen der Gegenstände der Sinne. Nun möchte ich in diesem Abschnitt kurz erläutern, warum der Dogmatismus laut Kant beim transzendentalen Verstandesgebrauch von den sinnlichen Bedingungen abstrahiert. Der Dogmatismus bzw. die Leibniz-Wolffische Philosophie sieht die Sinnlichkeit bzw. den Raum und die Zeit nicht als ein fundamen­ tales Vermögen der menschlichen Erkenntnis, sondern vielmehr als eine Vorstufe für die deutliche Erkenntnis, die aus dem Verstand bzw. dem Denken stammt (vgl. A 44/B 62; AA07: 140, Anm.). Daher ist das Denken allein (Verstand und Vernunft) der einzige Ursprung der menschlichen Erkenntnis für den Dogmatismus. Die Hervorhebung der Sinnlichkeit kann als Kants Zustimmung zu einem Teil des Empirismus betrachtet werden, weil auch Kant die Sinnlichkeit bzw. die Empfindung für ein wichtiges Vermögen hält. Bei Kants Wider­ spruch zum Empirismus geht es um die ›Reinheit‹ der Sinnlichkeit. Nach Kant gibt es apriorische und erfahrungsunabhängige Anschau­ ungsformen. Laut dem Empirismus gibt es nur die Empfindung als empirische Wahrnehmung. In Bezug auf die Reinheit der Verstandes­ begriffe widerspricht Kant dem Empirismus, in dem die Auffassung vorherrscht, dass die Verstandesbegriffe aus der Erfahrung abgeleitet werden (vgl. B 127).

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2. Gegenstände der Sinne als D.a.s. als Resultat des Verstandesgebrauchs

2.2.4 Analytisches/synthetisches Urteil In Bezug auf das »analytische/synthetische Urteil« möchte ich mit Blick auf Kants Kritik am transzendentalen Verstandesgebrauch auf­ zeigen, warum die Art der Erkenntniserweiterung, wie sie durch den transzendentalen Verstandesgebrauch geliefert werden soll, aus Kants Sicht problematisch ist. Das zweite Merkmal des transzendentalen Verstandesgebrauchs lautet, dass der Verstand allein eigentlich nur das Denken des Gegen­ standes überhaupt bestimmen kann und nicht den Gegenstand. Daher bezieht sich der transzendentale Verstandesgebrauch nur auf die logische Bestimmung des Denkens und nicht auf die reale Bestim­ mung der Dinge. Daraus ergibt sich, dass der unter diesen Gebrauch gestellte Verstand eigentlich überhaupt nicht fähig ist, Erkenntnisse über die Gegenstände der Sinne und auch über die übersinnlichen Dinge zu gewinnen. Aber wenn man über diesen Verstandesgebrauch nicht nachdenkt und die Grenze des Verstandes nicht beachtet, hält man für wahr, dass man durch die Begriffe a priori allein, die aus dem Verstande stammen, eine Erkenntnis gewinnen könne, solange man sich nicht selbst widerspricht. In diesem Sinn kritisiert Kant in seiner Eberhard-Schrift: Wenn man zu den Sätzen, die blos in die Logik gehören, aber sich durch die Zweideutigkeit mit bloßen Begriffen spielt, um deren objec­ tive Realität einem nichts zu thun ist, so kann man viel dergleichen täuschende Erweiterungen der Wissenschaft sehr leicht herausbringen, ohne Anschauung zu bedürfen, welches aber ganz anders lautet, so bald man auf vermehrte Erkenntniß des Objects hinausgeht. (AA08: 236f)

Kants Unterscheidung zwischen analytischem und synthetischem Urteil setzt ein neues Kriterium für die Bewertung dessen, ob man durch die Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat etwas Neues hinzufügt oder nur das Subjekt erläutert. Die Antwort der Leitfrage der KrV, wie die synthetischen Sätze a priori möglich sind, bildet den Probierstein dafür, ob man sich bei der Erkenntniserweiterung täuscht. Dieser Probierstein ist, ob bei der Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat auch ein Drittes beteiligt ist. Dieses Drittes ist die Zeit, die mit dem Raum die reinen Anschauungsformen bildet. Die Metaphysik besteht Kant zufolge »ihrem Zwecke nach aus lauter synthetischen Sätzen a priori« (B 18), weil sie nach Erkennt­ niserweiterung strebt. Solche Sätze brauchen nach Kant Begriffe a priori und Anschauungen a priori. Was beim ›bisherigen Verfahren

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der Metaphysik‹ fehlt, ist laut Kant die Entdeckung der Anschauung a priori und die Zeit als das Dritte. Daher ist dieses Verfahren nur »ein bloßes Herumtappen […] unter bloßen Begriffen« (B XV). Einige Sätze (wie Substanz, Kausalität und Gemeinschaft) sind aus dem ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ überliefert. Kant erkennt sie als synthetische Sätze a priori an und ebenso deren Berech­ tigung als Naturgesetze. Sein Vorwurf an die ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ ist, dass diese solche Sätze nicht beweisen können. Denn man kann nicht vom Begriff eines Dinges direkt zum Dasein dieses Dinges gelangen128. Daher weiß man auch nicht, inwieweit sol­ che Sätze angewendet werden dürfen. Darin würde die ›Anmaßung‹ des Verstandes und der Vernunft bestehen. In diesem Sinne spricht Kant am Ende des Kapitels »Phaenomena/Noumena« davon, dass sich der transzendentale Verstandesgebrauch nur auf die Einheit des Denkens überhaupt bezieht, nicht auf Gegenstände: Wenn jemand noch Bedenken trägt, auf alle diese Erörterungen dem bloß transscendentalen Gebrauche der Kategorien zu entsagen, so mache er einen Versuch von ihnen in irgend einer synthetischen Behauptung. Denn eine analytische bringt den Verstand nicht weiter, und da er nur mit dem beschäftigt ist, was in dem Begriffe schon gedacht wird, so läßt er es unausgemacht, ob dieser an sich selbst auf Gegenstände Beziehung habe, oder nur die Einheit des Denkens überhaupt bedeute (welche von der Art, wie ein Gegenstand gegeben werden mag, völlig abstrahirt). (A 259/B 314)

Mit transzendentalem Verstandesgebrauch können die Grundsätze (wie Substanz, Kausalität und Gemeinschaft) nicht bewiesen werden, weil solche Grundsätze als synthetische Sätze a priori immer die Zeit als ein Drittes brauchen, aber die reinen Kategorien selbst keine Zeit enthalten. Zusammenfassend lässt sich für den Unterabschnitt 2.2 »Trans­ zendentaler Verstandesgebrauch und Kants Metaphysikkritik« sagen: 128 »Hätten wir diese Analogien dogmatisch, d. i. aus Begriffen beweisen wollen: daß nämlich alles, was existirt, nur in dem angetroffen werde, was beharrlich ist, daß jede Begebenheit etwas im vorigen Zustande voraussetze, worauf sie nach einer Regel folgt, endlich in dem Mannigfaltigen, das zugleich ist, die Zustände in Beziehung auf einander nach einer Regel zugleich seien (in Gemeinschaft stehen), so wäre alle Bemühung gänzlich vergeblich gewesen. Denn man kann von einem Gegenstande und dessen Dasein auf das Dasein des andern oder seine Art zu existiren durch bloße Begriffe dieser Dinge gar nicht kommen, man mag dieselbe zergliedern, wie man wolle.« (A 216f/B 263f).

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Man sieht durch die obige vierteilige Analyse (allgemeine/transzen­ dentale Logik, Verstandes-/Vernunftbegriff, die Rolle der Sinnlich­ keit und analytisches/synthetisches Urteil), dass Kants Metaphysik­ kritik auf den transzendentalen Verstandesgebrauch ausgerichtet ist. Seine Kritik ist auf das übersinnliche Feld bezogen. Das heißt laut Kant, dass es keinen theoretischen Zugang zum übersinnlichen Feld gibt und alle Aussagen über Seele und Gott problematisch sind. Man übersieht aber leicht, dass sich Kants Kritik auch auf das sinnliche Feld richtet. Daher lehnt Kant den Gebrauch der allgemeinen Logik als Organon ab. Weiter sollen alle metaphysischen Sätze, die sich auf das sinnliche und übersinnliche Feld beziehen, infrage gestellt und überprüft werden, sonst würde ein »Blendwerk von objektiven Behauptungen« (A 61/B 85) entstehen. Der transzendentale Verstan­ desgebrauch ist der fundamentale Grund dieses ›Blendwerks‹.

2.3 Zwei Arten, um durch den transzendentalen Verstandesgebrauch die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben Durch das Wassertropfen-Beispiel wurde verdeutlicht, dass sich sowohl der transzendentale als auch der empirische Verstandesge­ brauch auf eine erkenntnistheoretische Frage beziehen: was man an den Gegenständen der Sinne erkennt und wie man die Gegenstände der Sinne erkennt. Nimmt man den Wassertropfen, wie er sich für den transzendentalen Verstandesgebrauch darstellt, so ist die Beschaffenheit eines Wassertropfes nichts anderes als die Summe seiner innerlichen Bestimmungen durch den Verstand. In diesem Szenario ist dieser Wassertropfen laut Kant ein »Ding an sich«. Dagegen ist die durch die Sinnlichkeit erworbene Beschaffenheit eines Wassertropfens inkludiert, wenn man ihn durch den empirischen Verstandesgebrauch annimmt. In diesem Sinn ist dieser Wassertrop­ fen eine »Erscheinung«. Nicht nur die sinnliche Gegebenheit der Wassertropfen, sondern auch die übersinnlichen ›Dinge‹ werden mit Kants Kritik am transzendentalen Verstandesgebrauch als erkennt­ nistheoretisch unzugänglich eingeschätzt. Kant weist die Ontologie zurück, die alle Dinge synthetisch zu erkennen versucht. Denn nur die Zusammenarbeit der sinnlichen Bedingungen a priori mit den reinen Kategorien ermöglicht das synthetische Urteil a priori, wodurch laut Kant unsere Erkenntnis in der Metaphysik erweitert werden kann. Die

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

sinnlichen Bedingungen fehlen im übersinnlichen Feld. Daher ist es unmöglich, unsere Erkenntnis dort zu erweitern. Man sieht hier, dass Kant durch seine Kritik am transzendentalen Verstandesgebrauch nicht nur die Erkenntnismöglichkeit der Gegenstände der Sinne, sondern auch die der übersinnlichen ›Dinge‹ reflektiert. In diesem Zusammenhang muss auch Kants berühmte Frage,Was kann ich wissen?‘ verstanden werden. Das heißt, dass sich diese Frage auf Kants Metaphysikkritik bzw. Kritik an der Ontologie bezieht und vielmehr so verstanden werden muss: Was kann ich nicht wissen? Kants Kritik richtet sich gegen den Erkenntnisanspruch auf die Dinge überhaupt in der Ontologie. Dies geschieht durch das »Wie«: den transzendentalen Verstandesgebrauch. In diesem Verstandesgebrauch wird die Grenze des Erkennens nicht reflektiert. Das heißt, dass man bei dieser Art des Verstandesgebrauchs die Frage, was ich nicht wissen kann, nicht vor Augen hat. Das Erkennen eines Dinges kann durch die Bestimmung dieses Dinges erklärt werden. Denn man kann nur durch Prädikate etwas wissen. Spreche ich davon, dass Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« ausgegeben werden, so meine ich damit, dass man durch einen problematischen Zugang versucht, die Gegenstände der Sinne selbst zu erkennen. Ich nenne dies die Bestimmungsart-These, die erste Art, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben. Der transzendentale Verstandesgebrauch impliziert eine Bestimmungsart der Dinge durch den bloßen Verstand. Dagegen impliziert der empi­ rische Verstandesgebrauch eine Bestimmungart der Dinge durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand. Es gibt noch eine andere Art, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben. Diese Art kommt historisch vor allem bei dem transzendentalen Realismus bzw. dem empirischen Idealis­ mus vor und bezieht sich auf die Frage, wie etwas Äußerliches existiert. Der transzendentale Realismus vertritt die These, dass die äußeren Gegenstände der Sinne unabhängig von unserer Sinnlichkeit existieren. Der transzendentale Idealismus, den Kant begründet, vertritt die These, dass die äußeren Gegenstände der Sinne im Raum existieren. Da der Raum bei Kant eine subjektive Bedingung a priori ist, sind die Gegenstände der Sinne nur als äußere Erscheinungen, d. h. als ›bloße Vorstellungen‹ (vgl. A 491/B 519), zu verstehen. Kant kritisiert, dass der transzendentale Realismus »Erscheinungen« zu »Dingen an sich« mache (vgl. ebd.). Das bedeutet, dass der trans­ zendentale Realismus die äußeren Gegenstände der Sinne im empi­

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rischen Sinn (als Erscheinungen) für die äußeren Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinne (als Dinge an sich) hält. Diese Art, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben, nenne ich Existenzart-These. Der transzendentale Realismus impliziert, dass Existenzart der sinnlichen Dinge unabhängig von der Sinnlichkeit sei. Der transzendentale Idealismus impliziert, dass die Existenzart der sinnlichen Dinge von der Sinnlichkeit abhängig sei. Die auf die beiden Thesen der Bestimmungs- und Existenzart bezogenen Fragen, was man wie an einem Ding erkennen kann und wie etwas Äußerliches existiert, haben historische Wurzeln. Der Rationalismus (Dogmatismus) und Empirismus beschäftigen sich hauptsächlich mit der ersten Frage, was man wie an einem Ding erkennen kann. Der Realismus und Idealismus beschäftigen sich hauptsächlich mit der zweiten Frage, wie etwas Äußerliches existiert. Dem Anschein nach haben die beiden Fragen nichts miteinander zu tun. Meine These ist, dass Kant versucht, die beiden Fragen in Bezug zu den Kategorien (den Verstandesbegriffen) und deren Gebrauch zu setzen. Das heißt, dass es bei beiden Fragen eigentlich um die Anwen­ dung der Kategorien geht. Der Verstand ist das Vermögen zu urteilen (vgl. A 81/B 106). Die Kategorien beinhalten alle »Stammbegriffe des reinen Verstandes« (A 81/B 107), wodurch ein Urteil möglich ist. Nur durch ein Urteil wird etwas behauptet.129 Beispiele für solche Urteile wären: Wir kennen die Dinge, wie sie sind; die Gegenstände der Sinne existieren unabhängig von uns. Daher bezieht sich die Bestimmungsart-Frage, was man wie an einem Ding erkennen kann, auf die Quantität, Qualität und Relation in der Tafel der Kategorien (vgl. A 80/B 106). Die Existenzart-Frage, wie etwas Äußerliches existiert, bezieht sich insbesondere auf die Modalität (insb. auf die Wirklichkeit) in der Kategorientafel. Auf diese Weise verknüpft Kant den Rationalismus/den Empi­ rismus und den transzendentalen Realismus/den empirischen Idea­ lismus durch den Verstandesgebrauch bzw. die Anwendung der Kate­ gorien. Denn sowohl die Frage nach der Beschaffenheit der Dinge als auch die Frage nach dem Status der Existenz der Dinge beziehen sich auf die Anwendung der Kategorien. Die vier Positionen wenden laut Kant die Kategorien problematisch an. Diese problematische Anwen­ dung ist der transzendentale Verstandesgebrauch. Dadurch werden 129 Vgl. auch das zweite Kapitel dieser Arbeit, in dem ich die These begründet habe: Begriffe und daraus gebildete Urteile sind Baustoffe der Metaphysik.

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die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« ausgegeben. Im Folgenden wird dieser Punkt in den Unterkapiteln 2.3.1 und 2.3.2 aus­ geführt.

2.3.1 Bestimmungsart-These: die erste Art, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben Die folgenden drei Unterabschnitte von Unterkapitel 2.3.1 sollen die Frage klären, was es bedeutet, die Gegenstände der Sinne in Bezug auf die Bestimmungsart-These als »Dinge an sich« zu begreifen. Die Bestimmungsart-These konzentriert sich auf die Frage, was man wie an einem sinnlichen Ding erkennt. Dazu geben die zwei Arten vom Verstandesgebrauch (transzendentalen und empirischen) unter­ schiedliche Antworten. Der Kern dieses Unterschiedes ist, dass die Rolle der Sinnlichkeit beim transzendentalen Verstandesgebrauch laut Kant falsch eingeschätzt werde. Das ist im empirischen Verstan­ desgebrauch, den Kant begründet, nicht der Fall. Im ersten Unter­ abschnitt (a.) stelle ich diesen Unterschied mit dem Begriffspaar »Inneres/Äußeres« dar. Im zweiten Unterabschnitt (b.) stelle ich diesen Unterschied mit einer vermeintlichen »Begründung« der Ana­ logien der Erfahrung (Substanz, Kausalität und Gemeinschaft) in dem transzendentalen Verstandesgebrauch dar. Im dritten Unterabschnitt (c.) versuche ich eine neue Lesart (mit der Bestimmungsart-These) für jene Stellen zu entwickeln, an denen Kant die These formuliert: Wir erkennen nicht Dinge an sich selbst, sondern nur (ihre) Erscheinun­ gen. a.) Das Begriffspaar »Inneres/Äußeres« und Gegenstände der Sinne im transzendentalen/empirischen Verstandesgebrauch Das Ziel dieses Abschnitts ist es, die Gegenstände der Sinne, wie sie sich für den transzendentalen und empirischen Verstandesgebrauch darstellen, zu rekonstruieren und mithilfe des Begriffspaars »Inne­ res/Äußeres« zu zeigen, wie der Bezug auf die Gegenstände der Sinne unter diesen zwei Arten des Verstandesgebrauchs erfolgt. Dies ist auch als Erläuterung der Bestimmungsart-These, wie sie in Kants Leibniz-Kritik begründet wird, zu verstehen. Daraus kann abgeleitet werden, dass mit dem Anspruch, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« zu begreifen, nicht die Erkenntnis der verborgenen

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wahren Dinge (hinter den Gegenständen der Sinne als Erscheinun­ gen) impliziert wird, sondern dass es sich hier lediglich um eine Theoriekonzeption (durch den bloßen Verstand) handelt, die sich auf die Gegenstände der Sinne bezieht. Weil diese Theoriebildung nur auf dem Verstand und seinen Begriffen beruht, bezeichnet Kant sie als unberechtigt. Demgegenüber vertritt Kant eine Theoriekonzeption, der zufolge die Gegenstände der Sinne als Erscheinung unter dem empirischen Verstandesgebrauch erfasst werden. Zwischen den beiden Theoriekonzeptionen kann mithilfe des Begriffspaars »Inneres/Äußeres« sinnvoll differenziert werden. Die­ ses Begriffspaar thematisiert, wie man die Materie (in Bezug auf die Substanz als ein Verstandesbegriff) unter den verschiedenen Arten des Verstandesgebrauchs erkennt. Die innere Betrachtungsweise der Materie ist der Versuch, das Wesen der Materie zu erkennen. Dies geschieht nach Kant nur durch den bloßen Verstand. Die äußerliche Betrachtungsweise der Materie ist der Versuch, die Materie durch die äußerliche Relation im Raum zu erkennen. Dies geschieht nach Kant durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand. Im Folgen­ den werde ich zuerst das Begriffspaar »Inneres/Äußeres«, wie es sich im Amphibolie-Kapitel finden lässt, beschreiben. Danach werde ich die Beziehung zwischen der Idealität des Raumes und der Zeit und dem Begriffspaar »Inneres/Äußeres« aus der transzendentalen Ästhe­ tik erklären und auch auf Kants Verständnis der Materie hinweisen. »Inneres/Äußeres« ist ein Begriffspaar der sogenannten Refle­ xionsbegriffe130, mit denen sich Kant im Anhang der transzenden­ talen Analytik beschäftigt. Dieser Anhang wird normalerweise als Kants Kritik an Leibniz bzw. »intellektualphilosoph[en]« (A 267/B 323) verstanden. Die Ursache der Amphibolie (Zweideutigkeit) der Reflexionsbegriffe ist nach Kant die Verwechslung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem transzendentalen (vgl. A 260/B 316). Damit einher geht eine Verwechslung zwischen dem Gegenstand des reinen Verstandes und der Erscheinung (vgl. A 270/B 326). Das Begriffspaar »Inneres und Äußeres« betrifft die Frage, ob und wie man das Innere der Dinge erkennen kann. Laut Kant ist die

Die anderen Begriffspaare der Reflexionsbegriffe sind Einerleiheit/Verschieden­ heit, Einstimmung/Widerstreit und Materie/Form (vgl. A 263f/B 319f).

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

leibnizsche Antwort darauf,131 dass das Ding die Zusammensetzung der Monaden sei. Die Monaden seien einfache, mit Vorstellungskräf­ ten begabte Subjekte (vgl. A 266/B 322). Das Innerliche an einem Ding ist dann die Monade, die als einfache Substanz durch das Denken vorgestellt wird. Ihr Zustand kann daher nicht äußerlich (Ort, Gestalt, Berührung oder Bewegung) bestehen. Die Monade wird als »Grundstoff des ganzen Universum[s]« (A 274/B 330) verstanden. Die kantische Antwort auf die Frage, ob und wie man das Innere der Dinge erkennen kann, ist demgegenüber, dass man die Dinge nur durch die äußerlichen Verhältnisse erkennen kann. Man kennt laut Kant kein »Schlechthin-Innerliches, sondern lauter KomparativInnerliches, das selber wiederum aus äußeren Verhältnissen besteht« (A 277/B 333). Die äußeren Verhältnisse (Relationen) sind nicht durch den Verstand (als eine begriffliche Aktivität) gebildet, sondern nur durch den äußeren Sinn (Raum) dargestellt. Die Frage nach dem Inneren der Dinge betrifft die unterschiedli­ chen Prinzipien der Theoriebildung, die mit dem Verstandesgebrauch in Zusammenhang stehen. Das kantische Prinzip ist, dass man vor allem durch die Sinnlichkeit die Dinge annehmen muss. Damit wird nicht das Innere der Dinge erkannt, sondern nur die äußerlichen Relationen der Dinge. Das leibnizsche Prinzip ist, dass man vor allem durch das Denken bzw. den Verstand die Dinge annimmt. Daher wird Etwas (wie die Monade) im Begriff gegeben und man fügt diesem Etwas ein Prädikat durch das bloße Denken hinzu (z. B. jede Monade besitzt Vorstellungskraft). Aus der Sicht Kants ist dieses Prinzip von Leibniz »eine bloße Grille« (A 277/B 333), durch die man seine Behauptung nicht rechtfertigen könne132. Das Äußere der Dinge bezieht sich laut Kant auf die Sinnlichkeit bzw. den Raum. Das Innere der Dinge bezieht sich dagegen auf den Verstand. Kants Vorwurf gegenüber Leibniz ist, dass dieser lediglich durch das Denken und 131 Hier geht es nur darum, was Kants Verständnis von Leibniz für sein Begriffspaar »Ding an sich/Erscheinung« nutzt. Die Frage, ob Kants Verständnis der leibnizschen Philosophie zutrifft, ist hier irrelevant. 132 Hier sei an Kants Metaphysikkritik erinnert. Was die Monade und ihre Eigenschaft betrifft, sind vor allem die Unterscheidung zwischen analytischem und synthetischem Urteil und der Erkenntniserweiterungs-Charakter des synthetischen Urteils wichtig. Denn wenn die Eigenschaft nicht durch das Subjekt »Monade« analytisch abgeleitet werden kann, sei es laut Kant unberechtigt, eine synthetische Verbindung der zwei Begriffe ohne die Zeit als das Dritte zu setzen. Vgl. A 276/B 332: »Wenn wir aber auch von Dingen an sich selbst etwas durch den reinen Verstand synthetisch sagen könnten (welches gleichwohl unmöglich ist)«.

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ohne die Sinnlichkeit über das Begriffspaar »Inneres/Äußeres« philo­ sophiert. In diesem Sinn spricht Kant vom Begriff »substantia phaeno­ menon im Raum« (A 265/B 321) und darüber, dass »die innere bestimmungen einer substantia phaenomenon im Raum nichts als Verhältnisse und sie selbst ganz und gar ein Inbegriff von lauter Relationen« (ebd.) sind. Dagegen charakterisiert Kant die Monadolo­ gie von Leibniz als eine dogmatische Theoriekonzeption bezüglich der Materie, durch welche der Verstandesbegriff der Substanz als »substantiae noumena« bzw. »intelligibele Substanzen« (A 276/B 332) verstanden wird. Hierzu schreibt Kant: [1] An einem Gegenstande des reinen Verstandes ist nur dasjenige innerlich, welches gar keine Beziehung (dem Dasein nach) auf irgend etwas von ihm Verschiedenes hat. [2] Dagegen sind die innere Bestimmungen einer substantia phaenomenon im Raume nichts als Verhältnisse und sie selbst ganz und gar ein Inbegriff von lauter Relationen. Die Substanz im Raume kennen wir nur durch Kräfte, die in demselben wirksam sind, entweder andere dahin zu treiben (Anziehung), oder vom Eindringen in ihn abzuhalten (Zurückstoßung und Undurchdringlichkeit); andere Eigenschaften kennen wir nicht, die den Begriff von der Substanz, die im Raume erscheint, und die wir Materie nennen, ausmachen. [3] Als Object des reinen Verstandes muß jede Substanz dagegen innere Bestimmungen und Kräfte haben, die auf die innere Realität gehen. Allein was kann ich mir für innere Accidenzen denken, als diejenigen, so mein innerer Sinn mir darbietet, nämlich das, was entweder selbst ein Denken, oder mit diesem analo­ gisch ist. [4] Daher machte Leibniz aus allen Substanzen, weil er sie sich als Noumena vorstellte, selbst aus den Bestandtheilen der Materie, nachdem er ihnen alles, was äußere Relation bedeuten mag, mithin auch die Zusammensetzung in Gedanken genommen hatte, einfache Subjecte, mit Vorstellungskräften begabt, mit einem Worte Monaden. (A 265/B 321; Hervorhebung durch den Verfasser)

In diesem Zitat spricht Kant über zwei Theoriekonzeptionen bezüg­ lich der Materie. Die erste bezieht sich auf das Äußere. Dadurch wird die Materie dem Verstandesbegriff der Substanz zugeordnet. Dieser Substanzbegriff beinhaltet, dass die Substanz im Raum erscheint. Das heißt, dass man den Begriff der Substanz im empirischen Verstandes­ gebrauch verwendet. Kant legt in den Sätzen [1] und [2] dar, dass die inneren Bestimmungen einer Substanz im Raum nur durch Kräfte bzw. Relationen erkannt werden. Die Kräfte und Relationen sind nach Kant äußerliche Beziehungen der Dinge, die im Raum stattfinden.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

Dagegen beschreibt Kant eine Substanz als Monade, wenn man durch das Denken die innere Bestimmung dieser Substanz annimmt. Das heißt, dass man den Begriff der Substanz im transzendentalen Verstandesgebrauch verwendet. Dadurch wird der Begriff »Substanz« zu einem ›Objekt des reinen Verstandes‹. Die innere Bestimmung dieser Substanz kann auch durch das Denken vorgestellt werden. Im vierten Satz [4] setzt Kant die Monade (als Substanz bei Leibniz) mit dem Begriff der Noumena in Verbindung, da beide nur durch das Denken vorgestellt werden können. Diese Monaden-Kritik von Kant133 stimmt mit seiner Metaphy­ sikkritik überein, die mit seiner gesamten Kritik am transzendentalen Verstandesgebrauch in Verbindung steht. Die Hauptfrage hier ist wiederum, ob die Materie durch den Verstand allein oder durch die Kombination des Verstandes mit der Sinnlichkeit (unter dem Verstandesbegriff »Substanz«) erfasst wird. In Bezug auf das Thema des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« ist zu sagen: Kant begründet ein Verständnis der Substanz im Raum (substantia phaenomenon), das sich auf sie als »Erscheinung« bezieht. Kant kritisiert hingegen ein Verständnis der Substanz als Monade, das sich auf sie als »Ding an sich« bezieht. Substanz als ein Verstandesbe­ griff wird in diesem Zusammenhang unterschiedlich angewendet. Die leibnizsche Anwendung der Substanz ist laut Kant problematisch. Um dies klarzumachen, wird ein Zitat aus dem Textstück der Amphibolie der Reflexionsbegriffe angeführt: [D]ie Leibnizische Monadologie hat gar keinen andern Grund, als daß dieser Philosoph den Unterschied des Inneren und Äußeren blos im Verhältniß auf den Verstand vorstellte. Die Substanzen überhaupt müssen etwas Inneres haben, was also von allen äußeren Verhältnis­ sen, folglich auch der Zusammensetzung frei ist. Das Einfache ist also die Grundlage des Inneren der Dinge an sich selbst. Das Innere aber ihres Zustandes kann auch nicht in Ort, Gestalt, Berührung oder Bewe­ gung (welche Bestimmungen alle äußere Verhältnisse sind) bestehen, und wir können daher den Substanzen keinen andern innern Zustand als denjenigen, wodurch wir unsern Sinn selbst innerlich bestimmen, nämlich den Zustand der Vorstellungen, beilegen. (A 274/B 330)

In diesem Zitat schreibt Kant über die Monadologie, dass sie eigent­ lich eine Theorie der Substanz ist, die für Kant einer der unentbehr­ In der vorkritischen Zeit ist Kants Auffassung über den Bestandteil der Materie bzw. Körper sehr ähnlich wie in der Monadologie. Vgl. AA01: 477.

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lichen Verstandesbegriffe der menschlichen Erkenntnis ist. Das Ver­ ständnis der Substanz von Leibniz ist laut Kant problematisch, weil es nur das Denkvermögen berücksichtigt und nicht die Sinnlichkeit. Die Monade fällt unter den Begriff »Ding an sich«, weil sie nur durch das Denken den Begriff Substanz integriert. So ist eigentlich die Substanz ein transzendental gebrauchter Verstandesbegriff. Laut Kant können die Verstandesbegriffe jedoch nicht transzendental gebraucht werden (vgl. A 246/B 303). Der Versuch, das Innere der Dinge zu erkennen, ist eine Aktion des transzendentalen Verstandesgebrauchs. Demge­ genüber ist das »Komparativ-Innerliche« (A 277/B 333) bzw. das Äußere der Dinge zu erkennen ein empirischer Verstandesgebrauch, weil die Sinnlichkeit hier als ein selbstständiges Vermögen auftritt. Hier ist noch zu bemerken, dass das Einfache, das Leibniz durch die Monaden ausgedrückt hat, laut Kant das gesuchte Unbedingte für die Vernunft ist. Denn das Unbedingte ist die Aufgabe der Vernunft und für die Vernunft ist es unvermeidlich, dieses »Einfache« zu denken. Daher lehnt Kant die Monade als das Bedingte im sinnlichen Feld ab134. Das heißt, dass die Monade kein Objekt der Erkenntnistheorie ist. Aber auf die Monade als das Einfache hat Kant im übersinnlichen Feld verwiesen135. Man wird im Verlaufe dieser Arbeit136 sehen, dass das Begriffspaar »zusammengesetzt/einfach« als Grundgedanke für die Interpretation mancher Stellen gelten kann, in denen Kant über das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der Erscheinung spricht. Nun kehren wir zum Begriffspaar »Inneres/Äußeres« zurück. Dieses Begriffspaar »Inneres/Äußeres« dient nicht als ein isoliertes Thema am Anhang der transzendentalen Analytik, sondern bezieht sich wie alle anderen Reflexionsbegriffe auf das Hauptthema der ers­ ten beiden Teile der KrV: Was ist der richtige Verstandesgebrauch? In der zweiten Auflage der KrV hat Kant in der transzendentalen Ästhetik 134 So ist Langtons These »Things in themselves are substances that have intrinsic properties; phenomena are relational properties of substances« (Langton 1998: 124) problematisch. Kant kann in seiner kritischen Zeit die Monade (die unter den Sub­ stanzbegriff gelegt wird) nicht im positiven Sinn verstehen, weil Monade im positiven Sinn eine Aktion des transzendentalen Verstandesgebrauchs ist. Daran hat Hahmann auch Kritik geübt (vgl. Hahmann 2009: 196f). 135 In gleicher Weise hat Kant auch auf das einfache Ich bzw. die einfache Natur der Seele im übersinnlichen Feld verwiesen. Die beiden Begriffe werden von der rationalen Seelenlehre als theoretische Erkenntnisse angesehen. Kant weist dies zurück und sieht sie nur als regulative Vernunftideen. 136 Ich diskutiere diese Problematik im fünften Kapitel unter Abschnitt 5 „»Ding an sich« als das Zugrundeliegende der Erscheinung«.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

einen neuen Abschnitt mit dem Titel „§ 8. Allgemeine Anmerkungen zur Transzendentalen Ästhetik« eingefügt. Wenn man diesen in Ver­ bindung mit der Diskussion über das »Innere/Äußere« liest, gewinnt man eine neue Einsicht über das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.«. Denn Kant versucht hier mit dem Begriffspaar »Inneres/Äußeres« seine These der Idealität des Raumes und der Zeit zu belegen. [1] Zur Bestätigung dieser Theorie von der Idealität des äußeren sowohl als inneren Sinnes, mithin aller Objecte der Sinne als bloßer Erscheinungen kann vorzüglich die Bemerkung dienen: [2] daß alles, was in unserem Erkenntniß zur Anschauung gehört (also Gefühl der Lust und Unlust und den Willen, die gar nicht Erkenntnisse sind, aus­ genommen) nichts als bloße Verhältnisse enthalte, der Örter in einer Anschauung (Ausdehnung), Veränderung der Örter (Bewegung) und Gesetze, nach denen diese Veränderung bestimmt wird (bewegende Kräfte). [3] Was aber in dem Orte gegenwärtig sei, oder was es außer der Ortveränderung in den Dingen selbst wirke, wird dadurch nicht gegeben. [4] Nun wird durch bloße Verhältnisse doch nicht eine Sache an sich erkannt: [5] also ist wohl zu urtheilen, daß, da uns durch den äußeren Sinn nichts als bloße Verhältnißvorstellungen gegeben werden, dieser auch nur das Verhältniß eines Gegenstandes auf das Subject in seiner Vorstellung enthalten könne und nicht das Innere, was dem Objecte an sich zukommt. Mit der inneren Anschauung ist es eben so bewandt. (B 66f; Ergänzungen durch den Verfasser)

Durch den ersten Satz [1] wird verdeutlicht, dass diese Bemerkung dazu dient, die Theorie der Idealität des äußeren und inneren Sinnes und aller Objekte der Sinne als bloße Erscheinungen zu bestätigen. Kants Rekurs auf das Begriffspaar »Inneres/Äußeres« erfolgt, um diese Bestätigung durchzuführen. Im zweiten Satz [2] spricht Kant davon, dass alles, was in unserer Erkenntnis zur Anschauung gehört, bloße Verhältnisse enthält. Diese Verhältnisse sind Ausdehnung, Bewegung und Kraft. Sie beziehen sich immer auf die Relation der Orte, deren Vorstellungen durch die Sinnlichkeit erlangt werden. Diese Aussage ist identisch zu dem, was Kant beim Begriffspaar »Inneres/Äußeres« sagt. Spezifisch geht es hier um das Äußere im Verhältnis zur Sinnlichkeit. Dagegen nimmt Leibniz laut Kant das Äußere und das Innere nur im Verhältnis zum Verstand (vgl. A 274/B 330). Dann spricht Kant im dritten Satz [3] über die Nicht-Gegebenheit des Inneren durch das äußere Verhältnis auf die Sinnlichkeit: »Was aber in dem Orte gegenwärtig sei, oder was es außer der Ortveränderung in den Dingen selbst wirke, wird dadurch

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2. Gegenstände der Sinne als D.a.s. als Resultat des Verstandesgebrauchs

nicht gegeben«. Die Bedeutung von »in den Dingen selbst wirke« wird von Kant im vierten Satz [4] ausgeführt. Man kenne durch das Äußere (im Verhältnis auf die Sinnlichkeit) nicht das Innere. Das Innere wird im vierten Satz [4] mit der »Sache an sich« gleichgesetzt. Daher wird die These angebracht, dass das »Ding an sich« (hier Sache an sich) unbekannt bleibe. Man sieht hier, dass die Unbekanntheit des »Dings an sich« in einer Beziehung zum Begriffspaar »Inneres/Äußeres« steht. In Bezug auf dieses Begriffspaar wird die Frage nach der Funk­ tion der Sinnlichkeit zentrales Distinktionsmerkmal. Dies ist auch der fundamentale Kritikpunkt am transzendentalen Verstandesgebrauch, weil er die Sinnlichkeit missachtet. Das Einfache (hier Monade) ist nicht ausgedehnt. Daher ist sie natürlich nicht durch die Sinnlichkeit zu erkennen. Wie ich vor der Analyse dieser Stelle gesagt habe, ver­ weist Kant auf das Einfache einer naturphilosophischen Erklärungsart im übersinnlichen Feld. Das heißt, dass Kant das Einfache nicht als ein Objekt der Erkenntnistheorie, sondern nur als eine Vernunftidee annimmt. Die Denkmöglichkeit und die Denknotwendigkeit des Einfachen werden zugelassen, weil das Einfache als das Unbedingte von der reinen Vernunft notwendig gesucht ist. Ich komme auf diesen Punkt im fünften Kapitel zurück. Im fünften Satz [5] fasst Kant zusammen, was in den Sätzen [1] bis [4] bereits ausgedrückt wurde. Jedoch betont Kant, dass durch die Sinnlichkeit das Innere eines Dinges nicht gegeben wird. Das Innere des Dinges als etwas, »was dem Objecte an sich zukommt«, bezieht sich nicht auf die Sinnlichkeit. Das heißt aber nicht, dass dieses Innere von allen Erkenntnisvermögen unabhängig ist, sondern nur unabhängig von der Sinnlichkeit. Dieses Innere bezieht sich selbst schon auf eine Verstandesak­ tion, die die Gegenstände der Sinne einem Begriff zuordnet. Wäre das Objekt ganz von den allen Erkenntnisvermögen unabhängig, wäre dieses Objekt für uns unbewusst. Solange dieses Innere des Dinges gedacht wird, wird eine begriffliche Vorstellung für dieses Innere des Dinges gebildet.137 Das bedeutet, dass man das Innere des Dinges und seine Bestimmung zumindest denken kann, obwohl man laut 137 Daher ist eigentlich die Tafel des Nichts auch nicht als etwas Unbewusstes zu verstehen. Insbesondere ist die zweite Gruppe in der Tafel des Nichts auch nicht als etwas Unbewusstes zu verstehen. Negation ist ein Nichts, bezieht sich aber auf einen »Begriff von dem Mangel eines Gegenstandes« (A 291/B 347). Also wird auch die Negation oder der Mangel einem Begriff zugeordnet.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

Kant keinen Erkenntnisanspruch auf dieses Innere erhebt. Das Innere der Dinge bezieht sich auf das Einfache, das die Vernunft als das Unbedingte suchen muss. Daher ist es auch notwendig, das Innere der Dinge zu denken.138 Aber das leibnizsche Verfahren, das Innere als Monade zu bezeichnen und durch bloße Begriffe eine Bestimmung der Monade zu geben, ist laut Kant dogmatisch. Denn nicht die Denkmöglichkeit des Einfachen, sondern die Erkennbarkeit desselben wird dadurch behauptet. Kants Kritik dazu kann auf die Bedingungen des synthetischen Urteiles bezogen werden. Wir können nicht durch die Verbindung der bloßen Begriffe etwas Synthetisches beurteilen, sondern müssen jederzeit die Sinnlichkeit bzw. die Zeit als das Dritte zugrunde legen. Wenn man damit unzufrieden ist, dass man das Innere der Dinge nicht erkennen kann, nimmt man laut Kant bereits eine dogmatische Position ein, in der man durch die bloßen Begriffe Dinge erkennen will: Wenn die Klagen: Wir sehen das Innere der Dinge gar nicht ein, so viel bedeuten sollen als: wir begreifen nicht durch den reinen Verstand, was die Dinge, die uns erscheinen, an sich sein mögen: so sind sie ganz unbillig und unvernünftig; denn sie wollen, daß man ohne Sinne doch Dinge erkennen, mithin anschauen könne. (A 277/B 333)

In diesem Zitat wird verdeutlicht, dass Kant die Formulierung »das Innere der Dinge zu erkennen« mit der Formulierung, dass »man ohne Sinne doch Dinge erkennen […] könne«, verbindet. Dies steht der kantischen Erkenntnistheorie gegenüber, in der die Sinnlichkeit als die unentbehrliche Bedingung zum Erkennen gefordert wird. Das Innere der Dinge zu erkennen ist ein problematisches Verfahren im erkenntnistheoretischen Sinn (in Bezug auf den Verstand). Dagegen ist das Innere der Dinge zu denken laut Kant ein mögliches und zwar notwendiges Verfahren, wenn die Vernunft das Einfache (als das Unbedingte) im Zusammengesetzten (als dem Bedingten) sucht. Durch die Interpretation des Begriffspaars »Inneres/Äußeres« und seiner Beziehung zur Materie wurde verdeutlicht, dass es hier eigent­ lich um zwei Arten des Gebrauchs des Verstandesbegriffs »Substanz« 138 Der Satz in der B-Vorrede der KrV – »daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können« – soll in Bezug auf die Relation »Bedingt/Unbedingt« verstanden werden. So wird deutlich, dass sich dieses Denken-Müssen auf das Unbedingte bezieht und nicht auf das Bedingte.

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2. Gegenstände der Sinne als D.a.s. als Resultat des Verstandesgebrauchs

(und damit um die Dinge, die wir der Substanz zuordnen) geht. Unter den empirischen Verstandesgebrauch Kants wird die Substanz als »substantia phaenomenon im Raum« (A 265/B 321) verstanden. Dazu sind deren Bestimmungen nichts anderes als äußerliche Ver­ hältnisse, die sich auf die Sinnlichkeit beziehen. Dagegen nimmt man den Begriff »Substanz« als »sustantiae noumena« bzw. »intelligibele Substanze[…]« (A 276/B 332), wenn man ihn aus der Perspektive des transzendentalen Verstandesgebrauchs betrachtet. Die Bestimmun­ gen dieser Substanz können in diesem Fall nicht durch die Sinne, sondern lediglich durch den bloßen Verstand angenommen werden. Kant kritisiert die Annahme der Substanz als »substantiae noumena« im erkenntnistheoretischen Sinn, weil dadurch kein Objekt von dem Begriff der Substanz bestimmt wird. Dagegen behauptet Kant die Annahme der Substanz als »substantia phaenomenon im Raum«, wodurch der Begriff der Substanz das sinnliche Gegebene als Objekt bestimmt. Der Streitpunkt, ob Substanz als Noumenon oder Phäno­ menon angenommen werden soll, besteht darin, ob man die Sinnlich­ keit als ein selbstständiges Vermögen annimmt oder ihr nur einen Beitrag zum Erkennen zuspricht. b.) Wie sieht eine »Begründung« der Analogien der Erfahrung unter dem transzendentalen Verstandesgebrauch aus? Im letzten Unterabschnitt wurde durch das Begriffspaar »Inne­ res/Äußeres« dargelegt, dass der transzendentale Verstandesge­ brauch in einem sehr engen Zusammenhang mit der Annahme der Substanz (als ein Verstandesbegriff) als Noumenon steht. In diesem Unterabschnitt möchte ich die Begründung der Analogien der Erfahrung unter dem transzendentalen Verstandesgebrauch aus der kritischen Perspektive Kants darstellen, damit man die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« unter transzendentalem Verstandesge­ brauch in die Ebene der Grundsätze (als Anwendung der Verstandes­ begriffe) ansehen kann. Die Analogien der Erfahrung (vgl. A 176–218/B 218–265) enthalten drei Grundsätze: Substanz, Kausalität und Gemeinschaft (Wechselwirkung). Kant sieht sie als synthetische Sätze a priori an und versucht die drei Grundsätzen primär mittels der drei Zeitbestim­ mungen: »Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein« (A 177/B 219) zu beweisen. Kant betont, dass die drei Grundsätze nur unter den Zeit­ bestimmungen begründbar sind (vgl. A 181/B 223). Dies bedeutet

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eigentlich, dass sie nur unter dem empirischen Verstandesgebrauch bzw. den schematisierten Kategorien begründbar sind. Dies sollte im Gedächtnis bleiben, da ich in diesem Unterkapitel nicht Kants Begrün­ dung darstellen will, sondern die vermeintliche »Begründung« dieser drei Grundsätze unter dem transzendentalen Verstandesgebrauch, in dem von allen sinnlichen Bedingungen (auch der Zeit) abstrahiert wird. Dadurch wird auf der Ebene der Grundsätze verdeutlicht, dass der transzendentale Verstandesgebrauch eine Gegenposition von Kant ist. Bevor Kant seinen Beweis der Substanz (die erste Analogie der Erfahrung) beginnt, sagt er, dass es »hier vorzüglich angemerkt werden muß« (A 180/B 223): daß diese Analogien nicht als Grundsätze des transscendentalen, sondern bloß des empirischen Verstandesgebrauchs ihre alleinige Bedeutung und Gültigkeit haben, mithin auch nur als solche bewiesen werden können, daß folglich die Erscheinungen nicht unter die Kategorien schlechthin, sondern nur unter ihre Schemate sub­ sumirt werden müssen. Denn wären die Gegenstände, auf welche diese Grundsätze bezogen werden sollen, Dinge an sich selbst, so wäre es ganz unmöglich, etwas von ihnen a priori synthetisch zu erkennen. Nun sind es nichts als Erscheinungen, deren vollständige Erkenntniß, auf die alle Grundsätze a priori zuletzt doch immer auslaufen müssen, lediglich die mögliche Erfahrung ist (A 180/B 223; Hervorhebung durch den Verfasser)

Hier betont Kant erneut, dass die drei Analogien nur unter dem empirischen Verstandesgebrauch ihre Bedeutung und Gültigkeit haben. Auch können sie nur bei diesem Verstandesgebrauch bewiesen werden. Bei den »Dingen an sich« (als Gegenständen der Sinne unter dem transzendentalen Verstandesgebrauch) sei es unmöglich, »etwas von ihnen a priori synthetisch zu erkennen«139. Nur wenn die Gegenstände der Sinne als Erscheinungen angenommen werden, sind solche Grundsätze beweisbar. Die Ursache dazu ist, dass man beim transzendentalen Verstandesgebrauch nur Begriffe hat. Daher wird im Beweis so verfahren, dass ein Begriff zu dem nächsten Begriff führt. Dies sieht Kant als einen »Sprung« (A 783/B 811) an. Das heißt, dass 139 Diesen Punkt habe ich unter 2.2 »D. Analytisches/synthetisches Urteil« diskutiert und erörtert, warum man Dinge an sich (als Gegenstände der sinne unter transzenden­ talen Verstandesgebrauch) nicht synthetisch a priori erkennen kann. Denn es fehlt die Zeit als das Dritte, um die beiden Begriffe zu verbinden.

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man nicht ohne die Zeitbedingung als das Dritte zwei Begriffe im synthetischen Sinn verbinden darf. Wie stellt Kant die Begründung der Analogien unter dem transzendentalen Verstandesgebrauch dar, und wie kritisiert er diese Begründung? Die folgende Stelle entstammt aus der »Allgemeine[n] Anmerkung zum System der Grundsätze«, in der Kant zusammenfas­ send über die drei Analogien der Erfahrung spricht. Es ist etwas sehr Bemerkungswürdiges, daß wir die Möglichkeit keines Dinges nach der bloßen Kategorie einsehen können, sondern immer eine Anschauung bei der Hand haben müssen, um an derselben die objective Realität des reinen Verstandesbegriffs darzulegen. Man nehme z. B. die Kategorien der Relation. Wie 1) etwas nur als Subject, nicht als bloße Bestimmung anderer Dinge existiren, d. i. Substanz sein könne, oder wie 2) darum, weil etwas ist, etwas anderes sein müsse, mithin wie etwas überhaupt Ursache sein könne, oder 3) wie, wenn mehrere Dinge dasind, daraus, daß eines derselben da ist, etwas auf die übrigen und so wechselseitig Folge, und auf diese Art eine Gemeinschaft von Substanzen Statt haben könne, läßt sich gar nicht aus bloßen Begriffen einsehen. (A 235/B 288)

Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass Kant an dieser Stelle einfach seine These wiederholt, dass die Anschauung benö­ tigt wird, wenn man die objektive Realität der Verstandesbegriffe bestätigen will. Dies bezieht sich auf den Unterscheid zwischen dem transzendentalen Verstandesgebrauch und dem empirischen. Weil im transzendentalen Verstandesgebrauch die Anschauung keinen Anteil hat, kann die objektive Realität der Verstandesbegriffe auch nicht in diesem Verstandesgebrauch bestätigt werden. Die drei Analogien der Erfahrung sind »Grundsätze des empirischen Verstandesgebrauchs« (A 159/B 198). Das heißt, dass Kants Beweis der Analogien nur unter dem empirischen Verstandesgebrauch möglich ist. Ein Beweis dieser drei Analogien ist dogmatisch, wenn dieser Beweis aus bloßen Begriffen erbracht wird (vgl. A 216/B 263), und hat letztlich nach Kant keine Aussicht auf Erfolg. Denn es fehlt die Zeitbedingung als das Dritte, um zwei Begriffe zu verbinden. Aber die Frage ist, warum Kant den transzendentalen Gebrauch widerlegt und nicht irgendeinen anderen. Durch meine Auseinander­ setzung mit dem letzten Abschnitt (2.1 Zwei Merkmale des trans­ zendentalen Verstandesgebrauchs) wurde verdeutlicht, dass sich der transzendentale Gebrauch des Verstandes historisch gesehen vor allem auf den Dogmatismus bezieht. Leibniz wird von Kant auch

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als ein Vertreter des Dogmatismus herangezogen. Die Monadologie dient als ein gutes Beispiel dafür, um daran Kants Kritik an einem Substanz-Beweis aus bloßen Begriffen nachzuvollziehen: [D]ie Leibnizische Monadologie hat gar keinen andern Grund, als daß dieser Philosoph den Unterschied des Inneren und Äußeren bloß im Verhältniß auf den Verstand vorstellte. Die Substanzen überhaupt müssen etwas Inneres haben, was also von allen äußeren Verhältnis­ sen, folglich auch der Zusammensetzung frei ist. Das Einfache ist also die Grundlage des Inneren der Dinge an sich selbst. Das Innere aber ihres Zustandes kann auch nicht in Ort, Gestalt, Berührung oder Bewe­ gung (welche Bestimmungen alle äußere Verhältnisse sind) bestehen, und wir können daher den Substanzen keinen andern innern Zustand als denjenigen, wodurch wir unsern Sinn selbst innerlich bestimmen, nämlich den Zustand der Vorstellungen, beilegen. So wurden denn die Monaden fertig, welche den Grundstoff des ganzen Universum aus­ machen sollen, deren thätige Kraft aber nur in Vorstellungen besteht, wodurch sie eigentlich bloß in sich selbst wirksam sind. (A 330/B 274)

Diese Stelle kann man als eine kantische Rekonstruktion der Mona­ dologie ansehen. Hier ist es nebensächlich, ob Kants Bewertung der Monadologie berechtigt ist. Durch diese Stelle soll nur verdeutlicht werden, wie Kant den Verstandesbegriff »Substanz« unter dem trans­ zendentalen Verstandesgebrauch bewertet. Kant verbindet hier das Verständnis der Substanz mit dem Begriffspaar »Inneres/Äußeres«. Laut Kant führt Leibniz aus, dass das Ding die Zusammensetzung der Monaden sei. Die Monaden seien aber die einfachen mit Vorstel­ lungskräften begabten Subjekte (vgl. A 266/B 322). So sei bei Leibniz das Innerliche an einem Ding die Monade, die als einfache Substanz begrifflich vorgestellt werde. Ihr Zustand könne daher nicht äußerlich (Ort, Gestalt, Berührung oder Bewegung) sein. Monade werde als »Grundstoff des ganzen Universum[s]« (A 274/B 330) angesehen. Wenn man die Substanz durch eine bloß begriffliche Bildung, d. i. als Monade versteht, so bestehen die Gegenstände der Sinne aus einer Zusammensetzung der Monaden. Daher sind sie »Dinge an sich«. Wenn man demgegenüber die Substanz als »substantia phaenome­ non« versteht, so bezieht man sich auf die Gegenstände der Sinne nicht nur durch eine bloß begriffliche Konstruktion, sondern durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand. Somit nimmt man sie eigentlich als »Erscheinungen« an. Wie ist die Kausalität als zweite Analogie in diesem Zusam­ menhang zu verstehen? Wie würde ein ›Beweis‹ der Kausalität aus

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dem transzendentalen Verstandesgebrauch bzw. den reinen Katego­ rien aussehen? Vom Begriffe der Ursache würde ich (wenn ich die Zeit weglasse, in der etwas auf etwas anderes nach einer Regel folgt) in der reinen Kategorie nichts weiter finden, als daß es so etwas sei, woraus sich auf das Dasein eines andern schließen läßt; und es würde dadurch nicht allein Ursache und Wirkung gar nicht von einander unterschieden werden können, sondern weil dieses Schließenkönnen doch bald Bedingungen erfordert, von denen ich nichts weiß, so würde der Begriff gar keine Bestimmung haben, wie er auf irgend ein Object passe. (A 243/B 301)

In diesem Zitat ist Kants Kritik an der Kausalität, wie sie der trans­ zendentale Verstandesgebrauch verwendet, zu erkennen. Durch reine Kategorien könne man laut Kant nur eine begriffliche Bildung der Dinge als »etwas« haben. Davon wird aber kein Objektbezug versi­ chert. Dagegen, wie diese Stelle schon suggeriert, behauptet Kant die Kausalität unter der Perspektive des empirischen Verstandesge­ brauches. Dabei darf die Zeit als die sinnliche Bedingung a priori nicht weggelassen werden. Vor diesem allgemeinen Hintergrund, wie man durch bloße Begriffe die Kausalität annimmt, sei hier eine Stelle angeführt, in der Kant direkt über Leibniz und sein Verständnis der Kausalität spricht. Wenn ich mir durch den bloßen Verstand äußere Verhältnisse der Dinge vorstellen will, so kann dieses nur vermittelst eines Begriffs ihrer wechselseitigen Wirkung geschehen, und soll ich einen Zustand eben desselben Dinges mit einem andern Zustande verknüpfen, so kann dieses nur in der Ordnung der Gründe und Folgen geschehen. So dachte sich also Leibniz den Raum als eine gewisse Ordnung in der Gemeinschaft der Substanzen und die Zeit als die dynamische Folge ihrer Zustände. Das Eigenthümliche aber und von Dingen Unabhän­ gige, was beide an sich zu haben scheinen, schrieb er der Verworrenheit dieser Begriffe zu, welche machte, daß dasjenige, was eine bloße Form dynamischer Verhältnisseist, für eine eigene, für sich bestehende und vor den Dingen selbst vorhergehende Anschauung gehalten wird. Also waren Raum und Zeit die intelligibele Form der Verknüpfung der Dinge (Substanzen und ihrer Zustände) an sich selbst. Die Dinge aber waren intelligibele Substanzen (substantiae noumena). (A 276/B 332)

Im ersten Satz dieser Stelle spricht Kant von zwei Modellen der Ver­ hältnisse der Dinge, wenn sie durch den bloßen Verstand vorgestellt werden. Die ›wechselseitige Wirkung‹ in diesem Zitat bezieht sich auf die Gemeinschaft (die dritte Analogie bei Kant), während sich »Grund

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

und Folge« auf die Kausalität bezieht. Dann spricht Kant davon, dass Leibniz den »Raum als eine gewisse Ordnung in der Gemeinschaft der Substanzen« und »die Zeit als die dynamische Folge ihrer Zustände« vorstellt. Aber Leibniz verstehe die Zeit und den Raum laut Kant nicht als Anschauung a priori, sondern die »die intelligibele Form der Verknüpfung der Dinge an sich (Substanzen und ihrer Zustände) selbst«. Daher werden durch Zeit und Raum nicht die äußerlichen und innerlichen Relationen der Dinge dargestellt, sondern eine intelligible Verbindung zwischen Dingen. In diesem Sinn sagt Kant am Ende dieser Stelle, dass die Dinge (bei Leibniz) »intelligibele Substanzen (substantiae noumena)« seien. Die Kausalität bei Leibniz beziehe sich auf die Monaden (als intelligible Substanzen) und die Veränderung ihres Zustands. Diese Veränderung sei auch nur durch begriffliche Einbildung vorzustellen. Durch die Analyse der beiden Stellen der Kausalität ist zu erken­ nen, dass ein Kausalitätsverständnis, das durch den bloßen Verstand führt, eine Gegenposition zu Kant darstellt. Wie ist die Gemeinschaft als dritte Analogie zu verstehen? Dazu schreibt Kant: Eben darum mußte aber auch sein Principium der möglichen Gemein­ schaft der Substanzen unter einander eine vorherbestimmte Harmonie und konnte kein physischer Einfluß sein. Denn weil alles nur innerlich, d. i. mit seinen Vorstellungen beschäftigt ist, so konnte der Zustand der Vorstellungen der einen mit dem der andern Substanz in ganz und gar keiner wirksamen Verbindung stehen, sondern es mußte irgend eine dritte und in alle insgesammt einfließende Ursache ihre Zustände einander correspondirend machen, zwar nicht eben durch gelegentli­ chen und in jedem einzelnen Falle besonders angebrachten Beistand (Systema assistentiae), sondern durch die Einheit der Idee einer für alle gültigen Ursache, in welcher sie insgesammt ihr Dasein und Beharr­ lichkeit, mithin auch wechselseitige Correspondenz unter einander nach allgemeinen Gesetzen bekommen müssen. (A 274f/B 330f)

An dieser Stelle kritisiert Kant Leibniz dahingehend, dass dieser die Monade als Substanz versteht. Die ersten beiden Wörter »Eben darum« im obigen Zitat drücken den Zusammenhang zwischen Substanz als Monade und das Verständnis der Gemeinschaft aus, demzufolge die Gemeinschaft der Substanzen »unter einander eine vorherbestimmte Harmonie und […] kein physischer Einfluß sein« muss. Denn die von Leibniz vorgestellte Substanz bzw. Monade sei das Einfache, das keine äußerliche Relation haben könne. So

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muss ein Drittes gegeben werden, wodurch die Gemeinschaft der Substanzen ermöglicht wird. Aber dieses Dritte sei bei Leibniz Gott, durch den eine vorherbestimmte Harmonie geschaffen werde. Aus der kantischen Perspektive ist diese Erklärung der Gemeinschaft grundlos, weil man die Gemeinschaft als einen synthetischen Satz a priori nicht aus bloßen Begriffen beweisen kann. Das betrifft laut Kant insbesondere einen Beweis Gottes, der für diese vorherbestimmte Harmonie der Substanzen verantwortlich sein soll. Dagegen versucht Kant einen physischen Einfluss zwischen Substanzen als die Erklä­ rung der Gemeinschaft zu geben, der durch die Zeit als sinnliche Bedingung a priori ermöglicht wird. Weil die Gemeinschaft und die Kausalität auf der Erklärung der Substanz basieren, stellt Leibniz die Substanz als Monade vor, d. h. als Gegenstand des bloßen Verstandes und nimmt eigentlich in allen drei Grundsätzen die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« an. Das Problematische daran, die drei Grundsätze (Substanz, Kau­ salität und Gemeinschaft) durch den transzendentalen Verstandesge­ brauch zu »begründen«, zeigt sich im Zusammenhang mit den vier Punkten der Metaphysikkritik Kants, die ich im Abschnitt 2.2 dieses Kapitels ausgeführt habe: Vor allem kennt man im transzendentalen Verstandesgebrauch die Rolle der Sinnlichkeit im Erkenntnisgewinn und diese Grundsätze als synthetische Urteile a priori nicht. Zweitens unterscheidet man die Verstandesbegriffe und Vernunftbegriffe nicht. Dadurch wird der Geltungsbereich solcher Grundsätze nicht begrenzt. In diesem Sinne spricht Kant davon, dass sich der transzendentale Verstandesgebrauch auf Dinge überhaupt bezieht. Drittens und letz­ tens kann man den transzendentalen Verstandesgebrauch auf den Gebrauch der allgemeinen Logik als Organon zurückführen. c.) Dass Dinge »uns affizieren« und dass sie »an sich sind« als zwei Bestimmungszugänge der Dinge: Was heißt es, dass wir keine Dinge an sich, sondern nur (ihre) Erscheinungen kennen? Die Bestimmungsart-These richtet sich auf um die erkenntnistheore­ tische Frage, was und wie wir ein Ding erkennen. Erkenntnis ist bei Kant aber nur durch Urteile möglich. Nimmt man das kategorische Urteil als Beispiel, so kennt man ein Subjekt durch Prädikate, die diesem Subjekt durch Urteile beigefügt werden. Inwiefern ist es gerechtfertigt, ein Prädikat zum Subjekt hinzuzufügen? Kants Ant­ wort auf diese Frage ist, dass man nur durch die Zeit als das Dritte ein

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Prädikat und ein Subjekt in Verbindung setzen könne. Damit wird ein synthetisches Urteil gebildet, und dadurch wird die Erkenntnis über dieses Subjekt erweitert. Solche Urteilsformen begreift Kant als den empirischen Verstandesgebrauch. Kant lehnt eine bloße Verbindung zwischen Prädikat und Subjekt (ohne die Zeit als das Dritte) ab. Dies wurde schon im Unterabschnitt b.) in Bezug auf die Analogien der Erfahrung unter dem transzendentalen Verstandesgebrauch dar­ gestellt: Durch eine bloße begriffliche Verbindung zwischen Prädikat und Subjekt wird keine Erkenntnis erweitert. In diesem Unterabschnitt versuche ich durch die Analyse der Stelle AA04: 289 in den Prol. zu zeigen, dass sich die Formulierun­ gen, dass die »Dinge uns affizieren« und »Dinge an sich sind«, durch die Bestimmungsart-These auf die beiden Arten des Verstan­ desgebrauchs beziehen. Damit gewinnt man eine neue Einsicht in Kants Auffassung, dass wir keine Dinge an sich, sondern nur ihre Erscheinungen kennen. Solche Stellen werden in der Rezeption so verstanden, dass Dinge an sich der Realgrund der Erscheinungen seien140. In diesem Fall müsste Kant jedoch der Meinung sein, dass wir die wahren Dinge bzw. die an sich seienden Dinge nicht erkennen können, sondern nur das Erscheinen solcher Dinge. M. E. ist dies ein Missverständnis. Ich versuche demgegenüber die Stelle AA04: 289 mit dem transzendentalen/empirischen Verstandesgebrauch zu interpretieren, dass »Dinge uns affizieren« und »Dinge an sich selbst seien« zwei Arten zur Bestimmung der Dinge (der Gegenstände der Sinne) bezeichnen. Die Formulierung »Dinge an sich selbst« bezieht sich auf den begrifflichen Zugang, der mit dem transzendentalen Verstandesgebrauch zu tun hat. Das heißt, dass man durch den bloßen Verstand die Bestimmung der Dinge zu erkennen versucht. Dagegen bezieht sich die Formulierung »Dinge affizieren uns« auf den sinnli­ chen Zugang, welcher mit dem empirischen Verstandesgebrauch zu tun hat. Laut Kant haben wir keinen bloß begrifflichen Zugang zur Bestimmung der Dinge. Wir kennen die Bestimmung (Eigenschaft) der Dinge eigentlich immer durch den sinnlichen Zugang: Ortverän­ derung, Relation, Kraft usw. Durch solche Bestimmungen wird das Innere der Dinge nicht erkannt, da man durch den bloß begrifflichen 140 Vgl. erstes Kapitel »Das Affektionsproblem und ›Ding an sich‹ als Realgrund der Erscheinung«. Üblicherweise gibt es noch Stellen bei Kant, in denen er darüber spricht, dass »Dinge an sich« das Zugrundeliegende der Erscheinungen seien. Ich werde später im fünften Kapitel zeigen, dass die Stellen, die sich mit jenen Zugrundeliegenden befassen, mit den regulativen Vernunftideen zu tun haben.

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Zugang als Bestimmung der Dinge gedacht hat. So kann man bei­ spielsweise die Frage stellen, ob ein Ding einfach ist, ob es an sich ein inneres Vermögen hat. Solche Bestimmungen sind nicht durch die Sinne gekommen. Der ausschließlich begriffliche Zugang muss beim Erkenntnisgewinn laut Kant scheitern, weil man die Bestimmung der Dinge (als Erkenntniserweiterung) immer durch ein synthetisches Urteil festmacht. Dieses verlangt immer die Zeit als das Dritte, egal ob es dabei um ein synthetisches Urteil a priori oder a posteriori geht. Mit dem bloß begrifflichen Zugang zur Bestimmung der Dinge kann man aber kein synthetisches Urteil bilden. Daher widerlegt Kant den bloß begrifflichen Zugang durch den sinnlichen Zugang in Bezug auf die Bestimmung der Dinge im theoretisch-philosophischen Sinn. Der Unterschied meiner Interpretation zu der gewöhnlichen Rezeption ist, dass die gewöhnliche Rezeption »Ding an sich sein« als das reale Objekt und »Affizieren« als Mittel des Objektbezugs sieht. Meine Interpretation besagt aber, dass sowohl »Ding an sich sein« als auch »Affizieren« zwei Arten von Zugängen zur Bestimmung der Dinge sind. Laut Kant ist nur das Affizieren (durch Sinnlichkeit und Verstand) das richtige Mittel im theoretisch-philosophischen Sinn. Der bloß begriffliche Zugang wird von Kant aus dem Verstandesge­ brauch ausgeschlossen. [1] Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, [1.1] allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, [1.2] sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne afficiren. (Prol. § 13, AA04: 289; Ergänzungen durch den Verfasser)

Diese Stelle befindet sich in § 13 »Anmerkung II«. Kant versucht hier seine Erscheinungs-Lehre vom empirischen Idealismus zu distanzie­ ren. Kants Zusammenfassung des empirischen Idealismus ist hier, dass es nur das denkende Wesen gebe. Die übrigen Dinge, »die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der That kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand correspondirte« (AA04: 288f). Daher betont Kant im ersten Satz [1], dass er gegen den empiri­ schen Idealismus behauptet, dass uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben seien. Dann kommen zwei Fälle vor, die ich in Satzteil [1.1] und Satzteil [1.2] geteilt habe. Ich bin der Auffassung, dass sich Satzteil [1.1] auf den Verstand und Satzteil [1.2] auf die Sinnlichkeit bezieht. Das heißt, dass die beiden Formulie­

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rungen »dass der Verstand die Dinge vorstellt, wie sie an sich selbst sind« und »dass die Sinne sie vorstellen, wie sie uns erscheinen« Kants Beschreibungen der Vermögensfunktion sind (vgl. AA04: 286). Die Formulierung »der Verstand stellt Dinge vor, wie sie an sich selbst sind« ist insofern für Kant eine Behauptung, dass man den Verstand im empirischen Verstandesgebrauch versteht. Das heißt: Wenn man sagt, dass der Verstand uns die Gegenstände vorstellt, wie sie sind, so ist dies nicht in transzendentaler, sondern in bloß empirischer Hinsicht zu verstehen (vgl. A 258/B 313). Das heißt, dass wir die Gegenstände der Sinne (wie sie sind) durch die schematisierten Verstandesbegriffe und nicht durch die reinen Verstandesbegriffe erkennen. Wenn man den Satz, dass der Verstand die Dinge vorstelle, wie sie an sich selbst seien, im transzendentalen Verstandesgebrauch versteht, so beinhaltet dieser Satz eine Position, die Kant kritisiert. Das heißt, dass die Dinge nur durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand genommen werden sollen und nicht durch den bloßen Verstand. Daher bezeichnet der Satzteil [1.1] »allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts« eine Kritik am transzendentalen Verstandesgebrauch, wodurch die Gegenstände der Sinne durch den bloßen Verstand angenommen werden. Der Satzteil [1.2] bedeutet dagegen, dass wir nur durch die Sinnlichkeit (mit den Verstandesbegriffen) die sinnlichen Dinge als »Erscheinungen« erkennen können. Dies geschieht durch den empirischen Verstandes­ gebrauch. Der Wortlaut »an sich selbst« und »afficiren« beziehen sich daher auf die Fähigkeit der Vermögen, durch die wir die Gegenstände der Sinne erkennen. Kants Formulierung »wir kennen Dinge nicht, wie sie an sich sind« bezieht sich nicht auf Kants Behauptung zur Unfähigkeit der menschlichen Erkenntnisvermögen, sondern auf eine Kritik Kants, der zufolge der transzendentale Verstandesgebrauch nicht fähig sei, seinen Erkenntnisanspruch zu erreichen. Demgegen­ über bezieht sich die Formulierung »wir kennen nur ihre Erscheinun­ gen« auch nicht auf Kants Behauptung der Unfähigkeit der mensch­ lichen Erkenntnisvermögen, als wären die ›wahren‹ Dinge für uns nicht erkennbar, sondern nur ihre Erscheinungen. Die Formulierung bezieht sich vielmehr auf Kants Behauptung, dass die Sinnlichkeit als eine notwendige Bedingung für Erkenntnisgewinn im empirischen Verstandesgebrauch tätig sein muss. Nun stellt sich die Frage, was Erkennen bedeutet. Im zweiten Kapitel habe ich dargelegt, dass die Begriffe und Urteile die Baustoffe der Metaphysik sind. Das heißt, dass alle Behauptungen in der

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Metaphysik nur durch Begriffe und aus ihnen gebildeten Urteilen geäußert werden können. Präzise formuliert ist das Erkennen nur durch Urteile möglich. Erkennen bedeutet, dass das Subjekt durch Prädikate bestimmt wird. Daraus bildet man ein Urteil, das das Subjekt erklärt oder eine Eigenschaft hinzugefügt. Ein beispielhaftes Urteil wäre: Der Hund ist schwarz. So ist der Hund ein Subjekt und »schwarz« ein Prädikat. Durch dieses Urteil wird mir klar, dass »schwarz« als eine Eigenschaft zum Subjekt Hund hinzugefügt wird. Wie ist das Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem Prädikat in einem Urteil? Das Verhältnis zwischen Prädikat und Subjekt sei laut Kant nur »auf zweierlei Art möglich« (A 6/B 10): analytisch und synthetisch. Bei einem analytischen Urteil als Erläuterungsurteil wird nichts Neues durch Prädikate zum Subjekt hinzufügt, weil das Subjekt schon das Prädikat enthält (vgl. A 7/B 11). Dagegen wird bei synthetischen Urteilen durch Prädikate etwas Neues zum Subjekt hin­ zugefügt. Daher ist ein synthetisches Urteil ein Erweiterungsurteil. Es wurde bereits dargelegt, dass die Zeit als das Dritte nur bei der Bildung des synthetischen Urteils verlangt wird141. Daher bedeutet ein »Ding erkennen« im kantischen Sinn, dass man synthetische Prädikate zu diesem Ding (als Subjekt) hinzufügt. Dabei sind jederzeit die Sinnlichkeit bzw. die Zeit erfordert142. In diesem Sinn unterscheidet Kant das logische und das reale Prädikat. Alles kann als logisches Prädikat dienen, sogar das Subjekt selbst (vgl. A 598/B 626). Denn ein logisches Prädikat bezieht sich nur auf bloße Begriffe (als eine Pro­ 141 »Denn es wäre ungereimt, ein analytisches Urtheil auf Erfahrung zu gründen, weil ich aus meinem Begriffe gar nicht hinausgehen darf, um das Urtheil abzufassen, und also kein Zeugniß der Erfahrung dazu nöthig habe. Daß ein Körper ausgedehnt sei, ist ein Satz, der a priori feststeht, und kein Erfahrungsurtheil. Denn ehe ich zur Erfahrung gehe, habe ich alle Bedingungen zu meinem Urtheile schon in dem Begriffe, aus welchem ich das Prädicat nach dem Satze des Widerspruchs nur herausziehen und dadurch zugleich der Nothwendigkeit des Urtheils bewußt werden kann, welche mir Erfahrung nicht einmal lehren würde.« (B 11f). 142 In Bezug auf den Gedanken, dass man nur mit synthetischen Urteilen etwas erkennen könne, möchte ich auf die Stelle verweisen, in der Kant über die Erkenntnis des Ich spricht. Man könne nur die (reale) Möglichkeit eines Dinges durch ein Erwei­ terungsurteil bzw. ein synthetisches Urteil erkennen. »Wenn mir jemand überhaupt die Frage aufwürfe: von welcher Beschaffenheit ist ein Ding, welches denkt, so weiß ich darauf a priori nicht das mindeste zu antworten, weil die Antwort synthetisch sein soll (denn eine analytische erklärt vielleicht wohl das Denken, aber giebt keine erweiterte Erkenntniß von demjenigen, worauf dieses Denken seiner Möglichkeit nach beruht). Zu jeder synthetischen Auflösung aber wird Anschauung erfordert, die in der so allgemeinen Aufgabe gänzlich weggelassen worden« (A 398).

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duktion des Denkens), nicht auf die Bestimmung eines Dinges. Das reale Prädikat bezieht sich dagegen auf die Bestimmung eines Dinges, wodurch etwas »über den Begriff des Subjekts hinzukommt und ihn vergrößert« (vgl. ebd.). Durch ein reales Prädikat wird ein Begriff auf die Bestimmung des Dinges bezogen, wodurch dem Subjekt etwas Neues hinzugefügt wird. Durch ein logisches Prädikat jedoch wird nur ein Begriff auf das Denken bezogen, wodurch das Subjekt mit diesem logischen Prädikat in einem Urteil verbunden wird. Man begeht einen Fehler, wenn man ein logisches Prädikat für ein reales Prädikat hält. Nun ist nachzuvollziehen, was ein reales Prädikat mit dem syn­ thetischen Urteil zu tun hat. Alle synthetischen Urteile sind nur durch die Zeit (als das Dritte) möglich, unabhängig davon, ob sie a priori oder a posteriori sind. Die Zeit ist nach Kant eine Anschauungsform a priori und bezieht sich allgemein auf die Sinnlichkeit. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Kant in Bezug auf das Begriffspaar »Inneres/Äußeres« behauptet, dass man die Substanz im Raum nur durch Kräfte und Relation erkennen kann, die als Anziehung und Abstoßung usw. erscheinen. Die »andere[n] Eigenschaften [der Substanz] kennen wir nicht« (A 265/B 321). »Was aber in dem Orte gegenwärtig sei, oder was es außer der Ortveränderung in den Dingen selbst wirke, wird dadurch nicht gegeben. Nun wird durch bloße Verhältnisse doch nicht eine Sache an sich erkannt« (B 66). Solche Stellen implizieren den Gedanken, dass Kant die Bestimmungen der Dinge nach den Vermögen (Sinnlichkeit und Verstand) einteilt. Die Bestimmungen der Dinge, wie Ortsveränderung oder Ausdehnung usw., werden dem Raum als einer der sinnlichen Formen zugeschrie­ ben. Durch solche Bestimmungen kann man noch nicht sagen, dass diese Bestimmungen, die durch den Raum gezeigt werden, schon alle Bestimmungen der Dinge beinhalten. Daher schreibt Kant in B 66: [A]lso ist wohl zu urtheilen, daß, da uns durch den äußeren Sinn nichts als bloße Verhältnißvorstellungen gegeben werden, dieser auch nur das Verhältniß eines Gegenstandes auf das Subject in seiner Vorstellung enthalten könne und nicht das Innere, was dem Objecte an sich zukommt. (ebd.)

Das heißt, dass durch den äußeren Sinn (den Raum) keine Bestim­ mung eines Dinges in Bezug auf sein Inneres beurteilt werden kann. Denn dieses Innere mag denkmöglich sein, kann aber nicht im Raum erscheinen. Man kann auch nicht durch die räumlichen Bestimmun­ gen das Innere einfach verneinen. Aber was wäre die Bestimmung

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einer Sache an sich? Was wäre das Innere der Dinge? Durch die Diskussion des Begriffspaars »Inneres/Äußeres« ist bereits bekannt (vgl. 2.3.1 Unterabschnitt a.) dieses Kapitels), dass das Innere der Dinge zu erkennen nach Kant »eine bloße Grille« (A 277/B 333) ist. Dass man das Innere der Dinge zu erfassen versucht, folgt daraus, dass man durch den bloßen Verstand die Dinge zu erkennen versucht. Leibniz und seine Monadologie werden von Kant genau so interpre­ tiert. Die Ursache dieses Vorgehens ist der transzendentale Verstan­ desgebrauch, der nach Kant unberechtigt ist. Während die Relation und die Verhältnisse der Dinge von Kant als die Bestimmungen der Dinge auf die Sinnlichkeit bezogen sind, bezieht sich das Innere der Dinge auf den bloßen Verstand. Die Bestimmung der Dinge durch den bloßen Verstand zu erkennen, wird von Kant durch seine Kritik am transzendentalen Verstandesgebrauch widerlegt. Darüber hinaus sieht man auch durch die Anmerkung zum Urteil (Subjekt/Prädikat), dass es unmöglich ist, ein synthetisches Urteil durch bloße Begriffe zu bilden. Daher ist es auch unmöglich, das Innere der Dinge bloß durch den Verstand zu erkennen. Kant subsumiert die Bestimmungen der Dinge durch Raum und Zeit unter dem Begriff der »Erscheinung«. Zugleich hält er alle »Bestimmungen« der Dinge, die man durch bloßes Denken erwirbt und nicht durch die Sinne bekommen kann, für einen ungerechtfer­ tigten transzendentalen Verstandesgebrauch. In dem Fall sind die Bestimmungen unberechtigt, weil sie durch die vermeintlichen syn­ thetischen Sätze gebildet werden143. Hier sei an Kants transzendentale Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand (gegen die logi­ sche Unterscheidung derselben bei der Leibniz-Wolffischen Philoso­ phie) erinnert, die die Unterscheidung zwischen dem Ursprung und dem Inhalt der Erkenntnis trifft. Daher erkennen wir nicht durch die Sinnlichkeit die Beschaffenheit der Dinge an sich selbst. [S]o daß […] so bald wir unsre subjective Beschaffenheit wegnehmen, das vorgestellte Object mit den Eigenschaften, die ihm die sinn­ liche Anschauung beilegte, überall nirgend anzutreffen ist, noch angetroffen werden kann, indem eben diese subjective Beschaffenheit 143 Im praktischen Kontext spielt die »transzendentale Bestimmung« der Dinge eine wichtige Rolle. Z. B. beim äußeren »mein« und »dein«. Der Besitzzustand eines Dinges ist eine intellektuelle Bestimmung des Dinges, die man nicht durch die Sinnlichkeit erhalten kann, sondern nur durch das bloße Denken. Aber dies wird von Kant im theoretischen Kontext als ungerechtfertigt angesehen.

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die Form desselben als Erscheinung bestimmt. (A 44/B 61f; Hervorhe­ bung durch den Verfasser)144

In diesem Sinne schreibt Kant in den Prolegomena: Daß man unbeschadet der wirklichen Existenz äußerer Dinge von einer Menge ihrer Prädicate sagen könne: sie gehörten nicht zu diesen Dingen an sich selbst, sondern nur zu ihren Erscheinungen und hätten außer unserer Vorstellung keine eigene Existenz ist etwas, was schon lange vor Lockes Zeiten, am meisten aber nach diesen allgemein angenommen und zugestanden ist. (AA04: 289)

Einige Zeilen später behauptet Kant, dass »alle Eigenschaften, die die Anschauung eines Körpers ausmachen, bloß zu seiner Erscheinung gehören« (ebd.) und »daß wir es, wie es an sich selbst sei, durch Sinne gar nicht erkennen können« (ebd.). Kant ordnet die Eigenschaften des Körpers der Erscheinung zu. Dies wird damit begründet, dass man durch ein synthetisches Urteil die Bestimmung als Eigenschaft einem Ding hinzufügt. Ein synthetisches Urteil kann nur legitimiert werden, wenn die Zeit bzw. die Sinnlichkeit vorhanden sind. Das macht die Grundthese der kantischen Erkenntnistheorie aus, der zufolge man durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand die Gegenstände der Sinne bestimmt. Kants Aussage, dass wir von den Dingen nicht wissen, wie sie an sich sein mögen, ist dann gar keine positive Botschaft. Der intuitive Eindruck, »wie schade es sei, dass wir die Dinge nach Kant nicht tatsächlich erkennen können, wie sie sind«, ist unhaltbar. Aus der Perspektive der Bestimmungsart-These ist es unmöglich, durch die bloßen Begriffe ein synthetisches Urteil zu bilden, das sich auf die Bestimmung des Dinges, nicht die Bestimmung des Denkens bezieht. Vielmehr soll der Eindruck so sein: »Kant zeigt uns, dass man nicht allein durch den Verstand, sondern jederzeit durch die Kombination des Verstandes mit der Sinnlichkeit die Dinge erkennen kann«.

144 In gleicher Weise ist auch diese Stelle so zu verstehen, dass die Sinnlichkeit nicht auf die Beschaffenheit der Dinge, die durch den Verstand gegeben werden, eingeht: »Die Sinnlichkeit und ihr Feld, nämlich das der Erscheinungen, wird selbst durch den Verstand dahin eingeschränkt: daß sie nicht auf Dinge an sich selbst, sondern nur auf die Art gehe, wie uns vermöge unserer subjectiven Beschaffenheit Dinge erscheinen« (A 251).

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Nach meiner Darlegung des transzendentalen Verstandesge­ brauchs (2.1 und 2.2)145 kann man feststellen, dass man im transzen­ dentalen Verstandesgebrauch die logische Bestimmung des Denkens für die reale Bestimmung der Dinge hält, indem man durch den bloßen Verstand und seine Begriffe die Gegenstände der Sinne (durch Urteil) bestimmt. Auch in diesem Sinn spricht Kant davon, dass wir von den Dingen nicht wissen, was sie an sich selbst sein mögen. Weil dies auf einen problematischen Verstandesgebrauch bezogen wird, sind die daraus gebildeten Urteile ebenfalls problematisch. Dagegen verlangt der empirische Verstandesgebrauch jederzeit die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand. Ein synthetisches Urteil kann nur so auf eine gerechtfertigte Weise gebildet werden. Daher bezieht sich die Aussage, wir würden Dinge nur, »indem sie unsere Sinne afficiren«, erkennen, auf den empirischen Verstandesgebrauch, der von Kant behauptet wird. Die Aussage »wir kennen Dinge nicht, wie sie an sich sein mögen« hingegen bezieht sich auf den transzendentalen Verstandesgebrauch, der von Kant abgelehnt wird. Exkurs: Um die Bestimmungsart-These bei den Gegenständen der Sinne klar zu illustrieren, wird im Folgenden eine Theoriekonzeption aus Kants Rechtlehre, das äußere Mein und Dein, zur Hilfe genom­ men. Damit wird auch aufgezeigt, warum die Bestimmungsart-These nicht nur im theoretischen Kontext, sondern auch im praktischen Kontext angemessen ist. Dies dient auch als eine Vorbereitung, die einheitliche Bedeutung der Erscheinung und die des Dinges an sich in der ganzen kritischen Philosophie Kants (sowohl der theoretischen als auch der praktischen) zu finden. Die Bestimmungsart-These besagt, dass die Beschaffenheit der Dinge laut Kant nur durch die Sinnlichkeit wahrgenommen und durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand beurteilt bzw. erkannt werden könne. Eine solche mögliche Beschaffenheit der Dinge macht die Gegenstände der Sinne als Erscheinungen aus. Dies hängt mit dem empirischen Verstandesgebrauch zusammen. Demge­ genüber lehnt Kant eine Bestimmungsart ab, in der man durch den bloßen Verstand die Beschaffenheit der Dinge zu erkennen versucht. Dadurch werden die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« 145 Besonders unter »A. Allgemeine/transzendentale Logik« in 2.2 habe ich den transzendentalen Verstandesgebrauch als den objektiven (auf Inhalt bezogenen) Gebrauch der allgemeinen Logik charakterisiert, wobei genau der Punkt beim logi­ schen Prädikat als dem realen Prädikat in A 598/B 626 genannt wird.

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bestimmt. Dies hängt mit dem transzendentalen Verstandesgebrauch zusammen. Der transzendentale Verstandesgebrauch irrt, weil er laut Kant zwei Begriffe in einem Urteil ohne die Zeitbestimmung als das Dritte zusammenzusetzen versucht. Also bildet dieser Ver­ standesgebrauch problematische synthetische Sätze a priori, um die »Beschaffenheit« der Dinge zu erkennen. Die mögliche Beschaffenheit der Gegenständen der Sinne (im theoretischen Kontext) hängt mit der Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand zusammen. Man geht fehl, wenn man diese Beschaffenheit allein durch den bloßen Verstand zu erkennen ver­ sucht. Dagegen wird im praktischen Kontext bzw. der Rechtlehre eine praktische Bestimmung der Dinge durch intelligiblen Besitz (possessio noumenon) eingeführt. In diesem Sinn soll ein Gegenstand der Sinne als »Ding an sich« angenommen werden. Dies zeigt, dass es beim Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« nicht um das Was, d. i. die Dinge selbst, sondern vielmehr um das Wie, d. i. die Anwendung der Denkvermögen (Verstand und Vernunft) auf die Dinge, geht. Im Werk Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, das der erste Teil der Metaphysik der Sitten ist, unterscheidet Kant beim Privatrecht zwei Arten von Besitz: den sinnlichen (physischen) und den bloß-rechtlichen (intelligiblen). Ein physischer Besitz ist die Bedingung der Möglichkeit der Handhabung eines Dinges als einer Sache (vgl. AA06: 358, Anm.). Dagegen ist ein intelligibler Besitz »ein Besitz ohne Inhabung« (AA06: 246). Zum Beispiel bezeichne ich einen Apfel als ›meinen‹, wenn ich ihn in meiner Hand habe. Das ist ein physischer Besitz. Von einem bloß-rechtlichen Besitz lässt sich nur reden, wenn dieser Apfel nicht in meiner Hand ist und ich ihn trotzdem ihn als ›meinen‹ (als mein Eigentum) bezeichne. Ein intelligibler Besitz (possessio noumenon) ist eingeführt, damit »das äußere Meine« im rechtlichen Sinn vorstellbar ist. Das »äußere Meine« wird von Kant als dasjenige verstanden, »in dessen Gebrauch mich zu stören Läsion sein würde, ob ich gleich nicht im Besitz desselben (nicht Inhaber des Gegenstandes) bin.« (AA06: 249). Mit dem Wort »Läsion« bezeichnet Kant eine Verletzung. Hier ist gemeint (ich bleibe hier beim Beispiel des Apfels), dass ich verletzt werde, wenn mein Gebrauch von meinem Apfel von jemandem außer mir gestört wird und ich diesen Apfel zugleich nicht in meiner Hand halte. Wie soll ein intelligibler Besitz vorgestellt werden? Laut Kant müssen alle sinnlichen Bedingungen von einem äußeren Gegenstand

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abstrahiert werden, damit man diesen Gegenstand als »Ding an sich« betrachten kann (vgl. AA06: 249). In einem theoretischen Grundsatze a priori müßte nämlich (zu Folge der Kritik der reinen Vernunft) dem gegebenen Begriff eine Anschau­ ung a priori untergelegt, mithin etwas zu dem Begriffe vom Besitz des Gegenstandes hinzugethan werden; allein in diesem praktischen wird umgekehrt verfahren, und alle Bedingungen der Anschauung, welche den empirischen Besitz begründen, müssen weggeschafft (von ihnen abgesehen) werden, um den Begriff des Besitzes über den empirischen hinaus zu erweitern und sagen zu können: ein jeder äußere Gegenstand der Willkür kann zu dem rechtlich Meinen gezählt werden, den ich (und auch nur so fern ich ihn) in meiner Gewalt habe, ohne im Besitz desselben zu sein. (AA06: 251f)

An dieser Stelle schreibt Kant, dass man alle Bedingungen des empi­ rischen Besitzes in Raum und Zeit ›wegschaffen‹ solle, damit man den Begriff des Besitzes über den empirischen Besitz hinaus erweitern und die Möglichkeit eines intelligiblen Besitzes (possessio noumenon) (vgl. AA 06: 249) schaffen kann. Dagegen ist ein sinnlicher Besitz der Besitz in der Erscheinung (possessio phaenomenon) (vgl. ebd.). Dies lässt sich in Bezug auf das Apfel-Beispiel verdeutlichen. Obwohl ein anderer jetzt gerade den Apfel in seiner Hand hat bzw. in physischem Besitz, kann man sich vorstellen, dass dieser Apfel nicht sein Apfel ist, sondern der Besitz einer anderen Person. Also würde die Person, die den Apfel hält, diesen nicht rechtlich besitzen, denn sein physischer Besitz kann als ›Erscheinung‹ betrachtet und beendet werden. Diese Beendung bzw. Absonderung ist die Gegenposition zum kantischen Verfahren in der theoretischen Philosophie, wo Kant eine Abstrahierung der Sinnlichkeit bzw. den allein Gebrauch der Katego­ rien ablehnt (vgl. B 307). Dieses umgekehrte Verfahren hat jedoch nicht zum Ziel, dass man die Gegenstände der Sinne erkennt, sondern soll die Frage beantworten, ob eine Handlung rechtens ist. In diesem Fall der praktischen Philosophie stehen wir miteinander in einer intelligiblen Ordnung. Um sich diese Ordnung klarzumachen, muss man sich etwas wie einen intelligiblen Besitz (possessio noumenon) vorstellen. Dadurch wird keine theoretische Erkenntnis erreicht. Auch an dieser Stelle soll noch einmal das Apfel-Beispiel angeführt werden. Ein intelligibler Besitz dieses Apfels vermindert oder vermehrt seine physischen Eigenschaften nicht. Aus der praktischen Perspektive wird eine »praktische Bestimmung« zu diesem Apfel eingeführt. Diese Bestimmung ist, dass ich diesen Apfel rechtlich besitze. Diese zuge­

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schriebene Beschaffenheit hat nichts mit den möglichen physischen Bestimmungen dieses Apfels zu tun, sondern steht nur im rechtlichen Kontext als »ein geistiges Band«, gefasst unter dem Begriff »das äußere Mein«. In diesem Sinn wird Apfel als ein »Ding an sich« bzw. als Noumenon verstanden. Dies verhindert aber nicht, dass dieser Apfel im theoretischen Kontext als eine Erscheinung begriffen wird.

2.3.2 Existenzart-These: die zweite Art, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben Die Existenzart-These betrifft die Frage, wie etwas Äußerliches exis­ tiert. Dabei behauptet Kant mit seinem transzendentalen Idealismus und empirischen Realismus, dass die Realität der Außenwelt in empirischem Sinn aufgefasst werden soll. Das heißt, dass die äußeren Gegenstände im Raum Erscheinungen bzw. bloße Vorstellungen seien. Diese Gegenstände seien nichts, wenn sie von unserer Sinnlich­ keit abgetrennt seien. Dagegen kritisiert Kant an dem transzenden­ talen Realismus und dem empirischen Idealismus, dass bei ihnen die Realität der Außerwelt im transzendentalen Sinn verstanden werde. Das heißt, dass die äußeren Gegenstände hier als etwas von der Sinnlichkeit Unabhängiges angesehen werden. Im Folgenden möchte ich zuerst durch eine Darstellung der Kritik von Kant am transzendentalen Realismus verdeutlichen, dass die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn dasjenige sind, was Kant im polemischen Sinn als »Dinge an sich« bezeichnet. Das heißt, dass dann, wenn man die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn (in Bezug auf die Anwendung der Modalität) annimmt, man auch die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« annimmt. Im Anschluss daran versuche ich zu zeigen, dass diese »Dinge an sich« (als etwas von uns unabhängig Existierendes) auch unter den transzendentalen Verstandesgebrauch subsumiert werden können und sollen. a.) Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn als »Dinge an sich« Im »Vierten Paralogism der Idealität (des äußeren Verhältnisses)« (A 366–380) des Paralogismen Kapitels der ersten Ausgabe der KrV kritisiert Kant die Behauptung des transzendentalen Realismus, dass

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dieser die äußerlichen Gegenstände der Sinne als etwas Unabhängiges von der menschlichen Sinnlichkeit bezeichne. Dies führe nach Kant logischerweise zum empirischen Idealismus und zum Zweifel an der empirischen Realität der äußeren Welt. Dagegen beschreibt Kant seine Position als transzendentalen Idealismus und empirischen Rea­ lismus, der genau der Doppelposition »transzendentaler Realismus und empirischer Idealismus« entgegensteht. Hinsichtlich historischer Positionen subsumiert Kant sowohl den Dogmatismus als auch den Empirismus unter die Position des trans­ zendentalen Realismus, denn alle Thesen und Antithesen in der kos­ mologischen Antinomie setzen diese Position voraus. Dazu spricht Kant in der Methodenlehre von einem »gemeinen Vorurtheile« (A 740/B 768), dass man »Erscheinungen« für »Dinge an sich« halte. In der KpV wirft Kant auch Hume (daher Skeptizismus) vor, dass er, »wie es doch auch fast überall geschieht« (AA05: 53), die Gegenstände der Erfahrung für »Dinge an sich« hält. Nach Kant ist eine solche Fehleinschätzung »vor der Epoche der reinen Vernunftkritik« (AA20: 287) ein nicht vermeidbarer Fehler. Der Hauptunterschied zwischen dem transzendentalen Realis­ mus und dem transzendentalen Idealismus liegt im Verständnis des Ausdrucks »außer uns«, den Kant im »vierten Paralogism der Idealität (des äußeren Verhältnisses)« verwendet. Die erste Bedeutung dieses Ausdrucks ist: »was als Ding an sich selbst von uns unterschieden existirt« (A 373). Dies nennt Kant äußerliche Gegenstände »im transzendentalen Sinne« (ebd.). Die zweite Bedeutung des Ausdrucks ist: »was blos zur äußeren Erscheinung gehört« (ebd.). Dies nennt Kant »empirisch äußerliche Gegenstände« (ebd.) oder Dinge, »die im Raume anzutreffen sind« (ebd.). Im Folgenden verwende ich für diese zwei Bedeutungen die Abkürzungen: TÄG für transzendental äußer­ liche Gegenstände und EÄG für empirisch äußerliche Gegenstände.146 Kant behauptet an der Stelle A 373, dass sich sein »transzen­ dentaler Idealismus und empirischer Realismus« nur auf die EÄG 146 Die ganze Stelle lautet: »Weil indessen der Ausdruck: außer uns, eine nicht zu vermeidende Zweideutigkeit bei sich führt, indem er bald etwas bedeutet, was als »Ding an sich« selbst von uns unterschieden existirt, bald was blos zur äußeren Erscheinung gehört, so wollen wir, um diesen Begriff in der letzteren Bedeutung, als in welcher eigentlich die psychologische Frage wegen der Realität unserer äußeren Anschauung genommen wird, außer Unsicherheit zu setzen, empirisch äußerliche Gegenstände dadurch von denen, die so im transscendentalen Sinne heißen möchten, unterscheiden, daß wir sie gerade zu Dinge nennen, die im Raume anzutreffen sind.« (A 373).

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beziehe. Die EÄG sind im Raum gegeben. Es sei unmöglich, dass die TÄG im Raum gegeben seien. Dagegen behauptet die Position des »transzendentalen Realismus und empirischen Idealismus« (den Kant kritisiert) laut Kant, dass es TÄG gäbe, die »unabhängig von uns und unserer Sinnlichkeit existieren, also auch nach reinen Verstandesbe­ griffen außer uns wären« (A 369). Im ähnlichen Sinne wie von den TÄG spricht Kant auch vom Begriff des transzendentalen Gegenstands. Der transzendentale Gegenstand = X ist uns unbekannt und von unserer Vorstellung verschieden (vgl. A 105f; A 108f; A 250f; A 190f / B 235f). Die Stelle A 109 bezieht sich darauf, dass der transzendentale Gegenstand jenseits der Erscheinungen liegt und diese ›verursacht‹: Erscheinungen sind die einzigen Gegenstände, die uns unmittelbar gegeben werden können, und das, was sich darin unmittelbar auf den Gegenstand bezieht, heißt Anschauung. Nun sind aber diese Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst, sondern selbst nur Vorstel­ lungen, die wiederum ihren Gegenstand haben, der also von uns nicht mehr angeschaut werden kann und daher der nichtempirische, d. i. transscendentale, Gegenstand = X genannt werden mag. (A 109)

Es scheint aus diesem Zitat hervorzugehen, dass Kant immer von der Erscheinung als Vorstellung reden würde. Kant markiert aber den transzendentalen Gegenstand als ›Realgrund‹ der Erscheinungen. Denn die Erscheinung als Vorstellung muss wiederum ihren Gegen­ stand haben, der nicht mehr angeschaut werden kann. Daher ist dieser Gegenstand »nichtempirisch[]«. Die Erscheinung bzw. die Vor­ stellung bezieht sich auf die EÄG. Der transzendentale Gegenstand bzw. »Gegenstand = X« bezieht sich auf die TÄG. Aber Kant bezieht diesen TÄG auf den transzendentalen Realis­ mus, der eine Position ist, die er kritisiert und ablehnt. Wie ist das zu verstehen? Mit dem Wort »mag« am Ende dieses Zitats distanziert Kant seine Position von der Position des transzendentalen Realismus hinsichtlich des Verständnisses des Realgrunds der Erscheinung. Das heißt, dass der transzendentale Realismus behauptet, dass es Gegen­ stände der Sinne im transzendentalen Sinn gibt. Kant behauptet nur, dass Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn gegeben werden mögen, dass wir aber keine Erkenntnis davon haben könnten. Was wir wissen, ist nur, dass es Gegenstände der Sinne im empirischen Sinn (EÄG) gibt. Laut Kant sei die Annahme der Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn ein problematisches Urteil, weil diese

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Annahme nicht bestätigt werden kann. Dem entgegen macht der transzendentale Realismus aus dieser Annahme eine Erkenntnis, als ob es tatsächlich die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn gäbe. Dies ist nach Kant eine anmaßende Einbildung, denn man versucht hier eigentlich zu behaupten, dass man etwas Wirkliches vor dem Zusammenhang der möglichen Erfahrung erfahre. Einen satirischen Vergleich dazu gibt Kant in der Fortschritts-Schrift: Jemand steht vor dem Spiegel mit geschlossenen Augen und will wissen, wie er aussehe, wenn er schlafe147 (vgl. AA20: 309). Durch einen Begriff wie dem des transzendentalen Gegenstands kann man alle existierenden Gegenstände der Sinne in Zeit und Raum insgesamt als gegeben denken. Aber das heißt nicht, dass sie wirklich gegeben sind. Wenn man sagt, dass die Gegenstände der Sinne vor aller Erfahrung existieren, bedeutet das nicht, dass sie nicht in Beziehung zur Erfahrung stehen, sondern dass »sie in dem Theile der Erfahrung, zu welchem ich, von der Wahrnehmung anhebend, allererst fortschreiten muß, anzutreffen sind« (A 496/B 524). Hier möchte ich mich in Bezug auf die erwähnte anmaßende Einbildung auf einen Punkt konzentrieren: Die Frage liegt nicht darin, ob TÄG da sind oder sein mögen, sondern darin, dass man laut Kant die EÄG nicht mit den TÄG verwechseln darf. Diese Verwechselung charakterisiert genau den transzendentalen Realismus. Im folgenden Zitat sieht man die ›Nutzlosigkeit‹ des transzendentalen Gegenstands im Feld der Erfahrung: [1] Nun kann man zwar einräumen, daß von unseren äußeren Anschauungen etwas, was im transscendentalen Verstande außer uns sein mag, die Ursache sei; [2] aber dieses ist nicht der Gegenstand, den wir unter den Vorstellungen der Materie und körperlicher Dinge Der Kontext dieser Satire ist, dass Kant den theoretisch-dogmatischen Beweis von der Unsterblichkeit der Seele kritisiert. Ein solcher Beweis sei unmöglich, weil die innere Erfahrung uns nur im Leben bekannt sei. »Im Leben« heißt, dass die Seele und der Körper verbunden sind. Wenn man wissen will, was wir nach dem Tode sein können, muss man auch wissen, was die abgesonderte Natur der Seele im Leben (ohne den Körper) ist. Dieser Versuch sei ähnlich wie der Versuch, dass man sich mit geschlossenen Augen vor den Spiegel stelle und wissen wolle, wie man aussehe, wenn man schlafe (vgl. AA20: 309). Diese Satire passt insofern zu unserem Thema, dass man sich etwas als Wirkliches vor der Erfahrung einbildet: Die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinne und die abgesonderte Natur der Seele sind durch das bloße Denken eingebildet. Die logische Möglichkeit dieser Begriffe, die durch das Denken allein möglich ist, darf nicht mit der realen Möglichkeit derselben, die durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand möglich ist, verwechselt werden. 147

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verstehen; denn diese sind lediglich Erscheinungen, d. i. bloße Vorstel­ lungsarten, die sich jederzeit nur in uns befinden, und deren Wirklich­ keit auf dem unmittelbaren Bewußtsein eben so, wie das Bewußtsein meiner eigenen Gedanken beruht. [3] Der transscendentale Gegen­ stand ist sowohl in Ansehung der inneren als äußeren Anschauung gleich unbekannt. [4] Von ihm [dem transzendentalen Gegen­ stand] aber ist auch nicht die Rede, sondern von dem empiri­ schen, welcher alsdann ein äußerer heißt, wenn er im Raume, und ein innerer Gegenstand, wenn er lediglich im Zeitverhältnisse vorgestellt wird; Raum aber und Zeit sind beide nur in uns anzutreffen. (A 372f; Ergänzungen und Hervorhebung durch den Verfasser)

Im ersten Satz [1] verdeutlicht Kant, dass man den TÄG den Platz geben könne und sie als Ursache der äußeren Anschauung zu den­ ken seien. Aber diese TÄG sind nicht die EÄG im zweiten Satz [2], die »wir unter den Vorstellungen der Materie und körperlicher Dinge verstehen«. Aus Kants Perspektive kann etwas Äußerliches nur empirisch vorhanden sein. Im dritten Satz [3] sagt Kant, dass dieser transzendentale Gegenstand bzw. TÄG unbekannt ist. Diese Formulierung sieht man auch bei der Stelle A 494/B 522: die nichtsinnliche Ursache der Vorstellungen sei uns unbekannt; wir könnten die bloß intelligible Ursache der Erscheinungen überhaupt als das transzendentale Objekt nennen und dem allen Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen zuschreiben.148

Aber der zentrale Satz ist hier der vierte [4]. Es gehe hier nicht um den transzendentalen Gegenstand, sondern um den empirischen Gegenstand, der uns durch den Raum und die Zeit gegeben ist. Der Schwerpunkt liegt hier nicht darin, ob der transzendentale Gegenstand in der Tat der Realgrund der Erscheinung ist,149 sondern dass Kant kritisiert, dass der transzendentale Realismus die EÄG zu 148 Über diese Stelle und die Bedeutung des transzendentalen Gegenstandes gebe ich eine ausführliche Interpretation im nächsten Abschnitt. 149 Vgl. auch A 30/B 45: »was wir äußere Gegenstände nennen, nichts anders als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit seien, deren Form der Raum ist, deren wahres Correlatum aber, d. i. das Ding an sich selbst, dadurch gar nicht erkannt wird, noch erkannt werden kann, nach welchem aber auch in der Erfahrung niemals gefragt wird«. In dieser Stelle sieht man, dass dieses »Ding an sich« auf den transzendentalen Gegenstand bezogen ist. Aber es ist nicht unbekannt und wird in der Erfahrung niemals gefragt, weil der Punkt hier nicht darin liegt, ob es ein Realgrund der Erschei­ nung ist. Kants Punkt ist hier »eine kritische Erinnerung« (ebd.), dass man nicht die Gegenstände der Sinne im Raum als transzendentalen Gegenstand annehmen soll.

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den TÄG macht. Das heißt, dass der transzendentale Realismus die empirischen äußerlichen Gegenstände (die jederzeit von unserer Sinnlichkeit abhängig sind) als die transzendentalen äußerlichen Gegenstände (die von unserer Sinnlichkeit unabhängig sind) versteht. Kant kritisiert nur diese Verwechslung. Die Behauptung vom trans­ zendentalen Realismus, dass es von uns unabhängige Gegenstände außer uns gebe, ist nach Kant eine Einbildung, durch die die sinnliche Vorstellung zur Sache gemacht wird (A 491/B 519)150. Mit dieser Analyse wurde verdeutlicht, dass der Streitpunkt ist, wie die Gegenstände der Sinne uns gegeben sind. Kant ist der Auffassung, dass die Gegenstände der Sinne uns im empirischen Sinne gegeben sind. Daher erfahren wir sie als »Erscheinungen«. Dagegen nimmt der transzendentale Realismus die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinne an. Das hieße, sie seien unabhängig von uns gegeben. An diesem Punkt kritisiert Kant, dass er die Gegen­ stände der Sinne im transzendentalen Sinne annehme und damit die »Erscheinungen« als »Dinge an sich« betrachte. b.) Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn und der transzendentale Verstandesgebrauch In diesem Abschnitt ist die These zu begründen, dass die Gegen­ stände der Sinne im transzendentalen Sinn zu nehmen, die Aktion des transzendentalen Verstandesgebrauchs ist. Dazu wird die Stelle in der KrV, in der Kant sich mit dem transzendentalen Realismus und empirischen Idealismus151 auseinandersetzt, analysiert, um zu zeigen, was Kant zum Thema der Existenz ausführt. Anschließend wird mit Blick auf das Thema »Existenz« bei Kant erklärt, was der empirische Verstandesgebrauch hinsichtlich der Existenz ist. Dadurch wird der Unterschied zwischen dem empirischen Verstandesgebrauch und der Behauptung, dass die Gegenstände der Sinne im transzenden­ talen Sinn existieren, verdeutlicht. Dann werde ich zeigen, wie diese Behauptung (Gegenstände der Sinne existieren im transzendentalen Sinn) mit den zwei Merkmalen des transzendentalen Verstandesge­ 150 In diesem Sinn spricht Kant vom einem »träumenden Idealismus«. Man mache bloße Vorstellungen zu Sachen (vgl. AA04: 293). 151 Hinsichtlich der Beziehung zwischen dem transzendentalen Realismus und empi­ rischen Idealismus ist Kant der Auffassung, dass der transzendentale Realist »nachher den empirischen Idealisten spielt« (A 369).

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brauchs übereinstimmt. Damit wird auch verdeutlicht, was Kant mit dem Begriff »transzendentaler Gegenstand/transzendentales Objekt« meint und wie sich Kants Position an diesem Punkt von der Position des transzendentalen Realismus unterscheidet. Die zwei Textstücke (der vierte Paralogismus und Widerlegung des Idealismus) in den beiden Auflagen der KrV, in denen Kant über die Existenzart der Dinge spricht, beziehen sich auf die vierte Klasse in der Tafel der Kategorien: »Dasein – Nichtsein«152 in der Modalität153. Das ist kein Zufall. Es zeigt sich, dass Kant die Existenzart-Fragestel­ lung, wie etwas Äußerliches existiert, unter die vierte Klasse der Kategorien subsumiert. Die Kategorien bzw. die Verstandesbegriffe haben zwei Arten des Gebrauchs: den transzendentalen und empi­ rischen Verstandesgebrauch. Kant betont, dass nur der empirische Verstandesgebrauch richtig ist. Kant führt den empirischen Verstan­ desgebrauch von »Dasein-Nichtsein« im Abschnitt ›Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt‹ aus: »Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich« (A 218/B 266). Der grundlegende Gedanke der Postulate des empirischen Denkens überhaupt liege darin, dass die Kategorien der Modalität (Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit) nicht den Begriff bzw. die Bestimmung des Objekts erweitern. Die Modalität diene nur dazu, das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen auszudrü­ cken (vgl. A 219/B 266). Man kann diesen Gedanken durch Kants Taler-Beispiel illustrieren: »Hundert wirkliche Thaler enthalten nicht das Mindeste mehr, als hundert mögliche.« (A 599/B 627). Der Begriff »hundert Thaler« wird nicht dadurch erweitert oder vermin­ dert, dass diese Taler wirklich oder nur möglich ist, also ob sie gegeben oder bloß gedacht sind, denn ansonsten wäre der Begriff »hundert Thaler« nicht der angemessene Begriff aus der Perspektive Kant thematisiert »Dasein-Nichtsein« im Grundsätze-Kapitel mit dem Begriff »wirklich« oder »Wirklichkeit« und im Gottesbeweis-Kapitel häufig mit dem Begriff »Existenz«. Eine ausgeführte Differenz zwischen den drei Begriffen scheint es bei Kant nicht zu geben. 153 In der Abteilung der Topik der rationalen Seelenlehre, die dem Leitfaden der Kategorien folgt, spricht Kant in der Fußnote unter dem vierten Paralogismus »im Verhältnisse zu möglichen Gegenständen im Raume«, dass der vierte Paralogismus zu den Kategorien der Existenz gehört (vgl. A 345/B 402f,Anm.). In der zweiten Auflage der KrV spricht Kant nach der Erläuterung des Postulats der Wirklichkeit (in Bezug auf Dasein und Nichtsein) davon, dass dieses die richtige Stelle sei, den Idealismus zu widerlegen (vgl. B 274). 152

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der Bestimmungen für »hundert wirkliche Thaler« und »hundert mögliche Thaler«. Aber »in meinem Vermögenszustande« (ebd.) sind hundert wirkliche Taler mehr als hundert mögliche Taler. Denn der Begriff »hundert Thaler« ist in diesem Fall (in Bezug auf die Wirklichkeit) nicht nur gedacht, sondern auch durch die Empfindung gegeben154. Das heißt, dass diese hundert wirklichen Taler mit den materialen Bedingungen der Erfahrung zusammenhängen und die hundert möglichen Taler nicht. Im Erläuterungstext zu den Postulaten des empirischen Denkens erklärt Kant die Wirklichkeit bzw. die Existenz: [1] Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man sich bewußt ist. […] [2] In dem bloßen Begriffe eines Dinges kann gar kein Charakter seines Daseins angetroffen werden. [3] Denn ob derselbe gleich noch so vollständig sei, daß nicht das mindeste ermangele, um ein Ding mit allen seinen innern Bestimmungen zu denken, so hat das Dasein mit allem diesem doch gar nichts zu thun, sondern nur mit der Frage: ob ein solches Ding uns gegeben sei, so daß die Wahrnehmung desselben vor dem Begriffe allenfalls vorhergehen könne. [4] Denn daß der Begriff vor der Wahrnehmung vorhergeht, bedeutet dessen bloße Möglichkeit; die Wahrnehmung aber, die den Stoff zum Begriff hergiebt, ist der einzige Charakter der Wirklichkeit. (A 225/B 272f; Ergänzungen durch den Verfasser)

Im ersten Satz [1] betont Kant wieder, wie ich durch das Taler-Beispiel verdeutlicht habe, dass die Wirklichkeit (bzw. die Existenz und das Dasein) der Dinge Wahrnehmung bzw. Empfindung fordert, damit man diese Dinge im Zusammenhang möglicher Erfahrung darlegen kann. Der zweite Satz [2] besagt, dass man durch einen bloßen Begriff eines Dinges diesem Ding nicht sein Dasein ansehen könne, weil Dasein keine Bestimmung dieses Dinges ist, die durch den Begriff ausgedrückt werden kann. Im dritten Satz [3] führt Kant weiter aus, dass das Dasein eines Dinges gar nicht mit seinen inne­ ren Bestimmungen zu tun hat, sondern nur damit, »ob ein solches Ding uns gegeben sei«. Diese Gegebenheit ist laut Kant nur in der Wahrnehmung eines Dinges, nicht im bloßen Begriff eines Dinges zu finden. Daher findet man den Maßstab, um etwas als Wirkliches Vgl. Refl. 6382: »Durch Existenz wird kein praedicat zum Dinge hinzu gesetzt, sondern das Ding mit allen seinen Prädicaten außer dem Begriffe (zur Anschauung) hinzu gesetzt.« (Das Wort »hinzu« ist von Kant durchgestrichen worden.). 154

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zu beurteilen, nur in der Wahrnehmung und nicht im bloßen Begriff. Im Satz [4] hebt Kant hervor, dass die Wahrnehmung der einzige Charakter der Wirklichkeit ist. Nach dieser Erklärung der Wirklichkeit (bzw. des Daseins und der Existenz) bei Kant unter dem empirischen Verstandesgebrauch kehre ich nun zum Thema »Gegenstände der Sinne als Dinge an sich auszugeben« zurück. Im letzten Abschnitt (a.)) habe ich dargelegt, dass die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben bedeutet, dass die Gegenstände der Sinne als etwas von uns (mithin von unserer Sinnlichkeit) unabhängig Existierendes angenommen werden. Dies ist eigentlich ein Existenzurteil durch den bloßen Begriff und nicht durch die Wahrnehmung. Das heißt, was man wahrnimmt, sind die im empirischen Sinn gegebenen Gegenstände der Sinne. Man kann auch vor der Wahrnehmung eines Dinges sein Dasein erkennen, solange dieses Ding in der Reihe möglicher Erfahrung steht, d. i. nach den Grundsätzen der empirischen Verknüpfung (den Analogien der Erfahrung) (vgl. A 225/B 273). Aber man hat im vorigen Exis­ tenzurteil extra dieses empirisch Gegebene (mithin diese empirische Verknüpfung möglicher Erfahrung) als ein unabhängig Existierendes gedacht, als ob dieses Gegebene auch ohne die Sinnlichkeit gegeben wäre. Dieses Extra-Gedachte und das daraus getätigte Urteil, dass die Gegenstände der Sinne von unserer Sinnlichkeit unabhängig existieren, charakterisiert den transzendentalen Verstandesgebrauch. Dabei bildet man sich jedoch ein Gegebenes ein, das nicht durch die Sinnlichkeit gegeben ist. In jenem Fall ist dieses Gegebene bloß begrifflich eingebildet. Die Gegenstände der Sinne als das von der Sinnlichkeit unabhängig Existierende zu begreifen, ist dann ein bloßer Begriff, bei dem man das Dasein der Gegenstände der Sinne nicht finden kann. Man kann diese Erläuterung auch durch die zwei Merkmale des transzendentalen Verstandesgebrauch nachvollziehen.155 Nimmt man das sinnliche Gegebene als das von der Sinnlichkeit unabhän­ gig Existierende, abstrahiert man von aller sinnlichen Bedingungen dieser Gegebenheit. Denn man sieht in diesem Fall von den sinn­ Die zwei Merkmale des transzendentalen Verstandesgebrauch habe ich in 2.1. dieses Kapitels thematisiert. Das erste Merkmal des transzendentalen Verstandes­ gebrauchs ist, dass von allen sinnlichen Bedingungen abstrahiert wird, wenn mit dem transzendentalen Verstandesgebrauch die Gegenstände der Sinne angenommen werden. Das zweite Merkmal ist, dass man die logische Bestimmung des Denkens für die objektive Bestimmung der Dinge hält. 155

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2. Gegenstände der Sinne als D.a.s. als Resultat des Verstandesgebrauchs

lichen Bedingungen (Raum, Zeit und Wahrnehmung) im sinnlich Gegebenen ab, um das sinnlich Gegebene als unabhängig von den sinnlichen Bedingungen zu denken. Diese Abstraktion bezieht sich auf das erste Merkmal des transzendentalen Verstandesgebrauchs. Daraus folgt das zweite Merkmal, dass man im transzendentalen Verstandesgebrauch die logische Bestimmung des Denkens für die objektive Bestimmung der Dinge hält. Durch die Abstrahierung (das erste Merkmal) bildet man sich einen Gedanken ein, dass das sinnlich Gegebene auch ohne die Sinnlichkeit existiert. Dieser Gedanke wird verdinglicht, wenn man das von der Sinnlichkeit unabhängig Existie­ rende für einen objektiven ›Zustand‹ dieses sinnlich Gegebenen hält. Diese Verdinglichung ist von dem zweiten Merkmal des transzenden­ talen Verstandesgebrauchs geprägt. Man kann durch dieses Merkmal die Position Kants und die Posi­ tion des transzendentalen Realismus in Bezug auf die Annahme des transzendentalen Gegenstandes (oder des transzendentalen Objekts) unterscheiden. Kant nimmt den Begriff des transzendentalen Gegen­ standes in seiner logischen Möglichkeit. Der transzendentale Realis­ mus nimmt diesen Begriff in seiner realen Möglichkeit. Dies ist laut Kant eine Aktion des transzendentalen Verstandesgebrauchs. Dazu soll eine Stelle aus dem sechsten Abschnitt (»Der transscendentale Idealism als der Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialek­ tik«) der Antinomie zitiert werden: [1] Die nichtsinnliche Ursache dieser Vorstellungen ist uns gänzlich unbekannt, und diese können wir daher nicht als Object anschauen; denn dergleichen Gegenstand würde weder im Raume, noch der Zeit (als bloßen Bedingungen der sinnlichen Vorstellung) vorgestellt wer­ den müssen, ohne welche Bedingungen wir uns gar keine Anschau­ ung denken können. [2] Indessen können wir die bloß intelligibele Ursache der Erscheinungen überhaupt das transscendentale Object nennen, bloß damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Receptivität correspondirt. [3] Diesem transscendentalen Object kön­ nen wir allen Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahr­ nehmungen zuschreiben und sagen: daß es vor aller Erfahrung an sich selbst gegeben sei. [4] Die Erscheinungen aber sind ihm gemäß nicht an sich, sondern nur in dieser Erfahrung gegeben, weil sie bloße Vorstellungen sind, die nur als Wahrnehmungen einen wirklichen Gegenstand bedeuten, wenn nämlich diese Wahrnehmung mit allen andern nach den Regeln der Erfahrungseinheit zusammenhängt. [5] So kann man sagen: die wirklichen Dinge der vergangenen Zeit sind in dem transscendentalen Gegenstande der Erfahrung gegeben; […]

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

[6] Wenn ich mir demnach alle existirende Gegenstände der Sinne in aller Zeit und allen Räumen insgesammt vorstelle: so setze ich solche nicht vor der Erfahrung in beide hinein, sondern diese Vorstellung ist nichts andres, als der Gedanke von einer möglichen Erfahrung in ihrer absoluten Vollständigkeit. (A 494f/B 522f; Ergänzungen durch den Verfasser)

In diesem Zitat werden vier unterschiedliche Formulierungen von Kant benutzt, um den Gedanken des transzendentalen Gegenstands bzw. der Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinne auszudrü­ cken: »die nichtsinnliche Ursache dieser Vorstellungen« im ersten Satz [1], »die bloß intelligibele Ursache der Erscheinungen« sowie »das transscendentale Object« im zweiten Satz [2] und »de[r] transs­ cendentale[] Gegenstande der Erfahrung« im fünften Satz [5]. Damit wird kein von der Sinnlichkeit unabhängig Existierendes als verding­ licht angenommen, sondern nur der Gedanke ausgedrückt, dass man einen Begriff für das unabhängig Existierende haben kann.156 Diesen Begriff für logisch möglich und denselben für real möglich zu halten, unterscheidet Kants Position von der Position, in der das unabhängig Existierende für wirklich gehalten wird. In den Sätzen [3] und [4] zeigt Kant seine Auffassung klar: Man kann dem transzenden­ talen Objekt allen Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen zuschreiben und sagen, dass es vor aller Erfahrung an sich selbst gegeben sei. Aber die Erscheinungen sind ihm gemäß nicht an sich gegeben, sondern nur in der Erfahrung. Das heißt, dass dieses transzendentale Objekt gar kein Objekt ist, sondern ein Gedanke von der Vollständigkeit aller möglichen Objekte. In diesem Fall stellt man sich vor, dass alle möglichen Objekte schon vor der Erfahrung gegeben sind. Dieses »vor der Erfahrung gegeben« bezieht sich auf das von der Sinnlichkeit unabhängig Existierende. Denn hier wird eine Erfahrung vor dem Erfahren gedacht, indem man von den sinnlichen Bedingungen abstrahiert. Die Erscheinungen, die für uns die wirklichen Objekte sind, können nur durch die Erfahrung und in ihrem Zusammenhang (nicht vor dem Zusammenhang der Erfahrung) gegeben werden. Im sechsten Satz [6] schreibt Kant, dass die Vorstellung, in der alle existierenden Gegenstände der Sinne in Zeit und Raum gegeben werden, nur ein Gedanke sei. Dieser Gedanke Die Stelle A 251f ist auch so zu verstehen: Das Wort »Erscheinung« bezieht sich auf ein etwas. Dieses Etwas ist kein Gegebenes, sondern nur »das Denken von Etwas überhaupt bedeutet, bei welchem ich von aller Form der sinnlichen Anschauung abstrahire« (A 251f). 156

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2. Gegenstände der Sinne als D.a.s. als Resultat des Verstandesgebrauchs

bezieht sich auf eine mögliche Erfahrung in ihrer absoluten Vollstän­ digkeit. Zusammenfassung: Kant verneint nicht den Gedanken, dass das Existierende vor der Erfahrung gegeben und dadurch von der Sinnlichkeit unabhängig ist. Dieser Gedanke ist logisch möglich. Kant kritisiert und lehnt es jedoch ab, diesen Gedanken für real möglich zu halten. Die problematische Verwechslung der logischen Möglichkeit eines Gedankens mit der realen Möglichkeit der Dinge entspringt dem transzendentalen Verstandesgebrauch. Dadurch werden »gemeine Vorurtheile« (A 740/B 768) verursacht, dass die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn angenommen werden. Das heißt, dass die Gegenstände der Sinne als etwas Unabhängiges von der Sinnlichkeit angenommen werden. In diesem Sinne werden die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« ausgegeben. Fazit des Unterabschnitts 2.3: Die Bestimmungsart (in 2.3.1 themati­ siert) bezieht sich auf die Frage, was man wie an den Gegenständen der Sinne erkennt. Die Existenzart (in 2.3.2 thematisiert) bezieht sich auf die Frage, wie die äußerlichen Gegenstände der Sinne existieren. Kant versucht m. E. zu zeigen, dass die beiden Fragestellungen durch den Gebrauch der Kategorien (Verstandesgebrauch) rekonstruiert werden können: Die Frage nach der Bestimmungsart bezieht sich auf die ersten drei Kategorien (Quantität, Qualität und Relation). Die Frage nach der Existenzart bezieht sich spezifisch auf die vierte Klasse der Kategorien (Modalität). Die Antworten auf die beiden Fragen von dem Rationalismus und dem transzendentalen Realismus beruhen auf dem transzendentalen Verstandesgebrauch, den Kant für problematisch hält. Der Empirismus und der empirische Idealis­ mus als Gegenpositionen zu Rationalismus und transzendentalem Realismus benutzen eigentlich auch den transzendentalen Verstan­ desgebrauch. Die Gegenstände der Sinne werden durch den transzen­ dentalen Verstandesgebrauch als »Dinge an sich« ausgegeben. Daher kritisiert Kant an den vier Positionen (Rationalismus/Empirismus und transzendentaler Realismus/empirischer Idealismus), dass sie die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« ausgeben.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

3. Die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« ist das Resultat des empirischen Verstandesgebrauchs In diesem Unterkapitel wird aufgezeigt, dass die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« das Resultat des empi­ rischen Verstandesgebrauchs ist. Dieses Thema wurde eigentlich im letzten Abschnitt 2. als Gegenposition der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« ausgeführt. In diesem Abschnitt werde ich zuerst in Unterabschnitt 3.1 die zwei Merkmale des empirischen Verstandesge­ brauchs darstellen. Weiter werden darin auch die Bedingungen, unter denen synthetische Urteile a priori möglich sind, verdeutlicht. In den Unterabschnitten 3.2 und 3.3 werden der empirische Verstandesge­ brauch in der transzendentalen Ästhetik und in der transzendentalen Analytik thematisiert.

3.1 Zwei Merkmale des empirischen Verstandesgebrauchs und die Möglichkeit des synthetischen Urteils a priori In diesem Unterabschnitt versuche ich zuerst zu zeigen, welches die zwei Merkmale des empirischen Verstandesgebrauchs sind. Anschlie­ ßend zeige ich, welches die Bedingungen sind, durch die ein syn­ thetisches Urteil a priori möglich wird. Es soll aufgezeigt werden, dass die Merkmale des empirischen Verstandesgebrauchs und die Bedingungen des synthetischen Urteils a priori übereinstimmen. Zu den zwei Merkmalen des empirischen Verstandesgebrauchs: Hierzu soll zunächst eine Stelle aus dem Kapitel »Phaenomena und Noumena« zitiert werden, in der Kant die Merkmale des empirischen Verstandesgebrauchs erläutert. [1] Daß aber überall nur der letztere [der empirische Verstandesge­ brauch] stattfinden könne, ersieht man daraus. Zu jedem Begriff wird erstlich die logische Form eines Begriffs (des Denkens) überhaupt und dann zweitens auch die Möglichkeit, ihm einen Gegenstand zu geben, darauf er sich beziehe, erfordert. Ohne diesen letztern hat er keinen Sinn und ist völlig leer an Inhalt, ob er gleich noch immer die logische Function enthalten mag, aus etwanigen datis einen Begriff zu machen. [2] Nun kann der Gegenstand einem Begriffe nicht anders gegeben werden, als in der Anschauung, und wenn eine reine Anschauung noch vor dem Gegenstande a priori möglich ist, so kann doch auch

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diese selbst ihren Gegenstand, mithin die objective Gültigkeit nur durch die empirische Anschauung bekommen, wovon sie die bloße Form ist. [3] Also beziehen sich alle Begriffe und mit ihnen alle Grundsätze, so sehr sie auch a priori möglich sein mögen, dennoch auf empirische Anschauungen, d. i. auf data zur möglichen Erfahrung. Ohne dieses haben sie gar keine objective Gültigkeit, sondern sind ein bloßes Spiel, es sei der Einbildungskraft oder des Verstandes, respective mit ihren Vorstellungen. […] (A 239f/B 298f; Hervorhebung von dem Verfasser)

Vor dem Satz [1] spricht Kant von zwei Arten des Gebrauchs eines Begriffs: transzendental und empirisch. Dann folgert Kant im Satz [1], dass überall nur »der letztere«, der empirische Gebrauch, statt­ finden kann. Das liegt daran, dass zu jedem Gebrauch des Begriffs zwei Bedingungen erfordert werden. Eine Bedingung ist »die logi­ sche Form eines Begriffs (des Denkens) überhaupt«, und die andere Bedingung ist die Gegebenheit eines Gegenstands, auf den sich der Begriff bezieht. Die erste Bedingung des empirischen Verstandesgebrauchs, »die logische Form eines Begriffs (des Denkens)«, stimmt mit der Bedin­ gung des transzendentalen Verstandesgebrauchs überein. Ohne diese Bedingung würden die beiden Arten des Verstandesgebrauchs nicht möglich sein. Was dem transzendentalen Verstandesgebrauch fehlt, ist die zweite Bedingung des empirischen Verstandesgebrauchs. Im ersten Satz [1] stellt Kant dar, dass ein Begriff ohne Anschauung nur eine logische Funktion hat und völlig inhaltsleer ist. In demselben Satz betont Kant die zweite Bedingung des empirischen Verstandes­ gebrauchs, dass immer die Anschauung beim Gebrauch der Verstan­ desbegriffe nötig sei. Im zweiten Satz [2] behauptet Kant, dass es nur eine Art der Gegebenheit gibt, nämlich die der Anschauung. Die Anschauung hat zwei Teile. Ein Teil ist die Form der Anschauung (Raum und Zeit), die vor dem Gegenstande a priori möglich ist. Der andere Teil ist die empirische Anschauung, die nur a posteriori möglich ist. Die objektive Gültigkeit eines Verstandesbegriffs kann laut Kant nur durch die empirische Anschauung bestätigt werden. Im Rekurs auf die transzendentale Ästhetik bezieht sich die Form der Anschauung auf die Form der Erscheinung und die empirische Anschauung auf die Materie der Erscheinung (vgl. A 20/B 34). Kant betont seine Hauptthese in diesem Abschnitt in Satz [3]. Alle Begriffe a priori und mit ihnen alle Grundsätze a priori müssen sich auf die empirische

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

Anschauung beziehen, da sie ansonsten ihre objektive Gültigkeit verlören. Die Begriffe a priori wären in dem Fall »ein bloßes Spiel« durch den Verstand. In der Auseinandersetzung mit dem transzen­ dentalen Verstandesgebrauch wird es klar, dass Kant hier von einem bloßen Gebrauch der Verstandesbegriffe spricht, der nicht auf die Anschauung bezogen ist und sich nur auf die logische Bestimmung des Denkens bezieht. Daher ist klar, dass der empirische Verstandesgebrauch zwei Merkmale hat. Das erste Merkmal ist, dass zwei Bedingungen und zwar Anschauung a priori und Begriffe a priori vorhanden sein müssen. Zweitens haben die Verstandesbegriffe nur durch die Kombination zweier Bedingungen im Gebrauch ihre objektive Gül­ tigkeit. Wenn man diese Merkmale mit den beiden Merkmalen157 des transzendentalen Verstandesgebrauchs vergleicht, wird deutlich, dass die beiden Arten des Verstandesgebrauchs von Kant gegenüber­ gestellt werden. Nun kann man fragen, was der empirische Verstandesgebrauch mit der Möglichkeit des synthetischen Urteils a priori zu tun hat. Das menschliche Erkennen ist laut Kant jederzeit diskursiv (vgl. A 68/B 93). Das bedeutet, dass man nur durch Urteile etwas erkennen kann. Synthetische Urteile a priori seien laut Kant die Urteile, durch die die Erkenntnis a priori erweitert werden kann. Genauer gesagt bezieht sich ein synthetisches Urteil a priori auf einen Erkenntnisanspruch, der beinhaltet, dass man unabhängig von der Erfahrung die Erkennt­ nis erweitert. Die Frage nach der Möglichkeit des synthetischen Urteils a priori ist eigentlich auch die Frage nach der Möglichkeit der apriorischen Erweiterung des menschlichen Erkennens. In diesem Sinn spricht Kant davon, dass die Bestimmung der Möglichkeit des synthetischen Urteils a priori eine »allgemeine Auf­ gabe der reinen Vernunft« (B 19) ist. Diese Möglichkeit soll in den beiden Teilen der Metaphysik (bzw. im sinnlichen und übersinnli­ chen Feld) überprüft werden. Laut dem zweiten Teil der Metaphysik sind synthetische Sätze a priori unmöglich, weil die Bedingung der Anschauung a priori fehlt, sodass keine synthetischen Sätze a priori 157 Das erste Merkmal des transzendentalen Verstandesgebrauchs ist, dass man von allen sinnlichen Bedingungen der Dinge abstrahiert. Das zweite Merkmal desselben ist, dass man die logische Bedeutung des Denkens für die objektive Bestimmung der Dinge hält. Vgl. Abschnitt 2.1 in diesem Kapitel.

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3. Die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«

bei den übersinnlichen ›Gegenständen‹ verfügbar sind158. Kant fol­ gert, dass es »über das Feld möglicher Erfahrung hinaus aber […] überall keine synthetische Grundsätze a priori geben könne« (A 248/B 304f). Synthetische Urteile a priori sind nur laut dem ersten Teil der Metaphysik möglich bzw. im sinnlichen Feld, denn die Bedingungen dieser Urteile sind nur innerhalb der möglichen Erfahrung zu erfüllen. Am Ende der transzendentalen Ästhetik schreibt Kant, dass die reine Anschauung a priori das erste Stück zur Auflösung der Frage, wie synthetische Sätze a priori möglich seien, ist (vgl. B 73). Das andere Stück sind die Begriffe a priori, die aus dem Verstand stammen. Ohne Begriffe a priori würde keine Erkenntnis, sondern nur eine »Rhapsodie von Wahrnehmungen« (A 156/B 195) gegeben sein. Das heißt, dass Wahrnehmungen ohne die Begriffe a priori nicht nach Regeln eines durchgängig verknüpften Bewusstseins bestimmt werden können (vgl. ebd.). Schließlich beantwortet Kant die Frage, wie synthetische Sätze a priori möglich seien (in Bezug auf die theo­ retische Erkenntnis), am Ende des Abschnittes »Von dem obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile«: Auf solche Weise sind synthetische Urtheile a priori möglich, wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthe­ sis der Einbildungskraft und die nothwendige Einheit derselben in einer transscendentalen Apperception, auf ein mögliches Erfahrungs­ erkenntniß überhaupt beziehen und sagen: die Bedingungen der Mög­ lichkeit der Erfahrung sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung und haben darum objective Gültigkeit in einem synthetischen Urtheile a priori. (A 158/B 197)

Das jetzige Thema ist die Suche nach den Bedingungen der Mög­ lichkeit synthetischer Sätze a priori. Vereinfachend lässt sich die Formulierung der »Synthesis der Einbildungskraft und die nothwen­ dige Einheit derselben in einer transscendentalen Apperception« auf den Verstand beziehen159. Nun gibt es zwei Bedingungen dafür, die synthetischen Sätze a priori zu ermöglichen. Eine Bedingung 158 Den Punkt, wie die Idealität des Raums und der Zeit die Denkmöglichkeit der übersinnlichen ›Dinge‹ im übersinnlichen Feld zulässt, habe ich im zweiten Kapitel unter »C. Die Rolle der Sinnlichkeit beim Erkenntnisgewinn« diskutiert. 159 Vgl. B 137. Dort spricht Kant von der synthetischen Einheit der Apperzeption als die Voraussetzung des Verstandesgebrauches: »Das erste reine Verstandeserkenntniß also, worauf sein ganzer übriger Gebrauch sich gründet, welches auch zugleich von allen Bedingungen der sinnlichen Anschauung ganz unabhängig ist, ist nun der

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

bezieht sich auf die Begriffe a priori und die Anschauung a priori. Die andere Bedingung besteht in der durch die Begriffe und Anschauung geschaffenen objektiven Gültigkeit der Verstandesbegriffe. Dies stimmt mit den zwei Merkmalen des empirischen Verstandesgebrau­ ches überein. Diese Übereinstimmung ist nicht zufällig. Wie bereits erwähnt, bezeichnet der empirische Verstandesgebrauch die Fähigkeit des menschlichen Erkennens. Dies geschieht in Bezug auf die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori.

3.2 Empirischer Verstandesgebrauch in der transzendentalen Ästhetik Die transzendentale Ästhetik wird von Kant als »[e]ine Wissenschaft von allen Principien der Sinnlichkeit a priori« (A 21/B 36) bezeichnet. Darin wird zuerst die Sinnlichkeit vom Verstand (bzw. von dem Denken) und danach von der Empfindung losgelöst. Daher beschäftigt Kant sich in der transzendentalen Ästhetik nur mit »zwei reine[n] Formen sinnlicher Anschauung als Principien der Erkenntniß a priori« (A 22/B 36). Wie bereits erwähnt, bilden diese zwei reinen Formen sinnlicher Anschauung einen Teil des ersten Merkmals des empiri­ schen Verstandesgebrauchs. Im Folgenden160 werde ich auf die Frage eingehen, was Raum und Zeit als Prinzipien der Erkenntnis a priori zum empirischen Verstandesgebrauch beitragen. Aus der metaphysischen und transzendentalen Erörterung über den Raum und die Zeit161 folgert Kant, dass der Raum und die Zeit keine objektiven Bestimmungen der Dinge sind, sondern nur die Anschauungsformen der äußeren und inneren Sinne (vgl. B 42; B 50). Grundsatz der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperception.« Über die Rolle der Einbildungskraft im Erkennen: »es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen« (A 120). Aber das Vermögen, das benötigt wird, um diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, wodurch Erkenntnis geschaffen wird, ist der Verstand (vgl. A 78f/B 103f). Den Zusammenhang zwischen dem empirischen Verstandesgebrauch und der transzendentalen Analytik werde ich im folgenden Abschnitt 3.3 diskutieren. 160 Der Raum und die Zeit bzw. die Sinnlichkeit wurden bereits im zweiten Kapitel mit Kants Metaphysikkritik thematisiert. Hier führe ich nicht eine allgemeine Darstellung aus, sondern zeige nur den Zusammenhang der Sinnlichkeit mit dem empirischen Ver­ standesgebrauch. 161 Die metaphysische und transzendentale Erörterung des Raums und der Zeit sind Zusätze der zweiten Auflage der KrV. In diesem Unterabschnitt wird hauptsächlich die zweite Auflage zitiert.

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3. Die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«

Wenn ich a priori sagen kann: alle äußere Erscheinungen sind im Raume und nach den Verhältnissen des Raumes a priori bestimmt, so kann ich aus dem Princip des innern Sinnes ganz allgemein sagen: alle Erscheinungen überhaupt, d. i. alle Gegenstände der Sinne, sind in der Zeit und stehen nothwendiger Weise in Verhältnissen der Zeit. (A 34/B 51)

Der Raum und die Zeit als subjektive Bedingungen a priori bestim­ men die Gegenstände der Sinne als Erscheinungen. Diese ›Umände­ rung‹, dass der Raum und die Zeit nicht als objektive Bestimmungen der Dinge, sondern nur als die subjektiven Formen unserer Anschau­ ung gelten, um die Gegenstände der Sinne zu bestimmen, ist bedeu­ tungsvoll für das Verständnis des empirischen Verstandesgebrauchs. Man kann hier zwei Auswirkungen anführen. Die erste Auswirkung ist, dass Kant durch diese ›Umänderung‹ den Erkenntnisanspruch auf die raumzeitliche Grenze beschränkt. Die zweite Auswirkung ist, dass die Beschaffenheit der Objekte von der Anschauungsart des Subjekts abhängig ist, wodurch dieses Objekt als »Erscheinung« von demselben Objekt als »Ding an sich« differenziert wird. Zur ersten Auswirkung: Der Raum und die Zeit als subjektive Formen der Sinnlichkeit bestimmen nicht nur alles, was durch die Sinnlichkeit gegeben ist, sondern begrenzen auch den Umfang der möglichen Erkenntnis a priori. Man kann laut Kant nicht sagen, dass diese besonderen Bedingungen der Sinnlichkeit auch die Bedingun­ gen der Möglichkeit der Dinge seien (vgl. B 43). Man kann nur »aus dem Standpunkte eines Menschen« (B 42) seinen Erkenntnis­ anspruch rechtfertigen. Dies kann man durch die folgenden Zitate erklären. Über die Beziehung zwischen dem Raum und ›Dinge‹ schreibt Kant: Wenn wir die Einschränkung eines Urtheils zum Begriff des Subjects hinzufügen, so gilt das Urtheil alsdann unbedingt. Der Satz: Alle Dinge sind neben einander im Raum, gilt unter der Einschränkung, wenn diese Dinge als Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung genommen werden. Füge ich hier die Bedingung zum Begriffe und sage: Alle Dinge als äußere Erscheinungen sind neben einander im Raum, so gilt diese Regel allgemein und ohne Einschränkung. (B 43)

Über die Beziehung zwischen der Zeit und den ›Dingen‹ schreibt Kant: Wir können nicht sagen: alle Dinge sind in der Zeit, weil bei dem Begriff der Dinge überhaupt von aller Art der Anschauung derselben abstrahirt wird, dieser aber die eigentliche Bedingung ist, unter der die Zeit in

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

die Vorstellung der Gegenstände gehört. Wird nun die Bedingung zum Begriffe hinzugefügt, und es heißt: alle Dinge als Erscheinungen (Gegenstände der sinnlichen Anschauung) sind in der Zeit, so hat der Grundsatz seine gute objective Richtigkeit und Allgemeinheit a priori. (B 51)

In den beiden Zitaten werden »alle Dinge« durch die Bedingungen eingeschränkt. Diese Bedingungen sind Raum und Zeit als subjektive Formen der Sinnlichkeit. Dadurch werden alle Dinge, die unter diesen Bedingungen stehen, als »Gegenstände der sinnlichen Anschauung« bzw. Erscheinungen verstanden. Damit werden dieselben Gegen­ stände als sinnlich zugänglich bezeichnet. Gleichzeitig werden alle Dinge, die nicht unter den Bedingungen des Raums und der Zeit stehen, als nicht sinnlich zugänglich bezeichnet. Wie bereits erwähnt, darf der Begriff »Ding« oder »Dinge überhaupt« bei Kant nicht als verdinglicht angenommen werden. Vielmehr bezeichnet dieser Begriff eine begriffliche Bildung des Dinges. Das heißt dann nicht, dass die nicht sinnlich zugänglichen Dinge objektiv sind, sondern nur, dass sie nicht angeschaut werden können. Von dem Standpunkt des Menschen aus seien Raum und Zeit für solche Dinge ›nichts‹. Das heißt, dass wir keinen theoretischen Erkenntniszugang zu solchen ›Dingen‹ haben. Der Erkenntnisanspruch des Menschen kann nur für die Gegenstände der Sinne gelten (vgl. B 73). Diesen Punkt hat Kant durch seine Doppelthese über den Raum und die Zeit erklärt. Die Doppelthese lautet, dass der Raum und die Zeit die transzendentale Idealität und die empirische Realität haben. zugleich die Idealität des Raums in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden, d. i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen. Wir behaupten also die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller möglichen äußeren Erfahrung), obzwar die transscendentale Idealität desselben, d. i. daß er Nichts sei, so bald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen. (A27f/B43f) Dagegen bestreiten wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität, da sie nämlich, auch ohne auf die Form unserer sinnlichen Anschauung Rücksicht zu nehmen, schlechthin den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft anhinge. Solche Eigenschaften, die den Dingen an sich zukommen, können uns durch die Sinne auch niemals gegeben werden. Hierin besteht also die transscendentale Idealität der Zeit, nach wel­ cher sie, wenn man von den subjectiven Bedingungen der sinnlichen

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3. Die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«

Anschauung abstrahirt, gar nichts ist und den Gegenständen an sich selbst (ohne ihr Verhältniß auf unsere Anschauung) weder subsistirend noch inhärirend beigezählt werden kann. (A 35f/B 52f)

Die transzendentale Idealität des Raumes und der Zeit bezieht sich auf die subjektive Bedingung derselben. Dies macht selbst eine Grenze aus, denn der Raum und die Zeit sind nur die subjektiven Bedingun­ gen. Sie sind für Dinge, die »durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden«, nichts. Welche Dinge sind durch die Vernunft an sich selbst erwogen? Solche ›Dinge‹ sind die Vernunftideen. Daher schafft Kant durch die transzendentale Idealität des Raums und der Zeit einen Platz für die Vernunftideen, in dem sie nicht versinnlicht werden dürfen. Die empirische Realität des Raumes und der Zeit bezieht sich auf die reale Möglichkeit der Gegenstände der Sinne. Dies ist nur im empirischen Sinne und nicht im transzendentalen Sinne zu verstehen. Man kann die reale Möglichkeit der Gegenstände der Sinne nur unter den subjektiven Bedingungen der Sinnlichkeit bestätigen. Die Gegen­ stände der Sinne im transzendentalen Sinne anzunehmen heißt, dass sie als etwas Sinnlich-Unabhängiges verstanden werden. Dabei wird von Raum und Zeit abstrahiert.162 Durch diese Doppelthese über den Raum und die Zeit wird der Umfang und die Grenze des empirischen Verstandesge­ brauchs bestimmt. Zur zweiten Auswirkung: Der Raum und die Zeit als subjektive Bedingungen der Sinnlichkeit bestimmen nicht nur den Umfang und die Grenze des Erkenntnisanspruchs, sondern auch die Art des Erkenntnisinhalts. Das heißt, dass die Beschaffenheit der Objekte (als Erscheinungen) von der Anschauungsart des Subjekts abhängig ist. Denn in der Erscheinung werden jederzeit die Objecte, ja selbst die Beschaffenheiten, die wir ihnen beilegen, als etwas wirklich Gegebenes angesehen, nur daß, so fern diese Beschaffenheit nur von der Anschau­ ungsart des Subjects in der Relation des gegebenen Gegenstandes zu ihm abhängt, dieser Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als Object an sich unterschieden wird. (B 69)

Die Gegenstände der Sinne sind durch die Sinnlichkeit gegeben. Darüber hinaus hängt die mögliche Erkenntnis über die Gegenstände 162 Dies wurde in 1.1.3.2 des vierten Kapitels unter dem Titel »Existenzart-These: die zweite Art, die Gegenstände der Sinne als Dinge an sich zu nehmen« ausführlich dis­ kutiert.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

der Sinne »von der Anschauungsart des Subjects« ab. Wie ist dies zu verstehen? Bei der Diskussion des Begriffspaars »Inneres/Äuße­ res« (vgl. Unterabschnitt 1.1.3.1 dieses Kapitels) wurde eine Stelle erwähnt, in der Kant davon spricht, »daß alles, was in unsere[r] Erkenntniß zur Anschauung gehört […] nichts als bloße Verhältnisse enthalte« (B 66). Diese Verhältnisse drehen sich um die jeweilige Beschaffenheit der Dinge, die vom Raum abhängig ist: »Örter in einer Anschauung (Ausdehnung), Veränderung der Örter (Bewegung) und Gesetze, nach denen diese Veränderung bestimmt wird (bewegende Kräfte)« (ebd.). Dagegen kennt man durch den Raum nicht »das Innere, was dem Objecte an sich zukommt« (ebd.). Das Innere der Dinge bezieht sich auf die vermeintliche ›Erkenntnis‹, die man durch das Denken allein bekommen will. Das Innere der Dinge zu erkennen ist für Kant »eine bloße Grille« (A 277/B 333). Denn dies ist von dem transzendentalen Verstandesgebrauch geprägt, der laut Kant eine problematische Anwendung der Verstandesbegriffe ist. Mit dieser Erklärung wird der letzte Satz des obigen Zitats so interpre­ tiert, dass die sinnlichen Gegenstände insofern als »Erscheinungen« angenommen werden, dass man den Erkenntnisanspruch mit ihrer Beschaffenheit im Raum und der Zeit verknüpft. Dagegen werden die sinnlichen Gegenstände als »Dinge an sich« angenommen, wenn man den Erkenntnisanspruch an ihre Beschaffenheit im Denken allein anknüpft. Die Ausführungen dieser beiden Auswirkungen können als das Gegenbild zum Unterabschnitt 2.3 dieses Kapitels gelten, in dem die Bestimmungsart und Existenzart in Bezug auf den transzenden­ talen Verstandesgebrauch thematisiert wurden. Dort wurde dargelegt, dass es zwei Arten gibt, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« unter den transzendentalen Verstandesgebrauch auszugeben. In diesen Ausführungen werden die Bestimmungsart und Existenzart unter der subjektiven Bedingung der Sinnlichkeit diskutiert. Diese Bedingung spielt die wichtigste Rolle im empirischen Verstandesge­ brauch. Die Gegenstände der Sinne werden unter dem empirischen Verstandesgebrauch als »Erscheinungen« bestimmt. Diese Bestim­ mung ist insofern möglich, wenn man den Raum und die Zeit als subjektive Bedingungen der Sinnlichkeit betrachtet. In Bezug auf die Bestimmungsart des empirischen Verstandesgebrauchs: Wir kennen die Beschaffenheit der Gegenstände der Sinne nur, wenn sie vom Raum und der Zeit abhängig sind. In Bezug auf die Existenzart des

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3. Die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«

empirischen Verstandesgebrauchs: Die Gegenstände der Sinne als Erscheinungen existieren nur in einem empirisch-realistischen Sinne.

3.3 Empirischer Verstandesgebrauch in der transzendentalen Analytik In diesem Unterabschnitt möchte ich durch eine Rekonstruktion zei­ gen, dass Kants Rechtfertigung des empirischen Verstandesgebrauchs hauptsächlich von § 22 bis zu § 27 in der B-Deduktion stattfindet. Dadurch wird auch die Beziehung zwischen dem empirischen Ver­ standesgebrauch und den Gegenständen der Sinne als »Erscheinun­ gen« gezeigt. Durch den empirischen Verstandesgebrauch werden die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« bestimmt. Die transzendentale Deduktion wird von Kant im juristischen Sinne dafür eingeführt, um die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs der Begriffe aufzuzeigen (vgl. A 84f/B 116f). Dieser Gebrauch wird von Kant als reiner Gebrauch a priori bezeichnet. Das heißt, die Aufgabe der transzendentalen Deduktion ist anhand der Frage zu erklären, »wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können« (A 85/B 117). Die in dieser Deduktion erklärten Begriffe a priori sind die Verstandesbegriffe bzw. die Kategorien. Die Schwierigkeit dieser Deduktion im Vergleich zur Deduktion der reinen Formen der Sinn­ lichkeit (Raum und Zeit) ist, »wie nämlich subjective Bedingungen des Denkens sollten objective Gültigkeit haben, d. i. Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntniß der Gegenstände abgeben« (A 89f/B 122). Die objektive Gültigkeit der Kategorien bezieht sich darauf, wie die Kategorien als subjektive Bedingungen des Denkens zugleich Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis der Gegenstände sein können. Dazu zählt Kant in § 14 »Übergang zur Transzendentalen Deduktion der Kategorien« zwei Fälle bezüglich »synthetische[r] Vor­ stellung163 und ihre[n] Gegenstände[n]« (B 124) auf, die deren Bezie­ hung notwendig erklären können: 163 Zöller weist darauf hin, dass der Zusatz »synthetisch« zu »Vorstellung« als indirekter Ausschluss des Sonderfalls der analytisch aufeinander bezogenen Vorstel­ lungen vom Thema der Beziehung von Vorstellungen auf einen Gegenstand gedeutet werden kann. Denn wenn die Vorstellungen im analytischen Verhältnis zueinan­ derstehen, unterliegen sie einer prinzipiellen Abstraktion vom Inhalt des reflexiv

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung, oder diese den Gegen­ stand allein möglich macht. (B 124f/A 92)

Der erste Fall ist, dass der Gegenstand die Vorstellung möglich macht. Dies drückt laut Kant eine empirische Beziehung zwischen Gegenstand und Vorstellung aus, da dies zuerst ein materielles Dasein der Erscheinung verlangt. Dadurch bekommt man eine Vorstellung zu diesem Gegenstand. Der zweite Fall ist umgekehrt, dass die Vorstellung den Gegenstand allein möglich macht. Dies erinnert an den zweiten Schritt der »Umänderung der Denkart« (B XVI)164 in der B-Vorrede der KrV: »ich nehme an, die Gegenstände oder, welches einerlei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt werden, richte sich nach diesen Begriffen« (B XVII). Diese ›Umänderung‹ bestimmt den Erscheinungscharakter der Gegenstände der Sinne. Nach der Erklärung des zweiten Schritts der ›Umänderung der Denkart‹ plädiert Kant in § 15 argumentativ für die Möglichkeit einer Verbindung überhaupt. Das heißt, dass das Mannigfaltige der Vor­ stellungen zwar in einer Anschauung gegeben werden kann, dass aber die Verbindung eines Mannigfaltigen nicht durch Sinne gegeben wer­ den kann, sondern lediglich eine Verstandeshandlung ist, die von Kant Synthesis genannt wird. Die Verbindung ist die einzige unter allen Vorstellungen, die nicht durch Objekte gegeben wird, sondern nur vom Subjekt selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbsttätigkeit ist. (vgl. B 130–131f). In § 16 »Von der ursprünglichsynthetischen Einheit der Apperzeption« wird der Verstand als das Vermögen, »a priori zu verbinden und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperception zu bringen« (B 135), gekennzeichnet. Dies wird von Kant als oberster Grundsatz in der ganzen menschlichen Erkenntnis bezeichnet (vgl. ebd.). Dieser Grundsatz erklärt laut Kant die »durchgängige Identität des Selbst­ bewußtseins« (ebd.). Dieser Grundsatz wird in § 17 als das oberste Prinzip alles165 Verstandesgebrauchs dargelegt. Alles Mannigfaltige der Anschauung steht nicht nur unter den formalen Bedingungen des Raumes und der Verglichenen. Nur wenn die Vorstellungen synthetisch miteinander verbunden sind, kommt ihr Inhalt als Gegenstand der Vorstellung in Betracht. Vgl. Zöller 1984: 114. 164 Die drei Schritte der ›Umänderung der Denkart‹ wurden im zweiten Kapitel dieser Arbeit ausführlich diskutiert. 165 Das heißt, dass sowohl im logischen Verstandesgebrauch als auch im reinen Verstandesgebrauch (Verstand als Erkenntnisvermögen) die synthetische Einheit

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3. Die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«

Zeit, sondern auch unter den Bedingungen der ursprünglich-synthe­ tischen Einheit der Apperzeption. Das heißt, dass alles Mannigfaltige, was uns unter den sinnlichen Bedingungen gegeben wird, unter der synthetischen Einheit der Apperzeption in einem Bewusstsein ver­ bunden werden ›können muss‹, damit dieses Mannigfaltige gedacht oder erkannt werden kann (vgl. B 136f). Auf diese Weise bildet Kant die Beziehung zwischen der Apperzeptionseinheit bzw. dem Verstand und dem Objekt. Verstand ist, allgemein zu reden, das Vermögen der Erkenntnisse. Diese bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Object. Object aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfal­ tige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist. Nun erfordert aber alle Vereinigung der Vorstellungen Einheit des Bewußtseins in der Synthesis derselben. Folglich ist die Einheit des Bewußtseins dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objective Gültigkeit, folglich daß sie Erkenntnisse werden, ausmacht, und worauf folglich selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht. (B 137)

Der Verstand wurde am Anfang der transzendentalen Analytik als »ein Vermögen zu urteilen« (A 69/B 94) charakterisiert. Nun ist der Verstand als das Vermögen der Erkenntnis zu verstehen. Die Ursache hierfür ist, dass der Verstand in Beziehung auf ein Objekt besteht. Der Begriff dieses Objekts beruht auf der Synthesis des Verstandes. Aber diese Synthesis des Verstandes beruht auf der Einheit des Bewusst­ seins bzw. der Apperzeptionseinheit. Daher ist die Apperzeptionsein­ heit nicht nur eine subjektive Grundbedingung der Erkenntnis, dass alles Mannigfaltige die Apperzeptionseinheit voraussetzt, sondern auch eine objektive Grundbedingung der Erkenntnis, weil der Begriff des Objekts die Synthesis des Verstandes verlangt, während diese Synthesis wiederum die Apperzeptionseinheit verlangt. Die Erklärung des Objektsbegriffs hier ist sicherlich durch die ›Umänderung der Denkart‹ geprägt, denn dieser Objektbegriff ist ein ›für-uns-sein‹, nicht ›an-sich-sein‹166. Dieses »für« bezieht sich auf der Apperzeption die Grundbedingung der Möglichkeit des Verstandes ist (vgl. M. Baum 1986: 107). In 1.1.2 wurde darauf hingewiesen, dass der transzendentale Verstandesgebrauch eigentlich ein Fehlgebrauch des logischen Verstandesgebrauchs ist. Dieser Fehlgebrauch bezieht sich auf die als Organon benutzte formale Logik. 166 Die Vorstellung, dass Dinge von uns unabhängig existieren, wurde in 2.3.2 als eine Aktion des transzendentalen Verstandesgebrauchs angesehen.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

eine Aktion des Verstandes als die Spontaneität des Denkens. In die­ sem Sinn spricht Kant im Werk Prolegomena davon, dass die objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeingültigkeit für jedermann Wech­ selbegriffe seien (vgl. AA04: 298). Im § 18 wird der Begriff »objektive Gültigkeit« durch die Gegenüberstellung der transzendentalen Ein­ heit der Apperzeption zur empirischen präzisiert. Durch die trans­ zendentale Einheit der Apperzeption wird alles Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt und ist darum objektiv (vgl. B 139). Dagegen ist die empirische Einheit der Apperzeption von der trans­ zendentalen Einheit der Apperzeption »unter gegebenen Bedingun­ gen in concreto« (B 140) abgeleitet. Darum hat die empirische Einheit der Apperzeption nur subjektive Gültigkeit. Dies wird von Kant auf die »Bestimmung des inneren Sinnes« (B 139) bezogen. Darüber hinaus unterscheidet Kant im § 19 zwei Arten vom Urteil: objektivgültiges Urteil und subjektiv-gültiges Urteil.167 Das subjektiv gültige Urteil bezieht sich auf »Gesetze[…] der Assoziation« (B 142), welche mit dem unterschiedlichen Zustand des Subjekts zu tun haben. Das objektiv gültige Urteil bezieht sich dagegen auf die transzendentale Einheit der Apperzeption. Denn die Kategorien stehen auch unter dieser Einheit. So wird die Verbindung der Vorstellungen hier durch die Kategorien bestimmt. Daher gewinnt diese Verbindung (als ein objektiv gültiges Urteil) ihre objektive Gültigkeit. Im § 20 wird das Verhältnis zwischen dem Mannigfaltigen und den Kategorien sowie der Apperzeption durch die Formulierung der Überschrift ausgedrückt: »Alle sinnlichen Anschauungen stehen unter den Kategorien als Bedingungen, unter denen allein das Man­ nigfaltige derselben in ein Bewußtsein zusammenkommen kann« (B 143). Das heißt, dass das Mannigfaltige, das in einer sinnlichen Anschauung gegeben wird, notwendig unter der ursprünglich-syn­ thetischen Einheit der Apperzeption steht, da die Apperzeptionsein­ heit die Einheit der Anschauung ermöglicht. Das Mannigfaltige wird aber durch die Handlung des Verstandes unter die Apperzeptionsein­ heit gebracht. Diese Handlung ist die logische Funktion der Urteile. Die Kategorien sind laut Kant genau diese Funktionen. Daher steht das Mannigfaltige auch notwendig unter den Kategorien (vgl. B 143). Durch die Überschrift von § 22 stellt Kant eine These auf, die für den empirischen Verstandesgebrauch bedeutungsvoll ist. Sie lautet: 167 Im Werk Prolegomena wird ein objektiv gültiges Urteil als Erfahrungsurteil und ein subjektiv gültiges Urteil als Wahrnehmungsurteil bezeichnet (vgl. AA04: 300f).

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3. Die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«

»Die Kategorie hat keinen andern Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung« (B 146). Es ist aber fragwürdig, wozu der zweite Beweisteil (§§ 22–26) da ist, wenn bereits im ersten Beweissteil168 (§§ 15–21) die These vorge­ bracht wurde, dass alle sinnliche Anschauung notwendig unter den Kategorien bzw. der Apperzeptionseinheit stehen. Diese Frage bezieht sich auf die Strukturfrage der Deduktion, die durch die Arbeit von Henrich prominent gemacht wurde. Nach Henrich braucht Kant zwei Beweisschritte, um die ganze Deduktion zu vollenden (vgl. Henrich 1973: 93). Denn »die Ankündigung im § 20 besagt, daß in diesem Paragraphen die zuvor gemachte Einschränkung aufgehoben wird: Im zweiten Teil der Deduktion soll gezeigt werden, daß die Kategorien gültig sind für alle Objekte unserer Sinne (B 161)« (ebd. 94; Hervor­ hebung von Henrich). Mir erscheint der Interpretationsvorschlag Höffes überzeugender: der zweite Beweisteil »legt jetzt gegen den Rationalismus deren begrenzte Reichweite dar« (Höffe 2011: 147). Das heißt, dass der zweite Beweisteil eine polemische Funktion hat. Kant polemisiert hier nicht gegen den Empirismus (dies geschieht im ersten Beweisteil), sondern nur gegen den Rationalismus, dessen Erkenntnisanspruch auf Dinge überhaupt erweitert wird. Dies geschieht durch den transzendentalen Verstandesgebrauch, in dem man die sinnliche Bedingung abstrahiert (vgl. 1.1 dieses Kapitels). Diesbezüglich unterscheidet Kant in § 22 das Denken vom Erkennen. In § 23 wird der Erkenntnisanspruch auf ein Objekt der nicht sinnli­ chen Anschauung von Kant verneint. In § 24 wird die wichtige Rolle der produktiven Einbildungskraft beim Erkenntnisgewinn betont. In § 25 und einem Teil des § 24 legt Kant dar, dass die Apperzeption nicht mit dem inneren Sinne gleichgesetzt wird (vgl. B 154). In § 26 wird schließlich die These begründet, dass die Kategorien der Natur Gesetze vorschreiben. Man kann deshalb den zweiten Beweisteil der B-Deduktion als einen Vergleich der zwei Arten des Verstandesgebrauchs lesen, in dem Kant den transzendentalen Verstandesgebrauch mit dem empirischen konfrontiert und den empirischen durch diese Konfrontation als den einzig richtigen Verstandesgebrauch ausmacht. Im Folgenden werde ich den zweiten Beweisteil der B-Deduktion hinsichtlich dieser § 13 bis § 14 kann man als eine Einleitung verstehen, in der Kant das Beweisziel der Deduktion ankündigt und die ›Umänderung der Denkart‹ bei den Kategorien erklärt. 168

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

Konfrontation untersuchen, um damit den empirischen Verstandes­ gebrauch genauer zu bestimmen. Am Anfang von § 22 unterscheidet Kant »einen Gegenstand denken« von »einen Gegenstand erkennen«. Denn zur Erkenntnis sind zwei Elemente nötig, Begriff (Kategorien) und Anschauung. Durch die Kategorien allein wird nur ein Begriff des Gegenstandes gedacht. Es ist dann noch nicht klar, »worauf mein Gedanke ange­ wandt werden könne« (ebd.). Die Anschauung bezieht sich nur auf die Gegebenheit des Gegenstandes. Dies soll der Anwendungsbereich der Kategorien sein. Aber die menschliche Anschauung ist sinnlich, und daher sind die Gegenstände der Sinne der Anwendungsbereich der Kategorien. Kant betont die empirische Anschauung bzw. die Empfindung, die in der transzendentalen Ästhetik bei der Erörterung reiner Anschauung (Raum und Zeit) beiseitegelegt wurde. Die Anwendung der Kategorien, durch die uns die Erkenntnis von Dingen geliefert werden kann, bezieht sich hauptsächlich auf die empirische Anschauung bzw. die Empfindung. Die Kategorien können durch ihre Anwendung »nur zur Möglichkeit empirischer Erkenntnis [dienen]« (B 147). Solche Erkenntnis wird von Kant Erfahrung genannt (ebd.). Daher schließt Kant, dass sich der Gebrauch der Kategorien nur auf die Erkenntnisse der Dinge bezieht, »nur so fern diese als Gegen­ stände möglicher Erfahrung angenommen werden« (ebd.). § 23 enthält zwei Absätze, die eine weitere Erklärung zu § 22 sind: Der erste Absatz bezieht sich auf den Sinn und die Bedeutung der Verstandesbegriffe. Der zweite Absatz bezieht sich auf eine nicht sinnliche Anschauung. In diesen beiden Absätzen besteht eine Kritik des über die Erfahrung hinausgehenden Erkenntnisanspruchs. Diesen Anspruch haben der Rationalismus und der Dogmatismus. Im ersten Absatz spricht Kant über die Wichtigkeit des Resultats aus § 22, dass die Anwendung der Kategorien auf die Gegenstände der möglichen Erfahrung »die Grenzen des Gebrauchs der reinen Verstandesbe­ griffe« (B 148) bestimmt. »Unsere sinnliche und empirische Anschau­ ung kann ihnen [den Verstandesbegriffen] allein Sinn und Bedeutung verschaffen« (B 149). »Sinn und Bedeutung« der Verstandesbegriffe beziehen sich auf den Gegenstandbezug eines Begriffes a priori. Dadurch hat die Erkenntnis (die durch Begriffe a priori möglich ist) objektive Realität. Ohne diese objektive Realität seien die Begriffe leer (vgl. A 155/B 194). Ähnliche Aussagen findet man auch im Kapitel »Phaenomena und Noumena«. Die Stelle A 238f/B 298 wurde in Unterkapitel 1.2.1 analysiert. An dieser Stelle behauptet Kant, dass

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3. Die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«

nur der empirische Verstandesgebrauch (nicht der transzendentale Verstandesgebrauch) möglich ist, weil die Anwendung der Verstan­ desbegriffe jederzeit zwei Bedingungen haben soll: Denken und Anschauung. Ohne die letzte Bedingung würde kein Gegenstands­ bezug des Denkens stattfinden. Man darf daher annehmen, dass Kant den transzendentalen Verstandesgebrauch als Kontrastfolie immer gegenwärtig hat, wenn er den ersten Absatz von § 23 schreibt. Im zweiten Absatz des § 23 stellt Kant die Hypothese auf, dass man »ein Object einer nicht=sinnlichen Anschauung als gegeben« (B 149) annimmt. Man kann zu diesem Objekt Prädikate hinzufügen, die bloß negativ sind. Aber dies bringt eigentlich keine Erkenntnis hervor: »[weil] ihm nichts zur sinnlichen Anschauung Gehöriges zukomme« (ebd.). Kant spricht an dieser Stelle nicht direkt davon, worauf sich dieses Objekt bezieht. Aber es ist anzunehmen, dass dieses Objekt einer nicht-sinnlichen Anschauung auf die Seele bezogen ist. Denn Kant bezieht dieses Objekt einige Sätze später auf ein Etwas, »das als Subjekt, niemals aber als bloße[s] Prädikat existieren könne« (ebd.). Dies entspricht der Seele als Vernunftidee. Die Seele soll als ein Sub­ jekt vorgestellt werden, das selbst nichts mehr Prädikat ist (vgl. A 323/B 379). Es scheint fragwürdig zu sein, dass die Seele als eine Vernunftidee ein Thema des Vernunftgebrauchs, nicht des Verstan­ desgebrauchs ist. Warum spricht Kant hier (und auch im § 24 und § 25 der B-Deduktion) von einem Thema der transzendentalen Dia­ lektik, um seine These (Ablehnung des transzendentalen Verstandes­ gebrauchs) in der transzendentalen Deduktion zu rechtfertigen? Der Grund dafür ist vermutlich, dass der transzendentale Verstandesge­ brauch sich auf Dinge überhaupt bezieht (vgl. A 238/B 298). Das heißt, dass der Erkenntnisanspruch beim transzendentalen Verstan­ desgebrauch sich nicht nur auf das sinnliche Feld, sondern auch auf das übersinnliche Feld erstreckt. Der konstitutive Vernunftgebrauch im übersinnlichen Feld (in Bezug auf die Vernunftideen) ist eigentlich eine Erweiterung des transzendentalen Verstandesgebrauchs.169 Daher ist die Diskussion über die Seele hier und auch in § 24 und § 25 nicht ein zusammenhangloses Thema in der transzendentalen Deduktion, sondern eine Kritik des Anwendungsbereichs des trans­ zendentalen Verstandesgebrauchs, der auf das ganze sinnliche und übersinnliche Feld bezogen wird. 169

Dies wird in 4.1 des fünften Kapitels ausgeführt.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

Die Formulierung »Object einer nicht=sinnlichen Anschauung« im zweiten Absatz des § 23 erinnert an Kants Ausführung des Kon­ zepts »Noumenon in positiver Bedeutung« (B 307) im Kapitel »Phae­ nomena und Noumena«. Dies wird in Abschnitt 4 dieses Kapitels weiter ausgeführt. Eine entsprechende These ist, dass das Noumenon in positiver Bedeutung auf Kants Kritik des dogmatischen Erkennt­ nisanspruchs bezogen ist. Nach der Erklärung des zweiten Absatzes des § 23 wurde verdeutlicht, dass Kant diese These schon in der trans­ zendentalen Deduktion ausgeführt hat. Die Seele bzw. das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich« werde ich im sechsten Kapitel näher bestimmen. Vorerst konzentriere ich mich auf den ersten Teil des § 24 und § 26, um Kants Rechtfertigung des empirischen Ver­ standesgebrauchs darzulegen. Im ersten Teil des § 24 wird die Funktion der Einbildungskraft in Bezug auf die Anwendung der Kategorien hervorgehoben. Die Syn­ thesis des Mannigfaltigen in den Kategorien bezieht sich auf die Apperzeptionseinheit, wie bereits in den §§ 15–20 ausgeführt wurde. Diese Synthesis ist »bloß rein intellectual« (B 150), was von Kant auch als »Verstandesverbindung (synthesis intellectualis)« (B 151) genannt wird. Es soll laut Kant noch eine figürliche Synthesis »(synthesis spe­ ciosa)« gegeben werden (ebd.), die sich auf die Anschauungsformen a priori bezieht. Denn durch diese synthetische Einheit, die das Man­ nigfaltige der sinnlichen Anschauung verbindet, werden »alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich« (B 161, Anm.). Kant unterscheidet diese figürliche Synthesis von der intellektuellen Verbindung. Die figürliche Synthesis wird »die transscendentale Synthesis der Einbil­ dungskraft«170 (B 151) genannt, »wenn sie [die figürliche Synthesis] bloß auf die ursprünglich synthetische Einheit der Apperception […] geht, welche in den Kategorien gedacht wird« (ebd.). Die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft spielt hier die Rolle der Überbrückung zwischen Sinnlichkeit und Verstand: einerseits gehöre die Einbildungskraft zur Sinnlichkeit und anderer­ seits sei die Synthesis eine Tätigkeit der Spontaneität (vgl. B 151f). So sei die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft »eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit« (B 152) und bilde die erste Anwendung des Verstandes auf die Gegenstände der Sinne (vgl. ebd.).

Die Einbildungskraft wird von Kant als ein Vermögen, »einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen« (B 151), bezeichnet.

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3. Die Bestimmung der Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«

Damit wird verdeutlicht, dass die Verstandesbegriffe noch eine transzendentale Synthesis der Einbildungskraft verlangen, um ange­ wendet werden zu können. Diese Anwendung kann nur auf den empi­ rischen, nicht auf den transzendentalen Verstandesgebrauch bezogen werden, denn von der sinnlichen Bedingung wird im transzendentalen Verstandesgebrauch abstrahiert. Es fehlt hier die Verknüpfung inner­ halb der Mannigfaltigkeit durch die figürliche Synthesis. In § 26 versucht Kant dahingehend zu argumentieren, dass die Kategorien der Natur Gesetze vorschreiben. Zuerst spricht Kant von der Synthesis der Apprehension, die als die Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer empirischen Anschauung verstanden wird (vgl. B 160). Die Aufgabe dieser Synthesis sei, das Mannigfaltige, das in jedem Augenblick als vereinzelt vorgestellt wird, zu durchlaufen und zusammenzunehmen (vgl. A 99). Diese Synthesis müsse den Anschauungsformen a priori (Raum und Zeit) gemäß sein, denn diese Synthesis könne nur nach diesen Formen geschehen (vgl. B 160). Nun betont Kant den wichtigen Punkt, dass der Raum und die Zeit nicht bloß als Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als Anschau­ ungen selbst angesehen werden sollen. Das heißt, dass die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen schon mit diesen Anschauungen (Raum und Zeit) zugleich gegeben wird (vgl. B 161). Diese syntheti­ sche Einheit ist wiederum die Apperzeptionseinheit, die von Kant im ersten Beweisteil (vgl. §§ 15–20) begründet wird. Daher kann man sagen, dass alle Synthesis unter den Kategorien steht. So sind die Kategorien die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und gel­ ten a priori für alle Gegenstände der Erfahrung. Die Gesetze der Erscheinungen in der Natur müssen mit dem Verstand übereinstim­ men, weil solche Gesetze die Gesetze des Verstandes sind. Kant betont am Ende des § 26 den Erscheinungscharakter der Gegenstände der Sinne, also dass sein Beweis der Gesetzmäßigkeit der Natur nach den Kategorien nur für »Erscheinungen« gültig sei und nicht für »Dinge an sich« (vgl. B 164). »Dinge an sich« werden in diesem Zusammenhang als die Gegenstände der Sinne vorgestellt, die unabhängig von uns existie­ ren. Für dieses An-sich-Sein ist es laut Kant unmöglich zu beweisen, dass unser Verstand aufgrund dieses Ansichseins (Natur-)Gesetze vorschreibt. In diesem Sinne spricht Kant über Hume und seine ›Zweifellehre‹ in der KpV, dass Hume ganz recht habe, wenn er unter der Bedingung, dass die Gegenstände der Sinne »Dinge an sich« seien, die Ursache (als einen reinen Verstandesbegriff) für »trüglich und fal­

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

sches Blendwerk« (AA05: 53) erkläre. Denn man sieht nicht, warum, wenn etwas An-sich-Seiendes (A) gesetzt werde, ein anderes An-sichSeiendes (B) notwendig gesetzt werden müsse (vgl. ebd.). Aber der Zweifel von Hume geht in eine skeptische Richtung, wenn er durch die subjektive Gewohnheit die Notwendigkeit des reinen Begriffes der Ursache zu erklären versucht. Kants Zweifel geht dagegen in die Rich­ tung, dass der Gebrauch des reinen Begriffes problematisch ist, nicht jedoch der reine Begriff selbst. Dadurch wird festgelegt, dass die rei­ nen Verstandesbegriffe a priori nur den empirischen Gebrauch und nicht den transzendentalen Gebrauch ermöglichen. Daraus folgt, dass die Gegenstände der Sinne nur »Erscheinungen« und nicht »Dinge an sich« sind.171

4. Die Stelle B 306 im Phaenomena/Noumena-Kapitel und Noumenon im negativen/positiven Verstand Die letzten beiden Abschnitte haben gezeigt, dass die Annahme der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« das Resultat des transzen­ dentalen Verstandesgebrauchs ist. Dieser Verstandesgebrauch wird von Kant kritisiert und abgelehnt. Daher gewinnt der Begriff »Ding an sich« einen polemischen Sinn. Das heißt, dass Kant mit diesem Begriff gerade das Verfahren kritisiert, durch das man durch den transzen­ dentalen Verstandesgebrauch die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« annimmt. Wie bereits erörtert, werden sowohl der Dogma­ tismus/der Empirismus als auch der transzendentale Realismus/der empirische Idealismus von Kant dem transzendentalen Verstandes­ gebrauch zugeordnet. Aber dieser Verstandesgebrauch bezieht sich nicht nur auf die Gegenstände der Sinne, sondern auch auf Dinge überhaupt. Das heißt, dass dieser Verstandesgebrauch nicht darauf achtgibt, ob ein Ding uns sinnlich gegeben werden kann. Dies steht meiner Lesart nach in Verbindung mit dem Noumenon im negativen und positiven Verstand. Im jetzigen Abschnitt wird der Begriff »Ding an sich« mit der Analysis der Textstellen im Kapitel Von dem Grunde der Unterschei­ dung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena in Das ist lediglich Kants Hume-Interpretation. Ob diese Interpretation zutreffend ist, kann in dieser Arbeit nicht untersucht werden.

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4. Die Stelle B 306 im Phaenomena/Noumena-Kapitel

Verbindung gesetzt, um zwei Thesen zu entwickeln.172 Die erste These dieses Abschnitts ist, dass Noumena im negativen Sinn von Kant polemisch gemeint sind. Noumena im negativen Sinn beziehen sich auf die Annahme der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«. Die zweite These ist, dass Kant Noumena im positiven Sinn auch polemisch meint. Aber dies bezieht sich nicht auf die Gegenstände der Sinne als »Ding an sich«, sondern auf den Erkenntnisanspruch der Vernunftideen durch den konstitutiven Vernunftgebrauch. Polemisch heißt dies, dass Kant sowohl Noumena im negativen Sinn als auch im positiven Sinn nicht als seine eigene Position versteht, sondern als Positionen rekonstruiert, die er kritisiert. Hier soll zunächst auf die Position des Kapitels »Phaenomena und Noumena« in der KrV eingegangen werden. Dieses Kapitel ist zwischen der transzendentalen Analytik und der transzendentalen Dialektik zu finden. Die Analytik kann man als die Kritik des Verstan­ des ansehen, die Dialektik als die Kritik der Vernunft. Dabei wird die Metaphysik zweigeteilt. Im ersten Teil geht es darum, wie der Erkenntnisanspruch in der Erfahrung möglich ist, und im zweiten Teil wird erörtert, ob der Erkenntnisanspruch über die Grenze möglicher Erfahrung hinausgeht (vgl. auch das zweite Kapitel dieser Arbeit). In beiden Teilen beschäftigt sich Kant mit den Begriffen a priori (Verstan­ desbegriffe und Vernunftbegriffe). Denn die Begriffe a priori sind die unentbehrliche Bedingung für die Bildung eines Urteiles, wodurch eine mögliche Erkenntnis geliefert werden kann. Aber die Begriffe a priori allein sind laut Kant nicht hinreichend dafür, den Erkennt­ nisanspruch in der Metaphysik zu erreichen. Auch die Sinnlichkeit gehört für Kant mit dazu. Das heißt, dass eine Erkenntnis nur durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Denken erreicht werden kann. Grund dafür ist, dass laut Kant nur synthetische Urteile a priori die Erkenntniserweiterung in der Metaphysik leisten können. Um ein synthetisches Urteil a priori zu bilden, seien laut Kant nicht nur Begriffe a priori nötig, sondern auch die Anschauung a priori. Daher sei die Erkenntniserweiterung in der Metaphysik nur im sinnlichen Feld (im ersten Teil der Metaphysik) möglich. Im übersinnlichen Feld fehle die Bedingung der Anschauung a priori, und daher sei die Erkenntniserweiterung hier unmöglich (vgl. B XIX). 172 Die Frage, ob der Begriff »Ding an sich« mit dem Begriff »Noumena« identifiziert werden kann, wird im Abschnitt 4.2 des siebten Kapitels diskutiert. Hier nehme ich vorerst an, dass die beiden Begriffe identisch sind.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

In dem ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ und vor allem im Dogmatismus werden laut Kant die Begriffe a priori als die einzige Bedingung dafür betrachtet, eine Erkenntniserweiterung in der Meta­ physik (sowohl im sinnlichen als auch im übersinnlichen Feld) zu erreichen. Wie in Abschnitt 2.1 dieses Kapitels ausgeführt wurde, wird eine solche Erkenntniserweiterung (durch bloße Begriffe) im sinnli­ chen Feld von Kant kritisiert. Diese Erkenntniserweiterung bezieht sich auf eine problematische Bestimmungsweise der Gegenstände der Sinne und geschieht durch den transzendentalen Verstandesgebrauch. Eine Erkenntniserweiterung durch bloße Begriffe im übersinnlichen Feld wird auch von Kant kritisiert, denn fehlt es die Bedingung der Sinnlichkeit. Dies wird in Abschnitt 1 des fünften Kapitels ausführlich behandelt. Die problematische Erkenntniserweiterung (durch bloße Begriffe) im sinnlichen und übersinnlichen Feld (in Bezug auf den Verstand und die Vernunft) bilden den Gegenstand der Metaphysik­ kritik Kants. Im Rahmen dessen spielt die Stelle B 306 eine fundamentale Rolle für einen Überblick über die Metaphysikkritik Kants (im Ver­ hältnis zum Begriff »Noumena«). Denn diese Stelle bezieht sich auf eine laut Kant problematische Erkenntniserweiterung im sinnlichen und übersinnlichen Feld. Gleichwohl liegt es doch schon in unserm Begriffe, wenn wir gewisse Gegenstände als Erscheinungen Sinnenwesen (Phaenomena) nennen, indem wir die Art, wie wir sie anschauen, von ihrer Beschaffenheit an sich selbst unterscheiden: daß wir entweder eben dieselbe nach dieser letzteren Beschaffenheit, wenn wir sie gleich in derselben nicht anschauen, oder auch andere mögliche Dinge, die gar nicht Objecte unserer Sinne sind, als Gegenstände, bloß durch den Verstand gedacht, jenen gleichsam gegenüber stellen und sie Verstandeswesen (Nou­ mena) nennen. Nun frägt sich: ob unsere reine Verstandesbegriffe nicht in Ansehung dieser letzteren Bedeutung haben und eine Erkenntnißart derselben sein könnten? (B 306; Hervorhebung durch den Verfasser)

An dieser Stelle differenziert Kant zwei Situationen durch die Wen­ dung »entweder … oder«. In der ersten Situation nennen wir nach ihrer Beschaffenheit an sich die Sinnenwesen (Phaenomena) und die Verstandeswesen (Noumena), ohne zu berücksichtigen, wie wir sie anschauen. In der zweiten Situation nennen wir die anderen mögli­ chen Dinge, »die gar nicht Objekt unserer Sinne sind«, Verstandeswe­ sen (Noumena). Nach meiner Lesart bezieht sich die erste Situation auf die problematische Erkenntniserweiterung im sinnlichen Feld.

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4. Die Stelle B 306 im Phaenomena/Noumena-Kapitel

Die zweite Situation bezieht sich auf die problematische Erkenntnis­ erweiterung im übersinnlichen Feld. Damit sollen das Noumenon im negativen Verstand und das Noumenon im positiven Sinn auch so verstanden werden: (NN) Noumenon im negativen Verstande ist auf die problematische Annahme der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« (als die problematische Erkenntniserweiterung im sinnlichen Feld) bezogen. Dies geschieht durch den transzendentalen Verstan­ desgebrauch, den Kant kritisiert. Das ist die erste Situation, die in der zitierten Passage aus B 306 thematisiert wird. (NP) Noumenon im positiven Sinne ist auf die ›Dinge‹ bezogen, die gar nicht Objekt unserer Sinne sind. Dies sind Vernunft­ ideen. Ein Erkenntnisanspruch bezüglich der Vernunftideen sei laut Kant problematisch. Im fünften Kapitel dieser Arbeit wird gezeigt, dass dieser Erkenntnisanspruch mittels des konstituti­ ven Vernunftgebrauchs erfolgt. Das ist die zweite Situation in der Stelle B 306. Im Folgenden wird dargelegt, dass sowohl NN und NP polemisch gemeint sind.

4.1 Noumenon im negativen Verstande In der ersten Situation an der Stelle B 306 beschreibt Kant eine ›Absonderung der Anschauungsart‹: Die Gegenstände der Sinne als Sinnenwesen (Phaenomena) werden von den Gegenständen der Sinne als Verstandeswesen unterschieden, wenn man die Anschau­ ungsart von ihrer ›Beschaffenheit an sich selbst‹ trennt. Die Gegen­ stände der Sinne werden als Verstandeswesen (Noumena) bezeichnet, wenn sie nach ihrer Beschaffenheit an sich selbst betrachtet werden. Es klingt hier wie eine Zwei-Perspektiven-Lesart in Bezug auf ein und denselben Gegenstand. Das ist aber nicht der Fall. Hier wird indessen dargelegt, dass sich diese Absonderung auf den transzendentalen Verstandesgebrauch bezieht, den Kant kritisiert und ablehnt. Daher gibt Kant hier seine Gegenposition zum transzendentalen Verstan­ desgebrauch wieder. Wie bereits im zweiten Abschnitt dieses Kapitels erörtert, bezeichnet der Begriff »Ding an sich« beim transzendentalen Ver­ standesgebrauch, dass man die Gegenstände der Sinne ausschließlich

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

durch den Verstand bzw. die Verstandesbegriffe annimmt, indem von den sinnlichen Bedingungen abstrahiert wird. Dagegen behauptet Kant, dass man die Gegenstände der Sinne durch eine Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand annehmen soll und nennt dies den empirischen Verstandesgebrauch. Daher ist die ›Absonderung‹ der sinnlichen Bedingung auf keinen Fall im systematischen Sinn, sondern im polemischen Sinn gemeint. In gleicher Weise ordnet Kant die erste Situation in B 306 dem transzendentalen Verstandesgebrauch zu. Vor dieser Stelle hat Kant im Kapitel »Phaenomena und Noumena« immer wieder den Punkt betont, dass der Verstand nur einen empirischen Gebrauch und niemals einen transzendentalen Gebrauch macht (vgl. A 238/B 298; A 246/B 303). Die erste Situation als eine Absonderung der sinnlichen Gegebenheit vom Verstand ist das erste Merkmal des transzendentalen Verstandesgebrauchs. Daraus folgt, dass die erste Situation nicht Kants Position, sondern seine Gegenposition darstellt. Eine Deutung dieser Stelle durch die Zwei-Perspektiven-Lesart ist unhaltbar, denn sie würde Kants Gegenposition entsprechen.173 Mit den Vorüberlegungen in Bezug auf das Noumenon im nega­ tiven Sinn sollen nun weitere Stellen, in denen Kant vom Noumenon im negativen Sinn spricht, interpretiert werden. Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Object unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahiren, so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande. (B 307)

An dieser Stelle zeigt sich, dass ein Noumenon im negativen Ver­ stande eine Absonderung174 der kognitiven Aktivität ist, in der man von der Anschauungsart des Objekts »unserer sinnlichen Anschau­ ung« abstrahiert. Das heißt, dass dieses Objekt schon sinnlich gege­ ben ist. Damit beginnt die ›Absonderung‹, weil man die Sinnlichkeit 173 Ich werde die Zwei-Perspektiven-Lesart in Abschnitt 5.2 dieses Kapitels ausführ­ lich kritisieren. 174 So verstehe ich auch die Stelle in der ersten Auflage des »Phaenomena und Noumena«-Kapitels, dass sich das Etwas, »d. i. ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand« (A 252) auf die begriffliche Bildung der Gegenstände der Sinne bezieht. Diese Unabhängigkeit wird aber durch eine Aktion der Absonderung der Sinnlichkeit erreicht, die Kant bei der Bestimmung der Gegenstände der Sinne kritisiert. Daher sagt Kant ein paar Sätze später: »und obgleich unser Denken von jeder Sinnlichkeit abstrahiren kann, so bleibt doch die Frage, ob es alsdann nicht eine bloße Form eines Begriffs sei, und ob bei dieser Abtrennung überall ein Object übrig bleibe« (A 252f).

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4. Die Stelle B 306 im Phaenomena/Noumena-Kapitel

nicht als ein selbstständiges Vermögen ansieht und daher die sinnliche Gegebenheit des Objekts für unwichtig oder sogar für verwirrend hält. Dieses Verfahren erinnert an den transzendentalen Verstandesge­ brauch, mit dem sich Kant auseinandersetzt. Kant behauptet dagegen, dass der Verstand nur einen empirischen Gebrauch hat, indem die Kategorien als Begriffe a priori mit der Sinnlichkeit zusammenwirken. Die Lehre von der Sinnlichkeit ist nun zugleich die Lehre von den Nou­ menen im negativen Verstande, d. i. von Dingen, die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß, von denen er aber in dieser Absonderung zugleich begreift, daß er von seinen Kategorien in dieser Art sie zu erwägen keinen Gebrauch machen könne: weil, da diese nur in Beziehung auf die Einheit der Anschauungen in Raum und Zeit Bedeutung haben, sie eben diese Einheit auch nur wegen der bloßen Idealität des Raums und der Zeit durch allgemeine Verbindungsbegriffe a priori bestimmen können. Wo diese Zeiteinheit nicht angetroffen werden kann, mithin beim Noumenon, da hört der ganze Gebrauch, ja selbst alle Bedeutung der Kategorien völlig auf; denn selbst die Möglichkeit der Dinge, die den Kategorien entsprechen sollen, läßt sich gar nicht einsehen. (B 307f)

Kant identifiziert »die Lehre von der Sinnlichkeit« und »die Lehre von den Noumenen im negativen Verstande« miteinander, denn die beiden beziehen sich gleichermaßen auf die Gegenstände der Sinne, »die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungs­ art, mithin nicht bloß als Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß«. Diese Formulierung »als Dinge an sich selbst denken muß« scheint anzudeuten, dass Kant das »Ding an sich« als ein Muss-Denken, ja sogar als ein Muss-Annehmen einschätzt. Aber dieses Muss-Denken bezieht sich nicht auf das hinter der Erscheinung stehende Ding an sich, das als die von uns unabhängige Existenz angenommen wird. Das Muss-Denken des »Dinges an sich« bezieht sich vielmehr auf die Spontaneität des Denkens, wodurch ein Begriff des Objekts geschafft werden kann. Es betont also den Gedanken, dass eine Anschauung ohne Begriffe blind sei (vgl. A 51/B 75). Das lässt sich damit begründen, dass Kant den Begriff der Erscheinung so anwendet, dass das Muss-Denken nur auf das sinnliche Mannigfaltige fokussiert ist. Aber die Sinnlichkeit als eine Rezeptivität vermag nicht zu urteilen. Dieses Mannigfaltige zu erkennen ist nur durch Urteile möglich. Und das Urteil ist für Kant nur durch Begriffe möglich. So ist die Formulierung »als Dinge an sich selbst denken muß« so gemeint,

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

dass man durch die Verstandesbegriffe das sinnliche Mannigfaltige einordnen muss. Die Sinnlichkeit allein schafft keine Erkenntnis. Der folgende Satz, dass der Verstand von den Dingen an sich »in dieser Absonderung zugleich begreift, daß er von seinen Kategorien in dieser Art sie zu erwägen keinen Gebrauch machen könne«, unterstützt meine Lesart. Die Formulierung »in dieser Absonderung« bezieht sich auf den vorhergehenden Satz, dass man Dinge »als Dinge an sich selbst denken muß«. Der Verstand kann also keinen Gebrauch von seinen Kategorien machen, wenn er ohne die Sinnlichkeit Dinge begreifen will. Dies bezieht sich wieder auf den transzendentalen Ver­ standesgebrauch, den Kant kritisiert. In den letzten beiden Abschnit­ ten habe ich mehrfach darauf hingewiesen, wie dieser transzendentale Gebrauch die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« ausmacht. An dieser Stelle ist es nicht anders. Daher ist das Noumenon im negativen Verstand auch von Kant polemisch gemeint. Das heißt, dass Kant seine Vorgänger kritisiert, weil sie durch den transzendentalen Verstandesgebrauch die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«, d. i. allein durch die begriffliche Vorstellungsart, ausgeben. Diese problematische Annahme bewirkt nicht nur die problematische Vor­ gehensweise der Grundsätze (Monade als Substanz usw.), sondern auch die Verborgenheit des Fehlschlusses im dialektischen Argument der Kosmologie (wie im dritten Kapitel gezeigt wurde). Dagegen bestimmt Kant die Gegenstände der Sinne als Erscheinungen. Dies geschieht durch den empirischen Verstandesgebrauch, in dem eine Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand stattfindet. Dadurch wird der Fehlschluss in der kosmologischen Antinomie aufgedeckt. Kants Gleichsetzung der Lehre vom Noumenon im negativen Verstande mit der Lehre von der Sinnlichkeit ist so zu verstehen, dass die beiden Lehren sich mit einem gemeinsamen Feld beschäftigen. Sie beschäftigen sich mit dem sinnlichen Feld oder dem Feld der möglichen Erfahrung, das sich auf die Gegenstände der Sinne bezieht. Aber die beiden Lehren beziehen sich auf unterschiedliche Arten des Verstandesgebrauchs. Die Lehre von der Sinnlichkeit bezieht sich auf den empirischen Verstandesgebrauch, den Kant behauptet, und die Lehre vom Noumenon im negativen Sinn bezieht sich auf den transzendentalen Verstandesgebrauch, den Kant ablehnt. Das wesent­ liche Problem bei der Gleichsetzung der Lehre vom Noumenon im negativen Sinn und der Lehre von der Sinnlichkeit besteht eigentlich darin, wie man durch einen Verstandesgebrauch die Gegenstände der Sinne bestimmen soll. Kants Gleichsetzung ist eher als eine Ersetzung

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4. Die Stelle B 306 im Phaenomena/Noumena-Kapitel

auf dem sinnlichen Feld (die Gegenstände der Sinne) zu verstehen. Die Rechtfertigung dieser Ersetzung dürfte in mehrfacher Hinsicht deutlich sein, wenn man die Sinnlichkeit als ein selbstständiges Vermögen nimmt und die Begründung der synthetischen Grundsätze a priori und die Aufdeckung des Fehlschlusses in der kosmologischen Antinomie nachvollzieht. Man bestimmt die Gegenstände der Sinne durch den empirischen Verstandesgebrauch als »Erscheinungen«.

4.2 Noumenon im positiven Verstande und Grenzbegriff Nun werde ich die zweite Situation in der Stelle B 306 diskutieren: »andere mögliche Dinge«, die gar nicht Objekte unserer Sinne und bloß durch den Verstand gedacht sind. Unschwer können solche Dinge auf die Vernunftideen bzw. das Unbedingte bezogen werden, da sie über die Grenze der Erfahrung hinausgehen (vgl. A 320/B 377). Kant fragt danach, ob unsere reinen Verstandesbegriffe175 in Bezug auf solche Objekte, die gar nicht sinnlich gegeben werden können, eine Bedeutung haben und eine Erkenntnisart sein können. Die Antwort ist ein deutliches Nein. Denn beim Noumenon im positiven Sinn muss man eine intellektuelle Anschauungsart annehmen, die nicht unsere ist und bezüglich der wir nicht in der Lage sind, ihre Möglichkeit einzusehen (vgl. B 307). Aber nur weil man über das Noumenon im positiven Sinn kein erkenntnistheoretisches Urteil fällen kann, kann man noch nicht behaupten, dass das Noumenon im positiven Sinn nicht gedacht werden kann. Diese Auffassung enthält zwei polemische Punkte gegenüber dem Dogmatismus und dem Empirismus: Die Vernunftideen sind theoretisch unbestimmt und denkmöglich sowie denknotwendig. Der erste Punkt (theoretisch unbestimmt) richtet sich gegen den Dogma­ tismus, der einen übersinnlichen Erkenntnisanspruch für möglich hält. Der zweite Punkt (denkmöglich und denknotwendig) richtet sich 175 Hier scheint es irreführend zu sein, wenn Kant von Verstandesbegriffen anstatt von Vernunftbegriffen spricht. Es sei an dieser Stelle an die Kontinuität der Ver­ standesbegriffe mit den Vernunftbegriffen erinnert, dass die Vernunftbegriffe die ins Unbedingte erweiterten Verstandesbegriffe sind (vgl. A 409/B 436). Und zwar beschreibt Kant an dieser Stelle eigentlich den übersinnlichen Erkenntnisanspruch, den er kritisiert. Dies geschieht durch den konstitutiven Vernunftgebrauch. In Abschnitt 4.1 des fünften Kapitels wird die Kontinuität zwischen dem transzenden­ talen Verstandesgebrauch und dem konstitutiven Vernunftgebrauch ausgeführt.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

gegen den Empirismus, der die Denkmöglichkeit der Vernunftideen für unmöglich hält. Im Folgenden werden die beiden Punkte im Rahmen einiger Stellen im Kapitel »Phaenomena und Noumena« (B 308–B 315) diskutiert.

4.2.1 Widerlegung des Dogmatismus Die erste Stelle zur Widerlegung des Dogmatismus: Wo diese Zeiteinheit nicht angetroffen werden kann, mithin beim Noumenon, da hört der ganze Gebrauch, ja selbst alle Bedeutung der Kategorien völlig auf; denn selbst die Möglichkeit der Dinge, die den Kategorien entsprechen sollen, läßt sich gar nicht einsehen, weshalb ich mich nur auf das berufen darf, was ich in der allgemeinen Anmerkung zum vorigen Hauptstücke gleich zu Anfang anführte. Nun kann aber die Möglichkeit eines Dinges niemals bloß aus dem Nichtwidersprechen eines Begriffs desselben, sondern nur dadurch, daß man diesen durch eine ihm correspondirende Anschauung belegt, bewiesen werden. Wenn wir also die Kategorien auf Gegenstände, die nicht als Erscheinungen betrachtet werden, anwenden wollten, so müßten wir eine andere Anschauung als die sinnliche zum Grunde legen, und alsdann wäre der Gegenstand ein Noumenon in positiver Bedeutung. Da nun eine solche, nämlich die intellectuelle Anschauung, schlechterdings außer unserem Erkenntnißvermögen liegt, so kann auch der Gebrauch der Kategorien keinesweges über die Grenze der Gegenstände der Erfahrung hinausreichen. (B 308)

An dieser Stelle erklärt Kant, dass es dort, wo die Einheit der Zeit nicht gegeben sei, auch keinen Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe gebe. Denn die reale Möglichkeit eines Dinges verlangt nicht nur die Denkmöglichkeit eines Begriffs, sondern auch die korrespondierende Anschauung. Diese Erklärung steht in engem Zusammenhang mit den Bedingungen der synthetischen Sätze a priori und Kants Kritik an dem materiellen Gebrauch der allgemeinen Logik176. Denn die allgemeine Logik, in der von allen Inhalten der Erkenntnis abstrahiert wird, ist nur der negative Probierstein der Wahrheit und reicht nicht hin, um die materielle objektive Wahrheit zu liefern (vgl. A 60/B 84). Wenn man sie als ein Organon anwendet, um die materielle objektive Wahrheit zu gewinnen, fehlt der Objektbezug. Die Zeit 176 Vgl. »A. Allgemeine (formale) und Transzendentale Logik« in Abschnitt 2.2. im zweiten Kapitel.

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4. Die Stelle B 306 im Phaenomena/Noumena-Kapitel

wird dazu als ein Drittes verwendet, um die zwei Begriffe aus einem Satz (als Subjekt und Objekt) miteinander synthetisch zu verbinden. In diesem Zusammenhang spricht Kant von einer intellektuellen Anschauung, die ein Drittes im Feld des positiven Noumenon (d. h. im Feld des Übersinnlichen) sei. Durch dieses Dritte könne man den syn­ thetischen Satz im Feld des positiven Noumenon finden. Aber Kant verneint die Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung. Deshalb ist es auch unmöglich, die reinen Verstandesbegriffe außerhalb der Erfahrung anzuwenden. Ein Erkenntnisgewinn ist in Bezug auf das Noumenon im positiven Sinn für uns nicht möglich. Die zweite Stelle zur Widerlegung des Dogmatismus: Die Eintheilung der Gegenstände in Phaenomena und Noumena und der Welt in eine Sinnen= und Verstandeswelt kann daher in positiver Bedeutung gar nicht zugelassen werden, obgleich Begriffe allerdings die Eintheilung in sinnliche und intellectuelle zulassen; denn man kann den letzteren keinen Gegenstand bestimmen und sie also auch nicht für objectiv gültig ausgeben. Wenn man von den Sinnen abgeht, wie will man begreiflich machen, daß unsere Kategorien (welche die einzigen übrig bleibenden Begriffe für Noumena sein würden) noch überall etwas bedeuten, da zu ihrer Beziehung auf irgend einen Gegenstand noch etwas mehr als bloß Einheit des Denkens, nämlich überdem eine mögliche Anschauung, gegeben sein muß, darauf jene angewandt werden können? (B 311)

An dieser Stelle verneint Kant eine Einteilung der Gegenstände und der Welt in Phaenomena und Noumena in positiver Bedeutung, weil ihre objektive Gültigkeit nicht bestätigt werden kann. Die Ursache davon ist, dass, wie in der Analyse der ersten Stelle zur Widerlegung des Dogmatismus gezeigt wurde, ein Begriff nur in den Formen der Sinnlichkeit seine gegenständliche Beziehung finden kann, denn die Zeit als das Dritte ermöglicht einen synthetischen Satz (als ein Erkenntniserweiterungsurteil). Der Objektbezug eines apriorischen Begriffs ist dem ›bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ (insbesondere dem Dogmatismus) fremd. Deshalb kann die logische Möglichkeit eines Begriffs für die reale Möglichkeit eines Dinges gehalten werden. Dabei würden z. B. hun­ dert mögliche Taler für hundert wirkliche Taler gehalten werden. In Bezug auf das positive Noumenon bzw. das Feld des Übersinnli­ chen haben die Vernunftideen laut Kant auch keinen Objektbezug. Demgegenüber behauptet der Dogmatismus mit dem konstitutiven Vernunftgebrauch, dass die Vernunftideen objektive Geltung hätten.

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

Dadurch würde der Objektbezug der Vernunftideen bestätigt werden. Das Noumenon in positiver Bedeutung sei laut Kant nicht zulässig, weil es keinen Objektbezug haben könne. Mit dem Begriff »Noume­ non in positiver Bedeutung« bezeichnet Kant aber den Erkenntnisan­ spruch im übersinnlichen Feld.

4.2.2 Widerlegung des Empirismus Die erste Stelle zur Widerlegung des Empirismus: Wenn ich alles Denken (durch Kategorien) aus einer empirischen Erkenntniß wegnehme, so bleibt gar keine Erkenntniß irgend eines Gegenstandes übrig; denn durch bloße Anschauung wird gar nichts gedacht, und daß diese Affection der Sinnlichkeit in mir ist, macht gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellung auf irgend ein Object aus. Lasse ich aber hingegen alle Anschauung weg, so bleibt doch noch die Form des Denkens, d. i. die Art, dem Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung einen Gegenstand zu bestimmen. Daher erstrecken sich die Kategorien so fern weiter, als die sinnliche Anschauung, weil sie Objecte überhaupt denken, ohne noch auf die besondere Art (der Sinnlichkeit) zu sehen, in der sie gegeben werden mögen. Sie bestimmen aber dadurch nicht eine größere Sphäre von Gegenständen, weil, daß solche gegeben werden können, man nicht annehmen kann, ohne daß man eine andere als sinnliche Art der Anschauung als möglich voraussetzt, wozu wir aber keinesweges berechtigt sind. (A 253f/B 309)

Der Kern der Argumentation an dieser Stelle ist, dass die Denkmög­ lichkeit des Noumenon nicht verneint werden kann, obwohl seine reale Möglichkeit bzw. sein Objektbezug verneint werden muss. Dies ist eine Widerlegung des Empirismus, der alles verneint, was nicht durch Sinneswahrnehmung möglich ist. Kants Ausführung die­ ser Widerlegung beginnt mit einer experimentellen Abstrahierung. Wenn man das Denken von einer empirischen Erkenntnis wegnehme, bleibe nur Anschauung. Wenn man dagegen die Anschauung von der Erkenntnis wegnehme, bleibe nur die Form des Denkens. Diese Abstrahierung ist im Kontext der ›Zwei-Stämme-Lehre‹ von Kant zu verstehen. Das Denken als eine Spontaneität bezieht sich auf die Begriffe a priori. Die Anschauung als eine Rezeptivität bezieht sich auf die Sinnlichkeit. Beide kommen aus zwei ganz verschiedenen Quellen. Aber um objektiv gültig über Dinge zu urteilen (d. h. diese zu erkennen), müssen beide kombiniert werden.

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4. Die Stelle B 306 im Phaenomena/Noumena-Kapitel

Mit dieser Lehre rekonstruiert Kant den Dogmatismus und den Empirismus. Das Problem bei beiden ist, dass sie nicht durch die Kom­ bination der beiden Vermögen (das Denken und die Anschauung) Dinge erkennen, sondern nur durch eines der beiden Vermögen die Dinge zu erkennen versuchen (vgl. A 271/B 327)177. In diesem Zitat spricht Kant davon, dass die Anschauung allen keinen Gedanken bzw. kein Urteil geben kann. Das Denken jedoch kann ein Urteil liefern, obwohl das Denken (d. h. der Begriff) keine reale Bedeutung hat. Daher hat das Denken einen weiteren Umfang als die Anschauung. Aber das ist eine negative Erweiterung, d. h., dass das Denken durch diese negative Erweiterung keine Erkenntnis liefern kann, weil man keine entsprechende Anschauung finden kann. Daher ist in diesem Fall weder ein synthetischer Satz noch eine Erkenntniserweiterung möglich. Die »Objecte überhaupt« beziehen sich auf das Denkbare überhaupt: sowohl sinnliche Dinge als auch die übersinnliche ›Dinge‹ kann man denken. Aber es sei laut Kant unmöglich, Dinge des Übersinnlichen als Erkenntnis zu bestimmen, weil sie nicht sinnlich gegeben werden können. Wenn der Empirismus behaupten will, dass wir Dinge des Übersinnlichen nicht denken können, ist der Empirismus selbst dogmatisch.178 Die zweite Stelle zur Widerlegung des Empirismus: Ferner ist dieser Begriff [Noumenon] nothwendig, um die sinnliche Anschauung nicht bis über die Dinge an sich selbst auszudehnen und also um die objective Gültigkeit der sinnlichen Erkenntniß einzu­ schränken (denn die übrigen, worauf jene nicht reicht, heißen eben darum Noumena, damit man dadurch anzeige, jene Erkenntnisse 177 »Mit einem Worte: Leibniz intellectuirte die Erscheinungen, so wie Locke die Verstandesbegriffe nach seinem System der Noogonie (wenn es mir erlaubt ist, mich dieser Ausdrücke zu bedienen) insgesammt sensificirt, d. i. für nichts als empirische oder abgesonderte Reflexionsbegriffe ausgegeben hatte. Anstatt im Verstande und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene Quellen von Vorstellungen zu suchen, die aber nur in Verknüpfung objectiv gültig von Dingen urtheilen könnten, hielt sich ein jeder dieser großen Männer nur an eine von beiden, die sich ihrer Meinung nach unmittelbar auf Dinge an sich selbst bezöge, indessen daß die andere nichts that, als die Vorstellungen der ersteren zu verwirren oder zu ordnen.« (A 271/B 327). 178 »So aber, wenn der Empirismus in Ansehung der Ideen (wie es mehrentheils geschieht) selbst dogmatisch wird und dasjenige dreist verneint, was über der Sphäre seiner anschauenden Erkenntnisse ist, so fällt er selbst in den Fehler der Unbeschei­ denheit, der hier um desto tadelbarer ist, weil dadurch dem praktischen Interesse der Vernunft ein unersetzlicher Nachtheil verursacht wird.« (A 471/B 499).

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

können ihr Gebiet nicht über alles, was der Verstand denkt, erstrecken). (A 255/B 310) Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von nega­ tivem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl nicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne doch etwas Positives außer dem Umfange derselben setzen zu können. (A 255/B 310f)

Die beiden Stellen haben die gemeinsame These, dass der Begriff eines Noumenon für die Einschränkung der Sinnlichkeit da ist. Diese These steht dem Empirismus entgegen. Der Empirismus verlange laut Kant »eine vollkommene Gleichförmigkeit der Denkungsart« (A 465/B 493), in der nicht nur Erscheinungen (bzw. alle reinen Verstandesbegriffe)179 durch empirische Erkenntnis erklärt werden, sondern er beinhaltet auch eine Erklärung des Übersinnlichen nach der empirischen Denkungsart. Dies ist für Kant jenseits der Grenze der Erfahrung. Eine Verneinung des Übersinnlichen kann daher nicht durch die Denkungsart des Empirismus erfolgen. In diesem Zusammenhang ist zu erkennen, dass ein Noumenon als Grenzbegriff dem Empirismus gegenübersteht. Beim Dogmatis­ mus bzw. Rationalismus besteht die Gefahr, den Erkenntnisanspruch durch das bloße Denken auf das übersinnliche Feld zu erheben. Um dies zu kritisieren, führt Kant den regulativen Vernunftgebrauch anstatt des konstitutiven Vernunftgebrauchs ein. Dagegen besteht bei dem Empirismus die Gefahr, die Denkmöglichkeit der übersinnlichen ›Dinge‹ bzw. der Vernunftideen durch die empirische Erkenntnis (d. h. durch den Umfang der Sinnlichkeit) zu verneinen. Um dies zu kriti­ sieren, verwendet Kant das Noumenon als einen Grenzbegriff, damit die Denkmöglichkeit der Vernunftideen und die Denknotwendigkeit derselben erhalten werden können. Nun folgt eine kurze Zusammenfassung. Es wurde gezeigt, was Nou­ menon im negativen Sinn und im positiven Sinn sowie als Grenzbe­ griff bedeutet. Die Grundthese ist, dass sowohl Noumenon im nega­ tiven Sinn als auch im positiven Sinn mit einer polemischen Funktion verwendet wurde. Das Noumenon im negativen Sinn bezieht sich 179 Vgl. A 271/B 327: »So wie Locke die Verstandesbegriffe nach seinem System der Noogonie (wenn es mir erlaubt ist, mich dieser Ausdrücke zu bedienen) insgesammt, d. i. für nichts als empirische oder abgesonderte Reflexionsbegriffe ausgegeben hatte.«

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5. Zusammenfassende Antwort zu P3.1

auf den transzendentalen Verstandesgebrauch. Das Noumenon im positiven Sinn bezieht sich auf das Feld des Übersinnlichen. Beide bezeichnen einen problematischen Erkenntnisanspruch durch das Denken allein, einen Anspruch, den Kant kritisiert und dezidiert ablehnt. Im »Phaenomena und Noumena«-Kapitel diskutiert Kant im Zusammenhang mit dem Noumenon im positiven Sinn zwei weitere Fragen. Eine Frage lautet, ob man auch im Feld des Übersinnlichen zur Erkenntnis gelangen kann. Die andere Frage ist, ob man das Feld des Übersinnlichen denken kann. Die kantische Antwort auf die erste Frage fällt eindeutig negativ aus: Man kann keine Erkenntnis im Feld des Übersinnlichen erlangen, weil die übersinnlichen ›Dinge‹ nicht sinnlich gegeben werden können. Kants Antwort auf die zweite Frage fällt positiv aus: Wir können das Feld des Übersinnlichen nicht erkennen, aber dennoch denken, solange wir uns dabei nicht selbst widersprechen. Die Vernunftideen sind sogar notwendig zu denken, weil sie das Unbedingte betreffen, das die Vernunft notwendig sucht. Historisch gesehen bezieht sich die Antwort auf die erste Frage auf den Dogmatismus, der übersinnliche Erkenntnis für möglich hält. Die zweite Frage bezieht sich dagegen auf den Empirismus, der die Denk­ möglichkeit der Vernunftideen (im übersinnlichen Feld) verneint.

5. Zusammenfassende Antwort zu P3.1 In diesem Unterabschnitt wird P3.1 zusammenfassend beantwortet und gerechtfertigt. Meine Antwort dazu lautet: Sowohl der Begriff »Ding an sich« als auch der Begriff »Erscheinung« sind innerhalb der Erkenntnistheorie Kants auf die Gegenstände der Sinne bezogen. Die Gegenstände der Sinne durch den transzendentalen Verstandesge­ brauch als »Dinge an sich« auszugeben, wird aber von Kant kritisiert und abgelehnt. Kant argumentiert, dass die Gegenstände der Sinne durch den empirischen Verstandesgebrauch als »Erscheinungen« bestimmt werden sollen. Daher wird P3.1 dahingehend beantwortet, dass »Ding an sich« und »Erscheinung« in Bezug auf die Gegenstände der Sinne in der Erkenntnistheorie in kontradiktorischer Beziehung stehen. Diese kontradiktorische Beziehung kann auf drei Ebenen gerechtfertigt werden. Auf der Ebene des Verstandesgebrauchs (ausgeführt im vierten Kapitel; Hauptstück zur Antwort P3.1) werden die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« durch den transzendentalen Verstandesge­

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

brauch ausgegeben. Dagegen werden die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« durch den empirischen Verstandesgebrauch bestimmt. Diese beiden Arten vom Verstandesgebrauch stehen des­ wegen einander gegenüber. Auf der Ebene der Antinomie (ausgeführt im dritten Kapitel) bezieht sich »Ding an sich« auf das Bedingte, das durch den Verstand allein vorgestellt wird. Dagegen bezieht sich »Erscheinung« auf das Bedingte, das nach Kant durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand vorgestellt werden soll. Bei der ersten Vorstellungs­ weise wird das dialektische Argument für wahr gehalten, wodurch die Antinomie unlösbar wird. Bei der zweiten Vorstellungsweise wird das dialektische Argument für falsch gehalten, wodurch die Antinomie aufgelöst wird. Deswegen stehen die beiden Vorstellungsweisen ein­ ander gegenüber. Auf der Ebene der Metaphysikkritik (ausgeführt im zweiten Kapitel) bezieht sich »Ding an sich« auf die Ontologie (vor allem im sinnlichen Feld), die als die allgemeine Metaphysik ein Gegenstand der Metaphysikkritik Kants ist. Dagegen bezieht sich »Erscheinung« auf die »Analytik des reinen Verstandes« (A 247/B 303), die ein Resultat der Metaphysikkritik Kants ist. Die Ontologie und die Ana­ lytik des reinen Verstandes stehen deswegen einander gegenüber. Die drei Ebenen lassen sich in einem Diagramm darstellen: Kant kritisiert

Kant behauptet

Der transzendentale Verstandesgebrauch

Der empirische Verstandesgebrauch

Das Bedingte durch Ebene der Antinomie den bloßen Ver­ stand vorstellen

Das Bedingte durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand vorstellen

Ebene des Verstan­ desgebrauchs

Ebene der Metaphysikkritik

Die Ontologie

Die Analyse des reinen Verstandes

In Bezug auf die Gegenstände der Sinne

Die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«

Die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«

Das Verhältnis zwischen den drei Ebenen ist wie folgt: Die Ebene der Antinomie dient als Wegweiser für die Grundlegung der Meta­

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5. Zusammenfassende Antwort zu P3.1

physikkritik Kants. Die Ebene des Verstandesgebrauchs bildet den ersten Teil der Metaphysikkritik (Kants Kritik an der Ontologie). Die Ebene der Antinomie garantiert die Richtigkeit der Ebene des Verstan­ desgebrauchs. Im Folgenden gebe ich eine nähere Beschreibung der drei Ebenen. Ebene des Verstandesgebrauchs: Im Kontext der Erkenntnis­ theorie beziehen sich sowohl »Ding an sich« und »Erscheinung« auf die die Gegenstände der Sinne. Aber beide repräsentieren zwei unter­ schiedliche Arten des Verstandesgebrauchs beim Erfassen dieser. Die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben, ist das Resultat des transzendentalen Verstandesgebrauchs. Sie als »Erschei­ nungen« zu bestimmen, ist hingegen das Ergebnis des empirischen Verstandesgebrauch. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Arten des Verstandesgebrauchs ist, ob man die Gegenstände der Sinne nur mit dem Verstand allein oder auch mit der Sinnlich­ keit erfasst. Ebene der Metaphysikkritik: Kant übt seine Metaphysikkri­ tik am übersinnlichen Feld bzw. dem zweiten Teil der Metaphysik, der sich auf die rationale Seelenlehre, Kosmologie und Theologie bezieht. Es ist leicht zu übersehen, dass Kant auch im ersten Teil der Metaphysik bzw. dem sinnlichen Feld eine Kritik äußert. Gegenstand dieser Kritik ist die Ontologie (Metaphysica generalis), »welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doctrin zu geben« (A 247/B 303). Das Resultat dieser Kritik ist, dass die Ontologie »dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen« (ebd.) muss. Das heißt, dass der Gegenstand der Metaphysikkritik an dieser Stelle die Ontologie (als die allgemeine Metaphysik) ist und das Resultat der Metaphysikkritik von Kant »die Analytik des reinen Verstandes« (ebd.) ist. Durch die obige Analyse des ganzen Paragrafen »1. Empi­ rischer und transzendentaler Verstandesgebrauch« wird verdeutlicht, dass sich der transzendentale Verstandesgebrauch auf die Ontologie bezieht und der empirische auf »die Analytik des reinen Verstandes«. Denn unter dem transzendentalen Verstandesgebrauch werden nicht nur die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« ausgegeben. Unter diesem Verstandesgebrauch wird auch ein Erkenntnisanspruch auf Dinge überhaupt erhoben (vgl. A 238/B 298). Abgesehen davon, dass sich die Ontologie auch auf das übersinnliche Feld bezieht, weil sie sich mit Dingen überhaupt beschäftigt (dies wird im Abschnitt 4.1 des fünften Kapitels erläutert), versteht Kant den transzendentalen

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Viertes Kapitel: Empirischer und transzendentaler Verstandesgebrauch

Verstandesgebrauch innerhalb der Erkenntnistheorie als etwas zu Kritisierendes. Dagegen ist der empirische Verstandesgebrauch das Resultat der Metaphysikkritik Kants. Ebene der Antinomie: Die Auflösung der Antinomie, die ich im dritten Kapitel erörtert habe, dient als eine Rechtfertigung für meine Antwort zu P3.1. Ohne die Auflösung der Antinomie würde die Vernunft immer selbstwidersprüchlich bleiben. Die Antinomie ist laut Kant nur auflösbar, wenn das dialektische Argument als falsch erwie­ sen wird. Das dialektische Argument ist deshalb falsch, weil darin das Bedingte in diesem Argument in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Durch die ausführliche Analyse im dritten Kapitel wurde verdeutlicht, dass das Argument nur als falsch erwiesen werden kann, wenn das Bedingte im Untersatz, das auf die Gegenstände der Sinne bezogen wird, durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand angenommen wird. Demgegenüber würde das Argument für wahr gehalten, wenn man das Bedingte im Untersatz nur durch den Verstand allein betrachtet. Die Antinomie wäre in diesem Fall nicht aufzulösen. Die Antinomie kann und soll jedoch aufgelöst werden. Die Art und Weise, die Antinomie aufzulösen, ist nur durch das Bedingte als »Erscheinung« und nicht als »Ding an sich« möglich.

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Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch und das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich«

Sowohl der regulative als auch der konstitutive Vernunftgebrauch beziehen sich auf die Vernunftideen bzw. das Unbedingte. Dies steht auch im Zusammenhang mit dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.«. In Abschnitt 1 und 2 dieses Kapitels werden der konstitutive und regula­ tive Vernunftgebrauch dargestellt. Je nach Gebrauch werden die Ver­ nunftideen als ›Erscheinung‹ oder als »Dinge an sich« angenommen. In Abschnitt 3 werde ich die Frage beantworten, warum die Vernunf­ tideen nach Kant als »Dinge an sich« und nicht als ›Erscheinungen‹ bestimmt werden sollen. Dadurch wird auch P3.2 beantwortet, dass »Erscheinung« und »Ding an sich« in einer kontradiktorischen Bezie­ hung zu den Vernunftideen stehen. Hier ist es noch nötig anzumerken, dass Kant den konstitu­ tiven Vernunftgebrauch als transzendentalen und den regulativen Vernunftgebrauch als empirischen bezeichnet (vgl. A 515/B 543). Im vierten Kapitel werden die zwei Arten vom Verstandesgebrauch von Kant auch als transzendental und empirisch bezeichnet. Um eine mögliche terminologische Verwirrung zu vermeiden, verwende ich in der vorliegenden Arbeit in Bezug auf die zwei Arten vom Vernunftgebrauch die Terminologie ›konstitutiv‹ und ›regulativ‹, nicht ›transzendental‹ und ›empirisch‹.

1. Die Vernunftideen werden durch den konstitutiven Vernunftgebrauch als »Erscheinungen« ausgegeben In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass der konstitutive Ver­ nunftgebrauch die Vernunftideen als »Erscheinungen« bzw. ›Begriffe von wirklichen Dingen‹ erfasst. Man kann den konstitutiven Ver­ nunftgebrauch als eine Erweiterung des transzendentalen Verstandes­

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Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch

gebrauchs betrachten.180 Sichtbar wird dort, wie dieser Gebrauch auf die drei Vernunftideen, Seele, Welt und Gott einwirkt, wodurch diese drei Vernunftideen als etwas Verdinglichtes betrachtet und als Ausgangspunkte angenommen werden. Des Weiteren spricht Kant von zwei Fehlern der Vernunft, die aus dem konstitutiven Vernunftge­ brauch folgen. Drei Varianten des konstitutiven Vernunftgebrauchs (in Bezug auf Seele, Welt und Gott) bestehen. Das wesentliche Merkmal dieses Vernunftgebrauchs ist, dass die transzendentalen Ideen als »Begriffe von wirklichen Dingen genommen werden« (A 643/B 671). [D]ie transscendentalen Ideen sind niemals von constitutivem Gebrau­ che, so daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. (A 644/B 672)

Wie nimmt man die Ideen als Begriffe von wirklichen Dingen? Um diese Frage zu beantworten, sei an den Grundsatz der Vernunft bzw. an das kosmologische Argument erinnert, den ich im dritten Kapitel ausführlich rekonstruiert habe: ›wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch das Unbedingte gegeben‹. Nimmt man das Bedingte als »Ding an sich« (durch den transzendentalen Verstandesgebrauch), dann würde der Fehlschluss des kosmologischen Arguments verborgen bleiben. Daraus ergibt sich, dass das Unbedingte tatsächlich gegeben sei. Mit dieser Gegebenheit des Unbedingten nimmt man die Vernunftideen als Begriffe von wirklichen Dingen aus. Das heißt, dass man sie verdinglicht und versucht, sie dadurch zu erkennen. Zum Beispiel: die Welt sei unendlich, die Seele sei einfach und Gott existiere. Da die Vernunftideen auf die Totalität bzw. das Unbedingte bezogen sind, nimmt man sie als Ausgangspunkte an, um alle anderen Dinge abzu­ leiten. Um dieses Merkmal zu erklären, gehe ich auf den konstitutiven Vernunftgebrauch im Kontext von Seele, Welt und Gott ein. In Bezug auf die Seele erfolgt der konstitutive Vernunftge­ brauch dadurch, dass die logische Erörterung des Denkens überhaupt fälschlich für eine metaphysische Bestimmung des Objekts gehalten wird (vgl. B 409). Die Seele als eine Vernunftidee wird als »ein Unbe­ dingtes der kategorischen Synthesis in einem Subjekt« (A 323/B 379) gedacht. Das heißt, dass der Begriff der Seele als eine Vernunftidee durch die Synthesis der Bedingungen so weit wie möglich fortgesetzt 180

Das wird in Abschnitt 1 des siebten Kapitels thematisiert.

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1. Vernunftideen werden durch den Vernunftgebrauch als »Ersch.« ausgegeben

wird. Dies geschieht bis zu dem Punkt, an dem etwas nicht mehr als Objekt, sondern nur als Subjekt gedacht werden kann. Im Verfahren der rationalen Psychologie (bzw. der Seelenlehre) versucht man, durch eine Analyse des Bewusstseins des denkenden Subjekts die Erkenntnis desselben als Objekt zu gewinnen. Das Problem liegt laut Kant aber darin, dass man die logische Möglichkeit eines Begriffs (das Bewusstsein des denkenden Subjekts) mit der realen Möglichkeit des Dinges (die Erkenntnis für das Bewusstsein des denkenden Subjekts) verwechselt. Dementsprechend werden die Eigenschaften der Seele, wie die Einfachheit, Spiritualität und Immortalität, als Erkenntnisse des denkenden Subjekts abgeleitet (vgl. A 345/B 403). Diese Ablei­ tung sei laut Kant problematisch, weil der Unterschied zwischen dem Denken und dem Erkennen nicht begriffen werde. In Bezug auf die Welt nimmt man durch den konstitutiven Vernunftgebrauch an, dass die Welt ein Gegebenes sei. Dann versucht man zu bestimmen, ob sie zeitlich einen Anfang habe und räumlich begrenzt sei; ob alle Dinge in der Welt aus einfachen Teilen bestünden; ob alles in der Welt nach der Naturnotwendigkeit geschehe oder ob es noch ein Gesetz der Freiheit gebe; ob es ein schlechthin notwendiges Wesen in der Welt oder außer der Welt gebe. Diese acht Thesen und Antithesen in der Antinomie181 repräsentieren die dogmatischen und empirischen Positionen. Durch die in der dogmatischen Position vorausgesetzten Vernunftideen kann man »völlig a priori die ganze Kette der Bedingungen fassen, und die Ableitung des Bedingten begreifen« (A 467/B 495). Ein solcher Gedankengang, der vom Unbedingten zum Bedingten absteigt, sei auch der »Grundstein der Moral und Religion« (A 466/B 494). Dagegen steigt man in der Reihe der Bedingungen bei der empiristischen Position von einem gegebenen Anfang zu einer noch höheren Bedingung auf, ohne jemals in einem selbstständigen Ding das Unbedingte zu erhalten (vgl. ebd.). Daher entkräftet der Empirismus in Bezug auf das Praktische allen Einfluss der Moral und der Religion. Aber der Empirismus bietet dem spekulativen Interesse der Vernunft den Vorteil, dass der Verstand jederzeit auf seinem eigentümlichen Boden, dem Feld der Erfahrung, bleibt, wodurch er seine sichere Erkenntnis ohne Ende erweitern kann. Demnach erlaubt der Empirist niemals, eine Epoche der Natur für die erste oder irgendeine Grenze der Welt als die 181 Das dialektische Argument, das die vier Antinomien verursacht, habe ich schon ausführlich im dritten Kapitel analysiert.

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Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch

äußerste anzunehmen; noch Platz für die Freiheit als ein Vermögen, das unabhängig von den Gesetzen der Natur wirkt, oder gar für ein Urwesen einzuräumen (vgl. A 469f/B 497f). Wie im dritten Kapitel ausgeführt, nehmen sowohl der Dogmatismus als auch der Empirismus die Gegebenheit des Unbedingten an. Dabei verwenden beide Positionen den konstitutiven Vernunftgebrauch, obwohl ihre Behauptungen kontradiktorisch sind. In Bezug auf Gott zählt Kant drei Arten der Beweise für das Dasein Gottes aus der spekulativen Vernunft auf: die physikotheolo­ gische, die kosmologische und die ontologische. Nach Kants Ansicht beziehen sich die letzten beiden Beweisarten auf den transzendentalen Weg und der physikotheologische Beweis auf den empirischen Weg (vgl. A 591/B 619). Der von Kant wiedergegebene ontologische Got­ tesbeweis verläuft so, dass das Dasein Gottes durch eine Vorstellung des Begriffs von Gott erwiesen werden könne. Diesen Beweis kann man mit dem Gedankengang in der rationalen Psychologie in Bezug auf die Seele in Verbindung bringen, da die beiden davon ausgehen, dass man durch einen transzendentalen Begriff sein Dasein ansehen kann. Als Beispiel bezieht Kant beide auch auf den Cartesianismus (vgl. A 602/B 630). Der kosmologische Gottesbeweis lautet: »Wenn etwas existirt, so muß auch ein schlechterdings nothwendiges Wesen existiren. Nun existire zum mindesten ich selbst: also existirt ein absolut nothwendiges Wesen« (A 604/B 632). Diese Argumentation beruht auf dem »transzendentalen Naturgesetz der Kausalität« (ebd.): Wenn etwas zufällig da ist, muss eine Ursache gegeben sein. Um die Vollständigkeit dieser Reihe anzugeben, muss eine ›schlechthin notwendige‹ Ursache gegeben werden. Dieses Verständnis der Kau­ salität basiert auf dem transzendentalen Verstandesgebrauch, den Kant kritisiert, weil in dieser Argumentation durch etwas Empiri­ sches (»etwas Zufälliges« und seine Ursache) etwas Übersinnliches (»schlechthinnotwendige Ursache«) durch die Kausalität beweisen werden soll. Dagegen verbindet Kant die Kausalität nur mit einem empirischen Verstandesgebrauch, der nur in der Sinnenwelt seine Gültigkeit hat, in der man die Zeit als ein Drittes findet. Deswegen hat man kein Recht, eine kausale Verbindung zwischen dem Feld des Sinnlichen und dem Feld des Übersinnlichen aufzubauen. Man hält wiederum wie im ontologischen Beweis fälschlicherweise die logische Möglichkeit eines Begriffs für die realen Möglichkeit des Dings. Laut Kant sei der kosmologische Weg, Gott zu beweisen, ähnlich wie der ontologische Weg (vgl. A 609/B 637). Der physikotheologische Got­

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1. Vernunftideen werden durch den Vernunftgebrauch als »Ersch.« ausgegeben

tesbeweis versucht durch eine bestimmte Erfahrung, mithin die der Dinge der gegenwärtigen Welt, ihrer Beschaffenheit und Anordnung, einen Beweisgrund zu geben, der uns sicher zur Überzeugung von dem Dasein eines höchsten Wesens bringen kann (vgl. A 620/B 648). Dieser Weg beginnt empirisch, sofern sich Zeichen einer zweck­ mäßigen Ordnung der Welt angeben lassen. Daher nimmt man an, dass es eine allmächtige und weise Ursache als Intelligenz für die zweckmäßig geordnete Welt geben müsse. »[S]o vollführte er seine Absicht wirklich bloß durch reine Vernunft, ob er gleich anfänglich alle Verwandtschaft mit dieser abgeleugnet und alles auf einleuchtende Beweise aus Erfahrung ausgesetzt hatte« (A 629/B 657). Der phy­ sikotheologische Weg sei, so betont Kant, eine Mischung von der Zweckmäßigkeit der Natur und dem kosmologischen Gottesbeweis, der aber nur »ein versteckter ontologischer Beweis« (ebd.) sei. In Bezug auf die Idee eines höchsten Wesens spricht Kant von zwei Fehlern der Vernunft, die aus dem konstitutiven Gebrauch der Vernunft folgen (vgl. A 689/B 718). Der erste Fehler ist die faule Vernunft (ignava ratio): Man sieht seine Naturuntersuchung als vollendet an, und die Vernunft begibt sich zur Ruhe, als ob sie ihr Geschäft abschließend verrichtet hätte. Auf diesen Fehler trifft man in der Physikotheologie, in der der Erklärungsgrund der Natur nicht in den allgemeinen Gesetzen des Mechanismus der Materie gesucht, sondern die Natur unter Bezug auf den unerforschlichen Ratschluss der höchsten Weisheit erklärt wird (vgl. A 689f/B 717f). Diesbezüglich kritisiert Kant auch einen konstitutiven Gebrauch der psychologischen Idee, wenn »der dogmatische Spiritualist« (ebd.) sie für die Erklärung der Erscheinungen der Seele und zur Erweiterung der Erkenntnis des Subjekts benutzt.182 Der zweite Fehler der Ver­ nunft ist der Fehler der verkehrten Vernunft (perversa ratio), bei dem die Idee der systematischen Einheit nicht als ein regulatives Prinzip, sondern als ein konstitutives Prinzip benutzt wird. Daher werde diese Idee als ›hypostatisch‹ zugrunde gelegt. Dieser Fehler 182 Diese Kritik an der faulen Vernunft ist interessant in Bezug auf die Überlegungen, die Kant in der KU im § 78 zur Vereinigung der mechanistischen Erklärungsart mit der teleologischen anstellt. In diesem Abschnitt betont er, dass man alle Produkte der Natur soweit möglich mechanisch, also auf der Grundlage des Kausalprinzips des theoretischen Vernunftgebrauchs erklären soll (vgl. AA 05: 415), während auf die teleologische Erklärungsart nur unter bestimmten Bedingungen ausgegriffen werden darf und sie selbst auch dann immer nur »ein heuristisches Prinzip« (AA 05: 411) bleibt.

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Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch

erinnert an den Ableitungsgedankengang bei den kosmologischen Ideen. Beiden ist der Versuch gemein, dass man von oben herab die Natur erklären will, während Kant in der ganzen KrV den Gedan­ ken ausführt, dass man von unten hinauf die Natur erklären soll. Zusammengefasst stiftet die Vernunft nur Verwirrung, wenn man die systematische Einheit der Natur als ein konstitutives Prinzip annimmt, in dem man die Idee des höchsten Wesens als die Ursache der Natur ›hypostatisch‹ (d. h. verdinglicht) voraussetzt. Kant spricht am Anfang der Dialektik davon, dass alle unsere Erkenntnis von den Sinnen anhebe, von da zum Verstand gehe und bei der Vernunft ende (vgl. A 298/B 355). Die KrV verfährt in derselben Form. Diese Einordnung der Vermögen impliziert selbst schon den regulativen Gebrauch der Vernunft. Denn wenn man mit dem konstitutiven Gebrauch der Vernunft eine Kritik schreibt, würde man wahrscheinlich mit der Vernunft (d. h. dem übersinnlichen Feld) anfangen, weil die Vernunft im konstitutiven Gebrauch das sinnliche Feld ableiten kann und muss. Außerdem bemerkt man einen Unterschied zwischen dogmatischem und empirischem Verfahren. Der konstitutive Gebrauch bezieht sich zumeist auf das dogmatische Verfahren, weil es darum geht, einen Ableitungsgedankengang von oben herab durchzuführen. Demgegenüber verneint das Verfahren des Empirismus laut Kant die Vernunftideen. Aber der Empirismus sei selbst auch dogmatisch (vgl. A 471/B 499), weil er seine These insofern inkonsistent verfolgt, als dass er durch den Leitfaden der Erfahrung etwas außerhalb der Erfahrung behaupten möchte.

2. Die Vernunftideen werden durch den regulativen Vernunftgebrauch als »Dinge an sich« bestimmt Gegen den konstitutiven Gebrauch der Vernunft behauptet Kant den regulativen Gebrauch derselben, in dem die Vernunftideen nur zur Vollendung der möglichen Erfahrung verwendet werden können und als »focus imaginarius«, d. h. als ein sich vorzustellender Punkt für die ganze Erfahrung dienen. Dies setzt voraus, dass das dialektische Argument in der kosmologischen Antinomie ein Fehlschluss ist. Daher kann man das Unbedingte nicht als »gegeben« betrachten, son­ dern als »aufgegeben«. Kant thematisiert diesen Gebrauch hauptsäch­ lich hinsichtlich der kosmologischen Ideen im 8. Abschnitt (A 508f/B 536f) und 9. Abschnitt (A 515f/B 543f) des Antinomien-Kapitels.

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2. Vernunftideen werden durch den regul. Vernunftgebrauch als »D.a.s.« bestimmt

Nach dem Ideal-Kapitel thematisiert Kant den regulativen Gebrauch der Vernunft wieder in einem allgemeinen Sinn (vgl. A 642f/B 670f-A 704/B 732). Im Folgenden versuche ich mit dieser Reihenfolge den regulativen Gebrauch der Vernunft zu erklären. Danach wird auch die Frage beantwortet, wie die Vernunftideen im regulativen Sinn auf den Begriff »Ding an sich« bezogen sind. Im 8. Abschnitt des Antinomien-Kapitels wird das regula­ tive Prinzip in Bezug auf die kosmologischen Ideen thematisiert. Kant fängt mit dem Resultat des letzten Abschnitts an, demzufolge das Maximum der Reihe durch den kosmologischen Grundsatz der Totali­ tät nicht gegeben wird, sondern bloß im Regress derselben aufgegeben werden kann. Demzufolge ist dieser ›Grundsatz‹ nicht als Axiom, sondern als ein Problem für den Verstand bzw. für das Subjekt gültig. Daher ist der ›Grundsatz‹ der Vernunft eigentlich nur eine Regel, mit der nur postuliert wird, »was von uns im Regressus geschehen soll, und nicht anticipirt, was im Objecte vor allem Regressus an sich gegeben ist« (A 509/B 537). Daher nennt Kant ihn ein regulatives Prinzip der Vernunft. Man sieht hier, dass Kant nicht den ›Grundsatz‹ der Vernunft selbst aufgeben möchte, sondern nur seine Deutung als ein konstitutives Prinzip der Vernunft, weil dadurch die subjek­ tive Notwendigkeit der Vernunftideen als objektive Notwendigkeit verkannt werde. Mit dem zutreffenden Grundsatz der Vernunft kann man nicht sagen, »was das Object sei, sondern wie der empirische Regressus anzustellen sei, um zu dem vollständigen Begriffe des Objects zu gelangen« (A 510/B 538). Denn das Unbedingte wird gar nicht in der Erfahrung angetroffen. Die Reihe kann nur beim Bedingten anfangen und zum Unbedingten fortgehen. Wenn man das Unbedingte als ein Objekt annimmt, wird auch angenommen, dass die Reihe beim Unbedingten beginnt und zum Bedingten abgeleitet wird. Dieser Ableitungsgedankengang wird schon im letzten Abschnitt als ein konstitutives Prinzip der Vernunft anerkannt und von Kant kriti­ siert. Im 9. Abschnitt des Antinomien-Kapitels ordnet Kant seiner Auflösung der kosmologischen Ideen folgendem Thema zu: »Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Princips der Vernunft in Ansehung aller kosmologischen Ideen«. Man kann auch diesen Abschnitt als eine Anwendung des regulativen Prinzips an aller Antinomie ansehen. Bei den beiden mathematischen Ideen (Größe der Welt, dem Raum und der Zeit nach, Teilbarkeit der Materie) seien die beiden entgegengesetzten Behauptungen für falsch erklärt worden

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Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch

(vgl. A 528/B 556). Dagegen können die beiden Thesen bei der dyna­ mischen Antinomie (Naturnotwendigkeit und Kausalität aus Freiheit; Zufälligkeit und Notwendigkeit des Daseins) in einer berechtigten Bedeutung wahr sein.183 Denn die mathematischen Ideen handeln von der Synthesis des Gleichartigen, während die dynamischen Ideen von der Synthesis des Ungleichartigen handeln (vgl. A 531/B 559). Der regulative Gebrauch der Vernunft für die mathematischen Ideen bleibt also innerhalb der Rahmenbedingung, dass man niemals die Welt als Ganze in die Erscheinungsreihe hineinführen soll, da diese Welt als Ganze für die Erscheinungsreihe ein Ungleichartiges ist, das etwas Intelligibles ist. Das heißt, dass die Welt als eine Vernunftidee niemals in der Anschauung gegeben werden, sondern nur durch das Denken erworben werden kann. Daher kann man sie nicht als eine sinnliche Bedingung (als ein Glied der Erscheinungsreihe) betrach­ ten, der man ein sinnliches Prädikat (wie endlich oder unendlich) zuschreiben kann. In der kosmologischen Untersuchung soll man die Bedingungen sowohl der inneren als auch der äußeren Naturerschei­ nungen in einer solchen nirgends zu vollendenden Untersuchung verfolgen, als ob dieselbe an sich unendlich und ohne ein erstes oder oberstes Glied sei (vgl. A 672/B 700). Dagegen bedeutet der regulative Gebrauch der Vernunft für die dynamischen Ideen, dass man sich eine ungleichartige Bedingung (als etwas Intelligibles) außer der dynamischen Reihe sinnlicher Bedin­ gungen vorstellen darf, um der Vernunft, die immer das Unbedingte sucht, »Genüge« (A 531/B 559) zu leisten und zugleich ohne die empirische Reihe der Bedingungen des Verstandes abzubrechen. In diesem Sinn spricht Kant davon, dass die Vernunft sich die Idee von einer Spontaneität bzw. der Freiheit schaffe (vgl. A 533/B 561). In Bezug auf die letzte Antinomie stellt sich die Vernunft eine nicht empirische Bedingung, d. i. ein unbedingt notwendiges Wesen, vor, auch wenn alle Dinge der Sinnenwelt durchaus zufällig sind, mithin auch immer nur eine empirisch bedingte Existenz haben (vgl. A 560/B 588).184 Im Anhang zur transzendentalen Dialektik spricht Kant unter dem Titel »Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen 183 Das Verhältnis zwischen der Auflösung der (mathematischen und dynamischen) Antinomie und dem (analytischen und synthetischen) Urteil wurde in Abschnitt 2.2.2 des dritten Kapitels thematisiert. 184 Über Kants Auflösung der dynamischen Ideen vgl. auch Abschnitt 2.2.2 »Meta­ physikkritik-Analyse« im dritten Kapitel.

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2. Vernunftideen werden durch den regul. Vernunftgebrauch als »D.a.s.« bestimmt

Vernunft« noch von allen Vernunftideen im regulativen Gebrauch. Vor allem betont Kant wieder, dass die menschliche Vernunft einen natürlichen Hang hat, die Grenze möglicher Erfahrung zu überschrei­ ten. Daher seien die transzendentalen Ideen natürlich (vgl. A 642/B 670). Das Entscheidende ist, ob man sie richtig gebrauchen kann. Im konstitutiven Gebrauch werden sie als ›Begriffe von wirklichen Din­ gen‹ verstanden. Der regulative Gebrauch der Vernunft fordert aber: den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusam­ menlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt, ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen. (A 644/B 672)

An dieser Stelle wird verdeutlicht, dass der regulative Vernunftge­ brauch sich die Vernunftidee so vorstellt, dass sie nicht an sich hypostasiert wird, sondern dass sie für die vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis da ist. Die Ideen sind nur ein »focus imagina­ rius«, d. h. ein vorgestellter Punkt. Daher sind solche Ideen nicht aus der Natur geschöpft, sondern man befragt die Natur durch die Ideen, als ob die Erkenntnis in der Natur mangelhaft sei. Kant nimmt das Beispiel in der Naturforschung, dass man etwas wie reine Erde, reines Wasser oder reine Luft annehme, die nur als Gedankendinge von der Vernunft eingebildet seien. Solche »reine[n] Begriffe« werden in der Forschung nötig, um den Anteil der Erde, des Wassers oder der Luft zu bestimmen (vgl. A 646/B 674). In diesem Sinn spricht Kant auch von den Prinzipen der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen (vgl. A 658/B 686). Unter dem Titel »Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft« spricht Kant wiederum vom regulativen Gebrauch der Vernunft. Wie bei den reinen Verstandesbegriffen macht Kant hier eine transzendentale Deduktion aller Ideen der spekulativen Vernunft (vgl. A 671/B 699). Kant beginnt die Deduk­ tion der Ideen mit einer Unterscheidung zwischen »Gegenstand schlechthin« (A 670/B 698) und »Gegenstand in der Idee« (ebd.). In diesem Rahmen lässt sich »Gegenstand schlechthin« als Idee im konstitutiven Gebrauch verstehen, während ein »Gegenstand in der Idee« als Idee im regulativen Gebrauch verstanden wird. Unter einem ›Gegenstand schlechthin‹ versteht Kant, dass der Begriff den Gegenstand bestimmt, während er unter ›Gegenstand in der Idee‹

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Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch

nur ein Schema versteht. Das heißt: Durch diesen Begriff wird kein Gegenstand gegeben, sondern er dient nur dazu, uns andere Gegen­ stände nach der systematischen Einheit der Idee indirekt vorstellen zu können (vgl. ebd.). Dann sagt Kant, dass die Vernunftideen nur heuristische Begriffe seien. Mit ihnen wird nicht gesagt, wie ein Gegenstand beschaffen ist, sondern nur, »wie wir unter der Leitung desselben die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen« (A 671/B 699). Dies lässt sich einfach mit dem Begriffspaar »gegeben/aufge­ geben« verknüpfen. Bei der metaphysischen Deutung der Vernunft­ ideen, die sie im konstitutiven Gebrauch vornimmt, sieht man die durch Ideen geschaffenen Gegenstände als ein Gegebenes. Damit wird versucht, den Erkenntnisanspruch auf die Vernunftideen anzu­ wenden. Dagegen sieht Kant sie im regulativen Gebrauch als Aufgabe, der zufolge man immer weiter die systematische Einheit der Erfah­ rung suchen soll. In diesem Zusammenhang spricht Kant von einem »Als-ob«-Charakter der regulativen Vernunftideen. Damit betont Kant, dass man die Vernunftideen nicht als objektiv und hypostatisch annehmen darf, sondern sie nur als Schema des regulativen Prinzips der systematischen Einheit aller Naturerkenntnis gelten. In diesem Sinn seien die Vernunftideen nicht bloß leere Gedankendinge, son­ dern sie sollen »im mindesten einige, wenn auch nur unbestimmte, objektive Gültigkeit haben« (A 669/B 697). Dieser Punkt wird in Abschnitt 2.5.1 dieses Kapitels im Zusammenhang mit der Problem­ stellung, wie das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der Erscheinung zu verstehen ist, näher betrachtet. Zusammenfassend kann man zwei Schwerpunkte des regulati­ ven Vernunftgebrauchs wiedergeben. Der erste Schwerpunkt liegt darin, dass die Vernunftideen nur eine subjektive Notwendigkeit der Vernunft ausdrücken. Der zweite liegt darin, dass sie der Absicht dienen, die notwendige und größtmögliche Natureinheit zu suchen. Daher wird das Unbedingte vom anmaßenden und dogmatischen Erkenntnisanspruch, den der konstitutive Vernunftgebrauch fordert, befreit. Gleichfalls verteidigt Kant die Denkmöglichkeit der Vernunf­ tideen vor einer Verneinung derselben aus der Perspektive des Empi­ rismus.

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3. Vernunftideen als D.a.s, nicht als Ersch.

3. Warum sollen die Vernunftideen laut Kant als Dinge an sich nicht als »Erscheinungen« bestimmt werden? (als Antwort auf P3.2) Die Antwort auf P3.1 (in Abschnitt 5.1 des vierten Kapitels) lau­ tet, dass die Gegenstände der Sinne (in Bezug auf das Bedingte) ausschließlich als »Erscheinungen« und nicht als »Dinge an sich« bestimmt werden sollen. Ansonsten entsteht die kosmologische Anti­ nomie. Dagegen sollen, wie in Abschnitt 1 und Abschnitt 2 des fünften Kapitels gezeigt wurde, die Vernunftideen (in Bezug auf das Unbedingte) laut Kant ausschließlich als »Dinge an sich« und nicht als »Erscheinungen« (d. i. als etwas Verdinglichtes) bestimmt werden sollen. In der berühmten Stelle der B-Vorrede der KrV werden das Unbedingte und »Ding an sich« in Verbindung gebracht: ›das Unbe­ dingte müsse nicht an den Dingen, die wir kennen, sondern an den Dingen, die wir nicht erkennen, als Sache an sich selbst angetroffen werden‹ (vgl. B XX). Nun analysiere ich diese Stelle, damit der Zusammenhang zwischen den Vernunftideen (im regulativen Sinn) und dem Begriff »Ding an sich« erklärt wird. [1] Aber hierin liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahr­ heit des Resultats jener ersten Würdigung unserer Vernunfterkenntniß a priori, daß sie nämlich nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt liegen lasse. [2] Denn das, was uns nothwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst nothwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten und dadurch die Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt. [3] Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntniß richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, daß das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne; [4] dagegen, wenn man annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr als Erscheinungen richten sich nach unserer Vorstellungsart, der Widerspruch wegfalle; [5] und daß folglich das Unbedingte nicht an Dingen, so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst angetroffen werden müsse. (B XXf; Ergänzungen durch den Verfasser)

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Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch

Diese Stelle folgt auf Kants Einteilung der Metaphysik in zwei Teile. Seine Kritik verspricht der Metaphysik in ihrem ersten Teil den ›siche­ ren Gang einer Wissenschaft‹. Das heißt, dass die Verstandesbegriffe als Begriffe a priori ihre objektive Gültigkeit haben, weil solche Begriffe im sinnlichen Feld mit der Sinnlichkeit kombiniert werden können. Dies geschieht durch den empirischen Verstandesgebrauch, durch den die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« bestimmt werden. Aber diese Kritik ist für den zweiten Teil der Metaphysik nachteilig. Denn nach Kant kann man keine Erkenntnis über die Grenze möglicher Erfahrung hinaus gewinnen. Die Vernunftbegriffe besitzen dann keine objektive Gültigkeit. Das heißt, dass aus solchen Begriffen keine Erkenntnis entspringen kann. Im ersten Satz [1] fasst Kant dies dahingehend zusammen, dass unsere ›Vernunfterkenntnis a priori‹ nur auf »Erscheinungen« gerichtet sei. Dann folgt ein irreführender Ausdruck von Kant im ersten Satz [1]: »die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt, liegen lasse«. Um diesen Ausdruck zu verstehen, muss man ihn im Zusammenhang mit dem zweiten Satz [2] lesen, da die beiden Sätze durch das Wort »denn« ein Argument aufbauen. Für Kant steht hier offenbar die ›Sache an sich‹ mit dem Unbedingten im Zusammenhang, dss sich auf die Vernunftbegriffe bezieht. Es kann hier nicht gemeint sein, dass die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« angenommen werden sollten. Kant schreibt nämlich im zweiten Satz [2], dass wir notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinausgehen, um das Unbedingte zu suchen. Diese Notwendigkeit, das Unbedingte zu suchen, bezieht sich auf die natürliche Tendenz der reinen Vernunft (vgl. zweites Kapitel). In den Sätzen [3] und [4] folgt für Kant, dass das Unbedingte nicht ohne Widerspruch gedacht werden kann, wenn man annimmt, dass unsere Erfahrungserkenntnis sich nach den Gegenständen als Dinge an sich selbst richte. Wenn man hingegen die Gegenstände der Sinne als Erscheinungen annehme, falle der Widerspruch weg. Dies kann man als eine kurze Zusammenfassung der Antinomie ansehen, und dies bestätigt auch meine These in den Abschnitten 2 und 3 des vierten Kapitels, dass die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« und nicht als »Dinge an sich« bestimmt werden sollen. Ich nehme die erste Antinomie (die Welt ist dem Raum nach entweder unendlich oder endlich) als Beispiel, um diese Zusammenfassung der Antinomie zu erklären. Das Begriffspaar »unendlich/endlich« als Prädikat kann nur mit einer sinnlichen Gegebenheit zusammengesetzt werden, da

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3. Vernunftideen als D.a.s, nicht als Ersch.

es sich dabei um das Maß der räumlichen Ausdehnung handelt. Die Welt sei laut Kant aber keine sinnliche Gegebenheit, sondern eine absolute Totalität der Gegebenheiten bzw. das Unbedingte. Diese Totalität kann nicht durch empirische Prädikate wie »unendlich/end­ lich« bestimmt werden. Wenn man die Totalität mit der Bestimmung annimmt, dass die Welt unendlich oder endlich sei, nimmt man eigentlich an, dass die Welt eine Gegebenheit oder »als ein […] an sich selbst wirkliche[s] Ding […]« (A 504/B 532) sei. Die These und die Antithese bei den mathematischen Vernunftideen sind laut Kant falsch, denn sowohl der Dogmatismus als auch der Empirismus nehmen diese Gegebenheit als Voraussetzung. Im Gegensatz dazu ist die Welt weder unendlich noch endlich, wenn man sie nicht als ein wirkliches Ding annimmt. Die Welt »ist nur im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen und für sich selbst gar nicht anzutreffen« (A 505/B 533). Daraus entsteht kein Widerspruch beim Denken der Welt als ein Unbedingtes. Im fünften Satz [5] setzt Kant das Unbedingte und den Begriff »Ding an sich« in Verbindung: »daß folglich das Unbedingte nicht an Dingen, sofern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, sofern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst angetroffen werden müsse«. Hier stelle ich vier Aspekte in Bezug auf den fünften Satz [5] dar, die für die Beziehung zwischen dem Unbe­ dingten und dem Begriffspaar »Ding an sich/Erscheinung« wichtig sind. Der erste Aspekt betrifft das Wort »folglich«. Damit zeigt Kant, dass seine Folgerung (›Unbedingtes müsse an unbekannten Dingen anzutreffen sein‹) zusammen mit den Sätzen [3] und [4] das folgende Argument begründet: das Unbedingte müsse an den unbekannten Dingen anzutreffen sein, nicht an den erkennbaren Dingen. Denn das Unbedingte kann nicht ohne Widerspruch gedacht werden, wenn man die Gegenstände als »Dinge an sich« annimmt. Dies versursacht die kosmologische Antinomie. Nur wenn man die Gegenstände als »Erscheinungen« annimmt, wird der Widerspruch, das Unbedingte zu denken, wegfallen. Denn dadurch wird die kosmologische Antino­ mie aufgelöst. Der zweite Aspekt des fünften Satzes [5], der im Kontext dieser Arbeit relevant ist, betrifft die »Dinge […], so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden)« und stellt klar, dass das Unbedingte nicht an solchen Dingen angetroffen wird. Kant bezieht sich bei solchen Din­ gen offenbar auf die als Erscheinungen bestimmten Gegenstände der Sinne. Mit dem Inhalt der Klammer, dass »sie uns gegeben werden«,

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Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch

ist gemeint, dass solche Dinge uns sinnlich gegeben werden und wir sie dadurch auch erkennen. Warum kann das Unbedingte nicht an den Gegenständen der Sinne angetroffen werden? Im Rekurs auf das kosmologische Argument befinden sich die Gegenstände der Sinne immer in der Synthesis des Bedingten mit seinen Bedingungen. Das Unbedingte kann natürlich nicht ein Bedingtes oder eine Bedingung sein, da ansonsten das Unbedingte nicht auf die absolute Totalität der Erscheinungen bezogen werden kann. Der dritte Aspekt des fünften Satzes [5] bezieht sich auf die Dinge, »so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst«. In Bezug auf den zweiten Aspekt habe ich bereits festgestellt, dass sich »Dinge […], so fern wir sie kennen« auf die Gegenstände der Sinne als Erscheinungen beziehen. Dementsprechend können Dinge, »so fern wir sie nicht kennen« nicht dieselben Dinge sein, sondern Dinge, die nicht durch Sinnlichkeit gegeben werden können. Daher beziehen sie sich bei Kant nur auf das übersinnliche Feld (bzw. die Vernunftideen). Man kann die Unterteilung in bekannten und nicht bekannten Dingen mit Kants Unterscheidung zwischen Erkennen und Denken verknüpfen. In der B-Deduktion schreibt Kant über den Unterschied von Denken und Erkennen:185 Sich einen Gegenstand denken und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei. Zum Erkenntnisse gehören nämlich zwei Stücke: erstlich der Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie), und zweitens die Anschauung, dadurch er gegeben wird; denn könnte dem Begriffe eine korrespondirende Anschauung gar nicht gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand und durch ihn gar keine Erkenntniß von irgend einem Dinge möglich, weil es, so viel ich wüßte, nichts gäbe, noch geben könnte, worauf mein Gedanke angewandt werden könne. Nun ist alle uns mögliche Anschauung sinnlich (Ästhetik), also kann das Denken eines Gegenstandes überhaupt durch einen reinen 185 Ergänzend soll hier eine zweite Stelle aus der B-Vorrede angeführt werden: »Einen Gegenstand erkennen, dazu wird erfordert, daß ich seine Möglichkeit (es sei nach dem Zeugniß der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit, oder a priori durch Vernunft) beweisen könne. Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d. i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Object correspondire oder nicht. Um einem solchen Begriffe aber objective Gültigkeit (reale Möglichkeit, denn die erstere war bloß die logische) beizulegen, dazu wird etwas mehr erfordert. Dieses Mehrere aber braucht eben nicht in theoretischen Erkenntnißquellen gesucht zu werden, es kann auch in praktischen liegen.« (B XXVII).

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3. Vernunftideen als D.a.s, nicht als Ersch.

Verstandesbegriff bei uns nur Erkenntniß werden, so fern dieser auf Gegenstände der Sinne bezogen wird. (B 146)

Einen Gegenstand zu denken und einen Gegenstand zu erkennen ist also bei Kant nicht dasselbe. Denn zum Erkennen eines Gegen­ standes werden zwei Bedingungen a priori benötigt: Begriff und Anschauung. Da unsere Anschauung sinnlich ist, kann das Denken eines Gegenstandes nur dadurch die Erkenntnis dieses Gegenstandes sein, wenn das Denken (Begriff) auf die Gegenstände der Sinne (die sinnlich gegeben werden) bezogen wird. Dies geschieht durch den empirischen Verstandesgebrauch. In Rekurs auf den dritten Aspekt kann man sagen, dass das Denken eines Gegenstandes nicht mit der Erkenntnis dieses Gegenstandes gleichgesetzt werden kann. Beim Denken bzw. Begriff kann man bei Kant zweierlei unterscheiden, wie ich im zweiten Kapitel schon erwähnt habe. Man kann sowohl Ver­ standesbegriffe als auch Vernunftbegriffe unter das Denken bzw. den Begriff ordnen. Die Vernunftbegriffe sind ins Unbedingte erweitere Verstandesbegriffe (vgl. A 409/B 436). Aber die Vernunftbegriffe schaffen selbst keine Erkenntnis im theoretischen Sinn, weil keine »nichtsinnliche Anschauung« (B 307) gegeben werden kann. Daher kann man sagen, dass Kant bei den Dingen, »so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst«, sicherlich die Vernunftbegriffe meint, die sich auf das Unbedingte beziehen. Der vierte Aspekt betrifft das Wort »müsse«. Kant sagt nicht, dass das Unbedingte an den Dingen, sofern wir sie nicht kennen, als ›Sache an sich selbst‹ angetroffen wird, sondern »angetroffen werden müsse«. Dieses »müsse« hebt eine Notwendigkeit hervor, die auf den Zusammenhang zwischen den Gegenständen der Sinne als »Erschei­ nungen« und den Vernunftideen als »Dinge an sich« bezogen ist. Kant setzt voraus, dass die Suche nach dem Unbedingten die natürliche Tendenz der reinen Vernunft sei, aber dieses Suchen ein Problem aufwerfen würde, wenn die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« angenommen würden. Denn die kosmologische Antinomie wird in diesem Fall entstehen, und das Unbedingte kann nicht ohne Widerspruch gedacht werden. Nur wenn man die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« annimmt, wird die Antinomie aufgelöst. Daher kann das Unbedingte ohne Widerspruch gedacht werden. Der Zusammenhang zwischen den Vernunftideen als »Dinge an sich« und der Auflösung der kosmologischen Antinomie wird im Folgenden näher betrachtet. Die Antinomie kann nur aufgelöst

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Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch

werden, wenn das dialektische Argument als Fehlschluss beurteilt wird. Daraus folgt, dass das Unbedingte nicht gegeben, sondern nur aufgegeben ist (als Aufgabe für das Subjekt gegeben). Die Antinomie kann nicht aufgelöst werden, wenn man das dialektische Argument für wahr hält. Daraus folgt, dass das Unbedingte gegeben ist. Setzt man die Gegebenheit des Unbedingten voraus, wird das Unbedingte durch den dogmatischen Erkenntnisanspruch bestimmt: Die Seele sei unsterblich, die Welt sei endlich, Gott existiere. Der Empirismus versucht, diesen Erkenntnisanspruch (die Welt sei unendlich usw.) zu widerlegen. Indessen akzeptiert der Empirismus die problematische Voraussetzung des Dogmatismus unreflektiert, dass das Unbedingte gegeben sei. Daraus entsteht die kosmologische Antinomie.186 Setzt man das Unbedingte nur als etwas Aufgegebenes voraus, wird das Denken des Unbedingten von diesen kontradiktorischen Bestimmun­ gen befreit. Denn die Welt als eine Vernunftidee ist in diesem Fall nicht ein gegebenes Ding, welches man durch das Begriffspaar »end­ lich/unendlich« bestimmen kann. Polemisch gesehen steht die Annahme der Vernunftideen als »Dinge an sich« sowohl dem Dogmatismus als auch dem Empirismus entgegen. Sowohl der Erkenntnisanspruch auf die Vernunftideen des Dogmatismus als auch die absolute Verneinung der Vernunft­ ideen des Empirismus sind laut Kant problematisch. Daher setzt er die Unerkennbarkeit der Vernunftideen als »Dinge an sich« dem Erkenntnisanspruch derselben (Dogmatismus) entgegen. Die Denk­ möglichkeit und die Denknotwendigkeit der Vernunftideen setzt er der absoluten Verneinung derselben (Empirismus) entgegen. Ich erkläre zuerst Kants Kritik am Empirismus durch die Konstruktion der Vernunftideen als »Dinge an sich« und danach Kants darauf aufbauende Kritik am Dogmatismus. Die Vernunftideen als »Dinge an sich« zu bestimmen, richtet sich gegen den Empirismus, weil der Empirismus die Denkmöglichkeit der Vernunftideen verneint. Aber durch die Konstruktion der Vernunft­ ideen als »Dinge an sich« und ihre Beziehung auf das Unbedingte zeigt Kant, dass die Vernunftideen nicht nur möglich, sondern auch notwendig zu denken sind: der Begriff »Ding an sich« bezeichnet ein Etwas, das durch das Denken möglich ist. Dieses Etwas als Vernunft­ 186 Laut Kant entsteht bei der Gegenbehauptung über Seele und Gott kein transzen­ dentaler Schein, der die Vernunft in einen antinomischen Zustand versetzen kann (vgl. A 406/B 433 und 1.1 im dritten Kapitel dieser Arbeit).

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3. Vernunftideen als D.a.s, nicht als Ersch.

idee ist notwendig zu denken, weil es auf die natürliche Tendenz der Vernunft bezogen ist. Das Unbedingte (bzw. die transzendentale Vernunftideen) als »Ding an sich« zu bestimmen, heißt in Bezug auf Kants Kritik am Dogmatismus, dass das Unbedingte von aller erkenntnistheoreti­ schen Bestimmungen befreit ist. Das Unbedingte als ›Erscheinung‹ (d. i. etwas Verdinglichtes) auszugeben, heißt dagegen, dass das Unbedingte erkenntnistheoretisch bestimmt wird. Die Konsequenz dieser Bestimmung ist laut Kant nachteilig für den spekulativen und praktischen Gebrauch der reinen Vernunft. In Bezug auf den speku­ lativen Gebrauch der reinen Vernunft bleibt die Vernunft in einem antinomischen Zustand (in der Kosmologie), wie es im dritten Kapitel und auch oben gezeigt wurde. Für Ideen wie Seele und Gott (und auch Welt) würden viele ›vermeintliche Erkenntnisse‹ vorgebracht, die sich alle auf dogmatische Thesen in der rationalen Seelenlehre, Kosmologie und Gottesbeweise beziehen. Das heißt, dass alle dog­ matischen Thesen im zweiten Teil der Metaphysik »unter dem Titel und dem Pompe von Wissenschaft und Vernunfteinsicht« (A 470/B 498) bezeichnet werden. Dies ist eigentlich das Resultat des konsti­ tutiven Vernunftgebrauchs, denn man betrachtet beim konstitutiven Vernunftgebrauch die Vernunftideen als etwas Verdinglichtes und als Ausgangspunkt. Dies macht die Vernunftideen als das Unbedingte selbstwidersprüchlich. Das heißt, dass man durch den konstitutiven Vernunftgebrauch die Vernunftideen, die das Unbedingte sein sol­ len, eigentlich zum Bedingten macht. Wenn das Unbedingte als ein Gegebenes gedacht werden würde, kann es nur in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort im Raum gegeben sein, und so gehörte dieses Unbedingte in der Reihe der Bedingungen. Alle Glieder in dieser Reihe sind aber ausnahmslos bedingt. Folglich wird das Unbedingte als ein Bedingtes gedacht. Auch in diesem Sinn wird das Unbedingte als ›Erscheinung‹ angenommen (vgl. B XXX). Dagegen setzt man im regulativen Vernunftgebrauch voraus, dass das Unbedingte nicht gegeben ist, sondern nur aufgegeben. Dadurch wird das Unbedingte weder als eine Bedingung in der Reihe eingesetzt noch als ein vollendetes Ganzes (im Sinn der Gegebenheit) betrachtet, sondern nur als ein eingebildeter Punkt (focus imagina­ rius, vgl. A 644/B 672), um die Vollendung der Reihe vorzustellen. Dieses Unbedingte kann »nirgend anders als in unseren Gedanken gegeben werden« (A 481/B 509). Daher kann das Unbedingte nicht durch Prädikate im theoretischen Sinn bestimmt werden. Auch in

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Fünftes Kapitel: Regulativer und konstitutiver Vernunftgebrauch

diesem Sinn wird das Unbedingte als »Ding an sich« angenommen. Es scheint aber sehr merkwürdig zu sein, dass der Begriff »Ding an sich« in Bezug auf die Gegenstände der Sinne in meiner Lesart als ein polemischer Begriff verstanden wurde, zugleich aber in Bezug auf die Vernunftideen als ein kantischer Begriff. Kann der Begriff »Ding an sich« in den beiden Fällen überhaupt die gleiche Bedeutung haben? Der Begriff »Ding an sich« bezieht sich in den beiden Fällen eigentlich auf ein und dieselbe Bedeutung: die alleinige Anwendung der Denkvermögen (Verstand und Vernunft)187. Im Folgenden wird diese Antwort weiter ausgeführt: Zuerst soll »die Konstruktion der Gegenstände der Sinne als Dinge an sich« thematisiert werden. Damit ist die Bedeutung des »an sich« im Begriff »Ding an sich« zu konkretisieren. Danach ist zu folgern, dass die Bezogenheit der Vernunftideen auf den Begriff »Ding an sich« darin besteht, dass die beiden auf die alleinige Anwendung des Denkvermögens eingehen. Beim Abschnitt 2 im vierten Kapitel habe ich systematisch die Aktion, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben, erörtert. Der Grundgedanke dort ist, dass man durch den bloßen Verstand die Gegenstände der Sinne zu bestimmen versucht. Dies geschieht durch den transzendentalen Verstandesgebrauch. Diese Theorie steht der Position Kants entgegen. Denn Kant ist der Auffas­ sung, dass die Gegenstände der Sinne durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand als »Erscheinungen« zu bestimmen sind. Dies geschieht durch den empirischen Verstandesgebrauch. Historisch gesehen nimmt Kant Leibniz als ein Beispiel für dieses Vorgehen, die Gegenstände der Sinne durch den bloßen Verstand als »Dinge an sich« auszugeben. Daher »intellektuierte« (A 271/B 327) Leibniz die Erscheinungen. Ein paar Sätze später sagt Kant: »Leibniz verglich demnach die Gegenstände der Sinne als Dinge überhaupt bloß im Verstande unter einander« (ebd.). Denn die Gegenstände der Sinne, die durch die Sinnlichkeit gegeben sind, werden nach der Aktion des transzendentalen Verstandesgebrauch als »reine […] Verstandesobjekt[e]« (A 270/B 326) genommen. Daher sind die Gegenstände der Sinne nichts anderes als ein Gedanken vom Ding überhaupt und dasjenige, was man sich durch bloßen Verstand bzw. Vernunft vorstellt. 187 Dies wird in der Abschlussbetrachtung der vorliegenden Arbeit mit Blick auf die chemische Methode Kants weiter diskutiert.

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3. Vernunftideen als D.a.s, nicht als Ersch.

Anhand dieses Vorwurfs lässt sich die Bedeutung des »an sich« im Begriff »Ding an sich« näher erläutern. Der Wortlaut »an sich« bezieht sich auf eine alleinige Anwendung der Denkvermögen (Ver­ stand und Vernunft). Die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben, bezieht sich auf den transzendentalen Verstandes­ gebrauch, der eine alleinige Anwendung des Verstandes ist. Dies ist laut Kant problematisch, da hier die subjektive Bestimmung des Denkens mit der objektiven Bestimmung des Dings verwechselt wird. Die Vernunftideen als »Dinge an sich« zu bestimmen, bezieht sich auf den regulativen Verstandesgebrauch, der ebenfalls eine allei­ nige Anwendung der Vernunft ist. Dies ist laut Kant aber gerecht­ fertigt, da die Vernunftideen hier die subjektive Notwendigkeit der Vernunft aufzeigen. Beim konstitutiven Vernunftgebrauch werden die Vernunftideen für eine objektive Notwendigkeit der Vernunft gehalten. Dies geschieht aber nicht mit einer alleinigen Anwendung der Vernunft. Man versucht hier die Vernunftideen durch Prädikate zu bestimmen: Die Welt sei endlich/unendlich; die Seele sei Substanz; Gott existiere. Dadurch werden die Vernunftideen nicht allein durch die Vernunft vorgestellt. Sowohl der Verstand als auch die Vernunft werden von Kant als Denkvermögen verstanden. Daher wird ersicht­ lich, dass der Begriff »Ding an sich« auf die alleinige Anwendung der Denkvermögen bezogen ist. Das ist unabhängig davon, ob dieser Begriff im polemischen (wie bei den Gegenständen der Sinne) oder kantischen Sinn (wie bei den Vernunftideen) benutzt wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Vernunftideen laut Kant nur als »Dinge an sich« nicht als ›Erscheinungen‹ bestimmt werden sollen, weil sie nur als »Dinge an sich« theoretisch unbe­ stimmt bleiben können. Das ist für Kants Kritik am Dogmatismus entscheidend. Die Konstruktion der Vernunftideen als »Dinge an sich« hat auch mit Kants Kritik am Empirismus zu tun, weil der Begriff »Ding an sich« einen Platz für die Denkmöglichkeit der Vernunftideen und die Denknotwendigkeit derselben schafft.

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Sechstes Kapitel: Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs und das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich«

In diesem Kapitel wird das Verhältnis zwischen dem praktischen Vernunftgebrauch und dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« erörtert: Zuerst soll der Zusammenhang zwischen Kants Ideenlehre und der praktischen Philosophie in Abschnitt 1 dargestellt werden. Danach gehe ich auf die Frage ein, warum Kant den moralisch-praktischen Bestimmungsgrund des Willens mit dem Begriff »Ding an sich« und die technisch-praktischen Bestimmungsgründe mit dem Begriff »Erscheinung« verbindet. Dies dient der Beantwortung von P3.3: »Erscheinung« und »Ding an sich« stehen als Folgen von zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs in einer kontradiktorischen Bezie­ hung.

1. Der Zusammenhang der Ideenlehre mit der praktischen Philosophie in Bezug auf das Begriffspaar »Erscheinung/ Ding an sich« Im polemischen Sinn konfrontiert Kant mit dem regulativen Ver­ nunftgebrauch in der Ideenlehre sowohl den Dogmatismus als auch den Empirismus. Der Dogmatismus verlangt laut Kant den Erkennt­ nisanspruch in Bezug auf die Vernunftideen. Demgegenüber behaup­ tet Kant die Unerkennbarkeit der Vernunftideen. Der Empirismus verlangt laut Kant eine Verneinung in Bezug auf die Vernunftideen. Demgegenüber plädiert Kant für die Denkmöglichkeit und die Den­ knotwendigkeit der Vernunftideen. Die Denkmöglichkeit und die Denknotwendigkeit werden durch die Relation »Bedingt/Unbedingt« gerechtfertigt. Das heißt, dass sich die Vernunftideen auf das Unbe­ dingte beziehen, das für die Vernunft notwendig zu finden ist. Daher ist es nicht nur möglich, die Vernunftideen zu denken, sondern es ist auch notwendig, sie zu denken (vgl. Abschnitt 2 des fünften

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Sechstes Kapitel: Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

Kapitels). Aufgrund der Denkmöglichkeit und der Denknotwendig­ keit der Vernunftideen geht Kant davon aus, dass die Vernunftideen »dem Wunsche der Metaphysik gemäß« (B XXI) eine praktische Erweiterung haben sollen. Der Zusammenhang der Ideenlehre mit der praktischen Philosophie besteht demnach darin, dass die Vernunf­ tideen (im regulativen Sinn) einen praktischen Gebrauch haben. Die Vernunftideen im regulativen Sinn werden im fünften Kapi­ tel mit dem Begriff »Ding an sich« im kantischen Sinn gebunden. Die Vernunftideen (im regulativen Sinn) haben laut Kant einen prakti­ schen Gebrauch. Daher werden der Begriff »Ding an sich« und andere relevante Begriffe, wie »die Verstandeswelt« und »die moralische Welt«, eine wichtige Rolle für den Aufbau der praktischen Philosophie Kants spielen. Im Folgenden werde ich zwei Stellen aus der B-Vorrede analysieren, um die Rolle der regulativen Vernunftideen bzw. die der »Dinge an sich« im kantischen Sinn zu verdeutlichen.188 [1] Nun bleibt uns immer noch übrig, nachdem der speculativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde des Übersinnlichen abge­ sprochen worden, zu versuchen, ob sich nicht in ihrer praktischen Erkenntniß Data finden, jenen transscendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen und [2] auf solche Weise dem Wunsche der Metaphysik gemäß über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus mit unserem, aber nur in praktischer Absicht möglichen Erkenntnisse a priori zu gelangen. [3] Und bei einem solchen Verfahren hat uns die speculative Vernunft zu solcher Erweiterung immer doch wenigstens Platz verschafft, wenn sie ihn gleich leer lassen mußte, und es bleibt uns also noch unbenommen, ja wir sind gar dazu durch sie aufgefordert, ihn durch praktische Data derselben, wenn wir können, auszufüllen. (B XXff; Ergänzungen durch den Verfasser)

Die Vernunftideen als »Dinge an sich« zu bestimmen bedeutet, dass die regulativen Vernunftideen als unerkennbar, denkmöglich und denknotwendig bezeichnet werden. Das heißt, dass die Erkenntniser­ weiterung durch die spekulative (d. h. theoretische) Vernunft ›abge­ sprochen‹ wird. Die Vernunftideen als Produkte der spekulativen Vernunft können trotzdem gedacht werden und müssen notwendig gedacht werden. Auf dieser Basis erarbeitet Kant eine Rechtfertigung Die beiden Stellen habe ich in Abschnitt 3 des zweiten Kapitels in Bezug auf das Thema »das Vorhandensein des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« in Kants Metaphysik­ kritik« diskutiert. Dort ist nur durch die beiden Stellen zu zeigen, dass die »Ersch./ D.a.s.«-Unterscheidung in der ganzen Metaphysikkritik Kants präsent ist. 188

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1. Der Zusammenhang der Ideenlehre mit der praktischen Philosophie

des praktischen Gebrauchs der Vernunftideen. Im ersten Satz [1] spricht Kant von der praktischen Bestimmung des Unbedingten (bzw. der Vernunftideen). Das heißt, dass das Unbedingte durch ›prakti­ sche […] Erkenntniß‹ bestimmbar wird, obwohl es nicht theoretisch bestimmt werden kann. Im zweiten Satz [2] spricht Kant davon, dass diese praktische Bestimmung des Unbedingten von der Metaphysik gefordert wird. Diese Metaphysik bezieht sich präzise auf den zwei­ ten Teil der Metaphysik, der über die Grenze möglicher Erfahrung hinausgeht und auf das übersinnliche Feld bezogen ist. Dieser Teil der Metaphysik sei laut Kant »die wesentlichste Angelegenheit dieser Wissenschaft [d. h. der Metaphysik]« (B XIX), denn das Unbedingte ist die notwendige Aufgabe der Vernunft und liegt im übersinnli­ chen Feld. Die (theoretische) Vernunft schafft ihrer Natur nach die Vernunf­ tideen im übersinnlichen Feld. Nach Kants Metaphysikkritik müssen die Vernunftideen im theoretischen Sinn unbestimmt bleiben189, da ansonsten eine Antinomie entstehen würde. Daher spricht Kant im dritten Satz [3] davon, dass die spekulative Vernunft den Platz für die Vernunftideen verschafft habe und dieser Platz notwendig ›leer‹ gelassen werden musste. Diese theoretische Unbestimmtheit der Ver­ nunftideen werde laut Kant durch ›praktische Data‹ ausgefüllt werden. Der Inhalt der ›praktische Data‹ wird im Verlauf dieses Abschnitts verdeutlicht. Allgemein betrachtet wird den Vernunftideen (Seele, Welt [Freiheit], und Gott) eine praktische Bestimmung gege­ ben. Für die praktische Philosophie ist die Freiheit das Wichtigste. An der folgenden Stelle wird gezeigt, wie die Freiheit als eine regulative Vernunftidee die Voraussetzung der Moral bildet: [1] Gesetzt nun, die Moral setze nothwendig Freiheit (im strengsten Sinne) als Eigenschaft unseres Willens voraus, indem sie praktische in unserer Vernunft liegende, ursprüngliche Grundsätze als Data der­ selben a priori anführt, die ohne Voraussetzung der Freiheit schlechter­ dings unmöglich wären, die speculative Vernunft aber hätte bewiesen, daß diese sich gar nicht denken lasse […]. [2] So aber, da ich zur Moral nichts weiter brauche, als daß Freiheit sich nur nicht selbst widerspreche und sich also doch wenigstens denken lasse, ohne nöthig zu haben sie weiter einzusehen, daß sie also dem Naturmechanism 189 Unbestimmtheit der Vernunftideen im theoretischen Sinn bedeutet, dass keine Prädikate zu den Vernunftideen (als Subjekt) hinzugefügt werden, »[w]eil wir denn durch Kritik unserer Vernunft endlich soviel wissen, daß wir in ihrem reinen und speculativen Gebrauche in der That gar nichts wissen können« (A 769/B 797).

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Sechstes Kapitel: Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

eben derselben Handlung (in anderer Beziehung genommen) gar kein Hinderniß in den Weg lege: [3] so behauptet die Lehre der Sittlichkeit ihren Platz und die Naturlehre auch den ihrigen, welches aber nicht statt gefunden hätte, wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unvermeidlichen Unwissenheit in Ansehung der Dinge an sich selbst belehrt und alles, was wir theoretisch erkennen können, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte. […]. [4] Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des nothwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der speculativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten benehme, weil sie sich, um zu diesen zu gelangen, solcher Grundsätze bedienen muß, die, indem sie in der That bloß auf Gegen­ stände möglicher Erfahrung reichen, [5] wenn sie gleichwohl auf das angewandt werden, was nicht ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, wirklich dieses jederzeit in Erscheinung verwandeln und so alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft für unmöglich erklären. (B XXVIIIf; Ergänzungen durch den Verfasser)

Im ersten Satz [1] schreibt Kant, dass ohne die Denkmöglichkeit der Freiheit die Moral unmöglich wäre. Für die praktische Philosophie ist auch wichtig, dass Kant die Freiheit als »Eigenschaft unseres Willens« voraussetzt. Im zweiten Satz [2] betont Kant wiederum, dass die Freiheit als die Voraussetzung der Moral nur auf die Denkmöglichkeit der Freiheit nicht auf die theoretische Erkenntnis derselben bezogen sei. Damit kann man sagen, dass die Lehre der Sittlichkeit ihren Platz im übersinnlichen Feld hat und die Naturlehre ihren Platz im sinnlichen Feld. Das übersinnliche Feld bezieht sich auf den Begriff »Ding an sich« im kantischen Sinn (vgl. fünftes Kapitel) und das sinnliche Feld auf den Begriff »Erscheinung« im kantischen Sinn (vgl. viertes Kapitel). Die kantische Lehre der Sittlichkeit muss mit dem Begriff »Ding an sich« im kantischen Sinn (und nicht mit dem Begriff »Ding an sich« im polemischen Sinn) verbunden werden. Diese Verbindung ist ein Resultat der Metaphysikkritik Kants. Wie Kant im dritten Satz [3] betont, werde alle theoretische Erkenntnis auf die Erscheinungen eingeschränkt und daher sei die ›Unwissenheit‹ der Dinge an sich unvermeidlich. Dieses »unvermeidlich« besteht darin, dass die Dinge an sich bzw. die Vernunftideen nicht theoretisch bestimmt werden können (vgl. Abschnitt 3 des fünften Kapitels). Die ›unvermeidliche Unwissenheit‹ der Vernunftideen im theo­ retischen Sinn sei laut Kant ein Vorteil für den praktischen Gebrauch der Vernunftideen. In den Sätzen [4] und [5] erläutert Kant die Ursache dafür. Die ›Anmaßung‹ der spekulativen Vernunft bezieht

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2. Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

sich auf die Erkenntniserweiterung im übersinnlichen Feld durch den Dogmatismus. Diese Anmaßung verursacht im kosmologischen Kontext die Antinomie. Dadurch steht die Vorstellung der Freiheit mit der Naturkausalität im Widerspruch. Demzufolge wäre die Freiheit auch nicht denkmöglich. Daher würde »alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft« unmöglich werden, denn die Freiheit ist der zentrale Begriff für die Lehre der Sittlichkeit. Der Zusammenhang der Ideenlehre mit der praktischen Philoso­ phie besteht darin, dass die Vernunftideen praktisch gebraucht wer­ den. Die Vernunftideen werden von Kant im allgemeinen Sinn als das Unbedingte bezeichnet, das sich auf das »Ding an sich« im kantischen Sinn bezieht. Daher steht das Unbedingte im praktischen Kontext mit dem Begriff »Ding an sich« im kantischen Sinn im Zusammenhang.

2. Das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« und zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs In der Einleitung der KpV von der Idee einer Kritik der praktischen Vernunft bezeichnet Kant den praktischen Gebrauch der Vernunft als eine Beschäftigung mit den »Bestimmungsgründen des Willens« (AA05: 15). Danach stellt Kant die Frage, »ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, oder ob sie nur als empirisch=bedingte ein Bestimmungsgrund derselben sein könne« (ebd.). Diese Frage kann als das Hauptthema der zweiten Kritik betrachtet werden. Kants Position ist, dass nicht nur die reine Ver­ nunft praktisch sein könne, sondern dass sie »allein und nicht die empirisch=beschränkte unbedingterweise praktisch sei« (ebd.). Das heißt, dass der praktische Gebrauch der reinen Vernunft der einzig richtige Gebrauch derselben in der praktischen Philosophie ist. Die­ ser Gebrauch enthält selbst die »Richtschnur zur Kritik alles ihres Gebrauchs [d. i. Gebrauch der reinen Vernunft]« (AA05: 16). Dadurch wird der praktische Gebrauch der empirisch bedingten Vernunft von Kant kritisiert. Das heißt, dass Kant beweisen möchte, dass die reine Vernunft allein praktisch sei. Dieses »allein praktisch« bedeutet, dass die praktische Vernunft allein der Bestimmungsgrund des Willens sein kann. Demgegenüber sei der praktische Gebrauch der empirisch bedingten Vernunft problematisch, denn die praktische Vernunft sei hier nicht die einzige Quelle, der moralischen Bestimmung des Wil­ lens.

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Sechstes Kapitel: Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

Die Unterscheidung zwischen dem praktischen Gebrauch der reinen Vernunft und dem der empirisch bedingten Vernunft bezieht sich hauptsächlich auf die Frage, ob allein die praktische Vernunft in Bezug auf den Bestimmungsgrund des Willens gebraucht wird oder nicht. Würde nur die praktische Vernunft zur Willensbestimmung benötigt werden, gäbe es den praktischen Gebrauch der reinen Ver­ nunft. Demgegenüber gibt es nur dann den praktischen Gebrauch der empirisch bedingten Vernunft, wenn die praktische Vernunft nicht allein, sondern zusammen mit der Voraussetzung der sinnlich bedingten Interessen zur Willensbestimmung gebraucht wird. Was hat dies mit dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« zu tun? Im dritten Abschnitt des fünften Kapitels wurde gezeigt, dass der Begriff »Ding an sich« auf die alleinige Anwendung der Denkvermögen bezogen ist. Es ist unabhängig davon, ob dieser Begriff im polemischen Sinn (wie bei den Gegenständen der Sinne) oder im kantischen Sinn (wie bei den Vernunftideen) benutzt wird. Demgegenüber bezieht sich der Begriff »Erscheinung« auf die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Denkvermögen. Das ist auch unabhängig davon, ob dieser Begriff im kantischen Sinn (wie bei den Gegenständen der Sinne) oder im polemischen Sinn (wie bei den Vernunftideen) benutzt wird.190 Im praktischen Kontext kann man auch diesen Zusammenhang finden, dass der Begriff »Ding an sich« auf die alleinige Anwendung der Denkvermögen als den Bestimmungsgrund des Willens (d. h. prak­ tischer Gebrauch der reinen Vernunft) bezogen ist. Demgegenüber bezieht sich der Begriff »Erscheinung« auf die Verbindung der Sinn­ lichkeit mit dem Denkvermögen als den Bestimmungsgrund des Wil­ lens (d. h. praktischer Gebrauch der empirisch bedingten Vernunft). Genauer lässt sich der Begriff »Ding an sich« im praktischen Kontext durch zwei Thesen in der praktischen Philosophie Kants rekonstruieren. Ich werde die beiden Thesen in dieser Arbeit als Es scheint merkwürdig zu sein, wenn behauptet wird, dass die Vernunftideen als ›Erscheinungen‹ durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Denkvermögen (bzw. der Vernunft) angenommen werden. Es wurde aber im dritten Kapitel durch die Analyse der kosmologischen Antinomie und auch in Abschnitt 3 des fünften Kapitels erklärt, dass die Vernunftideen (die auf das Unbedingte bezogen sein sollen) als ein Bedingtes angenommen werden, wenn man sie durch Prädikate bestimmen will. Zum Beispiel nimmt man im Urteil, dass die Welt endlich/unendlich sei, die Welt als ein Gegebenes in der Welt, das auf das Bedingte bezogen ist. In diesem Sinn spricht Kant davon, dass die Vernunftideen »in Erscheinung« (B XXX) angenommen werden, wenn vorher keine Grenzbestimmung der Vermögen durch eine Kritik der reinen Vernunft erfolgt ist. 190

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2. Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

die Unabhängigkeitsthese und die Vermögensthese bezeichnen. Die Unabhängigkeitsthese impliziert eine Unabhängigkeit von der Naturkausalität. Darauf aufbauend wird der moralische Bestim­ mungsgrund des Willens von Kant weiter begründet. Dies bezieht sich auf die negative Freiheit. Die Vermögensthese bezieht sich auf ein Vermögen des Subjekts (d. i. die praktische Vernunft), mit dem das Subjekt (als »Ding an sich«) (durch die reine Vernunft allein) seinen Willen positiv bestimmen kann. Dies bezieht sich auf die positive Freiheit. Dagegen kann der Begriff »Erscheinung« im praktischen Kontext durch die Abhängigkeitsthese und die Unvermögensthese beschrieben werden. Das heißt, dass aufgrund der Abhängigkeit der Naturkausalität eine Erscheinung nicht der moralische Bestimmungs­ grund des Willens sein kann. Daher drückt die Unvermögensthese aus, dass der praktische Gebrauch der empirisch bedingten Vernunft unfähig ist, der moralische Bestimmungsgrund des Willens zu sein. Im Folgenden werde ich die Unabhängigkeits- und Abhängig­ keitsthese (vor allem in Bezug auf die Analytik der reinen praktischen Vernunft der KpV) erklären, wie sich das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« mit den zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs verhält. Auf diese Weise wird das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« durch »praktische Data« (B XXII) ausgefüllt. Die Vermögensthese wird in Abschnitt 3.3 im Rahmen der Bestimmung des Subjekts als »Erscheinung« und »Ding an sich« ausgeführt. Zuerst ist zu zeigen, wie der Begriff »Erscheinung« durch die Abhän­ gigkeitsthese auf den praktischen Gebrauch der empirisch bedingten Vernunft bezogen ist. Kant behauptet zwei Thesen über materiale praktische Prinzipien. Die erste These, die in § 2 Lehrsatz I angekün­ digt wird, ist, dass alle praktischen Prinzipien, die ein Objekt (Mate­ rie) des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, insgesamt empirisch seien und keine praktischen Gesetze abgeben können (vgl. AA05: 21). Daraus folgert Kant in § 3 Lehrsatz II die zweite These, dass alle materialen praktischen Prinzi­ pien unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glück­ seligkeit gehören (vgl. AA05: 22). Dagegen behauptet Kant in § 4 Lehrsatz III, dass ein praktisches allgemeines Gesetz nur denkbar sei, wenn nur die Form einer allgemeinen Gesetzgebung als der Bestim­ mungsgrund des Willens angenommen werde (vgl. AA05: 27). In § 5 und § 6 kommt Kant zu dem Ergebnis, dass Freiheit und das unbe­ dingte praktische Gesetz wechselseitig aufeinander zurückverweisen

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Sechstes Kapitel: Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

(vgl. AA05: 29). Daher formuliert Kant in § 7 den Grundsatz der rei­ nen praktischen Vernunft: »Handle so, daß die Maxime deines Wil­ lens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (AA05: 30). In § 7 beantwortet Kant die Frage positiv, ob reine Vernunft für sich allein praktisch sei und dem Menschen ein allgemeines Gesetz, d. i. Sittengesetz, gebe (vgl. AA05: 31). Schließ­ lich verknüpft Kant in § 8 Lehrsatz IV die Antinomie mit dem mora­ lischen Gesetz, weil die beiden sich auf die bloße allgemeine gesetz­ gebende Form beziehen. Zugleich sei alle Heteronomie nicht in der Lage, das moralische Gesetz zu begründen. Denn sie bezieht sich auf die Materie des Wollens (vgl. AA05: 33). »Materie des Wollens« bezieht sich auf die durch Sinnlichkeit wahrgenommene Empfindung des Objekts. Wenn man diese Materie als etwas Begehrenswertes annimmt, und zwar dieses Begehren als Bestimmungsgrund des Willens setzt, so verbindet sich diese Materie immer mit dem Gefühl der Lust, das sich auf die Verwirklichung des Begehrten richtet. Laut Kant kann das Gefühl der Lust und Unlust an einer Vorstellung des Gegenstandes nicht apriorisch, sondern nur empirisch erfasst werden. So ist der Bestimmungsgrund des Willens in dieser Situation auch empirisch. Dementsprechend sind auch alle praktischen materialen Prinzipien empirisch.191 Dies trifft 191 An der Anmerkung II zu § 8 klassifiziert Kant alle materialen praktischen Prinzi­ pien (vgl. AA05: 40). Man findet eine solche Klassifikation auch in der GMS, wo Kant sie mit dem Titel des Unterabschnitts »Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sitt­ lichkeit aus den angenommenen Grundbegriffen der Heteronomie« thematisiert (vgl. AA 04: 441f). Erziehung und die bürgerliche Verfassung werden als äußere subjektive Bestimmungsgründe des Willens bezeichnet. Die physischen und moralischen Gefühle (nach Hutcheson) werden als innere subjektive Bestimmungsgründe genannt. Diese seien nach Kant empirisch und untauglich als ein allgemeines Prinzip der Sittlichkeit (vgl. AA05: 41). Zu den objektiven Bestimmungsgründen des Willens zählt Kant die Vollkommenheit als inneren Willen und den Willen Gottes als äußeren. Sie begründen sich zwar auf der Vernunft, weil die innerliche Vollkommenheit und Gott als die höchste Vollkommenheit in Substanz nur durch Vernunft vorgestellt wer­ den können. Aber sie seien nach Kant trotzdem empirische Prinzipien der Sittlichkeit. Denn sowohl die innere als auch die äußere Vollkommenheit beziehen sich auf einen Zweck als Objekt vor der Willensbestimmung. Dieser Zweck ist die Materie des Wil­ lens, die nur durch Erfahrung erkannt werden kann. Die innere Vollkommenheit wird von Kant als Talent verstanden (vgl. ebd.), die Vorteile für das Leben bietet. Der Wille Gottes kann nur durch die erwartende und versprechende Glückseligkeit Bewegursa­ che des Willens sein. Daher können die beiden Arten der Vollkommenheit allgemeine praktische Regeln sein, die jedoch zum Prinzip der Glückseligkeit gehören und damit für ein allgemein praktisches Gesetz nicht tauglich sind.

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2. Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

auch für hypothetische Imperative zu, weil »sie bedingt sind, d. i. nicht den Willen schlechthin als Willen, sondern nur in Ansehung einer begehrten Wirkung bestimmen« (AA05: 20). Diese Bedingtheit kann auf die Besonderheit eines Subjektes oder auf die Mehrheit der Subjekte (z. B., dass die Urteile über moralisch gut/schlecht einer kulturellen Prägung unterliegen) bezogen sein. Aber diese Bedingtheiten seien laut Kant empirisch, daher können sie »praktische Vorschriften« (AA05: 20) sein, aber keine Gesetze. Das heißt, dass solche Vorschriften immer eine bestimmte Bedingung oder mehreren Bedingungen voraussetzen und dadurch den Willen bestimmen. Kant bezeichnet einen solchen Willen als »eine[n] pathologisch=afficirten Willen« (AA05: 19). Dies sei jederzeit empirisch, weil man nur durch Erfahrung erkennen könne, was als angenehm oder unangenehmen angesehen werden kann. In der ›Folgerung‹ des „§ 3 Lehrsatz II« behauptet Kant, dass alle materialen praktischen Regeln den Bestimmungsgrund des Willens in das untere Begehrungsvermögen setzten (vgl. AA05: 22). Denn dieses Begehrungsvermögen bezieht sich auf die Vorstellung eines vergnüglichen Gegenstandes, die immer mit dem Gefühl der Lust verbunden ist (vgl. AA05: 23). Es ist also gleichgültig, wodurch sich diese Lust einstellt: Sie mag sich durch das Fußballspielen oder durch ein Gedicht ergeben, oder, was Kant als Beispiel nimmt, durch die Jagd oder bei der Lektüre eines »lehrreichen Buches«. Die eben erwähnte subtile Unterscheidung zwischen einem Gegenstand der äußeren Sinne und einer Vorstellung des inneren Sinnes kann in diesem Zusammenhang zur Anwendung gebracht werden. Die Lust aus dem »gröbsten Sinne« (AA05: 24) kann als Lust aus der Vorstellung des Gegenstands äußerer Sinne gedeutet werden. Die Lust aus einer geis­ tigen Aktivität, wie einer philosophischen Debatte, kann als Lust aus der Vorstellung des inneren Sinns betrachtet werden. Aber insofern beide dem Subjekt Vergnügen, also Lust verschaffen, bewirken die Ursprünge der jeweiligen Lust als »Verstandes- oder Sinnesvorstel­ lungen« (vgl. AA05: 23) keine Differenz hinsichtlich der Zuordnung zum unteren oder oberen Begehrungsvermögen. Der Bestimmungs­ grund des Willens bezieht sich in beiden Fällen auf die Lust, nicht auf die Vorstellungen, die sie verursacht haben, und das Gefühl der Lust selbst kann laut Kant eben nur empirisch erkannt werden, muss also empfunden werden. Daher findet der Begriff »Erscheinung« in Bezug auf die Vermögen im praktischen Kontext seinen Platz im unteren Begehrungsvermögen. Dieses Vermögen ist immer abhängig von der

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Sechstes Kapitel: Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

Erfahrung. Alle materialen praktischen Regeln werden von Kant unter das untere Begehrungsvermögen subsumiert (vgl. AA05: 22). Daher sind solche Regeln nicht fähig, ein moralisches Gesetz zu sein. Danach geht Kant davon aus, dass es entweder kein oberes Begehrungsvermögen gibt oder die reine Vernunft für sich allein praktisch sein muss (vgl. AA05: 24). Kant setzt das obere Begeh­ rungsvermögen mit der reinen Vernunft gleich. Denn die Beiden beziehen sich auf eine formale Willensbestimmung, die ohne ein Gefühl als Materie des Begehrungsvermögens vorausgesetzt wird. Daher ist die Vernunft nur insofern gesetzgebend, wenn sie nicht vermittelst eines Gefühls bzw. nicht durch empirische Bedingung bestimmt wird, sondern allein den Willen bestimmt. Kants Gedan­ kengang hier ist wiederum eine Abstrahierung von den empirischen Bedingungen, die beim transzendentalen Verstandesgebrauch vorlie­ gen (vgl. Abschnitt 2 des vierten Kapitels), aber nicht im polemischen Sinn, sondern im systematischen Sinn. Wenn alle Materie (jeder Gegenstand des Willens als Bestimmungsgrund) von einem Gesetz abstrahiert wird, bleibt nur die Form. Da die bloße Form des Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden kann und mithin kein Gegenstand der Sinne ist, folglich auch nicht unter die Erscheinungen gehört: so ist die Vorstellung derselben als Bestimmungsgrund des Willens von allen Bestimmungsgründen der Begebenheiten in der Natur nach dem Gesetze der Causalität unter­ schieden, weil bei diesen die bestimmenden Gründe selbst Erscheinun­ gen sein müssen. (AA05: 28f)

Eine Erscheinung muss laut Kant durch die Sinne gegeben und durch den Verstand gedacht werden. Dagegen kann die Form des Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden. Deswegen unterschei­ det sich die Vorstellung der Form als Bestimmungsgrund des Willens von allen anderen Bestimmungsgründen, die sich auf die Materie bzw. Erscheinung beziehen. Der Begriff »Erscheinungen« bezieht sich im praktischen Kontext mehr auf die ›Materie der Erscheinung‹ bzw. die Empfindung, nicht auf die Form der Erscheinung bzw. den Raum und die Zeit. Aber insgesamt ist die Erscheinung der Naturkausalität unterworfen.192 Demgegenüber bezieht sich die Form des Gesetzes auf den Begriff »Ding an sich«: 192 Die Naturkausalität im praktischen Kontext wird von Kant in Bezug auf den Bestimmungsgrund des Willens als Heteronomie verstanden. Im theoretischen Kon­

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2. Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

Wenn aber auch kein anderer Bestimmungsgrund des Willens für die­ sen zum Gesetz dienen kann, als blos jene allgemeine gesetzgebende Form: so muß ein solcher Wille als gänzlich unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Causalität, beziehungsweise auf einander gedacht werden. Eine solche Unabhän­ gigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d. i. transscendentalen, Verstande. Also ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann, ein freier Wille. (AA05: 29)

Dieses Zitat zeigt die Unabhängigkeitsthese, der zufolge die Form des Gesetzes als der einzige moralische Bestimmungsgrund des Willens zulässig sei, weil diese Form nur durch die Vernunft allein vorgestellt werden könne. »[E]in solcher Wille« ist dann unabhängig von der Naturkausalität. Daher bezieht sich dieser Wille auf das übersinnliche Feld bzw. das »Ding an sich« im kantischen Sinn. Im letzten Satz dieses Zitats nennt Kant diese Unabhängigkeit die Freiheit. Ein Wille wird auch als freier Wille bezeichnet, wenn er unter dieser Unabhän­ gigkeit steht. Nun möchte ich durch eine Analyse einer Textstelle aus dem Abschnitt »Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft« in der KpV zeigen, dass der praktische Gebrauch der reinen Vernunft auf die Unabhängigkeitsthese bezogen ist. Diese Unabhän­ gigkeit ist aber ein Ergebnis der alleinigen Anwendung des Denkver­ mögens. Die folgende Stelle entstammt der kritischen Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft. Vor dem unten zitierten Passus spricht Kant von der ersten und wichtigsten obliegenden Beschäftigung, nämlich der Unterscheidung der Glückseligkeitslehre von der Sittenlehre (vgl. AA05: 92), wobei die Glückseligkeitslehre empirische Prinzipien enthält, die Sittenlehre wiederum apriorische. Aber wie soll man diese Unterscheidung durchführen? Diese Unter­

text hat Kant die Naturkausalität als ein Naturgesetz bezeichnet. Aber im praktischen Kontext spielt die Naturkausalität eine negative Rolle. Denn jede Wirkung in der Naturkausalität sei nur dadurch möglich, dass etwas anderes sie als Ursache bestimme. Im praktischen Sinn bedeutet »etwas anderes als Ursache« aber ein Bestimmungs­ grund des Willens durch eine empirische Gegebenheit. Der Wille gibt in dieser Situation nicht selbst das Gesetz, sondern »nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze« (AA05: 33). Solche Gesetze sind pathologisch, weil sie eine Abhängigkeit vom Naturgesetz ausdrücken, das heißt, dass der Wille irgendeinem Antrieb oder einer Neigung folgt.

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Sechstes Kapitel: Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

scheidung kann laut Kant mittels einer chemischen Methode193 erfol­ gen. Es kommt aber dem Philosophen, der hier (wie jederzeit im Vernunf­ terkenntnisse durch bloße Begriffe, ohne Construction derselben) mit größerer Schwierigkeit zu kämpfen hat, weil er keine Anschauung (reinem Noumen) zum Grunde legen kann, doch auch zu statten: daß er beinahe wie der Chemist zu aller Zeit ein Experiment mit jedes Menschen praktischer Vernunft anstellen kann, um den moralischen (reinen) Bestimmungsgrund vom empirischen zu unterscheiden; wenn er nämlich zu dem empirisch afficirten Willen (z. B. desjenigen, der gerne lügen möchte, weil er sich dadurch etwas erwerben kann) das moralische Gesetz (als Bestimmungsgrund) zusetzt. (AA09: 92)

Die Suche nach dem moralischen Bestimmungsgrund des Willens erfolge laut Kant »durch bloße Begriffe« und »ohne Construction derselben«. Das heißt, dass der moralische Bestimmungsgrund des Willens nur durch die Vernunft allein vorgestellt werden kann. Die Konstruktion der Begriffe benötigt dagegen immer die Anschauung (vgl. B 747f; AA04: 281; AA08: 191, Anm.). Der praktische Gebrauch der reinen Vernunft bezieht sich auf diese »durch bloße Begriffe«. Der praktische Gebrauch der empirisch bedingten Vernunft bezieht sich demgegenüber auf die Konstruktion der Begriffe. Denn der empirische Bestimmungsgrund des Willens ist notwendig sinnlich gegeben. Der moralische Bestimmungsgrund des Willens besteht laut Kant nur durch die bloßen Begriffe. Das heißt, dass der moralische Bestimmungsgrund des Willens »von keinen sinnlichen Datis abhän­ gend« (AA05: 91) sein darf. »Die Ungleichartigkeit der Bestimmungsgründe (der empiri­ schen und rationalen)« (AA05: 92) impliziert die unterschiedli­ »Es ist, als ob der Scheidekünstler der Solution der Kalkerde in Salzgeist Alkali zusetzt; der Salzgeist verläßt sofort den Kalk, vereinigt sich mit dem Alkali, und jener wird zu Boden gestürzt. Eben so haltet dem, der sonst ein ehrlicher Mann ist (oder sich doch diesmal nur in Gedanken in die Stelle eines ehrlichen Mannes versetzt), das moralische Gesetz vor, an dem er die Nichtswürdigkeit eines Lügners erkennt, sofort verläßt seine praktische Vernunft (im Urtheil über das, was von ihm geschehen sollte) den Vortheil, vereinigt sich mit dem, was ihm die Achtung für seine eigene Person erhält (der Wahrhaftigkeit), und der Vortheil wird nun von jedermann, nachdem er von allem Anhängsel der Vernunft (welche nur gänzlich auf der Seite der Pflicht ist) abgesondert und gewaschen worden, gewogen, um mit der Vernunft noch wohl in anderen Fällen in Verbindung zu treten, nur nicht wo er dem moralischen Gesetze, welches die Vernunft niemals verläßt, sondern sich innigst damit vereinigt, zuwider sein könnte.« (AA05: 92f). 193

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2. Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

chen Arten des praktischen Vernunftgebrauchs (d. h. der praktische Gebrauch der reinen Vernunft und der der empirisch bedingten Ver­ nunft). Diese beiden Arten unterscheiden sich darin, ob die praktische Vernunft allein oder mit der Sinnlichkeit kombiniert angewendet wird. Kant behauptet bezüglich der Suche nach dem moralischen Bestimmungsgrund des Willens, dass die alleinige Anwendung der praktischen Vernunft notwendig ist. Dadurch wird auch eine Erklä­ rung für die Formulierungen in der praktischen Philosophie Kants gegeben, in denen Kant die Beifügung »an sich« (etwa wie »an sich gut« (AA05: 208) und »an sich praktische Vernunft« (AA05: 31) usw.) benutzt. Diese Beifügung beinhaltet eine »Reinigkeit« (AA05: 91), die sich auf die praktische Vernunft und daraus erworbene Begriffe bezieht. Die »reine, an sich praktische Vernunft ist […] unmittelbar gesetzgebend« (AA05: 31), weil sie keine weitere Bedin­ gung benötigt, um das von ihr angekündigte Gesetz zu rechtfertigen. Auf diese Weise bezieht sich der praktische Gebrauch der reinen Vernunft auf das Unbedingte, das auch nur durch die reine Vernunft vorgestellt werden kann und keine weitere Bedingung benötigt. Im fünften Kapitel dieser Arbeit wurde der Begriff »Ding an sich« im kantischen Sinn als das Unbedingte interpretiert. Daher steht der Begriff »Ding an sich« auch im praktischen Kontext einen engeren Zusammenhang mit dem praktischen Gebrauch der reinen Vernunft. Historisch bezieht sich der praktische Gebrauch der empirisch bedingten Vernunft auf Kants Rekonstruktion des Empirismus im praktischen Kontext. Kant kritisiert auch den Mystizismus im prakti­ schen Sinn. Für eine angemessene Interpretation des Begriffs »Ding an sich« im praktischen Kontext ist Kants Kritik am Mystizismus hilfreich. Darin wird verdeutlicht, dass Empirismus und Mystizismus in ihrer Untersuchung der Moralität etwas hinzufügen, das für die Moralität schädlich ist. Kant behauptet dagegen, dass die Untersu­ chung der Moralität dann einen sicheren Gang findet, wenn die praktische Vernunft allein den Willen bestimmt. Der Empirismus im praktischen Sinn legt in der Untersuchung der Moralität zusätzlich etwas Empirisches bei. Dies zerstört die Rein­ heit der Sittlichkeit unvermeidlich. Der Mystizismus als Opposition des Empirismus legt nicht das Empirische bei, und daher verträgt er sich »mit der Reinigkeit und Erhabenheit des moralischen Gesetzes« (AA05: 71). Der Mystizismus fügt aber auch etwas zur Moralität hinzu, indem er die moralischen Begriffe aus der reinen Vernunft

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Sechstes Kapitel: Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

symbolisiert und damit eine ›Schwärmerei‹ begeht. Dies verdrängt ebenfalls die autonomische Sittenlehre. Dazu schreibt Kant: Eben dieselbe Typik bewahrt auch vor dem Mysticism der praktischen Vernunft, welcher das, was nur zum Symbol diente, zum Schema macht, d. i. wirkliche und doch nicht sinnliche Anschauungen (eines unsichtbaren Reichs Gottes) der Anwendung der moralischen Begriffe unterlegt und ins Überschwengliche hinausschweift. (AA05: 70f)

Die Anwendung der moralischen Begriffe macht durch den Mystizis­ mus der praktischen Vernunft das Symbol zum Schema. Wie ist hier mit Symbol gemeint? In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht spricht Kant über sein Verständnis des Symbols. Symbole sind blos Mittel des Verstandes, aber nur indirect durch eine Analogie mit gewissen Anschauungen, auf welche der Begriff desselben angewandt werden kann, um ihm durch Darstellung eines Gegenstandes Bedeutung zu verschaffen. (AA07: 191)

Also benutzt man eine Darstellung des sinnlichen Gegenstandes, um indirekt einen Begriff zu illustrieren. Kant unterschätzt diese symbolische Darstellung und sagt, »wer sich immer nur symbolisch ausdrücken kann, hat noch wenig Begriffe« (ebd.). Er nimmt das Beispiel der ›amerikanischen Wilden‹. Wenn sie sagen: »Wir wollen die Streitaxt begraben«, bedeutet das »wir wollen Friede machen« (ebd.). In diesem Beispiel wird »Streitaxt begraben« als ein Symbol dafür gebraucht, den Begriff »Friede machen« zu illustrieren. Was ist die Schädlichkeit des Mystizismus für die Moral? Aus dem Streitaxt-Beispiel wurde deutlich, dass eine symbolische Bedeu­ tung immer durch eine sinnliche Darstellung ermöglicht werden kann. Daher wird die Vernunftidee »Friede« sinnbildlich dargestellt. Dies ist auch beim praktischen Vernunftgebrauch der Fall. Kant spricht darüber an einer Stelle in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht in Bezug auf Schwärmerei und Aufklärung: Die wirklichen, den Sinnen vorliegenden Welterscheinungen (mit Schwedenborg) für bloßes Symbol einer im Rückhalt verborgenen intelligibelen Welt ausgeben, ist Schwärmerei. Aber in den Darstellun­ gen der zur Moralität, welche das Wesen aller Religion ausmacht, mithin zur reinen Vernunft gehörigen Begriffe (Ideen genannt), das Symbolische vom Intellectuellen (Gottesdienst von Religion), die zwar einige Zeit hindurch nützliche und nöthige Hülle von der Sache selbst zu unterscheiden, ist Aufklärung: weil sonst ein Ideal (der reinen

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2. Zwei Arten des praktischen Vernunftgebrauchs

praktischen Vernunft) gegen ein Idol vertauscht und der Endzweck verfehlt wird. (ebd.)

Mit dem ersten Satz dieser Stelle definiert Kant die ›Schwärmerei‹ im theoretischen Kontext, die sich dadurch auszeichnet, dass man die Erscheinungswelt für ein Symbol der Verstandeswelt hält. Die Anwendung dieser Schwärmerei im praktischen Kontext macht die Idee der reinen praktischen Vernunft zu einem Idol, das durch die Darstellung eines sinnlichen Gegenstandes ausgedrückt ist. Die mög­ liche Aufklärung in diesem Zusammenhang macht Kant darin fest, dass man die reinen moralischen Begriffe von dem symbolisierten ›Intellektuellen‹ unterscheidet. Eine angemessene Interpretation des Begriffs »Ding an sich« beinhaltet meiner Meinung nach auch, dass man ihn nicht als ein Idol oder Symbol der kantischen Philosophie sehen soll. Ansonsten würde Kants Philosophie selbst zu einer Schwärmerei werden.

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Teil 3: P1, P2 und die allgemeine Bedeutung des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«

In Teil 2 der vorliegenden Arbeit wurden sechs Arten des Gebrauchs der Denkvermögen (Verstand und Vernunft bzw. praktische Vernunft) und ihr Verhältnis zum Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« herausgearbeitet: »Erscheinung« und »Ding an sich« stehen immer in einer kontradiktorischen Beziehung zueinander. Dies dient als ein hilfreiches Instrumentarium für Teil 3. Im siebten Kapitel werden P1 und P2 nach der metaphysikkritischen Perspektive beantwortet. Darauf folgt eine kritische Auseinandersetzung mit den Rezeptionen. Das so gewonnene Instrumentarium wird auch nützlich für die Suche nach der allgemeinen Bedeutung des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.«, wie es in der Abschlussbetrachtung der vorliegenden Arbeit themati­ siert werden soll. Dieses Instrumentarium ist hilfreich, denn damit lässt sich nicht nur das Verhältnis zwischen dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« und jedem einzelnen Themenbereich (Erkenntnistheorie, Ideenlehre und praktische Philosophie) erklären, sondern auch das Verhältnis zwi­ schen demselben Begriffspaar und den drei Themenbereichen in der Philosophie Kants. Dadurch können die Gesamtheit und die Kontinuität der Metaphysikkritik Kants als eine Kette mit aufeinander aufbauenden Prämissen dargestellt werden: 1.) Nimmt man die Gegenstände der Sinne durch den transzenden­ talen Verstandesgebrauch als »Dinge an sich« an, werden die Vernunftideen auch durch den konstitutiven Vernunftgebrauch als »Erscheinungen« (etwas Verdinglichtes) erfasst. Der konsti­ tutive Vernunftgebrauch blockiert den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft. Die drei Arten des Vermögensgebrauchs stellen die Gegenstände der Metaphysikkritik dar. 2.) Bestimmt man die Gegenstände der Sinne durch den empirischen Verstandesgebrauch als »Erscheinungen«, werden die Vernunf­ tideen durch den regulativen Gebrauch als »Dinge an sich« bestimmt. Dadurch wird ›Platz‹ für den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft geschaffen. Die drei Arten des Vermögensge­ brauchs stellen die Resultate der Metaphysikkritik dar. Die Antwort auf P1 lautet: Die Unterscheidung zwischen »Ersch.« und »D.a.s.« ist die Unterscheidung zwischen den Gegenständen der Sinne als »Erscheinungen« und den Vernunftideen als »Din­ gen an sich«. Ausführlich wird P1 im ersten Abschnitt des siebten Kapitels behandelt.

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Die Antwort auf P2 lautet: Die regulativen Vernunftideen als »Dinge an sich« sind das Zugrundeliegende (bzw. der Grund) der »Erscheinungen«. Die allgemeine Bedeutung des Begriffs »Erscheinung« lautet: Eine »Erscheinung« ist die Folge der mit der Sinnlichkeit kombi­ nierten Anwendung der Denkvermögen. Die allgemeine Bedeutung des Begriffs »Ding an sich« lautet: Ein »Ding an sich« ist die Folge der alleinigen Anwendung der Denkvermögen.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

1. Antwort auf P1 durch die Darstellung der Kontinuität zwischen Verstandesgebrauch und Vernunftgebrauch In P1 geht um die Unterscheidung zwischen »Ersch.« und »D.a.s.«. Diese wird, wie im ersten Kapitel thematisiert, in der Rezeptionsge­ schichte häufig als ein Thema, das bloß in der Erkenntnistheorie eine Rolle spielt, betrachtet.194 In der vorliegenden Arbeit wird die kantische Philosophie aus einer metaphysikkritischen Perspektive rekonstruiert. Dadurch wird verdeutlicht, dass P1 nicht ein bloßes Thema in der Erkenntnistheorie ist, sondern ein Thema der Meta­ physikkritik insgesamt: Ohne die Unterscheidung zwischen »Ersch.« und »D.a.s.« wäre die praktische Erweiterung der Vernunftideen unmöglich (vgl. B XXVIIff; auch 3.1 im zweiten Kapitel). Hier soll zuerst das Gesamtbild der Metaphysikkritik Kants, das im dritten, vierten und fünften Kapitel der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet wurde, dargestellt werden. Dabei ist wichtig zu differenzieren, was Gegenstand und was das Resultat der Metaphysikkritik ist. Die Unterscheidung zwischen »Ersch.« und »D.a.s.«, die für die praktische Philosophie bedeutungsvoll ist, muss in Bezug auf das Resultat der Metaphysikkritik verstanden werden. Dieses Gesamtbild der Kontinuität zwischen Verstandesge­ brauch und Vernunftgebrauch setzt zwei Punkte voraus. Der erste ist, dass es eine Kontinuität zwischen Verstand und Vernunft (sowie zwischen ihren Begriffen) gibt. Diesbezüglich wurde schon im zweiten Kapitel diskutiert, dass die Vernunftbegriffe laut Kant die ins Unbe­ dingte erweiterten Verstandesbegriffe seien (vgl. A 409/B 436). Der zweite Punkt ist, dass der Verstandesgebrauch im sinnlichen Feld und der Vernunftgebrauch im übersinnlichen Feld Einfluss aufeinander 194 In Abschnitt 3 dieses Kapitels setze ich mich ausführlich mit den Rezeptionen aus­ einander.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

haben. Dieser Einfluss zeigt sich am deutlichsten bei der kosmologi­ schen Antinomie, der zufolge der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst im übersinnlichen Feld stattfindet, aber ihren Ursprung im sinnlichen Feld hat. Dieser zwei Felder übergreifende Widerstreit zeigt, dass die Annahme des problematischen Verstandesgebrauchs im sinnlichen Feld den Vernunftgebrauch im übersinnlichen Feld verhindert. Oder um es umgekehrt (mit dem Begriffspaar »Bedingt/ Unbedingt«) zu formulieren: die problematische Annahme der Gege­ benheit des Unbedingten beginnt mit der problematischen Annahme des Bedingten. Dies habe ich im dritten Kapitel diskutiert. Hier schrei­ tet Kants Metaphysikkritik vom sinnlichen Feld zum übersinnlichen Feld. Im Laufe dieser Metaphysikkritik bildet Kant zwei Arten des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«. Ich stelle sie in folgender Tabelle dar: Erkenntnistheorie / das sinnliche Feld / das Bedingte

Ideenlehre / das übersinnliche Feld / das Unbedingte

1.1

Transzendentaler Verstandesgebrauch / Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« / die Annahme des gegebenen Bedingten durch bloßes Denken

Konstitutiver Vernunftgebrauch / die Vernunftideen als »Erscheinungen«/ das gegebene Unbedingte

1.2

Empirischer Verstandesgebrauch / Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« / das Bedingte im sinnlichen / die Annahme des gegebenen Bedingten durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Denken

Regulativer Vernunftgebrauch / die Vernunftideen als »Dinge an sich«. / das aufgegebene Unbedingte

Durch diese Tabelle werden die beiden Kontinuitäten verdeutlicht: Der ›Grundsatz‹ der Vernunft lautet: Wenn das Bedingte gege­ ben ist, so ist auch das Unbedingte gegeben/aufgegeben. Das Bedingte bezieht sich auf die Gegenstände der Sinne, und das Unbe­

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1. Antwort auf P1

dingte bezieht sich auf die Vernunftideen. Bezüglich des Bedingten gibt es zwei Arten des Verstandesgebrauchs: den transzendentalen und den empirischen. Bezüglich des Unbedingten gibt es auch zwei Arten des Vernunftgebrauchs: den konstitutiven und den regulativen. 1.1: Nimmt man die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« (durch den transzendentalen Verstandesgebrauch) an, folgt daraus, dass das Unbedingte gegeben ist. Dann gibt man die Vernunftideen als etwas Verdinglichtes bzw. als »Erscheinun­ gen« (durch den konstitutiven Vernunftgebrauch) aus. 1.2: Bestimmt man die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« (durch den empirischen Verstandesgebrauch), folgt daraus, dass das Unbedingte nicht gegeben, sondern nur aufgegeben ist. Dann bestimmt man die Vernunftideen als »Dinge an sich« (durch den regulativen Vernunftgebrauch). Die Skizze in Abschnitt 4.1 stellt den Gegenstand der Metaphysikkri­ tik Kants und die Skizze in Abschnitt 4.2 das Resultat der Metaphy­ sikkritik Kants dar. Letztlich gilt es P1 (die Unterscheidung zwischen »Ersch.« und »D.a.s.«) in Paragrafen c.) des Abschnitts 4.2 so zu beant­ worten, dass Kant die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« von den Vernunftideen als »Dinge an sich« unterscheidet. Man kann auch den oben behandelten Punkt durch vierfach inein­ ander verschachtelte Verhältnisse charakterisieren. Das erste und fundamentale Verhältnis ist die »Bedingt/Unbedingt«-Relation: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist das Unbedingte gegeben/aufge­ geben. Das zweite Verhältnis bezieht sich auf ›Ding‹: Gegenstände der Sinne sind die Ersetzung des Bedingten; Vernunftideen sind die Ersetzung des Unbedingten. Das dritte Verhältnis bezieht sich auf den Gebrauch der Vermögen. Die Gegenstände der Sinne beziehen sich auf zwei Arten des Verstandesgebrauchs: den transzendentalen und den empirischen. Die Vernunftideen beziehen sich auf zwei Arten des Vernunftgebrauchs: den konstitutiven und den regulativen. Das vierte Verhältnis bezieht sich auf die Metaphysikkritik Kants: der transzendentale Verstandesgebrauch und der konstitutive Vernunft­ gebrauch bilden den Gegenstand der Metaphysikkritik Kants. Der empirische Verstandesgebrauch und der regulative Vernunftgebrauch bilden das Resultat der Metaphysikkritik Kants.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

1.1 Skizze der Metaphysikkritik Kants in ihrer Gänze und das Begriffspaar »Ding an sich/Erscheinung« im polemischen Sinn In diesem Unterabschnitt versuche ich die Metaphysikkritik Kants in Gänze durch den problematischen Gebrauch der Vermögen (Ver­ stand und Vernunft) zu skizzieren, damit das Begriffspaar »Ding an sich/Erscheinung« im polemischen Sinn erhellt wird. Die Metaphy­ sikkritik Kants in Gänze betrifft sowohl das sinnliche als auch das übersinnliche Feld. Die beiden Felder bilden zusammen den Raum der Metaphysik in Gänze. Aus der Perspektive der Vermögen bezieht sich das sinnliche Feld auf den Verstand und seinen Gebrauch und das übersinnliche Feld auf die Vernunft und ihren Gebrauch. Gegenstände der Kritik sind dann der transzendentale Verstandesgebrauch und der konstitutive Vernunftgebrauch. Durch den transzendentalen Verstan­ desgebrauch werden die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« ausgegeben. Durch den konstitutiven Vernunftgebrauch werden die Vernunftideen als ›Erscheinungen‹ ausgegeben. Daher sind die hier von Kant verwendeten Begriffe »Ding an sich« und »Erscheinung« im polemischen Sinn, nicht im kantischen (und systematischen) Sinn gemeint. Im Folgenden gehe ich zuerst auf den Punkt ein, (a.) dass sich der transzendentale Verstandesgebrauch auf Dinge überhaupt bezieht. Dann wird gezeigt, (b.) dass in diesem Fall das Unbedingte, das im übersinnlichen Feld liegt, nicht ohne Widerspruch gedacht werden kann. Daher wird das Unbedingte (bzw. die Vernunftideen) in eine ›Erscheinung‹ verwandelt. (c.) Die Gemeinsamkeit des transzenden­ talen Verstandesgebrauchs und des konstitutiven Vernunftgebrauchs besteht darin, dass die subjektive Bestimmung des Begriffs für die objektive Erkenntnis des Dinges gehalten wird. (d.) Die Konsequenz dieser Annahme ist, dass die Gegenstände der Sinne dadurch als »Dinge an sich« und die Vernunftideen dadurch als »Erscheinungen« ausgegeben werden.

1.1.1 Der transzendentale Verstandesgebrauch bezieht sich auf Dinge überhaupt Im zweiten Abschnitt des vierten Kapitels wird der transzendentale Verstandesgebrauch und seine Wirkung, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben, erörtert. Aber dieser Verstandesge­

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1. Antwort auf P1

brauch beziehe sich laut Kant nicht nur auf die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«, sondern auch auf Dinge überhaupt (vgl. A 238/B 297; A 247/B 303). Wie ist dies zu verstehen? Wie es bereits mehrfach dargelegt wurde, ist mit dem Begriff »Dinge überhaupt« von Kant eigentlich ›Denkbares überhaupt‹ gemeint. Das Denkbare überhaupt beinhaltet alles, was durch das Denken möglich ist, ohne zu berücksichtigen, ob und wie etwas angeschaut werden kann (vgl. A 247/B 303). Dann wird der Umfang des transzendentalen Ver­ standesgebrauchs in alles Denkbare erweitert. Dies kann man durch das erste Merkmal des transzendentalen Verstandesgebrauchs (vgl. Unterabschnitt 2.1 im vierten Kapitel) erklären: Man versucht von den sinnlichen Bedingungen eines Dings zu abstrahieren und demnach durch den bloßen Verstand (und seine Begriffe) ein Ding zu bestim­ men. Dann ist ein sinnliches Ding nichts anderes als ein denkbares Ding, das nur durch das Denken gebildet wird. Die sinnliche Gege­ benheit eines Dings ist dann kein essenzielles Kennzeichen für das Erkennen dieses Dings. Man sieht hier die Möglichkeit, durch den Verstand allein Dinge überhaupt zu bestimmen bzw. zu erkennen, ohne zu fragen, ob und wie uns Dinge gegeben werde können. In diesem Sinn kritisiert Kant Leibniz dahingehend, dass Leibniz die Gegenstände der Sinne als Dinge überhaupt bloß im Verstande unter einander vergleiche (vgl. A 271/B 327) und »ein intellectuelles System der Welt« (A 326/B 270) bilde195. Auf diese Weise verknüpft Kant seine Kritik am transzenden­ talen Verstandesgebrauch mit seiner Kritik an der Ontologie. Denn die Ontologie versucht, auch ›Dinge überhaupt‹ zu erkennen: Die transscendentale Analytik hat demnach dieses wichtige Resultat: daß der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu anticipiren, und da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, daß er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb denen uns allein Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten könne. Seine Grundsätze sind bloß Principien der Exposition der Erscheinungen, und der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Din­ gen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systemati­ schen Doctrin zu geben (z. E. den Grundsatz der Causalität), muß 195 Vgl. auch den Abschnitt »B. Verstandes-/Vernunftbegriff« unter Unterab­ schnitt 2.2 »Transzendentaler Verstandesgebrauch und Kants Metaphysikkritik« im vierten Kapitel.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

dem bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz machen. (A 246f/B 303)

Die Ontologie versucht, »von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doctrin zu geben«. Die transzendentale Analytik des Verstandes (Deduktionskapitel, Sche­ matismus und Grundsatzkapitel in der KrV) zeigt aber dem entgegen, dass der Verstand aufgrund der Schranken der Sinnlichkeit nur die »Exposition der Erscheinungen« leisten kann. Kant erwähnt hier den Grundsatz der Kausalität als ein Beispiel. Dadurch kann verdeutlicht werden, wie sich der transzendentale Verstandesgebrauch bzw. die Ontologie auf Dinge überhaupt beziehen. Die Kausalität als ein synthetischer Grundsatz a priori hat ihre objektive Realität laut Kant nur innerhalb der Erfahrung. Das bedeu­ tet, dass etwas als Ursache und etwas anderes als Wirkung nur durch das Zeitverhältnis »Folge« notwendig bestimmt werden kann. Ohne die Zeit bzw. Anschauung wird nicht versichert, ob man durch die Kausalität das Objekt bestimmt oder nur einen Gedanken ausdrückt. Nun hätte man laut Kant Unrecht getan, wenn man durch die Kausalität etwas Übersinnliches bestimmen würde: z. B. den Beweis der Existenz Gottes. Dieser Versuch, durch die Kausalität die Existenz Gottes zu beweisen, ist eine Aktion des transzendentalen Verstan­ desgebrauchs hinsichtlich des Dings überhaupt. Der kosmologische Gottesbeweis, den Kant im dritten Hauptstück der transzendentalen Dialektik thematisiert und kritisiert, gibt uns ein gutes Beispiel, um diese Vorgehensweise zu verdeutlichen. Denn der Obersatz dieses Gottesbeweises ist das »vermeintlich transscendentale[…] Naturge­ setz der Causalität« (A 605/B 633, Anm.): Wenn etwas existirt, so muß auch ein schlechterdings nothwendiges Wesen existiren. (A 605/B 633)

In der Fußnote zu diesem Obersatz erklärt Kant weiter, daß alles Zufällige seine Ursache habe, die, wenn sie wiederum zufällig ist, eben sowohl eine Ursache haben muß, bis die Reihe der einander untergeordneten Ursachen sich bei einer schlechthin nothwendigen Ursache endigen muß, ohne welche sie keine Vollständigkeit haben würde. (A 605/B 633, Anm.)

Der kosmologische Gottesbeweis versucht, durch etwas Zufälliges auf ein Dasein des Notwendigen zu schließen. Das heißt, dass man durch die Kausalität (Ursache und Wirkung) das Dasein eines notwendigen

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1. Antwort auf P1

Wesens als Ursache und das Dasein eines Zufälligen als Wirkung verbindet. Dazu wird die Kausalität transzendental gebraucht. Beim notwendigen Wesen findet man kein Zeitverhältnis. Daher soll die Kausalität nicht jenseits der Erfahrung angewendet werden. Nun ist klar: Der transzendentale Verstandesgebrauch bezieht sich auf Dinge überhaupt, weil er während der Bestimmung des Dinges nicht darauf achtet, ob uns das Ding sinnlich gegeben ist.

1.1.2 Die Wirkung des transzendentalen Verstandesgebrauch: Das Unbedingte kann nicht ohne Widerspruch gedacht werden Nun ist zu fragen, was die Wirkung des transzendentalen Verstan­ desgebrauchs ist, wenn er sich auf Dinge überhaupt bezieht. Die Wirkung ist, dass man nicht ohne Widerspruch das Unbedingte denken kann. Zu diesem Punkt hat Kant in der B-Vorrede der KrV gezeigt, dass man das Unbedingte nicht ohne Widerspruch denken kann, wenn man annimmt, dass sich unsere Erfahrungserkenntnis nach den Gegenständen als Dinge an sich selbst richte (vgl. B XX). Diese Stelle wurde schon im zweiten Kapitel analysiert (vgl. 3.1 im zweiten Kapitel). Dort wurde gezeigt, dass das Begriffspaar »Ersch./ D.a.s.« auch in der Ideenlehre vorhanden ist. Nun ist noch im Zusam­ menhang der Metaphysikkritik aufzuzeigen, was es bedeutet, dass man das Unbedingte nicht ohne Widerspruch denken kann. Das Unbedingte bezieht sich hier auf alle drei Klassen von Ver­ nunftideen: Seele, Welt und Gott (vgl. A 334/B 391). Diese Wirkung, das Unbedingte nicht ohne Widerspruch zu denken, zeigt sich am prominentesten bei der Welt bzw. der kosmologischen Antinomie. Denn die Thesen und Antithesen bei der Antinomie sind in sich widerspruchfrei und begründbar. Daher entspringt ein Widerstreit der Vernunft mit sich selbst. Die Ursache der Antinomie ist, dass man das Unbedingte als ein Gegebenes voraussetzt. Dies geschieht durch den ›Grundsatz‹ der Vernunft: Wenn das Bedingte gegeben sei, so sei auch das Unbedingte gegeben (vgl. A 307f/B 364). Diese Gegeben­ heit des Unbedingten bezieht sich darauf, dass man das Unbedingte bzw. die Vernunftideen als objektiv und verdinglicht annimmt. Die

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

problematische Konsequenz dieser Annahme sieht man nur bei der Idee »Welt«, nicht bei den Ideen »Seele« und »Gott«.196 Warum ist das Unbedingte nicht ohne Widerspruch zu denken, wenn man das Unbedingte als Gegebenes annimmt? Die Ursache ist, dass man dem Unbedingten in diesem Fall zwei kontradiktorische Bestimmungen hinzufügen kann: Die Welt hat einen Anfang -: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freyheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freyheit, sondern alles ist in ihm Naturnothwendigkeit. (AA 12: 257)

Kant ist der Auffassung, dass sowohl die Thesen und die Antithesen in der Antinomie »durch gleich einleuchtende klare und unwidersteh­ liche Beweise dargethan werden können« (AA04: 340)197. Daher ist die Welt als ein Unbedingtes in diesem Fall nicht ohne Widerspruch zu denken. Was ist die Ursache dafür? Die Ursache, die die Vernunft zum antinomischen Zustand bringt, ist die problematische Annahme, dass das Unbedingte gegeben sei. Dieses als Gegebenes betrachtete Unbe­ dingte stammt aber daher, dass man das kosmologische Argument für wahr hält (was im dritten Kapitel thematisiert wurde). Dieses Fürwahrhalten stammt wiederum aus der problematischen Bestim­ mungsweise der Gegenstände der Sinne, die im kosmologischen Kontext als das Bedingte dienen. Diese problematische Bestimmungs­ weise bezieht sich darauf, dass man die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« annimmt. Es wurde bereits dargelegt, dass die Denk­ weise, die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben, das Resultat des transzendentalen Verstandesgebrauchs ist (vgl. 2.1 des vierten Kapitels). Der Zusammenhang kann so zusammengefasst werden, dass wenn die Gegenstände der Sinne (als das Bedingte in der Kosmologie) als »Dinge an sich« angenommen werden, die Vgl. A 673/B 701: »Nun ist nicht das Mindeste, was uns hindert, diese Ideen [Seele, Welt und Gott] auch als objectiv und hypostatisch anzunehmen, außer allein die kosmologische, wo die Vernunft auf eine Antinomie stößt, wenn sie solche zu Stande bringen will (die psychologische und theologische enthalten dergleichen gar nicht). Denn ein Widerspruch ist in ihnen nicht; wie sollte uns daher jemand ihre objective Realität streiten können, da er von ihrer Möglichkeit eben so wenig weiß, um sie zu verneinen, als wir, um sie zu bejahen!«. 197 Für die die Richtigkeit aller Beweise der Thesen und Antithesen in der Antinomie garantiert Kant (vgl. AA04: 340). Ich kann hier nicht darauf eingehen, weil das Thema dieser Arbeit nicht die Antinomie per se ist, sondern dass wie das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« durch Kants Behandlung der Antinomie zu verstehen ist. 196

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1. Antwort auf P1

Welt als das gegebene Unbedingte nicht ohne Widerspruch gedacht werden kann: Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntniß richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, daß das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne. (B XX)

Die kosmologische Antinomie weckt Kant aus dem dogmatischen Schlummer und bewegt ihn zur Kritik der Vernunft (vgl. AA04: 338). Die Ursache dieser Antinomie ist, dass ›das bisherige Verfahren der Metaphysikkritik‹ durch den transzendentalen Verstandesgebrauch die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« annimmt.

1.1.3 Die Gemeinsamkeit des transzendentalen Verstandesgebrauchs und des konstitutiven Vernunftgebrauchs Die Eigentümlichkeiten des transzendentalen Verstandesgebrauchs und die des konstitutiven Vernunftgebrauchs habe ich in den obigen Abschnitten ausführlich dargelegt (vgl. 2. des vierten Kapitels und 1. des fünften Kapitels). In diesem Abschnitt versuche ich die Gemein­ samkeit der beiden zu diskutieren, damit die Kontinuität zwischen den beiden und Kants Metaphysikkritik als ein Ganzes besser ver­ standen werden kann. Die Gemeinsamkeit des transzendentalen Ver­ standesgebrauchs und des konstitutiven Vernunftgebrauchs ist, dass bei beiden die subjektive Bedingung des Denkens für die Erkennt­ nis des Objekts gehalten wird. Daher sei der Erkenntnisanspruch in den beiden Arten vom Gebrauch laut Kant problematisch und müsse scheitern. Kants Kritik am transzendentalen Verstandesgebrauch bildet das Zentrum seiner Kritik am ersten Teil der Metaphysik, die Kritik am konstitutiven Vernunftgebrauch macht die Kritik am zweiten Teil der Metaphysik aus. Damit werden die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« ausgegeben und die Vernunftideen als »Erscheinungen« begriffen. Sowohl ›die Gegenstände der Sinne als Dinge an sich‹ als auch ›die Vernunftideen als Erscheinungen‹ implizieren eigentlich die oben angeführte Gemeinsamkeit der beiden Arten des Gebrauchs. Diese Gemeinsamkeit kann man auch auf die als Organon benutzte allgemeine Logik zurückführen. Der transzendentale Ver­ standesgebrauch und der konstitutive Vernunftgebrauch beziehen sich auf die Dialektik in der allgemeinen Logik (nicht die transzenden­

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

tale Dialektik), in der man die allgemeine Logik als Organon benutzte (vgl. A 61/B 86). Das heißt, dass man durch die allgemeine Logik »über Gegenstände zu urtheilen und irgend etwas zu behaupten« (A 60/B 85) wagt. Daraus198 entsteht das »Blendwerk von objektiven Behauptungen« (A 61/B 85). Dazu können zwei Punkte genannt werden. Der erste Punkt bezieht sich auf den transzendentalen Ver­ standesgebrauch, demzufolge man die von Kant mit der Sinnlichkeit eingeschränkten Grundsätze aus den Verstandesbegriffen a priori auf Gegenstände überhaupt erweitert199. Der zweite Punkt bezieht sich auf den konstitutiven Vernunftgebrauch, demzufolge man das Unbedingte als ein Gegebenes ansieht. Damit werden die Ideen als objektiv und ›hypostatisch‹ angenommen. Kants Aufdeckung dieses Blendwerks, wie im dritten Kapitel ausgeführt, beginnt mit der Antinomie bzw. dem kosmologischen Argument200. Der Schluss aus diesem Argument ist, dass die Totalität der ganzen Reihe bzw. das Unbedingte, nicht aus dem Obersatz und dem Untersatz gezogen werden kann, weil das Bedingte im Obersatz und im Untersatz in unterschiedlichen Bedeutungen angenommen wird. Wenn man aber die allgemeine Logik als Organon benutzt, 198 Es gibt natürlich andere Gründe, wodurch man sein Urteil über Gegenstände in einem unkritischen Sinn ausführt, wie zum Beispiel die Aberkennung der Funktion der Sinnlichkeit beim Erkenntnisanspruch und des Unterschieds zwischen analytischem und synthetischem Urteil (vgl. zweites Kapitel). Aber im Grunde genommen ist der fundamentale Grund, die allgemeine Logik als Organon zu benutzen. 199 Vgl. AA04: 332: »daß die Reinigkeit der Kategorien von aller Beimischung sinnlicher Bestimmungen die Vernunft verleiten könne, ihren Gebrauch gänzlich über alle Erfahrung hinaus, auf Dinge an sich selbst auszudehnen, wiewohl, da sie selbst keine Anschauung finden, welche ihnen Bedeutung und Sinn in concreto verschaffen könnte, sie als blos logische Functionen zwar ein Ding überhaupt vorstellen, aber für sich allein keinen bestimmten Begriff von irgend einem Dinge geben können. Dergleichen hyperbolische Objecte sind nun die, so man Noumena oder reine Ver­ standeswesen (besser Gedankenwesen) nennt, als z. B. Substanz, welche aber ohne Beharrlichkeit in der Zeit gedacht wird, oder eine Ursache, die aber nicht in der Zeit wirkte, u. s. w.« 200 Die Ideen in der Seelenlehre und Theologie als objektiv und hypostatisch anzu­ nehmen, verursacht keine Antinomie. Durch die fehlende Antinomie wird nicht gezeigt, inwiefern diese Annahme problematisch ist. »Nun ist nicht das Mindeste, was uns hindert, diese Ideen auch als objectiv und hypostatisch anzunehmen, außer allein die kosmologische, wo die Vernunft auf eine Antinomie stößt, wenn sie solche zu Stande bringen will (die psychologische und theologische enthalten dergleichen gar nicht). Denn ein Widerspruch ist in ihnen nicht; wie sollte uns daher jemand ihre objective Realität streiten können, da er von ihrer Möglichkeit eben so wenig weiß, um sie zu verneinen, als wir, um sie zu bejahen!« (A 673/B 701).

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1. Antwort auf P1

scheint es so zu sein, dass der Schluss einwandfrei abgeleitet werden kann. Das heißt, dass die Totalität bzw. das Unbedingte gegeben ist, weil man in diesem Fall von allem Inhalt beim Bedingten und der Bedingung in der ganzen Reihe abstrahiert, »ohne darauf zu achten, ob, und wie wir zur Kenntnis derselben gelangen können« (A 498/B 526). Diese vermeintliche Gegebenheit des Unbedingten verursacht den transzendentalen Schein in der Kosmologie. Man streitet darüber, ob die Welt endlich oder unendlich sei, wenn man die Gegebenheit der Welt als ein Gegebenes voraussetzt. Aber diese problematische Annahme der Gegebenheit des Unbe­ dingten beginnt mit der problematischen Annahme des Bedingten. Im kosmologischen Kontext bezieht sich das Bedingte auf die Gegen­ stände der Sinne. Wie ich im dritten Kapitel gezeigt habe: Nimmt man die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«, wird der Schluss für wahr gehalten und die Gegebenheit des Unbedingten abgeleitet. Auch darin liegt eine Kontinuität zwischen dem transzendentalen Verstandesgebrauch und dem konstitutiven Vernunftgebrauch. In den beiden Arten des Gebrauchs ist das Denken (Verstandesbegriffe und Vernunftbegriffe) die unentbehrliche Bedingung. Der Beitrag der Sinnlichkeit im Erkenntnisanspruch wird hier falsch eingeschätzt. Noch wichtiger ist, dass in den beiden Arten des Gebrauchs die subjektive Bestimmung des Denkens für die objektive Bestimmung der Dinge gehalten wird.

1.1.4 Das Begriffspaar »Erscheinung/Ding an sich« im polemischen Sinn Die Möglichkeit der Ontologie wird von Kant infrage gestellt, weil das dahinterstehende philosophische Verfahren aus Kants Sicht pro­ blematisch ist. Dieses Verfahren ist der transzendentale Verstandes­ gebrauch. Nach der Erklärung im Unterabschnitt c.) in 4.1 dieses Kapitels kann man den transzendentalen Verstandesgebrauch dahin­ gehend charakterisieren, dass dieser auf die alleinige Anwendung des reinen Verstandes bezogen ist, aber nicht weiß, wo »die Gren­ zen seines Gebrauchs« (A 238/B 297) liegen. Daher nimmt der Verstand in seinem transzendentalen Gebrauch Dinge überhaupt als sein Forschungsfeld, ohne darüber nachzudenken, ob er dazu fähig ist, Erkenntnis über Dinge überhaupt gewinnen zu können. In diesem Zusammenhang werden die Gegenstände der Sinne als »Dinge an

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

sich« ausgegeben, weil dies aus dem transzendentalen Verstandsge­ brauch resultiert. Zugleich werden die Vernunftideen als »Erschei­ nungen« (d. i. Verdinglichung) angenommen, wenn der transzenden­ tale Verstandesgebrauch auf das übersinnliche Feld sich ausweitet. Daher wird der Begriff »Dinge an sich« im polemischen Sinne auf die Gegenstände der Sinne bezogen201, der Begriff »Erscheinung« im polemischen Sinne auf die Vernunftideen im konstitutiven Sinn.

1.2 Skizze des Resultats der Metaphysikkritik Kants und die »Erscheinung/Ding an sich«-Unterscheidung im kantischen Sinn (Antwort auf P1) In diesem Abschnitt wird das Resultat der Metaphysikkritik Kants durch den empirischen Verstandesgebrauch und den regulativen Vernunftgebrauch skizziert. Die beiden Gebrauchsweisen sind laut Kant richtig für die Bestimmung des Bedingten und Unbedingten. Damit wird die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung (die Kant vertritt) abschließend begründet: Die Gegenstände der Sinne (das Bedingte) als »Erscheinungen« werden von den regulativen Vernunftideen (dem Unbedingten) als »Dinge an sich« unterschieden.

1.2.1 Der empirische Verstandesgebrauch bestimmt die Grenze des theoretischen Erkenntnisanspruchs Bei Kants »Hauptzweck des [vernunftkritischen] Systems, nämlich die Grenzbestimmung der reinen Vernunft« (AA04: 474, Anm.) geht es um die Grenze des Erkenntnisanspruchs der reinen Vernunft. Dies ist nur möglich, wenn der empirische Verstandesgebrauch (nicht der transzendentale) bezüglich des sinnlichen Feldes stattfindet. Denn der transzendentale Verstandesgebrauch nimmt die Einschränkung unse­ rer Sinnlichkeit nicht als Grenze der Kategorienanwendung. Daher bezieht sich dieser Verstandesgebrauch auf die Dinge überhaupt. Dagegen beweist Kant, dass die Kategorien nur auf die Gegenstände 201 In Abschnitt 2.3 des vierten Kapitels wurde dargelegt, dass nicht nur der Dogma­ tismus, sondern auch der Empirismus sowie der transzendentale Realismus und der empirische Idealismus die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« ausgeben. Diese Bestimmungsweise, die laut Kant problematisch ist, erfolgt durch den transzenden­ talen Verstandesgebrauch.

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1. Antwort auf P1

der Sinne als »Erscheinungen« angewendet werden. Das bedeutet aus der Perspektive des Verstandesgebrauchs, dass nur der empirische Verstandesgebrauch möglich ist. Dadurch wird der Erkenntnisan­ spruch über die Grenze der Erfahrung hinaus als Anmaßung angese­ hen.

1.2.2 Das Unbedingte kann nur ohne Widerspruch gedacht werden, wenn es theoretisch unbestimmt bleibt Das Unbedingte theoretisch zu bestimmen, geschieht durch den kon­ stitutiven Vernunftgebrauch, der als eine Erweiterung des transzen­ dentalen Verstandesgebrauch betrachtet werden kann. Dies sei nach Kant ein problematischer Gebrauch, wie durch die kosmologische Antinomie gezeigt wird. Das heißt, dass damit zwei kontradiktorische Bestimmungen in Bezug auf die Welt als das gegebene Unbedingte begründet werden können. In diesem Sinne spricht Kant davon, dass das Unbedingte nicht ohne Widerspruch gedacht werden kann. Die Auflösung der Antinomie in Bezug auf die Vernunftideen besteht darin, dass diese nur aufgegeben seien, nicht gegeben. Aufgegeben heißt hier, dass die Vernunftideen nur als eine Aufgabe für das Subjekt verstanden werden sollen. Auf diese Weise können die Vernunftideen nicht theoretisch bestimmt werden, denn ansonsten wären sie kein Unbedingtes, sondern ein Bedingtes. In diesem Zusammenhang wird der Begriff »Ding an sich« mit den Vernunftideen als das aufgegebene Unbedingte verknüpft.

1.2.3 Die »Erscheinung/Ding an sich«-Unterscheidung im kantischen Sinn (Antwort auf P1) Wie in zwei Abschnitten oben beschrieben, sollen laut Kant die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« und die Vernunftideen als »Dinge an sich« bestimmt werden. Das Erste geschieht durch den empirischen Verstandesgebrauch und das Zweite durch den regulati­ ven Vernunftgebrauch. Beide Gebrauchsweisen werden von Kant als richtig bezeichnet. Dann ist die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung im kantischen Sinn die Unterscheidung zwischen den Gegenständen der Sinne als »Erscheinungen« und den Vernunftideen als »Dingen an sich«. Das ist auch die Antwort auf P1.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

Diese Unterscheidung umfasst dann alle Gegenstände über­ haupt. Dies kann man vom Titel des »Phänomena/Noumena«-Kapi­ tels ableiten: »Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegen­ stände überhaupt in Phaenomena und Noumena« (A 235/B 295). Dieses Kapitel steht in der Mitte zwischen der transzendentalen Ana­ lytik und der transzendentalen Dialektik. Die Beiden bilden zusammen die transzendentale Logik, in der hauptsächlich das Denken und seine Begriffe a priori thematisiert werden. Die Analytik bezieht sich auf die Verstandesbegriffe und die Dialektik auf die Vernunftbegriffe. Alle Gegenstände überhaupt beziehen sich auf alles Denkbare, das auf die Apperzeptionseinheit zurückzuführen ist (vgl. A 106). Denn der Begriff »Gegenstand« oder »Objekt« ist für Kant kein An-sich-Seiendes, sondern steht immer in Verbindung mit dem Subjekt und ist durch die Apperzeptionseinheit gesetzt (vgl. B 137). Das Denken (Verstand und Vernunft) bestimmt durch seine Begriffe a priori als Gedankenformen die Gegenstände überhaupt (vgl. A 290/B 346). Durch die Ausweitung der Unterscheidung auf alle Gegenstände überhaupt zeigt Kant, dass nicht alles Denkbare für uns erkennbar ist, sondern nur dasjenige, das in der raumzeitlichen Grenze steht. Der Grund dafür ist, dass die Begriffe a priori nur objektive Gül­ tigkeit haben, wenn sie auf die empirische Anschauung angewendet werden (vgl. B 146f; § 22 in der B-Deduktion). Von den Gegenständen überhaupt ist nur ein Teil davon erkennbar, der durch die Sinnlichkeit gegeben werden kann. Der Teil der Gegenstände überhaupt, der nicht durch die Sinnlichkeit gegeben werden kann und aber notwendig zu denken ist, bezieht sich auf die Vernunftideen. Diese sind für uns unbekannt. Das bedeutet bezüglich der Begriffe a priori, dass die Ver­ nunftideen als Begriffe a priori keine objektive Gültigkeit haben. Daher kann man auch die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung im kanti­ schen Sinn hinsichtlich der objektiven Gültigkeit der Begriffe a priori so zusammenfassen, dass Kant die Verstandesbegriffe, die objektive Gültigkeit haben, von den Vernunftbegriffen, die keine objektive Gül­ tigkeit haben, unterscheidet. In Bezug auf die Relation »Bedingt/Unbedingt« ist die »Ersch./ D.a.s.«-Unterscheidung im kantischen Sinn eine Unterscheidung zwischen dem Bedingten (durch den empirischen Verstandesge­ brauch) und dem Unbedingten (durch den regulativen Vernunftge­ brauch). Dies zieht sich bei Kant durch alle metaphysischen Themen und beantwortet auch die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik

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2. Antwort auf P2

als Wissenschaft: Wo die synthetischen Sätze a priori aufgestellt werden können, ist die Metaphysik eine Wissenschaft. Wenn man über diese Grenze hinausgeht, ist die Metaphysik keine Wissenschaft und ihr Erkenntnisanspruch »trüglich und grundlos« (A 642/B 670). Das heißt, dass nur der erste Teil der Metaphysik als Wissenschaft bezeichnet werden kann, der zweite Teil derselben nicht (vgl. B XVIII und 2.3 des zweiten Kapitels).

2. Antwort auf P2: »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der »Erscheinung« In diesem Abschnitt werde ich zeigen, dass sich das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der Erscheinung bei Kant nicht auf das uns erscheinende Affizierende (Gegenstände der Sinne im transzen­ dentalen Sinne), sondern auf die Vernunftideen im regulativen Sinne bezieht. Daher wird P2 so beantwortet, dass die regulativen Vernunft­ ideen als »Dinge an sich« das Zugrundeliegende der »Erscheinungen« (bzw. der durch den empirischen Verstandesgebrauch bestimmten Gegenstände der Sinne) seien. Ich werde dies anhand einiger Stellen im Folgenden zeigen. Die Interpretation der Stelle 2, 3 und 5 wird im Laufe dieses Abschnitts (2.5) erfolgen. Stelle 1 und 4 werden im dritten Abschnitt des siebten Kapitels behandelt, weil sie sich auf das Subjekt als Erscheinung und »Ding an sich« beziehen. Die Behandlung des Problems des Zugrundeliegenden in diesem Abschnitt gibt das Thema in 3.3 des siebten Kapitels (Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich«) vor. Stelle 1: […] daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint. (B XXVIIf)

Stelle 2: In der That, wenn wir die Gegenstände der Sinne wie billig als bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hiedurch doch zugleich, daß ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine Erscheinung, d. i. die Art, wie unsre Sinnen von diesem unbekannten Etwas afficirt

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

werden, kennen. Der Verstand also, eben dadurch daß er Erscheinun­ gen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und so fern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswe­ sen nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich sei. (AA04: 314f; Prol. § 32)

Stelle 3: […] so bin ich mir vermittelst der äußern Erfahrung eben sowohl der Wirklichkeit der Körper als äußerer Erscheinungen im Raume, wie vermittelst der innern Erfahrung des Daseins meiner Seele in der Zeit bewußt, die ich auch nur als einen Gegenstand des innern Sinnes durch Erscheinungen, die einen innern Zustand ausmachen, erkennen kann, und wovon mir das Wesen an sich selbst, das diesen Erscheinungen zum Grunde liegt, unbekannt ist. (AA04: 336; Prol. § 49)

Stelle 4: […] so könnte doch wohl dasjenige Etwas, welches den äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so afficirt, daß er die Vorstellungen von Raum, Materie, Gestalt etc. bekommt, dieses Etwas, als Noumenon (oder besser als transscendentaler Gegenstand) betrachtet, könnte doch auch zugleich das Subject der Gedanken sein (A 358)

Stelle 5: Wir sollen uns denn also ein immaterielles Wesen, eine Verstandeswelt und ein höchstes aller Wesen (lauter Noumena) denken, weil die Ver­ nunft nur in diesen als Dingen an sich selbst Vollendung und Befrie­ digung antrifft, die sie in der Ableitung der Erscheinungen aus ihren gleichartigen Gründen niemals hoffen kann, und weil diese sich wirk­ lich auf etwas von ihnen Unterschiedenes (mithin gänzlich Ungleich­ artiges) beziehen, indem Erscheinungen doch jederzeit eine Sache an sich selbst voraussetzen und also darauf Anzeige thun, man mag sie nun näher erkennen, oder nicht. (AA04: 354f; Prol. § 57)

Solche Stellen202 sind schwer zu interpretieren, weil sie nicht nur eine bloße Unterscheidung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich«, 202 Weitere Stellen für das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der Erscheinung findet man auch in GMS (AA 04: 45; AA04: 453) und in KU (AA05: 176; AA05: 196; AA05: 344). Man kann natürlich dieses Interpretationsproblem so betrachten, dass Kant den Begriff »Ursache« von dem Begriff »Grund« unterscheide. Der Begriff »Ursache« gehe um die reale Bedeutung der Kausalität und der Begriff »Grund« um die

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2. Antwort auf P2

sondern auch ein Verhältnis zwischen beiden thematisieren. Solche Stellen werden häufig so verstanden, dass Kant hier von dem »Ding an sich« als das Affizierende im transzendentalen Sinn (etwas von uns unabhängig Seiendes) spricht (vgl. erstes Kapitel dieser Arbeit). Kants Formulierungen in den bereits erwähnten Stellen legen auch eine Interpretation des Affizierenden nahe: »erscheint« an Stelle 1, »afficirt« an Stelle 2, »zum Grunde liegt« an den Stellen 3 und 4. An Stelle 5 spricht Kant sogar davon, dass Erscheinungen jederzeit eine Sache an sich selbst voraussetzen. Die Idee, dass das »Ding an sich« als das Affizierende (in Bezug auf die Gegenstände der Sinne) zu verstehen ist, wurde aber in 2.3 des vierten Kapitels widerlegt, da die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn als das Affizierende zu nehmen eine Tätigkeit des transzendentalen Verstandesgebrauchs ist. Das heißt: das Urteil, dass die Gegenstände der Sinne von uns unabhängig existieren, erfolgt durch den transzendentalen Verstandesgebrauch. Dieser Ver­ standesgebrauch ist laut Kant problematisch. Daher kann Kant nicht behaupten, dass das Affizierende die als Dinge an sich betrachteten Gegenstände der Sinne seien. Aber das Problem bleibt: Wie sind Formulierungen wie »Ding an sich als das Zugrundeliegende der Erscheinung« zu verstehen? Ich nenne dies im Folgenden das Problem des Zugrundeliegenden. In den bereits erwähnten Stellen bemerkt man, dass Kant in diesen Stellen nicht von einem bloßen erkenntnistheoretischen Zusammenhang der Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«, sondern von einem Zusammenhang zwischen der Erkenntnistheorie und der Ideenlehre bzw. der praktischen Erweiterung der Ideen spricht. Nach den an Stelle 1 zitierten Sätzen schreibt Kant, dass der Naturmechanismus ohne die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung für alle Dinge überhaupt gelten würde und ein freier Wille nicht zu denken möglich sei (vgl. B XXVII). Im Rahmen von Stelle 2 adressiert Kant hinsichtlich der logische Bedeutung derselben. Dementsprechend verwende Kant an solchen Stellen über das Zugrundeliegende den Begriff »Grund«, weil er sich bewusst sei, dass das Verhältnis des »Dinges an sich« mit der »Erscheinung« immer im logischen Sinn zu verstehen sei. Es gibt aber auch Stellen, wo Kant auch über dieses Verhältnis mit dem Begriff »Ursache« spricht (vgl. B 522). Ich werde im Lauf dieses Abschnitts (im fünften des fünften Kapitels) zeigen, dass das Interpretationsproblem des Zugrundeliegenden besser (als durch die Unterscheidung zwischen »Grund« und »Ursache “) aufgelöst werden kann, wenn man dieses Problem über den Zusammenhang zwischen dem Gebrauch der Denkvermögen und dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« versteht.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

Einschränkung des Geltungsbereichs der reinen Verstandesbegriffe, dass die reinen Verstandesbegriffe nicht über alle mögliche Erfahrung hinausgehen dürfen (vgl. AA04: 315). Stelle 3 und 4 beziehen sich auf die Idee der Seele, die nicht als Gegenstand des inneren Sinnes (als Erscheinung) erfahren wird, sondern als ein Etwas zu denken ist. In Stelle 5 fasst Kant zusammen, dass die drei Ideen (Seele, Welt und Gott) als »Dinge an sich« und dadurch die Voraussetzung der »Erscheinung« gedacht werden sollen, um das »Bedürfnis« der Ver­ nunft, d. i. die Vollendung der empirischen Reihe der Bedingungen, zu erfüllen. Das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende bezieht sich daher nicht auf das Bedingte (die Gegenstände der Sinne im transzenden­ talen Sinn als das Affizierende), sondern auf das aufgegebene Unbe­ dingte (die Vernunftideen im regulativen Sinn). Über das Unbedingte wird schon im fünften Kapitel gesagt, dass es dabei zwei Arten von Vernunftgebrauch gibt: den konstitutiven und den regulativen. Nur der regulative Vernunftgebrauch sei laut Kant richtig. Die Vernunft­ ideen im konstitutiven Vernunftgebrauch anzunehmen ist das, was Kant kritisiert und ablehnt. Die regulative Vernunftidee (das Unbedingte) steht in Verbin­ dung mit den als »Erscheinungen« bestimmten Gegenständen der Sinne (dem Bedingten). Es wurde in Abschnitt 2 des fünften Kapitels durch die Erörterung des regulativen Vernunftgebrauchs erklärt, dass die Vernunftideen laut Kant nicht erdichtet seien, sondern für die systematische Einheit der Erfahrung notwendig gedacht werden müs­ sen. Daher ist das Verhältnis zwischen dem »Ding an sich« und der »Erscheinung« beim Problem des Zugrundeliegenden eigentlich das Verhältnis zwischen dem sinnlichen Feld (der Erkenntnistheorie) und dem übersinnlichen Feld (der Ideenlehre), und zwar im kantischen Sinne und nicht im polemischen Sinne. Das heißt, dass das »Ding an sich« und die »Erscheinung« nur dann in Verbindung gebracht werden können, wenn der Begriff »Ding an sich« im kantischen Sinne auf die Vernunftideen im regulativen Gebrauch und der Begriff »Erschei­ nung« im kantischen Sinne auf die Gegenstände der Sinne bezogen sind. Dieser Sachverhalt ist das Resultat der Metaphysikkritik Kants. Es wäre unverständlich, wenn »Dinge an sich« als die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn (durch den transzendentalen Ver­ standesgebrauch) verstanden werden und in diesem Sinn das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der Erscheinung zu verstehen ist. Denn dies ist genau der Gegenstand der Metaphysikkritik Kants.

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2. Antwort auf P2

In 2.1 wird hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem Problem des Zugrundeliegenden und den Vernunftideen im regula­ tiven Sinn allgemein erklärt, dass es bei Kant drei Vernunftideen (Seele, Welt und Gott) als das Zugrundeliegende der Erscheinung gibt. Aber das Zugrundeliegende ist nur im regulativen und nicht im konstitutiven Sinn zu verstehen. In 2.2 wird die Seele als das Zugrundeliegende der inneren Erscheinung diskutiert. In 2.3 wird die Welt als das Zugrundeliegende der äußeren Erscheinung diskutiert.

2.1 Das Problem des Zugrundeliegenden und die Vernunftideen im regulativen Sinn Nach meiner Lesart handelt es sich bei der Unterscheidung bezüg­ lich der Gegenstände der Sinne zwischen »Dingen an sich« und »Erscheinungen« nicht um eine Frage des Was, sondern des Wie, d. i. die Bestimmungsweise der Gegenstände der Sinne, die durch die zwei Arten vom Verstandesgebrauch (transzendental und empirisch) ermöglicht wird. Nur der empirische Verstandesgebrauch ist laut Kant richtig, der die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« bestimmt. Bei den Vernunftideen geht es auch nur um die Bestim­ mungsweise, die durch die zwei Arten des Vernunftgebrauchs (kon­ stitutiven und regulativen) ermöglicht wird. Laut Kant ist nur der regulative Vernunftgebrauch richtig, welcher die Vernunftideen im regulativen Sinn als »Dinge an sich« bestimmt. Die »Ersch./D.a.s.«Unterscheidung im kantischen Sinn (d. i. P1) ist die Unterscheidung zwischen den Gegenständen der Sinne als »Erscheinungen« und den Vernunftideen als »Dinge an sich«. Daher bezieht sich das Problem des Zugrundeliegenden generell darauf, wie das Verhältnis zwischen den Gegenständen der Sinne als »Erscheinungen« und den Vernunftideen als »Dingen an sich« im kantischen Sinn verstanden werden soll. Dieses Verhältnis entspricht im Kontext der zwei Felder der Metaphysik dem Verhältnis zwischen dem sinnlichen Feld und dem übersinnlichen Feld. Darüber hinaus entspricht es im Kontext des Vermögensgebrauchs dem Verhältnis zwischen dem empirischen Verstandesgebrauch und dem regulativen Vernunftgebrauch. Im Kon­ text des berichtigten ›Grundsatzes‹ der reinen Vernunft entspricht dieses Verhältnis demjenigen zwischen dem gegebenen Bedingten (als »Erscheinung«) und dem aufgegebenen Unbedingten (als »Ding an sich«).

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

In diesem Verständnis wird »das Ding an sich als das Zugrunde­ liegende der Erscheinung« so aufgefasst, dass das »Ding an sich«, das das Zugrundeliegende ist, auf die Vernunftideen im regulativen Vernunftgebrauch und die »Erscheinung« auf die Gegenstände der Sinne im empirischen Verstandesgebrauch bezogen ist. Damit verändert sich die Frage, wie das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der Erscheinung zu verstehen ist, zu der Frage, wie die Vernunftidee als das Zugrundeliegende der Erscheinung zu verstehen ist. Um die letzte Frage zu beantworten, soll die Eigentümlichkeit der regulativen Vernunftideen als das Zugrundeliegende dargelegt werden. Dies thematisiert Kant hauptsächlich im zweiten Abschnitt des Anhangs der transzendentalen Dialektik in der KrV: »Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft« (A 669/B 697-A 704/B 732). Im Folgenden wird dies als EndabsichtAbschnitt bezeichnet. Wie bereits diskutiert wurde, konfrontiert Kant in Bezug auf die Vernunftideen und den Vernunftgebrauch immer zwei ›Gegner‹ miteinander. Der eine ist der Dogmatismus, der die Vernunftideen als etwas Verdinglichtes ansieht und den konstitutiven Vernunftgebrauch behauptet. Der andere ist der Empirismus, der die Vernunftideen als Fiktionen vollständig verneint. Gegen den Dog­ matismus behauptet Kant durch den regulativen Vernunftgebrauch, dass die Vernunftideen theoretisch unbestimmt sind. Gegen den Empirismus behauptet er durch denselben Vernunftgebrauch, dass die Vernunftideen denkmöglich und denknotwendig sind. Die Eigen­ tümlichkeit der regulativen Vernunftideen (d. i. die Bestimmung der Vernunftideen durch den regulativen Vernunftgebrauch) besteht darin, dass die Vernunftideen durch das bloße Denken vorgestellt werden. Dies wird von der Verdinglichung der Vernunftideen und von der Verneinung derselben unterschieden. Auf solche Weise wird die regulative Vernunftidee als das Zugrundeliegende der Erscheinung von Kant anhand der unter­ schiedlichen Auffassungsweisen im zweiten Abschnitt des Anhangs der transzendentalen Dialektik bestimmt: ›Gegenstand in der Idee‹ (im Gegensatz zum ›Gegenstand schlechthin‹), ›Schema der Idee‹, ›Gesichtspunkte für die systematische Einheit möglicher Erfahrung‹, ›relative Annahme‹ (im Gegensatz zur ›schlechthin Annahme‹) oder ›ein Etwas‹ (das durch das Denken im Verhältnis zu dem Inbegriffe der Erscheinung vorgestellt wird). Solche Formulierungen lassen sich zusammenbringen, und dadurch kann die obige erfasste Eigentüm­

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2. Antwort auf P2

lichkeit der regulativen Vernunftideen gezeigt werden. Ich fasse dies zunächst kurz zusammen und gebe dann eine längere Rekonstruktion. Zunächst die Zusammenfassung: Die regulative Vernunftidee als das Zugrundeliegende ist nicht auf das gegebene Unbedingte, sondern nur auf das aufgegebene Unbedingte bezogen. Dadurch wird keine Erkenntnis des aufgegebenen Unbedingten bzw. der Vernunftideen erworben. Ein Etwas, das als das Zugrundeliegende der Erscheinung im regulativen Sinn angenommen wird, ist nicht auf die wirklichen Dinge bezogen, sondern nur auf eine Analogie derselben. Daher bezieht sich dieses Etwas nicht auf einen ›Gegenstand schlechthin‹, sondern nur auf einen ›Gegenstand in der Idee‹. Die Annahme der Vernunftideen als das Zugrundeliegende ist daher nur im relativen Sinn und nicht im ›schlechthinnigen‹ Sinn zu begreifen. Das heißt, dass diese Annahme nur für die systematische Einheit der Natur da ist, d. i. nur als ›Gesichtspunkt‹ dient, nicht an sich da ist, d. i. als ein gegebener Ausgangspunkt dient. Nun folgt die Rekonstruktion: Wie im dritten Kapitel erörtert wurde, deutet Kant durch die Auflösung der Antinomie das Unbe­ dingte nicht als gegeben, sondern nur als aufgegeben. Denn die Gegebenheit des Unbedingten verursacht die Antinomie (vgl. drittes Kapitel dieser Arbeit). Mit dem Aufgegeben-Sein des Unbedingten begründet Kant den regulativen Vernunftgebrauch (vgl. A 508/B 536). Nach diesem wird das Unbedingte nicht als etwas wirklich Gegebenes, sondern nur als eine Aufgabe für das Subjekt betrachtet. Der ›Grundsatz‹ der reinen Vernunft wird dadurch nur als die not­ wendige Maxime der Vernunft, nicht als objektiver Grundsatz der Vernunft genommen, wie es beim konstitutiven Vernunftgebrauch der Fall ist. Notwendige Maxime der Vernunft bedeutet hier, dass nur das »Bedürfnis« der Vernunft (für jedes gegebene Bedingte ein Unbedingtes zu finden) gezeigt wird. Dieses »Bedürfnis« ist nur subjektiv gültig (vgl. A 666/B 694). Auf dieser Basis spricht Kant im dritten Absatz des EndabsichtAbschnitts von dem Unterschied, »ob etwas meiner Vernunft als ein Gegenstand schlechthin, oder nur als ein Gegenstand in der Idee gege­ ben wird« (A 670/B 698). Im Falle eines Gegenstandes schlechthin bezieht sich die Vernunft auf die Gegebenheit dieses Gegenstandes, und man bestimmt diesen Gegenstand durch die Begriffe a priori. Bei den Verstandesbegriffen bestimmt man einen Gegenstand (der durch die Sinnlichkeit gegeben ist) durch die Kategorien. Daher kann man sagen, dass dieser Gegenstand im theoretischen Sinn erkennbar

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ist. Aber es gibt keinen Gegenstand schlechthin in Bezug auf die Vernunftideen, denn ihre ›Gegenstände‹ können laut Kant auf keinen Fall sinnlich gegeben werden. Die Gegebenheit des Unbedingten wird auch abgelehnt, da das dialektische Argument in der Kosmologie ein Fehlschluss ist (vgl. A 497f/B 526f und auch das dritte Kapitel dieser Arbeit). Bezüglich eines ›Gegenstands in der Idee‹ schreibt Kant: [Ein Gegenstand in der Idee ist] nur ein Schema, dem direct kein Gegenstand, auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird, sondern welches nur dazu dient, um andere Gegenstände vermittelst der Bezie­ hung auf diese Idee nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirect uns vorzustellen. (A 670/B 698)

›Gegenstand in der Idee‹ stimmt in diesem Zitat mit den Vernunft­ ideen im regulativen Sinn überein. Denn dies ist nicht etwas Gege­ benes (auch nicht hypothetisch gegeben), sondern nur ein Schema, das dazu dient, die systematische Einheit der sinnlichen Gegenstände »indirect uns vorzustellen«. Was hat der Begriff »Schema« mit den regulativen Vernunftideen zu tun? Schema oder Schematismus wird in Bezug auf den empirischen Verstandesgebrauch von Kant verwen­ det. Dies geschieht durch die transzendentale Einbildungskraft und macht die Anwendung der Verstandesbegriffe auf die Gegenstände der Sinne möglich (vgl. B 150 und auch 3.3 des vierten Kapitels). Analog dazu spricht Kant vom ›Schema der Idee‹ im ersten Abschnitt des Anhangs der transzendentalen Dialektik, »Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft«. Allein obgleich für die durchgängige systematische Einheit aller Ver­ standesbegriffe kein Schema in der Anschauung ausfindig gemacht werden kann, so kann und muß doch ein Analogon eines solchen Schema gegeben werden, welches die Idee des Maximum der Abthei­ lung und der Vereinigung der Verstandeserkenntniß in einem Princip ist. […] Also ist die Idee der Vernunft ein Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit, aber mit dem Unterschiede, daß die Anwendung der Verstandesbegriffe auf das Schema der Vernunft nicht eben so eine Erkenntniß des Gegenstandes selbst ist (wie bei der Anwendung der Kategorien auf ihre sinnliche Schemate), sondern nur eine Regel oder Princip der systematischen Einheit alles Verstandesgebrauchs. (A 665/B 693)

Für die Vernunftideen gibt es kein »Schema in der Anschauung« wie bei den Verstandesbegriffen. Aber laut Kant »kann und muß« ein

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2. Antwort auf P2

analoges Schema in Bezug auf die Vernunftidee gegeben werden. Was ist dieses Schema, wenn es keinen sinnlichen Teil haben kann? Dies ist »die Idee des Maximum der Abtheilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntniß in einem Princip«. Das heißt, dass das ›Schema der Idee‹ auf die Aufgabe der Vernunft bezogen ist, die die Einheit alles möglichen empirischen Verstandesgebrauchs zu systematisieren versucht. Wenn diese Einheit niemals gegeben, sondern immer auf­ gegeben (als Aufgabe für das Subjekt gegeben) ist, so ist hier eine Maxime bezüglich einer Einheit keine Erkenntnis über diese. Auf diese Weise spricht Kant im letzten Satz des obigen Zitats davon, dass dieses Schema (die Idee des Maximum) nur »eine Regel oder Princip der systematischen Einheit alles Verstandesgebrauchs« ist. Dann gibt Kant im zweiten Abschnitt des Anhangs der transzen­ dentalen Dialektik die Gottesidee als Beispiel, um dies zu erklären. So sage ich, der Begriff einer höchsten Intelligenz ist eine bloße Idee, d. i. seine objective Realität soll nicht darin bestehen, daß er sich geradezu auf einen Gegenstand bezieht (denn in solcher Bedeutung würden wir seine objective Gültigkeit nicht rechtfertigen können), sondern er ist nur ein nach Bedingungen der größten Vernunfteinheit geordnetes Schema von dem Begriffe eines Dinges überhaupt, welches nur dazu dient, um die größte systematische Einheit im empirischen Gebrauche unserer Vernunft zu erhalten, indem man den Gegenstand der Erfahrung gleichsam von dem eingebildeten Gegenstande dieser Idee als seinem Grunde oder Ursache ableitet. (A 670/B 698)

Wenn es von der Idee als das Zugrundeliegende oder als »Grunde oder Ursache«203 die Rede ist, unterscheidet Kant immer vorsichtig zwischen der Idee als Gegenstand und der Idee als Schema. Denn die Idee als Gegenstand ist eigentlich das Resultat des konstitutiven Vernunftgebrauchs, in dem das Unbedingte als gegeben vorausgesetzt wird. Denn der ›Grundsatz‹ der reinen Vernunft wird hier als objektiv gültig angesehen. Dagegen ist die Idee als Schema das Resultat des 203 Das Interpretationsproblem des Zugrundeliegenden ist durch eine begriffliche Unterscheidung zwischen »Grund« (als Kausalität im logischen Sinn) und »Ursache« (als Kausalität im realen Sinn) m. E. nicht optimal geklärt, denn Kant verwendet auch den Begriff »Ursache« im logischen Sinn (vgl. B 522; A 670/B 698). Wie in diesem Abschnitt gezeigt, ist die Formulierung »Ding an sich als das Zugrundeliegende (oder Ursache bzw. Grund) der Erscheinung« immer auf den regulativen Vernunftgebrauch bezogen. Das heißt, dass das Problem des Zugrundeliegenden optimal aufgelöst werden kann, wenn man dieses Problem mit dem regulativen Vernunftgebrauch ver­ knüpft.

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regulativen Vernunftgebrauchs, in dem das Unbedingte als immer aufgegeben angesehen wird. Denn der ›Grundsatz‹ der reinen Ver­ nunft wird nur als subjektiv gültig angesehen. Bei der Gottesidee ist es auch so, dass »der Begriff einer höchsten Intelligenz« nicht auf einen Gegenstand bezogen ist, sondern nur als ein Schema dazu dient, die größte systematische Einheit im empirischen Verstandesgebrauch zu erhalten. Dann spricht Kant von Gott als einem ›Quasi-Grund‹ der Gegenstände der Erfahrung, »indem man den Gegenstand der Erfahrung gleichsam von dem eingebildeten Gegenstande dieser Idee als seinem Grunde oder Ursache ableitet« (A 670/B 698). Es wäre ein Missverständnis, wenn man diese »Idee als Grund der Gegenstände der Erfahrung« im konstitutiven Sinn versteht. Denn diese Idee wird nicht als »Gegenstand schlechthin« gegeben, sondern nur als »Gegenstand in der Idee« oder »Schema« gegeben. Man kann daher die Kausalität nicht darauf anwenden und behaupten, dass Gott der Grund der Gegenstände der Erfahrung sei. Dies wäre ein Erkenntnisanspruch. Man kann nur im regulativen Sinn behaupten, dass Gott als eine regulative Idee, somit als ein Quasi-Grund der Gegenstände der Erfahrung betrachtet werden kann, als ob man alles gleichsam von dem eingebildeten Gegenstand (Gottesidee) ableiten würde. Dazu wird keine Erkenntnis über das Thema, Gott sei der Urheber, geliefert, sondern nur ein Fürwahrhalten angesprochene. Der Grund dieses Fürwahrhaltens gilt nur für die Systematisierung der möglichen Erfahrungseinheit. Auf diese Weise spricht Kant im zwölften Absatz des EndabsichtAbschnitts, dass die regulative Idee als das Zugrundeliegende nur problematisch genommen wird. Das Wort »problematisch« bezieht sich hier wiederum auf die subjektive Gültigkeit des ›Grundsatzes‹ der reinen Vernunft. Die Vernunft kann aber diese systematische Einheit nicht anders denken, als daß sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand giebt, der aber durch keine Erfahrung gegeben werden kann; denn Erfahrung giebt niemals ein Beispiel vollkommener systematischer Einheit. Dieses Vernunftwesen (ens rationis ratiocinatae) ist nun zwar eine bloße Idee und wird also nicht schlechthin und an sich selbst als etwas Wirkliches angenommen, sondern nur problematisch zum Grunde gelegt (weil wir es durch keine Verstandesbegriffe erreichen können), um alle Verknüpfung der Dinge der Sinnenwelt so anzusehen, als ob sie in diesem Vernunftwesen ihren Grund hätten, lediglich aber in der Absicht, um darauf die systematische Einheit zu gründen, die der

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2. Antwort auf P2

Vernunft unentbehrlich, der empirischen Verstandeserkenntniß aber auf alle Weise beförderlich und ihr gleichwohl niemals hinderlich sein kann. (A 681/B 709)

Wiederum betont Kant in diesem Zitat den »als ob«-Charakter der regulativen Vernunftideen als das Zugrundeliegende der Erschei­ nung. Dies dient nicht dazu, die Vernunftideen und die dadurch gedachten ›Gegenstände‹ zu erkennen, sondern nur dazu, die syste­ matische Einheit der Sinnenwelt zu stiften. Dieses Stiften ist für die Vernunft unentbehrlich. Daher hat dieses Stiften nur eine subjektive Funktion. Es zeigt dadurch nicht, dass die Sinnenwelt von Gott abgeleitet sei. Daher beruhen die regulativen Vernunftideen nicht auf der Gegebenheit des Unbedingten, wie es beim konstitutiven Vernunft­ gebrauch und Dogmatismus der Fall ist, sondern auf der ›Aufge­ gebenheit‹ des Unbedingten. Das gegebene Unbedingte wird als »Gegenstand schlechthin« betrachtet, aber der Versuch, dies zu erken­ nen, scheitert an der kosmologischen Antinomie. Dagegen wird das aufgegebene Unbedingte bei Kant nur als ein »Gegenstand in der Idee« betrachtet. Dies dient nur als ein Schema für die systematische Einheit möglicher Erfahrung. Über die regulative Vernunftidee als das Zugrundeliegende der Erscheinung wird keine Erkenntnis geliefert. Diese Idee darf dann auch nicht zur Erklärung natürlicher Phänomene herangezogen werden. In diesem Sinn liegt die Vernunftidee als »Ding an sich« der »Erscheinung« zugrunde. Mit dieser Erläuterung, dass das »Ding an sich« als das Zugrun­ deliegende der »Erscheinung« sich auf die regulativen Vernunftideen bezieht, lassen sich die bereits dargestellten Stellen 2 und 5 interpre­ tieren.204 Stelle 2: In der That, wenn wir die Gegenstände der Sinne wie billig als bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hiedurch doch zugleich, daß ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine Erscheinung, d. i. die Art, wie unsre Sinnen von diesem unbekannten Etwas afficirt Die dritte Stelle bezieht sich auf die Idee der Seele (das Zugrundeliegende der inneren Erscheinung), und deshalb wird im 2.2 dieses Kapitels behandelt. Die erste Stelle und die vierte Stelle beziehen sich auf das Zugrundeliegende der inneren und äußeren Erscheinung und werden im Abschnitt 3 dieses Kapitels behandelt. 204

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

werden, kennen. Der Verstand also, eben dadurch daß er Erscheinun­ gen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und so fern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswe­ sen nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich sei. (AA04: 314f; Prol. § 32)

Die nachfolgend genannten Formulierungen Kants sind recht irre­ führend: »seine Erscheinung« und »afficirt«. Es scheint so zu sein, dass Kant von einem Ansichsein spricht, das auf die von uns unabhängigen Gegenstände der Sinne bezogen ist. Eine solche Interpretation wurde schon in Abschnitt 2 des vierten Kapitels systematisch widerlegt. Die­ ses Problem ist jedoch lösbar, wenn man nur den Kontext von § 32 kennt. Von § 32 bis § 35 in der Prol. wurde die Grenzbestimmung der Verstandesbegriffe thematisiert, also ob die Verstandesbegriffe auch über die mögliche Erfahrung hinaus angewendet werden können. Kants Antwort ist, wie in der KrV, ein deutliches Nein. Die Verstan­ desbegriffe als Begriffe a priori haben ihren Ursprung nur im Denken, und es scheint so zu sein, dass der Anwendungsbereich auch über die Grenze der Erfahrungen gehen könnte und »in der That auf Dinge an sich selbst (noumena) […] geh[e]« (AA 04: 315; Prol. § 33). Daher baue der Verstand neben dem »Haus der Erfahrung« (AA04: 316) noch »ein viel weitläuftigeres Nebengebäude an, welches er mit lauter Gedankenwesen anfüllt« (ebd.). Die Gedankenwesen können sich auf keinen Fall auf das Ansichsein der sinnlichen Gegenstände beziehen, sondern nur auf die durch die Vernunftideen gemachten ›Gegen­ stände‹. Der letzte Satz dieses Zitats gibt uns auch einen Hinweis darauf, dass sich das »Ding an sich« hier auf die Vernunftidee bezieht; denn der Verstand »gesteht das Dasein von Dingen an sich selbst zu«. Hier geht es um einen Akt des Verstandes, der das ›Dasein von Dingen an sich selbst‹ proklamiert. Die »Dinge an sich« sind das Zugrundelie­ gende der Erscheinungen und dies ist »nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich«. Dies bezieht sich offensichtlich auf die Konti­ nuität zwischen den Verstandesbegriffen und den Vernunftbegriffen, begründet in der Relation »Bedingt/Unbedingt«, die ich im zweiten Kapitel thematisiert habe. Das Zugrundeliegende anzunehmen ist unvermeidlich, weil die Vernunft immer das Unbedingte zu suchen versucht, um das Dasein des Bedingten zu rechtfertigen. An dieser Stelle spricht Kant noch nicht davon, wie dieses Unbedingte betrachtet werden soll. Aber nach der ganzen Diskussion in Abschnitt 3 dieses

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2. Antwort auf P2

Kapitels wurde bereits festgelegt, dass das Unbedingte nicht im konstitutiven Sinn, sondern nur im regulativen Sinn angenommen werden darf. Stelle 5: [1] Wir sollen uns denn also ein immaterielles Wesen, eine Verstan­ deswelt und ein höchstes aller Wesen (lauter Noumena) denken, [2] weil die Vernunft nur in diesen als Dingen an sich selbst Vollendung und Befriedigung antrifft, die sie in der Ableitung der Erscheinungen aus ihren gleichartigen Gründen niemals hoffen kann, [3] und weil diese sich wirklich auf etwas von ihnen Unterschiedenes (mithin gänz­ lich Ungleichartiges) beziehen, indem Erscheinungen doch jederzeit eine Sache an sich selbst voraussetzen und also darauf Anzeige thun, man mag sie nun näher erkennen, oder nicht. (AA04: 354f; Prol. § 57; Ergänzungen durch den Verfasser)

Diese Stelle befindet sich im Abschnitt »Beschluß von der Grenzbe­ stimmung der reinen Vernunft« in der Prol. und unterstützt meine Lesart. Denn Kant führt hier alle weiteren separat diskutierten Ele­ mente zusammen: »Noumena«, Ideen, »Dinge an sich« und »Ablei­ tung der Erscheinungen«.205 Wichtig ist hier, dass das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der Erscheinungen nur das »Bedürfnis« der Vernunft betrifft, wie es in Satz [1] dargelegt wird, und nicht die objek­ tive Beschaffenheit der Dinge. Das heißt, dass die Vernunftidee als »Ding an sich« nicht erkennbar ist und dieses Zugrundeliegende auch nicht für die Erklärung der Naturerscheinungen als eine Erkenntnis betrachtet werden kann. Die Vernunft ist insofern befriedigt, wenn sie die Vollendung der empirischen Synthesis erreicht. Aber weil das Unbedingte nach Kants Erörterung der Antinomie nicht gegeben werden kann, so kann diese Vollendung niemals erreicht werden. Das Unbedingte wird nur als Aufgabe betrachtet. Daher hat die »Ableitung der Erscheinungen« aus dem Unbedingten (Vernunftidee) einen Als-ob-Charakter: Wir betrachten die Sinnenwelt so, als ob sie von einem Urheber abgeleitet werden könne (vgl. A 672/B 700). Diese Stelle dient wegen der vielfältigen Formulierungen, ›Noumena, Ideen, Dinge an sich und Sache an sich‹ auch als ein Hinweis für Schwerpunkt #3, dass alle solche Begriffe, die sich auf »Ding an sich« beziehen, als identisch betrachtet werden können, denn in dieser Stelle sind alle Begriffe auf die Vernunftideen bezogen. Ausführlich wird dies in Abschnitt 4.2 dieses Kapitels diskutiert. 205

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Wie ist das Wort »Ungleichartiges« in Satz [3] zu verstehen? Anders formuliert: Wie ist der Satz zu verstehen, dass das »Ding an sich« von der Erscheinung ungleichartig sei, sodass die Ableitung der »Erscheinungen« das »Ding an sich« (nicht eine Erscheinung leitet andere Erscheinung ab) sein soll? Meiner Lesart nach soll dies bezüg­ lich der Frage des Vermögensgebrauchs betrachtet werden. Denn die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« zu bestimmen, bezieht sich auf den empirischen Verstandesgebrauch, den die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand (bzw. dem Denken) charakterisiert. Dagegen bestimmt man laut Kant die Vernunftideen als »Dinge an sich« durch den regulativen Vernunftgebrauch, der nur mit der Vernunft bzw. dem Denken zu tun hat. Die Ungleichartigkeit der »Erscheinung« mit dem »Ding an sich« besteht daher darin, dass das »Ding an sich« nur durch das Denken möglich ist und sich auf den Begriff des Unbedingten bezieht. Dagegen ist die »Erscheinung« durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Denken möglich und bezieht sich auf den Begriff des Bedingten. Die Vollendung der Reihe der Bedingungen kann daher niemals durch ein Bedingtes ermög­ licht werden, weil dieses Bedingte wiederum eine fernere Bedingung benötigt. Nur etwas, das durch das Denken als etwas Unbedingtes angenommen wird (also keine fernere Bedingung benötigt), ist in der Lage, diese Reihe der Bedingungen zu vollenden. Daher ist nur dieses Unbedingte fähig, alles Bedingte und seine Bedingungen abzu­ leiten. Aber dieses Unbedingte wird niemals gegeben, sondern nur aufgegeben, sodass das Unbedingte nur als regulative Idee, nicht als ein konstitutives Gegebenes diese Ableitung vollzieht. In diesem Sinn liegt das aufgegebene Unbedingte dem gebegeben Bedingten zugrunde. Gleichfalls liegt das »Ding an sich« der Erscheinung zugrunde. Durch die allgemeine Behandlung des Problems des Zugrunde­ liegenden in Abschnitt 2.5.1 wurde festgelegt, dass sich das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der »Erscheinung« auf die Vernunf­ tideen im regulativen Sinn bezieht. Es gibt insgesamt drei Klassen von den Vernunftideen: Seele, Welt und Gott. Nun ist zu fragen, was die »Erscheinung« ist, der die drei Klassen von Vernunftideen im regulativen Gebrauch zugrunde liegen. Es gibt bei Kant insge­ samt zwei Arten von Erscheinungen: äußere Erscheinung und innere Erscheinung. Dies bezieht sich auf den äußeren und inneren Sinn bzw. den Raum und die Zeit (vgl. A 22/B 37). Daher handelt sich bei dem Zugrundeliegenden des inneren Sinns um die Seele als eine regulative Vernunftidee und dem Zugrundeliegenden des äußeren

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2. Antwort auf P2

Sinns um die Welt als eine regulative Vernunftidee. Auf diese Weise schreibt Kant: »[…] Natur ist eigentlich nur das einzige gegebene Object, in Ansehung dessen die Vernunft regulative Principien bedarf. Diese Natur ist zwiefach, entweder die denkende, oder die körperliche Natur« (A 684/B 712). Die denkende Natur meint hier die innere Erscheinung und die körperliche die äußere Erscheinung. Die Gotte­ sidee (als das aufgegebene Unbedingte) kann diesen Rahmen als das Zugrundeliegende der inneren und äußeren Erscheinungen im regula­ tiven Sinn fassen, »als ob [alle inneren und äußeren Erscheinungen] insgesammt aus einem einzigen allbefassenden Wesen als oberster und allgenugsamer Ursache entsprungen wären« (A 686/B 714). Dies werde ich aber nicht ausführlich erörtern, denn die Gottesidee kann als das Urgrund aller Erscheinung betrachtet werden. Die schwierigen Stellen beziehen sich aber hauptsächlich auf die Ideen der Seele und der Welt. Dies ist auch wichtig für ein weiteres Thema dieser Arbeit, wie das Subjekt als »Ding an sich« und »Erscheinung« zu verstehen ist. Im Folgenden wird in 2.2 die Seele als das Zugrundeliegende der inneren Erscheinung und in 2.3 die Welt als das Zugrundeliegende der äußeren Erscheinung thematisiert.

2.2 Die Vernunftidee »Seele« im regulativen Sinn als das Zugrundeliegende der inneren Erscheinung Das Thema »Seele als eine Vernunftidee« wird von Kant im Paralogis­ mus der transzendentalen Dialektik (A 341ff/B 399ff) thematisiert. Dort wird eine Kritik gegen die rationale Seelenlehre (oder die ratio­ nale Psychologie) formuliert. Diese Seelenlehre beruhe auf »dem einzigen Satze: Ich denke« (A 332/B 400) und versuche dadurch, die Seele zu erkennen. Das heißt, dass die Seele durch Prädikate zu bestimmen versucht wird: Die Seele sei Substanz (Immaterialität), einfach (Inkorruptibilität) sowie numerisch-identisch (Personalität) und stehe aufgrund der Spiritualität in einem Verhältnis zum Kör­ per (Immortalität) (vgl. A 345/B 402). Alle diese vermeintlichen Erkenntnisse über die Seele werden von Kant kritisiert und abgelehnt, denn in allen Thesen über die Seele wird die logische Möglichkeit des Denkens für die reale Möglichkeit des Dinges gehalten. Das sei eine Aktion des transzendentalen Verstandesgebrauchs (vgl. A 348/B 406). Das heißt, dass der Unterschied zwischen dem Denken und dem Erkennen in der rationalen Seelenlehre übersehen wird. Beim

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Denken werden nur Begriffe benötigt, aber beim Erkennen werden nicht nur Begriffe, sondern auch Anschauungen benötigt. In diesem Sinn sagt Kant über den Fehler der rationalen Seelenlehre: »Die logische Erörterung des Denkens überhaupt wird fälschlich für eine metaphysische Bestimmung des Objects gehalten« (B 409). Kant verneint den Erkenntnisanspruch im übersinnlichen Feld, aber nicht die Denkmöglichkeit und die Denknotwendigkeit der Vernunftideen. Durch den regulativen Vernunftgebrauch werden alle Thesen in der rationalen Seelenlehre wieder eine Funktion finden: Die Seele ist der Gesichtspunkt, um die systematische Einheit aller inneren Erscheinungen zu erhalten. Dazu wird keine Erkenntnis über die Seele geliefert. In diesem Sinn wird die Seele im regulativen Sinn als das »Ding an sich« zum Zugrundeliegenden der inneren Erscheinung angenommen: Wir wollen […] erstlich (in der Psychologie) alle Erscheinungen, Handlungen und Empfänglichkeit unseres Gemüths an dem Leitfaden der inneren Erfahrung so verknüpfen, als ob dasselbe eine einfache Substanz wäre, die mit persönlicher Identität beharrlich (wenigstens im Leben) existirt, indessen daß ihre Zustände, zu welchen die des Körpers nur als äußere Bedingungen gehören, continuirlich wechseln. (A 672/B 700)

In diesem Zitat verwendet Kant wieder den Ausdruck »als ob«, der immer beim regulativen Vernunftgebrauch auftaucht. Durch dieses »als ob« wird die Seele als einfache Substanz gedacht, der viele »Eigenschaften« hinzugefügt werden können: »mit persönlicher Identität beharrlich [sein]« und »ihre Zustände […] continuirlich wechseln«. Dies dient aber nicht als eine Erkenntniserweiterung im erkenntnistheoretischen Sinn, sondern nur als ein Etwas, das »ein[e] einfache […] selbständige […] Intelligenz« (A 682/B 710) hat, um »alle Erscheinungen, Handlungen und Empfänglichkeit unseres Gemüths an dem Leitfaden der inneren Erfahrung« zu verknüpfen. Denn die systematische Einheit aller inneren Erscheinungen ist das Unbedingte, das die Vernunft immer sucht. Nun lässt sich Stelle 3 hinsichtlich der Seele als regulative Vernunftidee interpretieren. Stelle 3: […] so bin ich mir vermittelst der äußern Erfahrung eben sowohl der Wirklichkeit der Körper als äußerer Erscheinungen im Raume, wie

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2. Antwort auf P2

vermittelst der innern Erfahrung des Daseins meiner Seele in der Zeit bewußt, die ich auch nur als einen Gegenstand des innern Sinnes durch Erscheinungen, die einen innern Zustand ausmachen, erkennen kann, und wovon mir das Wesen an sich selbst, das diesen Erscheinungen zum Grunde liegt, unbekannt ist. (AA04: 336; Prol. § 49)

Diese Stelle befindet in Kants Auseinandersetzung mit der Seele in den Prol. Der Hauptgedanke in diesem Zitat ist, dass ›Seele‹ als ein Gegenstand des inneren Sinns nicht identisch mit der Seele als einer regulativen Vernunftidee ist. Die als ein Gegenstand des inneren Sinns betrachtete ›Seele‹ ist eigentlich das psychologische Ich. Dieses Ich bezieht sich auf den inneren Zustand des Subjekts (vgl. A 23/B 37). Daraus ergibt sich die innere Erfahrung, die im Gegensatz zur äußeren Erfahrung steht. Aber sowohl die innere als auch die äußere Erfahrung seien laut Kant »Erscheinungen«. In Bezug auf die Seele als eine regulative Vernunftidee wurde bereits erklärt, dass sie als ein aufgegebenes Unbedingtes das Zugrun­ deliegende der inneren Erscheinung ist. Der Wortlaut »das Wesen an sich selbst« an dieser Stelle bezieht sich auf die Seele als eine regulative Idee. In diesem Sinn spricht Kant von der Unerkennbarkeit und dem Zugrundeliegenden dieses Wesens an sich. Kants Grund, dieses Zugrundeliegende fassen zu wollen, wurde ebenfalls bereits erklärt: Um die systematische Einheit aller inneren Erscheinungen zu erhalten. Die Seele als das »Ding an sich« bezieht sich auf den regula­ tiven Vernunftgebrauch. Die ›Seele‹ als ein Gegenstand des inneren Sinns bezieht sich dagegen auf den empirischen Verstandesgebrauch. »Die Einheit aller möglichen empirischen Verstandeshandlungen systematisch zu machen, ist ein Geschäfte der Vernunft« (A 664/B 692). Auf dieser Basis ist das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der Erscheinung begründbar.

2.3 Die Vernunftidee »Welt« im regulativen Sinn als das Zugrundeliegende der äußeren Erscheinung Bei der Welt als dem Zugrundeliegenden der äußeren Erscheinung gibt es insgesamt vier Arten, denn vom gesuchten Unbedingten leitet Kant in der rationalen Kosmologie anhand der Kategorien vier kosmologische Ideen ab: das Unbedingte der Zusammensetzung aller Erscheinungen (Anfang der Welt), das Unbedingte der Teilung einer Erscheinung (einfacher Teil in der Materie), das Unbedingte

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der Entstehung einer Erscheinung (Freiheit) und das Unbedingte der Abhängigkeit des Daseins einer Erscheinung (das notwendige Wesen) (vgl. A 415/B 443 und auch Abschnitt 2.1.2 des dritten Kapitels dieser Arbeit). Diese vier Arten des Unbedingten scheinen die Thesen der Antinomie, d. h. die Positionen des Dogmatismus, widerzuspiegeln. Das ist aber nicht so, denn der Dogmatismus behauptet, dass das Unbedingte gegeben sei. In diesem Sinne werden ein Weltanfang, ein einfacher Teil, die Freiheit und das notwendige Wesen im konstitutiven Sinn als Erkenntnisse angenommen. Das heißt, dass die objektive Realität dieser vier Arten vom Unbedingten angenommen wird. Damit wird die Vernunft in einen antinomischen Zustand gebracht, weil alle korrelierenden Antithesen der Antinomie, d. h. die Positionen des Empirismus, laut Kant auf dieser Basis auch begründet werden können. Die kosmologische Antinomie setzt voraus, dass der ›Grundsatz‹ der reinen Vernunft als objektiv gültig angenommen werde. Daraus folgt in der rationalen Kosmologie, dass das gesuchte Unbedingte gegeben sei. Aber durch Kants Auflösung der Antinomie wird klar, dass dieser ›Grundsatz‹ nur subjektiv gültig ist und das gesuchte Unbedingte niemals gegeben sein kann, sondern nur aufgegeben ist. Daher sollen die obigen dargestellten vier Arten vom Unbedingten nur im regulativen Sinn verstanden werden. Der Anfang der Welt, der einfache Teil in der Materie, Freiheit und das notwendige Wesen sind hier nur problematische Annahmen und betreffen nur die bloße Vorstellung der reinen Vernunft, als ob es einen Anfang der Welt, den einfachen Teil in der Materie usw. gäbe. Dadurch wird nicht die objektive Realität des gesuchten Unbedingten bewiesen. Dazu schreibt Kant auch im Endabsicht-Abschnitt: Wir müssen zweitens (in der Kosmologie) die Bedingungen der inne­ ren sowohl als der äußeren Naturerscheinungen in einer solchen nirgend zu vollendenden Untersuchung verfolgen, als ob dieselbe an sich unendlich und ohne ein erstes oder oberstes Glied sei, obgleich wir darum außerhalb aller Erscheinungen die bloß intelligibelen ersten Gründe derselben nicht leugnen, aber sie doch niemals in den Zusam­ menhang der Naturerklärungen bringen dürfen, weil wir sie gar nicht kennen. (A 672/B 700)

Durch dieses Zitat wird verdeutlicht, dass die empirische Synthesis der Erscheinungen immer weiterverfolgt werden soll, als ob sie an sich unendlich und ohne ein erstes oder oberstes Glied sei. Das heißt, dass man innerhalb der Erfahrung kein Unbedingtes, sondern

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2. Antwort auf P2

nur immer ein Bedingtes und dessen Bedingungen antreffen kann. Das Unbedingte darf auch nicht zur Erklärung einer Erscheinung gebraucht werden. Für die Erklärung des gegebenen Bedingten (als »Erscheinung«) soll dessen Bedingung (als »Erscheinung«) gefunden werden. Aber es ist auch denkmöglich, »die bloß intelligibelen ersten Gründe [der Erscheinungen]« anzunehmen. Kant betont, dass diese Annahme »außerhalb aller Erscheinungen« bestehen soll, wodurch die empirische Synthesis der Erscheinungen nicht unterbrochen ist. Aus der Perspektive des regulativen Vernunftgebrauchs zeigen diese Annahmen des Unbedingten keine objektive Realität, sondern nur die Denkmöglichkeit und die Denknotwendigkeit desselben. Die Den­ knotwendigkeit des Unbedingten betrifft den berichtigten ›Grund­ satz‹ der reinen Vernunft, dass das Unbedingte zu finden die Aufgabe der Vernunft sei. Im Folgenden möchte ich besonders den einfachen Teil in der Materie oder das Einfache thematisieren. Das Einfache wird als das gesuchte Unbedingte (bzw. das »Ding an sich«) verstanden. Das Zusammengesetzte wird dagegen als das gegebene Bedingte (bzw. die Erscheinung) verstanden. Die Teilung eines Zusammengesetzten betrifft die empirische Synthesis dieses gegebenen Bedingten. Das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der »Erscheinung« ist in diesem Zusammenhang so zu verstehen, dass das Einfache als eine regulative Vernunftidee das Zugrundeliegende des Zusammengesetz­ ten ist. Dies spielt eine wichtige Rolle für das Verständnis des Begriffs­ paars »Ersch./D.a.s.« in der theoretischen Philosophie Kants. Die einschlägigen Stellen werden häufig missverstanden, als wäre Kant von einem Ansichsein der sinnlichen Gegenstände (Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn) überzeugt. Und zwar bezieht sich der einfache Teil in der Materie als das aufgegebene Unbedingte auch auf die Frage nach der Gemeinschaft der Seele mit dem Körper. Dies spielt auch eine wichtige Rolle für das Verständnis des Subjekts als »Erscheinung« und »Ding an sich«. Bei der zweiten Antinomie geht es um die Teilung der Erschei­ nung im Raum (Materie). Die Behauptung des Dogmatismus (These) ist, dass eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt aus einfachen Teilen bestehe (vgl. A 434/B 462). Die Behauptung des Empirismus (Antithese) lautet dagegen, dass kein zusammengesetz­ tes Ding in der Welt aus einfachen Teilen bestehe (vgl. A 435/B 463). Kants Kritik an beiden Positionen ist, dass das Einfache oder der einfache Teil als das Unbedingte fälschlicherweise sowohl in der These

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als auch in der Antithese als gegeben vorausgesetzt wird. Wie bereits oftmals betont wurde, ist der einfache Teil der Körper (als äußere Erscheinung) als das gesuchte Unbedingte laut Kant nur aufgegeben. Daher kann nicht behauptet werden, dass die Materie aus einfachen Teilen bestehe oder nicht. Der einfache Teil der äußeren Erscheinung als das aufgegebene Unbedingte ist nicht identisch mit der äußeren Erscheinung als dem Bedingten. Diese ›Ungleichartigkeit‹ besteht darin, dass das Unbedingte nur durch das Denken vorgestellt werden kann, aber das Bedingte durch die Kombination des Denkens mit der Sinn­ lichkeit. Nach meiner Lesart ist die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung (die Kant wirklich vertritt) eigentlich die Unterscheidung zwischen dem Bedingten durch den empirischen Verstandesgebrauch und dem Unbedingten durch den regulativen Vernunftgebrauch. Dass das »Ding an sich« das Zugrundeliegende der Erscheinung sei, bedeutet dann, dass die regulative Vernunftidee als das Zugrundeliegende der Erscheinungen verstanden werden muss. In Bezug auf die zweite Anti­ nomie ist der einfache Teil der Materie als eine regulative Vernunftidee das Zugrundeliegende der äußeren Erscheinung. Aber dieser einfache Teil darf nicht als gegeben (d. h. im konstitutiven Sinn), sondern nur als aufgegeben (d. h. im regulativen Sinn) angenommen werden. Dieser Gedanke wird von Kant in der Streitschrift gegen Eber­ hard hervorgehoben. Dort kritisiert Kant, dass Eberhard die objektive Realität des einfachen Wesens zu beweisen versuche (vgl. AA08: 198f). Kant wiederholt seine Position aus der KrV206, dass die objek­ tive Realität eines Begriffes nur gegeben werden könne, wenn bei diesem Begriff auch die Anschauung korrespondieren könne (vgl. AA08: 206). Und Kant meint, dass Eberhard das Gegenteil beweisen wolle. Eberhard behaupte, »daß der Verstand an Dingen als Gegen­ ständen der Anschauung in Zeit und Raum das Einfache erkenne« (ebd.). Das Einfache ist nach Kant ein Unbedingtes, das nicht sinnlich gegeben werden kann. Daher kann man auch nicht behaupten, dass »Wenn eine Erkenntniß objective Realität haben, d. i. sich auf einen Gegenstand beziehen und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, so muß der Gegenstand auf irgend eine Art gegeben werden können. Ohne das sind die Begriffe leer, und man hat dadurch zwar gedacht, in der That aber durch dieses Denken nichts erkannt, son­ dern bloß mit Vorstellungen gespielt. Einen Gegenstand geben, wenn dieses nicht wiederum nur mittelbar gemeint sein soll, sondern unmittelbar in der Anschauung darstellen, ist nichts anders, als dessen Vorstellung auf Erfahrung (es sei wirkliche oder doch mögliche) beziehen.« (A 155f/B 194 f.). 206

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2. Antwort auf P2

das Einfache erkannt werden kann, sondern nur, dass das Einfache (der einfache Teil der Materie) durch das Denken vorgestellt werden kann. Dagegen ist das Bedingte, das sich hier auf die Materie (äußere Erscheinung im Raum) bezieht, erkennbar, weil diese sinnlich gege­ ben werden kann. Eberhard versteht Kants »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung aus der dogmatischen Perspektive, dass die Sinnlichkeit nur als ›Durch­ gang‹ beim Erkennen dient: Sobald der Verstand den sinnlichen Gegenstand erkenne, sei dieser Gegenstand nicht mehr Erscheinung, sondern »Ding an sich«. Diese Position bezieht sich auf die dogma­ tische Position (die Leibniz-Wolffische Philosophie), die den Unter­ schied der Sinnlichkeit vom Intellektuellen bloß als logisch, nicht als transzendental betrachtet (vgl. A 44/B 62). Diesbezüglich kritisiert Kant, dass Eberhard die »Ersch. /D.a.s.«-Unterscheidung als »eine bloße Kinderei« (AA08: 209) verstehen würde, wenn diese Unter­ scheidung nur »in dem Grade unseres Wahrnehmungsvermögens« (AA08: 208) liege, nicht in der Arten der Erkenntnisvermögen.207 Die Arten der Erkenntnisvermögen beziehen sich auf den Punkt, ob etwas sinnlich gegeben werden kann. Dazu erläutert Kant die Bedeutung der »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung in der Streitschrift, und dies betrifft auch die Teilung der Materie (Thema der zweiten Antinomie): [1] Nun aber zeigt die Kritik (um nur ein einziges Beispiel unter vielen anzuführen), daß es in der Körperwelt, als dem Inbegriffe aller Gegenstände äußerer Sinne, zwar allerwärts zusammengesetzte Dinge gebe, das Einfache aber in ihr gar nicht angetroffen werde. [2] Zugleich aber beweiset sie, daß die Vernunft, wenn sie sich ein Zusammenge­ setztes aus Substanzen, als Ding an sich (ohne es auf die besondere Beschaffenheit unserer Sinne zu beziehen), denkt, es schlechterdings als aus einfachen Substanzen bestehend denken müsse. […] [3] daß die Körper gar nicht Dinge an sich selbst und ihre Sinnenvorstellung, die wir mit dem Namen der körperlichen Dinge belegen, nichts als die Erscheinung von irgend etwas sei, was als Ding an sich selbst allein das Einfache*) enthalten kann, für uns aber gänzlich unerkennbar bleibt, weil die Anschauung, unter der es uns allein gegeben wird, nicht seine Eigenschaften, die ihm für sich selbst zukommen, sondern nur die subjectiven Bedingungen unserer Sinnlichkeit an die Hand giebt, unter 207 Einige Seiten später drückt Kant über Eberhards Verständnis der »Ersch./D.a.s.«Unterscheidung sarkastisch aus, dass ein Fünfeck nach Eberhard noch ein Sinnenwe­ sen sei, aber ein Tausendeck schon ein bloßes Verstandeswesen, etwas Nichtsinnliches (vgl. AA08: 211).

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

denen wir allein von ihnen eine anschauliche Vorstellung erhalten können. (AA08: 208ff; Hervorhebung von Siyan Yu)

Im ersten Satz [1] sagt Kant, dass es in der Körperwelt (als Inbegriff aller Gegenstände äußerer Sinne) nur zusammengesetzte Dinge gebe. Das Einfache kann daher nicht angetroffen werden. Grund dafür ist, dass die kantische Erkenntnistheorie behauptet, dass alle Dinge als äußere Erscheinungen nebeneinander im Raum seien (vgl. A 27/B 43). Der Raum ist eine subjektive Bedingung a priori, wodurch alle äußeren Erscheinungen uns gegeben sind. Die Teilbarkeit des Körpers gründet auf der Teilbarkeit des Raumes (vgl. A 525/B 553). Jeder Teil des Körpers kann als Bedingtes nur im Raum existieren. Das Einfache als der (gedacht) kleinste Teil des Körpers (daher als das Unbedingte) kann aber nicht im Raum dargestellt werden, sondern nur durch das Denken vorgestellt werden. In Satz [2] betont Kant die natürliche Tendenz der Vernunft, dass, wenn sie eine äußere Erscheinung (als das Zusammengesetzte) als »Ding an sich« denke, sie dieses Zusammengesetzte als aus einfachen Substanzen bestehend denken müsse. Das heißt, dass aus der Perspektive der Sinnlichkeit die Materie als äußere Erscheinung jederzeit als das Zusammengesetzte betrachtet werden kann. Aus der Perspektive der Vernunft ist es möglich und notwendig zu denken, dass die Materie aus einfachen Substanzen besteht. Im dritten Satz [3] beschreibt Kant das Verhältnis zwischen »Ding an sich« und »Erscheinung« in Bezug auf ein körperliches Ding, dass ein körperliches Ding für uns immer eine Erscheinung (etwas Zusammengesetztes) sei. Diese Erscheinung ist »die Erscheinung von irgend etwas«. Dieses Etwas bezieht sich auf »Ding an sich«, das auf das Einfache als das gesuchte Unbedingte bezogen ist. Dieses Einfache als »Ding an sich« ist für uns unerkennbar, weil wir (als Menschen) nur durch unsere Anschauung dieses körperliche Ding wahrnehmen und erkennen. Das Einfache kann aber nicht durch die Anschauung gegeben werden. In diesem Satz verwendet Kant selbstverständlich den regulativen Vernunftgebrauch, den er in der KrV begründet, wenn er von der Unerkennbarkeit des Einfachen (bzw. des Unbedingten) spricht. Um diese Position von der dogmatischen Position (die Eberhard vertritt) zu unterscheiden, macht Kant noch eine lange Anmerkung zu dem Begriff »das Einfache*)« im dritten Satz [3] des obigen Zitates. Denn die Hauptfrage dieses Abschnittes ist, wie das »Ding an sich« als das Zugrundeliegende der Erscheinung zu verstehen ist. Das

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2. Antwort auf P2

Einfache ist dieses »Ding an sich« in Bezug auf die Teilung der Materie. In dieser langen Anmerkung über das Einfache zeigt Kant, wie das Einfache als eine regulative Idee zu verstehen ist. Zwei Punkte werden hier hervorgehoben: Der erste Punkt ist, dass es die notwendige Aufgabe der Vernunft ist, die Materie (als äußere Erscheinung) als einfach vorzustellen. Der zweite Punkt ist, dass durch die Vorstellung dieses Einfachen keine Erkenntniserweiterung vollzogen wird. Es lohnt sich, diese Anmerkung sorgfältig zu analysieren: [1] Ein Object sich als einfach vorstellen, ist ein blos negativer Begriff, der der Vernunft unvermeidlich ist, weil er allein das Unbedingte zu allem Zusammengesetzten (als einem Dinge, nicht der bloßen Form) enthält, dessen Möglichkeit jederzeit bedingt ist. [2] Dieser Begriff ist also kein erweiterndes Erkenntnißstück, sondern bezeichnet blos ein Etwas, sofern es von den Sinnenobjecten (die alle eine Zusammenset­ zung enthalten) unterschieden werden soll. [3] Wenn ich nun sage: das, was der Möglichkeit des Zusammengesetzten zum Grunde liegt, was also allein als nicht zusammengesetzt gedacht werden kann, ist das Noumen (denn im Sinnlichen ist es nicht zu finden), so sage ich damit nicht: es liege dem Körper als Erscheinung ein Aggregat von so viel einfachen Wesen als reinen Verstandeswesen zum Grunde; sondern, ob das Übersinnliche, was jener Erscheinung als Substrat unterliegt, als Ding an sich auch zusammengesetzt oder einfach sei, davon kann niemand im mindesten etwas wissen […]. (AA08: 209, Anm.; Hervorhebung von Siyan Yu)

Kant beantwortet mit Satz [1] die Frage, warum ein Objekt als einfach vorgestellt werden muss. Das Einfache bezieht sich auf das Unbedingte, das durch die Vernunft unvermeidlich zu suchen ist. Das gegebene Bedingte in diesem Fall ist das Zusammengesetzte, das sich auf das Objekt bzw. die Materie im Raum bezieht. Laut der natürli­ chen Tendenz der reinen Vernunft muss die Vernunft für das gegebene Bedingte das Unbedingte suchen. In diesem Zusammenhang ist das Einfache das gesuchte Unbedingte. Durch Satz [2] betont Kant, dass unsere Erkenntnis nicht durch den Begriff des Einfachen erweitert wird. Dies ist genau eine Behaup­ tung von Kant gegen den Dogmatismus. Das Einfache ist »kein erweiterndes Erkenntnißstück«. Denn das Einfache wurde mit dem gesuchten Unbedingten (in Bezug auf die Teilung der Materie) iden­ tifiziert. Das Einfache wird hier von Kant als »ein Etwas« bezeichnet. Dieses Etwas bezieht sich auf eine Handlung des Denkens. Dies ist genau eine Behauptung von Kant gegen den Empirismus, denn der

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

Empirismus verneint auch die Denkmöglichkeit der Vernunftideen. Bei Kant ist aber eine begriffliche Vorstellung, »ein Etwas«, für die Vernunftideen erlaubt. Mit den beiden Behauptungen von Kant lässt sich sagen, dass das Einfache nur durch die bloß begriffliche Vorstellung erfasst wird, nicht durch die sinnliche Vorstellung. Denn es ist laut Kant so, dass wir nur etwas erkennen können, wenn zwei Bedingungen (Begriff und Anschauung) erfüllt werden. Beim Einfachen mangelt es an der Anschauung bzw. der sinnlichen Vorstellung. Daher ist dieses Einfache für uns kein »Erkenntnißstück« und unerkennbar. Das Ein­ fache ist insofern vom Zusammengesetzten (als »Sinnenobject […]«) zu unterscheiden, insofern das Einfache nur durch die begriffliche Vorstellung möglich ist und das Zusammengesetzte durch die Kombi­ nation der sinnlichen Vorstellung mit der begrifflichen möglich ist. Im dritten Satz [3] verbindet Kant das Begriffspaar »Einfa­ ches/Zusammengesetzes« (in Bezug auf die Teilung der Materie) mit dem Thema »Ding an sich als das Zugrundeliegende der Erschei­ nung«. Das Einfache ist »das Noumen«, weil es nur durch Denken möglich ist und nicht sinnlich gefunden werden kann. Dieses Einfache liegt dem Zusammengesetzten zugrunde. Dann betont Kant wiede­ rum den zweiten Punkt in Bezug auf das Einfache, dass dadurch keine Erkenntnis erweitert wird: Man kann nicht behaupten, dass eine bestimmte Menge der einfachen Wesen (»so viel einfachen Wesen«) dem Zusammengesetzten zugrunde liege. Dies würde eine Erkenntnis sein, da die Menge der einfachen Wesen numerisch bestimmt werden würde. Man sieht, dass Kant hier den Dogmatismus kritisiert, in dem eine Erkenntniserweiterung im übersinnlichen Feld vorgenommen wird. Zugleich grenzt sich Kant mit dem Begriff des Einfachen als eines denkmöglichen und denknotwendigen Etwas vom Empirismus ab. Denn der Empirismus verneine laut Kant die Denkmöglichkeit des Einfachen. Bezüglich des Problems des Zugrundeliegenden wird deutlich, dass sich das Einfache auf das aufgegebene Unbedingte bei der Teilung der Materie bezieht. Das Zusammengesetzte (die Materie im Raum) bezieht sich dagegen auf das gegebene Bedingte bei der Teilung der Materie. Das Einfache als das »Ding an sich« liegt dem Zusammenge­ setzten als »Erscheinung« zugrunde. Dieses Zugrundeliegende ist nur im regulativen Sinn zu erfassen.

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3. Exkurs: Das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich«

3. Exkurs: Das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich« P1 und P2 wurden in den Abschnitten 1 und 2 dieses Kapitels beant­ wortet. Dies ist auch für das Verständnis des Subjekts als »Erschei­ nung« und »Ding an sich« fruchtbar zu machen. Diesbezüglich wird in diesem Abschnitt eine Lesart angegeben, die sowohl hinsichtlich Kants theoretischer als auch seiner praktischen Philosophie anwend­ bar ist. Die Möglichkeit, das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich« zu bestimmen, wird von Kant in seinen Schriften in unter­ schiedlichen Ausführungen thematisiert: mit dem empirischen und intelligiblen Charakter in der KrV (vgl. A 538f/B 566f) und mit den zwei Standpunkten in der GMS (vgl. AA04: 450). Das Subjekt als Erscheinung (homo phaenomenon) zu bestimmen, bedeutet, dass das Subjekt sowohl als Gegenstand der äußeren Sinne als auch als Gegenstand des inneren Sinnes bestimmt werden soll. Dies geschieht durch den empirischen Verstandesgebrauch. Auf diesen Punkt werde ich in Abschnitt 3.1 zurückkommen. Die unterschiedlichen Ausführungen dazu, dass das Subjekt als »Ding an sich« (homo noumenon) zu bestimmen ist, behandeln zwei Punkte. Der erste Punkt ist, dass das als »Ding an sich« bestimmte Subjekt durch die Vernunft allein gedacht werden soll, wodurch seine Unabhängigkeit von der Naturkausalität erreicht werden kann. Dies bezieht sich auf die Form des Bestimmungsgrundes des Willens und auf die negative Freiheit. Dieser Punkt bezieht sich auf die Unterschei­ dung zwischen »Erscheinung« und »Ding an sich« im kantischen Sinn (P1). Auf diesen Punkt werde ich in Abschnitt 3.2 eingehen. Der zweite Punkt ist, dass das als »Ding an sich« bestimmte Subjekt durch sein Vermögen (d. i. die Vernunft bzw. der praktische Gebrauch der reinen Vernunft) seinen Willen positiv bestimmen kann. Das heißt, dass die Vernunft allein praktisch (d. i. als selbst­ wirkende Ursache) sein kann. Dies bezieht sich auf das Verhältnis zwischen den Gegenständen der Sinne als »Erscheinungen« und den Vernunftideen als »Dingen an sich« (P2), sowie auf die positive Freiheit. Auf diesen Punkt werde ich in Abschnitt 3.3 eingehen, in dem eine Auseinandersetzung mit den Rezeptionen in Bezug auf das Subjekt als »Ersch.« und als »D.a.s.« erfolgt.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

3.1 Das Subjekt als »Erscheinung« Das Subjekt als Erscheinung zu bestimmen, bedeutet bei Kant, dass es sowohl als Gegenstand der äußeren Sinne als auch als Gegenstand des inneren Sinnes bestimmt wird. Das Subjekt als Gegenstand der äußeren Sinne zu verstehen, ist einfach, denn das Subjekt ist in diesem Fall nichts anderes als alle anderen Gegenstände der Sinne, die im Raum stehen. Dies geschieht durch den empirischen Verstandesge­ brauch (vgl. Abschnitt 3 im vierten Kapitel). Im Folgenden möchte ich über das Subjekt als Gegenstand des inneren Sinnes diskutieren. Kants These, dass es das Subjekt durch die innere Anschauung als »Erscheinung« gebe (vgl. B 156), ist wichtig, um zu verstehen, was Kant mit Subjekt als »Ding an sich« meint. Das Subjekt als Gegenstand des inneren Sinnes wird durch den empirischen Verstandesgebrauch bestimmt. Das ist beim Subjekt als Gegenstand der äußeren Sinne ebenfalls der Fall. Das heißt, dass man durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand das Subjekt bestimmt. Die Besonderheit bei der Bestimmungsweise des Subjekts als Gegenstand des inneren Sinnes ist, dass ein Gegenstand des inne­ ren Sinnes nicht unter der Bedingung des Raums, sondern nur unter der Bedingung der Zeit anwesend ist. Es scheint daraus zu folgen, dass ein Gegenstand des inneren Sinnes nichts anderes als das Bewusstsein des Subjekts sein würde. Dazu schreibt Kant in seiner Ausführung des empirischen Verstandesgebrauchs in § 24 der transzendentalen Deduktion »Von der Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt«, dass der innere Sinn nicht mit dem Vermögen der Apperzeption für identisch gehalten werden solle: Weil nun der Verstand in uns Menschen selbst kein Vermögen der Anschauungen ist und diese, wenn sie auch in der Sinnlichkeit gegeben wäre, doch nicht in sich aufnehmen kann, um gleichsam das Mannig­ faltige seiner eigenen Anschauung zu verbinden, so ist seine Synthesis, wenn er für sich allein betrachtet wird, nichts anders als die Einheit der Handlung, deren er sich als einer solchen auch ohne Sinnlichkeit bewußt ist, durch die er aber selbst die Sinnlichkeit innerlich in Ansehung des Mannigfaltigen, was der Form ihrer Anschauung nach ihm gegeben werden mag, zu bestimmen vermögend ist. Er also übt unter der Benennung einer transscendentalen Synthesis der Einbil­ dungskraft diejenige Handlung aufs passive Subject, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch afficirt werde. (B 153f)

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3. Exkurs: Das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich«

Die Ursache dafür, dass das Subjekt als Gegenstand des inneren Sinnes nicht das Subjekt als Apperzeptionseinheit ist, liegt in Kants Verständnis des Verstandes begründet. Der menschliche Verstand ist kein Vermögen der Anschauung. Daher benötigt der Verstand immer noch eine Synthesis: hier die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft. Dies ist wiederum Kants Ausführung des empiri­ schen Verstandesgebrauches, dass man durch die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Verstand die Gegenstände der Sinne (sowohl die der äußeren Sinne als auch die des inneren Sinnes) erkennen kann. Wer die These vertritt, dass der Verstand bzw. die Apperzep­ tionseinheit mit dem inneren Sinn identisch sei und dadurch das Subjekt als Gegenstand des inneren Sinnes mit dem an sich seienden Ich identisch sei, würde Kant als Vertreter des transzendentalen Verstandesgebrauchs bezeichnen. Kants Formulierung, ›ich erkenne mich nicht wie ich an mir selbst bin, sondern nur wie ich mir erscheine‹ (vgl. B 156f) ist auf keinen Fall so zu verstehen, dass ›das wahre Ich‹ nicht erkennbar ist. Mit der Interpretation in Abschnitt 1.1.3.1 des vierten Kapitels habe ich gezeigt, dass die Formulierung »Dinge uns affizieren« auf den empi­ rischen Verstandesgebrauch bezogen ist und die Formulierung »Dinge an sich sein« zugleich auf den transzendentalen Verstandesgebrauch. Kant betont hier, dass wir durch den Verstand allein keinen Erkennt­ nisgewinn über das Subjekt bekommen können. Um das Subjekt zu erkennen, ist immer die Anschauung außerhalb des Verstandes nötig. Daher schreibt Kant in § 25 der B-Deduktion, dass »[d]as Bewußtsein seiner selbst […] also noch lange nicht ein Erkenntniß seiner selbst [ist]« (B 158). Daher bezieht sich das Subjekt als »Erscheinung« (sowohl als Gegenstand der äußeren Sinne als auch als Gegenstand des inneren Sinnes) auf den empirischen Verstandesgebrauch.

3.2 Das Subjekt als »Ding an sich« im theoretischphilosophischen Kontext Durch den empirischen Verstandesgebrauch wird ›das empirische Bewusstsein‹ des Subjekts bestimmt (vgl. AA05: 06). Aber der trans­ zendentale Begriff des Subjekts, der nichts Mannigfaltiges enthält und durch das Denken allein vorgestellt wird, sei laut Kant unbekannt, da dabei eine Anschauung fehlt. Auf diese Weise wird das Subjekt als

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

»Ding an sich« bestimmt. In der KrV wird das Thema des Subjekts als »Ding an sich« in der transzendentalen Dialektik bzw. im Abschnitt von den Paralogismen der reinen Vernunft behandelt. Das ParalogismenKapitel kann als eine Kritik der rationalen Seelenlehre betrachtet wer­ den. In Bezug auf das Subjekt als »Ding an sich« spielt dieses Kapitel eine wichtige Rolle, da Kant dort den Erkenntnisanspruch bezüglich des Subjekts als »Ding an sich« ablehnt (gegen den Dogmatismus) und die Denkmöglichkeit des Subjekts als »Ding an sich« und auch die Denknotwendigkeit desselben zeigt (gegen den Empirismus). Diese Kritik von Kant wird schon in Abschnitt 2 des fünften Kapitels »Vernunftideen durch den regulativen Vernunftgebrauch als ›Dinge an sich‹“ ausgeführt. Kants Behauptung, dass das Subjekt als »Ding an sich« zu bestimmen ist, ist eigentlich in Bezug auf die regulativen Vernunftideen als »Dinge an sich« zu verstehen. Das »Ich denke« (A 341/B 399) kann nur »das Vehikel aller Begriffe überhaupt« sein, wenn dieses »Ich denke« als denkmöglich (logisch möglich) und denk­ notwendig gedacht wird. Auf diese Weise wird das Subjekt als »Ding an sich« ein transzendentaler Begriff, der die logische Voraussetzung aller Anwendung der Vermögen ist und als »das beständige logische Subjekt des Denkens« (A 350) bezeichnet werden kann. Daraus ergibt sich ein ›negativer Begriff von dem denkenden Ich‹ (vgl. AA05: 460): »ein transscendentales Subject« (A 346/B 404). Man sieht, dass Kant hier mit dem Wortlaut »negativer« und »transscendentales« sich vom Dogmatismus distanziert, denn eine Erkenntniserweiterung des »Subjektes als Vernunftidee« macht dieses Subjekt als Vernunftidee zu einer »Erscheinung« (vgl. Abschnitt 1 des fünften Kapitels). Im Folgenden werde ich auf Kants Auflösung des Seele-KörperProblems eingehen, um das Verhältnis zwischen dem Subjekt als »Ding an sich« und demselben als »Erscheinung« zu beschreiben. Dabei werden zwei Stellen aus Abschnitt 2.1. des siebten Kapitels angesprochen, die sich auf das Problem des Zugrundeliegenden (P2) und auf das Subjekt als »Ding an sich« beziehen. Nun möchte ich das Problem der ›Seele-Körper-Gemeinschaft‹ kurz skizzieren, damit der Zusammenhang zwischen dem Subjekt als »Ding an sich« und dem Problem des Zugrundeliegenden verdeutlicht werden kann. Dabei werden die Stellen 1 und 4 aus Abschnitt 5 des fünften Kapitels inter­ pretiert. Dies ist wichtig für die Beantwortung der Frage, wie sich das Subjekt als »Ding an sich« und dasselbe als »Erscheinung« verhalten. Das Problem der Gemeinschaft der Seele mit dem Körper bezieht sich auf die Frage, wie sich die Seele zu der materiellen Welt verhält. In

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3. Exkurs: Das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich«

der KrV versteht Kant dieses Problem als ein Scheinproblem.208 Denn dieses Problem setzt fälschlicherweise voraus, dass die äußerlichen Gegenstände der Sinne »Dinge an sich« sind. Das heißt, dass die äußerlichen Gegenstände der Sinne unabhängig von uns existieren. Daher werden die Materien (als äußerliche Gegenstände) auf »ganz unterschiedene und heterogene Art« (A 385) von der Seele als inner­ liche Gegenstände angenommen. Dann besteht die Schwierigkeit der Seele-Körper-Gemeinschaft darin, wie zwei heterogene Arten der Dinge in Einklang gebracht werden können.209 Kants Auflösung für dieses Problem ist, dass die äußerlichen Gegenstände der Sinne gar nicht »Dinge an sich« sind, sondern nur »Erscheinungen«. Die Seele als Gegenstand des inneren Sinnes ist auch eine Erscheinung. Beide sind nur Vorstellungen. Ihr Unterschied besteht nur darin, dass der Körper (als äußerlicher Gegenstand der Sinne) im Raum und in der Zeit (d. h. außer uns) gegeben ist und die Seele nur in der Zeit (d. h. in uns). Daher sind beide nicht heterogen, wie beim Problem der ›Seele-Körper-Gemeinschaft‹ vor­ ausgesetzt wird. Das Unbedingte (im regulativen Sinn) als das »Ding an sich« wird von Kant nicht nur als das Zugrundeliegende der äußeren Erscheinung verstanden, sondern auch als das Zugrundeliegende der inneren Erscheinung210 (wie in 2.2 des siebten Kapitels erklärt wurde). 208 In der vorkritischen Zeit wurde dieses Problem als die Frage nach dem Ort der Seele von Kant behandelt (vgl. AA02: 324). Eine Ausführung dazu findet man auch bei Klemme (vgl. 1996: 50ff). 209 »Nun sind wir nach den gemeinen Begriffen unserer Vernunft in Ansehung der Gemeinschaft, darin unser denkendes Subject mit den Dingen außer uns steht, dog­ matisch und sehen diese als wahrhafte, unabhängig von uns bestehende Gegenstände an nach einem gewissen transscendentalen Dualism, der jene äußere Erscheinungen nicht als Vorstellungen zum Subjecte zählt, sondern sie, so wie sinnliche Anschauung sie uns liefert, außer uns als Objecte versetzt und sie von dem denkenden Subjecte gänzlich abtrennt. Diese Subreption ist nun die Grundlage aller Theorien über die Gemeinschaft zwischen Seele und Körper, und es wird niemals gefragt, ob denn diese objective Realität der Erscheinungen so ganz richtig sei, sondern diese wird als zugestanden vorausgesetzt und nur über die Art vernünftelt, wie sie erklärt und begriffen werden müsse.« (A 389). 210 Die Seele kann als der Gegenstand des inneren Sinnes bzw. als »Erscheinung« angenommen werden. Das heißt, dass diese Seele das Objekt der empirischen Psy­ chologie ist. Die Psychologie, die Kant in der transzendentalen Dialektik kritisiert, ist die rationale Psychologie. In diesem Zusammenhang wird die Seele nicht als »Erscheinung«, sondern als »Ding an sich« ausgegeben. Das heißt, dass die Seele in der transzendentalen Dialektik auf das Unbedingte bezogen ist.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

Daher sind die beiden Arten von Gegenständen (der äußeren Sinne und des inneren Sinnes) laut Kant gleichartig. Das heißt, dass sie »Erscheinungen« sind, unabhängig davon, ob sie auf äußere Sinne oder inneren Sinn bezogen sind. Und auch die beiden Arten des Zugrundeliegenden (äußerer Erscheinung und innerer Erscheinung) sind deshalb gleichartig (vgl. B 427f). Auf diese Weise löst Kant das Problem der Gemeinschaft der Seele mit dem Körper auf. Darüber hinaus kann die Stelle 4 aus dem Abschnitt 2 im siebten Kapitel dahingehend interpretiert werden, dass das Etwas sich auf das Unbedingte bezieht. Stelle 4: […] so könnte doch wohl dasjenige Etwas, welches den äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so afficirt, daß er die Vorstellungen von Raum, Materie, Gestalt etc. bekommt, dieses Etwas, als Noumenon (oder besser als transscendentaler Gegenstand) betrachtet, könnte doch auch zugleich das Subject der Gedanken sein. (A 358)

Dieses Zitat stammt aus dem zweiten Paralogism und bezieht sich auf die Simplizität des Subjekts. Das heißt, dass man in der rationalen Seelenlehre die Seele bzw. das denkende Ich als einfach (als eine Eigenschaft des Subjekts und daher als eine Erkenntnis) zu beweisen versucht (vgl. A 351). Nach Kants Kritik ist dieser Beweis gescheitert. Aber die Einfachheit des Subjekts als ein Gedanke bezieht sich laut Kant nur auf die logische Einheit des Subjekts bzw. einen unmittelba­ ren Ausdruck der Apperzeption (vgl. A 355). Daher ist das einfache Ich als ein bloßer Gedanke nicht problematisch und bedeutet »ein Etwas überhaupt (transscendentales Subject)« (ebd.). Das »Etwas« in diesem Zitat ist auch in diesem Kontext zu verstehen. Am Anfang dieses Zitats wird dieses Etwas von Kant als das Zugrundeliegende der äußeren Erscheinungen bezeichnet. In Abschnitt 2 des siebten Kapitels wurde aufgezeigt, dass das Zugrun­ deliegende der Erscheinung auf das Unbedingte im regulativen Sinn bezogen ist. Daher ist mit diesem »Etwas« auch das Unbedingte im regulativen Sinn gemeint. Am Ende dieses Zitats schreibt Kant, dass dieses »Etwas« zugleich das Subjekt der Gedanken sein kann. Das heißt, dass das Zugrundeliegende der äußerlichen Erscheinungen auch das Zugrundeliegende der innerlichen Erscheinung ist.

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3. Exkurs: Das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich«

Darüber hinaus kann auch die Stelle 1 aus dem Abschnitt 2 im siebten Kapitel erklärt werden. Diese Stelle befindet sich in der B-Vorrede der KrV. Die Formulierung scheint problematisch zu sein. Stelle 1: […] daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint. (B XXVIIf)

Das »Etwas« in der Formulierung, »daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint«, kann nach der Erklärung von Stelle 4 so interpre­ tiert werden, dass es sich auf das Subjekt (bzw. die Seele) als »Ding an sich« bezieht. »Erscheint« soll hier nicht so verstanden werden, als würde uns etwas Sinnliches erscheinen oder sichtbar sein. Das »Ding an sich« bezieht sich auf das Zugrundeliegende der Erscheinungen, das wir uns »müssen denken können«. Dies beruht auf der Relation »Bedingt/Unbedingt«. Das Unbedingte ist etwas, das die Vernunft durch das gegebene Bedingte notwendig sucht. Kants These über das Unbedingte wurde im fünften Kapitel hervorgehoben, der zufolge das Unbedingte unbekannt und denkmöglich sowie denknotwendig sei. Diese Erklärung lässt sich auch mithilfe dieses Zitats untermauern. Kant spricht sofort nach diesem Zitat davon, dass die Seele in zweierlei Bedeutungen211 angenommen werden soll. [1] Nun wollen wir annehmen, die durch unsere Kritik nothwendigge­ machte Unterscheidung der Dinge als Gegenstände der Erfahrung von eben denselben als Dingen an sich selbst wäre gar nicht gemacht, so müßte der Grundsatz der Causalität und mithin der Naturmechanism in Bestimmung derselben durchaus von allen Dingen überhaupt als wirkenden Ursachen gelten. [2] Von eben demselben Wesen also, z. B. der menschlichen Seele, würde ich nicht sagen können, ihr Wille sei frei, und er sei doch zugleich der Naturnothwendigkeit unterworfen, d. i. nicht frei, ohne in einen offenbaren Widerspruch zu gerathen, weil ich die Seele in beiden Sätzen in eben derselben Bedeutung, nämlich Ameriks kritisiert bei Allison (sowie bei Prauss) als Vertreter der Zwei-Perspekti­ ven-Lesart an diesem Punkt, dass diese »zweierlei Bedeutungen« nicht im allgemei­ nen Sinne angenommen werden sollen, sondern in einem spezifischen Zusammen­ hang mit der Freiheit stehen, die mit der praktischen Philosophie Kants verbunden ist. »Such a view does not require that in general all phenomena and associated noumena are to be said to involve the very same objects« (Ameriks 2003: 76). 211

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

als Ding überhaupt (als Sache an sich selbst), genommen habe und ohne vorhergehende Kritik auch nicht anders nehmen konnte. [3] Wenn aber die Kritik nicht geirrt hat, da sie das Object in zweierlei Bedeutung nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung oder als Ding an sich selbst; […] so wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) als dem Naturgesetze nothwendig gemäß und so fern nicht frei und doch andererseits als einem Dinge an sich selbst angehörig jenem nicht unterworfen, mithin als frei gedacht, ohne daß hiebei ein Widerspruch vorgeht. (B XXVIIff; Ergänzungen durch den Verfasser)

Kants Formulierung »denselben als Dingen an sich selbst« in Satz [1] ist wiederum irreführend und scheint anzudeuten, dass die Gegenstände der Sinne notwendig als »Dinge an sich« anzunehmen seien. Aber auch in diesem Satz [1] spricht Kant davon, dass die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung die mögliche Anmaßung verhindert, die Naturkausalität auf die Dinge überhaupt als gültig zu begreifen. Daher ist klar, dass sich der Begriff »Ding an sich« auf die Vernunft­ ideen bezieht. Darüber hinaus spricht Kant im zweiten Satz [2] davon, dass die menschliche Seele einerseits als frei und andererseits als unfrei gedacht werden könne. Die Ursache dafür ist, dass die Seele als »Ding an sich« nicht der Naturkausalität unterworfen ist, die Seele als »Erscheinung« jedoch schon. Beide Aussagen stehen nicht im Widerspruch zueinander, weil sich die Zeit als die notwendige Bedin­ gung der Naturkausalität nicht auf das übersinnliche Feld erstreckt. Das Subjekt als »Ding an sich« zu bestimmen, erfolgt keinesfalls mit Bezug auf das sinnliche Feld, denn der Begriff »Ding an sich« in Verwendung für die Gegenstände der Sinne wird von Kant als transzendentaler Verstandesgebrauch kritisiert (vgl. Abschnitt 2 im vierten Kapitel). Dieser Punkt, dass das Subjekt als »Ding an sich« auf die Vernunftideen und daher auf das übersinnliche Feld wird von Kant auch in der KpV betont. Die Vereinigung der Causalität als Freiheit mit ihr als Naturmecha­ nism, davon die erste durchs Sittengesetz, die zweite durchs Naturge­ setz, und zwar in einem und demselben Subjecte, dem Menschen, fest steht, ist unmöglich, ohne diesen in Beziehung auf das erstere als Wesen an sich selbst, auf das zweite aber als Erscheinung, jenes im reinen, dieses im empirischen Bewußtsein vorzustellen. Ohne dieses ist der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst unvermeidlich. (AA05:06, Anm.)

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3. Exkurs: Das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich«

Das Subjekt als »Wesen an sich« ist ›im reinen Bewusstsein‹ vorzu­ stellen und das Subjekt als »Erscheinung« ›im empirischen Bewusst­ sein‹. Dies bedeutet, dass das Subjekt als »Ding an sich« als Vernunf­ tidee (durch den regulativen Vernunftgebrauch) und dasselbe als Erscheinung als Gegenstand des inneren Sinnes (durch den empiri­ schen Verstandesgebrauch) zu verstehen ist. Somit gibt es keinen Widerspruch. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Subjekt als »Ding an sich« auf die Seele als eine Vernunftidee bezieht.212 Diese Idee ist nach Kants Kritik unbekannt, aber denkmöglich und denknot­ wendig. Das Verhältnis zwischen dem Subjekt als »Ding an sich« und demselben als »Erscheinung« besteht darin, dass die regulati­ ven Vernunftideen (als »Dinge an sich«) das Zugrundeliegende der Erscheinungen sind. Man sieht, dass sowohl die Unterscheidung zwischen dem Subjekt als »Ersch.« und demselben als »D.a.s.« als auch das Verhältnis zwischen den beiden (»Subjekt als Ding an sich« als das Zugrundeliegende des »Subjekt als Erscheinung«) durch die Antworten auf P1 und P2 konsistent erklärt werden können.

3.3 Das Subjekt als »Ding an sich« im praktischphilosophischen Kontext Das Subjekt als »Ding an sich« wird in der praktischen Philosophie Kants nicht nur als ein negativer Begriff problematisch angenommen, sondern findet in der Vermögensthese auch eine affirmative Verwen­ dung. Das heißt, dass das als »Ding an sich« bestimmte Subjekt durch seine Vermögen seinen Willen positiv bestimmen kann. Dies geschieht durch einen Gebrauch der Kausalität in praktischer Absicht. Im Folgenden möchte ich durch zwei Analysen diesen Punkt weiter 212 Kant verbindet das Subjekt nicht derart mit dem »Ding an sich«, dass man das Subjekt als »Ding an sich« durch Reflexion des Subjekts als Erscheinung bekomme, wie es die Zwei-Perspektiven-Lesart suggeriert. In diesem Zusammenhang kritisiert Guyer auch Allisons Zwei-Perspektiven-Lesart: »the ›two-aspect‹ view will create difficulties for Kant´s subsequent treatment of the freedom of the will, for it will imply that we can have a conception of ourselves in which we abstract from the causal determination of our actions in space and time, but not that we are not in fact causally determined in space and time« (Guyer 2006: 68). Diese Kritik ist teilweise zutreffend: die Willensfreiheit ist Kant zufolge nicht ein vom Subjekt als »Erscheinung« abstrahiertes »Ding an sich«.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

erörtern. Die erste Analyse betrifft den ›empirischen und intelligi­ blen Charakter‹ in der KrV. Die zweite Analyse betrifft die zwei Standpunkte in der GMS. Solche Stellen werden auch in der Zwei-Per­ spektiven-Lesart und der Zwei-Welten-Lesart als Belege verwendet, um die jeweiligen Lesarten damit zu rechtfertigen. Daher werde ich mich bei der Analyse dieser Stellen mit den beiden Lesarten in Bezug auf das Subjekt als »Ding an sich« kritisch auseinandersetzen.213 Empirischer und intelligibler Charakter in der KrV. Das Textstück, das im Zusammenhang mit dem empirischen und intelli­ giblen Charakter in der KrV relevant ist, lässt sich im Verlauf der Auflösung der dritten Antinomie finden. Dort spricht Kant davon, dass er dasjenige an einem Gegenstand der Sinne intelligibel nenne, was selbst nicht Erscheinung sei (vgl. A 538/B 566). Wenn demnach dasjenige, was in der Sinnenwelt als Erscheinung angesehen werden muß, an sich selbst auch ein Vermögen hat, welches kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, wodurch es aber doch die Ursache von Erscheinungen sein kann: so kann man die Causalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel nach den Wirkungen derselben als einer Erscheinung in der Sinnenwelt. (ebd.)

Aufgrund der Formulierungen »zwei Seiten« scheint es naheliegend zu sein, diese Stelle als einen Beleg für die Zwei-Perspektiven-Lesart zu verstehen. Wäre dies hier so gemeint, würde das Subjekt als ein Bedingtes einerseits als »Erscheinung« und andererseits an sich selbst betrachtet werden. Das »Ding an sich« sei dann die philosophische Reflexion der »Erscheinung«. Im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit wurde begründet, dass ein Bedingtes (als Gegenstand der Sinne) laut Kant nicht als »Ding an sich« betrachtet werden kann. Die Ursache dafür ist, dass die Verfahrensweise, einen Gegenstand der Sinne als »Ding an sich« auszugeben, das Resultat des transzenden­ talen Verstandesgebrauchs ist, der von Kant kritisiert wird. Daher ist die Zwei-Perspektiven-Lesart nicht kantisch und deren Anwendung auf Kants praktische Philosophie somit unzulässig.214 Das Problem bei einer Interpretation der Zwei-Perspektiven-Lesart in Bezug auf Eine zusammenfassende Auseinandersetzung mit den beiden Rezeptionen gebe ich im nächsten Abschnitt dieses Kapitels. 214 Dalbosco bemüht sich, auf dem Weg der Zwei-Perspektiven-Lesart eine Interpre­ tation für das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich« darzulegen (vgl. Dalbosco 2002: 21). 213

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3. Exkurs: Das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich«

das Subjekt als »Ding an sich« besteht darin, dass das ›an sich selbst betrachtete‹ Subjekt eigentlich als ein Bedingtes angenommen wird, denn das »Ding an sich« ist bei dieser Lesart eine philosophische Reflexion der »Erscheinung«, die sich auf das Bedingte bezieht. Dieses Bedingte als das Subjekt ist im praktischen Kontext ist es, was Kant mit dem »pathologisch bestimmbare[n] Selbst« (AA05: 74) oder dem »empirisch-bestimmbare[n] Dasein« (AA05: 86) meint. Ein solches Subjekt wäre immer unter empirischen Bedingungen als bestimmt zu betrachten und kann daher weder als ›Zweck an sich selbst‹ noch nach seiner ›Persönlichkeit‹ hin verstanden werden. Die beiden Begriffe (Zweck an sich und Persönlichkeit) sind nur mit dem Unbedingten zu verbinden, das laut Kant theoretisch unbestimmt ist. Daher soll das Subjekt als »Ding an sich« auf Ebene der Vernunft und des praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft interpretiert werden. Nun zum Interpretationsproblem: Wie ist »die Causalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten« im letzten Zitat zu verstehen? Das folgende Zitat zeigt, dass die ›Kausalität eines Dinges an sich selbst‹ laut Kant auf den Vernunftideen als dem Zugrundeliegenden der Erscheinungen beruht. Dies ist auch die begründete These aus dem zweiten Abschnitt des siebten Kapitels der vorliegenden Arbeit: [1] Eine solche doppelte Seite, das Vermögen eines Gegenstandes der Sinne sich zu denken, widerspricht keinem von den Begriffen, die wir uns von Erscheinungen und von einer möglichen Erfahrung zu machen haben. Denn da diesen, weil sie an sich keine Dinge sind, ein transscendentaler Gegenstand zum Grunde liegen muß, der sie als bloße Vorstellungen bestimmt, so hindert nichts, daß wir diesem transscendentalen Gegenstande außer der Eigenschaft, dadurch er erscheint, nicht auch eine Causalität beilegen sollten, die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Wirkung dennoch in der Erscheinung angetroffen wird. [2] Es muß aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d. i. ein Gesetz ihrer Causalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde. (A 538f/B 566f; Ergänzungen durch den Verfasser)

Im ersten Satz [1] erklärt Kant, warum eine Kausalität eines Din­ ges an sich in Verbindung mit dem Begriff möglicher Erfahrung, den Kant durch seine transzendentale Analytik entwickelt hat, nicht widersprüchlich ist. Denn die Erscheinungen sind an sich keine Dinge, sondern nur Vorstellungen. »[E]in transscendentaler Gegen­ stand« muss den Erscheinungen zugrunde liegen. Und wir »sollten« »eine Causalität« außerdem den empirischen Eigenschaften dieses

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

transzendentalen Gegenstandes beilegen. Diese Kausalität ist selbst keine Erscheinung, aber die Wirkung dieser Kausalität wird in der Erscheinung angetroffen. In Abschnitt 2.3 des vierten Kapitels wurde dargelegt, dass der Begriff des transzendentalen Gegenstandes sich auch auf die Totalität bzw. das Unbedingte bezieht (vgl. auch B 522). In Abschnitt 2.3.1 wird durch die Analyse der Stelle B 66 bestätigt, dass Kant der Auffassung ist, dass wir durch die äußerlichen Verhältnisse das Innerliche der Dinge nicht erkennen können. Damit wird eine Denkmöglichkeit für das Innere der Dinge ermöglicht. Das Innere der Dinge zu erkennen, wird im theoretischen Kontext jedoch als ein dogmatisches Verfahren im Sinne des transzendentalen Verstandes­ gebrauchs von Kant kritisiert. Im praktischen Kontext ist dagegen eine Annahme, die nur mit dem Bestimmungsgrund des Willens zu tun hat, erlaubt. Denn dadurch wird keine Erkenntnis über das Innere der Dinge oder die Kausalität des Dinges an sich gewonnen. Im zweiten Satz [2] bestimmt Kant den intelligiblen Charakter durch »ein Gesetz [der] Causalität«. Das heißt, dass eine notwen­ dige Regel angenommen wird, in der die wirkende Ursache nicht Erscheinung, die Auswirkung dieser Regel aber Erscheinung ist. Dieser Charakter wird von Kant nicht abstrakt angenommen, sondern immer mit dem handelnden Subjekt in Verbindung gebracht. Dazu schreibt Kant: Dieses handelnde Subject würde nun nach seinem intelligibelen Cha­ rakter unter keinen Zeitbedingungen stehen, denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst. […] Mit einem Worte, die Causalität desselben, so fern sie intellectuell ist, stände gar nicht in der Reihe empirischer Bedingungen, welche die Begebenheit in der Sinnenwelt nothwendig machen. (A 539f/B 567f)

Das handelnde Subjekt steht »seinem intelligibelen Charakter« nach nicht unter der Zeitbedingung, denn die Zeit ist die Bedingung der »Erscheinung«, nicht die der »Dinge an sich«. Daher ist klar, dass das handelnde Subjekt wegen seines intelligiblen Charakters als »Ding an sich« im übersinnlichen Feld (bzw. in Bezug auf die Vernunftideen) gedacht werden muss. Aber woher kennt Kant diesen Charakter und in welcher Relation steht der intelligible Charakter zu dem empirischen Charakter des handelnden Subjekts? Dazu schreibt Kant: Dieser intelligibele Charakter könnte zwar niemals unmittelbar gekannt werden, weil wir nichts wahrnehmen können, als so fern es erscheint; aber er würde doch dem empirischen Charakter gemäß

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3. Exkurs: Das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich«

gedacht werden müssen, so wie wir überhaupt einen transscendentalen Gegenstand den Erscheinungen in Gedanken zum Grunde legen müs­ sen, ob wir zwar von ihm, was er an sich selbst sei, nichts wissen. (A 540/B 568)

Nach Kants Vorstellung soll der intelligible Charakter »dem empiri­ schen Charakter gemäß« gedacht werden müssen. Dies kann auch in Bezug auf die Relation »Bedingt/Unbedingt« erklärt werden, der zufolge das aufgegebene Unbedingte als »Ding an sich« denknotwen­ dig ist. Das heißt, dass das Verhältnis zwischen den beiden Arten des Charakters auch durch das Verhältnis zwischen Vernunftideen und Erscheinungen bzw. P2 verstanden werden soll. Aber dieses Verhältnis enthält im praktischen Kontext etwas Zusätzliches, das auf das Vermögen des handelnden Subjekts bezogen ist. Dieses Zusätzliche kann auf das Denken als ein Vermögen der Spontaneität zurückgeführt werden, was im Folgenden weiter thematisiert wird. Zwei Standpunkte in der GMS. Am Anfang des dritten Abschnitts der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten spricht Kant davon, dass der Wille eine Art von Kausalität lebender Wesen sei, sofern diese Wesen vernünftig seien und Freiheit eine Eigenschaft dieser Kausa­ lität sei (vgl. AA04: 446). Durch die Naturnotwendigkeit (d. h. die Kausalität nach der Natur) werden vernunftlose Wesen vom Einfluss fremder Ursachen bestimmt (vgl. ebd.). Die Freiheit wird von Kant als eine Eigenschaft dieser Kausalität angesehen, weil sie nicht nur von fremden Ursachen unabhängig sei, sondern auch »wirkend sein kann« (ebd.). Das heißt, dass die Freiheit nicht nur eine negative Rolle als die Unabhängigkeit von den fremden Ursachen spielt, sondern auch eine positive, bei der etwas als Folge durch eine selbstbestimmende Ursache gesetzt wird. In diesem Sinn verbindet Kant die Freiheit mit der Autonomie. Die beiden beziehen sich auf »die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein« (AA04: 447). In Bezug auf die Frage, »woher das moralische Gesetz verbinde« (AA04: 450), spricht Kant von zwei Arten des Standpunktes: Ob wir, wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken, nicht einen anderen Standpunkt einnehmen, als wenn wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen, uns vorstellen. (ebd.)

Ein Standpunkt bezieht sich darauf, dass »wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken«. Der andere Standpunkt

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

bezieht sich darauf, dass »wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen [d. h. als Erscheinungen]« begreifen. Kant benutzt das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« bzw. die »Ersch./D.a.s.«-Unterschei­ dung, um diese zwei Arten des Standpunktes zu erklären. [1] Sobald dieser Unterschied [d.h. die »Ersch. /D.a.s.«-Unterschei­ dung] (allenfalls bloß durch die bemerkte Verschiedenheit zwischen den Vorstellungen, die uns anders woher gegeben werden, und dabei wir leidend sind, von denen, die wir lediglich aus uns selbst hervor­ bringen, und dabei wir unsere Thätigkeit beweisen) einmal gemacht ist, [2] so folgt von selbst, daß man hinter den Erscheinungen doch noch etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, nämlich die Dinge an sich, einräumen und annehmen müsse, ob wir gleich uns von selbst bescheiden, daß, da sie uns niemals bekannt werden können, sondern immer nur, wie sie uns afficiren, wir ihnen nicht näher treten und, was sie an sich sind, niemals wissen können. (AA04: 451, Ergänzungen durch den Verfasser)

Nach dem Ergebnis aus dem vierten Kapitel meiner Arbeit wird deutlich, dass dieses »hinter den Erscheinungen« stehende »Ding an sich« auf keinen Fall als die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« zu verstehen ist. Denn die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auszugeben, geschieht durch den transzendentalen Verstandesge­ brauch, den Kant kritisiert. Die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung wird demnach als die Unterscheidung zwischen den Gegenständen der Sinne als »Erscheinungen« und den Vernunftideen als »Dinge an sich« verstanden. Daher bezieht sich dieses »hinter den Erscheinungen« stehende »Ding an sich« auf die Vernunftideen im regulativen Sinn. Die Formulierungen »[Dinge an sich] einräumen und annehmen müsse« beziehen sich auf die Denkmöglichkeit und die Denknotwen­ digkeit des Unbedingten. Wie bereits begründet, soll eine angemes­ sene Interpretation nicht auf den ›beliebten‹ Formulierungen fundiert werden, sondern auf dem systematischen Zusammenhang zwischen dem Gebrauch der Vermögen und dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.«. Dies ist das zuverlässige Kriterium, die Bedeutung des Begriffs »Erscheinung« und die des Begriffs »Ding an sich« zu bestimmen. Nimmt man die Formulierung »hinter den Erscheinungen« bzw. die Verstandeswelt in einer verdinglichten Weise an (wie es im Rahmen der Zwei-Welten-Lesart der Fall ist), so würde eine ontologische ›Hinterwelt‹ abgebildet werden, die die kritische Begründung der Morallehre Kants als dogmatisch bestimmen würde.

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3. Exkurs: Das Subjekt als »Erscheinung« und »Ding an sich«

Im ersten Satz [1] sind die zwei Formulierungen in Bezug auf die unterschiedlichen Vorstellungen hervorzuheben: »[bei den Vorstel­ lungen sind] wir leidend« und »[bei den Vorstellungen beweisen] wir unsere Thätigkeit«. Die Vorstellung, dass »wir leidend« sind, bezieht sich offenbar auf die Sinnlichkeit, denn die Sinnlichkeit wird von Kant als die Rezeptivität verstanden. Dadurch ist das Subjekt passiv, weil wir affiziert werden müssen (vgl. B 34). Demgegenüber bezieht sich die Vorstellung von »Tätigkeit« auf die Spontaneität des Denkens, denn das Denken bringt die Vorstellungen aus sich selbst hervor. Dies entspricht meiner Erklärung des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.«, die durch die Anwendung des Denkvermögens dargestellt wird. Das heißt, dass sowohl »Erscheinung« als auch »Ding an sich« sich nicht auf das Was beziehen, sondern auf das Wie. Dieses Wie im prakti­ schen Kontext bezieht sich auf die Vernunft als eine Spontaneität des Denkens, die durch ihre Vorstellungen eine Art der Kausalität schaffen kann. Auf diese Weise spricht Kant im Verlauf des dritten Abschnitts der GMS von einer Unterscheidung der Sinnenwelt von der Verstandeswelt, die eigentlich ›Vernunftwelt‹ heißen müsse. Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich von allen andern Dingen, ja von sich selbst, so fern er durch Gegenstände afficirt wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. Diese, als reine Selbstthätigkeit, ist sogar darin noch über den Verstand erhoben […] die Vernunft unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, daß sie dadurch weit über alles, was ihr Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht und ihr vornehmstes Geschäfte darin beweiset, Sinnenwelt und Verstandeswelt von einander zu unterschei­ den. (AA04: 452)

Dieses Zitat zeigt, dass die Unterscheidung zwischen der Sinnen­ welt und der Verstandeswelt keine Unterscheidung zwischen Dingen ist. Sie thematisiert vielmehr, dass die Vernunft durch ihre »reine Selbstthätigkeit« eine intelligible Ordnung erschafft. Von der Seite der »unteren Kräfte [d. h. die Sinnlichkeit und der Verstand, welcher in der Anwendung mit der Sinnlichkeit kombiniert]« (ebd.) ist der Mensch ein Angehöriger in der Sinnenwelt. Demgegenüber ist der Mensch aufgrund der Vernunft ein Angehöriger in der Verstandeswelt. Auf diese Weise begründet Kant die zwei Standpunkte in der GMS. Die »Ordnung der Zwecke« (AA04: 450), die der »Ordnung der wirkenden Ursachen« (ebd.) von Kant gegenübergestellt wird, ist eine begriffliche Bildung. Diese Bildung erfolgt durch den prak­ tischen Gebrauch der reinen Vernunft. Sie ist keine Fiktion, weil

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

diese Ordnung auf das aufgegebene Unbedingte rekurriert, die zu erreichen laut Kant die notwendige Aufgabe der Vernunft sei. Das heißt, dass eine Ordnung der Zwecke denkmöglich ist, weil sie nicht selbstwidersprüchlich ist. Dieselbe ist denknotwendig, weil sie aus der natürlichen Tendenz der Vernunft (das Unbedingte als Aufgabe zu suchen) stammt. Die normative Funktion der ›Verstandeswelt‹ besteht in Bezug auf die Relation »Bedingt/Unbedingt« darin, dass die ›Verstandeswelt‹ das Zugrundeliegende der ›Sinnenwelt‹ ist. Es wurde bereits erwähnt, dass das Zugrundeliegende nicht auf eine metaphysische ›Hinterwelt‹ zurückgeführt werden soll, sondern auf die Vernunftideen (das Unbedingte) im regulativen Sinn zurückge­ führt werden muss. Das Verhältnis zwischen der ›Verstandeswelt‹ bzw. »eine[r] moralische[n] Welt« (A 808/B 836) und der Sinnenwelt ist auf keinen Fall als zwei ontologisch-unterschiedliche Entitäten zu verstehen. Die Ursache dafür aus der Perspektive der theoretischen Philosophie wurde schon in Bezug Bearbeitung von P3.1 und P3.2 ausgeführt: Dabei wurde festgestellt, dass der Begriff »Ding an sich« sowohl in Bezug auf die Gegenstände der Sinne als auch in Bezug auf die Vernunftideen in einer verdinglichten Weise anzunehmen problema­ tisch und nicht kantisch ist. Aus der Perspektive der praktischen Philosophie weist Esser darauf hin, dass die ›Verstandeswelt‹ als das Zugrundeliegende der Sinnenwelt als ein ›Begründungsverhältnis‹ zu verstehen ist, das »die Geltung der in der Sinnenwelt auftretenden Ansprüche nicht in deren Faktizität legt, sondern von einer gedankli­ chen, insofern also ›intelligiblen‹ Reflexion abhängig macht« (Esser 2004: 201). Diese Reflexion ist nach meinem Verständnis die Aktion des praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft, der auch den morali­ schen Bestimmungsgrund des Willens angibt. Dieser Gebrauch ver­ langt eine alleinige Anwendung des Denkens im praktischen Kontext, aus dem allein ein Soll-Anspruch expliziert werden kann. Begriffe (wie das Subjekt als »Ding an sich«, Verstandeswelt, Autonomie, Verstandeswesen usw.), die mit diesem Soll-Anspruch verbunden sind, sollen auch durch die alleinige Anwendung des Denkens im praktischen Kontext begriffen werden.

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4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen

4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen und Beantwortung zweier Schwerpunkte aus dem ersten Kapitel 4.1 Auseinandersetzung mit den Rezeptionen Die Kerninformation meiner Antwort zur P3.1 ist, dass »Ding an sich« und »Erscheinung« in der Erkenntnistheorie in einer kontradiktori­ schen Beziehung stehen. Der Begriff »Ding an sich« repräsentiert laut Kant eine problematische Theoriebildung bezüglich der Gegenstände der Sinne. Dies geschieht durch den transzendentalen Verstandesge­ brauch. Dagegen repräsentiert der Begriff »Erscheinung« eine richtige Theoriebildung bezüglich der Gegenstände der Sinne. Dies geschieht durch den empirischen Verstandesgebrauch. Daher ist davon auszu­ gehen, dass alle Rezeptionen, die diesem Punkt nicht zustimmen, das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« auf der Stufe der Erkenntnistheo­ rie falsch verstehen. Im Folgenden werde ich die exemplarischen Positionen der Kantrezeption, die ich im ersten Kapitel thematisiert habe, gemäß der in der vorliegenden Arbeit entwickelten Interpreta­ tion bewerten. Das Affektionsproblem. Der von Jacobi formulierte Einwand gegen Kant lautet, dass die Erscheinung bei Kant eine äußere Ursa­ che benötige. Diese Ursache kann nicht nur vorgestellt, sondern müsse etwas Existierendes sein, das unabhängig von uns sein soll. Das »Ding an sich« sei dann das Affizierende, durch das wir die Erscheinung bekommen. Laut Kant darf die Kausalität aber nicht auf etwas außerhalb der Erscheinung angewendet werden. Dieser Einwand von Jacobi scheint für Vaihinger überzeugend zu sein. Er formuliert drei Möglichkeiten, die das Affektionsproblem bei Kant zu erklären versuchen. Aber die drei Möglichkeiten seien laut Vaihinger alle problematisch (vgl. erster Abschnitt im ersten Kapitel). Nach meiner Lesart fragt man beim Affektionsproblem eigent­ lich nach der Existenzart der Gegenstände der Sinne. Deren Vertreter sind unzufrieden mit Kants transzendentalem Idealismus. Ihre Posi­ tionen sind der Strömung des transzendentalen Realismus zuzuord­ nen, den Kant kritisiert und ablehnt. Sie vertreten die Behauptung, dass die Gegenstände der Sinne von der Sinnlichkeit unabhängig existieren (bzw. dass die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn existieren) (vgl. Unterabschnitt 2.3.2 des vierten Kapitels). Das Affizierende solle dann dieses Etwas sein. Dies wird von der

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

Lesart, der zufolge das »Ding an sich« das Affizierende sei, auf Kants Begriff »transzendentaler Gegenstand« oder »transzendentales Objekt« bezogen und danach mit dem Begriff »Ding an sich« gleich­ gesetzt. Gewiss hat Kant an manchen Stellen erwähnt, dass Erscheinun­ gen ihren Gegenstand haben, der von uns nicht mehr angeschaut werden kann. Daher mag dieser nicht empirische Gegenstand dann transzendentaler Gegenstand genannt werden. Dieser wäre für uns unbekannt (vgl. A 109; A 372; B 522). Aber diese Unbekanntheit darf nicht verdinglicht gelesen werden. Das heißt, dass der trans­ zendentale Gegenstand uns insofern unbekannt ist, nicht weil er tatsächlich unabhängig von uns existiere, sondern weil er durch eine bloße begriffliche Bildung als ein An-sich-Seiendes gedacht wird. Diese Bildung liefert uns laut Kant keine Erkenntnis, deshalb ist uns der transzendentale Gegenstand unbekannt. Und zwar ist diese Bildung selbst problematisch, weil sie sich auf die alleinige Anwendung der Verstandesbegriffe, d. h. den transzendentalen Ver­ standesgebrauch, bezieht. In Unterabschnitt 2.3.2 des vierten Kapitels habe ich erläutert, dass der transzendentale Realismus behauptet, dass es Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn gebe. Kant behauptet aber nur, dass Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn gegeben wer­ den mögen, dass man diese aber nicht als eine Erkenntnis behaupten könne, sondern nur als eine problematische Annahme. Das heißt, dass der transzendentale Realismus einen Erkenntnisanspruch auf ein Subjektunabhängiges erhebt, während Kant dies nicht tut, denn dieser Erkenntnisanspruch ist für ihn ein unzulässiger (nämlich der transzendentale) Verstandesgebrauch. Die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn, d. h. als etwas Subjektunabhängiges zu nehmen, ist eine Tätigkeit dieses Verstandesgebrauchs, der laut Kant nur vermeintliche Behauptungen entspringen können. Was ist die Konsequenz dieser Aktivität? In der Auseinander­ setzung mit der kosmologischen Antinomie spricht Kant vom trans­ zendentalen Realismus, der diese »Erscheinung« zum »Ding an sich« mache (vgl. A 491/B 519). Die Konsequenz dessen ist, dass damit die kosmologische Antinomie verursacht werden. Denn nimmt man die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« und nicht als »Erschei­ nungen«, würde man das dialektische Argument in der rationalen Kosmologie für wahr halten.

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4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die These, das »Ding an sich« sei das Affizierende (das von uns unabhängig existiere), als eine Interpretation des Begriffs »Ding an sich« (in Bezug auf die Gegenstände der Sinne) bei Kant unhaltbar ist. Denn dieser Begriff »Ding an sich« wird von Kant mit dem transzendentalen Verstandes­ gebrauch als seine Gegenposition bestimmt, während der Begriff »Ding an sich« bei den hier vorgestellten Denkern als eine kantische Position ausgegeben wird. Auch die erkenntnistheoretische Position (die nicht unbedingt eine Kantinterpretation darstellt), die behauptet, die Gegenstände der Sinne existieren im transzendentalen Sinn, wird von Kant mit dem transzendentalen Verstandesgebrauch und damit als eine problematische Anwendung der Verstandesbegriffe identifi­ ziert. Die obige Argumentation löst ein Missverständnis in der Rezep­ tionsgeschichte über das »Ding an sich« als das Affizierende, indem der Begriff »Ding an sich« in Bezug auf die Gegenstände der Sinne als ein polemischer Begriff gedeutet wird. Die Frage nach dem Affi­ zierende bzw. der Gegebenheit bleibt.215 Wie ist dies zu verstehen, wenn die obige Interpretation in der vorliegenden Arbeit als falsch ausgewiesen wurde? Im Folgenden möchte ich zwei Punkte im Zusammenhang mit dem Affektionsproblem diskutieren. Dadurch soll gezeigt werden, dass das Affektionsproblem entlang der Linie der Metaphysikkritik (nicht der Erkenntnistheorie) zu verstehen ist. Der erste Punkt lautet, dass die Gegebenheit der Gegenstände der Sinne nur im empirischen und nicht im transzendentalen Sinn verstanden werden soll. Der zweite Punkt lautet, dass das »Ding an sich« als das Affizierende bei Kant im metaphysikkritischen Zusammenhang (nicht im erkenntnistheoretischen) zu verstehen ist. Das heißt, dass der Begriff »Ding an sich« als das Affizierende sich auf das Unbedingte (Vernunftideen) im regulativen Sinn bezieht. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, gilt es, sich zwei Thesen, die in der vorliegenden Arbeit bereits thematisiert wurden, erneut bewusst zu machen: Erstens, mit dem Begriff »Ding an sich« im kantischen Sinn ist die Vernunftideen im regulativen Sinn gemeint (vgl. Abschnitt. 3 im fünften Kapitel). Zweitens, »Ding an sich« ist in diesem Fall das Zugrundeliegende So spricht Kant am Anfang der transzendentalen Ästhetik: »Diese [die Anschau­ ung] findet aber nur statt, so fern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum nur dadurch möglich, daß er das Gemüth auf gewisse Weise afficire« (A 19). Im B-Ausgabe wird »uns Menschen wenigstens« (B 33) nach dem Wort »wiederum« hinzugefügt. 215

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

(oder der Grund) der Erscheinung (vgl. Abschnitt 2 im siebten Kapi­ tel). Zum ersten Punkt: Die Gegebenheit der Gegenstände der Sinne darf bei Kant nur im empirischen und nicht im transzendentalen Sinn verstanden werden. Dies kann anhand der oben dargelegten Auseinandersetzung der Existenzart-These beim transzendentalen Verstandesgebrauch erklärt werden (vgl. Abschnitt 2 im vierten Kapitel). »Ding an sich« als das Affizierende wird in der Rezepti­ onsgeschichte häufig als die Gegenstände der Sinne, die von uns unabhängig existieren, betrachtet. Aber diese Unabhängigkeit sei laut Kant eigentlich ein Gedanke, der nur logisch möglich ist. Wenn man diese logische Möglichkeit des Gedankens fälschlicherweise für die Realität der Dinge hält, so würde man behaupten, dass die Gegenstände der Sinne von uns unabhängig existieren. Das ist aber die Position des transzendentalen Verstandesgebrauchs. Dieser wurde aber von Kant kritisiert. Die Gegebenheit der Gegenstände der Sinne bezieht sich demgegenüber immer auf die Realität, die ein Von-unsabhängig-Existierendes darstellt. Bei der Gegebenheit geht es immer darum, dass etwas im Raum und in der Zeit gegeben ist, nicht nur in Gedanken. Daher ist das Affizieren immer im empirischen Sinn zu verste­ hen, nicht im transzendentalen.216 Das heißt, dass das Affizierende als die Gegenstände der Sinne im empirisch realistischen Sinn (in Bezug auf die empirische Realität des Raums und der Zeit) verstanden werden muss. Das Wort »affizieren« drückt bei Kant nicht einen kognitiven Prozess aus, sondern die Funktion der Sinnlichkeit bzw. die Rezeptivität der Sinnlichkeit (vgl. A 19/B 33). Zum zweiten Punkt: Die Gegenstände der Sinne im empirisch realistischen Sinn, die das Affizierende sind, beziehen sich aus der metaphysikkritischen Perspektive immer auf das Zusammengesetzte bzw. das Bedingte. Die natürliche Tendenz der reinen Vernunft, welche Kant für wahr hält, ist es, für ein gegebenes Bedingtes das Unbedingte zu suchen. Daraus bildet sich eine Relation »Beding­ tes/Unbedingtes« auf (vgl. zweites Kapitel dieser Arbeit). Das Einfa­ che (als der einfache Teil in der Materie) ist in diesem Zusammen­ 216 Laut Vaihinger seien Gegenstände im Raum nicht dasjenige, was uns affiziere, weil dadurch ein Widerspruch entstehe, dass die Gegenstände im Raum (die schon unsere Vorstellungen bzw. Erscheinungen seien) uns affizieren würden. Der Grund der Vorstellung müsse nicht die Vorstellung selbst sein (vgl. Vaihinger 1892: 53). So positioniert sich Vaihinger eigentlich zum transzendentalen Realismus.

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4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen

hang das gesuchte Unbedingte. Das Verhältnis des Zusammengesetze zum Einfachen spiegelt die Relation »Bedingtes/Unbedingtes« wider, denn das »Ding an sich« als regulative Vernunftidee ist das Zugrun­ deliegende (oder der Grund) der Erscheinung (Antwort auf P2; vgl. Abschnitt 2 im siebenten Kapitel). So ist das aufgegebene Einfache das Zugrundeliegende des Zusammengesetzten. Auf diese Weise spricht Kant davon, dass »Dinge an sich« uns als Vernunftideen affizieren: [1] Nachdem er [Eberhard] S. 275 gefragt hat: »Wer (was) giebt der Sinnlichkeit ihren Stoff, nämlich die Empfindungen?« so glaubt er wider die Kritik abgesprochen zu haben, indem er S. 276 sagt: »Wir mögen wählen, welches wir wollen – so kommen wir auf Dinge an sich.« [2] Nun ist ja das eben die beständige Behauptung der Kritik [Kritik der reinen Vernunft]; [3] nur daß sie diesen Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellungen nicht selbst wiederum in Dingen, als Gegen­ ständen der Sinne, sondern in etwas Übersinnlichem setzt, was jenen zum Grunde liegt und wovon wir kein Erkenntniß haben können. [4] Sie sagt: die Gegenstände als Dinge an sich geben den Stoff zu empi­ rischen Anschauungen (sie enthalten den Grund, das Vorstellungsver­ mögen seiner Sinnlichkeit gemäß zu bestimmen), aber sie sind nicht der Stoff derselben. (AA08: 215; Ergänzungen durch den Verfasser)

Im ersten Satz [1] spricht Eberhard davon, dass »Dinge an sich« der Sinnlichkeit ihren Stoff, d. h. Empfindungen, geben. Man sieht, dass diese Widerlegung der von Jacobi ähnlich ist (vgl. Abschnitt 1 des ersten Kapitels). Das heißt, dass »Dinge an sich« laut Eberhard die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn sind und dadurch »Dinge an sich« als etwas von uns Unabhängiges verstanden werden. Dazu gibt Kant im zweiten Satz [2] eine überraschende Antwort, wonach dies (die Behauptung »Dinge an sich« geben der Sinnlichkeit ihren Stoff) »die beständige Behauptung der Kritik« sei. Es scheint hier so zu sein, dass Kant die Behauptung von Eberhard völlig bestätigt. Im Verlauf dieses Zitats wird aber deutlich, dass sich der Begriff »Dinge an sich« von Kant auf das Übersinnliche bezieht, während derselbe bei Eberhard auf das Sinnliche im transzendentalen Sinn anspielt. Dies stimmt mit meinen Thesen in Bezug auf P3.1, P3.2 und P2 überein: Kant kritisiert, die Gegenstände der Sinne (durch den transzendentalen Verstandesgebrauch) als »Dinge an sich« auszugeben. Hier wird der Begriff »Ding an sich« im polemischen Sinn verwendet (vgl. Abschnitt 2 des vierten Kapitels). Demgegen­ über behauptet Kant, dass die Vernunftideen (bzw. das Übersinnli­ che) (durch den regulativen Vernunftgebrauch) als »Dinge an sich«

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

bestimmt werden sollen. Dies ist der Begriff »Ding an sich« im kan­ tischen Sinn (vgl. Abschnitt 2 des fünften Kapitels). Kants Aussage, dass »Dinge an sich« der Sinnlichkeit ihren Stoff geben, bezieht sich auf den Begriff »Ding an sich« im kantischen Sinn. Dagegen versteht Eberhard den Begriff »Ding an sich« im polemischen Sinn, wenn er davon spricht, dass »Dinge an sich« der Sinnlichkeit ihren Stoff geben. Dies wird durch Sätze [3] und [4] bestätigt. Im dritten Satz [3] spricht Kant von dem »Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellung«. Dieser Grund sei laut Kant nicht in den Gegenständen der Sinne zu ›finden‹, sondern im Übersinnlichen. Das heißt, dass das Übersinnliche der »Grund des Stoffes sinnlicher Vor­ stellung« ist. Von diesem Übersinnlichen haben wir keine Erkenntnis. Auch im vierten Satz [4] betont Kant, dass »die Gegenstände als Dinge an sich« den Stoff geben. Sie seien aber nicht der Stoff sinnlicher Vorstellung. Diese Erklärung von Kant ist merkwürdig, wenn man ihn aus der bloß erkenntnistheoretischen Perspektive betrachtet. Sein Sinn tritt jedoch zutage, wenn man ihn aus der metaphysikkritischen Perspektive und zwar mit der Relation »Bedingtes/Unbedingtes« zu begreifen versucht: Das Unbedingte ist dasjenige, was die reine Vernunft für ein gegebenes Bedingtes immer sucht. Der Begriff »Ding an sich« im kantischen Sinn bezieht sich auf das aufgegebene Unbe­ dingte. Der Begriff »Erscheinung« im kantischen Sinn bezieht sich auf das gegebene Bedingte. Im regulativen Sinn ist »Ding an sich« das Zugrundeliegende (bzw. der Grund) der »Erscheinung« (als Antwort auf P2; vgl. Abschnitt 2 des siebten Kapitels). In den Sätzen [3] und [4] skizziert Kant diese These im allgemei­ nen Sinn. Ein konkreter Fall der Relation »Bedingtes/Unbedingtes« wird in Bezug auf die Gegenstände der Sinne als Erscheinungen (bzw. als das Bedingte) in Abschnitt 2.3 des siebten Kapitels thema­ tisiert, dass das aufgegebene Einfache das Zugrundeliegende (bzw. der Grund) des Zusammengesetzten ist. Das aufgegebene Einfache ist dasjenige, was die reine Vernunft als das Bedingte immer sucht. Das Zusammengesetze ist dasjenige, was durch die Sinnlichkeit wahrge­ nommen wird. Das Zusammengesetze ist der Stoff. Das aufgegebene Einfache wird von der reinen Vernunft als das Zugrundeliegende dieses Stoffes vorausgesetzt. Das »Affizieren« ist eher eine Funkti­ onsbeschreibung der Sinnlichkeit, der zufolge die Sinnlichkeit bloß passiv ist. »Ding an sich« als Grenzbegriff. Die Verbindung zwischen dem Begriff »Ding an sich« und den Vernunftideen von Cohen führt

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4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen

m. E. auf den richtigen Weg zum Verständnis des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.«.217 Die Interpretation von Cohen weist aber zwei Probleme auf. Das erste Problem ist, dass seine Interpretation den Begriff »Ding an sich« im polemischen Sinn nicht thematisiert. Daher ist seine Interpretation nicht vollständig. Das zweite Problem ist, dass »Ding an sich« als Grenzbegriff bei Cohen im systematischen Sinn zu verstehen ist. Laut der vorliegenden Interpretation ist dieser Grenzbegriff von Kant aber im polemischen Sinn gemeint. Erstes Problem: Cohens Deutung zeigt nur eine Beziehung zwischen dem Begriff »Ding an sich« und den Vernunftideen. Dies hat mit der systematischen Aufgabe des Begriffs »Ding an sich« zu tun, die ich im fünften Kapitel thematisiert habe. Er ignoriert aber den Begriff »Ding an sich« im polemischen Sinn, daher ist seine Deutung außerstande zu erklären, was der Begriff »Ding an sich« in der kantischen Erkenntnistheorie bedeutet und in welcher Relation das Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« in derselben steht. Dieses Ignorieren hat mit dem Neukantianismus zu tun. Das heißt, dass der Neukantianismus bzw. Cohen die Intention hat, die kantische Philosophie in eine philosophische Rechtfertigung der Naturwissen­ schaften umzudeuten. Die Anwesenheit des Begriffs »Ding an sich« in der Erkenntnistheorie scheint in diesem Zusammenhang eher ein Rest der Metaphysik zu sein. Daher wird auch die Bedeutung des Begriffs »Ding an sich« in der Erkenntnistheorie ignoriert. Dies macht die Interpretation Cohens aber unvollständig. Dementgegen werden sowohl der Begriff »Ding an sich« in der Erkenntnistheorie und derselbe in der Ideenlehre aus der metaphysikkritischen Perspektive in der vorliegenden Arbeit thematisiert und konsistent interpretiert (vgl. viertes und fünftes Kapitel). Zweites Problem: Die Deutung des Begriffs »Ding an sich« als Grenzbegriff von Cohen ist auch problematisch, weil er die Funktion des Grenzbegriffs nicht vom kritischen Sinn her, sondern vom syste­ matischen Sinn her (und nur in Bezug auf die Erkenntnistheorie) deu­ tet: Das »Ding an sich« wird als das Ganze der Erfahrung verstanden (vgl. Cohen 1885: 503). Meine Erörterungen in Unterabschnitt 4.2 des vierten Kapitels zeigen aber umgekehrt, dass der Grenzbegriff nicht als Inbegriff der Erfahrung zu verstehen ist, sondern dass es 217 Das Verhältnis zwischen dem Begriff »Ding an sich« und den Vernunftideen (aus der metaphysikkritischen Perspektive) wird im zweiten Abschnitt des fünften Kapitels behandelt.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

bei der dortigen Argumentation nur darum geht, dass Kant den Empi­ rismus in Bezug auf die transzendentalen Ideen widerlegen möchte. Die transzendentalen Ideen dürfen nicht versinnlicht werden, denn dann wären alle praktischen Anwendungen derselben unmöglich. Der Begriff »Ding an sich« oder »Noumenon« hat unterschiedliche »Aufgaben« in der kantischen Philosophie. Nach meiner Lesart hat der Begriff zwei Aufgaben, wovon eine polemisch und die andere systematisch (bzw. kantisch) ist. Bei der systematischen Aufgabe des Begriffs »Ding an sich« geht es um die Vernunftideen. Dies wird von der Deutung Cohens weder erfasst noch geklärt. Die »Zwei-Welten«-Interpretation wird hier als eine reprä­ sentative Rezeption kritisch bewertet, weil diese Interpretation besonders auf das Problem des Zugrundeliegenden (P2) bezogen ist, mit dem ich mich in Abschnitt 2 dieses Kapitels beschäftigt habe. Denn die Zwei-Welten-Lesart versucht die kantische Philosophie als eine Begründung einer neuen Metaphysik zu interpretieren. Daher ist der Begriff »Ding an sich« für diese Interpretation wichtig. Beson­ ders sind jene Stellen von besonderer Bedeutung, in denen Kant davon spricht, dass das »Ding an sich« das Zugrundeliegende der Erscheinung sei. Demnach objektiviert meiner Auffassung nach die Zwei-Welten-Lesart das »Ding an sich«. Dazu schreibt Martin (ein Vertreter der Zwei-Welten-Lesart): Die objektive Realität der Dinge an sich bedeutet zunächst die Unab­ hängigkeit von unserer Sinnlichkeit. Die Dinge an sich sind real, weil sie von dem faktischen Erfaßtwerden durch unsere Sinnlichkeit, also auch von der allgemeinen Form unserer Sinnlichkeit unabhängig sind. (…) Als zweites Moment der objektiven Realität der Dinge an sich darf man es wohl betrachten, daß sie unsere Sinne affizieren. (…) Als drittes Moment darf man die Ordnungsfähigkeit der Dinge an sich bezeich­ nen. (…) Noch mehr an den Grenzen der ontologischen Möglichkeiten, vielleicht schon über diese Grenzen hinaus liegt schließlich ein viertes Moment: Die Dinge an sich sind Werke Gottes. (Martin 1969: 216 f)

»Dinge an sich« werden hier als etwas Objektiv-Realistisches ange­ nommen, weil sie unabhängig von unserer Sinnlichkeit seien. Dadurch geht Martin weiter, dass die Dinge an sich Werke Gottes seien. Kant wird bei Martin wiederum als ein Dogmatiker gelesen, weil man den Begriff des »Dinges an sich« objektiv realistisch inter­ pretiert. Das korrespondiert mit dem Verfahren des Dogmatismus, bei dem man einfach von der logischen Möglichkeit des Begriffs auf

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4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen

die reale Möglichkeit des Dings schließt. Das bewertet Kant aber als Blendwerk (vgl. A 244/B 302). In der Zwei-Welten-Lesart wird das »Ding an sich« im theore­ tischen Sinne objektiviert, wohingegen es für Kant nur ein Gedan­ kending ist. Dadurch wird die Menge der Objekte überflüssig verdop­ pelt, während Kant durch seine kritische Philosophie eigentlich die Objektivierung der übersinnlichen ›Dinge‹ abschaffen möchte. Auch im Zusammenhang mit der praktischen Philosophie218 sowie der Beziehung zwischen Natur und Freiheit stößt diese Interpretation auf Probleme, wenn sie manchen Formulierungen von Kant buchstäblich folgt und diese damit objektiviert (z. B. »Reich der Zwecke« (AA4: 438), »die moralische Welt« (A 808/B 836) usw.). Solche Formulie­ rungen drücken ausschließlich Kants idealisierte Konstruktion aus, die in Bezug auf die Sinnenwelt realisiert werden soll. Es bedeutet aber nicht, dass Kant die objektive Realität der moralischen Welt als eine zweite Welt im ontologischen Sinne anerkennt. Es ist nach Kant klar, dass das moralische Gesetz grundverschieden von den Naturgesetzen ist. Daraus kann man jedoch nicht einfach schließen, dass es zwei Welten gibt, damit die beiden Gesetze unabhängig voneinander wirken können. Dieser Unterschied beruht vielmehr auf der Ungleich­ artigkeit zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten. Diese Ungleichartigkeit beruht aber genauso wenig auf einer ontologischen Annahme, sondern darauf, dass die Bestimmungsweise des Bedingten von der Bestimmungsweise des Unbedingten verschieden ist. Die Bestimmungsweisen müssen auf den Gebrauch der Denkvermögen (Verstand und Vernunft) zurückgeführt werden. Das heißt, dass Kants Begründung der Naturgesetze durch den empirischen Verstandesge­ brauch geschieht und seine Begründung des moralischen Gesetzes durch den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft. Die moralische Welt ist »eine bloße, aber doch praktische Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen« (A 808/B 836). Die Zwei-Welten-Lesart bezüglich der praktischen Philosophie verfügt über das gleiche Problem wie der Mystizismus. Letzterer macht laut Kant die Sinnenwelt als ein bloßes Symbol der Verstandeswelt aus Gerhardt & Kaulbach sprechen davon, dass einer der immer wieder geäußerten Einwände gegen die kritische Moralphilosophie sei, dass man Kants Handlungsana­ lyse auf einer wissenschaftlich nicht begründbaren Zwei-Welten-Lehre einsetze, sodass die moralische und empirische Handlung gar nicht zur Deckung kommen (vgl. Gerhardt & Kaulbach 1989: 74). 218

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

(vgl. AA07: 191) Dies nennt Kant ›Schwärmerei‹ und dies sei auch schädlich für den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft. Die Zwei-Welten-Lesart kann weder die theoretische Philoso­ phie noch die praktische Philosophie Kants rekonstruieren, ohne zu Spannungen und interpretatorische Schwierigkeiten zu führen. Diese Interpretation reproduziert vielmehr genau diejenigen Positionen, die Kant durch seine Kritik ablehnt: die objektive Realität des »Dinges an sich« (als die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn, also »Ding an sich« im polemischen Sinn) bzw. der übersinnlichen ›Dinge‹ (als die Vernunftideen im konstitutiven Sinn). Die Ursache dafür liegt darin, dass diese Interpretation von »Ding an sich«, den Begriff wie er in Bezug auf das Bedingte gebraucht wird, mit dem Begriff, wie er in Bezug auf das Unbedingte verwendet wird, verwechselt. Das »Ding an sich« beim Bedingten bezieht sich auf das »Ding an sich« im polemischen Sinn: die Gegenstände der Sinne sollen nach Kant nicht als »Dinge an sich« durch den transzendentalen Verstandesgebrauch ausgegeben werden. Demgegenüber bezieht sich das »Ding an sich« beim Unbedingten auf den Begriff »Ding an sich« im kantischen Sinn: Die Vernunftideen sollen nach Kant als »Dinge an sich« durch den regulativen Vernunftgebrauch bestimmt werden. Es scheint hier so zu sein, dass dem Begriff »Ding an sich« unterschiedliche Bedeutungen in Bezug auf unterschiedliche Themenbereiche gegeben werden. Ich werde in der Abschlussbetrachtung der vorliegenden Arbeit zeigen, dass der Begriff »Ding an sich« bei Kant immer in derselben Bedeu­ tung verwendet wird. Zwei-Perspektiven-Lesart. Die Zwei-Perspektiven-Lesart lehnt die doppelten Entitäten von der Zwei-Welten-Lesart ab und versucht das Verhältnis zwischen »Ding an sich« und »Erscheinung« so zu erklären, dass das Erste eine philosophische Reflexion des Zweiten ist. Dieses Modell ist selbstwidersprüchlich. Das liegt daran, dass das »Ding an sich« für Kant durch Sinnlichkeit nicht zugänglich ist, die Erscheinung hingegen nur durch Sinnlichkeit zugänglich ist. Wie kann es sein, dass ein Objekt gleichzeitig zugänglich und unzugänglich ist; oder wie ist es möglich, dieses erkannte Objekt wieder als etwas Unerkennbares zu begreifen?219 Neben dieser Selbstwidersprüchlichkeit in der Zwei-Perspekti­ ven-Lesart kann diese Lesart durch die Ebene der Antinomie auch als 219 Klemme ist der Auffassung, dass die Zwei-Perspektiven-Lesart von Prauss und Allison sich als falsch erweisen müsse, weil »wir keinerlei Möglichkeit haben, epistemisch sinnvoll von einem Gegenstand zu sprechen, dem diese Eigenschaften

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4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen

falsch gekennzeichnet werden. Denn die Zwei-Perspektiven-Lesart versucht den Begriff »Ding an sich« in Bezug auf die Gegenstände der Sinne als einen Begriff, der eine systematische Rolle in der Erkennt­ nistheorie Kants innehat, zu interpretieren. Das »Ding an sich« sei laut dieser Interpretation nur eine philosophische Reflexion der Erscheinung. »Ding an sich« und »Erscheinung« beziehen sich auf ein und denselben Gegenstand. Aber auf der Ebene der Antinomie wird bereits verdeutlicht, dass die Antinomie nur aufgelöst werden kann, wenn man die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« annimmt. Die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« anzunehmen, wird von Kant kritisiert und abgelehnt. Fasst man die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« auf, würde es zur Antinomie kommen. Damit würde die kritische Philosophie Kants (sowohl die theoretische als auch die praktische) abgeschafft werden. Denn ohne die Auflösung der Antinomie würde der transzendentale Idealismus sinnlos, dessen Hauptthese es ist, die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen« anzunehmen. Ohne die Auflösung der Antinomie gibt es auch keinen Platz für die Denkmöglichkeit der Freiheit, die die Voraussetzung der praktischen Philosophie bildet und durch die Auflösung der dritten Antinomie (Naturnotwendigkeit/Freiheit) gesichert wird. Daher ist jede Interpretation, in der die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« angenommen werden, also im systematischen Sinne nicht im polemischen Sinne verstanden werden, eigentlich anti-kantisch. Die Lesart der zwei verschiedenen Arten von Eigenschaf­ ten. Rosefeldts Lesart behauptet dasselbe wie die Zwei-PerspektivenLesart. Rosefeldt differenziert jedoch zwischen zwei ontologischen Arten von Eigenschaften: subjektabhängig und subjektunabhängig. Mit Kants These, dass das »Ding an sich« für uns unbekannt sei, begründet Rosefeldt die These, dass subjektunabhängige Eigenschaf­ ten eines Gegenstandes als »Dinge an sich« uns unbekannt seien. Dagegen seien die subjektabhängigen Eigenschaften dieses Gegen­ standes (als »Erscheinungen«) uns bekannt. Schließlich sei der unbe­ kannte Teil dieses Gegenstandes der Grund für den bekannten Teil und sogar für das Ganze des Gegenstandes (vgl. Abschnitt 5 des ersten Kapitels). Wenn man diese Lesart bloß im Rahmen der Erkenntnistheorie betrachtet, hat sie den gleichen Selbstwiderspruch wie die Zwei-Per­ zugleich zukommen und nicht zukommen« (Klemme. 1996: 265). Diese Kritik ist m. E. zutreffend.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

spektiven-Lesart, nämlich dass sie einen Gegenstand der Sinne als teils bekannt und teils unbekannt ausmacht. Abgesehen davon, dass diese Lesart an sich problematisch ist, muss sie auch auf Ebene der Antinomie als falsch bezeichnet werden. Denn diese Interpretation versucht eine ›harmonisierende‹ Erklärung zu geben, der zufolge »Erscheinung« und »Ding an sich« bei einem und demselben Gegenstand der Sinne vorhanden seien. Dies führt in der Antinomie zu einem unlösbaren Zustand, wie bereits bei der Zwei-Perspektiven-Lesart gezeigt wurde. Die Lesart der ›empirischen Unterscheidung‹. Diese Lesart von Gabriel versteht die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung im empiri­ schen Sinn, den Kant deutlich ablehnt. Im empirischen Sinn wird die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung so verstanden, dass die Erscheinun­ gen eines Dinges, die wesentlich sind und für jeden menschlichen Sinn überhaupt gelten, von demjenigen, was nur in zufälliger Weise besteht und für eine besondere Stellung oder Organisation der Sinne gültig ist, unterschieden werden (vgl. A 45/B 62). Die Interpretation von Gabriel muss auf der Ebene der Antino­ mie als falsch bezeichnet werden, wie es bereits bei der Zwei-Perspek­ tiven-Lesart und bei der Interpretation Rosefeldts gezeigt wurde. Aber Kants »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung wird in dieser Rezeption zumeist im empirischen Sinne verstanden. Daher lohnt es sich, diese Interpretation zu berücksichtigen. Kant hat selbst auch seine Kritik dazu in der KrV ausgeführt. Um dies von der »Ersch./D.a.s.«-Unter­ scheidung im empirischen Sinne zu unterscheiden, bezeichnet Kant seine »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung als »unser[en] transzenden­ tale[n] Unterschied« (ebd.). Ich werde daher im Folgenden zwei Beispiele von Kant heranzie­ hen, um die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung im empirischen Sinne zu widerlegen. Ein Beispiel ist das Rose-Beispiel (vgl. A 29f/B 45) und das andere ist das Regenbogen-Beispiel (vgl. A 45/B 63). Beim Rose-Beispiel sagt Kant, dass »eine Rose, im empirischen Verstande für ein Ding an sich selbst [gehalten wird], welches doch jedem Auge in Ansehung der Farbe anders erscheinen kann« (A 29f/B 45). Diese Rose erinnert an das Vesuv-Beispiel bei Gabriel, der als Vesuv an sich verstanden wird (vgl. Abschnitt 6 des ersten Kapitels) und dessen Erscheinungen (im empirischen Sinne) als für jedes Auge anders beschrieben wird. Dagegen ist Kants Unterscheidung zwischen »Ding an sich« und »Erscheinung« transzendental. Das bedeutet, dass die subjektiven sinnlichen Bedingungen (Raum und Zeit) den Bereich

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4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen

der Gegenstände der Sinne bestimmen. Daher sei die Erscheinung unabhängig von den unterschiedlichen individuellen Bedingungen des Subjekts. Im Regenbogen-Beispiel (vgl. A 45/B 63) kritisiert Kant die Position, in der man die Erscheinungen eines Dinges, die wesent­ lich sind und für jeden menschlichen Sinn überhaupt gelten, von demjenigen unterscheidet, was nur in zufälliger Weise besteht und für eine besondere Stellung oder Organisation der Sinne gültig ist. Die »Ersch./D.a.s.«-Unterscheidung im empirischen Sinne ver­ steht unter »Erscheinung« auch einen perspektivischen Eindruck des Subjekts. Dagegen ist »Ding an sich« aperspektivisch und sogar objektiv. Dies wird durch Kants diskutierte Beispiele widergelegt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Begriff »Ding an sich« in den oben analysierten Interpretationen immer auf unterschiedliche Weise als ein systematischer Begriff bei Kant gefasst wird, wenn er sich auf die Gegenstände der Sinne bezieht. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass der Begriff »Ding an sich« (in Bezug auf die Gegenstände der Sinne) bei Kant immer im polemischen Sinne genommen wird. Denn der transzendentale Verstandesgebrauch ist dadurch charakteri­ siert, Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« anzunehmen, was Kant kritisiert und ablehnt. Die herkömmlichen Interpretationen können Belege in der Erkenntnistheorie Kants finden, um ihre Behauptungen zu unterstüt­ zen: Manchmal sind Kants Formulierungen für eine Zwei-Perspekti­ ven-Lesart vorteilhaft, manchmal für eine Zwei-Welten-Lesart. Es scheint auch so zu sein, dass ihre Behauptungen auf der Ebene der Erkenntnistheorie unproblematisch sind. Aber wenn man Kants Philosophie nicht nur als eine Erkenntnistheorie, sondern als eine Metaphysikkritik betrachtet und die Antinomie sorgfältig analysiert, muss eine Interpretation, in der die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« im systematischen Sinne angenommen werden, als grundlos und falsch bezeichnet werden, denn diese Annahme verursacht die kosmologische Antinomie. Ohne die Auflösung der Antinomie würde Kants theoretische Philosophie sinnlos und seine praktische Philo­ sophie unmöglich werden. Daher ist es in der vorliegenden Arbeit wichtig, den systematischen Zusammenhang zwischen der Erkennt­ nistheorie, der Ideenlehre und der praktischen Philosophie Kants aus unterschiedlichen Perspektiven (Relation »Bedingtes/Unbedingtes« und Gebrauch der Denkvermögen) hervorzuheben. Dadurch wird das

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« (bzw. die Antwort auf P1, P2 und P3) hinsichtlich des systematischen Zusammenhangs erhellt. Ein weiteres gängiges Missverständnis über den Begriff »Ding an sich« in den Rezeptionen ist, dass Kant mit der Formulierung »an sich« eine Unabhängigkeit vom Subjekt bezeichnet. Dies impli­ ziert eine Vorstellung von »An-sich-Sein«, das den Begriff »Ding an sich« verdinglicht. Dagegen wird in der vorliegenden Arbeit eine Deutung gegeben, nach der Kant mit der Formulierung »an sich« eine Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit bezeichnet. Was Kant mit dem Begriff »Ding an sich« bezeichnet, ist immer abhängig vom Denken (bzw. vom Begriff). Dadurch ist der Begriff »Ding an sich« immer mit der logischen Möglichkeit des Denkens verbunden. Mit dieser Verbindung impliziert Kant den Gedanken, dass die logische Möglichkeit des Denkens nicht mit der realen Möglichkeit des Dinges (bzw. des Erkennens) identisch sein soll. Laut Kant verlangt das Erkennen immer zwei Arten der Vermögen (Begriff und Sinnlichkeit), das Denken aber nur den Begriff. Dies ist aber ein wichtiger Punkt in der Metaphysikkritik von Kant.

4.2 Beantwortung zweier Schwerpunkte Am Ende des ersten Kapitels werden vier thematische Schwerpunkte in den Rezeptionen in Bezug auf das Begriffspaar »Ersch. D.a.s.« rekonstruiert. Im Folgenden beantworte ich mit der vorgelegten Interpretation des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« den ersten und den dritten Schwerpunkt. Der zweite Schwerpunkt wird eigentlich durch die Antwort auf P2 beantwortet (vgl. Abschnitt 2 des siebten Kapitels). Der vierte Schwerpunkt, der sich auf die allgemeine Bedeutung des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« bezieht, wird in der Abschlussbetrach­ tung mit der chemischen Methode Kants beantwortet. Der erste Schwerpunkt: #1: Die zwei von allen verhandelten Interpretationen anerkannten Thesen über das »Ding an sich« sind, dass es unerkennbar und denk­ notwendig ist. [Erklärung zu #1] In Bezug auf diese beiden Thesen konstruieren viele Interpreten eine Beziehung zwischen Erscheinung und »Ding an sich« auf. Die Gemeinsamkeit der Lesarten besteht darin, dass ihnen zufolge die Erscheinung und das »Ding an sich« auf Gegenstände

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4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen

der Sinne bezogen seien. Davon unabhängig ist die Frage, ob die Erscheinung und das »Ding an sich« im Sinn von zwei Entitäten (bei Zwei-Welten-Lesart), zwei Perspektiven eines Dinges (bei Zwei-Per­ spektiven-Lesart) oder zwei Arten von Beschaffenheiten (Lesart von Rosefeldt) interpretiert werden.

In Bezug auf #1 interpretieren viele Perspektiven Kants These der Unerkennbarkeit des »Dinges an sich« auf verschiedene Weise, wie bereits im ersten Kapitel gezeigt wurde. Mein Verständnis dazu ist, dass »Dinge an sich« (in Bezug auf die Gegenstände der Sinne) für uns unbekannt sind, nicht weil »Dinge an sich« über ein Ansichsein verfügen, das hinter den Erscheinungen steht (wie von der ZweiWelten-Lesart vertreten), und auch nicht, weil sie subjektunabhän­ gige Eigenschaften des Gegenstandes sind (wie bei Rosefeldt). Die Unerkennbarkeit des »Dinges an sich« kann darauf zurückgeführt werden, dass durch das Denken allein keine Erkenntnis gewonnen werden kann. Dieser Punkt kann in zwei Fälle unterteilt werden. Der erste Fall bezieht sich auf die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«. Dazu ist zu sagen, dass man durch den transzendentalen Ver­ standesgebrauch keine Erkenntnis von den Gegenständen der Sinne gewinnen kann, da dieser Verstandesgebrauch eine unberechtigte Anwendung der Kategorien ist. Die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« anzunehmen, ist das Resultat des transzendentalen Verstan­ desgebrauchs. Daher sind die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« für uns unerkennbar. In diesem Sinne spricht Kant davon, dass transzendentaler Gegenstand „= X« (A 109) oder transzendentales Subjekt „= X« (A 346/B 404) unbekannt seien (vgl. A 109). Denn der Versuch, Gegenstände ohne Bezug auf die mögliche Erfahrung zu erkennen, ist eine Aktion des transzendentalen Verstandesgebrauchs. Die Verstandesbegriffe werden nur als Gedankenformen angewendet. Dadurch werden keine Gegenstände gegeben, sondern es handelt sich um »ein bloßes Spiel […] des Verstandes« (A 239/B 298). Der Erkenntnisanspruch, dass man die Gegenstände der Sinne erkennt, wie sie sind, kann nur im empirischen und nicht im transzendentalen Sinn verstanden werden (vgl. A 258/B 313). Der zweite Fall bezieht sich auf die Vernunftideen als »Dinge an sich«, davon ausgehend, dass die Vernunftideen für uns unerkennbar seien. Dies hat auch mit der Denknotwendigkeit des »Dinges an sich« zu tun. Kant schreibt in der Vorrede zur zweiten Auflage in der KrV: »[1] unserer Vernunfterkenntniß a priori […] nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber

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von uns unerkannt liegen lasse. [2] Denn das, was uns nothwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst nothwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten und dadurch die Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt.« (B XX; Ergänzungen durch den Verfasser)

Im ersten Satz [1] schreibt Kant von der Unerkennbarkeit des »Dinges an sich«. Es scheint nach der Formulierung Kants so zu sein, dass »die Sache an sich« einen hinter den Erscheinungen stehenden Charakter habe. Das hieße, dass die Sache an sich ein ›wahres‹ Ding bzw. die Letztrealität wäre. Aber nach der Erörterung des transzendentalen Verstandesgebrauchs wurde gezeigt, dass die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« bei Kant auf keinen Fall als die ›Letztrealität‹ bezeichnet werden können. Das Wort »Denn« im zweiten Satz [2] verneint auch die Möglichkeit, die Sache an sich als die Letztrealität zu interpretieren. Kant nimmt die ›Sache an sich‹ in Verbindung mit dem Unbedingten und betont die Notwendigkeit, dass die Ver­ nunft das Unbedingte »in den Dingen an sich selbst« verlangt. Das Unbedingte bezieht sich aber auf die Vernunftideen. Warum sind die Vernunftideen für uns unerkennbar? Aus der Perspektive der Metaphysikkritik sind die Vernunftideen für uns unerkennbar, weil keine synthetischen Urteile a priori außerhalb des Bereiches der möglichen Erfahrung möglich sind. Das heißt, dass man bei den Vernunftideen keine Erkenntnis gewinnen kann. Damit wird auch die Denkmöglichkeit des »Dinges an sich« erklärt: Diese Denkmöglich­ keit besteht nicht darin, dass man »Dinge an sich« als Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinn annimmt, um damit die Quelle der Erscheinung erklären zu können. Die Denkmöglichkeit des »Dinges an sich« bezieht sich eigentlich auf das Unbedingte. Denn dieses ist für die Vernunft notwendig zu suchen, wie Kant im zweiten Satz [2] erklärt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass »Ding an sich« uns in beiden Fällen (die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich« und die Vernunftideen als »Dinge an sich«) unbekannt ist. Dieses »unbekannt« setzt voraus, dass ein synthetisches Urteil (a priori und a posteriori) laut Kant das einzige Mittel sei, unsere Erkenntnis zu erweitern. Ein solches Urteil verlangt das Dritte: die Zeitbestimmung. 1. Fall: Die Gegenstände der Sinne als Dinge an sich sind uns unbe­ kannt. Dies geschieht durch den transzendentalen Verstan­ desgebrauch. Dadurch findet kein synthetisches Urteil statt,

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4. Zusammenfassende Auseinandersetzung mit den Rezeptionen

weil von den sinnlichen Bedingungen bzw. der Zeit abstra­ hiert wird. 2. Fall: Die Vernunftideen als Dinge an sich sind uns unbekannt. Dies geschieht durch den regulativen Vernunftgebrauch. Dabei findet auch kein synthetisches Urteil statt, weil die Vernunftideen außerhalb der sinnlichen Bedingungen bzw. der Zeit sind. Der dritte Schwerpunkt aus dem ersten Kapitel ist: #3: Kann man das »Ding an sich« mit transzendentalem Gegenstand und Noumenon gleichsetzen? Diese Frage lässt sich bei Cohen und der Zwei-Welten-Lesart mit ja beantworten. Bei der Zwei-PerspektivenLesart ist die Frage jedoch mit nein zu beantworten. (vgl. erstes Kapitel)

Die Frage, ob es einen Unterschied zwischen »Ding an sich« und Noumenon im negativen Sinn220 bzw. transzendentalem Gegenstand bei Kant gibt, werde ich im Folgenden beantworten. Diese drei Begriffe bezeichnen bei Kant gemeinsam einen bloßen Gedanken, die Gegen­ stände der Sinne durch das bloße Denken vorzustellen. In diesem Sinn gibt es keinen Unterschied zwischen ihnen. Der Unterschied zwischen den drei Begriffen liegt dann vor, wenn man diesen Gedan­ ken verdinglicht versteht. Das heißt, ob man in der Rezeption diesen Gedanken, der bloß mit einer logischen Möglichkeit eines Begriffs verbunden ist, für die reale Möglichkeit eines Dinges hält. Mit dem transzendentalen Verstandesgebrauch wird der Begriff »Ding an sich« schon von vier Positionen (dem Dogmatismus/dem Empirismus und dem transzendentalen Realismus/empirischen Idealismus) ver­ dinglicht. Daher ist der Begriff »Ding an sich« hier bloß polemisch 220 Eine weitere Frage zur Gleichsetzung des Begriffs »Ding an sich« mit dem Begriff »Noumena« bezieht sich auf die Noumena im positiven Sinn. In der vorliegenden Arbeit werden die Noumena im positiven Sinn auf die Vernunftideen im konstitutiven Sinn bezogen. Dabei handelt es sich eigentlich um einen von Kant als problematisch betrachteten Erkenntnisanspruch bezüglich des übersinnlichen Felds. Das heißt, dass die Vernunftideen durch diesen Erkenntnisanspruch verdinglicht werden. Dies geschieht durch den konstitutiven Vernunftgebrauch. Dagegen behauptet Kant einen regulativen Vernunftgebrauch. Dadurch werden die Vernunftideen bloß als Begriffe a priori aus der Vernunft betrachtet, weil solche Begriffe denkmöglich, denknotwendig und theoretisch unbestimmt sind. Dieses Thema wird im fünften Kapitel ausgeführt. Im Abschnitt 2.1 des siebeten Kapitels wird durch eine Analyse der Stelle 5 (AA04: 354f; Prol. § 57) gezeigt, dass die Gleichsetzung des Begriffs »Ding an sich« mit dem Begriff »Noumena im positiven Sinn« auch erlaubt ist, wenn man die beiden Begriffe nicht verdinglicht.

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Siebtes Kapitel: Antworten auf P1 und P2 aus der metaphysikkritischen Perspektive

zu verstehen. Der Begriff »Noumenon im negativen Sinn« enthält eine kritische Annahme von Kant, dass die Gegenstände der Sinne durch den Verstand gedacht werden müssen, aber dadurch nicht als erkannt bezeichnet werden können. Der Begriff des transzendentalen Gegenstandes kann insofern im kantischen Sinn verstanden werden, wenn er als ein bloßer Gedanke bezeichnet wird. Es würde ein Inter­ pretationsfehler entstehen, wenn der Begriff des transzendentalen Gegenstandes verdinglicht gelesen würde. In den Interpretationen von Cohen und Wundt (Vertreter der Zwei-Welten-Lesart) werden der transzendentale Gegenstand, »Ding an sich« und Noumenon, sowie das Unbedingte im systematischen Sinne einfach gleichgesetzt. Die Stelle B 522, die für die Interpreta­ tion Cohens sehr wichtig ist, wurde schon im Unterabschnitt 2.3.2 dieses Kapitels analysiert. Dort wurde aufgezeigt, dass der transzen­ dentale Gegenstand oder das transzendentale Objekt für Kant nur ein Gedanke sei, damit man »[dem transzendentalen Objekt] allen Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen zuschreiben und sagen [können]: daß es vor aller Erfahrung an sich selbst gegeben sei« (B 523). Das heißt, dass die Vollständigkeit aller möglichen Objekte in der Erfahrung durch den Begriff »tran­ szendentales Objekt« ausgedrückt werden kann. Hätte man Kant hier so verstanden, dass er der Auffassung sei, dass alle möglichen Objekte in der Erfahrung dadurch tatsächlich gegeben seien, so nimmt man eigentlich eine der Position Kants zuwiderlaufende Perspektive ein. Was Kant durch den transzendentalen Idealismus ausdrückt, ist der Gedanke, dass die möglichen Objekte nur im Fortschritt der Erfahrung gegeben werden können und nicht vorher bzw. an sich gegeben werden können. Kants Verständnis widerspricht demzufolge dem transzendentalen Realismus, der die Gegenstände der Sinne im transzendentalen Sinne versteht.

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Schlussbetrachtung: Die chemische Methode Kants und die allgemeine Bedeutung des Begriffspaars »Erscheinung/Ding an sich«

In diesem Abschnitt versuche ich durch die Hervorhebung der che­ mischen Methode von Kant die allgemeine Bedeutung des Begriffs­ paars »Ersch./D.a.s.« herauszuarbeiten. Im Rahmen dieser chemi­ schen Methode wird verdeutlicht, dass die allgemeine Bedeutung des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« in systematischer Hinsicht immer darauf abzielt, deutlich zu machen, ob die begriffliche Vorstellungsart mit der sinnlichen zusammengenommen werden muss oder allein verwendet werden kann. Die chemische Methode wird in einer Fußnote (vgl. B XXXI, Anm.) der B-Vorrede der KrV hervorgehoben. Kant setzt dort ein »Experi­ ment der reinen Vernunft« in Analogie zu der chemischen Methode der »Reduktion« (ebd.). Dann bezeichnet Kant diese Methode als »das synthetische Verfahren« (ebd.). Damit ist gemeint, dass man die Basiselemente von den anderen Bestandteilen der Verbindung trennt, um deutlich zu machen, welche Basiselemente in dieser Verbindung enthalten sind. Warum setzt Kant diese chemische Methode in Bezug zu seinem Experiment der reinen Vernunft? Kants Antwort an dieser Stelle lautet: Die Analysis des Metaphysikers schied die reine Erkenntniß a priori in zwei sehr ungleichartige Elemente, nämlich die der Dinge als Erschei­ nungen und dann der Dinge an sich selbst. Die Dialektik verbindet beide wiederum zur Einhelligkeit mit der nothwendigen Vernunftidee des Unbedingten und findet, daß diese Einhelligkeit niemals anders, als durch jene Unterscheidung herauskomme, welche also die wahre ist.« (B XXI, Anm.)

Wenn man dieses Verfahren mit der Struktur der KrV vergleicht, zeigt sich, dass sich die reine Erkenntnis a priori in zwei sehr ungleich­ artige Elemente, nämlich die reine Anschauung a priori und die reinen Begriffe a priori, unterteilen lässt. Diese beiden Elemente

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sind aber das Resultat der transzendentalen Ästhetik und Analytik. Kants Formulierung hier ist etwas irreführend, wenn er davon spricht, dass die Elemente »der Dinge als Erscheinungen […] dann [die Elemente] der Dinge an sich selbst« sind. Es erscheint dieser Aus­ drucksweise nach so, wie es die Zwei-Perspektiven-Lesart nahelegt, dass Kant an einem Ding zwei Perspektiven unterscheidet. Doch durch die vorliegende Interpretation ist nun klar geworden, dass Kant hier nicht von zwei Perspektiven eines Dinges, sondern von zwei Erkenntniselementen einer (reinen) Erkenntnis die Rede ist. Diese Elemente sind ungleichartig, weil das eine von ihnen sich auf die Rezeptivität der Sinne, das andere aber auf die Spontaneität des Den­ kens bezieht. Diese Ungleichartigkeit macht die chemische Methode Kants aus. Im Folgenden werde ich diese Ungleichartigkeit auf Kants Zwei-Stämme-Lehre zurückführen, um damit den Ursprung der che­ mischen Methode Kants zu erhellen. Die Unterscheidung zwischen der Sinnlichkeit und dem Begriff bzw. zwischen der Rezeptivität der Sinne und der Spontaneität des Denkens bildet den fundamentalen Ausgangspunkt der kantischen Philosophie. In der Einleitung der KrV spricht Kant von der sogenann­ ten Zwei-Stämme-Lehre: daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntniß gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entsprin­ gen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden. (A 15/B 29)

In diesem Zitat gibt Kant keine Rechtfertigung dafür, warum die Sinnlichkeit und der Verstand (bzw. das Denken) aus zwei Stämmen kommen sollen. Hier wird nur festgestellt, dass die Funktionen der beiden Vermögen in Bezug auf »Gegenstände« unterschiedlich sind: durch die Sinnlichkeit werden die Gegenstände gegeben und durch den Verstand werden sie gedacht. Kant gibt m. E. jedoch eine klare Rechtfertigung für seine Zwei-Stämme-Lehre in § 76 der KU.221 Dort wird verdeutlicht, warum Kant der Auffassung ist, dass die Natur der menschlichen Erkenntnisvermögen zwei Stämme (d. h. heterogene Elemente) hat. Es ist dem menschlichen Verstande unumgänglich nothwendig, Mög­ lichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unterscheiden. Der Grund 221

Über die Bedeutung von § 76 für die nachkantische Philosophie vgl. Förster 2002.

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davon liegt im Subjecte und der Natur seiner Erkenntnißvermögen. Denn wären zu dieser ihrer Ausübung nicht zwei ganz heterogene Stücke, Verstand für Begriffe und sinnliche Anschauung für Objecte, die ihnen correspondiren, erforderlich: so würde es keine solche Unter­ scheidung (zwischen dem Möglichen und Wirklichen) geben. Wäre nämlich unser Verstand anschauend, so hätte er keine Gegenstände als das Wirkliche. Begriffe (die bloß auf die Möglichkeit eines Gegen­ standes gehen) und sinnliche Anschauungen (welche uns etwas geben, ohne es dadurch doch als Gegenstand erkennen zu lassen) würden beide wegfallen. (AA05: 401f)

Die Unterscheidung zwischen der (logischen) Möglichkeit222 und der Wirklichkeit ist schon ein Thema der KrV. Ein wichtiger Kritikpunkt Kants dort ist, dass man ›im bisherigen Verfahren der Metaphysik‹ die logische Möglichkeit des Denkens mit der realen Möglichkeit des Dinges verwechselt (vgl. A 244/B 302).223 An dieser Stelle verbindet Kant diese Unterscheidung mit der Natur der menschlichen Erkennt­ nisvermögen: Der Verstand ist ein Denkvermögen und kann nicht anschauen. Die Sinnlichkeit ist ein Vermögen der Anschauung und kann nicht durch Begriffe urteilen. Die Ursache hierfür ist, dass der menschliche Verstand »keine Gegenstände als das Wirkliche« hätte, wenn er anschauen kann. Das heißt, dass es für uns nur etwas Wirk­ liches gäbe, wenn uns die Gegenstände (der Sinne) zugleich durch den Verstand (bzw. durch das Denken) gegeben werden. Nun gibt es nicht nur das Wirkliche für uns, sondern auch das (Logisch-)Mögliche, das nur durch das Denken möglich und nicht durch die Sinnlichkeit gegeben ist. So ist die Zwei-Stämme-Lehre für Kant richtig. Die chemische Methode Kants setzt diese Lehre voraus, denn wären das Denken und die Sinnlichkeit nicht zwei heterogene Stücke, würden auch keine ungleichartigen Elemente der Erkenntnis a priori gegeben. Nicht nur in der theoretischen Philosophie, sondern auch in der praktischen Philosophie nimmt Kant Bezug auf die chemische Methode und setzt sie in ein Verhältnis zu seiner Untersuchung in der Morallehre. Im Folgenden wird eine Stelle aus der kritischen 222 Diese Möglichkeit ist bloß logisch und nicht die reale Möglichkeit. Denn die reale Möglichkeit setzt schon eine Kombination des Denkens mit der Sinnlichkeit voraus. Dies wird von Kant bei den Postulaten des empirischen Denkens überhaupt thematisiert (vgl. A 218 / B 265). 223 Über die Beziehung zwischen diesem Punkt und dem transzendentalen/empiri­ schen Verstandesgebrauch bzw. dem Begriffspaar »Ersch./D.a.s.« wurde im vierten Kapitel thematisiert.

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Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft hinzugezo­ gen. Vor dem unten zitierten Passus spricht Kant von der ersten und wichtigsten obliegenden Beschäftigung, nämlich der Unterscheidung der Glückseligkeitslehre von der Sittenlehre (vgl. AA05: 92), da jene empirische Prinzipien enthalte und diese apriorische. Aber wie soll man diese Unterscheidung durchführen? Kant unterscheidet beide auch aus der Perspektive der menschlichen Vermögen: »Es kommt aber dem Philosophen, der hier (wie jederzeit im Ver­ nunfterkenntnisse bloße Begriffe, ohne Construction derselben) mit Schwierigkeit zu kämpfen hat, weil er keine Anschauung (reinem Noumen) zum Grunde legen kann, doch auch zu statten: daß er beinahe wie der Chemist zu aller Zeit ein Experiment mit jedes Menschen praktischer Vernunft anstellen kann, um den moralischen (reinen) Bestimmungsgrund empirischen zu unterscheiden; wenn er nämlich zu dem empirisch afficirten Willen (z. B. desjenigen, der gerne lügen möchte, weil sich dadurch etwas erwerben kann) das moralische Gesetz (als Bestimmungsgrund) zusetzt. (ebd.)

Kants Antwort ist, wie in der theoretischen Philosophie, dass man ein Experiment mit der praktischen Vernunft durch Reduktion macht. Aber hier liegt nicht eine Kombination der sinnlichen Vorstellungsart mit der begrifflichen, die sich auf die Gegenstände der Sinne bezieht, sondern eine Absonderung der sinnlichen bzw. empirischen von der begrifflichen bzw. reinen, die sich auf den Bestimmungsgrund des Willens bezieht. Dies bedeutet, wie ich im sechsten Kapitel der vorliegenden Arbeit erörtert habe, dass die Unterscheidung zwischen dem moralisch praktischen Bestimmungsgrund des Willens und dem technisch praktischen auf der Unterscheidung zwischen dem prakti­ schen Gebrauch der reinen Vernunft und dem der empirisch bedingten Vernunft beruht. Eine andere Stelle in Bezug auf die praktische Philosophie und die chemische Methode findet man im Beschluss der KpV: Diesen Weg nun in Behandlung der moralischen Anlagen unserer Natur gleichfalls einzuschlagen, kann uns jenes Beispiel anräthig sein und Hoffnung zu ähnlichem guten Erfolg geben. Wir haben doch die Beispiele der moralisch urtheilenden Vernunft bei Hand. Diese nun in ihre Elementarbegriffe zu zergliedern, in Ermangelung der Mathematik aber ein der Chemie ähnliches Verfahren der Scheidung des Empirischen vom Rationalen, das sich in ihnen vorfinden möchte, in wiederholten Versuchen am gemeinen Menschenverstande vorzu­

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nehmen, kann uns Beides rein und, was jedes für sich allein leisten könne, mit Gewißheit kennbar machen. (AA05: 163)

»Jenes Beispiel« in dieser Stelle bezieht sich darauf, dass man in der Physik die Bewegung des Dings, wie »Fall eines Steins, die Bewegung einer Schleuder (ebd.), in ihre Elemente auflöst, und mathematisch bearbeitet, dadurch wird ein »klare und für alle Zukunft unveränder­ liche Einsicht in den Weltbau« (ebd.) hervorgebracht. Dieses Beispiel kann man als Inspiration in der Untersuchung der Moral anwenden, indem man »die Beispiele der moralisch urtheilenden Vernunft« in ihre Elementarbegriffe zergliedert. Man unterscheidet das Empirische und das Rationale und erkennt jeweils die spezifischen Leistungen der beiden »in wiederholten Versuchen am gemeinen Menschenver­ stande« (ebd.). Als Resultat dieses Experiments ist dann klar, dass nur das Rationale den moralischen Bestimmungsgrund des Willens bilden kann. Aus der Perspektive der Vermögen ist das Rationale nur denkmöglich und zwar durch die praktische Vernunft. Demgegenüber verlangt das Empirische immer die Kombination der Sinnlichkeit mit dem Denken, denn die empirische Gegebenheit kann nur durch die Sinnlichkeit geleistet werden. Nun ist zu zeigen, wie man durch die chemische Methode Kants die allgemeine Bedeutung des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« herausarbei­ ten kann. Durch die Ausführung von P3 in der vorliegenden Arbeit wurde Kants Verwendung des Begriffspaars »Ersch./D.a.s.« in den drei Themenbereichen (Erkenntnistheorie, Ideenlehre und praktische Philosophie) so verdeutlicht, dass dieses Begriffspaar sich immer mit unterschiedlichen Arten des Gebrauchs der Denkermögen (des Verstandes und der Vernunft) befasst. Die von Kant kritisierten Arten des Gebrauchs der Denkvermögen (transzendentaler Verstandesge­ brauch, konstitutiver Vernunftgebrauch und praktischer Gebrauch der empirisch bedingten Vernunft) sind die Gegenstände der Metaphysik­ kritik Kants. Diese gehen davon aus, dass die Gegenstände der Sinne als »Dinge an sich«, die Vernunftideen als »Erscheinungen« und der moralische Bestimmungsgrund des Willens als »Erscheinung« auszu­ geben sind. Demgegenüber sind die von Kant begründeten Arten des Gebrauchs der Denkvermögen (empirischer Verstandesgebrauch, regulativer Vernunftgebrauch und praktischer Gebrauch der reinen Vernunft) die Resultate der Metaphysikkritik Kants. Diese gehen davon aus, dass die Gegenstände der Sinne als »Erscheinungen«, die

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Vernunftideen als »Dinge an sich« und der moralische Bestimmungs­ grund des Willens als »Ding an sich« zu bestimmen sind. Bei diesem Ergebnis scheint es so zu sein, dass Kant das Begriffs­ paar »Ersch./D.a.s.« in unterschiedlichen Themenbereichen verwen­ det, ohne eine feste Bedeutung des Begriffspaars zu geben. Das ist aber nicht der Fall, denn die Elemente der unterschiedlichen Arten des Gebrauchs der Denkvermögen lassen sich auf die Zwei-StämmeLehre Kants zurückführen. Das erste Element: Der Verstand und die Vernunft (bzw. die praktische Vernunft) beziehen sich auf das Denken, das durch den Begriff a priori möglich ist und die Spontaneität bezeichnet. Das zweite Element: Die Sinnlichkeit bezieht sich auf die Anschauung, die durch die Anschauung a priori möglich ist und wird von Kant als Rezeptivität bezeichnet. Die oben dargestellte (sechs) Arten des Gebrauchs der Denkvermögen bestehen eigentlich nur aus diesen zwei Elementen. Die allgemeine Bedeutung des Begriffs »Erscheinung« ist dann die Folge des mit der Sinnlichkeit kombinier­ ten Gebrauchs der Denkvermögen. Die allgemeine Bedeutung des Begriffs »Ding an sich« ist die Folge des alleinigen Gebrauchs der Denkermögen. Es ist daher zu bemerken, dass mit der Formulierung »an sich« bei Kant nicht eine Unabhängigkeit vom Subjekt gemeint ist, sondern die Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit. Dies ist aber immer mit der Abhängigkeit von dem Denken verbunden, denn es gibt bei Kant nur zwei Elemente der Erkenntnisvermögen. Die Formu­ lierung »an sich« bedeutet immer etwas, was man durch die logische Möglichkeit des Denkens erhalten kann. Unter jeweils bestimmten Umständen wird diese Anwendung von Kant dann entweder kritisiert oder als angemessen und begründet bestimmt.

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