Eine Wissenschaft etabliert sich: 1810-1870 9783110949421, 9783484190528


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German Pages 340 [348] Year 1999

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Table of contents :
EINLEITUNG
Zur Geschichte des Wunderhorns (1855)
Der Nibelungen Lied. Erneuet und erklärt (1807)
1. Zueignung
2. Vorrede
Die deutschen Volksbücher. Einleitung (1807)
Kinder- und Hausmärchen. Vorrede zum zweiten Band (1815)
Über die Entstehung der altdeutschen Poesie und ihr Verhältnis zu der nordischen (1808)
Altdeutsche Wälder. Vorrede zum ersten Band (1813)
Rezension der Altdeutschen Wälder (1815)
Die altnordische Literatur in der gegenwärtigen Periode (1820)
Deutsche Grammatik. Erster Teil (1819)
1. Widmung
2. Vorrede
Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt. Vorwort (1821)
Geschichte der deutschen Sprache (1848)
1. Widmung
2. Zeitalter und Sprachen
Deutsches Wörterbuch. Einleitung zum ersten Band (1854)
Die Germanisten und die Wege der Geschichte. Vorrede (1848)
Brief an Carl Christian Rafn (1849)
Über seine Entlassung (1838)
Geschichte der altdeutschen Poesie. Einleitung in den ersten Teil (1830)
Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen. Einleitung (1835)
Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Einleitung (1845)
Deutsche Jahrbücher. Einleitung (1835)
Zeitschrift für deutsches Altertum. Band 1(1841)
1. Vorwort zum ersten Hefte
2. Inhalt
Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Altertumskunde. Jahrgang 1(1856). Inhalt
Rezension: Des Minnesangs Frühling (1858)
Zum Erek. Anhang (1859)
Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Vorrede (1827)
WALTHER VON DER VOGELWEIDE (1864. 21866)
1. Vorwort zur ersten Auflage
2. Vorwort zur zweiten Auflage
Rede an die Studenten (1843)
Über Schule, Universität, Akademie (1849)
Wenn sie Lateinisch nur verstehen (1842)
Klassische Bildung (1873)
MITTELALTERLICHE LITERATUR IM LEHRPROGRAMM Tübingen – Heidelberg – Freiburg (vor 1850–1920)
Berliner Studienbuch (1851/52)
TÜBINGER SEMINARSTATUTEN (1867)
Inauguralrede über die Aufgabe der modernen Philologie (1842)
Die deutsche Philologie, die Schule und die klassische Philologie (1854)
Über die Behandlung der deutschen Literaturgeschichte, namentlich der älteren, auf Gymnasien (1847)
Bemerkungen über den Unterricht in der deutschen Sprache und Literatur auf den österreichischen Gymnasien (1850)
Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Altertumskunde. Jahrgang 1 (1856). Prospekt
QUELLENNACHWEIS und KURZBIOGRAPHIEN
REGISTER
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Eine Wissenschaft etabliert sich: 1810-1870
 9783110949421, 9783484190528

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Deutsche Texte

Herausgegeben von GOTTHART WUNBERG

53

Texte zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik III

Eine Wissenschaft etabliert sich 1810-1870 Mit einer Einführung herausgegeben von JOHANNES JANOTA

Max Niemeyer Verlag Tübingen

Für Afra

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Eine Wissenschaft etabliert sich : 1810-1870 / mit e. Einf. hrsg. von Johannes Janota. — Tübingen : Niemeyer, 1980. (Deutsche Texte ; 53) (Texte zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik ; 3) ISBN 3484-19052-3 NE: Janota, Johannes [Hrsg.]

ISBN 3484-19052-3 ISSN 0418-9159 Max Niemeyer Verlag Tübingen 1980 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG AUGUST HEINRICH HOFFMANN VON FALLERSLEBEN Zur Geschichte des Wunderhorns( 1855) FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN Der Nibelungen Lied. Erneuet und erklärt (1807) 1. Zueignung 2. Vorrede

l

61

63

JOSEPH GÖRRES Die deutschen Volksbücher. Einleitung (l807)

67

WILHELM GRIMM Kinder- und Hausmärchen. Vorrede zum zweiten Band (1815). . .

80

WILHELM GRIMM Über die Entstehung der altdeutschen Poesie und ihr Verhältnis zu der nordischen (1808)

83

JACOB und WILHELM GRIMM Altdeutsche Wälder. Vorrede zum ersten Band (1813)

90

AUGUST WILHELM SCHLEGEL Rezension der Altdeutschen Wälder (l815)

92

WILHELM GRIMM Die altnordische Literatur in der gegenwärtigen Periode (l820). . .

100

JACOB GRIMM , Deutsche Grammatik. Erster Teil (1819) 1. Widmung 2. Vorrede

102 102 107

JOHANN ANDREAS SCHMELLER Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt. Vorwort (1821) .

112

JACOB GRIMM Geschichte der deutschen Sprache (l848) I.Widmung 2. Zeitalter und Sprachen

116 116 118

JACOB und WILHELM GRIMM Deutsches Wörterbuch. Einleitung zum ersten Band ( 1 8 5 4 ) . . . .

124

C. HlNRICHSEN

Die Germanisten und die Wege der Geschichte. Vorrede (1848). .

135

JACOB GRIMM Brief an Carl Christian Rafn( 1849)

138

JACOB GRIMM Über seine Entlassung (l838)

142

LUDWIG UHLAND Geschichte der altdeutschen Poesie. Einleitung in den ersten Teil (1830)

166

GEORG GOTTFRIED GERVINUS Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen. Einleitung (1835)

172

AUGUST FRIEDRICH CHRISTIAN VILMAR Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Einleitung (l845). . .

188

GEORG GOTTFRIED GERVINUS Deutsche Jahrbücher. Einleitung (1835)

196

MORIZ HAUPT (Hg.) Zeitschrift für deutsches Altertum. Band l (1841) 1. Vorwort zum ersten Hefte 2. Inhalt

212 212 216

FRANZ PFEIFFER (Hg.) Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Altertumskunde. Jahrgang l (1856). Inhalt

218

VI

FRANZ PFEIFFER Rezension: Des Minnesangs Frühling (l858)

221

FRANZ PFEIFFER Zum Erek. Anhang (l859) KARL LACHMANN (Hg.) Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Vorrede (l 827).

224 . . .

231

FRANZ PFEIFFER (Hg.)

WALTHER VON DER VOGELWEIDE (1864.21866) 1. Vorwort zur ersten Auflage 2. Vorwort zur zweiten Auflage

236 243

JACOB und WILHELM GRIMM Rede an die Studenten (l843)

245

JACOB GRIMM Über Schule, Universität, Akademie (1849)

247

AUGUST HEINRICH HOFFMANN VON FALLERSLEBEN Wenn sie Lateinisch nur verstehen (l842)

249

AUGUST HEINRICH HOFFMANN VON FALLERSLEBEN Klassische Bildung (1873)

249

MITTELALTERLICHE LITERATUR IM LEHRPROGRAMM Tübingen-Heidelberg-Freiburg (vor 1850-1920)

250

KARL BARTSCH Berliner Studienbuch (1851/52)

256

TÜBINGER SEMINARSTATUTEN (l867)

260

ADELBERT VON KELLER Inauguralrede über die Aufgabe der modernen Philologie (l842). .

263

KARL MÜLLENHOFF Die deutsche Philologie, die Schule und die klassische Philologie (1854)

277

J. MÜTZELL Über die Behandlung der deutschen Literaturgeschichte, namentlich der älteren, auf Gymnasien (l847)

303

KARL WEINHOLD Bemerkungen über den Unterricht in der deutschen Sprache und Literatur auf den österreichischen Gymnasien (l 850)

315 VII

FRANZ PFEIFFER (Hg.) Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Altertumskunde. Jahrgang l (1856). Prospekt

320

QUELLENNACHWEIS und KURZBIOGRAPHIEN

324

REGISTER

335

VIII

Einleitung

was haben wir denn gemeinsames als unsere spräche und literatur? Jacob Grimm

An den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland zählt die Germanistik gegenwärtig (noch) zu den Fächern, die mit ausnehmend hohen Studentenzahlen aufwarten. So studierten, um nur zwei Beispiele zu nennen, im Sommersemester 1977 an der Universität Tübingen (zum Zeitpunkt ihres 500jährigen Jubiläums also) von 18206 Studenten 2203 (= 12,10%) Germanistik; an der Gesamthochschule Siegen (die zu diesem Termin eben auf ihr Sjähriges Bestehen zurückblicken konnte) waren von 5278 Studenten 525 (= 9,95%) als Germanisten immatrikuliert.1 Traditionsreiche Universität und Reformhochschule bieten in diesem Punkt also ein ähnliches Bild: Hier wie dort konnten offenkundig weder verwirrende Auskünfte über neue und neueste »Ansichten einer künftigen Germanistik« 2 noch zunehmend sich verdüsternde Berufsaussichten bislang in erkennbarem Umfang vom Studium in diesem Massenfach abschrecken. Blättert man in den Annalen der germanistischen Fachgeschichte 100 Jahre zurück, dann entfaltet sich vor unseren Augen ein ganz anderes Panorama. Konrad Burdach, später einer der bedeutend1

In Wirklichkeit dürfte die Zahl der Germanistikstudenten in Tübingen etwas geringer sein, weil hier die Studierenden der Allgemeinen Rhetorik in der Statistik als Germanisten verbucht sind und weil die Germanistik öfters als »Parkstudium« bis zur Zulassung in Numerus-ClaususFächern gewählt wird. Damit nähert sich auch in Tübingen die Zahl der Germanistikstudenten der 10%-Marke, die an den Hochschulen der Bundesrepublik (von Sonderfällen abgesehen) als Faustformel für den Anteil der Germanistikstudenten an der Gesamtstudentenzahl gilt. - Für Auskünfte habe ich der Geschäftsführung des Deutschen Seminars in Tübingen und dem Dekanat des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaften in Siegen zu danken. 2 Jürgen Kolbe (Hg.), Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1969 (Reihe Hanser 29); ders. (Hg.), Neue Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1973 (Reihe Hanser 122). l

sten germanistischen Wissenschaftsorganisatoren, berichtet aus seiner Studienzeit: »Als ich, noch ein junges, unreifes Studentlein, im Sommer 1877 nach Bonn kam, besuchte ich auch, wie natürlich, einen damals noch lebenden ausgezeichneten klassischen Philologen, der sich um die Erkenntnis der griechischen Philosophie grosse Verdienste erworben hat [d. i. Jacob Bernays]. Wie er hörte, dass ich den Vorsatz hätte, Germanist zu werden und eine Vorlesung über Walther von der Vogelweide sowie deutsche Literaturgeschichte des 18. Jhs. bei Wilmanns zu hören, zog er ein bedenkliches Gesicht und redete mir freundschaftlich und eifrig von diesem Studium ab. Die Germanistik, versicherte er mit dem ihm eigenen Pathos, sei gar keine Wissenschaft, sie habe keine Zukunft, in 10 Jahren würde alles mittelalterliche Zeug ediert sein und dann sei es mit der Herrlichkeit aus. Der Prophet ist inzwischen gestorben, mehr als 5 Jahre, die Hälfte der ausgesetzten Frist, sind verstrichen. Im vergangenen Jahre sind die mittelhochdeutschen Klassiker aus den preussischen Gymnasien vertrieben worden, ein gleiches Schicksal dürfte ihnen in Oesterreich bevorstehen. Ist das der Anfang vom Ende? Ich bleibe wieder die Antwort schuldig: denn ich möchte nicht gerne bitter werden. Berlin, den 16. Februar 1883«1

Diese Prophetic war gewiß schon zu ihrer Zeit überzeichnet, und nicht zuletzt hat K. Burdach nach Kräften gewirkt, um nicht »bitter werden« zu müssen. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß der quantitative Aufschwung, aber auch charakteristische, bis heute nachwirkende Ausprägungen des Fachs erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einsetzen.4 Löst man sich aus dem Banne 3

Konrad Burdach, Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide, Halle 21928, S. 318 (Erstdruck: Anzeiger f. dt. Altertum 9, 1883, S. 360); vgl. Fritz Tschirch, Vor- und Frühgeschichte der Greifswalder Universitätsgermanistik. In: Festschrift zur 500-Jahrfeier der Universität Greifswald, Bd. 2, Greifswald 1956, S. 136-199 (hierzu S. 136f). - Da Burdachs Ratgeber der Altphilologe Jacob Bernays war, könnte die Auskunft von Animositäten zwischen zwei konkurrierenden Fächern geleitet sein (s. u. S. 49-57); aber auch der Germanist Karl Weinhold gibt 1850 in Breslau dem späteren Germanisten Karl Bartsch einen ähnlichen Rat, »weil für einen unbemittelten die Carriere zu ungewiß sei«; vgl. HansJoachim Koppitz (Hg.), Karl Bartsch. Jugenderinnerungen, Würzburg 1966 (Beihefte z.Jb.d.schlesischen Friedrich-Wilhelms-Univ. zu Breslau 6) S. 123. 4 Vgl. dazu Gunter Reiß (Hg.), Materialien zur Ideologiegeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Von Wilhelm Scherer bis 1945, Bd. l:

der Burdachschen Zeitklage und sieht man sich die Fachgeschichte aus der heute zeitlich größeren Distanz an, dann zeigt sich, daß die Reichsgründung 1871 nicht nur innerhalb der politischen Geschichte Deutschlands eine unübersehbare Zäsur darstellt, sondern auch für die Geschichte der Germanistik eine deutlich erkennbare Zeitmarke bedeutet. NATIONALISMUS AM ENDE Die Reichsgründung 1871 als fachgeschichtliche Zäsur Politischer Kontext Diese in der Retrospektive erkennbare Konvergenz von politischem und fachgeschichtlichem Datum scheint kein Zufall zu sein: Mit dem Sieg über Frankreich und vor allem mit der Reichsgründung glaubte man zentrale Ziele erreicht oder endgültig gesichert zu haben, die seit dem Hervortreten der Germanistik als Universitätsdisziplin zu Beginn des 19. Jahrhunderts die maßgebenden Vertreter dieses Fachs in ihrem Denken und Handeln geleitet und beflügelt hatten. Doch es waren nur vorgeblich die gleichen Ziele, denn aus dem ursprünglichen Widerstand gegen die napoleonische Fremdherrschaft war jetzt ein Kampf um nationale Vorherrschaft geworden, und auch die nationale Einigung auf der Grundlage der preußischen Militärmonarchie entsprach nurmehr entfernt den Vorstellungen, die sich - von anderen politischen Konzeptionen ganz zu schweigen selbst die Befürworter der kleindeutschen Lösung im Frankfurter Parlament von einer parlamentarischen Monarchie (unter Preußens Führung) gebildet hatten. Dem rückschauenden Beobachter drängt sich hierbei (wie auch bei analogen Vorgängen zur Zeit des Nationalsozialismus) die nachdenkenswerte Frage auf, warum eben jenen Männern, die ihr Fach als eine ausgesprochen historische Wissenschaft verstanden wissen wollten, die geschichtlichen VeränderunVon Scherer bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 1973. (Texte zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik 4 = Deutsche Texte 21.) - Karl Otto Conrady, Germanistik in Wilhelminischer Zeit. Bemerkungen zu Erich Schmidt (1853-1913). In: Hans-Peter Bayerdörfer u. a. (Hg.), Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter, Tübingen 1978, S. 370-398.

gen während dieser sechs Dezennien des 19. Jahrhunderts und insbesondere nach 1848 nicht klar vor Augen getreten sind. Diese Frage stellt sich umso nachdrücklicher, wenn man bedenkt, daß Germanisten mit historischer Sensibilität die politische Entwicklung nach 1848 zunehmend kritisch beobachteten. So klagt Jacob Grimm mit bitteren Worten 1858 in einem Brief an den Historiker Georg Waitz: »Wie oft muss einem das traurige Schicksal unsers Vaterlandes in den Sinn kommen und auf das Herz fallen und das Leben verbittern. Es ist an gar keine Rettung zu denken, wenn sie nicht durch grosse Gefahren und Umwälzungen herbeigeführt wird Es kann nur durch rücksichtslose Gewalt geholfen werden. Je älter ich werde, desto demokratischer gesinnt bin ich. Sasse ich nochmals in einer Nationalversammlung, ich würde viel mehr mit Uhland, Schoder stimmen, denn die Verfassung in das Geleise der bestehenden Verhältnisse zu zwängen, kann zu keinem Heil führen. "Wir hängen an unsern vielen Errungenschaften und fürchten uns vor rohem Ausbruch der Gewalt, doch wie klein ist unser Stolz, wenn ihm keine Grosse des Vaterlands im Hintergrund steht. In den Wissenschaften ist etwas Unvertilgbares, sie werden nach jedem Stillstand neu und desto kräftiger ausschlagen.«5

Es wäre unsinnig, Jacob Grimm anhand dieser Äußerung zu einem »Linken« oder gar zu einem Revolutionär zu stempeln, dagegen spricht sein ganzer politischer Habitus;6 dennoch hat Wilhelm Scherer, eine der Leitfiguren für die Orientierung der Germanistik nach der Reichsgründung, sehr wohl gesehen, daß Jacob Grimms Zeitund Selbstkritik sich schlecht mit den politischen Verhältnissen nach 1871 vertrug. Er schiebt daher in seiner bis heute nachwirkenden Grimm-Biographie Jacob Grimms politisches Altersbekenntnis kurzer Hand zur Seite, um den Mitbegründer der wissenschaftlichen Germanistik nach diesem Reinigungsakt für die Zeit nach der Reichsgründung vereinnahmen zu können: 5

Georg Waitz, Zum Gedächtnis an Jacob Grimm, Göttingen 1863 (Abhandlungen d. Kgl. Gesellschaft d. Wiss. zu Göttingen 11) S. 23; vgl. auch Ludwig Denecke, Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm, Stuttgart 1971 (Sammlung Metzler 100) S. 142f. 6 Vgl. Roland Feldmann, Jacob Grimm und die Politik, Kassel 1970; Max Pfütze, Jacob Grimm, das »Deutsche Wörterbuch« und die Nation Bemerkungen zu einer politischen Entwicklung. In: Weimarer Beiträge 8, 1962, S. 264-290.

»Sein ursprünglich conservativer Sinn ward mehr nach links abgedrängt, und er, der in der Schrift über seine Entlassung sich gegen alles Parteiwesen erklärte, mochte sich selbst mit einem Parteinamen belegen. . . [Folgt die Briefstelle v. J. 1858.] Wie ganz hatte ihn der prophetische Sinn verlassen, wenn er sich mit dem Ausblick auf eine Revolution befreunden konnte! Und die Erfüllung dessen zu erleben, was er einst gewünscht, erhofft, war ihm nicht mehr beschieden.«7

Die Rezension, mit der Wilhelm Scherer die politische Einstellung Jacob Grimms bedenkt, macht deutlich, daß die historische Entwicklung der Germanistik nach der Reichsgründung nicht unbesehen auf die gesamte Gründungsphase dieser Wissenschaft übertragen werden darf. Denn der Dienst an der preußisch-deutschen Ideologiebildung, in den sich die Germanistik nach 1871 zunehmend stellte, und dem sich besonders die »Scherer-Schule« verpflichtet wußte,8 unterscheidet sich grundlegend von den politischen In7

Wilhelm Scherer, Jacob Grimm, Berlin 21885, S. 253. Über W. Scherers Verhältnis zu J. Grimm vgl. Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 21930 (Nachdruck Darmstadt 1972) Kap. V: Der Positivismus. - Zurecht weist L. Denecke im Vorwort zum Nachdruck des Grimmschen Briefwechsels mit Dahlmann und Gervinus darauf hin, daß wir das darin entworfene Panorama »heute aus einem anderen Blickwinkel ansehen müssen als zu der Zeit, in der Hermann Grimm [Wilhelms Sohn], der weithin angesehene, im Berliner Kaiserhause wohlgelittene Professor, deutlich bemüht war, die politische Rolle seines Oheims und seines Vaters herunterzuspielen und beide als weltentrückte, stille Gelehrte darzustellen«; vgl. Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm, Dahlmann und Gervinus, hg. von Eduard Ippel, 2 Bde. Berlin 1885/86, Nachdruck Wiesbaden 1973, S. l*. * Nicht unbegründet versieht daher Josef Dünninger das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem Signalement »Scherer-Zeit«: Geschichte der deutschen Philologie. In: Deutsche Philologie im Aufriß, hg. von Wolfgang Stammler, 1. Bd. Berlin 21957, Sp. 83-222 (hierzu Sp. 176-196); vgl. auch den Artikel »Literaturwissenschaft« von Erik Lunding. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 2. Bd. Berlin 21965, S. 195-212 (hierzu S. 198f) und Hans Mayer, Literaturwissenschaft in Deutschland. In: Literatur II/l, hg. von Wolf-Hartmut Friedrich und Walther Killy, Frankfurt a. M. 1965 (Das Fischer-Lexikon 35/1) S. 317-333 (hierzu S. 326f); außerdem die Skizze von Franz Schultz, Die Entwicklung der Literaturwissenschaft von Herder bis Wilhelm Scherer. In: Philosophie der Literaturwissenschaft, hg. von Emil Ermatinger, Berlin 1930, S. 1-42. Wenig aufschlußreich Friedrich Neumann, Studien zur Geschichte der deutschen Philologie. Aus der Sicht eines alten Germanisten, Berlin 1971 (hierzu S. 92-96).

tentionen der Germanistik vor und zunächst noch nach 1848, wenn auch nach diesem Datum das politische Geschehen in Deutschland mehr und mehr in Richtung der Jahre 1870/71 driftete. Man verstellt sich daher den Blick, wenn man W. Scherer und seinen Zeitgenossen glaubt, die Reichsgründung i. J. 1871 sei die Erfüllung der politischen Wünsche und Hoffnungen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Grimms und ihre Zeitgenossen umgetrieben haben. In Wirklichkeit erfuhr der patriotische Nationalgedanke der GrimmGeneration9 und damit der politische Horizont, vor dem sich die neue Wissenschaft der Germanistik zu konstituieren gedachte, durch die Festlegung auf einen preußisch-deutschen Nationalismus eine erhebliche und folgenreiche Verengung.10 Bereits dieser Aspekt 9

Zum Nationalgedanken bei Jacob Grimm vgl. die Literaturhinweise bei L. Denecke (Anm. 5) S. 149; über die nationale Funktion von Wissenschaft vgl. J. Grimms Akademierede >Über Schule Universität Akademie (1849). In: Jacob Grimm. Kleinere Schriften (Bd. 1-5 hg. von Karl Müllenhoff; 6-8 hg. von Eduard Ippel, Berlin 1864-1890, Nachdruck Hildesheim 1965/66) 1. Bd. S. 210-254 (hierzu S. 213f). 10 Ein sinnfälliges Zeichen dafür ist die Berufung W. Scherers (1872) an die neugegründete Universität Straßburg, die »von vornherein als Festung des deutschen Geistes gegen Frankreich gedacht« war; vgl. Franz Greß, Germanistik und Politik. Kritische Beiträge zur Geschichte einer nationalen Wissenschaft, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971 (problemata 8) S. 60 und die Hinweise bei G. Reiß (Anm. 4) S. Xf. Wie sehr auch unter innenpolitischem Aspekt die Reichsgründung als Erfüllung früherer Hoffnungen angesehen wurde, zeigt das Vorwort, das Friedrich Theodor Vischer 1872 seiner Tübinger literarhistorischen Vorlesung (handschriftlich) vorangestellt hat: ».. . Ich sagte gewöhnlich: Wir Deutschen sind eine Nation, denn wir haben eine Literatur; aber wir haben keine reale Nation - und dann ist etwas hingekritzelt von einer Hoffnung, daß die politische Selbständigkeit später noch kommen werde. Ich empfand dabei immer eine eigene Unruhe. Zum ersten Mal hielt ich diese Vorlesung im Jahr 1850 nach dem Fehlschlag der Hoffnungen und schönen Bestrebungen auf ein Deutsches Reich, dann 1855 nach dem Krimkrieg, als Frankreich die erste Staffel zu seiner Stellung als erste Macht in Europa erstiegen hatte und Deutschland unthätig zugesehen. Und wieder 1860 [...] Endlich hielt ich sie zum Letztenmale hier, in diesem Saale im Winter 1867 voll heimlichen Zweifeins und Unbehagens, ob die Nation auch politisch lebendig werden würde in später Zeit. . . Und nun haben wir ein deutsches Reich, wir sind eine Nation geworden!«; zitiert nach Ursula Burkhardt, Germanistik in Südwestdeutschland. Die Geschichte einer Wissenschaft des 19. Jahrhunderts an den Universitäten Tübingen, Heidelberg und Freiburg, Tübingen 1976 (Contubernium 14) S. 173 Anm. 13.

legt es daher nahe, die germanistische Fachgeschichte vor 1871 erneut und mit größerem Nachdruck als bislang, einer einläßlichen Betrachtung zu unterziehen. 11 Methodologische Verengung Neben der politischen zeichnet sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch eine methodologische Verengung innerhalb des Fachs ab: Es erfolgt eine bewußte Hinwendung zum kausalitätsgesetzlichen Denken der Naturwissenschaften, von dessen geradezu atemraubenden Erfolgen man sich auch eine ebenso beachtliche Förderung der Sprach- und Literaturwissenschaften erhoffte.12 Die Fortschritte, die insbesondere auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft durch die Hinwendung zum Positivismus erzielt wurden, sind - man denke nur an die daraus resultierenden Leistungen der Junggrammatiker 13 - in der Tat beachtlich. Entsprechend hoch war aber auch der Preis, der für diese bis heute eindrucksvollen Ergebnisse entrichtet wurde: Abwendung von einem zuvor wesentlich weitergespannten historisch-gesellschaftlichen Denken und Einschränkung auf Erkenntnisgegenstände, die sich analog zu den Naturwissenschaften kausalgesetzlich fassen ließen - aus »sprachlichen Regeln« werden jetzt »Sprachgesetze«.14 Der nahezu fatalistische Determinismus, der zum »Eckstein«15 dieser methodologi11

Für die Zeit bis 1848 vgl. jetzt den Sammelbd.: Germanistik und deutsche Nation 1806-1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins, hg. von Jörg Jochen Müller, Stuttgart 1974. (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 2.) 12 Zu erinnern ist an das bekannte Wort W. Scherers, der geradezu hymnisch die Naturwissenschaft »als Triumphator auf dem Siegeswagen« feierte, »an den wir alle gefesselt sind«; vgl. den Abdruck des ganzen Zitats bei G. Reiß (Anm. 4) S. XXIV. 13 Vgl. das Resümee des Junggrammatikers Hermann Paul, Geschichte der germanischen Philologie. In: Grundriß der germanischen Philologie, hg. von H. P., 1. Bd. Straßburg 21901, S. 9-158 (hierzu S. 117-135) und B. Delbrück, Einleitung in das Studium der indogermanischen Sprachen, Leipzig 61919 (Bibliothek indogermanischer Grammatiken 4), Nachdruck Hildesheim 1976 (Documenta Semiotica Serie 1) S. 108-133. 14 Auf die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze insistierte in seiner Preisschrift der Slavist August Leskien, Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen, Leipzig 1876, Nachdruck Leipzig 1963. 15 Wilhelm Scherer, Zur Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1868

sehen Neuorientierung wurde, ließ Geschichte als Inbegriff menschlichen Handelns nurmehr verzerrt in den Blick kommen. Vergessen waren damit die Vorstellungen, die Jacob Grimm als Vorsitzender der ersten Germanistenversammlung in Frankfurt a. M. 1846 »Über den Wert der ungenauen Wissenschaften« für das Ziel einer politischen Einigung Deutschlands entwickelt hatte.16 Diese Gedanken stehen zwar an Genauigkeit den methodologischen Reflexionen der Scherer-Generation ganz offenkundig nach, und sie erscheinen (neben dem zeitbedingten Kolorit) nicht zuletzt aus diesem Grunde auch uns heute auf den ersten Blick etwas hausbakken, dennoch wird man ihnen nicht absprechen können, daß hinter der Anspruchslosigkeit der Formulierungen eine W. Scherer gegenüber bedeutend anspruchsvollere Konzeption einer Germanistik als Gesellschaftswissenschaft steht. Diese Konzeption war allein deswegen schon anspruchsvoller, weil die Bezeichnung »Germanist« noch keinesfalls auf die germanistischen Philologen beschränkt war, sondern auch Juristen17 und Historiker umfaßte. Diese Konzeption einer Germanistik erkannte der deutschen Philologie das volle Recht einer Einzelwissenschaft zu, sie wollte aber verhindern, daß diese Einzelwissenschaft zum (21878) formulierte in seiner Widmung an Karl Müllenhoff, daß der Determinismus »der Eckstein aller wahren Erfassung von Geschichte sei«; Teilabdruck der Widmung bei G. Reiß (Anm. 4) S. 1-3. 16 J. Grimm, Kl. Schriften (Anm. 9) 7. Bd. S. 563-566; vgl. dazu auch Helmut Jendreiek, Hegel und Jacob Grimm. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaftstheorie, Berlin 1975 (Philologische Studien und Quellen 76) S. 108-110; Peter Ganz, Jacob Grimm's conception of German studies, Oxfort 1973. 17 Und zwar die Vertreter der germanisch-deutschen Rechtstradition, die sich in Abhebung von den Romanisten (römisches Recht), von denen sie sich in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts trennten, Germanisten nannten; die Bezeichnung »Germanist« stammt also aus dem Bereich der Jurisprudenz. Vgl. Jacob Grimm, Über den Namen der Germanisten. In: J. G., Kl. Schriften (Anm. 9) 8. Bd. S. 568f und seine Eröffnungsrede auf der Frankfurter Germanistenversammlung »Über die wechselseitigen Beziehungen und die Verbindung der drei in der Versammlung vertretenen Wissenschaften«, ebda. S. 556-563; Jörg Jochen Müller, Germanistik eine Form bürgerlicher Opposition. In: Germanistik u. dt. Nation (Anm. 11) S. 5-112 (hierzu S. 5-10: Zur Bedeutungsgeschichte des Namens >GermanistLehrerversammlungen< von C. G. Firnhaber, in: Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, hg. von K. A. Schmid, 4. Bd. Gotha 2 1881, S. 496-508. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten die Brüder Grimm; auch das deutet darauf hin, daß mit den späteren Germanistenversammlungen ein wissenschaftliches Konzept intendiert war, das über die Zielsetzungen der Philologenversammlungen hinausging. 21 Das gilt natürlich nur mit Einschränkungen, da im Mittelpunkt der Philologenversammlungen die klassische Philologie stand, zu der dann sprachliche und nichtsprachliche Fächer traten; so tagte die Versammlung

nicht die Versammlungen von Frankfurt und Lübeck, die nurmehr sprachregelnd nachwirkten: für die deutschen Philologen bürgert sich mit der Zeit der Begriff »Germanist« ein.22 Die Gleichsetzung von Germanistik mit deutscher Philologie verschleiert, daß in diesem Fach nur ein Teilbereich einer ehemals weiter gefaßten Wissenschaft realisiert wurde, sie kann aber auch daran erinnern, daß die Bezeichnung »Germanistik« einstmals mehr als ein ausschließlich philologisches Fach gemeint hat. Erweiterter Gegenstandsbereich Als Pendant zur Beschränkung der Germanistik auf eine philologische Einzelwissenschaft erfolgte - wiederum in den Jahren nach der Reichsgründung - eine Ausweitung des philologischen Gegenstandsbereichs : die Germanistik wurde nach längerer Vorgeschichte nunmehr auch institutionell durch die n e u e r e L i t e r a t u r g e s c h i c h t e erweitert. 1874 errichtete man dafür in München den ersten Lehrstuhl (Inhaber: Michael Bernays), 1877 zog Berlin nach (Inhaber: Wilhelm Scherer). Zwar gab es früher schon Extraordinariate für neuere deutsche Literaturgeschichte,23 auf sie wurden in Halle 1867 in fünf Sektionen: Pädagogik, Orientalistik, Germanistik (= deutsche Philologie), Archäologie und Mathematik, vgl. Verhandlungen (Anm. 20) S. 25. 22 Die Bezeichnung ist jedoch nicht unbestritten: Rudolf Hildebrand lehnt sie in seiner Vorrede zu Bd. 5 des >Deutschen WörterbuchsDes Knaben Wunderhorn< von Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano32 oder die 1812/15 veröffentlichten >Kmderund Hausmärchen< der Brüder Grimm.33 Dagegen fällt der Erscheinungsbeginn (1819) der >Deutschen Grammatik< Jacob Grimms,34 der in fachgeschichtlichen Darstellungen öfters als Wendung zur wissenschaftlichen Germanistik bezeichnet wird, eher aus dem Rahmen dieser Zahlenreihe. 1810 in Berlin: Die erste germanistische Professur Angesichts dieser und anderer fachgeschichtlicher Daten könnte sich das Jahr 1810 als ein rechnerischer Mittelwert für die zeitliche Grenzziehung dieses Bändchens anbieten, der zugleich in etwa auch die Mitte zwischen den politischen Jahreszahlen 1806 und 1813/15 darstellte. Ausschlaggebend für die Grenzziehung im Jahr 1810 war im vorliegenden Zusammenhang aber ein institutionsgeschichtlicher Aspekt: in diesem Jahr wurde die Universität Berlin eröffnet und dabei die erste Professur für deutsche Sprache und Literatur eingerichtet,35 ein Extraordinariat ohne Besoldung, auf 1900 an der Universität Heidelberg. Ein Beitrag zur Geschichte der Heidelberger Germanistik. In: Ruperto-Carola 42, 1967, S. 205-239 (hierzu S. 206f); Karl Bartsch, Romantiker und germanistische Studien in Heidelberg 1804-1808, Heidelberg 1881. Vgl. auch Franz Schultz, Joseph Görres als Herausgeber, Litterarhistoriker, Kritiker im Zusammenhange mit der jüngeren Romantik, Berlin 1902 (Palaestra 12), Nachdruck New York 1967. 32 Vgl. die kritische Ausgabe von Heinz Rölleke, Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano, 3 Tie. Stuttgart 1975-1977 (Clemens Brentano. Sämtliche Werke und Briefe 6-8; 9/I-III: Lesarten und Erläuterungen); s. u. S. 61f. 33 2 Bde. Berlin 1812/15; erweiterte Neuausgabe 3 Bde. Berlin 1819/22 (Bd. 3 mit Varianten und Anmerkungen). Zahlreiche Literaturhinweise bei L. Denecke (Anm. 5) S. 66-84, 214f; s. u. Anm. 58 und S. 80-83. 34 4 Tie. Göttingen 1819 ( 2 1822, 3 1840), 1826, 1831, 1837. Nachdruck (der Ausgabe Berlin und Gütersloh 1870-1898) Hildesheim 1967. Ergänzend Karl Gustav Andresen, Register zu J. Grimms Grammatik, Göttingen 1865, Nachdruck Hildesheim 1971. Abdruck der Widmung und Vorrede von 1819 in J. Grimm: Kl. Schriften (Anm. 9) S. 25-96; Neudruck: Jacob Grimm, Vorreden zur Deutschen Grammatik von 1819 und 1822. Darmstadt 1968 (Libelli 214); s. u. S. 102-112. 35 Nominell hatte zwar bereits der Altphilologe Johann Christoph Schlüter

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das Friedrich Heinrich von der Hagen (der die Professur beantragt hatte) berufen wurde. Hinter der Einrichtung der Berliner Professur und der Besetzung durch v. d. Hagen deutet sich ein noch unzulänglich ausgeleuchteter politischer Kontext an, der sich ähnlich auch bei der Gründung der Berliner Universität und der damit eingeleiteten Universitätsreform zu erkennen gibt. Auf der einen Seite sollte die neugegründete Universität nach den vernichtenden Siegen Napoleons über Preußen (1806/07) zu einem Zentrum der patriotischen Neubesinnung werden, auf der anderen Seite verstand sich die Neugründung als »Institutionalisierung bürgerlicher Öffentlichkeit«36 mit deutlich antifeudaler und antiabsolutistischer Zielrichtung: Das Institut, das den Patriotismus gegen die napoleonische Fremdherrschaft stärken sollte, förderte zugleich den patriotischen Wunsch nach nationaler Einigung mit deutlich republikanischen Tendenzen. Angesichts dieses Dilemmas mußten die feudalen Mächte danach trachten, den bürgerlichen Patriotismus Schritt für Schritt in ihre Dienste zu nehmen.37 Vor dem angedeuteten Hintergrund ist offenkundig auch die Berufung v. d. Hagens zu sehen, die im Ministerium zunächst auf Zurückhaltung stieß, dann aber doch erfolgte: v. d. Hagen hatte sich durch seine Nibelungenlied-Bearbeitung,38 zu der ihn A. W. (1767-1841) seit 1801 an der Universität Münster eine Professur für deutschen Stil und deutsche Literatur (seit 1804 auch für römische Literatur), doch scheint es sich hierbei um einen Lehrauftrag in Form der früher schon an den Universitäten abgehaltenen Stilistika und literarhistorischen Überblicke gehandelt zu haben; vgl. Allgemeine deutsche Biographie 31, 1890, S. 614f und Ernst Müller, Die erste Universitätsprofessur der deutschen litteratur. In: Anzeiger f. dt. Altertum 17, 1891, S. 342f. Zur Typik der Stilistika und literarhistorischen Überblicke vgl. U. Burkhardt (Anm. 10) S. 80-88. 36 Vgl. zu diesem Aspekt J. J. Müller, Germanistik und antifeudale Opposition 1806-1819. In: Germanistik u. dt. Nation (Anm. 11) S. 45-83 (hierzu besonders S. 51-58). 37 Bezeichnend hierfür ist auch, daß Friedrich Wilhelm III. von Preußen die Bezeichnung »Freiheitskriege« durch den verengenden Begriff »Befreiungskriege« ersetzen ließ; vgl. J. J. Müller (Anm. 36) S. 47 und U. Burkhardt (Anm. 10) S. 172. 38 Der Nibelungen Lied. Berlin 1807; vgl. dazu Josef Körner, Nibelungenforschungen der deutschen Romantik, Leipzig 1911 (Untersuchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte NF 9) Nachdruck Darmstadt

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Schlegels vor der Universitätsgründung gehaltene Berliner Vorlesungen (1803/04) anregten,39 in Deutschland einen Namen als enthusiastischer Patriot gemacht, und dieser Patriotismus scheint es gewesen zu sein, der ihm, dem philologischen Dilettanten,40 schließlich den Ruf auf die erste germanistische Fachprofessur eintrug. Dies war ebenso ein persönlicher Erfolg wie ein Erfolg der patriotischen Bewegungen im Vorfeld der Freiheitskriege, gleichzeitig bot die Berufung aber auch der Staatsführung die Möglichkeit, die Aktivitäten v. d. Hagens im Vorfeld der Freiheitskriege besser zu steuern, sie zu kanalisieren und sie ihren Interessen dienstbar zu machen. So erfolgte bereits ein Jahr später eine Berufung v. d. Hagens an die eben gegründete Universität Breslau (1811), mit der die Bande zwischen Preußen und Schlesien verstärkt werden sollten. Hier wirkte v. d. Hagen - ab 1817 als Ordinarius - bis zu seiner Rückberufung nach Berlin (1824). Bemerkenswert ist aber auch diese Rückberufung, denn man zog dabei v. d. Hagen dem eindeutig besseren Philologen Karl Lachmann vor, der erst ein Jahr später und außerdem nur als Extraordinarius (ab 1827 Ordinarius) für deutsche und klassische Philologie von Königsberg nach Berlin geholt wurde. An der Errichtung und Besetzung der ersten germanistischen Professuren in Berlin und Breslau41 zeigt sich also deutlich, daß die 1968, Teil 3 und Otfrid Ehrismann, Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption des Nibelungenlieds von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, München 1975 (Münchner Germanistische Beiträge 14) S. 54-111 (Literatur); Helmut Brackert, Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie. In: Mediaevalia litteraria. Festschrift Helmut de Boor, München 1971, S. 343-364. Vgl. den Abdruck S. 63-66. 39 Zur Funktion der außeruniversitären Vorlesungen vgl. J. J. Müller (Anm. 36) S. 58-61. 40 Vgl. den Verriß der Nibelungenlied-Bearbeitung v. d. Hagens durch Wilhelm Grimm, Kleinere Schriften. Hg. von Gustav Hinrichs, Bd. l, Berlin 1881, S. 61-91 (Erstdruck 1809 in den Heidelberger Jahrbüchern). 41 Vgl. Lutz Mackensen, Breslaus erster Germanist. In: Jahrbuch d. schlesischen Friedrich-Wilhelm-Univ. Breslau 3, 1958, S. 24-38. - Wie mühselig der Weg des jungen Fachs Germanistik zur anerkannten Universitätsdisziplin war, zeigte die Nachfolge v. d. Hagens in Breslau: berufen wurde sein Mitarbeiter Johann Gustav Büsching, die Stelle dabei aber in einen Lehrstuhl für Archaeologie (Altertumskunde) umgewandelt; vgl. Theodor Siebs, Zur geschiente der germanistischen Studien in Breslau. In: Zs. f. dt. Philologie 43, 1911, S. 202-234.

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Etablierung der Germanistik als Universitätsfach zunächst nicht im Blick auf die philologische Qualifikation der neuen Disziplin und ihrer Vertreter erfolgte, sondern offenkundig von politischen Interessen geleitet war.42 Beide Zäsuren innerhalb der germanistischen Fachgeschichte, die Jahre um 1870 wie die um 1810, stehen demnach unübersehbar in einem politischen Zusammenhang. Dennoch wäre es zur Erhellung des historischen Kontexts wenig dienlich, wenn man die Vorgänge an diesen beiden fachgeschichtlich bedeutsamen Zeitgrenzen vorschnell parallelisierte, so wie dies von Germanisten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts teilweise geschah, um sich auf diese Weise als berechtigte Erben der germanistischen Gründergeneration zu legitimieren. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß vom Patriotismus eines v. d. Hagen und vom ersten Aufschwung der Germanistik als Universitätsdisziplin an den neugegründeten preußischen Hochschulen erkennbare Fäden zu einer Germanistik führen, die sich nach der Reichsgründung als nicht unerhebliches Moment der preußisch-deutschen Ideologiebildung zu erkennen gibt. Es wäre aber eine unberechtigte Verkürzung, wenn man allein auf der Grundlage dieser Verbindungslinien glauben machen wollte, es seien nach der Reichsgründung die Vorstellungen verwirklicht worden, die in der ersten Germanistengeneration zur Funktion des Fachs entworfen worden sind. ZWISCHEN ANFANG UND ENDE Die unterschiedlichen Konturierungen, in denen sich das Fach an den beiden fachgeschichtlichen Zäsuren präsentiert, kommen vor allem dann in den Blick, wenn man die Motivationen und Intentionen, die wissenschaftstheoretischen und methodologischen Prämis42

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Vgl. auch J. J. Müller, Aspekte der Universitätsgermanistik. In: Germanistik u. dt. Nation (Anm. 11) S. 83-112 (hierzu S. 83-92). - Die Verschränkung zwischen Germanistik und Politik zeigt sich in Berlin auch während v. d. Hagens Breslauer Aufenthalt: es »fiel in den bewegtesten Tagen nationaler Erhebung die Lehre vom deutschen Altertum und von deutscher Sprache dem Geographen und Blindenlehrer [Johann August] Zeune zu, der durch patriotische Herzensbegeisterung ersetzte, was ihm an Philologie abging«; [Gustav] Roethe, Das germanistische Seminar. In: Max Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 3. Bd. Halle a. d. S. 1910, S. 222-230 (Zitat S. 223).

sen und die gesellschaftliche Funktion der Germanistik in den Jahren um 1810 und um 1870 miteinander vergleicht. Politische Intentionen Ein solcher Vergleich scheint am ehesten im Bereich der Motivationen und Intentionen beträchtliche Übereinstimmungen an den Tag zu fördern. Doch dieser Schein trügt, denn der Patriotismus, der die Germanisten um 1810 zu ihren Arbeiten antreibt, hat - wie schon angedeutet - nur partiell etwas mit dem Nationalismus gemein, der nach der Reichsgründung in der Germanistik zum Tragen kommt: Zielte dieser Nationalismus auf eine Vormachtstellung Deutschlands unter den europäischen Mächten, so richtete sich der Patriotismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts 43 zum einen gegen die Vorherrschaft Frankreichs in Europa und insbesondere gegen die napoleonische Fremdherrschaft in Deutschland, zum ändern aber ebenso gegen die deutsche Kleinstaaterei der Fürsten, deren Eigennutz die nationale Einigung Deutschlands hinderte und damit die politischen Ziele Napoleons förderte. Vor diesem Hintergrund muß die Rückbesinnung auf eine gemeinsame und damit einigende nationale Tradition gesehen werden, die man - durch die Romantik entscheidend angeregt - vor allem in den gemeinsamen Literatur-, Sprach- und Rechtstraditionen und in der gemeinsamen Geschichte erkannte und die sich auch in der Sektionsbildung der beiden Germanistenversammlungen niederschlug. Die Wirksamkeit dieses Konzepts belegen die Erfolge der Freiheitskriege, aber auch (unter negativem Aspekt) die sofort danach einsetzende Reaktion der Feudalmächte gegen einen Patriotismus, der als nächstes Ziel die nationale Einigung anstrebte.44 Im Sieg der Reaktion, in den Enttäuschungen über die politische Entwicklung nach 1815 und nach 1848/49 liegen Gründe dafür, daß der ur43

Seine Wurzeln reichen bis zum Humanismus zurück; eine Skizzierung seiner Fazetten muß Bd. l und 2 der vorliegenden Reihe vorbehalten bleiben. Zahlreiche Hinweise auf patriotische Akzente in der Literaturwissenschaft gibt S. v. Lempicki (Anm. 26). Vgl. auch Franz Schnabel, Der Ursprung der vaterländischen Studien. In: Blätter f.dt.Landesgeschichte 88, 1951, S. 4-27. 44 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Abschnitt über >kriminelle< Germanisten bei J. J. Müller, Germanistik - eine Form bürgerlicher Opposition. In: Germanistik u. dt. Nation (Anm. 11) hierzu S. 39-45.

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sprüngliche patriotische Elan der Germanisten entweder erlahmte, sich - vor allem in der Auseinandersetzung mit der klassischen Philologie - in hochgesteckten innerwissenschaftlichen Zielsetzungen erschöpfte oder aber zu jenem Nationalismus mutierte, wie er uns im Zusammenhang mit der Reichsgründung entgegentritt. Wissenschaftliche Prämissen Grundlegend verschieden sind aber auch die wissenschaftstheoretischen und methodologischen Prämissen des Fachs an den beiden Zeitgrenzen, obschon die Ansätze zunächst wiederum vergleichbar erscheinen: hier wie dort präsentiert sich die Germanistik als eine ausgesprochen historische Disziplin, als eine Wissenschaft, die ihr Interesse lieber auf die Vergangenheit als auf die Gegenwart oder gar in die Zukunft lenkt. Bei schärferem Licht werden unter dieser scheinbar homogenen Oberfläche gleichfalls diametrale Positionen sichtbar. Wie schon angedeutet, diente die Geschichte der positivistisch orientierten Germanistik dazu, für sprachliche Veränderungen und für literarisches Schaffen gleichsam naturwissenschaftlich exakte Gesetze zu finden. Um hierbei möglichst genaue Aussagen zu erhalten, bedurfte es einer ausgesprochenen Faktenvielfalt, die man durch weite historische Rückgriffe und zum ändern durch eine zunehmende Einbeziehung der neuzeitlichen Überlieferung mit ihrem größeren Quellenreichtum gewann. Dieser Ansatz legitimierte das Studium älterer wie neuerer Sprach- und Literaturstufen, mündete aber - um es zu wiederholen - letztlich in einem nahezu fatalistischen Determinismus. Im Unterschied zur Zeit Wilhelm Scherers und seiner Nachfolger konzentrierte sich die Germanistik zu Beginn des 19. Jahrhunderts weitgehend auf die Erforschung des deutschen Mittelalters und des germanischen Altertums; vor allem aber stand dieser dezidiert historische Rekurs in einem völlig anderen Begründungszusammenhang: Die Mittelalterbegeisterung der Germanisten um und nach 1810, die auf der breiten Mittelalterrezeption der Romantik aufruhte, 45 muß nämlich als Pendant zu den patriotischen Zielset45

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Auch hier lassen sich Verbindungslinien bis zu den Humanisten zurückverfolgen; vgl. zum gesamten Aspekt Bd. l und 2 der vorliegenden Reihe und Gerard Kozielek (Hg.), Mittelalter. Texte zur Aufnahme altdeutscher Literatur in der Romantik, Tübingen 1977. (Deutsche Texte 47). - Deutliche Reserve gegenüber diesem Ansatz bei Goethe, vgl. Helmut Brackert,

zungen dieser Zeit gesehen und gewertet werden. Mit dem Schritt in die Vergangenheit wollte man die unbefriedigenden Zustände der Gegenwart aufdecken, wollte man handlungsleitende Perspektiven zur Überwindung politischer Mißstände gewinnen und das Bewußtsein dafür wecken, daß die gesellschaftliche Realität nicht naturgegeben, sondern historisch geworden und damit auch veränderbar ist. Der Gang in die Vergangenheit dient hier also nicht der Datensammlung zur Gewinnung gesetzesmäßiger Determinanten menschlichen Handelns, sondern versteht sich als ein »Anlauf in die Zukunft« :46 Die Distanzierung von der Gegenwart sollte eine Hilfestellung bei der Veränderung der gegenwärtigen Zustände geben. Diese Perspektive macht verständlich, warum sich die Germanistik zunächst als Altgermanistik konstituierte. Die Bedeutung dieses wissenschaftstheoretischen und methodologischen Ansatzes verdeutlicht ein Vergleich mit der vorherrschenden Form der Mittelalterbeschäftigung im 18. Jahrhundert (die freilich auch dem 19. Jahrhundert nicht ganz fremd blieb): »Ihr Grundzug war höfisch-konservativ. Sie steht im Zusammenhang mit der feudalen Vorliebe für die >Gothicspatriotisch< ausgerichtet, aber völlig volksfern.»47 Allerdings ist nicht zu verkennen, daß die Orientierung des historischen Rekurses auf Gegenwart und Zukunft, wie er für das beginnende 19. Jahrhundert bestimmend war, nicht durchgehalten wurde und mehr und mehr verloren ging. Enttäuscht in den innenpolitischen Hoffnungen, die sich an die Freiheitskriege und an die »Die Bildungsstufe der Nation« und der Begriff der Weltliteratur. Ein Beispiel Goethescher Mittelalterrezeption. In: Goethe und die Tradition, hg. von Hans Reiss, Frankfurt/M. 1972 (Wissenschaftliche Paperbacks, Literaturwissenschaft 19) S. 84-101. 46 Nach der Formulierung von Robert Weimann, Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichte. In: R. W., Literatur, Gesellschaft und Mythos, Berlin 1972, S. 11-46, 453-458; Wiederabdruck u.a. bei Thomas Gramer/Horst Wenzel (Hg.), Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte. Ein Lesebuch zur Fachgeschichte der Germanistik, München 1975, S. 463-504 (Zitat S. 29 bzw. 481); eine frühere Fassung des Aufsatzes in: Weimarer Beiträge 16, 1970, Heft 5, S. 31-57.

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politischen Ereignisse des Jahres 1848 geknüpft hatten, gerieten die Schritte zurück in die Vergangenheit zunehmend zu einer Fluchtbewegung aus der bedrückenden Gegenwart: sei es, daß man im Mittelalter eine bessere Vergangenheit zu erblicken glaubte, sei es, daß die Beschäftigung mit dem Mittelalter (in Abhebung zur Altphilologie) eine neue Möglichkeit für eine private Karriere in Hochschule und Schule eröffnete. Unter diesem veränderten Vorzeichen entpuppte sich die Mythisierung der Vergangenheit, die in der ersten Germanistengeneration insbesondere der einflußreiche Jacob Grimm kräftig zum Zuge brachte, als eine problematische und gefährliche Komponente der patriotischen Mittelalterbegeisterung. Gesellschaftliche Funktion Dieser Aspekt lenkt das Augenmerk zugleich auf die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Germanistik an den beiden fachgeschichtlichen Zäsuren. Die Disziplin versteht sich hier wie dort als treibende Kraft eines nationalen Sozialisationsprozesses, die dabei angesteuerten Ziele erweisen sich aber wiederum als völlig inkongruent. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts tritt uns die Germanistik zunehmend als eine Qualifikationsinstanz bürgerlicher Mittel- und Oberschichten entgegen; sie erlaubte es dem Bürgertum, sich nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch mittels einer signifikanten Bildung als Stand nach außen abzugrenzen und nach innen zu formieren. Dazu verwaltete das Fach in Hochschule und Schule einen Wissensvorrat, dessen Aneignung nunmehr zu den bürgerlichen Standespflichten avancierte. In diesem Abgrenzungsprozess erscheint es nur als folgerichtig, wenn das Interesse primär der »hohen« Literatur gilt, in deren Glanz sich das gebildete Bürgertum von den Ungebildeten unübersehbar abhebt. Der Germanistik wächst in dieser Zeit also die gesellschaftliche Funktion zu, über die höheren Bildungseinrichtungen durch Einforderung eines bestimmten Bildungsniveaus eine deutliche Abgrenzung der sozialen Schichten und Stände mit zu garantieren. Mit einer solchen Konzeption erfolgte geradezu eine Umkehrung der Ziele, die sich die Germanisten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gesteckt hatten. Hier sah man nämlich als zentrale Aufgabe des Fachs die Herausarbeitung einer kulturellen Tradition, die Erbe und Eigentum des g a n z e n Volks war und die eben damit 22

Grundlage für die ausstehende nationale Einigung werden sollte. Damit verbot sich eine Begrenzung des Interesses auf die Kulturtradition ausgewählter Gesellschaftsschichten und Stände, verbot sich etwa im philologischen Bereich eine Fixierung auf »hohe« Literatur und auf Hochsprache. Das Interesse richtete sich nachdrücklich auf die Volksüberlieferung (so heterogen auch nach unserem heutigen Wissen das unter diesem Begriff Subsumierte war), auf Volkslieder, wie etwa die 1805/08 erschienene Sammlung >Des Knaben Wunderhorn< 48 oder auf die Volksbücher, derer sich Joseph Görres 1807 annimmt;49 vor allem sind hier aber die >Kinder- und Hausmärchen< (1812/15) der Brüder Grimm und ihre - allerdings wenig erfolgreiche - Sammlung >Deutsche Sagen< (1816/18) zu nennen.50 Im Rahmen dieser Vorstellung, die eine umfassende nationale Kulturtradition ins Bewußtsein rufen wollte, sind auch Jacob Grimms rechtsgeschichtliche und mythologische Forschungen zu sehen.51 Eine wichtige Ergänzung erfuhr dieser Ansatz durch Arbeiten zu deutschen Mundarten; auf diesem Gebiet setzte Johann Andreas Schmellers vierbändiges >Bayerisches Wörterbuch< (1827/37) einen bedeutenden Meilenstein.52 Die Mundartkunde entfernte sich dabei 47

Ludwig Denecke, Eine neue Philologie. Zum Briefwechsel Jacob Grimms . . . In: Hessische Blätter f. Volkskunde 64/65, 1974, S. 1-27 (Zitat S. 3). 48 S. o. Anm. 32. - Von den zahlreichen weiteren Sammlungen und Arbeiten seien hervorgehoben: Hoffmann von Fallersieben, Geschichte des deutschen Kirchenliedes bis auf Luthers Zeit, Breslau 1832, Hannover J 1861 (Nachdruck Hildesheim 1965) und Ludwig Uhland, Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, 2 Bde. Stuttgart 1844/45, Nachdruck (mit Ergänzungen aus Uhlands »Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage«, Stuttgart 1866/69 und einem Vorwort von W. Heiske) 3 Bde. Hildesheim 1968. 49 Die teutschen Volksbücher, Heidelberg 1807; Wiederabdruck: Joseph Görres, Geistesgeschichtliche und literarische Schriften I (1803-1808) hg. von Günther Müller, Köln 1926 (Joseph Görres, Gesammelte Schriften 3) S. 167-293; s. u. S. 67-79. Vgl. auch Günther Voigt, Friedrich Engels und die deutschen Volksbücher. In: Dt.Jahrbuch f.Volkskunde l, 1955, S. 65-108. 50 Zur Märchensammlung s. o. Anm. 33 und u. Anm. 58, zu den Sagen die Literaturhinweise bei L. Denecke (Anm. 5) S. 84-86. 51 Vgl. die Literaturhinweise bei L. Denecke (Anm. 5) S. 105-112 (Rechtsgeschichte) und S. 112-116 (Mythologie). 52 3. Neudruck der von G. Karl Frommann bearbeiteten Ausgabe München

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nur scheinbar vom Konzept einer Erforschung umfassender Kulturtraditionen, denn sie lenkte die Aufmerksamkeit auf lebende Sprachtraditionen innerhalb größerer Sprachregionen und konkretisierte damit die gesellschaftliche Zielsetzung des neuen Fachs. Alle diese Bemühungen lassen sich unter der Charakterisierung zusammenfassen, mit der Louis L. Hammerich die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung Jacob Grimms umreißt: »Das Erbe der Antike war seit der Renaissance, unbewußt und sehr selbstbewußt, auf allen Gebieten der Wissenschaft und der Religion, der Literatur, des Theaters, der Musik, der bildenden Künste, eine isolierte Kultur der herrschenden Klasse. Erst mit und seit Jacob Grimm hat man erkannt, daß es eine Kultur des Volkes, der nicht herrschenden Klassen, gibt, die, im steten Wechselspiel mit der höheren Kultur, zum Teil eigenen Gesetzen gehorcht.«53 Mythisierungen So imposant sich dieses soziokulturelle und politische, auf die nationale Einigung des ganzen Volkes gerichtete Konzept auch ausnimmt, so wenig können und dürfen seine problematischen Seiten verkannt werden. Sie lassen sich im Begriff einer romantischen, teilweise auf Herder zurückgehenden Mythisierung von Volk und Geschichte zusammenfassen. Durch diese nahezu sakrale Aufwertung von Volk und Geschichte wird entgegen der ursprünglichen Intention ein Enthistorisierungsprozeß in Gang gesetzt. In ihm gewinnt eine mythische Vergangenheit zunehmend an Anziehung, während Gegenwart und Zukunft mehr und mehr verblassen, so daß sich die konkrete gesellschaftliche Realität zu einer abstrakten Vorstellung 1872-77. Mit der wissenschaftlichen Einleitung zur Ausgabe Leipzig 1939 von Otto Mausser und einem Vorwort von 1961 von Otto Basler, 2 Bde. Aalen 1973. - Vgl. Richard J. Brunner, Johann Andreas Schmeller. Sprachwissenschaftler und Philologe, Innsbruck 1971 (Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft 4) und Hans Pörnbacher, Johann Andreas Schmeller als Wegbereiter der Mittelalterforschung. In: Festgabe Paul P. Wessels, Nijmwegen 1974, S. 41-59; s. u. S. 112-115. "Jacob Grimm und sein Werk. In: Brüder Grimm Gedenken 1963. Gedenkschrift. .. hg. von Ludwig Denecke und Ina-Maria Greverus, Marburg 1963 (Hessische Blätter f. Volkskunde 54) S. 1-21 (Zitat S. 5); vgl. auch Herbert Kolb, Karl Marx und Jacob Grimm. In: Archiv f. d. Stud. d. neueren Sprachen u. Literaturen 206, 1970, S. 96-114. 24

von Volk verflüchtigt, die schließlich ideologisch beliebig verwendbar wird.54 Die These von einem ehemals »goldenen Zeitalter« mußte ihr gegenwartskritisches und -veränderndes Potential einbüßen, wenn die Geschichte nurmehr als ein Verfallsprozeß erschien, der die Menschheit immer weiter von einem postulierten paradiesesähnlichen Ursprung wegführte. Die Wertung des historischen Prozesses als Verfall und Abfall führt zwar auf einem anderen Weg, aber eben doch auch zu einem Determinismus, wie er später für die positivistische Germanistik bestimmend wurde. Was als kritische Gegenposition zu einer unbefriedigenden Gegenwart konzipiert war, verwandelte sich ins Gegenteil: die Vorstellung einer bereits einmal realisierten idealen Gesellschaftsform war nicht mehr der Hoffnungsschimmer, der zur Veränderung der bestehenden Realität anspornte, sondern Ausdruck eines hoffnungslosen Eskapismus. Diese Wirklichkeitsflucht trat in zwei Varianten auf: entweder wandte man sich ganz von der Gegenwart ab und floh in die Idyllik einer traumhaften Vergangenheit, oder aber man träumte davon, diese Vergangenheit zu repristinieren. In jedem Fall verschleuderte die Mythisierung von Geschichte die Gewinne, die aus dem entdeckten historischen Ansatz eben reichlich zu fließen begannen.55 Die wachsende Realitätsferne, die aus dem unentwegten Beschwören einer großen Vergangenheit folgte, löste die Sprach- und Literaturwissenschaft mehr und mehr aus dem gesellschaftlichen Legitimationszusammenhang, bis die historische Philologie schließlich in den letzten Jahren sogar in Gefahr kam, nur noch als archivierende Hilfswissenschaft Anerkennung zu finden. Ausgesprochene Realitätsferne war aber auch die Folge einer mythischen Vorstellung von Volk. Dabei muß wiederum im Auge behalten werden, daß die Aufwertung des Begriffs »Volk« zunächst 54

Vgl. Wolfgang Emmerich, Zur Kritik der Volkstumsideologie, Frankfurt a. M. 1971 (edition suhrkamp 502) und modifizierend Klaus von See, Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1975. 55 Die Problematik dieses Ansatzes auch für die Gegenwartsliteratur wurde von Franz Grillparzer deutlich erkannt; vgl. Eugen Thurnher, Grillparzer und die altdeutsche Dichtung. In: Strukturen und Interpretationen. Festschrift Blanka Horacek, Wien, Stuttgart 1974 (Philologica Germanica 1) S. 321-339. 25

eine nahezu revolutionäre Dimension besaß, da mit »Volk« eben »das gemeine Volk, der große Hauffe, gemeine Leute, die untersten Classen im Staat«56 gemeint waren. Wenn sich daher die Germanistik in ihren Anfängen der Poesie des Volks, der »Volkspoesie«, zuwandte und sie gegen die Poesie der Gebildeten und der Höfe, also gegen die »Kunstpoesie« abhob, dann stand dahinter durchaus eine politische Zielsetzung mit demokratischer Tendenz. Aber auch hier verkehrte eine Mythisierung des Volkstums die anfängliche Intention in ihr Gegenteil. Die Meinung, in der Volkspoesie der ungebildeten Schichten habe sich die ursprüngliche Poesie des »goldenen Zeitalters«, habe sich die »Naturpoesie« in die Gegenwart herübergerettet, hypostasierte die Kulturtradition unterpriveligierter Bevölkerungsschichten in wirklichkeitsfremder Weise. Dabei entschwand gleichfalls die Gegenwart aus dem Gesichtsfeld, und es schlug eine kritische m eine utopische Position um. Besonders deutlich tritt das in der Hinwendung zum bäuerlichen Bereich zutage, der immer weniger als eine kritische Gegenposition zur rasch fortschreitenden Industrialisierung und Kommerzialisierung und der damit verbundenen Entfremdung betrachtet, der vielmehr zum Garanten einer unverdorbenen, »gesunden« Kulturtradition emporstilisiert wurde. Mit der daraus resultierenden Bildungsfeindlichkeit verwickelte sich das skizzierte Konzept in innere Widersprüche, mit der Zentrierung auf den bäuerlichen Bereich und der damit verbundenen Ausblendung anderer ungebildeter Schichten (Arbeiter, Kleinbürger) büßte es weitgehend seine bildungspolitische Kraft ein, ja noch mehr: es eröffnete die Möglichkeit, durch Berufung auf eine »völkische« Kultur alles »auszumerzen«, was zum »Nichtvölkischen« deklariert wurde. Wie sehr bereits zur Zeit der Brüder Grimm die Flucht aus der sozialen Realität in ein sentimental-utopisches Wunschdenken zu dubiosen und falschen Beschreibungen historischer wie zeitgenössischer Tatbestände führen konnte, mögen zwei Beispiele illustrieren; sie sind deswegen ausgewählt worden, weil sich an ihnen besonders deutlich zeigt, wie ein von Anfang an verkehrter Blickwinkel die Forschung bis auf unsere Tage maßgebend beeinflußt hat. "Johann Christoph Adelung, Versuch eines vollständigen Grammatischkritischen "Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart... 4. Tl. Leipzig 1780, Sp. 1613; so auch noch in der Neuausgabe durch Franz Xaver Schönberger im 4. Tl. Wien 1808, Sp. 1225.

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Das eine Beispiel stammt aus dem Bereich der deutschen Rechtsgeschichte: hier vertrat Jacob Grimm die Auffassung, die »Weistümer« - deren Sammlung und Edition er dankenswerterweise in die Wege geleitet hat - seien Dokumente alten Bauernrechts, bei unbefangener Betrachtung zeigt sich jedoch, daß wir ganz im Gegenteil »schriftlich niedergelegte Grundrechte der Herrschaft gegenüber ihren Hintersassen«57 in dieser Rechtstradition greifen. Ein analoger Sachverhalt tritt uns - um ein Beispiel aus dem literarischen Bereich zu geben - bei den >Kinder- und Hausmärchen< entgegen, die nach Heinz Röllekes Nachweis eben nicht von älteren Leuten aus einfachem, zum Teil bäuerlichem Milieu stammen, sondern aus dem wohlsituierten Stadtbürgertum, und sie repräsentieren auch nicht lupenrein urdeutsches Erzählgut, sondern gehen zu einem Gutteil auf französische Quellen zurück, nämlich auf die beiden Märchensammlungen (1697) Charles Perraults und Mme d'Aulnoys58 - Fakten, die von den Brüdern Grimm bis in die sprachliche Bearbeitung der Texte hinein verschleiert wurden. Das Mythologem einer vorbildlichen, weil noch unverfälschten Kulturtradition ungebildeter Schichten münzte objektive Sachverhalte auf geradezu groteske Weise in ihr Gegenteil um: aus Herrenrecht wurde bäuerliches Volksrecht, aus stadtbürgerlichem Erzählrepertoire teils französischer Provenienz eine Sammlung alter deutscher Märchen einfacher, bäuerlicher Kreise. Es kann hier nicht darum gehen, von besserer Position aus über solche und andere Verquerheiten Gericht zu halten, es sollte vielmehr deutlich gemacht werden, daß die Germanistik in ihren wissenschaftlichen Anfängen mit einem imponierenden Konzept aufwartete, diese kulturpolitische Konzeption aber durch eine Mythisierung ihrer zentralen Komponenten und - damit verbunden durch eine Abwendung von der Gegenwart selbst desavouierte. Dieser Befund verbietet, bei einer Neuorientierung des Fachs unbesehen (wenn auch unter Berücksichtigung der veränderten historischen Situation) an dessen Anfängen anzuknüpfen. Ein solcher 57

Helmuth Stahleder, Weistümer und verwandte Quellen in Franken, Bayern und Österreich. Ein Beitrag zu ihrer Abgrenzung. In: Zs. f. bayerische Landesgeschichte 32, 1969, S. 525-605, 850-885 (Zitat S. 564). 58 Heinz Rölleke (Hg.), Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Synopse der handschriftlichen Urfassung von 1810 und der Erstdrucke von 1812, Cologny-Geneve 1975 (Bibliotheca Bodmeriana, Texte 1), hierzu S. 390f. - Zur Ausgabe der Sammlung s. o. Anm. 33.

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Rat förderte selbst wiederum eine Mythisierung, nämlich die der fachgeschichtlichen Anfänge, indem er die schwerwiegenden Belastungen unterschlüge, an denen das Fach seit Beginn zu tragen hatte. Nicht minder problematisch sind aber auch jene Voten, die im Blick auf die Irrwege, wie sie bereits zu Beginn der wissenschaftlichen Germanistik sichtbar werden, für eine radikale Reduktion historischer Fragestellungen und Gegenstände plädieren, um bei einer Neuorientierung des Fachs vor allem aktuelle Gegenwartsinteressen zu Wort kommen zu lassen. Hier wird nicht gesehen, daß die geschichtslose Preisgabe an die Gegenwart wegen ihrer Perspektivlosigkeit ebenso in die Irre führt wie ein ahistorisches Versinken in vergangene Kulturtraditionen: einer Mythisierung der Vergangenheit hier entspricht dort eine Hypostasierung der Gegenwart. Beide Positionen verspielen so den Ansatz, der zur Begründung der Germanistik als "Wissenschaft geführt hat: sie sollte Geschichte als Sammlung menschlicher Langzeiterfahrung und die Differenzen zwischen vergangenen und gegenwärtigen Sprach-, Literatur- und Kulturtraditionen zur Entwicklung historischer, auf Gegenwart und Zukunft gerichteter Perspektiven nützen. Diese ursprüngliche Konzeption ist bis heute von keinem anderen Ansatz überholt worden; dies erklärt, warum sich die Germanistik neuerdings wieder nachdrücklicher als historisches Fach im beschriebenen Sinn versteht. Die Annäherung an diesen zentralen wissenschaftstheoretischen Ansatz der ersten Germanistengeneration kann und darf sich jedoch ebenfalls nicht als bloße Rückkehr zu den Anfängen unter Vermeidung erkannter Irrwege verstehen. Eine solche Vorstellung wäre wiederum ahistorisch, denn die Fluchtpunkte einmal entwickelter historischer Perspektiven sind keine zeitlosen Fixpunkte, sondern werden vom jeweiligen Gegenwartsinteresse mitbedingt. Es kann daher in einer historisch verstandenen Wissenschaft keine zeitlos gültigen Werke geben, wohl aber epochemachende Arbeiten, die durch ihre historische Größe immer wieder zu einem Gesprächsangebot gerade in einer historisch veränderten Situation werden. So wäre es etwa - um dies an einem Beispiel zu illustrieren wissenschaftlich gesehen völlig unsinnig, die Literaturgeschichte von G. G. Gervinus heute in einer »neuen, verbesserten Auflage« erscheinen zu lassen, obschon die Wissenschaftlichkeit dieses Werks (trotz Einwände) weder von Jacob Grimm noch von Karl 28

Bartsch (dem Mitbetreuer der letzten Auflage) in Frage gestellt wurde: Das Werk ist so sehr geschichtlich geworden, daß es in der vorliegenden Form nicht mehr erneuert werden kann. Damit kommt ihm aber keinesfalls nur musealer Wen zu, es konfrontiert uns vielmehr mit der Frage, ob und inwieweit es sinnvoll oder sogar notwendig ist, vor verändertem historischen Horizont die dort entwickelten und verwendeten historiographischen Prinzipien auch heute literarhistorischen Darstellungen zugrunde zu legen.59 Germanisierung Mit der Mythisierung von Geschichte und einfachen, volksnahen Kulturtraditionen steht eine nachhaltige Hinwendung der Germanistik zur nordischen Kultur, zu nordischer Mythologie, Literatur und Sprache in engem Zusammenhang. Bei der Konkretisierung des postulierten »goldenen Zeitalters« ergab sich nämlich sehr schnell, daß sowohl die archäologischen wie die literarischen Quellen für Deutschland mehr als spärliche Belege lieferten. Diese Beweisnot ließ sich jedoch durch eine Ausweitung des Forschungsbereichs auf die überaus reiche altnordische Überlieferung aufs beste beheben, denn mit dieser, aus einer primitiveren Gesellschaftsform stammenden Tradition konnte das Wunschbild einer hochstehenden, aber von einfachen Schichten getragenen, volksnahen Kultur scheinbar völlig zweifelsfrei belegt werden: »Der Deutsche e r b o r g t sich sozusagen vom Skandinavier die nationale Vergangenheit, das nationale Kulturbewußtsein.«60 59

Zu den Ausgaben s. o. Anm. 24; die Rezension J. Grimms in seinen Kl. Schriften (Anm. 9) 5. Bd. S. 176-187. Vgl. Rolf-Peter Carl, Prinzipien der Literaturbetrachtung bei Georg Gottfried Gervirius, Bonn 1969 (Literatur und Wirklichkeit 4) und die Hinweise bei Karl-Heinz Götze, Die Entstehung der deutschen Literaturwissenschaftals Literaturgeschichte. Vorgeschichte, Ziel, Methode und soziale Funktion der Literaturgeschichtsschreibung im deutschen Vormärz. In: Germanistik u. dt. Nation (Anm. 11) S. 167-226 (hierzu S. 212-226); Edgar Marsch (Hg.), Über Literaturgeschichtsschreibung. Die historisierende Methode des 19. Jahrhunderts in Programm und Kritik, Darmstadt 1975. (Wege der Forschung 382.) 60 Klaus von See, Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1970, S. 36; vgl. auch Hermann Bausinger, Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse, Berlin und Darmstadt o. J. [1972] 1. und 2. Kapitel und die Hinweise bei U. Burkhardt (Anm. 10) S. 123-126. 29

Hinter diesem Vorgang, der durch den wissenschaftlichen Vorsprung der nordischen Altertumskunde gefördert wurde, stehen nationale Denkmuster, die wiederum bis zum Humanismus zurückreichen; unmittelbare Vorarbeit haben hier aber insbesondere Herder und die Romantik geleistet.61 Daher schien man gute Tradition fortzuführen, wenn man diesen Gesichtspunkt nunmehr auf eine wissenschaftliche Basis stellte und den Forschungsbereich der Germanistik von deutscher auf nordische und weiterhin auf germanische Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte (also unter Einschluß der gesamten germanischen Überlieferung) ausweitete: Man glaubte, unter dieser Perspektive die Fachbezeichnung »Germanistik« inhaltlich erst richtig ausgefüllt zu haben.62 Bedeutenden Gewinn aus dem solchermaßen erheblich vergrößerten Arbeitsfeld zog vor allem die Sprachwissenschaft, die ihren glanzvollen Aufschwung im 19. Jahrhundert und ihre glänzenden Ergebnisse eben diesem erweiterten Gesichtsfeld dankt. In den anderen Teilgebieten des Fachs beschränkt sich der gültige Ertrag zum Gutteil auf die immensen Materialsammlungen, die für die germanische Mythologie und Religionsgeschichte, für die germanische Altertumskunde und Rechtsgeschichte und für die heroische Literatur angelegt wurden, während die Deutung dieser Faktenfülle heute auf ausgesprochene Zurückhaltung und nicht selten auf Ablehnung stößt. Die Gründe hierfür liegen in den politischen Implikationen dieses Germanismus. 63 Zwar darf - wie bei der Entwicklung und Förde61

Dazu die Übersicht bei K. v. See (Anm. 60). Ein wichtiger Vermittler bei der Rezeption nordischer Literatur war F. D. Gräter; zu ihm vgl. D. Narr (Hg.), Friedrich David Gräter 1768-1830, Schwäbisch Hall 1968. (Württembergisch Franken, Jahrbuch 52.) 62 Der Vorgang dokumentiert sich bis heute in zahlreichen Seminarbezeichnungen (Germanisches bzw. Germanistisches Seminar u. ä.); bei der Benennung »Deutsches Seminar« (u. ä.) wäre zu prüfen, ob damit eine Zentrierung von Forschung und Lehre auf deutsche Sprache und Literatur intendiert war oder ob sich dahinter eine Forcierung der skizzierten Vorstellung zur Gleichung »germanisch = deutsch« verbirgt. 63 Vgl. Heinz Gollwitzer, Zum politischen Germanismus des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift für Hermann Heimpel, 1. Bd. Göttingen 1971 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36/1) S. 282-356. - Ein Beispiel dafür, wie sehr der deutsche Germanismus auch die Niederlande einbezog, liefert die Vorrede von Johann Wilhelm Wolf (Hg.), Niederländische Sagen, Leipzig 1843.

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rung eines deutschen Nationalbewußtseins - auch hier nicht vergessen werden, daß der Blick auf die germanische Vergangenheit gleichsam in Potenzierung eines auf Deutschland eingegrenzten Ansatzes - eine kritische Gegenposition zu den bestehenden politischen Zuständen schaffen sollte, aber das erkenntnisfördernde Denkmodell glitt im Verein mit der Mythisierung von Geschichte und Volksgeist sehr rasch in bedenkliche, gefährliche und in der Endphase katastrophale politische Zielsetzungen ab. Die GermanenIdeologie mit ihrer Zentrierung auf nordische Kulturtraditionen schlug in einen politischen Pangermanismus um, der sich nicht nur in traditioneller Weise gegen die romanischen Völker im Westen und Süden, sondern zunehmend auch gegen die slawischen Völker im Osten richtete.64 Und in einer weiteren Überhöhung, in der man sprachwissenschaftliche Modelle vorschnell zu realen Fakten ummünzte, mündete der politische Germanismus schließlich in einen rassistischen Indogermanismus ein, der sich nunmehr gegen das Judentum richtete und zum tödlichen Antisemitismus entartete.65 Es wäre ganz sicher eine unzulässige Verkürzung, ja Verzerrung, wenn man diese Entwicklung geradenwegs auf die Forschungsziele der ersten Germanistengeneration zurückführte, aber es wäre ebenso falsch, wenn man leugnete, daß ihre Konzeption des Fachs eine solche Depravation potentiell einschloß. Dabei ist nicht primär an die Ausweitung des Fachinteresses auf nordische und überhaupt auf germanische Kulturtraditionen zu denken, sondern an die immer latente Gefahr eines deformierten Geschichtsverständnisses, wie es sich etwa in der Vorstellung eines »goldenen Zeitalters« bekundete. 64

Auch Jacob Grimms Gedanken gingen bereits in diese Richtung, wenn er sich 1849 in einem Brief gegenüber dem dänischen Sprachwissenschaftler Carl Christian Rafn äußert: »ich begreife kein dänisches gefühl, das Russen den Deutschen vorzöge.« Abdruck bei Ernst Schmidt (Hg.), Briefwechsel der Gebrüder Grimm mit nordischen Gelehrten, Berlin 1885 (ergänzter Nachdruck Walluf 1974) S. 171 (Abdruck des Briefs: s. u. S. 138-142). In einem vorausgehenden Brief träumte J. Grimm bereits: »schliesst es (sc. Skandinavien) sich brüderlich an Deutschland und ziehen wir die Niederlande, vielleicht später die russischen Ostseeprovinzen in den bund, so werden wir Slaven und Romanen trotzen« (ebda. S. 160). 65 Vgl. dazu K. v. See (Anm. 60) und W. Emmerich (Anm. 54). 31

Philologisierung Ein regressives Geschichtsverständnis war aber nur eine der Gefahren, die das neue Fach und seine ursprünglichen Zielsetzungen bedrohten, nicht weniger bedrohlich und folgenreich erwies sich seine zunehmende Verwissenschaftlichung in einer Form, der insbesondere Jacob Grimm - allerdings vergeblich - entgegen zu wirken versuchte; doch im Laufe der Zeit konnte auch er sich dieser Tendenz nicht ganz verschließen. Ein wichtiges, vielleicht sogar entscheidendes Auslösesignal war für diesen Vorgang die ebenso umfängliche wie herbe Kritik, mit der A.W. Schlegel 1815 in den »Heidelberger Jahrbüchern« den ersten Jahrgang der »Altdeutschen Wälder« bedachte,66 jener neugegründeten wissenschaftlichen Zeitschrift der Brüder Grimm, in die sie einen Teil der Materialien aus der ersten Phase ihrer altdeutschen Studien einbrachten. A. W. Schlegel warnte in seiner Kritik zurecht vor einem schrankenlosen Versenken in eine überbewertete Vergangenheit: »Wenn man aber die ganze Rumpelkammer wohlmeinender Albernheit ausräumt, und für jeden Trödel im Namen der >uralten Sage< Ehrerbietung begehrt, so wird in der That gescheiten Leuten allzu viel zugemuthet«.67 Damit ist die Gefahr einer unkritischen Hinwendung zur Vergangenheit bereits zu Beginn der wissenschaftlichen Germanistik deutlich ans Licht gestellt worden. Gleichzeitig gibt aber dieser berechtigte Einwand zu erkennen, daß A. W. Schlegel das programmatische Zentrum im Grimmschen Ansatz nicht erkannt hat oder aber nicht hat anerkennen wollen: den Grimms geht es gerade nicht nur um die hohe Kunst der »gescheiten Leute«, die »nur von einem vornehmen Mittelgut hören«68 wollen, sondern auch um die Kunst der gemeinen Leute (so sehr sie sich de facto dabei auch irrten). 66

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Altdeutsche Wälder. Hg. durch die Brüder Grimm. 1. Bd. 1813-3, 1816, Nachdruck (mit einer Einführung von Wilhelm Schoof) Darmstadt 1966. A.W. Schlegels Kritik in: Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking, 12. Bd. Leipzig 1847, S. 383-426 (Teilabdruck: s. u. S. 92-100); W. Grimms Antikritik im 3. Bd. der Altdeutschen Wälder (S. 270-277) ist wiederabgedruckt in seinen Kl. Schriften (Anm. 40) 2. Bd., 1882, S. 156-161. Vgl. hierzu Gunhild Ginschel, Der jüngere Jacob Grimm. 1805-1819, Berlin 1967 (DAWB Veröffentlichungen der Sprachwissenschaftlichen Kommission 7) S. 51-57, 375-382.

A. W. Schlegel (Anm. 66) S. 391; s. u. S. 99. Altdeutsche Wälder (Anm. 66) S. I; s. u. S. 90.

Und ihr Bemühen wollte sich auch nicht in der Vergangenheit verströmen (so sehr dies in praxi dann doch geschah), vielmehr erkannten sie in der Vorrede zum ersten Jahrgang »eine über alles leuchtende Gewalt der Gegenwart an, welcher die Vorzeit dienen soll«; 69 allerdings ist dafür eine genaue Kenntnis des Überlieferten notwendig, denn erst dann läßt sich entscheiden, auf welche Teile die kritische Beschäftigung mit der Gegenwart zurückgreifen kann.70 So wenig sich die Brüder Grimm durch A. W. Schlegels Kritik davon abbringen ließen, mit ihren Arbeiten die kulturelle Tradition des Volks (also nicht nur der »gescheiten Leute«) aufzudecken, so sehr beeindruckten sie der gleichfalls vorgebrachte Vorwurf mangelnder und ungenauer sprachwissenschaftlicher Kenntnisse und die Forderung nach zuverlässigen Editionen. In beiden Bereichen erwies sich Schlegels Rezension als außerordentlich folgenreich: Jacob Grimm begegnete dem berechtigten Vorwurf auf sprachwissenschaftlichem Gebiet durch seine »Deutsche Grammatik« (1. Bd. 1819),71 mit der er erstmals eine breite Grundlage für die germanische und deutsche Sprachwissenschaft legte. Im editorischen Bereich weist A. W. Schlegels Forderung, wie Friedrich Neumann richtig sah,72 auf die philologische Tätigkeit Karl Lachmanns, dessen textkritische Methode bis heute (wenn auch nicht mehr ausschließlich) wirksam ist.73 69

Altdeutsche Wälder (Anm. 66) S. II; s. u. S. 90. Dazu kommt, daß die tradierten Zeugnisse unmittelbar gefährdet sind: »Das Sammeln und Vervielfältigen thut vor allem ändern Noth, weil in der Unruhe der Zeiten die einzelne Aufbewahrung nicht genug gesichert ist und die Tradition immer mehr einsiegt, wenigstens unvollständiger, abgeschliffener und uncharakteristischer wird.« (Altdeutsche Wälder [Anm. 66] S. V; s.u. S. 91.) 71 S. o. Anm. 34. 72 F. Neumann (Anm. 8) S. 67. 73 Zu Karl Lachmann vgl. H. Sparnaay, Karl Lachmann als Germanist, Bern 1948. Zur textkritischen Methode K. Lachmanns vgl. (jeweils mit weiteren Literaturhinweisen) Sebastiane Timpanaro, Die Entstehung der Lachmannschen Methode, Hamburg 21971 und Magdalene Lutz-Hensel, Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm - Benecke - Lachmann. Eine methodenkritische Analyse, Berlin 1975 (Philologische Studien und Quellen 77); dies., Lachmanns textkritische Wahrscheinlichkeitsregeln. In: Zs. f. dt. Philologie 90, 1971, S. 394-408. 70

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Karl Lachmann erfüllte A. W. Schlegels Wunsch nach Arbeiten, die vor dem kritischen Auge der »gescheiten Leute« Bestand haben, in mehrfacher Hinsicht. Zunächst einmal sind es durchaus keine »wohlmeinenden Albernheiten«, mit denen er als Textkritiker und Editor deutscher Texte von Anfang an vor das Publikum tritt:74 er legt >Nibelungenlied< und >Klage< (1826), Hartmanns >Iwein< (1827, 2 1843), »Die Gedichte Walthers von der Vogelweide« (1827), die Werke Wolframs von Eschenbach (1833) und schließlich »Lessings sämmtliche Schriften« (1838/40) erstmals in kritischen Editionen vor - durch die Bank also »hohe« Literatur und damit deutlich vom Grimmschen Interesse an altdeutschen Zeugnissen der Volkspoesie abgehoben. Es wundert daher nicht, daß Jacob Grimm trotz freundschaftlicher Hochschätzung zeitlebens bis in die Gedenkrede auf den Verstorbenen (1851) eine gewisse Reserve wahrte.75 Dort bringt er die unterschiedlichen Positionen auf die bekannte Formel: »Man kann alle philologen, die es zu etwas gebracht haben, in solche thei74

Die eindeutige Fixierung auf die hohe Literatur, auf die »Kunstpoesie«, zeigt sich bereits in seiner ersten, »für Vorlesungen und zum Schulgebrauch« bestimmten Edition mittelhochdeutscher Texte, die von Hartmann von Aue über Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide bis Konrad von Würzburg reichen: Auswahl aus den Hochdeutschen Dichtern des 13. Jahrhunderts, Berlin 1820; er wendet sich in der Vorrede scharf gegen »arbeitscheuen Liebhabereifer, und wohlgemeinte, aber eitele und erfolglose Betriebsamkeit« (S. XXI), wiederabgedruckt in: Kleinere Schriften von Karl Lachmann. I. Zur deutschen Philologie. Hg. von Karl Müllenhoff, Berlin 1876, S. 157-176 (Zitat S. 171). - Die kanonisierte Trias der drei großen mittelhochdeutschen Epiker (Hartmann, Wolfram, Gottfried von Straßburg) scheint allerdings auf J. Grimm (Kommentar zu seiner Ausgabe des >Armen Heinrich< Hartmanns von Aue, 1815) zurückzugehen; vgl. R. v. Raumer (Anm. 26) S. 438 und HansUlrich Gumbrecht, »Mittelhochdeutsche Klassik«. Über falsche und berechtigte Aktualität mittelalterlicher Literatur. In: Wolfgang Haubrichs (Hg.), Soziologie mittelalterlicher Literatur, Frankfurt a. M. 1973 (LiLi 11) S. 97-116 (hierzu S. 102f). 75 Abgedruckt bei J. Grimm: Kl. Schriften (Anm. 9) 1. Bd. S. 145-162; vgl. auch die Äußerungen J. Grimms gegenüber G. G. Gervinus: Briefwechsel (Anm. 7) 2. Bd. S. 76 und besonders S. 106. Moriz Haupt, der K. Lachmanns Arbeit in dessen Stil fortsetzte, zeigte sich über die kritische Distanz in J. Grimms Rede empört; vgl. Albert Leitzmann (Hg.), Briefe aus dem Nachlaß Wilhelm Wackernagels. In: Abhandlungen d. Sachs. Akademie d. Wiss. Phil.-hist. Klasse 34, 1921, Nr. l, S. 1-50 (hierzu S. 31).

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len, welche die worte um der Sachen, oder die Sachen um der worte willen treiben. Lachmann gehörte unverkennbar zu den letztern und ich übersehe nicht die groszen vortheile seines standpuncts, wenn ich umgedreht mich lieber zu den ersteren halte« (S. 150). War vor allem Jacob Grimm bemüht,76 jedes Überlieferungszeugnis eines Textes in seinem historischen Eigenwert und die Textgestalt damit als offene Größe anzuerkennen (unter dauernder Gefahr allerdings, sie als Zeugnisse eines kollektiven Schaffensprozesses zu interpretieren und die Texte über ihre Historizität hinaus in nur undeutlich erkennbare Anfänge zurückzuprojezieren), so faßte Karl Lachmann die Textgeschichte als einen Weg, auf dem er möglichst nahe an die (bekanntlich zumeist verlorene) Originalfassung und damit - wie von A. W. Schlegel in seiner Rezension der »Altdeutschen Wälder« gefordert - zur Individualität eines Autors gelangen wollte. Geschichte verkürzte sich in dieser Sichtweise zur Textgeschichte, die sich mittels textkritischer Methode bis zu Stammbäumen der Textzeugen formalisieren ließ. Die Rezeption als eigenwertige Textdimension bleibt bei diesem Ansatz ausgeblendet, die Arbeit des Philologen an der Textüberlieferung wird zum Dienst am Autor, dessen Werk und Persönlichkeit von der Patina und den Schlacken der Überlieferung gereinigt, in möglichst makellosem Glanz erstrahlen sollen - ein Ansatz, der die Vorstellung des »Dichterfürsten« nur fördern konnte.77 Mit seiner Konzeption beschritt Karl Lachmann einen Weg, der die Germanistik methodologisch in die Arme der klassischen Philologie führte. Bezeichnend dafür ist, daß die Germanisten mit juristischer Vergangenheit (wie die Brüder Grimm) zunehmend von Philologen mit altphilologischer Ausbildung (wie K. Lachmann) abgelöst wurden, 78 bis dann das neue Fach selbst mit studierten 76

Vgl. dazu G. Ginschel (Anm. 66) S. 170-212 (Grundsätze für die Edition mittelhochdeutscher Texte). 77 Vgl. G. Reiß (Anm. 4) S. XVIII-XXV. - Unter diesem Aspekt ist auch der »Nibelungenstreit« des 19. Jahrhunderts zu sehen, der sich an der Frage entzündete, ob dieses Werk als individuelle oder als kollektive Schöpfung anzusehen ist; vgl. hierzu J. Körner, O. Ehrismann (Anm. 38) und die Hinweise bei U. Burkhardt (Anm. 10) S. 115-120 (jeweils weitere Literatur). 78 »Noch als Wilhelm Scherer zu Müllenhoff kam und ihn fragte, was er zu tun habe, erhielt er die bekannte Antwort: >Lesen Sie Properz!> « Vgl. Werner Richter, Berliner Germanistik vor und nach dem hundertjährigen Jubiläum der Friedrich-Wilhelms-Universität. In: Hans Leussink u.a. (Hg.), Studium Berolinense, Berlin 1960, S. 490-506 (Zitat S. 490).

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Germanisten aufwarten konnte. Die Philologisierung der Germanistik erwies sich als ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Anerkennung und Etablierung des Fachs als Universitätsdisziplin, aber sie erwies sich zugleich als ein Schritt, der von den Vorstellungen eines Fachs wegführte, das sich ursprünglich als Motor einer patriotischen Kulturpolitik begriff und das damit mehr sein wollte als eine rein philologische Disziplin. Freilich darf auch hierbei nicht verkannt werden, daß der Lachmannsche Ansatz die Arbeit der Germanisten insbesondere im textphilologischen Bereich erstmals auf eine wissenschaftliche, d. h. überprüfbare und mit Gründen kritisierbare methodologische Grundlage stellte und die Texte damit wenigstens teilweise der willkürlichen Vereinnahmung durch unterschiedlichste Interessen entriß. Daher ist in Lachmanns philologischer Arbeitsweise auch ein notwendiges Korrektiv zur Grimmschen Konzeption des Fachs zu sehen, die durch einen vorschnellen Aufschwung in mythische Bereiche immer Gefahr lief, die historische Realität aus den Augen zu verlieren. Andererseits hätte eine Einbettung des philologischen Ansatzes in das erheblich weiter angelegte Konzept der Brüder Grimm verhindern können, daß die Textphilologie zunehmend enthistorisiert und auf diese Weise zum Selbstzweck wurde. J. Grimm deutet in seiner Rede auf K. Lachmann diese Gefahr an, wenn er meint, daß Lachmann zu seiner theologischen und juristischen Doktorwürde, die er seinen philologischen Leistungen verdankt, auch einen medizinischen Doktorhut hätte erwerben können, wenn »der zufall ihn zur herausgäbe eines alten griechischen arztes geführt« 79 hätte. Die sinnvolle Integration der beiden sich korrigierenden Ansätze blieb - trotz einzelner Versuche (etwa durch Karl Müllenhoff) aus, die Lachmannsche Konzeption einer Germanistik als Analogon zur klassischen Philologie behielt die Oberhand. Dadurch erhält aber die Zentrierung der Germanistik auf die altdeutsche Überlieferung einen ganz neuen Stellenwert: sie ist nicht mehr in erster Linie das Medium zur Entwicklung historischer Perspektiven, sondern man sieht in ihr ein Pendant zum Objektbereich der klassischen Philologie, deren philologische Methode prinzipiell auch auf die altdeutsche Literatur übertragen werden kann. Diese Vergleichbarkeit in Gegenstand und Methode wird zum Berechtigungsausweis, der dem neuen Fach als philologischer Disziplin (und nicht 79

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J. Grimm: Kl. Schriften (Anm. 9) 1. Bd. S. 146.

nur wegen seiner politischen, patriotisch-nationalen Funktion) Eintritt in den mit eifersüchtiger Strenge bewachten Universitätsbereich verschafft.80 Und es scheint fast, als habe man zeitweise durch Übereifer aufwiegen wollen, was der neu etablierten Wissenschaft an Anciennität abging. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist Moriz Haupt, seit 1853 Nachfolger K. Lachmanns auf dessen Lehrstuhl für klassische und deutsche Philologie in Berlin: er übertrifft seinen Vorgänger noch in der Einengung germanistischer Tätigkeit auf kritische Textphilologie, in der er auf überschaubarem Terrain mit brillanten Leistungen aufwartet, und er überbietet K. Lachmann noch in der Lakonik bei der Kommentierung der editorisch erschlossenen Texte. Zwei Beispiele zur Illustration: 1841 gründet M. Haupt die »Zeitschrift für deutsches Altertum«, die älteste heute noch bestehende germanistische Zeitschrift.81 Sie setzt sich im Vorwort zum ersten Heft neben der Heuristik unbekannter Zeugnisse für »die literatur, die spräche, die sitten, die rechtsalterthümer, den glauben der deutschen vorzeit«, von denen in kritischer Sichtung »nur würklich merkwürdiges gedruckt« werden soll, programmatisch das Ziel, kritisch aufbereitete Texte dem Leser vorzulegen. Wie sehr diese wissenschaftliche Nüchternheit einer unbefangenen Ausweitung des germanistischen Forschungsgebiets korrigierend entgegenwirkte, zeigt sich in der Eingrenzung der Zeitschrift »auf deutsches in der eigentlichen bedeutung des namens«, auch wenn gelegentliche Grenzüberschreitungen zugestanden werden.82 80

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß J. Grimm in seiner Akademievorlesung »Über Schule, Universität, Akademie« (1849) den Stolz der klassischen Philologen mit dem des Adels vergleicht: »Wie geschieht es, dasz sie so gern einen philologischen stolz zeigen, der bessern grund hat als adelstolz, aber ihm doch vergleichbar ist?« Abgedruckt in J. Grimm: Kl. Schriften (Anm. 9) 1. Bd. S. 211-254 (Zitat S. 235; s. u. S. 248f). Vgl. auch J. Grimms Rede an die Studenten (1843), s. u. S. 245f. 81 Vgl. Karin Morvay, Die Zeitschrift für deutsches Altertum unter ihren ersten Herausgebern Haupt, Müllenhoff, Steinmeyer und Scherer (1841-1890). In: Archiv f. Geschichte d. Buchwesens 15, 1975, Sp. 470-520. 82 Wiederabdruck des Vorworts (und des Inhaltsverzeichnisses von Bd. 1) s. u. S. 212-217. Vgl. dazu Kurt Ruh, Zum hundertsten Jahrgang der Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. In: Zs. f. dt. Altertum 100, 1971, S. 1-3; ders., Kleine Chronik der Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, ebda. S. 163-165.

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Das zweite Beispiel demonstriert in seltener Deutlichkeit, wie K. Lachmann und M. Haupt kritische Textedition verstanden wissen wollten: gemeint ist die Sammlung »Des Minnesangs Frühling«, die M. Haupt (nach Vorarbeiten K. Lachmanns) 1857 herausgab. Diese Edition, die dem Berliner klassischen (!) Philologen Immanuel Bekker gewidmet ist, zielt auf eine möglichst genaue Darbietung einer kritisch hergestellten Textform, während der Kommentar mit Verständnishilfen geradezu geizt. Er unterstützt den Benutzer nur in Ansätzen bei der Klärung sachlich und sprachlich schwieriger Stellen, und er legt (aufs Ganze gesehen) nicht hinlänglich genug offen, anhand welcher Kriterien die Herausgeber zu ihren textkritischen Entscheidungen gekommen sind. Mit dieser Darbietungsform, die teilweise bis heute in der Altwie in der Neugermanistik nachwirkt,82* wurden die Editionen vor einer Profanierung »geschützt«. Sie wandten sich in ihrer Esoterik an einen Kreis von Fachleuten, die in diese Darbietungsform eingeweiht waren und die auf Grund einer speziellen Ausbildung mit den sachlichen und sprachlichen Schwierigkeiten der vorgelegten Texte fertig werden konnten. Dieser Praxis ist eine gewisse Folgerichtigkeit nicht abzusprechen, machte sie doch evident, daß zur Beschäftigung mit diesen Texten (wie zum Verständnis ähnlich anspruchsvoller sprachwissenschaftlicher Werke) ein Fachstudium, eben das Studium der Germanistik gehört. Und solange es gelang, die dazu notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten mit einem entsprechenden Prestige zu versehen, brauchte man um den Bestand des neu etablierten Fachs nicht in Sorge zu sein. Popularisierung Gegen diese neue Konzeption des Fachs erhoben sich allerdings von verschiedenen Seiten Gegenstimmen. Sie sahen durch die zunehmende Esoterik die ursprünglich intendierte gesellschaftliche Funktion und durch die mangelnde Popularität das soziale Prestige und damit letztlich den Bestand des Fachs gefährdet. So klagte etwa S2a

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Der Notwendigkeit kommentierter Ausgaben wird neuerdings in der Neugermanistik intensiver nachgegangen; zum Diskussionsstand vgl. Wolfgang Frühwald u. a. (Hg.), probleme der kommentierung, BonnBad Godesberg 1975. (deutsche forschungsgemeinschaft. kommission für germanistische forschung. mitteilung I.)

J. Grimm in einem Brief (1.2. 1845) an den Lehrer und Literarhistoriker August Friedrich Christian Vilmar: »Wie geschieht es doch, daß die Teilnahme des Publikums an der altdeutschen Literatur abnimmt? Haupt, der in seiner Zeitschrift so viel tüchtiges leistet. . . wird sie über den fünften Band hinaus schwerlich fortsetzen können. Gedruckt, gelesen und aufgelegt wird, wenns so fortgeht, nach einiger Zeit nur die politische Literatur werden.« 83

In diese Klage stimmt auch Vilmar ein: »In der exklusiv gelehrten Welt, namentlich in der akademischen Kathederwelt darf sie [sc. Germanistik] nicht bleiben, oder sie stirbt, trotz Grimm, noch einmal ab, wie einst nach Junius, nach Schilter-Scherz, nach Bodmer-Myller, wenn auch diesmal freilich auf andere Weise und langsamer.« 84

Das Rezept, das A. F. Ch. Vilmar dem solchermaßen dahinkränkelnden Fach verschreibt, heißt Popularisierung durch Literaturgeschichte in und außerhalb der Schule. In dieser Therapie war ihm bereits Karl August Koberstein, ein Schüler F. H. von der Hagens und seit 1820 Lehrer in Schulpforta vorausgegangen: er veröffentlichte 1827 zunächst für Schulzwecke einen »Grundriß der Geschichte der deutschen National-Litteratur. Zum Gebrauch auf Gymnasien entworfen« und stieß mit diesem ersten akzeptablen Versuch einer deutschen Literaturgeschichte auf ungewöhnliche Resonanz auch außerhalb der Schule. Der Grundriß erfuhr bis 1837 drei Auflagen, ab der vierten Auflage (1845-1866) konnte ihn K. A. Koberstein dann zu einer dreiteiligen Darstellung ausbauen, die wegen ihrer Materialfülle zu einem germanistischen Standard83

Zitiert nach Wilhelm Hopf, August Vilmar. Ein Lebens- und Zeitbild, 2 Bde. Marburg 1913 (Zitat 1. Bd. S. 358). - Vor dieser Gefahr hatten L. A. v. Arnim und C. Brentano bereits 1810 am Schluß ihrer Anzeige »An die Leser des Wunderhorns« gewarnt: »Wenige Jahre ändern in unserer Zeit sehr viel, - mit Bedauern müssen wir bemerken, dass jetzt ein breites literarisches Geschwätz, das in überflüssigen Citaten stolzirt, die erwachte Liebe zu älterer deutscher Literatur allmählich wieder unterdrückt und lebendigere Menschen davon zurückschreckt!« Vgl. H. Rölleke (Anm. 32) 8. Bd. 1977. S. 368 Z. 19-24 und Bd. 9/II. 1978. S. 712. 84 Brieffragment vom 19. 7. 1845, wahrscheinlich an den Lehrer und Literaturhistoriker Karl August Koberstein; zitiert nach W. Hopf (Anm. 83) 1. Bd. S. 359. 39

werk des 19. Jahrhunderts wurde.85 An Popularität haben den Kobersteinschen Grundriß aber bei weitem die Vilmarschen »Vorlesungen über die Geschichte der deutschen National-Litteratur« übertroffen, die es vom Erscheinungsjahr (1845) bis 1913 zu nicht weniger als zu 27 Auflagen gebracht haben.86 Karl Goedeke konnte im Vorwort zur 21. Auflage (1865) zurecht von einem »deutschen Haus- und Familienschatz« sprechen; ihn konnte auch Wilhelm Scherers in kritischer Gegenposition geschriebene Literaturgeschichte87 zunächst nur schwer aus den häuslichen Bücherschränken verdrängen. Der Grund für diesen erstaunlichen Erfolg läßt sich unschwer erkennen: er liegt in einem nationalistisch-christlichen Gesinnungskonglomerat, in dessen Dienste der protestantische Theologe Vilmar die Literaturgeschichte genommen hat. An ihr werden die verpflichtenden Vorzüge des deutschen Volkes demonstriert, dem es zweimal »vergönnt gewesen, auf der Höhe der Zeiten zu stehen«, denn die deutsche Literatur »hat, nicht wie die Litteratur der übrigen Nationen nur e i n e , sie hat zwei klass i s c h e Perioden gehabt«.88 Dabei führt sich die erste klassische Periode auf »die Vermählung des deutschen Geistes mit dem christlichen Geiste« zurück, so daß sie nur begriffen werden kann »von einem gleichgesinnten Herzen, welches zugleich ganz deutsch und ganz christlich ist.«89 Mit solcher Tonlage erschloß sich Vilmars Darstellung einen breiten Weg in deutsche Bürgerstuben, aber diese Form der Populari85

Die sechste und letzte Bearbeitung durch Karl Bartsch (Leipzig 1884) unterstreicht noch den Handbuchcharakter, den das Werk inzwischen bekommen hat. 86 Seit der 3. Auflage (1848) unter dem Titel: Geschichte der deutschen National-Litteratur. - Bei der Auflagenzahl blieben die selbständig erschienenen Auszüge aus diesem Werk unberücksichtigt, eine letzte Ausgabe, hg. von J. Rohr, erschien nochmals Berlin 1936. Zur Entstehung der Vilmarschen Darstellung vgl. W. Hopf(Anm. 83) 1. Bd. S. 342-351. 87 Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 1883, 161927. 88 Diesem Chauvinismus hat erst Karl Goedeke anläßlich der von ihm betreuten 21. Auflage (1865) in einer Anmerkung mit explizitem Verweis auf die französische Literaturgeschichte eine Absage erteilt. "Abdruck der Einleitung s.u. S. 188-196. Zu Vilmars Darstellung vgl. Reinhard Behm, Aspekte reaktionärer Literaturgeschichtsschreibung des Vormärz. Dargestellt am Beispiel Vilmars und Geizers. In: Germanistik u. dt. Nation (Anm. 11) S. 227-271.

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sierung war durch Unwissenschaftlichkeit erkauft. 90 Der Schaden, den die Germanistik durch den offenkundigen Erfolg dieses Konzepts erlitt, war weit größer als ihre Gefährdung durch mangelndes Publikumsinteresse an einem einseitig philologisierten Fach. Zwar kann Vilmars Darstellung die Literaturgeschichtsschreibung als wichtiges und erfolgversprechendes Genus zur Popularisierung germanistischer Forschung nicht desavouieren, sie weist aber zu einem relativ frühen Zeitpunkt sehr nachdrücklich auf Gefahren des Mißbrauchs hin, der im Verlaufe der Fachgeschichte bekanntlich nicht auf dieses Werk beschränkt blieb. Einen völlig anderen Weg der Popularisierung schlug Karl Simrock ein, der auf den ersten Bonner Lehrstuhl für Germanistik (seit 1852)91 berufen wurde. Obwohl Schüler K. Lachmanns, erblickte er nicht im philologischen Bereich den Schwerpunkt seiner Tätigkeit, sondern bemühte sich nachhaltig um die Übersetzung, Erneuerung und Popularisierung älterer Literatur. Er stieß damit auf ein lebhaftes Interesse, und es ist zu einem Gutteil sein Verdienst, daß die ältere deutsche und nordische Literatur erstmals in breiteren Kreisen durch Eigenlektüre bekannt wurde. Erst auf dieser Grundlage konnte dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine umfassendere und publikumswirksame Rezeption germanischer und altdeutscher Stoffe und Motive in der zeitgenössischen Dichtung einsetzen.92 K. Simrocks Tätigkeit, die sich in Vielem den Vorstellungen vergleicht, die Ludwig Uhland von einer breitenwirksamen Germani90

Es verwundert daher nicht, daß sich Vilmar 1849 politisch wie wissenschaftlich von J. Grimm distanziert: »Jakob Grimms Existenz in der National-Versammlung ist unsern Studien oder vielmehr deren Geltung nicht förderlich gewesen. Doch darnach fragen wieder die Grimms nicht - sie w o l l e n ihre Sachen eben nicht aus dem Kreise der Gelehrsamkeit gerückt sehen; exklusiv oder gar nicht! ist ihr alter, wenn auch unausgesprochener Wahlspruch.« Brief (31.5. 1849) an Karl Ludwig Weigand, zitiert nach W. Hopf (Anm. 83) 1. Bd. S. 359. 91 Vgl. Rudolf Meissner, Das germanistische Seminar. In: Geschichte der rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität zu Bonn am Rhein, 2. Bd. Institute 1818-1933, Bonn 1933, S. 214-238. 92 Vgl. jetzt die umfassende Würdigung durch Hugo Moser, Karl Simrock. Universitätslehrer und Poet, Germanist und Erneuerer von »Volkspoesie« und älterer »Nationalliteratur«. Ein Stück Literatur-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 1976. (Academica Bonnensia 5 = Philologische Studien und Quellen 82.)

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stik hatte,93 griff Fäden auf, die in die Romantik zurückführen. Er stellte aber die Erneuerung älterer Literatur auf eine verläßlichere wissenschaftliche Grundlage; damit hob er sich deutlich von seinen Vorgängern ab, denen J. Grimm deswegen nicht gewogen war, weil sie »das Alte nicht als Altes stehen«94 lassen wollten. Diese Kritik trifft sicherlich einen richtigen, weil historischen Aspekt, und in dieser Hinsicht können auch K. Simrocks Erneuerungen kein Leitbild für heutige Übersetzungsversuche sein. Andererseits fragt es sich, ob die Zurückhaltung insbesondere J. Grimms gegenüber Übertragungen altdeutscher Texte95 zusammen mit der Philologisierung des Fachs nicht dazu beigetragen hat, daß diese Arbeit trotz ihrer anerkannten Schwierigkeit teilweise bis heute unter den Germanisten eher als unzünftig gilt. Glücklicherweise zeichnet sich hierbei in den letzten Jahren eine Wendung ab, die von der studentischen und nichtstudentischen Öffentlichkeit - wie ein Blick auf die Erfolge einiger zweisprachiger Taschenbuchausgaben zeigt - durchaus honoriert wird. Gegen philologische Esoterik Gegen K. Simrocks Popularisierung altdeutscher Texte verwehrte sich der Wiener Altgermanist Franz Pfeiffer besonders energisch. Zugleich ragt er aber unter den Gegenstimmen, die gegen den von K. Lachmann und M. Haupt eingeschlagenen Weg mehr oder minder offen opponierten,96 durch seinen entschiedenen und öffentlich 93

Vgl. auch hierzu Hugo Moser, Ludwig Uhland. Der Dichtergelehrte. In: Benno von Wiese (Hg.), Deutsche Dichter der Romantik, Berlin 1971, S. 473-498 und Hartmut Froeschle, Ludwig Uhland und die Romantik, Köln, Wien 1973 (jeweils mit weiteren Literaturhinweisen). 94 Brief (17. 5. 1809) an seinen Bruder Wilhelm, der in dieser Frage eine vermittelnde Stellung einnahm; zitiert nach Hermann Grimm und Gustav Hinrichs (Hg.), Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit, Weimar 1881, 21963, S. 101. Vgl. hierzu G. Ginschel (Anm. 66) S. 71-170 und Dieter Welz, Theorie und Praxis der Erneuerung mittelhochdeutscher Texte: Hartmanns »Armer Heinrich« in neuhochdeutschen Übertragungen. In: Acta Germanica 5, 1970 (1973) S. 95-115. 95 Vgl. Hugo Moser, Karl Simrock als Erneuerer mittelhochdeutscher Dichtung. Bemerkungen zu seinem Verfahren. In: Festschrift für Hans Eggers, Tübingen 1972 (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 94, Sonderheft) S. 458-483 (hierzu S. 480-482). 96 Weniger als Opposition gegen K. Lachmanns textkritische Ansprüche,

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proklamierten Protest hervor. Auch er sah die Notwendigkeit, die Ergebnisse und Erkenntnisse der Universitätsgermanistik einer größeren Öffentlichkeit in geeigneter Form zugänglich zu machen, es sollten dabei aber keine Abstriche am wissenschaftlichen Anspruch hingenommen werden, wie sie bei K. Simrocks Erneuerungsversuchen nur zu offenkundig waren. F. Pfeiffers Protest gegen die philologische Esoterik der »Berliner Schule« bekundete sich zunächst an der »Germania«, einem von ihm 1856 gegründeten Konkurrenzorgan zu M. Haupts »Zeitschrift«, an der er bis zum 9. Band (1853) als Beiträger mitgearbeitet hatte. Im Mittelpunkt der »Germania« sollte nicht die textkritische Präsentation unbekannter und bekannter Denkmäler stehen, sondern die interpretatorische Erschließung der Überlieferung durch Abhandlungen; und soweit Texte geboten wurden, sollten sie durch Erläuterungen verständlich gemacht werden.97 Mit diesem Programm zielte F. Pfeiffers Unternehmen, das bis 1892 bestand, offenkundig auf eine Vermittlung und engere Verbindung zwischen den Germanisten an den Hochschulen und Gymnasien.98 vielmehr als Notbehelf zur raschen Erschließung größerer Überlieferungskomplexe ist die intensive Veröffentlichungstätigkeit des »Literarischen Vereins in Stuttgart« (Gründungsaufruf November 1839) zu bewerten; vgl. die Hinweise bei U. Burkhardt (Anm. 10) S. 109-114. 97 Vgl. K. Morvay (Anm. 81) Sp. 490-495 und zu den Hintergründen die Einleitung von Hans-Joachim Koppitz (Hg.), Franz Pfeiffer/Karl Bartsch. Briefwechsel. Mit unveröffentlichten Briefen der Gebrüder Grimm und weiteren Dokumenten zur Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Köln 1969 (hierzu S. 7-16). - Der I.Jahrgang der »Germania« erschien - im Gegensatz zu M. Haupts »Zeitschrift« - ohne Vorwort; einen Überblick über das intendierte Programm liefert das Inhaltsverzeichnis, s. u. S. 218-220 (zum Vergleich das Inhaltsverzeichnis von Bd. l der »Zeitschrift«: s.u. S. 216f). F. Pfeiffer betrachtete die »Germania« durchaus auch als politische Institution, die er aufgeben wollte, nachdem es zur Abtrennung Österreichs von Deutschland kam; vgl. dazu sein Schreiben an Karl Bartsch und dessen Antwort bei H. J. Koppitz, S. 208f (zur politischen Einstellung der beiden Gelehrten ebda. S. 269-271). [Korrekturnachtrag: Das Programm der »Germania« hat F. Pfeiffer in einem separaten und daher nurmehr vereinzelt erhaltenen Prospekt formuliert; Abdruck s. u. S. 320-323. 98 Noch stärker betonte diesen Gesichtspunkt Julius Zacher in der 1869 von ihm gegründeten (und heute noch erscheinenden) »Zeitschrift für deutsche Philologie«. 43

Wie sich Franz Pfeiffer Texteditionen dachte, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügten und dennoch einem breiteren Publikum zugänglich waren, belegt eindrucksvoll seine Walther-Ausgabe, mit der er 1864 die erfolgreiche Reihe »Deutsche Classiker des Mittelalters. Mit Wort- und Sacherklärungen« eröffnete. Bereits im programmatischen Vorwort" wird deutlich, daß diese Ausgabe der Gedichte Walthers von der Vogelweide als Gegenstück zur WaltherEdition Karl Lachmanns (1827) konzipiert ist. Stehen bei K. Lachmann die knappe Vorrede und der Anmerkungsteil nahezu ganz unter dem Aspekt der Überlieferung und der Textkritik, so gibt F. Pfeiffer zunächst einleitend eine Charakteristik des Autors, führt durch Hinweise »Über mittelhochdeutsche Aussprache und Verskunst« zur Beschäftigung mit den mittelhochdeutschen Texten hin und skizziert vor jeder Abteilung der gattungsmäßig geordneten Sammlung den literarisch-formalen Kontext. Jedem Gedicht vorangestellt sind Kurzinformationen zum Inhalt, aber auch - je nach Notwendigkeit - zur Form, zum gedanklichen und historischen Hintergrund. Im Apparat stehen nicht Lesarten der verschiedenen Handschriften (die sollten nach F. Pfeiffers Meinung den Fachleuten in Fachzeitschriften zur Verfügung gestellt werden), sondern Erklärungen zu sprachlich und inhaltlich schwierigen Stellen, die durch ein Wortregister am Schluß noch weiter erschlossen sind. Anders als bei K. Simrock war auf diese Weise eine Möglichkeit geschaffen, ältere Texte nicht durch die problematische Vermittlung einer modernisierenden Übertragung, sondern unter Wahrung der historischen Verfremdung im Original zu rezipieren.100 Die Resonanz, auf die diese Editionsform stieß, gab F. Pfeiffers Konzeption vollkommen recht: während es K. Lachmanns Ausgabe (1827) erst 1843 zu einer zweiten Auflage brachte, konnte F. Pfeiffer im Vorwort seiner zweiten Auflage stolz verkünden: »Wenig über ein Jahr nach ihrem Erscheinen ist die erste starke Auflage vergriffen und eine neue nöthig geworden.«101 99

S. u. S. 236-242; zum Vergleich dazu K. Lachmanns Vorrede zu seiner Walther-Ausgabe: s. u. S. 231-236. 100 Von hier aus wird auch F. Pfeiffers Absage an Übersetzungen mittelhochdeutscher Texte verständlich, von der er auch Bartschens >NibelungenliedErecDe desiderio patriaeFaust< eine unbestrittene Spitzenstellung ein. Vgl. die statistischen Nachweise bei U. Burkhardt (Anm. 10) S. 102-106, 156-167. 113 Etwa 100 Jahre zuvor hatten die klassischen Philologen diese kirchliche Einrichtung als Institution auch für sich gefordert, jetzt sahen sie sich mit ähnlichen Forderungen der Germanisten konfrontiert; vgl. Wilhelm Erben, Die Entstehung der Universitätsseminare. In: Internat. Monatsschrift f. Wissenschaft, Kunst u. Technik 7, 1913, Sp. 1247-1264, 1335-1348.

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aber auch im Blick auf das Berufsfeld des gymnasialen Fachlehrers deutlich sichtbar, denn in den Seminaren sollte die philologische mit einer pädagogisch-didaktischen Ausbildung für den künftigen Lehrerberuf verbunden werden.114 Mit der Gründung germanistischer Seminare machte Karl Bartsch 1858 zu einem sehr frühen Zeitpunkt den Anfang, 115 es folgten mit erheblichem zeitlichen Abstand 1872 (seit 1867 provisorisch) Tübingen,116 1873 dann Heidelberg,117 Leipzig und Straßburg. Bis 1881 kommt es jährlich zu weiteren Seminargründungen, 11 * nur Erlangen (1883), Berlin (1887),119 114

Vgl. Karl Bartsch, Über die Gründung germanischer und romanischer Seminare und die Methode kritischer Übungen. In: Verhandlungen der 36. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Karlsruhe vom 27. bis 30. September 1882, Leipzig 1883, S. 237-245. 115 Vgl. Reinhold Bechstein, Denkschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens des deutsch-philologischen Seminars auf der Universität zu Rostock am 11. Juni 1883,Rostock 1883; Abdruck der Statuten S. 9-11, Wiederabdruck bei H.-J. Koppitz (Anm. 97) S. 244-251 (zusammen mit den Heidelberger Seminarstatuten). 116 Vgl. U. Burkhardt (Anm. 10) S. 66f; Seminarstatuten (ebda. S. XI-XIII) s. u. S. 260-263. 117 Vgl. J. Lehmann (Anm. 31) S. 232-234 (mit Abdruck des Statuts; s. auch o. Anm. 115) und U. Burkhardt (Anm. 10). 118 Vgl. die Übersichten bei K. Bartsch (Anm. 114) S. 238, F. Tschirch (Anm. 3) S. 137f und U. Burkhardt (Anm. 10) S. 66. - Literatur zu Breslau: Th. Siebs (Anm. 41), ders., Deutsche Sprache und Literatur. In: Festschrift zur Feier des 100jährigen Bestehens der Universität Breslau, 2. Teil, Breslau 1911, S. 403-411; zu Freiburg: U. Burkhardt (Anm. 10); zu Greifswald: F. Tschirch (Anm. 3); zu Halle: Manfred Lemmer, Julius Zacher und die Gründung des Seminars für deutsche Philologie an der Universität Halle. In: Wiss. Zs. d. Martin-Luther-Univ. HalleWittenberg, Gesellschafts- und Sprachwiss. Reihe 5, 1956, S. 613-622, ders., Die hallische Universitätsgermanistik, ebda. 8, 1958/59, S. 359-388; zu Jena: Dietrich Germann, Geschichte der Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universitätjena, Masch. Diss. Jena 1954; zu Kiel: Erich Hofmann, Philologien. IV. Germanistik. In: Geschichte der Christian-Albrechts-Univ. Kiel, Bd. V/2, Neumünster 1969, S. 183-235 und Walther Heinrich Vogt, Die Gründung der Germanistik, der Deutschen und Nordischen Philologie an der Universität Kiel. In: Festschrift zum 275jährigen Bestehen der Christian-Albrechts-Univ. Kiel, Leipzig 1940, S. 295-308; zu München: (E.) Hartl, Das Seminar für deutsche Philologie. In: Karl Alexander von Müller (Hg.), Die wissenschaftlichen Anstalten der Ludwig-Maximilians-Univ. zu München, München 1926, S. 186-189. 119 Vgl. W. Richter (Anm. 78), G. Roethe (Anm. 42) und Edward Schröder, 51

Bonn (1888, aber seit 1879 provisorisch),120 Göttingen (1889) und Münster (1894) bilden eine Nachhut. Für diese Verzögerungen gibt es unterschiedliche Gründe, aufschlußreich ist aber die ablehnende Haltung Karl Müllenhoffs in Berlin,121 für den die deutsche Philologie »nur in engster Verbindung mit der klassischen denkbar«122 war: Hier schlägt sich die zuvor beschriebene Philologisierung des Fachs, bei der die »Berliner Schule« seit K. Lachmann und M. Haupt federführend war,123 bis in die institutionelle Organisation hinein nieder. Gerade dieser Extremfall macht überdeutlich, wie sehr die klassische Philologie der Maßstab war, an dem sich die deutsche Philologie zu messen hatte. Unter diesem Gesichtspunkt wäre daher auch die Frage zu klären, ob Germanisten wie K. Müllenhoff durch die pädagogischdidaktische Komponente der germanistischen Seminare, auf die auch seitens der Schulbehörden gedrungen wurde, nicht die philologische Zielsetzung des Studiums gefährdet sahen.124 Die vereinzelten Widerstände gegen die Gründung germanistischer Seminare blieben jedoch Episode, die Institutionalisierung des Fachs setzte sich auch in dieser Form an allen Universitäten durch. Dabei ist bemerkenswert, daß die Einrichtung der Seminare - vom Rostocker Schrittmacher und vom Tübinger Provisorium abgeAus der Vorgeschichte und den Anfängen des germanistischen Seminars. In: Das germanistische Seminar der Universität Berlin. Festschrift zu seinem 50jährigen Bestehen, Berlin und Leipzig 1937, S. 1-7. 120 Vgl. R. Meissner (Anm. 91). 121 Damit vergleichbar ist die späte Seminargründung in Göttingen; vgl. F. Tschirch (Anm. 3) S. 138. 122 Vgl. E. Schröder (Anm. 119) S. 5 (Zitat) und E. Hofmann (Anm. 118) S. 191f; zu K. Müllenhoff vgl. auch Rudolf Bülck, Karl Müllenhoff und die Anfänge des germanistischen Studiums an der Kieler Universität. In: Zs.d.Gesellschaft f. schleswig-holsteinische Geschichte 74/75, 1951, S. 343-407 (Literatur). 123 Vgl. auch Max Lenz, Die Anfänge der Germanistik an der Berliner Universität. In: Das literarische Echo 17,1914/15, Sp. 15-20. - Wie selbstverständlich noch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts »Philologe« mit »klassischem Philologen« gleichgesetzt werden konnte, zeigt das Handbuch von Friedrich August Eckstein, Nomenclator philologorum, Leipzig 1871, Nachdruck Hildesheim 1966. 124 Jedenfalls weist K. Bartsch (Anm. 114) in seinem Überblick auf divergente Ansichten über die Gestaltung der Seminararbeit hin und plädiert gleichfalls für eine stärker philologisch ausgerichtete Konzeption.

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sehen - erst nach 1871, aber dann massiv einsetzt. F. Tschirch weist zurecht darauf hin,125 daß diese Verlaufskurve im Zusammenhang mit der Reichsgründung zu sehen ist, die sich damit unter einem weiteren Aspekt als eine Zäsur innerhalb der Fachgeschichte erweist. Deutsch als Schul- und Bildungsfach Durch die Gründung germanistischer Seminare wurde die Stellung der deutschen Philologie an den Universitäten weiter gefestigt, gleichzeitig weist dieser institutionelle Vorgang aber darauf hin, daß sich das Fach nunmehr anschickte, auch in der Schule an Boden zu gewinnen.126 Dabei wird in einem längeren Prozeß der gleiche Kreislauf hergestellt, der früher schon bei der Altphilologie zu beobachten war: mit der Etablierung eines fachwissenschaftlich fundierten Deutschunterrichts in den höheren Schulen wird ein Berufsfeld für Germanistikstudenten gesichert, und diese Berufs- und sozialen Aufstiegschancen (einschließlich der Möglichkeit einer Karriere in der Hochschule oder sonst im Staatsdienst) führen zu einer wachsenden Zahl von Germanistikstudenten.127 Der Weg zu diesem Ziel war allerdings weit und die entscheidende Etappe erst erreicht, als Wilhelm II. in einer Rede 1890 deklarierte: »Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und 125

Vgl. F. Tschirch (Anm. 3) S. 137. - Zur Entwicklung in Österreich, wo der erste germanistische Lehrstuhl 1850 eingerichtet und mit Theodor von Karajan (einem Autodidakten ohne abgeschlossenem Hochschulstudium) besetzt wurde, vgl. die Hinweise bei E. Leitner (Anm. 23), bei J. Körner, Deutsche Philologie. In: Eduard Castle (Hg.), DeutschÖsterreichische Literaturgeschichte, 3. Bd. Wien 1935, S. 48-89 und Willy Skarek, Bestrebungen und Leistungen der österreichischen Frühgermanistik vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu dessen Mitte, Masch. Diss. Wien 1931. 126 Vgl. insbesondere Adolf Matthias, Geschichte des deutschen Unterrichts, München 1907 (Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen 1,1); außerdem Horst Jo(a)chim Frank, Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945, München 1973 (Taschenbuchausgabe München 1976 = dtv 4271/72). 127 Hierfür aufschlußreich sind die Ausführungen von Adelbert von Keller, Inauguralrede über die Aufgabe der modernen Philologie, Stuttgart 1842; s. u. S. 263-277. 53

nicht junge Griechen und Römer . . . wir müssen das Deutsche zur Basis machen.«128 Damit war die deutsche Philologie von höchster Stelle aus als legitime Erbin der klassischen Bildung anerkannt, der »Kampf um das deutsche Gymnasium«, den die beiden Philologien (wie schon im Hochschulbereich) ausfochten,129 nach zwischenzeitlichen Rückschlägen gewonnen.130 In dieser Auseinandersetzung kam es der Germanistik zunächst zugute, daß sie im Blick auf verwandte Bildungsideen gleichsam natürliche Erbansprüche an die klassische Philologie stellen konnte. Bereits die klassische Bildung hatte sich nämlich mit ihrem Bildungsideal als ein Gegengewicht zur beherrschenden französischen Bildung verstanden: sie richtete sich - ähnlich der Germanistik - auf geistig-kulturellem Gebiet »außenpolitisch« gegen die französischen Vorherrschaftsansprüche in Europa und zu Beginn des 19. Jahrhunderts speziell gegen die Fremdherrschaft Frankreichs über Deutschland, und sie begriff sich »innenpolitisch« als eine bürgerlich emanzipatorische Kraft, die sich gegen den bestimmenden Einfluß einer fremden, nämlich französischen Kultur an den deutschen Höfen wandte. Der Rekurs auf die Antike gibt sich unter diesem Blickwinkel als ein Akt der nationalen Selbstfindung zu erkennen. Hier nun empfahl sich die Germanistik aber als die »kompetentere« Wissenschaft, denn sie steuerte dieses Ziel nicht auf der Grundlage klassisch humanistischer bzw. neuhumanistischer, im Grunde also kosmopolitischer Werte an, sondern sah im Rückgriff auf die eigene, nationale Kulturtradition den geeigneteren und verläßliche128

Zitiert nach Otto Lyon, Der Kaiser über den deutschen Unterricht. In: Zs. f. d. dt. Unterricht 5, 1891, S. 81-87 (Zitat S. 82f). 129 Vgl. F. Greß (Anm. 10) S. 82f: »Die Geschichte des Deutschunterrichts ist im wesentlichen die Geschichte der Befreiung vom Einfluß des Lateinischen . . . Erst das Kaiserreich (schuf) die Voraussetzungen für einen eigenständigen, aus dem Schatten der Antike gelösten Deutschunterricht.« Vgl. auch Helmut König, Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, Berlin 1960 (Monumenta paedagogica 1); Georg Jäger, Der Deutschunterricht auf Gymnasien 1780-1850. In: Dt. Vierteljahrsschrift f. Literaturwissenschaft u. Geistesgeschichte 47, 1973, S. 120-147. 130 Vgl. den Abriß von Helmut Brackert, Hannelore Christ, Horst Holzschuh, Zur gesellschaftlichen Funktion mittelalterlicher Literatur in der Schule. Historisch-kritische Bestandsaufnahme. In: Helmut Brackert u. a. (Hg.), Mittelalterliche Texte im Unterricht, München 1973 (Literatur in der Schule 1) S. 11-69 (hierzu S. 32-40).

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ren Weg zur Entwicklung und Förderung eines nationalen Selbstbewußtseins. Die Germanistik konnte also aus dem Programm der klassischen Bildung die kulturpolitische Intention nationaler Selbstfindung übernehmen, sie vermochte aber für diesen Zweck als patriotisch-nationale Wissenschaft ein konkreteres Angebot zu liefern. 131 Tatsächlich stieß die Germanistik im Umkreis der Freiheitskriege mit dieser Konzeption auf ein breites öffentliches Interesse, aber gerade aus diesem Grunde mußte sie nach der Befreiung Deutschlands von der napoleonischen Fremdherrschaft für die Herrschenden besonders suspekt sein, denn nun stand als nächster Schritt die nationale Einigung an. Und diese schien in greifbare Nähe gerückt, nachdem der patriotische Enthusiasmus, von der Rückbesinnung auf die nationale Geschichte und Kulturtradition kräftig entfacht, seine politische Stärke in den Freiheitskriegen allseits sichtbar bewiesen hatte. Angesichts dieser Erfahrung war es dann nur folgerichtig, wenn die führenden politischen Kräfte in der einsetzenden Restaurationsepoche auf Distanz zu den patriotischnationalen Zielen der Germanistik gingen und dem Neuhumanismus mit seinen politisch weniger konkreten Bildungszielen die Vorherrschaft in den Gymnasien beließen.132 Die öffentliche Einschätzung der Germanistik als einer patriotischen Wissenschaft, die diesem Fach über die Hochschule hinaus gegenüber der klassischen Philologie einen Platzvorteil zu garantieren schien, erwies sich also bei dem Versuch, Germanistik und Deutschunterricht zu verknüpfen, als ein gravierendes Handikap. In besonderem Maße galt das aber von der Altgermanistik, da man richtig erkannt hatte, daß die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Kulturtradition eine kräftig strömende Quelle war, aus der sich der Patriotismus speiste. Dieses Odium hat wohl dazu beigetragen, daß der altdeutsche Unterricht - wenn auch mit der offiziellen Begründung der Ineffizienz - Anfang der 80er Jahre aus den gymnasialen Lehrplänen gestrichen wurde.133 131

Vgl. Helmut König, Zur Geschichte der bürgerlichen Nationalerziehung in Deutschland zwischen 1807 und 1815, 1. Tl. Berlin 1972. (Monumenta paedagogica 12) hierzu S. 112-138. 132 Vgl. etwa die Materialien bei Max Nath, Lehrpläne und Prüfungsordnungen im höheren Schulwesen Preußens seit Einführung des Abiturienten-Examens, Berlin 1900. (Wissenschaftliche Beilage z. Jahresbericht d. Königl. Luisengymnasiums zu Berlin. Ostern 1900). 133 1882 in Preußen, 1884 in Österreich; vgl. H. Bracken u. a. (Anm. 130)

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Diese Entwicklung erfolgte sicherlich nicht zum Leidwesen der Altphilologie, da durch den Wegfall des altdeutschen Unterrichts das philologische Ansehen des Deutschunterrichts gemindert und damit die philologische Monopolstellung der alten Sprachen gefestigt wurde.134 Die Altphilologie mußte nämlich befürchten, daß die Etablierung eines fachwissenschaftlich fundierten Deutschunterrichts analog zu den Vorgängen an den Universitäten erfolgen könnte: So wie es dort die Germanistik durch eine forcierte Philologisierung im altgermanistischen Bereich zum Ansehen einer geachteten Universitätsdisziplin gebracht hatte, die dem Vergleich mit der Altphilologie nicht aus dem Wege zu gehen brauchte, so konnte ein Deutschunterricht, der sich durch den Einbezug altdeutscher Studien philologisch profilierte, durchaus in Konkurrenz zum altsprachlichen Gymnasialunterricht treten. Zugleich entschärfte diese Philologisierung hier wie dort das von der Obrigkeit gefürchtete patriotische Potential. Unter diesem Aspekt wird einsichtig, warum von der Germanistik über den universitären Bereich135 hinaus gleich im ersten Jahrgang sowohl der deutschen wie der österreichischen Zeitschrift für das Gymnasium auf die Einbeziehung der altdeutschen Sprache und Literatur in die Lehrpläne gedrungen wurde.136 Bei diesen AkS. 39f. K. Burdachs bittere Bemerkung (Anm. 3) zielte auf diese Veränderung in den Lehrplänen. 134 Die patriotische wie die philologische Zielsetzung des Deutschunterrichts findet sich in der Begründung eines (1847 verworfenen) Antrags auf Einführung des Unterrichts in deutscher Sprache als selbständigen Fachs in den österreichischen Gymnasien: »Jakob Grimm hat eine neue Wissenschaft begründet und durch sie dem nationalen Bewußtsein der Deutschen nicht geringen Vorschub getan; der Unterricht in der deutschen Sprache ist ein wissenschaftlicher; er soll am Gymnasium in gleicher Art wie der des Griechischen und Lateinischen betrieben werden, in Verbindung mit einem Überblick über die deutsche Literatur«; zitiert nach Gustav Strakosch-Graßmann, Geschichte des österreichischen Unterrichtswesens, Wien 1905, S. 158 Anm. 1. - Zur Entwicklung in Österreich vgl. auch Richard Meister, Entwicklung und Reformen des österreichischen Studienwesens, 2 Tie. Wien 1963 (ÖAW Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 239, l/l. II) und Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962. (ÖAW Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 239,2.) 135 Vgl.dazudieprogrammatischenÜberlegungenA. v. Kellers(Anm. 127). 136 J. Mützell, Über die Behandlung der deutschen Literaturgeschichte, namentlich der älteren, auf Gymnasien. In: Zs. f. d. Gymnasialwesen l,

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tivitäten war aber keineswegs schon daran gedacht, durch die philologisierte Form des Deutschunterrichts die klassischen Studien zu verdrängen: Sie sollten weiterhin das »Fundament« der Gymnasien bleiben,137 man wollte nur die Anerkennung des Deutschunterrichts im Rang eines eigenen philologischen Fachs, das als Ergänzung der klassisch neuhumanistischen Bildung dieser sogar Nutzen zu bringen versprach.138 Freilich führte gerade die Orientierung an der klassischen Philologie letztlich dazu, daß die deutsche Philologie sich an den Gymnasien nicht nur einen Platz neben den alten Sprachen zu sichern vermochte, sondern schließlich selbst zum Fundament der höheren Schulbildung wurde. Wenn es nach K. Müllenhoff »in der That nur Eine Philologie«139 gab, dann konnte ja auch die deutsche Philologie rechtens ins Zentrum der philologisch orientierten Bildung treten. Bei diesem Stabwechsel hat der Deutschunterricht wohl auch von den Realfächern kräftige Unterstützung erfahren, deren Anspruch auf höhere Stundenzahlen stets an der breit ausgebauten Bastion scheiterte, die sich die alten Sprachen im Lehrplan erobert hatten. 1847, S. 34-71 (s. u. S. 303-315) und Karl Weinhold, Bemerkungen über den Unterricht in der deutschen Sprache und Literatur auf den österreichischen Gymnasien. In: Zs. f. d. österr. Gymnasien l, 1850, S. 345-350 (s. u. S. 315-320). - Zu den veränderten Zielen gegenüber den Ansätzen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Karl Besseldt, Ueber die Nothwendigkeit, altdeutsche Gedichte auf Schulen zu lesen. In: Archiv Deutscher Nationalbildung l, 1812, S. 368-396. 137 Vgl. dazu J. Mützell (Anm. 136) S. 49: »Dass die classischen Studien das Fundament unserer Gymnasien bleiben müssen, ist meine innigste Überzeugung. Zu wiederholten Malen im Lauf der Jahrhunderte haben diese auf deutsche Bildung und deutsches Leben einen erfrischenden, regenerierenden Einfluss geübt, ja unsere ganze neuere Bildung knüpft sich zunächst und unmittelbar an das Römische an ... wir können die Gegenwart ohne sie nicht begreifen, weil sie grossentheils auf dem Gegensatze beruht, in welchem uns das classische Alterthum gegenübersteht« (Sperrung im Original); s. u. S. 310. 138 Vgl. hierzu insbesondere Karl Müllenhoff, Die deutsche Philologie, die Schule und die klassische Philologie. In: Zs. f. d. Gymnasialwesen 8, 1854, S. 177-199; s. u. S. 277-303. 139 K. Müllenhoff (Anm. 138) S. 199; s. u. S. 303. Vgl. auch Karl Stackmann, Philologie und Lehrerausbildung, Göttingen 1974. (Göttinger Universitätsreden 57.)

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Die Realfächer konnten jedoch auf einen höheren Stundenanteil hoffen, wenn der Deutschunterricht die Bildungsfunktion der Altphilologie übernahm, denn als muttersprachlicher Unterricht benötigte er im Vergleich zu den zeitaufwendigen Fächern Latein und Griechisch eine geringere Stundenzahl und setzte damit Deputat für die Realfächer frei. Dazu kam, daß der Deutschunterricht mit dem Lehrziel der muttersprachlichen Konditionierung 140 den Realfächern näher stand als die klassische Philologie. Den entscheidenden Durchbruch erlebte der Deutschunterricht bei seinem Aufschwung zum zentralen Bildungsfach der höheren Schulen aber erst, als sich die Germanistik an den Hochschulen und Schulen ins Fahrwasser einer nationalistischen Ideologie ziehen ließ und auch selbst manövrierte. Dabei schlug ihre anfänglich politische Brisanz, die zwischenzeitlich durch eine extreme Philologisierung kanalisiert worden war, wieder in politische Aktivität um, die aber jetzt in bedeutendem Umfang chauvinistischen Zielen diente. In diesem langphasigen und vielschichtigen Anpassungsprozeß an die politischen Bedingungen der Jahre zwischen 1848 und 1871 fiel den Mittelalterstudien erneut eine bedeutende Rolle zu: durch den Rückgriff auf eine große Vergangenheit sollte jetzt die Gegenwart glorifiziert werden. Zwar warnten nüchterne Köpfe wie der Altgermanist "Wilhelm "Wilmanns vor einem solchen Chauvinismus, indem er dem altdeutschen Unterricht einen nationalen Bildungswert bestritt,141 aber diesen "Warnungen war nur kurzzeitig ein Erfolg beschieden. Nach Abschaffung des altdeutschen Unterrichts an den Gymnasien142 füg140

Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß J. Grimm in der Vorrede zum I.Band seiner Grammatik (Anm. 34) S. IX-XI (s.u. S. 107-109) den Schulunterricht in der Grammatik der Muttersprache verworfen hatte; er schwächte dieses Votum angesichts zahlreicher Gegenstimmen in der 2. Auflage (1822) zwar ab (S. XVIII), aber noch K. Müllenhoff (Anm. 138) S. 179 (s. u. S. 279f) pflichtete ihm bei. Vgl. zur Diskussion H. J. Frank (Anm. 126) S. 451-470. 141 Wilhelm Wilmanns, Die deutsche Grammatik. I. Ihre wissenschaftliche Aufgabe; II. Die Grammatische Behandlung der deutschen Sprache auf dem Gymnasium. In: Zs. f. d. Gymnasialwesen 23, 1869, S. 721-742, 801-827; ders., Der Unterricht im Altdeutschen auf den höheren Schulen, ebda. 29, 1875, S. 31-40. Vgl. H. Bracken u. a. (Anm. 130) S. 38f und H. J. Frank (Anm. 126) S. 475f. 142 S. o. Anm. 133. 58

te Rudolf Hildebrand, der Stimmführer der Gegenpartei, anläßlich der dritten Auflage seines verbreiteten und einflußreichen "Werks über den deutschen Sprachunterricht in der Schule einen Anhang über die Einbeziehung des Altdeutschen in den Deutschunterricht bei.143 Er hatte mit diesem Plädoyer Erfolg: 1890 nahm Österreich, 1892 dann Preußen den altdeutschen Unterricht wieder in die gymnasialen Lehrpläne auf. 144 Mit diesen Daten ist zugleich der Zeitpunkt genannt, zu dem sich die Germanistik über die Universität hinaus auch in der Schule als zentrales Bildungsfach fest etabliert hatte. Auf einem langen Weg, der sich fast durch das ganze 19. Jahrhundert hinzog, war es dem Fach gelungen, im Bildungswesen Deutschlands eine führende Position einzunehmen. Diese Stellung war allerdings um einen bitteren Preis erkauft worden: durch den gehorsamen Dienst an einer nationalistischen Ideologie, die nur scheinbar mit den politischen Vorstellungen einer patriotisch orientierten Germanistik zu Beginn des 19. Jahrhunderts übereinstimmte. Die gesellschaftliche Verantwortung der ersten Germanistengeneration, die trotz aller bedenklichen Ansätze ihrer Konzeptionen und trotz aller Irrwege nicht zu bestreiten ist, wurde auf dem beschwerlichen Weg zur institutionellen Etablierung des Fachs in Hochschule und Schule weitgehend preisgegeben: ein Aufschwung, der sich im historischen Rückblick als ein Niedergang zu erkennen gibt.

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Rudolf Hildebrand, Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt, mit einem Anhang über die Fremdwörter und einem neuen Anhang über das Altdeutsche in der Schule, Leipzig 31887; eine letzte, 27. Auflage dieses Werkes erschien noch 1962! Zu R. Hildebrand vgl. F. Greß (Anm. 10) S. 87-112. - Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Rezension Konrad Burdachs, Schriften über den deutschen Unterricht. In: Anzeiger f. dt. Altertum 12, 1886, S. 134-163; vgl. auch H. J. Frank (Anm. 126) S. 502-507. 144 Vgl. H. Brackert u.a. (Anm. 130) S. 43. - Zu den Auswirkungen im literarischen Bereich vgl. die Hinweise bei Thomas Cramer, Mittelalter in der Lyrik der Wilhelminischen Zeit. In: H.-P. Bayerdörfer u. a. (Hg.), Literatur und Theater (Anm. 4) S. 35-61.

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Und heute? Vor diesem Hintergrund mußte die eingangs zitierte Prognose Konrad Burdachs, der sich noch der älteren Germanistengeneration verpflichtet fühlte, in die Irre gehen; die Germanistik nahm entgegen seinen pessimistischen Erwartungen einen ungeahnten Aufschwung bis hin zum Massenfach der Gegenwart. Die Fundamente dafür wurden im 19. Jahrhundert gelegt, aber die Einblicke in die Fachgeschichte haben gezeigt, daß diese Fundamente keineswegs an allen Stellen verläßlich und tragfähig sind. Werden sie die Belastung eines Massenfachs noch lange aushaken? Besteht teilweise oder insgesamt Einsturzgefahr? Welche Teile des Fundaments sind sanierungsfähig, sollten saniert werden? Fragen, die Antwort verlangen, wenn die Germanistik sich nicht eines Tages im exklusiven Garten der Orchideenfächer verpflanzt finden oder im Dienst einer Ideologie wiederfinden will. Geschichtliche Fragen - geschichtemachende Antworten: zu beiden möchte das Bändchen anregen.

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AUGUST HEINRICH HOFFMANN VON FALLERSLEBEN

Zur Geschichte des Wunderhorns [1855] Als Deutschland nach den unglücklichen Kriegen mit Napoleon in seiner tiefsten politischen Erniedrigung lag, da suchten die edelsten Gemüther durch das Schönste, was übrig geblieben war, durch die deutsche Sprache und Poesie sich zu trösten und sich und das Vaterland aufzurichten. Mit einer reineren Liebe, mit einem höheren Eifer als jemals zuvor erfasste man das eigenthümliche geistige Leben unseres Volkes in allen seinen Erscheinungen; es begann ein gründlicheres und vielseitigeres Studium unserer Sprache und aller ihrer Denkmäler der Vergangenheit und Gegenwart. Die Jahre 1805 und 1806, die uns in politischer Beziehung nur die allertraurigsten Erinnerungen zurückließen, nichts als Niederlagen zu verkünden wissen, müssen wir begrüßen als Siegesjahre für die Belebung des vaterländischen Sinnes und die Reinerhaltung und Entwickelung unserer Volkstümlichkeit. Nach allen Seiten hin war große Thätigkeit, alle Regungen des deutschen Geistes zu verfolgen, die Denkmäler der Sprache und Kunst zu retten, zu erhalten, dem Studium und Genüsse zugänglich zu machen, und die betrübten Gemüther damit zu trösten, daran aufzurichten und zu volksthümlichen Erzeugnissen in Kunst und Wissenschaft anzuregen. So entstand denn endlich das, was wir heute mit Recht deutsche Philologie nennen können, dieser Inbegriff der mannigfaltigsten Bestrebungen und Forschungen, das geistige Leben unsers Volkes, insofern es sich durch Sprache und Litteratur kundgiebt, darzustellen. Mit Dank müssen wir die Männer nennen, die uns hiezu die Bahn öffneten und später wirkten, ja noch jetzt zum Theil mit dem herrlichsten Erfolg wirken: Bernhard Jos. Docen, Jacob und Wilhelm Grimm, v. d. Hagen, Büsching, Görres, Benecke u. a. An sie schlössen sich damals an Achim v. Arnim und Clemens Brentano, die Herausgeber des Wunderhorns. Ihr großes Unternehmen, die deutschen Volkslieder der Vergangenheit und Gegenwart zu sammeln, kündigten sie folgendermaßen an im Intelligenzblatt der Jen. Allg. Lit.-Zeit. 1805. Nr. 106. Sp. 891. 892.

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»Zur Leipziger Michaelis-Messe d. J. erscheint: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von A. v. Arnim und Clemens Brentano, gr. 8°. Frankfurt a. M., bey J. C. B. Mohr und Heidelberg, bey Mohr und Zimmer.

Wir zeigen die erste größere Sammlung älterer deutscher Lieder an, wie sie die Neueren unter den Namen: Romanzen und Balladen begreifen, wie die Vorzeit sie im Gesänge erfand und überlieferte, wie sie von uns aus dem Munde des Volks, aus Büchern und Handschriften gesammelt, geordnet und ergänzt sind. - Der Reichthum dieses nationalen Gesanges wird der allgemeinen Aufmerksamkeit nicht entgehen, es wird Viele überraschen, manche Bemühung unserer Zeit ergänzen oder aufheben. Wir erwarten sehr viel von der festen, freudigen Lebensweise dieser Lieder, einen mannichfaltigen volleren Ton in der Poesie, einen Anklang von bestimmten, echteigenen Gedanken; in Anderen eine Anregung mancher halbvergessenen Jugenderinnerung; sie werden nicht bloß gelesen, sie werden behalten und nachgesungen werden; sie umschließen ihrem Inhalte und ihrer Empfindung nach vielleicht den größten Theil deutscher Poesie, sie werden dadurch manches unbestimmte Verlangen befreien, was sich im Viellesen unberuhigt fühlt, sie werden dem deutschen Gemüthe wie eine schöne Geschichte erscheinen, die zugleich wahr ist, dem Fremden sind sie eine wunderbare hohe, vielleicht schon untergegangene, Bildungsstufe. A. (Achim v. Arnim)« Im J. 1806 erschien der erste Band: »Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder L. Achim von Arnim. Clemens Brentano. Heidelberg, Mohr und Zimmer.«

Im J. 1808 folgten der zweite und dritte. Das große Publicum zeigte die größte Theilnahme und Anerkennung, die Gelehrten aber waren darüber getheilter Meinung. Während die einen das Werk als ganz vortrefflich anpriesen, suchten die anderen dies Lob zu beschränken, wussten nicht genug daran zu mäkeln und verschiedene Mängel und Gebrechen herauszustellen. [. . .]

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FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN

Der Nibelungen Lied Erneuet und erklärt [1807]

1. Zueignung der ersten Ausgabe an Johannes Müller Wie man zu des Tacitus Zeiten die Altrömische Sprache der Republik wieder hervor zu rufen strebte: so ist auch jetzo, mitten unter den zerreißendsten Stürmen, in Deutschland die Liebe zu der Sprache und den Werken unserer ehrenfesten Altvordern rege und thätig, und es scheint, als suche man in der Vergangenheit und Dichtung, was in der Gegenwart schmerzlich untergeht. Es ist aber dies tröstliche Streben noch allein die lebendige Urkunde des unvertilgbaren Deutschen Karakters, der über alle Dienstbarkeit erhaben, jede fremde Fessel über kurz oder lang immer wieder zerbricht, und dadurch nur belehrt und geläutert, seine angestammte Natur und Freiheit wieder ergreift. Ja es ist diese Liebe, zum sicheren Pfände solcher Verheißung, ohne Zweifel der Ausfluß einer weit größeren, gründlicheren, und auch unschuldigeren Revolution, als jene äußere unserer Tage; welche geräuschlos und still, wie das Licht, die Deutsche Erde zwar nur erst berührte, aber eben so allmächtig und unaufhaltsam einst mit vollem Tage hereinbrechen wird. Unterdessen aber möchte einem Deutschen Gemüthe wohl nichts mehr zum Trost und zur wahrhaften Erbauung vorgestellt werden können, als der unsterbliche alte Heldengesang, der hier aus langer Vergessenheit lebendig und verjüngt wieder hervorgeht: das Lied der Nibelungen, unbedenklich eins der größten und wunderwürdigsten Werke aller Zeiten und Völker, durchaus aus Deutschem Leben und Sinne erwachsen und zur eigenthümlichen Vollendung gediehen, und als das erhabenste und vollkommenste Denkmal einer so lange verdunkelten Nazionalpoesie, unter den übrigen, zwar auch nicht unbedeutenden und geringen Resten derselben, doch ganz einzig und unerreicht dastehend, - dem kolossalen Wunderbau Erwins von Steinbach vergleichbar. Kein anderes Lied mag ein vaterländisches Herz so rühren und ergreifen, so ergötzen und stärken, als dieses, worin die wunderbaren Mährchen der Kindheit wie63

derkommen und ihre dunkelen Erinnerungen und Ahnungen nachklingen, worin dem Jünglinge die Schönheit und Anmuth jugendlicher Heldengestalten, kühner, ritterlicher Scherz, Uebermuth, Stolz und Trutz, männliche und minnigliche Jungfrauen in des Frühlings und des Schmuckes Pracht, holde Zucht, einfache, fromme und freundliche Sitte, zarte Scheu und Schaam, und liebliches, wonniges Minnespiel, und über alles eine unvergeßliche, ewige Liebe sich darstellen; und worin endlich ein durch dieselbe grauenvoll zusammengeschlungenes Verhängniß eine andere zarte Liebe in der Blüte zerstöhrt und alles unaufhaltsam in den Untergang reißt, aber eben in diesem Sturze die herrlichsten männlichen Tugenden offenbart, als da sind: Gastlichkeit, Biederkeit, Redlichkeit, Treue und Freundschaft bis in den Tod, Menschlichkeit, Milde und Großmuth in des Kampfes Noth, Heldensinn, unerschütterlicher Standmuth, übermenschliche Tapferkeit, Kühnheit, und willige Opferung für Ehre, Pflicht und Recht; Tugenden die in der Verschlingung mit den wilden Leidenschaften und düstern Gewalten der Rache, des Zornes, des Grimmes, der Wuth und der grausen Todeslust, nur noch glänzender und mannigfaltiger erscheinen, und uns, zwar traurend und klagend, doch auch getröstet und gestärkt zurücklassen, uns mit Ergebung in das Unabwendliche, doch zugleich mit Muth zu Wort und That, mit Stolz und Vertrauen auf Vaterland und Volk, mit Hoffnung auf dereinstige Wiederkehr Deutscher Glorie und Weltherrlichkeit erfüllen. Wem aber anders möchte ich diese meine Bearbeitung dieses solchen Werkes wohl zueignen, als Dem, Der der Erste in Erforschung und Beschreibung der Geschichten Deutscher Nation durch die Wahrheit und die Würde ihrer eigenen alten Sprache, zuerst die Trefflichkeit desselben erkannte, es als eins ihrer größten Thaten verkündigte und zur Belebung desselben auffoderte; Der vor allen mir, dem davon erfüllten, Muth und Kraft zur Vollführung dieses Unternehmens mittheilte, ja durch Rath und That und durch großmüthige Verleihung seines verehrten Namens mir dieselbe eigentlich erst möglich machte: so daß, wenn ich etwas geleistet habe, es nur Dem Manne zuzuschreiben, gegen Den meine Dankbarkeit so groß ist, als der Gewinn und die Freude, welche solche Unterstützung bei dieser Arbeit mir gewährt haben. [. . .]

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2. Vorrede Diese neue Ausgabe meiner ersten Erneuung des Nibelungen Liedes, welche die Zeit verlangte, wird sich am besten durch die That rechtfertigen: ich habe daher nur weniges von ihrem Zwecke, mehr von ihrer Art und Einrichtung zu sagen. Die Meisten haben unser altes Heldenlied in solcher Erneuung zuerst kennen gelernt; und weil die, freilich vor allen wichtige Ausgabe der Urschrift, welche bisher schon in Buchstaben und Sprache so fremd und gelehrt erschien, und in der neuen Ausgabe noch mehr so erscheinet, so ist neben dieser wissenschaftlichen Aufstellung und Erklärung des Gedichts, eine solche Vermittelung für den größten Theil der Leser, die man ihm doch gönnen und wünschen muß und denen man auch wohl etwas schuldig ist, ein wahres Bedürfniß: ich meine, für alle, die sich nicht auf schriftgelehrte Weise mit dem alten "Werke beschäftigen können und mögen, vornämlich, die Frauen und die Künstler. Daß für diese letzten eine solche Arbeit nicht verloren gewesen, haben die großen, daraus und dazu hervorgegangenen Kunstwerke, welche zu den herrlichsten und eigenthümlichsten unserer Zeit gehören, bewiesen, und werden es bald noch mehr. Es dünkt einen hier nun so leicht, das alte Deutsch in das neue umzuschreiben: aber, abgesehen von der Dunkelheit, welche sogar jetzo, nach so vielen Bemühungen, noch über manchen Stellen schwebt, so sind auch so manche Wörter, Formen und Wendungen so ganz veraltet (z. B. betten für harren, gieh für ging, unz für bis, die Verneinung ne, en, und die Verbindung damit, anstatt wenn nicht, denn), und so manches dergleichen steht in den Reimen, daß man, um eine gewisse gleichmäßige Verständlichkeit hervorzubringen, vieles ganz verändern, umstellen, anders wenden und ausdrükken muß. Dadurch ist aber Ungenauigkeit unvermeidlich, alles kömmt aus den alten Gelenken und Fugen, und gleichwohl wird eine glatte Allgemeinverständlichkeit nimmer erreicht, weil in der Darstellung und Form des Ganzen jene Aenderungen fremd und bunt erscheinen müssen; so wie auch damit nichts gewonnen ist, wenn etwa bloß die alte Form zerbrochen und doch keine eigenthümliche durchaus neue Darstellung dafür gegeben wird. Solches ist in meiner ersten Erneuung und ändern noch weiter erneuenden Bearbeitungen der Fall: und ich habe daher, im Widerspiel jener Uebersetzer wieder einen starken Schritt zum Alten zurückgethan, 65

von welchem ich hoffe, daß er in der Sache einer vorwärts ist. Schon in meinen, auf die Nibelungen gefolgten Erneuungen des Heldenbuchs habe ich, auf jene fußend, mich etwas näher gewagt, und so bin ich nun in diesen Nibelungen völlig durchgedrungen. Ich habe demnach bloß die Rechtschreibung und die durch sie bezeichneten Laute des alten, im Munde des Volkes meist noch lebenden Oberdeutsch in die daraus entstandene gegenwärtige Hochdeutsche Schriftsprache verwandelt, hauptsächlich nur das tiefkehlige ch (z. B. chranch) in k, i und u in ei und au (sin, Hus) und iu, ou, uo in euy au, und u (iuch, Vrou, guot); aber alle alterthümliche Formen, die noch leicht, besonders aus der Bibel, und durch ähnliche Anklänge, auch aus den Mundarten, verständlich sind, und den alten freien Wechsel derselben habe ich behalten: nur höchst wenige, unbedeutende und gleichgültige (wie die obenaufgeführten) und andere in der Urschrift selber mit bekannteren wechselnde, sind vermieden oder vertauscht, innerhalb der Reimzeilen, in den Reimen selbst aber fast nie, und ist daher in der Wortstellung und Wortfügung durchaus nichts geändert. Ich habe lieber alles dies, und überhaupt alles, was von der gegenwärtigen gemeinen Sprache irgend abweicht in den Anmerkungen erklärt, mit kurzer Hinweisung auf jene noch lebende oder anderweitige Sprachähnlichkeit, hie und da, bei merkwürdigen Wörtern, etwas mehr über ihre Herkunft beigefügt. Und ich habe mich nicht verdrießen lassen, lieber auf jedem Blatte fast alle von Anfang her nöthigen Erklärungen zu wiederholen, als dieselben, viel leichter, in einem Wörterbuche zusammen zu fassen, weil ich weiß, wie wenig man zum Nachschlagen geneigt ist: und so wird man hier überall aufschlagen und anfangen können, und gleiche Verständigung finden. Doch ist bei mancher wiederholten kurzen Erklärung auf die längere an der ersten oder bedeutsamsten Stelle verwiesen, und von den am häufigsten vorkommenden meist ritterlichen Ausdrücken habe ich auf Einem Blatte eine kurze Erklärung, mit gleicher Hinweisung, voran gestellt, welche man sich zum voraus leicht einprägen kann; und damit man sie auch überall bei der Hand habe, ist sie doppelt beigegeben, einmal zum Herausschlagen oder Buchzeichen. [. . .]

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JOSEPH GÖRRES

Die deutschen Volksbücher Einleitung [1807] Die Schriften, von welchen hier die Rede ist, begreifen weniger nicht als die ganze eigentliche Masse des Volkes in ihrem Wirkungskreis. Nach keiner Seite hin hat die Literatur einen größeren Umfang und eine allgemeinere Verbreitung gewonnen, als indem sie übertretend aus dem geschlossenen Kreise der höheren Stände, durchbrach zu den untern Classen, unter ihnen wohnte, mit dem Volke selbst zum Volke, Fleisch von seinem Fleisch, und Leben von seinem Leben wurde. Wie Halm an Halm auf dem Felde in die Höhe steigt, wie Gräser sich an Gräser drängen, wie unter der Erde Wurzel mit Wurzel sich verflicht, und die Natur einsilbig aber unermüdet immer dasselbe dort, aber immer ein Anderes sagt, so thut auch der Geist in diesen Werken. Wie sehen wir nicht jedes Jahr in der höheren Literatur die Geburten des Augenblicks wie Saturn seine Kinder verschlingen, aber diese Bücher leben ein unsterblich unverwüstlich Leben; viele Jahrhunderte hindurch haben sie Hunderttausende, ein ungemessenes Publikum, beschäftigt; nie veraltend sind sie, tausend und tausendmal wiederkehrend, stets willkommen; unermüdlich durch alle Stände durchpulsirend und von unzählbaren Geistern aufgenommen und angeeignet, sind sie immer gleich belustigend, gleich erquicklich, gleich belehrend geblieben, für so viele viele Sinne, die unbefangen ihrem inwohnenden Geiste sich geöffnet. So bilden sie gewissermaßen den stammhaftesten Theil der ganzen Literatur, den Kern ihres eigenthümlichen Lebens, das innerste Fundament ihres ganzen körperlichen Bestandes, während ihr höheres Leben bey den höheren Ständen wohnt. Ob man wohlgethan, diesen Körper des Volksgeistes als das Werkzeug der Sünde so geradehin herabzuwürdigen; ob man wohlgethan, jene Schriften als des Pöbelwitzes dumpfe Ausgeburten zu verschmähen, und darum das Volk mit willkührlichen Beschränkungen und Gewaltthätigkeiten zu irren, das ist wohl die Frage nicht! Denn wir tadeln ja auch die Biene nicht, daß sie im Sechseck baue, und die Seidenraupe nicht, daß sie nur Seide und nicht Tressen und Purpurkleider webe, und beginnen allmählig jetzt die Welt zu achten, wie ohne Menschenweisheit sie die Natur zu ihrem Bestand ge67

ordnet, und zur schönen humanen Duldung wohl gelangt, lassen wir leben was athmen mag, weil es sich nicht geziemt, des Herren Werke zu vernichten. Von dieser toleranten Gesinnung der Gebildeten gegen die Ungebildeten wäre es, dünkt uns, gut und gelegen in der Untersuchung auszugehen; jene aber, die das Postulat nicht zuzugeben gesonnen sind, werden es zugleich mit begründet finden, wenn bewiesen worden, was bewiesen werden sollte. Das nämlich ist die Frage, ob diese Schriften bei ihrer äußeren Verbreitung wohl auch eine gewisse angemessene innere Bedeutsamkeit besitzen; ob nicht zu spärlich für den höhern Sinn der Funken der bildenden Kraft in ihnen glimme; ob nicht, das Alles zugegeben, das Höhere, sobald es aus der Oberwelt in die pflanzenhafte, gefesselte Natur des Volks herabgestiegen, dort seine ganze innere Lebendigkeit verliere, und in ein unnützes Geranke verwildert, nur noch als schädlich Unkraut üppig wuchre? Wahr ist's, schmackloses Wasser führen die Ströme und die Brunnen nur, die aus schlechter Erde quellen, während der Feuerwein nur auf wenigen sonnigten, hochaufstrebenden Gebürgen reift; man hat recht gut und recht scharfsinnig bemerkt, daß die Feldblumen wenig Reize für den gebildeten Dilettanten besitzen, und es ist ein kläglich Ding um Alles, was die Natur weggeworfen, es ist kaum des Aufhebens für den bemittelten Menschen werth, was aber wirklich kostbar ist, das versteckt sie recht tief und geizig in die vielen Falten ihres weiten Mantels, und nur wer die Wünschelruthe hat, der mag zu dem Verborgenen gelangen. Wahr scheints ferner auch, das Volk lebt ein sprossend, träumend, schläfrig Pflanzenleben; sein Geist bildet selten nur und wenig, und kann nur in dem Strahlenkreise der höheren Weltkräfte sich sonnen, seine Blüthe aber blüht Alles unter die Erde in die Wurzel hinab, um dort wie die Kartoffel eßbare Knollen anzusetzen, die die Sonne nimmer sehen. Nicht ganz so ungegründet zeigt sich daher wohl die Besorgniß, es sey da unten nichts zu suchen, als werthloses Gerolle, Kieselsteine, die die Ströme in den langen Zeitläuften rund und glatt gewälzt, schmutzige Scheidemünzen, die vielfältiges Betasten abgegriffen. Aber Manches mögte doch dieser Ansicht wieder entgegenreden. Für's erste könnte es scheinen, als ob die künstliche Differenz der Stände, weil keineswegs die Natur unmittelbar sie gegründet, und in scharfen Umrissen abgegränzt, auch auf keine Weise von so gar mächtigem Einfluß wäre. In jedem Menschen sind, dünkt uns, eigentlich alle Stände; diese Zeit hat uns gelehrt, wie sie 68

in einzelnen Individuen alle der Reihe nach erwachten, bis endlich oben gar Kronen aus dem Unscheinbaren erblühten. In den obern Ständen sehen wir daher den Bauer und den Bürger hinter der äußeren Eleganz versteckt, im Bauer aber in der Regel den guten Ton so zu sagen ins Fleisch geschlagen, und dort zum Tonus des Muskels werden. Man sollte denken, daß der eingesperrte Bauer dort wohl auch einmal, wenn er sich durchgeschlagen, auf bäuerisch sich erquicken mögte, und wieder daß wohl auch in den unteren Ständen, besonders an Sonn- und Festtagen, wenn der Wochenschmutz abgerieben, und der Körper im Staate auch zu Staatsactionen aufgelegt sich fühlt, der kniende Herr im Menschen sich aufrichten, und um sich blicken, und auch nach den goldenen Aepfeln lüstern mögte, die oben in dem dunkeln Laube hängen. Wir wollen indessen keineswegs auf diesem fußen: jene würden schamhaft darum sich verbergen, daß sie in einem schwachen Momente sich überrascht; diese würde man als eitle Parvenüs verlachen und in Spott entlassen. Aber eines wollen wir vorzüglich in's Auge nehmen, daß wir die Pöbelhaftigkeit, als Solche rein schlecht und verwerflich, unterscheiden von Volksgeist und Volkessinn, die in ihrer Ausartung und Verderbniß nur in jenen übergehen. Wir werden dann der alten Bemerkung uns erinnern, wie diese Pöbelhaftigkeit durch alle Stände greifend keineswegs allein auf die Unteren sich beschränkt. Wenn wir das lärmende Marktvolk in unserer feinen Literatur die Kunstwerke umsummen und stier und dumm begaffen sehen, und dann in dem bösen Pfuhle, der sich um die hohen Bilder sammelt, die schönen Formen in mißfälligen Verzerrungen wiederscheinen, dann wittern wir Pöbelluft; die Schlechtigkeit im Volke hat ihre Repräsentanten zum großen Convente abgesendet, und die sitzen nun im Rathe zu Gericht über Leben, Kunst und Wissenschaft, und legen ihren Comittenten periodisch Rechenschaft von ihrem Thun und Lassen ab, und es ist ein Geist und ein Willen und eine Gesinnung, die unter den verbundenen Brüdern und Freunden herrschen. So hat das Böse, das Schlechte, das Gemeine seine Kirche, seinen sichtbaren Statthalter auf Erden, betraute Räthe, Priester, Ritter, Layen, alles Janhagel, feiner, gröber, bestialisch, geschliffen, pfiffig, dumm, alles Janhagel. Von dieses Volkes Büchern reden wir nicht, es würde zu weitläufig seyn, und wir würden uns zu hoch versteigen müssen. Aber es giebt ein anderes Volk in diesem Volke, alle Genien in Tugend, Kunst und Wissenschaft, und in jedem Thun sind dieses Volkes Blüthe; jeder, der reinen 69

Herzens und lauterer Gesinnung ist, gehört zu ihm; durch alle Stände zieht es, alles Niedere adelnd, sich hindurch, und jeglichen Standes innerster Kern, und eigenster Character ist in ihm gegeben. Jedem Stande kann nämlich ein Idealcharakter inwohnend gedacht werden, höher hinauf gestimmt in den höheren Ständen; tiefer verleiblicht, aber immer noch vollkommen im Volke. Körperliche Gesundheit ist so vollendet in sich und achtbar, wie innere Geistesharmonie, und Eines jedesmal durch das Andere bedingt. Von diesem heiligen Geiste, der im Volke wohnt, und nichts zu schaffen hat mit unheil'gem Pöbel, reden wir jetzt, ob er darum weil er derber, sinnlicher im Niedersteigen geworden ist, verwerflich sey. So ist der Geist, der z. B. am französischen Volke übrig bleibt, nachdem man Alles, was die Verruchtheit von Jahrhunderten ihm eingebrannt, mit jenem Pöbel von ihm abgeschieden, ein harmloser, gutmüthiger, leichter, heiterer Lebensgeist; gewandt und rasch in allen Aeußerungen, für das Gute leicht empfänglich und berührsam. Das ist der herrliche Geist, der in den englischen Matrosen wohnt, nachdem man alle Bestialität in die Schlacken hineingetrieben, diese kräftige, energische, unermüdliche, brave Natur, die wie Damascenerstahl im Sturmesbraus gehärtet gegen den Ankampf aller Elemente federt, und stolz und wild und siegreich mit dem Meere ringt. Das der Spanier stolzer, hoher Barbareskensinn, der tönendes Erz im Busen trägt, und weil er Würdiges nicht vollbringen kann, lieber auf seinem innern Reichthum ruht, und jede ungeziemende Thätigkeit verschmäht. So erkennen wir endlich auch den ächten innern Geist des teutschen Volkes, wie die älteren Mahler seiner besseren Zeit ihn uns gebildet, einfach, ruhig, still, in sich geschlossen, ehrbar, von sinnlicher Tiefe weniger in sich tragend, aber dafür um so mehr für die höhern Motive aufgeschlossen. Gerade die Demüthigung, die diesem Charakter durch das Ungeschick der Führer bereitet worden ist, muß die innere Scheidung in dem Wesen der Nation vollenden; sich lossagend von dem, was die Verworrenheit der nächst vergangenen Zeit ihr aufgedrungen, muß sie zurückkehren in sich selbst, zu dem was ihr Eigenstes und Würdigstes ist, wegstoßend und preisgebend das Verkehrte; damit sie nicht gänzlich zerbreche in dem feindseligen Andrang der Zeit. Nachdem wir das Alles auf diese Weise erwogen, wird der Gedanken einer Volksliteratur uns keineswegs mehr so nichtig und in sich selbst verwerflich scheinen, als es so geradehin auf den ersten Blick den Anschein gewann. Nachdem wir einen inwendigen Geist 70

in allen Ständen wohnend, und gleich einem schlackenlosen Metallkönig durch alle Verunreinigung von Zeit und Gelegenheit durchblickend anerkannt, wird auch die Idee näher uns befreundet, daß im allgemeinen Gedankenkreise die untersten Regionen auch etwas gelten und bedeuten mögten, und daß der große Literaturstaat sein Haus der Gemeinen habe, in dem die Nation sich selbst unmittelbar repräsentire. Giebt es aber nun wirklich einen Kreis von Schriften, die der Genius jener Völker, die wir aufgezählt, gleichmäßig anerkennt, die viele einander folgenden Generationen immer wieder von neuem sanctionirt, die den Besten immer Wohlgefallen, die die Menge niemal sinken lassen, und nach denen Alle nimmer zu verlangen aufgehört, dann thun wir klug, nicht mehr so ganz wegwerfend abzuurtheilen; die Verachteten mögten uns unter die Augen treten, und uns entgegen fragen, was wir denn selber bedeuteten, und worauf unser Dünkel denn wohl sich gründen mögte? So aber ist's wirklich mit den Büchern, die wir im Auge haben, beschaffen: so weit teutsche Zungen reden, sind sie überall vom Volke geehret und geliebt; von der Jugend werden sie verschlungen, vom Alter noch mit Freude der Rückerinnerung belächelt, kein Stand ist von ihrer Einwirkung ausgeschlossen, während sie bei den Untern die einzige Geistesnahrung auf Lebenszeit ausmachen, greifen sie in die Höheren, wenigstens durch die Jugend ein, in der überhaupt aller Standesunterschied sich mehr ausgleicht, und die in ihnen oft für ihre ganze künftige Existenz den äußeren Anstoß findet, und den Enthusiasmus ihres Lebens saugt. Aber keineswegs auf diesen großen nationeilen Kreis haben sie ihre Wirksamkeit beschränkt; wie bei den Teutschen, so finden wir sie auf gleiche Weise bei den Franzosen in allgemeinem Umlauf; wie dort Coin und vorzüglich Nürnberg sie zu tausenden nach allen Richtungen hin vertreiben, so ist hier Troyes der allgemeine Stapelplatz, von wo aus sie, in gleicher Menge, nur in der Form häufig sorgfältiger und correcter wie bei den Teutschen, sich über die Nation verbreiten, und einen unzuberechnenden Einfluß auf ihren Geist und Character üben. Und auch damit noch ist der Wirkungskreis dieser Bücher nicht begränzt; während die Holländer und die Engelländer die Meisten in ihrer Sprache besitzen, haben nicht minder die Spanier und die Italiäner sie theils in die Ihrige übersetzt, theils Manche selbst für sich producirt, so daß vielleicht sechszig und mehr Millionen Menschen um ihre Existenz wissen, und mehr oder weniger an ihnen sich erfreuen. Nimmt man nun noch hinzu, daß während im Jahr71

Hunderte dreimal die Generationen wechseln, diese Bücher drei, vier und mehrere Jahrhunderte überlebten; Manche wie wir sehen werden, bis in die grauesten Zeiten des Alterthums hinaufreichen, dann gewinnen sie ein wahrhaft ungemessenes Publicum, und sie stehen keineswegs mehr als Gegenstände unserer Toleranz uns gegenüber, sondern vielmehr als Objecte unserer höchsten Verehrung und unserer wahrhaftigen Hochachtung; als ehrwürdige Alterthümer, die durch das läuternde Feuer so vieler Zeiten und Geister unversehrt durchgegangen sind. Man glaube nur nicht, daß ein Schlechtes für sich diese Prüfung der Menge und der Zeit bestehen könne: es kann mit unterlaufen, von dem Guten durchgeschleppt, aber nimmer sich für sich selbst allein behaupten. Die Nation ist nicht einem todten Felsen ähnlich, dem der Meisel willkührlich jedes Bild eingraben kann, es muß etwas ihm Zusagendes in dem seyn, was man von ihr aufgenommen wissen will; ein dunkler Instinct für das Gute ist keiner Creatur versagt, und damit fühlt sich leicht, was gut und gedeihlich was schädlich und giftig ist, heraus, und kräftig, und ohne sich zu besinnen, stößt die Menge alles ab, vor dem dieser dunkle Trieb sie warnt. Und wenn auch einzelne Irrungen unterlaufen, wenn das Schlechte, das Kraftlose augenblicklichen Eingang findet, bald erwacht der innere Eckel und Ueberdruß, und die Zeit spült in ihrem Strome alles wieder weg, und gleicht alle Fehler wieder aus. Was aber diese Probe besteht, was Allen zusagt, Individuen und Geschlechtern, was Allen eine widerhaltende, kräftige Nahrung giebt wie Brod, das muß nothwendig Brodeskraft in sich besitzen, und lebensstärkend seyn. Wenn daher auch der Zufall bei der Wahl dieser Schriften gewaltet zu haben scheint, indem man dem Volke sie geboten, bey der Aufnahme hat er keineswegs vorgeherrscht; ein großes fortdauerndes Bedürfniß muß im Volk bestehen, dem jede Einzelne für sich zusagt, und das daher fortdauernd sie erhält: nur gerade das Schlechte mag durch den Zufall oben schwimmend eine Weile erhalten werden, muß aber nothwendig auch über lang oder kurz von ihm zerrieben werden. Und dies Bedürfniß ist gerade das unvertilgbar der menschlichen Natur eingepflanzte Streben, zu sättigen den Geist mit Gedanken, und mit Empfindungen das Gemüth; ein Streben, das gerade am überraschendsten auf dieser Stufe siegreich sich offenbart, wo es scheinen sollte, als ob der dunkle sinnliche Trieb, und die Lust, die mit seiner glücklichen Befriedigung verbunden ist, alle die Kräfte fesseln müßte, deren Spielraum 72

in Regionen fällt, wo das körperliche Bedüfniß nichts zu suchen hat. Aber durchbrechend durch die feste Corallenrinde, in der das Leben gegen die unfreundliche Natur sich wahren muß, drängt der innere verschlossene Geist die Fühlhörner hinaus in die weite freye Umgebung, und es ist rührend zu sehen, wie er um sich tastend, und Alles umher begreifend, und nach allen Richtungen sich windend, nach Weltanschauung ringt, und auch sich ergötzen mögte in dem freundlichen Strahl, der die Seele aller Creaturen ist. Es ist daher ein anderer Hunger und ein anderer Durst, als jener blos sinnliche, der hier sich im Volke regt; nicht nach körperlicher Speise sehnt er sich, damit er in Leibliches sie wandle, sondern nach dem höheren Geiste lüstert ihn, den der Genius ausgegossen aus seiner Schaale in die rohe Materie, und der als ihre Seele sie sich nun zugestaltet hat. In die Tiefe zieht das Thier im Menschen die Leibesnahrung zu sich nieder, und wiederkäuend und assimiürend die Lebenslymphe erstarkt es, und gewinnt Breite und Raum auf Erden; aber der Gott im Menschen mag nur den feinsten Wohlgeruch der Dinge, den zarten Duft, der aus ihnen unbegreiflich und unsichtbar athmet, er nährt sich nur mit den Lebensgeistern, die im Innersten der Wesen verborgen wohnen, die er dann einsaugt mit allen Nerven, und sich aneignet als eines höheren Himmels Speise, und in der Aneignung selbst verklärt. Dieser Geist muß sich vom Thiere losgerungen haben, zum Centauren muß das rein Thierische sich hinaufgesteigert haben, in dem das Menschliche siegreich das Animalische überragt und bändigt, wenn irgend der Drang nach jener feinern Nahrung in ihm lebendig werden soll. Daß aber im Volke jener Drang und die Mittel zu seiner Befriedigung sich finden, beweißt eben, daß in ihm längst schon jene Umwandlung vorgegangen ist; daß es längst schon die Region der dumpfen Stupidität verlassen hat, in die seine Verhältnisse es unlösbar gefesselt zu haben scheinen; daß nun in den untersten Classen der Gesellschaft das Bessere siegreich sich offenbart, und daß oben auf dem durch und durch sinnlichen Körper ein menschlich Antlitz entsprossen ist, das über die wagrechte Thierlinie sich erhebend hinaufstrebt zum Himmel, und Anderes denn das Irdische schon sucht und kennt. Auf zwiefach verschiedene Weise aber hat jene innere im Volke wach gewordene Poesie sich im Volke selbst geäußert. Einmal im Volkslied, in dem die jugendliche Menschenstimme zuerst thierischem Gebelle entblüht, wie der Schmetterling der Chrysalide, in ungekünstelten Intonationen die Tonleiter auf- und niedersteigend 73

freudig sich versuchte, und in dem die ersten Naturaccente klangen, in die das verlangende, freudige, sehnende, in innerem Lebensmuth begeisterte Gemüth sich ergossen. Eintretend in die Welt, wie der Mensch selbst in sie tritt, ohne Vorsatz, ohne Ueberlegung und willkührliche Wahl, das Daseyn ein Geschenk höherer Mächte, sind sie keineswegs Kunstwerke, sondern Naturwerke wie die Pflanzen; oft aus dem Volke hinaus, oft auch in dasselbe hineingesungen, bekunden sie in jedem Falle eine ihm einwohnende Genialität, dort productiv sich äußernd, und durch die Naivität, die sie in der Regel characterisirt, die Unschuld und die durchgängige Verschlungenheit aller Kräfte in der Masse, aus der sie aufgeblüht, verkündigend; hier aber durch ihre innere Trefflichkeit den feinen Tact und den geraden Sinn bewährend, der schon so tief unten wohnt, und nur von dem Besseren gerührt nur allein das Bessere sich aneignet und bewahrt. Wie aber in diesen Liedern der im Volke verborgene lyrische Geist in fröhlichen Lauten zuerst erwacht, und in wenig kunstlosen Formen die innere Begeisterung sich offenbart, und bald gegen das Ueberirdische hingerichtet, vom Heiligen spricht und singt, so gut die schwere wenig gelenke Zunge dem innern Enthusiasm Worte geben kann; dann aber wieder der Umgebung zugewendet, von dem Leben und seinen mannichfaltigen Beziehungen dichtet, jubelt oder klagt und scherzt: so muß auf gleiche Weise auch der epische Naturgeist sich bald ebenfalls dichtend und bildend zu erkennen geben, und auch mit seinen Gestaltungen den ihm in dieser Region gezogenen Kreis anfüllen. Jenen religiösen und profanen Gesängen, in denen des Volkes Gemüth sein Inneres ausspricht, werden daher auch bald andere Gedichte im Character jenes ruhigen Naturgeistes sich gegenüberstellen, in denen das Gemüth was es durch seine Anschauung in der Welt gesehen, mahlt und verkündigt, und gleichfalls, bald als heilige Geschichte das Ueberirdische bedeutsam bezeichnet, bald als Romantische dem unmittelbar Menschlichen näher gerückt, durch Schönheit, Lebendigkeit, Größe, Kraft, Zauber oder treffenden Witz ergötzt. Diese Dichtungen sind die Volkssagen, die die Tradition von Geschlecht zu Geschlechte fortgepflanzt, indem sie zugleich mit jenen Liedern, durch die Gesangweise die sich dem Organe eingeprägt, einmal gebildet, vor dem Untergange sich bewahrten. In den frühesten Zeiten entstanden die meisten dieser Sagen, da wo die Nationen, klare frische Brunnen der quellenreichen, jungen Erde eben erst entsprudelt waren; da wo der 74

Mensch gleich jugendlich wie die Natur mit Enthusiasmus und liebender Begeisterung sie anschaute, und von ihr wieder die gleiche Liebe und die gleiche Begeisterung erfuhr; wo Beyde noch nicht alltäglich sich geworden, Großes übten und Großes anerkannten: in dieser Periode, wo der Geist noch keine Ansprüche auf die Umgebung machte, sondern allein die Empfindung; wo es daher nur eine Naturpoesie und keine Naturgeschichte gab, mußten nothwendig in diesem lebendigen Naturgefühle die vielfältig verschiedenen Traditionen der mancherlei Nationen hervorgehen, die kein Lebloses anerkannten, und überall ein Heldenleben, große gigantische Kraft in allen Wesen sahen, überall nur großes, heroisches Thun in allen Erscheinungen erblickten, und die ganze Geschichte zur großen Legende machten. Lebendig wandelten diese Gesänge mit den Liedern, vom Ton beseelt, im Leben um; da aber, als die Erfindung der Schreibkunst und später der Buchdruckerey dem Ton das Bild unterschob, da wurde freilich das Leben in ihnen matter, aber dafür in demselben Maaße zäher, und was sie an innerer Intensität verlohren, gewannen sie wenigstens an äußerer Extension wieder. So wurden die Lieder in jenen fliegenden Blättern fixirt, die sie wie auf Windes-Fittig durch alle Länder trugen; und was im Munde des Volkes allmählig mehr und mehr verstummte, das bewahrte das Blatt wenigstens für die Erinnerung auf. Jene ändern Gesänge aber, ihrer Natur nach mehr ruhend, bestimmt, mehr an das Bild als an den Ton gebunden, und daher Zauberspiegeln gleich, in denen das Volk sich und seine Vergangenheit, und seine Zukunft, und die andere "Welt, und sein innerstes geheimstes Gemüth, und Alles was es sich selbst nicht nennen kann, deutlich und klar ausgesprochen vor sich stehen sieht; diese Gebilde mußten vorzüglich in jenem äußeren Fixirenden ein glückliches Organ für ihre freie Entwicklung finden, weil sie ihrer Natur nach mehr im Extensiven sind, und nun, indem die Schranken, die die enge Capacität des Gedächtnisses ihnen zog, gefallen waren, sich frei nach allen Richtungen verbreiten konnten. So sind daher aus jenen Sagen die meisten Volksbücher ausgegangen, indem man sie, aufgenommen aus dem mündlichen Verkehr in den Schriftlichen, in sich selbst erweiterte und vollendete; nur Eines haben sie bei dieser Metamorphose eingebüßt: die äußere poetische Form, die man als bloßes Hülfsmittel des Gedächtnisses jetzt unnütz geworden wähnte, und daher mit der gemeinen Prosaischen verwechselte. So gut nämlich wie der alten griechischen Sage von der Einnahme Trojas ist es wenigen Späteren geworden, 75

daß sie nämlich einen Homer gefunden hätten, der aus dem Munde der Nation sie übernehmend, während er extensive zum großen Epos sie erweiterte, sie zugleich auch in ihrer inneren Form verklärte, und das große Werk nun in Tafeln von Erz gegraben im großen Tempel der Nation aufgestellt. Die Tradition selbst aber, nachdem sie auf diese Weise ein bleibendes Organ gefunden, verlor nun als Solche sich allmählig; während Andere Jahrhunderte hindurch umsonst auf die gleiche Erlösung wartend, von der fortschreitenden Kultur erreicht, in sich vergangen sind, und noch Andere in den entlegneren Gegenden, wo die Zeit das alte Dunkel noch nicht aufgeklärt, in der Dämmerung stillen Lichtern gleich, schweben, und auf eine bessere Zukunft verzweifelnd harren, weil die Misgunst der Umstände nicht wollte, daß die Vergangenheit ihnen Körper und Bestand gegeben hätte. Von vielen dieser Volksbücher sagt ihre Geschichte ausdrücklich, daß sie auf solche Weise entstanden sind; Andere tragen unverkennbar den Character dieser Abkunft in ihrem ganzen Wesen, und wenn man bei noch Anderen auf besondere historische Quellen sich beruft, dann findet man, wenn man die Natur dieser Quellen genauer prüft, immer wieder, wie sie zuletzt auf jene Sagen sich beziehen, und aus ihnen sich gesammelt haben. Was aber die Didactischen, Lehrenden unter den Volksbüchern betrifft, so sind sie eben ihres innern reflectirenden Characters wegen durchaus modern, und in demselben Grade mehr modern, wie das Verständige in ihnen mehr vorherrscht. Und in den Aeltesten herrscht es noch am meisten vor; jene wunderbare Ansicht von seltsamen Eigenschaften der Naturproducte, z. B. in den Kräuterbüchern dieser Zeit, die die Physik bei ihrem Fortschreiten völlig vernichtet hat, ist in dem Grade poetisch, wie sie unwissenschaftlich ist; und gerade weil sie so alt sind, ist so viel von Poesie in ihnen, so wenig hingegen von Wahrheit. Denn in dem Maaße, wie die Naturkraft im einzelnen Menschen und im ganzen Volke in jugendlicher Fülle, und in raschem Lebensmuth vorherrscht, in dem Maaße wird er auch von dem Lebensrausch besessen, und er taucht mit seinem ganzen Wesen unter in dem frischen warmen Quelle, und ist lauter Phantasie, und Empfindung und Poesie. Wenn aber, nachdem das Ganze in kräftiger Fülle sich gerundet hat, die Natur im Menschen zur Vollendung reift: dann sammelt er sich in sich selber wieder, und reißt sich von sich selber los, und tritt nun in seiner Freiheit dieser Natur und seiner ganzen Vergangenheit, eben so als einem 76

Gegenständlichen gegenüber, wie vorher das Object selbst der ganzen äußern Natur sich entgegensetzte, und mit diesem Gegensatz erwacht zuerst die Reflection und das Nachdenken, und mit ihnen die freie, klare Erkenntniß, und des Gedankens weites, schrankenloses Reich ist dann geöffnet. Alle diese Schriften sind daher nicht von früherer mündlicher Ueberlieferung ausgegangen, mithin auch nicht wie die rein Poetischen aus dem Volke selbst hervorgewachsen, und auch keineswegs so tief mit seiner innersten Natur verwachsen, wie es Diese sind. Sie ordnen sich am nächsten jenen spätem Versuchen der Neuern bey, diese Literatur zu erweitern durch andere der großen Masse fremde Combinationen, mit denen vorher nie das Volk vertraut gewesen, die daher auch in ihrer Wirkung so wenig gedeihlich und so oft unnütz gewesen sind. 1 Das Volk hat sie nicht mit der Liebe umfassen können, wie jene Früheren, mit denen es gleichsam aufgewachsen, und in welchen es erstaunt auf einmal sein eigenstes Eigenthum erkannte, und klar und deutlich im Worte ausgesprochen fand, was es wohl oft mit schwerer, dicker Zunge undeutlich nur articuliren konnte. Fragen wir aber nun noch nach dem allgemeinen Character, der alle diese Schriften gemeinschaftlich bezeichnet, dann müssen wir uns vor Allem überzeugen, daß, sollten diese Gebilde Wurzel greifen in der Menge, und eine eigene selbstständige Existenz in ihr gewinnen, eine innere Sympathie zwischen ihnen und der Nation selbst, bestehen mußte; es muß ein Moment für diese Wahlverwandtschaft in ihnen seyn, und ein gleiches Entsprechendes im Volke, und im Zug und Gegenzug konnte dann Alles in Liebe sich verbinden, und eins werden in der allgemeinen Lust und Vertraulichkeit. Wir sahen eben wie das Element, welches das Volk zur Bildung hergegeben, jene uralte Sagenpoesie war, die wie ein leises Murmeln fortlief durch alle Geschlechter, bis der Letzten Eines sie zur vollen Sprache bildete; das parallel gegenüber eingreifende Moment in den Büchern aber ist der durchaus stammhafte, sinnlich kräftige, derbe, markirte Character, in dem sie gedacht und gedichtet sind, mit Holzstöcken und starken Lichtern und schwarzen Schatten abge1

Ich rechne dahin unter Ändern die neuen Leipziger Volksbücher bei Solbrig. Mehrere aus Musäus abgedruckte Volkssagen sind zwar nicht unzweckmäßig gewählt, obgleich der in ihnen herrschende Ton keineswegs eigentlicher Volkston, und ihre Naivetät nicht Volksnaivetät ist. Alles andere aber ist meist so leer, so gehaltlos und fatal, daß die fade Speise nothwendig den Instinct des Volkes eckein mußte.

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druckt, mit wenigen festen, groben, kecken Strichen viel und gut bezeichnend. So nur kann die Poesie dem Volke etwas seyn, nur für den starken, derbanschlagenden Ton hat dieser grobgefaserte Boden Resonanz, und die starke Fiber kann dem tief Einschneidenden nur ertönen. Nur dadurch wird die Poesie zur Volkspoesie, daß sie seinen Formen sich eingestaltet; hat die Natur in diesen Formen ihre bildende Kraft offenbaren wollen, dann darf die Kunst auf keine Weiße sich scheuen ihr zu folgen in dieser Metamorphose, und im Worte wieder auszuprägen, was jene stumm und still gestaltete. Aber doch ist nicht so ganz gleichmäßig in allen diesen Bildungen ohne Unterschied derselbe Geist herrschend; durch die ganze fortlaufende Entwickelung der Zeit ist die Kunst von ferneher der Nation gefolgt, und die vorzüglichsten Epochen dieser allmähligen Entwickelung sind durch eben so viel vorstechende Werke bezeichnet. Als die etruscischen Satyren, und die oscischen Atellanen zuerst eingeführt wurden in Rom, da nahm das Volk sie freudig und willig auf; überrascht, fand es seine ganze Natur in diesen rohen, wilden, barbarischen Gestaltungen widerscheinend; die Kunst rang mit seiner Kraft und seiner innern Energie, und es rang wieder mit dem Geiste, der so derb anzufassen wußte, und es gewann Geschmack dem Schimpfspiel ab zwischen seinen Kräften und den Kräften des fremden wunderbaren Zaubers, und alle Poesie war noch ganz Volkspoesie im eigentlichen Sinn, und in Allem war große, feste, kernhafte Alpennatur. Nicht auf dieser Stufe von Gediegenheit hat in neuern Zeiten sich das Volk erhalten; schon dadurch daß eben ein höherer Anflug aus der Masse sich heraus verflüchtigte, und gerade das Geistigste ihm entführte, mußte der Rückstand im Gegensatz mit diesem Flüchtigen gewissermaßen einen mehr phlegmatischen und minder elastischen Character annehmen, und manche der ältesten Volksbücher, die dem früheren, antiken Volksgeist rein zusagten, sind dem Gegenwärtigen fremd geworden; und manche Neuere, indem sie jenem veränderten Genius sich anschmiegten, traten zugleich in einer Form hervor, die nicht ganz mehr mit jener Normalen zusammenstimmen will. Es ziehen keine Bären mehr durch unsere Wälder, keine Elennthiere und keine Auerochsen; mit Ihnen ist daher auch das Bärenhafte, was die ältesten Sagen und Bildungen bezeichnet, gewichen, und wie die Sonnenstrahlen durch die gelichteten Wälder Bahn sich brachen, hat auch in der entsprechenden Kunstentwicklung ein milderer Geist Platz gegriffen, der manchmal rein für sich in einzelnen Bil78

düngen dasteht, manchmal mit jenem Früheren sich verschmelzend, einen gewissen mittelschlägigen Character bildet. Nicht mehr des Ursen und des Bären unbändige Wildheit spricht daher aus diesen Büchern, wohl aber ein rascher, gesunder, frischer Geist, wie er das Reh durch's Dickigt treibt, und in den ändern Thieren des Waldes lebt; es ist nichts Zahmes, Häusliches, Gepflegtes in Ihnen, Alles wie draußen im wilden Forst geworden, geboren im Eichenschatten, erzogen in Bergesklüften, frei und frank über die Höhen schweifend, und zutraulich von Zeit zu Zeit zu den Wohnungen des Volkes niederkommend, und von dem freien Leben draußen ihm Kunde bringend. Das ist der eigentliche Geist jener Schriften, fern von Jenem, den man in den neuesten Zeiten in den Noth- und Hilfsbüchern als eine feuchtwarme, lindernde Bähung seinen Preßhaftigkeiten aufgelegt, und die, obgleich vielleicht den augenblicklichen Bedürfnissen entsprechend, doch eben dadurch Zeugniß geben von dem chronisch-krankhaften Geist der Zeit. Wenn man, was wir in diesen wenigen Blättern über den Charakter und das Wesen dieser Bücher beigebracht, erwägt; wenn man, so oft die Hoffart auf unsere feinere Poesie uns übernehmen will, bedenkt, wie es das Volk doch immer ist, was uns im Frühlinge die ersten, die wohlriechendsten und erquickendsten Blumen aus seinen Wäldern und Hegen bringt, wenn auch später freilich der Luxus unserer Blumengärten sich geltend macht, deren schönste Zierden aber immer irgendwo wild gefunden werden; wenn man sich besinnt, wie überhaupt alle Poesie ursprünglich doch immer von ihm ausgegangen ist, weil alle Institution und alle Verfassung, und das ganze Gerüste der höheren Stände, immer sich zuletzt auf diesen Boden gründet, und in den ersten Zeiten die gleiche poetische, wie politische und moralische Naivetät herrschend war, dann können wir wohl endlich voraussetzen, daß jedes Vorurteil gegen dies große Organ im allgemeinen Kunstkörper verschwunden sey, und wir haben uns Bahn gemacht zur gehörigen Würdigung dieser Schriften im Einzelnen. Wir gehen daher ohne weitern Aufenthalt zur Betrachtung der besonderen Bildungen dieses Faches über, um zu sehen, in wiefern was wir so eben im Allgemeinen ausgesprochen, auch im Einzelnen sich bewährt. Die Ordnung aber, die wir bei dieser Bücherschau befolgen, wird Diese seyn, daß wir nämlich mit den Lehrenden, dem Alter nach Jüngsten beginnen, von dort aus zu den Romantischen, und dann zu den Religiösen übergehen, und endlich mit einem großen Blick auf das durchlaufene Gebieth von der gewonnenen Höhe hinab enden. [. . .] 79

WILHELM GRIMM Kinder- und Hausmärchen Vorrede zum zweiten Band [1815] Mit dieser weitern Sammlung von Hausmärchen ist es der treibenden, starken Zeit unerachtet schneller und leichter gegangen, als mit der ersten. Theils hat sie sich selbst Freunde verschafft, welche sie unterstützten, theils, wer es früher gern gethan hätte, sah jetzt erst bestimmt, was und wie es gemeint wäre; endlich hat uns auch das Glück begünstigt, das Zufall scheint, aber gewöhnlich beharrlichen und fleissigen Sammlern beisteht. Ist man erst gewohnt auf dergleichen zu achten, so begegnet es doch häufiger, als man sonst glaubt, ja das ist überhaupt mit Sitten, Eigenthümlichkeiten, Sprüchen und Scherzen des Volkes der Fall. Die schönen plattdeutschen Märchen aus dem Fürstenthum Paderborn und Münster verdanken wir besonderer Güte und Freundschaft; das Zutrauliche der Mundart ist ihnen bei der innern Vollständigkeit besonders günstig. Dort, in altberühmten Gegenden deutscher Freiheit, haben sich an manchen Orten die Sagen als eine fast regelmässige Vergnügung der Sonntage erhalten: auf den Bergen erzählten die Hirten jene am Harz auch bekannte und vielleicht jedem grossen Gebirge eigene vom Kaiser Rothbart, der mit seinen Schätzen darin wohne, dann von den Hünen, wie sie ihre Hämmer stundenweit von den Gipfeln sich zugeworfen; manches, was wir an einem ändern Orte mitzutheilen denken. Das Land ist noch reich an ererbten Gebräuchen und Liedern. Einer jener guten Zufälle aber war die Bekanntschaft mit einer Bäuerin aus dem nah bei Cassel gelegenen Dorfe Zwehrn, durch welche wir einen ansehnlichen Theil der hier mitgetheilten, darum echt hessischen Märchen, so wie mancherlei Nachträge zum ersten Band erhalten haben. Diese Frau, noch rüstig und nicht viel über fünfzig Jahr alt, heisst Viehmännin, hat ein festes und angenehmes Gesicht, blickt hell und scharf aus den Augen und ist wahrscheinlich in ihrer Jugend schön gewesen. Sie bewahrt diese alten Sagen fest in dem Gedächtnis, welche Gabe, wie sie sagt, nicht jedem verliehen sei und mancher gar nichts behalten könne; dabei erzählt sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man will, noch einmal langsam, so 80

dass man ihr mit einiger Übung nachschreiben kann. Manches ist auf diese Weise wörtlich beibehalten und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen sein. "Wer an leichte Verfälschung der Überlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung und daher an Unmöglichkeit langer Dauer als Regel glaubt, der müsste hören, wie genau sie immer bei derselben Erzählung bleibt und auf ihre Richtigkeit eifrig ist; niemals ändert sie bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab und bessert ein Versehen, sobald sie es bemerkt, mitten in der Rede gleich selber. Die Anhänglichkeit an das Überlieferte ist bei Menschen, die in gleicher Lebensart unabänderlich fortfahren, stärker, als wir, zur Veränderung geneigt, begreifen. Eben darum hat es auch, so vielfach erprobt, eine gewisse eindringliche Nähe und innere Tüchtigkeit, zu der anderes nicht so leicht gelangt, das äusserlich viel glänzender erscheinen kann. Der epische Grund der Volksdichtung gleicht dem durch die ganze Natur in mannigfachen Abstufungen verbreiteten Grün, das sättigt und sänftigt, ohne je zu ermüden. Der innere gehaltige Werth dieser Märchen ist in der That hoch zu schätzen, sie geben auf unsere uralte Heldendichtung ein neues und solches Licht, wie man sich nirgendsher sonst könnte zu Wege bringen. Das von der Spindel zum Schlaf gestochene Dornröschen ist die vom Dorn entschlafene Brunhilde, nämlich nicht einmal die nibelungische, sondern die altnordische selber. Schneewitchen schlummert in rothblühender Lebensfarbe wie Snäfridr, die schönste ob allen Weibern, an deren Sarg Haraldur, der haarschöne, drei Jahre sitzt, gleich den treuen Zwergen, bewachend und hütend die todtlebendige Jungfrau; der Apfelknorz in ihrem Munde aber ist ein Schlafkunz oder Schlafapfel. Die Sage von der güldnen Feder, die der Vogel fallen lässt, und weshalb der König in alle Welt aussendet, ist keine andere, als die vom König Mark im Tristan, dem der Vogel das goldne Haar der Königstochter bringt, nach welcher er nun eine Sehnsucht empfindet. Dass Loki am Riesenadler hängen bleibt, verstehen wir besser durch das Märchen von der Goldgans, an der Jungfrauen und Männer festhangen, die sie berühren; in dem bösen Goldschmied, dem redenden Vogel und dem Herzessen, wer erkennt nicht Sigurds leibhaftige Fabel? Von ihm und seiner Jugend theilt vorliegender Band andere riesenmässige, zum Theil das, was die Lieder noch wissen, überragende Sagen mit, welche namentlich bei der schwierigen Deutung des zu theilenden Horts willkommene Hülfe leisten. Nichts ist bewährender und zugleich 81

sicherer, als was aus zweien Quellen wieder zusammenfliesst, die früh von einander getrennt in eignem Bette gegangen sind; in diesen Volksmärchen liegt lauter urdeutscher Mythus, den man für verloren gehalten, und wir sind fest überzeugt, will man noch jetzt in allen gesegneten Theilen unseres Vaterlandes suchen, es werden auf diesem Wege ungeachtete Schätze sich in ungeglaubte verwandeln und die Wissenschaft von dem Ursprung unserer Poesie gründen helfen. Gerade so ist es mit den vielen Mundarten unserer Sprache, in welchen der grösste Theil der Worte und Eigentümlichkeiten, die man längst für ausgestorben hält, noch unerkannt fortlebt. Wir wollten indes durch unsere Sammlung nicht bloss der Geschichte der Poesie einen Dienst erweisen, es war zugleich Absicht, dass die Poesie selbst, die darin lebendig ist, wirke: erfreue, wen sie erfreuen kann, und darum auch, dass ein eigentliches Erziehungsbuch daraus werde. Gegen das letztere ist eingewendet worden, dass doch eins und das andere in Verlegenheit setze und für Kinder unpassend oder anstössig sei (wie die Berührung mancher Zustände und Verhältnisse, auch vom Teufel Hess man sie nicht gern etwas Böses hören) und Eltern es ihnen geradezu nicht in die Hände geben wollten. Für einzelne Fälle mag die Sorge recht sein und da leicht ausgewählt werden; im Ganzen ist sie gewiss unnöthig. Nichts besser kann uns vertheidigen, als die Natur selber, welche gerad diese Blumen und Blätter in dieser Farbe und Gestalt hat wachsen lassen; wem sie nicht zuträglich sind nach besonderen Bedürfnissen, wovon jene nichts weiss, kann leicht daran vorbeigehen, aber er kann nicht fordern, dass sie darnach anders gefärbt und geschnitten werden sollen. Oder auch: Regen und Thau fällt als eine Wohlthat für alles herab, was auf der Erde steht, wer seine Pflanzen nicht hineinzustellen getraut, weil sie zu empfindlich dagegen sind und Schaden nehmen könnten, sondern lieber m der Stube begiesst, wird doch nicht verlangen, dass jene darum ausbleiben sollen. Gedeihlich aber kann alles werden, was natürlich ist, und darnach sollen wir trachten. Übrigens wissen wir kein gesundes und kräftiges Buch, welches das Volk erbaut hat, wenn wir die Bibel obenan stellen, wo solche Bedenklichkeiten nicht in ungleich grösserm Maass einträten; der rechte Gebrauch aber findet nicht Böses heraus, sondern nur, wie ein schönes Wort sagt: ein Zeugnis unseres Herzens. Kinder deuten ohne Furcht in die Sterne, während andere nach dem Volksglauben Engel damit beleidigen. 82

Abweichungen, so wie allerlei hierher gehörige Anmerkungen haben wir wieder im Anhang mitgetheilt; wem diese Dinge gleichgültig sind, wird das Überschlagen leichter werden, als uns gerade das Übergehen wäre; sie gehören zum Buch, insofern es ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Volksdichtung ist. Alle Abweichungen namentlich erscheinen uns merkwürdiger als denen, welche darin bloss Abänderungen oder Entstellungen eines wirklich einmal da gewesenen Urbildes sehen, da es im Gegentheil vielleicht nur Versuche sind, einem im Geist bloss vorhandenen, unerschöpflichen auf mannigfachen Wegen sich zu nähern. Wiederholungen einzelner Sätze, Züge und Einleitungen sind wie epische Zeilen zu betrachten, die, sobald der Ton sich rührt, der sie anschlägt, immer wiederkehren, und eigentlich in einem ändern Sinne nicht zu verstehen. Alles aber, was aus mündlicher Überlieferung hier gesammelt worden, ist sowohl nach seiner Entstehung als Ausbildung (vielleicht darin den gestiefelten Kater allein ausgenommen) rein deutsch und nirgends her erborgt, wie sich, wo man es in einzelnen Fällen bestreiten wollte, leicht auch äusserlich beweisen Hesse. Gründe, die man für das Erborgen aus italienischen, französischen oder orientalischen Büchern, die vom Volk, zumal auf dem Land, ungelesen bleiben, vorzubringen pflegt, gleichen denjenigen vollkommen, welche aus Soldaten, Handwerksburschen oder aus Kanonen, Tabakspfeifen und ändern neuen Dingen in den Märchen auch ihre neue Erdichtung ableiten wollen, da doch gerade diese Sachen, wie Wörter der heutigen Sprache, nach dem Munde der Erzählenden sich umgestalten und man sicher darauf zählen kann, dass sie im sechszehnten Jahrhundert statt der Soldaten und Kanonen Landsknechte und Büchsen gesetzt haben und der unsichtbar machende Hut zur Ritterzeit ein Tarnhelm gewesen ist. [. . .]

WILHELM GRIMM Über die Entstehung der altdeutschen Poesie und ihr Verhältnis zu der nordischen [1808] [. . .]So entstand die romantische Poesie des Mittelalters in einer geschlossenen Gesellschaft mehr Gebildeter, Adlicher, zu denen sich auch wol Fürsten gesellten, weil es ehrenvoll schien, solch edle Kunst zu treiben. Was nicht gerade aus dem Leben gekommen, 83

sondern Product einer gewissen Ausbildung war, das konnte der Schrift nicht entbehren, daher wurden diese sämmtlichen Gedichte auf das Pergament gebracht, und weil wir derselben eine grosse Anzahl annoch haben (die alten sind meist Prachtexemplare vornehmer und reicher Herrn), so ist darnach der Werth der deutschen Poesie berechnet, und diese für die einzige damaliger Zeit und ausgebreitete unter dem Volk gehalten worden. - Fragen wir nun, wie sie sich zur Nationaldichtung verhielt? Kunstpoesie, d. h. die mit Bewusstsein und Absicht gedichtete, ist in ihrer Idee eben so vortrefflich, als Natur- oder Nationalpoesie, denn wenn sie echt ist, setzt sie diese nur fort, das heisst, wo diese untergeht und sich nicht mehr neu erzeugt, da bildet sie z. B. durch Belesenheit erworbenen Stoff in dem Geist der Nation mit all dem, was ihr eigenthümlich ist, um, damit es einheimisch werden kann. Hans Sachs ist in diesem Sinn Kunstdichter und Nationaldichter zugleich. Es gehört dazu ein klares Umfassen und Beherrschen des Stoffs, und die Individualität des Dichters verliert sich gänzlich in derjenigen der Nation, oder vielmehr sie wird noch mehr geläutert und steht wiederum rein in dieser. Wo dieses Verhältnis aber eine andere Mischung hat und nicht in gleichen Theilen sich abrundet, da entsteht mehr oder weniger Manier, und in demselben Mass steht die Poesie von dem Volk entfernt und kann nicht zu ihm gelangen. So war es hier. Abgesehen, dass eine Kunstpoesie überflüssig war, wo die Nationaldichtung noch lebendig lebte, so war diese romantische Poesie nicht nur Kunstpoesie, sondern auch Manier, ganz ausser dem Geist des Volks. Es war die Poesie einer gewissen Klasse, zu ihm gelangten diese Pergamentbücher nicht, und wäre auch umsonst gewesen, da [es] sie nicht lesen konnte. Wer glaubt, dass diese unrhythmischen Rittergedichte in ihrer Länge abgesungen wurden, oder dass die mit einer höchst verfeinerten Sentimentalität gedichteten Minnelieder jemals Volkslieder sein konnten? Vielmehr standen sie in einem reinen Gegensatz zu der Nationaldichtung. Das Volk behielt seine Lieder von Dieterich von Bern und den alten Helden. Manche Chronikschreiber erwähnen dies. Eben so hatte es seine Sänger von Profession, ein solcher (arte cantor) sang, wie Saxo Grammaticus erzählt, dem Canut (lebte unter Nicolaus gegen das Jahr 1132), um ihn vor einem hinterlistigen Mord zu warnen, unterwegs in einem schönen Gedicht von der bekannten Treulosigkeit der Chriemhilde gegen ihre Brüder. In dem Rosengarten zu Worms sagt Chriemhilde zum Dieterich: 84

ich hör von dyner Kunheit, so viel singen und sagen.

Diese Zeugnisse reden zu deutlich und weisen jeden Zweifel an ihrer Existenz zurück, der vielleicht daraus entstehen könnte, dass uns fast kein einziges Lied aus diesen Zeiten übrig geblieben. Es ist, wie schon oben gesagt wurde, sehr begreiflich, dass sie nicht aufgeschrieben wurden, da sie nur in dem Munde und Gedächtnis des Volks fortdauerten, das keine Kunde der Schrift hatte, die ändern aber mit Verachtung sie betrachteten. - [ . . . ] Manche Anspielungen auf diese Nationalgedichte erhalten die Werke der romantischen Poeten, aber nicht in Verehrung, sondern nur nebenher fast mit Geringschätzung. Es ist dies zwar auffallend, aber ganz in der Ordnung, denn nichts verblendet so sehr, als das erste Verlassen der Natur, das Anheben einer Manier und einer besondern Cultur. Sie hielten sich zu vornehm, um zu der Poesie des gemeinen Mannes herabzusteigen; währenddem sie mit Ängstlichkeit ergriffen, was das Ausland nur geben konnte, hat kaum einer oder zwei (z. B. der Verf. der Klage und des kleinen Laurin) seinen Stoff aus den Volkssagen genommen, wodurch indessen nichts verloren gegangen, denn eben diese Bearbeitungen sind in ihrer Manier, die vernichtend sein musste. [. . .] Nichts konnte an Inhalt und Geist der Darstellung mehr von einander abweichen, als diese romantische und Nationalpoesie. Diese war ein grosses allesumfassendes Bild der deutschen Vorzeit, von den grössten Heldenthaten und Kriegen bis zum häuslichen Leben herab. Wie wir die Kämpfe der Männer, den Untergang ganzer Nationen ansehen, so werden wir auch in die Wohnungen der Frauen geführt und hören, wie sie einsam vertraulich ihre Träume erzählen und deuten, und wie die Mutter ihre züchtige Tochter warnt, nicht zu sehr der Liebe sich zu verreden. Ja, auch das bleibt unverschwiegen, dass der Koch den Herren anräth, sicherer daheim zu bleiben bei voller Tafel, als den gefahrvollen Zug zu unternehmen. Denn nichts verschmäht das Epos, was im Kreis des Lebens und in ihm verschlungen liegt. Und welch ein Geist der Unschuld und Keuschheit! Nur solche Reinheit durfte es wagen, Brynhildens Bezwingung durch Siegfried darzustellen. Der alte Hildebrand mag nicht Chriemhildens Küsse: das Hurenwerk lasst sein, ruft er unwillig aus. Wie ganz anders jene! Die seltsamen Thaten eines Ritters, freilich voll Tapferkeit, aber übermenschlicher und nur als Wunder begreiflich; das Leben nicht in dem strengen heiligen Ernst 85

deutscher Helden, sondern als Feerei, als ein reizendes Spiel anlokkender Abenteuer. Dazwischen die Liebe heiss und üppig; den Frauen will der Mantel der Treue nirgends passen, und die Männer mögen aus dem Hörn keinen Trank gewinnen. Phantastisch nur erscheint die Treue als Bezauberung bei Tristan und Isalde. - Das ist der an sich anmuthige und poetische, aber tief unter jener Grossheit stehende Grund der Dichtung, der nur hin und wieder hell durchbricht. Denn verschieden, dass es mehr nicht sein kann, ist die Darstellung der romantischen Poesie und des Nibelungenlieds. Wie ein grosser Geist, ruhig aber mit tiefbewegter Brust erzählt es, was geschehen, alles läuternd in reinem Äther der Dichtung und mit milden Worten tröstend, denn was sich herrlich gezeigt hat, ist nicht untergegangen in den wilden Stürmen der Welt. Mitten in die Fluthen haben die Götter den Regenbogen, ihre Brücke, gestellt, auf welchem die Helden zu ihnen hinaufgestiegen sind. Die Poesie spricht einfach und klar, jedem verständlich, und eindringend in das Gemüth, aber wo sie nicht ist, da wird die Rede verwirrt und ängstlich, überall hinfühlend und suchend nach einer Stütze. Die romantischen Dichter griffen nach allen Seiten, wo sie sich anhalten konnten, all der geistige Erwerb wurde herbeigeholt und was ihre Person betreffen konnte. Zuerst wird das Leben Jesu erzählt und die damalige Theologie entwickelt (am schönsten eingeflochten in die Geschichte im Tyturell), dann kommen Nachrichten, durch welche Wege man zu der Aventure gelangt sei, darauf von dem Poet und seinen Genossen, wie von ihren und seinen übrigen Werken, endlich wird die Begebenheit eingeleitet durch Tiraden über die Minne. In der Erzählung selbst treten die Gestalten selten in bestimmten Umrissen heraus, jede Gelegenheit zu einer Abschweifung wird mit Freuden ergriffen, und es scheint immer, als habe der Verfasser eine gewisse Ängstlichkeit, die Sache genau anzugreifen, und suche umher, was er darneben finden könne, damit nichts verloren gehe, als das Rechte. Die Worte schwimmen gleichsam auf der Oberfläche hin und her und stossen sich gegenseitig ab; keins steht für sich und seinem Mann, und überall blickt das Hohle und Leere durch. - So wäre im Allgemeinen diese Dichtung zu charakterisiren, wogegen man nur keine Einzelheiten stelle. Einiges aus dem Cyklus von Carl dem Grossen ist wol strenger und besser zusammen gehalten, aber doch in keiner Hinsicht mit dem Nib.-L. zu vergleichen. 86

Dieser Unterschied zwischen Kunst- und Naturpoesie, so wie in entgegengesetzten Punkten entsprungen, dehnte sich mit dem Fortgange der Zeit in immer grösserer Spaltung aus, und nur in Liedern aus dem 14. und 15. Jahrhundert, nach einer handschriftlichen merkwürdigen Sammlung zu urtheilen, zeigt sich einige Annäherung und Verbindung. Es wird vom 14. bis fast zum 17. Jahrhundert hin recht klar, wie beide weit entfernt von einander herlaufen, die eine in voller Lebendigkeit, wie sie oben bestimmt wurde, die andere in der grössten Manier verhärtet in den ungelenken Formen der späten Meistersängerei, nicht an lebendigen, sondern an Todtentänzen sich erfreuend, an Allegorien ohne Bedeutung oder an kalter Moral, nicht wie sie aus einem liebevollen Gemüth spricht. So war nach und nach die Poesie von ihr gewichen, und nur selten spielen hier und da einige Farben, oder ein verlöschendes Licht flammt noch auf, denn auch in der grössten Verirrung ist der menschliche Geist nicht ganz verlassen. Es sollte hier angedeutet werden, welchen Gang die deutsche Poesie genommen, wie sie sich aus der Geschichte und dem Leben entwickelt und darin gestanden, nicht als eine Einzelheit, sondern im Zusammenhang; und das Verhältnis angegeben, in welchem alles andere nicht zu ihr Gehörige zu betrachten ist. Dieser Standpunkt einer trennenden Ansicht ist nöthig, um die andere Frage: wie die nordische Poesie mit der deutschen verbunden sei, beantworten zu können. Diese Frage scheint um so weniger überflüssig, als man jene entweder zu wichtig als die Mutter der letztern betrachtet oder in dem ändern Extrem gänzlich hintangesetzt. Es wird nöthig sein, auch hier in die frühsten Zeiten zurückzugehn. Was schon dieselbe Grundsprache hinlänglich beweisen musste, das finden wir auch von der Geschichte bestätigt: gleiche Abkunft der Bewohner des scandinavischen Norden mit den Germanen. Aus Asien herkommend, durch Russland und Preussen, an den Ufern des baltischen Meeres hin, dann durch Jutland und Seeland zogen die Völker zu dem Norden, in das Land, wo Zwerge ungeheure Schätze in den Gebirgen hüten und Drachen schützend auf dem Golde liegen. Wenn man bedenkt, dass dieser Glaube an den Reichthum des Nordens, tief eingewurzelt in die Mythologie und mannigfach gestaltet, wieder vorkommt, so ist es nicht unwahrscheinlich, was Schlegel angiebt, dass die Sage der Indier von dem wunderbaren Berg Meru, in welchem der Gott des Reichthums wohnt, den Zug nach Scandinavien gelenkt habe. 87

Damit stimmt Geschichte überein, dass dort zuerst die Völker sich versammelt. Jordanes sagt ausdrücklich, dass aus dieser Werkstatt, dem Geburtsort der Nationen, auch die Gothen einst hervorgegangen sein sollten, und was weiss man anders dagegen einzuwenden, als dass es von diesem herrühre, der keinen Glauben verdiene, weil seine Geschichte, aus alten Gedichten gezogen, nur Lügen enthalte? Auch dieses darf man fragen: wurde ganz Deutschland zugleich mit dem Norden aus Asien her bevölkert, warum erhielt sich dort allein das Andenken an diese grosse Begebenheit und die darauf hindeutende Religion, hier aber keine Spur, und war deshalb der Gang der Geschichte nicht folgender? Keine grosse Völkerschaften, sondern einzelne Horden mochten es gewesen sein, welche in den frühsten Zeiten lange vor unserer Zeitrechnung herunter in die Wälder Germaniens zogen. Hier kehrten sie, was nicht selten bei den Ausgewanderten, selbst einer schon gebildeten Nation gefunden wird, zurück in den Zustand einer wilderen Rohheit. Von der Jagd, die allzeit rauhe Sitten erzeugt, oder in Unthätigkeit lebend, ohne gesellschaftliche Verbindung, wie konnte da die Religion des Nordens, welche Tempel, Götterbilder, einen öffentlichen Cultus verlangte, sich lang erhalten? Nie wurden in Germanien die Götter des Nordens allgemein verehrt, aber auch nie lebten seine Bewohner in der thierischen Dumpfheit einer absoluten Unwissenheit und Bewusstlosigkeit. In jeder Brust wohnt die Ahndung von Gott, und am wenigsten ist der rohe Naturmensch davon verlassen. Wie die Sprache in ihrer Entstehung wohlklingend und die erste Erzählung poetisch und rhythmisch ist, so sind auch seine Begriffe und Anschauungen der Welt religiös, und er sieht in der ganzen Natur einen Abdruck und das Regen der Gottheit, die mehr oder weniger hervortritt. So war der Gottesdienst der Germanen, wie aller uranfänglicher Fetischismus; sie verehrten Sonne, Mond, Bäume und alles Günstige, dabei fehlte es nicht an Schamanen und Zaubereien. Gerade eine solche Religion konnte die empfänglichste sein, die christliche anzunehmen, die ihnen nun die Verehrung Gottes in dem Menschen gebot, und wobei jener Naturdienst zum Theil fortdauerte, der überhaupt bei keiner Religion sich ganz verliert, weil er so sehr dem menschlichen Gemüthe zusagt. - Dass übrigens in den Provinzen, welche mit den Römern in Verbindung waren, der Cultus der griechischen Götter aufkam, wenn auch nur bei Einzelnen oder einem Theil des Volks, bedarf keiner besonderen Erwähnung.

So verhielt sich die nordische Religion zu der germanischen, nun fragt sich: wie hängt die Poesie beider Völker zusammen? Poesie und Religion ist ursprünglich verbunden, denn alles trennt erst später der Mensch. Und so gieng mit der Religion auch die alte Sage, die von der Vorzeit und asiatischer Herrlichkeit erzählte, für die Germanen verloren. Denn Tradition, Sänger, welche sie erhalten, gedeihen nur im geselligen Leben, nicht in der Abgesondertheit eines Herumstreifenden, das keine bleibende Stätte hat, und nichts, woran die Erinnerung an die Vergangenheit sich anknüpfe. In Jahrhunderten war die Bevölkerung Germaniens beträchtlich angewachsen, und als das mächtige Treiben der Völkerwanderungen die Nationen unter einander warf, da kamen auch die Bewohner des Nordens aufs neue mit Deutschland in Berührung, mit dem es überhaupt durch die Cimbern, Juten und Sachsen in Verbindung gestanden. Die gothischen Völkerschaften, im Ganzen eine Nation, herrschten im Norden wie im Süden, bis nach Asien, und zogen durch ganz Germanien hin. Wie jene Zeit sich in der Nationalpoesie der Deutschen erhielt, so mussten auch die grossen Thaten derselben in die Poesie des Nordens, der nicht weniger Theil daran hatte, eingewebt werden, sich zu erfreuen an diesem, durch eigne Tapferkeit erworbenem Gut. Es wurde aufgestellt zu den alten Sagen und der Mythologie, diesen Heiligthümern eines Volks, denen es alles weiht, was gewonnen ist, zu unvergänglichem Gedächtnis. Ein solches ist, im Ganzen betrachtet, das Verhältnis der nordischen Poesie zu der deutschen. Scandinavien hat nicht nur eine ihm allein eigenthümliche, sondern auch eine mit Germanien gemeinschaftlich erworbene; jedem Volk gebührt derselbe Anspruch darauf, und wenn daher eine Sage bei beiden angetroffen wird, so berechtigt dies nicht auf ein Erborgen von einer Seite zu schliessen. Indessen mag zur Verwirrung der Umstand beigetragen haben, dass in späterer Zeit wirklich deutsche Nationalgedichte in das Scandische übersetzt wurden, dann auch, dass manche nordische nicht wieder in jenen gefunden werden, so dass man eine Trennung annahm und einen Zufall für die Übereinstimmung aufsuchen musste. Deshalb wird es nöthig sein, das Detail zu untersuchen und das jedesmalige Verhältnis zu der deutschen Poesie zu bestimmen.

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JACOB UND WILHELM GRIMM Altdeutsche Wälder Vorrede zum ersten Band [1813] Wir fangen hiermit an, aus unserm gemeinschaftlichen, beträchtlich angewachsenen vorrath altdeutscher poesien materialien mitzutheilen, die nicht ohne absieht so vielseitig als möglich ausgelesen werden sollen, ist einmal der durchdringende reichthum unserer alten poesie anerkannt, so wird schon viel gewonnen sein, eine engherzige, unrühmliche critik will sich wider den regen eifer für das altdeutsche alterthum sträuben, nur von einem vornehmen mittelgut hören und das meiste aus jener zeit blosz als eine bei wenigen gelegenheiten zu beachtende Seltenheit angesehen wissen, auf der ändern seite haben sich zu viele durch die empfehlung des deutschen alterthums von seiten solcher manner, die wir mit recht hochschätzen, berechtigt geglaubt, in neue formen umgegossen, es wieder uns vorzuhalten; was sie gegeben, hat denen etwas geschienen, welchen die macht der alten dichtung, die nicht ganz untergehen konnte, wie die nordische in Saxos künstlicher spräche noch durchbricht, ungekannt war; die ändern haben mehr die schwäche gesehen, die allein ein schiff bemannen und aufs meer treiben wollte, das nur vereinte sichere kräfte und günstige winde, vor allem seine eigene tugend leicht und lebendig fortführen, damit wird die gesinnung nicht getadelt, welche den geist des alterthums auch unter uns wirkend wieder erblicken möchte, wir erkennen eine über alles leuchtende gewalt der gegenwart an, welcher die vorzeit dienen soll, gleichwie die edelsten menschen des alterthums blosz darum nicht todt heiszen können, weil sie uns noch durch die erinnerung bewegen, wer diese beziehung auf das leben leugnen wollte, der nähme die belehrung der geschiente hinweg und setzte diese alten gedichte wie eine unzugängliche insel aufs meer, wo die sonne umsonst ihr licht ausbreitete und die vögel ungehört sängen. Beiden bösen richtungen kann dadurch gesteuert werden, dasz man die verschütteten quellen, in den felsen aber unverdorben erhaltenen, aufsuche und öffne, flieszen sie erst wieder, so mögen sie ihrem eigenen trieb überlassen, ihren weg sich suchen, es ist uns darum zu thun, ein critisches material zu liefern, wie es vor gründlichen kennern bestehen, oder sich rechtfertigen zu können glaubt. 90

wir wollen dazu beitragen, wie ein alter dichter so schön sagt, dasz die schlafende schrift wieder erweckt, die süsze lehre, die beschattet war, wieder aufgedeckt werde. Wie man aber einen thaunassen bäum an keinem äst anrühret, ohne einen regen von tropfen herabzuschütteln, so könnten denen, welche sich ihm darum zu nahen scheuen, auch viele der hier versuchten Zusammenstellungen zu bunt und grell, manchen unter einem ganz ändern licht erscheinen, wir wissen aber, dasz man auszer schwarz auch in weisz und roth trauert, und also nur der den wahren grund der trauer ausdrücken würde, der ihn in diesen färben als etwas ihnen gemeinschaftliches auffinden könnte, überhaupt schadet gewisz jede bestimmtheit und betrachtung, die das äuge auf ein einziges festheftet, und nur das, was wir aus einem weitern gesichtspunct, nur das, was wir mit gewissen kühlenden werten, mit der ruhe, die uns die abendröthe auf einen heiszen tag gibt (worin Göthe so grosz ist), nennen können, ist flecken- und tadellos und unangreiflich. wer vermag sich aber der bewegung in der arbeit selber zu entziehen, oder um bei obigem gleichnis zu bleiben, den bäum zu schütteln und schnell genug darunter weg zu laufen? wo, wie in dergleichen Untersuchungen, Zusammenstellungen und analogien zuströmen, da musz sich wol noch vor dem allzugroszen eifer im sammeln vieles einer runden, genügenden darstellung entziehen. Indessen wollen auch darum solche abhandlungen häufig von streng literarischen und dem abdruck der quellen, der doch allen wünschenswerth und als eine hauptsache erscheinen musz, unterbrochen werden, das sammeln und vervielfältigen thut vor allem ändern noth, weil in der unruhe der Zeiten die einzelne aufbewahrung nicht genug gesichert ist und die tradition immer mehr einsiegt, wenigstens unvollständiger, abgeschliffener und uncharakteristischer wird, auf das eigenthümliche der Varianten und mundarten kommt in der geschichte der spräche und dichtungen unglaublich viel an, da sich jene in tausend zungen abtheilt, diese durch tausend stimmen verkündigt worden sind, kennten wir Siegfried den drachentödter allein aus den Nibelungen, so würden wir die mit aller gewalt des epos durch Zeiten und Völker gedrungene herlichkeit seiner that nicht so vollständig begreifen, als wenn wir auch den hohen norden von ihm erfüllt und wol das ferne Italien, unbewust und namenlos, von ihm erzählen hören, es scheinen daher treue historische und mythische Zusammenstellungen, die sich von selbst 91

darbieten, bei weitem höher und ausreichender, als alle reflexionen der ästhetiker zu sein und eine geschichte der poesie, die (gleich der naturgeschichte) ihre resultate nur in sich selber trägt, nicht auszenher einträgt, musz sich zu jenen verhalten, wie die ganz verschiedene Wirkung, welche das lesen der bibel, Herodots und Snorros und das der werke unserer folgenspürenden historiker hervorbringt.

AUGUST WILHELM SCHLEGEL Rezension der Altdeutschen Wälder [1815] In einem Fache, wo noch so viel zu entdecken und aufzuräumen ist, wie in der Geschichte unserer Sprache und Dichtkunst, sind Zeitschriften ein recht angemeßenes Mittel, manche Nachweisungen, Zweifel und Erörterungen mitzutheilen, die, wenn sie auf die Abfaßung eines besondern Buches hätten warten sollen, vielleicht nie ans Licht gefördert worden wären. Dem, der schon nachgeforscht hat, kann nichts willkommner sein, als entweder Bestätigung des Gefundenen, oder Anregung zu neuer Untersuchung zu empfangen. Allein zum Gedeihen einer Zeitschrift ist es nöthig, auch solche Leser in hinreichender Anzahl zu gewinnen, die neben einer leichten Belehrung Unterhaltung begehren; und hierauf scheinen uns die Herren Grimm nicht eben sonderliche Sorgfalt gewandt zu haben. Die Altdeutschen Wälder sollten nach der Ankündigung monatlich erscheinen: aber nach den ersten sechs Heften ist, so viel wir wißen, keine Fortsetzung erfolgt. Seit noch längerer Zeit hat das Museum der Hrn. von der Hagen und Büsching für Altdeutsche Litteratur einen Stillstand erfahren, und wir fürchten, daß es noch manchen verdienstlichen, aber vereinzelten Bemühungen so ergehen wird. Möchten sich alle Forscher und Freunde der einheimischen Alterthümer vereinigen, um den Fortgang einer gemeinschaftlich unternommenen und alles dahin Gehörige umfaßenden Zeitschrift durch ihre Beiträge und ihre Abnahme zu sichern! Die Hrn. Gr. haben in den Altdeutschen Wäldern, wie in ihren früheren Arbeiten, einen nicht geringen Scharfsinn, eine ausgebreitete Belesenheit, einen unermüdlichen Fleiß in Aufspürung auch des Unbemerktesten bewährt. Weniger ist der Vortrag zu rühmen. Sie schreiben ausschließend für Kenner; sie setzen vieles als bekannt 92

voraus, was auch dem Gedächtnisse des Kenners nicht immer gegenwärtig ist; sie begnügen sich mit eilfertigen Andeutungen, wo eine ausführliche Entwickelung nöthig wäre. Indessen jeder Schriftsteller hat das Recht, den Kreiß seiner Leser nach Gutdünken zu beschränken. Hier aber geht die Nachläßigkeit in der ungefälligen Schreibart bis zu wirklichen Sprachfehlern. Uns dünkt, der Bewunderer der frühen Denkmale unsrer Sprache sollte doppelt genau auf die Richtigkeit seiner Wortfügungen achten, damit man ihm nicht vorwerfe, über dem alten sei ihm das heutige Deutsch abhanden gekommen. Oft scheint es uns an Klarheit des Ausdrucks zu mangeln, weil die Verfaßer nicht bis zur Klarheit des Begriffs durchgedrungen sind. Wir geben dieß nicht für ein allgemein gültiges Unheil; doch vermuthen wir, wenn wir bei aller Aufmerksamkeit gar nicht oder nur mit Mühe verstehen, das Gleiche möge wohl auch ändern nicht unerfahrnen Lesern begegnen. Ehe wir auf das Einzelne eingehen, legen wir im Allgemeinen dar, worin unsre Ansichten von denen der Hrn. Gr. abweichen. Sie machen es sich zum vorzüglichen Geschäft, den bald zusammenströmenden, bald in sich mehrere Arme theilenden Quellen aller wunderbaren Erzählungen aus der Vorzeit nachzugehn; bei dieser lehrreichen und anziehenden Bemühung scheinen sie aber einer bloß leidenden, das Empfangene allenfalls unwillkürlich und unbewußt verändernden Ueberlieferung zu viel, der freien Dichtung hingegen zu wenig einzuräumen. Es ist wahr, der Ursprung vieler Heldendichtungen verliert sich in das Dunkel der Zeiten; aus einem einfachen Keime haben sie sich erst im Lauf der Jahrhunderte reich und vielgestaltig entfaltet; von den meisten kennt man den Urheber nicht, oder wenn einer genannt wird, so war er es doch nicht auf die angegebene Weise, sondern ist selbst schon ein Geschöpf der ins Wunderbare erhöhenden Dichtung. Soll man daraus schließen, das, was unsere Bewunderung verdient, sei von selbst und gleichsam zufällig entstanden? Jede Wirkung zeugt von einer verwandten Ursache: das Erhabene und Schöne kann nur ein Werk ausgezeichneter Geister sein. So verschieden auch andere Zeitalter von dem unsrigen sein mochten, so glichen sie sich ohne Zweifel doch alle darin, daß unter der Menge der Sterblichen immer nur wenige mit überlegenen Seelenkräften begabt waren. Gewöhnliche, doch wohlgeartete Menschen sind empfänglich für alles, was den ewigen Wünschen, Bedürfnissen und Ahndungen des menschlichen Gemüthes entspricht: aber sie können es nicht 93

selbst hervorbringen, nicht die Gemüther Anderer bewegen und nach Gefallen lenken. Die Sage und volksmäßige Dichtung war allerdings das Gesammteigenthum der Zeiten und Völker, aber nicht eben so ihre gemeinsame Hervorbringung. Was man an Zeitaltern und Völkern rühmt, löset sich immer bei näherer Betrachtung in die Eigenschaften und Handlungen einzelner Menschen auf; und soll man hiebei der Anhäufung und "Wiederholung des Gemeinen, oder dem seltenen Auftreten des Außerordentlichen den grösten Einfluß zuschreiben? Wenn wir einen hohen Thurm in wohlgeordneten Verhältnissen über die Wohnungen der Menschen hervorragen sehn, so errathen wir freilich leicht, daß viele Bauleute die Steine herzugetragen haben. Aber die Steine sind nicht der Thurm: diesen schuf der Entwurf des Baumeisters. Alle Poesie beruht auf einem Zusammenwirken der Natur und Kunst. Ohne Kunst kann sie keine dauernde Gestalt gewinnen; ohne Natur erlischt ihr inneres Leben. Wie unschuldig jene frühe Kunst auch sein mochte, so mußte sie dennoch nach den ersten Fortschritten bald aufhören, unabsichtlich zu sein. Wie rege ist schon beim Homerus das Bewußtsein seiner Kunst! Wie rühmt er an dem Sänger die Besonnenheit, die schickliche Anordnung, die Klarheit der Schilderung! Noch mehr: in den Zeiten, woraus alle ursprünglichen Heldendichtungen herstammen, war die Poesie nicht bloß eine Kunst, aus Wohlgefallen daran geübt, wie Achilleus die Leier spielte; sondern sie war ein Gewerbe. So war es bei den Griechen, so bei unsern deutschen Vorfahren, so bei vielen ändern Völkern. Der Sänger wurde für seine ergötzende Mühe durch gastfreie Aufnahme in den Wohnungen der Häupter, auf den Versammlungsplätzen der Menge belohnt. Er hatte Mitwerber; und wenn sein Gedeihen auf dem Vermögen beruhte, seine Hörer mehr als Andre zu feßeln und zu bezaubern, so mußte seine Beobachtung sich bald auf die Mittel dazu lenken. Die kindliche Sprache, die einfache Wiederkehr der Töne ertrug keinen gesuchten Schmuck in den Worten: hierin konnte schwerlich einer den ändern übertreffen. Der neueste Gesang, sagt Homerus, erwirbt das lauteste Lob der horchenden Menge. Aber nicht jedes Menschenalter lieferte durch kühne Thaten oder erstaunenswürdige Vorfälle Stoff zu neuen Gesängen. Man mußte also dem Bekannten durch den Vortrag Neuheit zu geben suchen, es auf andre Weise mit anziehenderen, wundervolleren, und dennoch wahrscheinlichen Umständen erzählen. 94

In den Jahrhunderten, wo die volksmäßige Heldendichtung entstand, genoß sie des eigenthümlichen Vorrechtes, trotz aller Wunder für wahr zu gelten. Leicht und willig zu glauben, ist ein Merkmal kräftiger Naturen; der Zweifel ist das spätgeborne und schwächliche Kind der Verfeinerung. Jenes Vorrecht wäre in der That nichts Besonderes gewesen, wenn das Heldenlied sich ganz genau an die Wahrheit gehalten hätte. Aber schon Pindarus glaubte, Odysseus habe wohl nicht so viel erduldet, als der süßerzählende Homerus berichte, der seinen Lügen durch geflügelte Kunst eine gewisse Würde zu geben gewußt habe. Die Dichter, welche absichtlich, um zu verschönern, erfanden, konnten nicht umhin, hiebei ihre eignen Vertrauten zu sein. Indessen mochte der tiefe Eindruck, den ihre Erzählungen eben durch den Glauben an deren Wahrheit machten, auf ihre eigne Begeisterung zurückwirken, und es ergieng ihnen vielleicht wie manchen Stiftern und Begünstigern eines frommen Betruges, die durch die allgemeine Andacht zu ihren eignen Legenden bekehrt wurden. Die ältesten Heldenlieder haben fast immer eine geschichtliche Grundlage oder wenigstens Veranlaßung, und diese war aus der Sage geschöpft. Unter der Sage verstehen wir das Andenken merkwürdiger Begebenheiten, wie es sich durch mündliche Ueberlieferung von einem Geschlecht, und zuweilen von einem Volk zum ändern fortpflanzt. In Zeiten, wo es noch keine Bücher, keine wißenschaftlichen Kenntnisse giebt, wird die Erfahrung des eignen Lebens mit Recht als die höchste Weisheit verehrt. Die Jugend hört den Alten begierig zu, wenn sie die Thaten berichten, deren Zeugen oder Theilnehmer sie in früheren Jahren gewesen. In unzerstreuten Gemüthern, wo die Eindrücke nicht immerfort durch andre verdrängt werden, sind die zuerst empfangenen unauslöschlich, und wachsen ohne fremde Zuthat, durch die bloße Entfernung der Zeit, gleichsam nach Innen zu an. Dem Nestor erschienen die Zeitgenoßen seiner Jugend als ein Riesenstamm im Vergleich mit den Helden vor Troja. Vorliebe oder Abneigung, dann der dem menschlichen Geist besonders in der ersten Frische der Einbildungskraft inwohnende Hang zum Wunderbaren, brachten Uebertreibungen hervor, und die Ruhmbegierde faßte sie willig auf. Wer hätte nicht gern vernommen, wer hätte bezweifeln mögen, daß das kriegerische Volk, zu dem er gehörte, von einem übernatürlichen Heldengeschlecht abstamme? Wir halten die Niederlaßung des Aeneas in Italien nicht für wahrhafter, als die Abkunft der Franken 95

von dem trojanischen Franko: beide Erdichtungen, die in die Geschichte übertragen zu Irrthümern wurden, scheinen uns aus dem gleichen Grunde entsprungen zu sein, nämlich aus dem Wunsche ruhmliebender Völker, ihre lange Ahnenreihe an eine glorreiche Vorzeit anzuknüpfen. Wir sind so weit entfernt, alle Abweichungen der Sage bloß den Umwandlungen der blindlings wirkenden Zeit beizumeßen, daß wir vielmehr in nicht wenigen die absichtlichen Erfindungen einzelner Dichter sehen, welche dem Ahnenstolze dieses oder jenes Fürsten, oder seinen Ansprüchen auf erweiterte Herrschaft schmeicheln wollten. Wir glauben sogar die politischen Zwekke zu errathen, zu deren Behuf manche Heldendichtungen, wo nicht zuerst ersonnen, so doch erneuert und in Umlauf gebracht worden sind. Aus obigen Umständen erhellet, wie die Sage, noch ehe sie dichterisch behandelt wurde, schon in gewissem Grade den Forderungen der Poesie entsprach, so daß der Dichter nur kühnlich in derselben Richtung fortzugehn brauchte. Ganz anders ist die Lage des Dichters, der in einem gelehrten Zeitalter einen Gegenstand aus der beglaubigten Geschichte episch zu behandeln unternimmt. Wo die schriftliche Aufzeichnung sogleich nach den Begebenheiten erfolgt und allgemein zugänglich ist, da können diese nicht in die zauberische Dämmerung der Ferne zurücktreten: denn durch die Schrift werden sie deutlich und bestimmt festgehalten, und auch die grösten menschlichen Thaten haben, aus der Nähe betrachtet, eine undichterische Seite. Der Dichter hat also nur die Wahl, der Geschichte auf dem Fuße zu folgen, und trocken und nüchtern zu bleiben; oder wenn er sie eigenmächtig mit dem Schmuck des Wunderbaren ausstattet, so ist dieses nicht aus demselben Boden entsproßen, es verräth sich als ungleichartig, und er hat noch obenein mit dem Unglauben seiner Zeitgenoßen zu kämpfen. Das Bisherige bestimmt nun auch nach unserer Ansicht das Verhältniß der Heldensage zur Geschichte. Insofern jene das Gefühl und den Glauben eines gesammten Volkes ausspricht, giebt sie ein Zeugniß, und verdient besonders gegen die Parteilichkeit fremder Geschichtschreiber in Schutz genommen zu werden. Aus Zeiten und Gegenden, woher die Berichte gültiger Zeugen nur sparsam zu uns gelangt sind, kann die mündliche, dann dichterische Ueberlieferung Züge der Wahrheit aufbewahrt haben, welche die Geschichte verschweigt. Aber wenn die Sage bei uns noch Glauben finden soll, so müßen ihre Erzählungen nicht in offenbarem Widerspruche 96

mit demjenigen stehn, was wir ganz zuverläßig wißen. Bei der Zusammenhaltung der Sage mit der Geschichte kommt es also darauf an, erst auf das schärfste zu bestimmen, wie weit unsre gewisse Kenntniß reicht, wo sie anfängt dunkel zu werden, und wo sie endlich gar ausgeht. Auf jenem ersten Gebiete kann es immer noch belehrend sein, eine erhebende und weise Täuschung, dergleichen selbst Gesetzgeber früherer Zeiten der Begünstigung werth hielten, mit der Wahrheit zu vergleichen; aber nur in den letzten beiden Räumen ist es erlaubt, aus der dichterischen Ueberlieferung als einer Erkenntnißquelle zu schöpfen: jedoch immer mit der nöthigen Vorsicht, und ohne ihr eigenthümliches Wesen, ihren Ursprung und die fremdartigen Bestandteile, die auf dem langen Wege bis zu uns sich eingedrängt haben mögen, aus der Acht zu laßen. Die Herren Grimm scheinen uns zuweilen die Sage und die urkundliche Geschichte nicht gehörig zu sondern; sie räumen jener ein Ansehen ein, durch dessen Anerkennung wir an unsern bewährtesten und ausgemachtesten Kenntnissen irre werden müßten; sie wollen längst aus unwiderleglichen Gründen verworfene Fabeln wiederum als Thatsachen aufstellen, und wenn der Irrthum auch noch so offenbar ist, so soll doch auf irgend eine verborgene und geheimnißvolle Weise die Wahrheit darin stecken. Bei aller geschichtlichen Prüfung ist die einfache Frage, ob etwas wirklich geschehen, oder nicht; ob es auf solche Weise geschehen, wie es erzählt wird, oder anders; und das Widersprechende kann nicht zugleich wahr sein. Unstreitig ist es ein fruchtbarer Gesichtspunkt für die Lesung der Geschichtsbücher aus ungelehrten Zeiten, darauf zu achten, welche unter ihren fabelhaften Erzählungen aus alten Liedern geschöpft sind. Allein der Sage selbst geschieht ein schlechter Dienst damit, wenn man alles auf ihre Rechnung schreibt, was irgend eine Chronik Falsches, Unglaubliches, Widersinniges meldet. Nicht alle Irrthümer haben eine Ahnentafel. Es giebt ganz unbegeisterte Einbildungen, ganz prosaische Lügen, deren Ursprung man nicht weiter her zu suchen hat, als in dem müßigen Gehirne, das sie ausgebrütet. Unwißende Ruhmredigkeit auf die Thaten und das Alterthum des eignen Volkes, dann gelehrte Anmaßung, neue und unerhörte Dinge vorzubringen, haben viele trügerische Luftgebäude errichtet, woran die redliche Ueberlieferung durchaus unschuldig ist. Am meisten muß man den Schriftstellern aus der letzten Hälfte des Mittelalters bis in das sechszehnte Jahrhundert mißtrauen, eben weil sich da97

mals der Kreiß des Wißens wieder zu erweitern anfieng. Sie hatten die Glocke läuten hören, wie man sagt, wußten aber nicht, wo sie hienge. Sie haben nicht selten biblische und mythologische Angaben mit mißverstandenen Erinnerungen der Sage und willkürlichen Hypothesen zu einer heillosen Verwirrung zusammengeschmiedet. Ferner dehnen die Herren Grimm den Begriff der Sage unsers Bedünkens viel zu weit aus. Unter den Heldenliedern des Mittelalters haben die einheimisch deutschen das höchste Alterthum und das urkundlichste Gepräge. Doch hat auch hier freie Dichtung vielfältig ihr Spiel getrieben. Wir reden nicht von der späteren Bänkelsängerei; kommen doch selbst in den Nibelungen Zeitverwechselungen vor, wovon die ersten Urheber sich gewiß eben so bestimmt Rechenschaft ablegten, als Virgilius, da er seinen Aeneas mit der Dido zusammenstellte. Die spanischen Ritterromane (nicht der geschichtliche Cid, das versteht sich, sondern der Amadis und die folgenden) sind ganz willkürlich erfunden, gerade so wie mafi heut zu Tage Romane schreibt. Auch die weit älteren Fabelkreiße von Karl dem Großen und Artus verdanken einer volksmäßigen Ueberlieferung bloß die einfachsten Grundzüge: die reiche und mannichfaltige Ausbildung ist das Werk freier Dichtung; die meisten Paladine, und die sämmtlichen Ritter der Tafelrunde sind Geschöpfe der Einbildungskraft. Aber die Hrn. Grimm sprechen auch bei Novellen und Ammenmärchen >von dem alten Kern der Sage, von der späteren Tradition, von dem Mythus, von der mythischen Natur des Ganzem. Die Uebereinstimmungen und Abweichungen, welche sie hier bemerken, dürften wohl meistens in ein ganz anderes Fach gehören, nämlich in die Litterar-Geschichte der freien oder genauen, glücklichen oder mißlungenen Nachahmungen und Uebertragungen. Von jeher hat man sich gern an unterhaltenden Erzählungen ergötzt, sei es an eingeständig wunderbaren und fratzenhaften, an Märchen, oder an solchen, wobei alle Wahrscheinlichkeiten der wirklichen Welt beobachtet wurden, an Novellen. Man liebte das Neue, und sinnreiche Erfindungskraft war immer selten; da mußte man sich also aufs Borgen legen. Bei vielen Novellen darf man zwar nicht einmal nach einem Erfinder fragen: sie können gerade so vorgefallen sein, wie sie erzählt werden. Ein Zeitalter von kecken Sitten, derben und sinnlichen Leidenschaften, und stark abstechenden Verhältnissen der Stände, lieferte ohne Zweifel häufiger als das unsrige solche auffallende Thatsachen, dergleichen die Novelle verlangt. Es wäre 98

lächerlich, wenn jemand über eine bekannte Erzählung des Boccaccio sich in ernsthafte Zweifel vertiefte. 'Wo mag wohl der Mythus von dem Kalender der alten Ehemänner ursprünglich zu Hause sein? Ist er etwa noch ein Erbstück von den Patriarchen, die sich freilich auch in bedenklich hohem Alter vermählten?' - Ein geistreicher Spötter, wie Boccaccio, durfte nur einmal eine solche Ehe beobachten, so war der Kalender fertig. Man hat oft bemerkt, daß Boccaccio den französischen Erzählern viel verdanke. Auch diese mochten nicht immer Erfinder sein: aber gesetzt, man könnte manche Fabliaux im entferntesten Orient nachweisen, so würden wir darin nichts weiter sehen, als ein betriebsames und erlaubtes Plagiat, das durch den vielfachen Verkehr zwischen Europa und dem Orient im Mittelalter leicht begreiflich wird. Im Herodotus kommt eine ägyptische Diebesgeschichte vor, ganz im Sinne der Fabliaux; Pausanias hörte sie in Griechenland, als dort vorgefallen, erzählen; man hat sie, wo wir nicht irren, in neueren Zeiten mit den nöthigen Abänderungen auf Rechnung der Cartouche geschoben. Soll man deswegen eine Diebes-Mythologie annehmen, welche sich durch alle Völker und Zeiten geheimnißvoll fortzieht? - Woher aber die Abweichungen, wird man fragen, wenn die Entlehnung offenbar ist? Daher, daß die Menschen, wenn sie auch etwas nicht von Grund aus erschaffen können, sich dennoch leicht einbilden, es beßer zu machen. Manche Erzählungen und Dichtungen sind durch vielerlei Hände zu uns gelangt, aber nur durch wenige ausbildende und verschönernde, durch viele bloß überliefernde, und leider auch durch entstellende und vergröbernde Hände. Was nun die Ammenmärchen betrifft, so wollen wir sie keinesweges geringschätzen: nur glauben wir, daß das Vortreffliche in dieser Gattung eben so selten ist, als in allen übrigen. Jede gute Wärterin soll ihr Kind unterhalten oder wenigstens beruhigen und einschläfern; leistet sie dieß durch ihre Geschichten >Es war einmal ein König< u. s. w., so ist weiter keine Forderung an sie zu machen. Wenn man aber die ganze Rumpelkammer wohlmeinender Albernheit ausräumt, und für jeden Trödel im Namen der >uralten Sage< Ehrerbietung begehrt, so wird in der That gescheiten Leuten allzu viel zugemuthet. Sogar auf einzelne Gleichnisse und Sinnbilder wenden die Herren Grimm den Begriff von Sage und Mythus an, weil dergleichen bei verschiedenen Völkern und in entfernten Zeitaltern wiederkommen. Dieß erklärt sich ganz natürlich daraus, daß die Menschen im 99

Allgemeinen dieselbe körperliche und geistige Verfaßung haben, und daß ihrer Einbildungskraft auch dieselbe äußere Welt vorgeschwebt hat. Alle Menschen träumen; ähnliche Träume kommen wieder, das beweisen die Traumbücher: ist aber deswegen ein Zusammenhang unter den Träumen anzunehmen? Die Wiederholung gewisser Bilder ist dem Dichter erlaubt, weil sie nie veralten, und sich keine schöneren ersinnen laßen; oft aber bemerkt man darin nur Dürftigkeit der Erfindung und Trägheit des Geistes. Zu allen theils willkürlichen und unbewährten, theils leeren und unersprießlichen Zusammenstellungen fügen die Hrn. Gr. nun noch die etymologischen, welche uns die gewagtesten von allen scheinen. Wir werden Proben davon geben, wie sie die schwierige Kunst der Wortableitung ausüben, wobei gründliche Sprachkenntniß, große Behutsamkeit, und vor allem feste Grundsätze unentbehrlich sind, wenn man nicht auf hoffnungslose Irrbahnen gerathen will. [. . .] WILHELM GRIMM

Die altnordische Literatur in der gegenwärtigen Periode [1820] [. . .] In dem bisher Gesagten ist wohl schon die Antwort angedeutet, wenn jemand fragt, wozu denn das Studium des Alterthums diene und weshalb es empfohlen werde? Gewiss nicht um einer mechanischen Verbindung des Alten und Neuen den Weg zu bahnen und um von dort her Stücke zu holen, wenn es bei uns irgendwo nicht zum besten bestellt sein oder ganz fehlen sollte. Auch nicht um alles, was wir besitzen, niederzureissen und nach jenem Muster, das uns besser däucht, neu aufzubauen. Der Werth des Alterthums besteht darin, dass es uns unsere eigene Gegenwart erkennen lehrt. Wir gewinnen die Überzeugung, dass diese nicht aus zufälligen Ursachen, sondern nothwendig auf jener Grundlage sich entwickelt hat, wodurch allem Willkürlichen und Ungeschichtlichen in der Behandlung derselben gewehrt wird. Ferner werden wir angewiesen, auf das Geringe und Unbedeutende zu achten, und unser Auge wird gestärkt, in dem Unscheinbaren den Keim des Wichtigen zu sehen. Wie vieles Brauchbare ist als leer und unfruchtbar weggeworfen und zertreten worden. Dies gilt nicht bloss von der Poesie, Sprache und Geschichte, sondern überhaupt von dem bürgerlichen 100

Leben. Wie man bemerkt hat, dass, nachdem Galls System bekannt geworden, die Bildhauer die Form des Schädels sorgfältiger betrachtet und richtiger verstanden, oder wie die Maler durch das Studium der Anatomie erst die leisen Übergänge und wallenden Linien des lebenden Leibes erkennen, so dient auch das Alterthum, dasjenige, was sich sonst dem Blick entzieht, zu sehen und der wahren Gestalt näher zu kommen. Hier ist auch der Punkt, wo ein Stärken und wirkliches Fortbilden dadurch möglich wird und der Nutzen sich praktisch zeigt, denn es kann das Schwankende stützen, das Verwirrte ordnen und nach einem alten Bilde die verwilderten Runen unterscheiden und in ihre natürliche Folge legen. Es ist daher auch klar, dass das vaterländische Alterthum die erste und grösste Rücksicht verdient. Die Frage, ob es in allen Theilen trefflich und beifallswürdig sei, kommt dabei nicht in Betracht, da es ja zu einer rohen Nachahmung nicht soll hingestellt werden. Auch ist der Streit, inwiefern das Alterthum anderer edler Völker wegen höherer Ausbildung den Vorzug verdiene, nutzlos; denn eine höhere Trefflichkeit, selbst wenn sie erwiesen wäre, auch nicht durch Gegensätze bedingt, denen wir mit Recht uns entziehen, wird doch nur einer von dem Allernächstliegenden abgelösten Gesinnung als der letzte Grund des Vorzugs erscheinen. Die unbedingten Verehrer der Griechen, welche diese überall als das einzige Muster voranstellen, haben hier durch Beförderung einer seelenlosen Nachahmung viel geschadet. Die Aufgabe nämlich unserer Bildung ist nicht, bei uns eine Sammlung aller aufzubringenden Vortrefflichkeiten anzulegen, sondern eine naturgemässe Entwickelung unserer Eigenthümlichkeit zu befördern. Das Unrecht gegen die Vorzüge des Fremden fängt erst da an, wo wir absichtlich die Augen davor verschliessen und jede Einwirkung desselben abzuschneiden gedenken; dann nämlich entziehen wir uns die Freiheit und fangen an abzusterben. Nächst dem einheimischen Alterthum ist aber das nordische das wichtigste, oder vielmehr es ist als ein Theil desselben zu betrachten. Wir dürfen uns hier eines glücklichen Verhältnisses freuen, indem das germanische Element unserer Bildung, mit dem schon früh, aber mit entschiedenem Gewicht seit der Zeit der Völkerwanderungen das römische zusammenkam, in dem abgetrennten Norden reiner und ungestörter sich erhielt und fortbildete. Dieser ward erst durch die Einführung des Christenthums, dessen Herrschaft nicht eher als im 11. Jahrhundert durchgedrungen war, ähnlichen Einflüs101

sen geöffnet und trat mit Deutschland in eine gleiche Bahn. Das nordische Alterthum verhält sich daher zu dem deutschen, wie die Sprache der Bewohner abgeschlossener Thäler und Berge zu der, welche sich in den Städten der offenen Landschaft aus vielfach bewegtem Leben und durch die von allen Seiten zuströmenden Einwirkungen gebildet hat. Jene ist in sich vollkommener geblieben, diese reicher an Mitteln geworden. Die altnordische Poesie gewährt ein wahrscheinlich sehr nah verwandtes Bild der ältesten deutschen bis auf wenige Spuren untergegangenen, und dies Verhältnis wird sich einmal noch genauer darlegen lassen, nur dass der Mangel an entsprechenden Denkmälern bei uns nicht gestatten wird, es so gründlich und ausführlich nachzuweisen, wie es bereits bei der Sprache geschehen ist. In der Mythologie sind die Grundzüge des Gemeinschaftlichen ohne Zweifel noch vorhanden, obgleich die Meinung viel Wahrscheinliches hat, dass die auf uns gekommenen mythischen Quellen eine dem Norden eigenthümlich zugehörige Fortbildung darstellen. Grosse Aufklärung ist endlich für Sitten, das ganze Privatleben und das überlieferte Volksrecht von dorther zu erwarten. JACOB GRIMM

Deutsche Grammatik Erster Teil [1819] 1. Widmung An Herrn Geheimen Justizrath und Professor von Savigny zu Berlin. Wie hat sich mein herz danach gesehnt, lieber Savigny, was ich einmal gutes und taugliches hervorzubringen im stände sein würde, Ihnen und keinem ändern öffentlich zuzuschreiben, gott weisz und thut stets das beste, als nach dem frühen tode des vaters und dem absterben beinahe aller verwandten, der liebsten seligen mutter unermüdliche sorge nicht mehr übersah, was aus uns fünf brüdern werden sollte und ich, mir selbst überlassen, in manchem verabsäumt, doch voll guten willens, redlich mein vorgesetztes Studium zu betreiben, nach Marburg kam; da fügte es sich, dasz ich Ihr 102

zuhörer wurde und in Ihrer lehre ahnen und begreifen lernte, was es heisze, etwas studieren zu wollen, sei es die rechtswissenschaft oder eine andere, auf diese erweckung folgte bald nähere bekanntschaft mit Ihnen, deren liebreichen anfang ich niemals vergesse und woran sich mehr und mehr faden knüpften, die von dieser zeit an bis jetzo auf meine gesinnung, belehrung und arbeitsamkeit unveränderlichen einflusz behauptet haben, ich denke auch zurück, dasz wir ohne Sie den Arnim nicht kennen gelernt hätten und was sich an beide bekanntschaften schlieszt oder daraus mit hervorgegangen ist, müssen gleichfalls meine geschwister als etwas auf irgend eine weise behülflich und für ihre lebensart bestimmend gewordenes betrachten, so hat uns der himmel, nachdem wir verwaist und allein gestanden, mit ändern menschen berathen wollen und Zuneigungen zuwege gebracht, an die unsere eitern nicht einmal einen gedanken haben konnten. Meine bisherigen arbeiten, von denen Sie stets unterrichtet gewesen sind und an welchen Sie immer antheil genommen haben, schienen mir doch zu gering ausgefallen, oder blosze Sammlung roher Stoffe, deren Wichtigkeit künftig einmal gezeigt werden kann, zu wenig mein eigen, als dasz ich sie zu einem maaszstab meiner dankbarkeit und anhänglichkeit hätte brauchen dürfen, ich schlage auch gegenwärtiges buch, dessen mängel nicht verborgen bleiben werden, nur etwas höher an, weil es mich gröszeren fleisz gekostet hat, und weil ihm ein gewisses verdienst nicht entgehn kann, in sofern in» einem ungebauten feld es zugleich leichter und schwerer ist, entdeckungen zu machen, man nimmt mit der ersten, halbwilden frucht vorlieb, da sie an der statte, woher sie kommt, nicht erwartet wurde, aber ihr wohl die mühseligkeit des unbefahrenen weges anzusehen ist, auf dem ich sie einbringe, sollte es hiermit auch anders stehen, so versehe ich mich doch zum voraus, dasz Sie meinem versuch, von dieser seite her in unser deutsches alterthum bahn zu brechen, sein recht geschehen lassen, und den gedanken billigen werden: einmal aufzustellen, wie auch in der grammatik die unverletzlichkeit und nothwendigkeit der geschichte anerkannt werden müsse. Mag man dem erfolg, den ein eifriger und nicht einseitiger betrieb der altdeutschen literatur in unsern tagen gehabt hat, seit sie gerade durch die letzte feindliche Unterjochung für viele gemüter gegenstand des trostes und der aufrichtung geworden war (welcher schöne anfang auch nicht zu vergessen ist), böses oder gutes nach103

sagen wollen; das gute wird gewisz schwerer wiegen und von bestand sein, die übertriebenen, unreifen lobpreisungen, die jeder ersten freude zu gut gehalten werden müssen, sind schon vorbei oder haben sich allmälig gemildert; aber auch von dem tadel anderer leute, welche neben der ungeleugneten trefflichkeit griechischer und sonst für classisch gehaltener muster das vermeintlich bäurische wesen unserer eigenen vorzeit gar nicht aufkommen lassen möchten und sich beinahe schämen, davon zu reden, wird kein vernünftiger mehr zurückgeschreckt, ich bin des festen glaubens, selbst wenn der werth unserer vaterländischen guter, denkmäler und sitten weit geringer angenommen werden müste, als wir ihn gerecht und bescheiden voraussetzen dürfen, dasz dennoch die erkenntnis des einheimischen unser die würdigste, die heilsamste und aller ausländischen Wissenschaft vorzuziehen wäre, auf das Vaterland sind wir von natur gewiesen und nichts anderes vermögen wir mit unsern angeborenen gaben in solchem maasze und so sicher begreifen zu lernen, die geschichte unserer poesie und spräche erscheint jetzt noch arm und unentwickelt; es kann aber einmal die zeit kommen, wo sie, fruchtbarer und festgegründeter, selbst auf die griechische und lateinische gelehrsamkeit wohlthätigen einflusz äuszern wird, eines langsamen und bedächtigen gangs mag sie immer bleiben, bisher hat sie mehr einem wohlgelegenen haus geglichen, dessen fenster zu schönen aussichten einladen, in welchem aber noch tisch und stuhle mangeln, sich bequem und wohnlich niederzulassen, was zu thun sei, braucht nicht erst lange gesagt zu werden, die geretteten und wiedereroberten denkmäler werden überall in sorgsamer bewahrung gehalten; es frommt uns nicht, sie eilfertig in den druck zu geben, damit ihr inhalt der bloszen neugier geöffnet werde, sondern wir sollen uns der herstellung und Sicherung ihrer ursprünglichen gestalt befleiszigen. was die vorzeit hervorgebracht hat, darf nicht dem bedürfnis oder der ansieht unserer heutigen zeit zu willkürlichem dienste stehen, vielmehr hat diese das ihrige daran zu setzen, dasz es treulich durch ihre hände gehe und der spätesten nachweit ungefälscht überkomme, es würde uns wenig damit geholfen sein, irgend ein altes gedieht in dem zustande zu finden, der es etwa für das siebzehnte Jahrhundert hätte allgemein lesbar machen sollen.1 1

etwa wie einmal Hoffmannswaldau (vorrede zum getreuen Hirten) versucht, den eingang von Otfried zu modernisieren.

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Die nicht blosz von mir geforderte, sondern schon von einigen lobwürdig geleistete strenge Behandlung der quellen unserer altdeutschen literatur kommt freilich der neueren zeit ungelegen, welche ihren dermaligen stand für Wissenschaft und poesie in den mittelpunct zu erheben und mit allem zu überladen trachtet, dieses nachweben jedes glänzenden Stoffs, den das ausland trägt, dieses wenden und linkmachen unserer eigenen alten rocke hebt nicht allein den wirklichen werth des fremden oder alten auf, indem inhalt und form einer wahren dichtung so wesentlich verbunden sind, dasz sie nicht auseinander gerissen werden können; es benimmt auch die eigentliche freude an dem einheimischen und jetzigen, unsere heutigen dichter leben in einem geräusch von Stoff und form, woraus sich viele gar nicht flüchten können; wenige nur sind in ihrer heimlichkeit unberührt geblieben.2 in der spräche hat man die einführung fremder Wörter, die vermeinte zurückbringung veralteter übel empfunden und mit fug gescholten; zu gleicher zeit wird unsere poesie selbst durch alle mögliche Verdeutschungen heimgesucht, ihre natur in fremde weisen gezwängt und die erneuerung altdeutscher gedichte für etwas nöthiges gehalten, allerdings gibt es nothwendige und rechte Übertragungen, auf denen ein groszer segen ruht, die erhabene einfachheit der heiligen Schriften geht in alle zungen über, ich habe vielmals bedacht, wie wunderbar die Wirkung des christenthums auch in dem stück gewesen, dasz es die vergleichung der sprachen aller welttheile allein erst möglich gemacht hat. was wäre die geschichte unserer deutschen geblieben ohne die gothische version und ohne die versuche frommer manner in den folgenden Jahrhunderten, das licht des evangeliums in der rede des eigenen landes zu entzünden? Luthers Verdeutschung der bibel, die für uns mit jedem menschenalter köstlicher und zum heiligen kirchenstil wird (woran geflissentlich kein wörtchen geändert werden sollte) hat dem hochdeutschen männliche haltung und kraft gegeben, wo es also in der sache noth thut, da ist auch die Übersetzung ein begeistertes werk und was für das ganze volk gehört, musz in der muttersprache zu ihm reden.3 in unserer heutigen literatur 2 3

wie Hebel. zu einer idealisch treuen Übersetzung würde erforderlich sein, dasz unsere Sprache, mit der wir übersetzen wollen, der fremden, woraus wir übersetzen wollen, das gleichgewicht halte, nicht blosz in der form, sondern auch in der geistigen entwicklung. das trifft jedoch practisch niemals zusammen, jemehr annäherungen aber dazu vorhanden sind, desto

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herscht aber ein offenbares misverhältnis von bildung, die gar nicht zum volke dringen kann und ein unmaasz im übersetzen von büchern, die weder das volk nähren noch den gebildeten störendes Überdrusses erlassen, zu einer fern abgelegenen spräche mögen selbst dem gelehrten hülfsmittel erschwert oder abgeschnitten sein, an deren stelle Übertragungen mit wahrem vortheil treten; je bescheidener sie in der form bleiben, desto sicherer, dasz man hingegen jedwede vortrefflichkeit einer anderen europäischen nation, deren werke gelehrte und gebildete im Urtext zu lesen pflegen, noch dazu deutsch machen und ihre form auf das steifste nachzubilden sucht, das eben scheint mir tadelhaft und für den ächten deutschen ton, nach dem viele schon vergebens suchen, grundverderblich; als müste unsere literatur alles in sich verzehren und der Deutsche das wissenswürdige des auslands nach bequemer Zurichtung im eignen hause treffen, fremde werke bleiben gleichwol von der deutschen bearbeitung unabhängig fortbestehen; denkmäler unserer vorzeit hingegen, weil sie uns näher sind und die Verstimmung zwischen verwandten tönen schreiender ist, als zwischen solchen, die weit auseinander liegen, empfinden es desto schlimmer, wenn man sie zwingt, die färbe der heutigen weit aufzustecken, vaterländische alte sagen, wie es mir scheint, haben ihren eignen reiz in einer gewissen mangelhaftigkeit, ja der glaube beruht mit darauf, weil das gefühl einem sagt, dasz die lüge alles vervollständigen und ausspinnen möchte, unsere edelsten werke des dreizehnten Jahrhunderts sind wirklich so zart gedichtet und ausgeführt, dasz sich die geschickteste hand eines neuen dichters daran vergreifen würde, was könnte aus der lieblichen Unschuld der Gottfriedischen dichtung von Tristan werden, gienge nicht aller gefallen an der derbheit der lieder unsers heldenbuchs verloren, sobald man jene in neue stanzen bringen, diese in einem vervollständigten gedieht herausschmücken wollte? den Ariost und Tasso konnte ich niemals zu ende lesen, weil mir vorkam, bei allem glänz ihrer worte und empfindungen sei doch besser kann die Übertragung gerathen; z. b. eine deutsche von Shakespeare viel eher als eine französische, zugleich folgt hieraus, dasz sich ein altes epos, sei es ein noch so kleines Volkslied, gar nicht übersetzen lasse, denn weil man nur in einer gebildeten zeit übersetzt, so ist der abstand zwischen ihr und der natürlichen zeit, worin diese dichtungen entstanden und lebten, zu bedeutend und die beiderseitigen mittel liegen einander zu fern, als dasz das werk gelingen könnte. - Cervantes äuszert sich gegen Übersetzungen Don Quixote p. I, cap. 6 bei gelegenheit des Ariosto.

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die natur der alten Volksdichtung in ihnen zu gründe gegangen, jede zu grosze fülle läszt wieder leer, die rechte poesie gleicht einem menschen, der sich tausendfältig freuen kann, wo er laub und gras wachsen, die sonne auf und niedergehen sieht; die falsche einem, der in fremde länder fährt, und sich an den bergen der Schweiz, dem himmel und meer Italiens zu erheben wähnt; steht er nun mitten darin, so wird sein vergnügen vielleicht lange nicht reichen an das maasz des daheimgebliebenen, dem sein apfelbaum im hausgarten jährlich blüht und die finken darauf schlagen, auch erbauen sich unsre maier wenig daran, dasz sie aus alten heiligengeschichten und ritterbüchern malen wollen, was ihnen nicht zu äugen gegangen ist und nicht zu herzen geht; das heutige leben sollten sie anschauen und erfassen, weder die muster des deutschen noch des griechischen alterthums. es gibt auch keinen rechten unterschied zwischen antiker und romantischer poesie. die geschichte der maierei, poesie und spräche lehret viele abwege meiden, denn sie zeigt uns, dasz jederzeit die Wahrheit denen erschienen ist, welche auf die spur der natur, fern von menschlicher Schulweisheit getreten sind, von solcher natürlichen Weisheit aus unsrer vaterländischen geschichte zu lernen, soviel als mein pfund austrägt, und nicht abzulassen, ist meine sehnlichste begier. Behalten Sie lieb ihren getreuen Jacob Grimm. 2. Vorrede Seit man die deutsche spräche grammatisch zu behandeln angefangen hat, sind zwar schon bis auf Adelung eine gute zahl bücher und von Adelung an bis auf heute eine noch fast gröszere darüber erschienen, da ich nicht in diese reihe, sondern ganz aus ihr heraustreten will; so musz ich gleich vorweg erklären, warum ich die art und den begriff deutscher Sprachlehren, zumal der in dem letzten halben Jahrhundert bekannt gemachten und guthgeheiszenen für verwerflich, ja für thöricht halte, man pflegt allmälig in allen schulen aus diesen werken Unterricht zu ertheilen und sie selbst erwachsenen zur bildung und entwicklung ihrer Sprachfertigkeit anzurathen. eine unsägliche pedanterei, die es mühe kosten würde, einem wieder auferstandenen Griechen oder Römer nur begreiflich zu machen; die meisten mitlebenden Völker haben aber hierin so viel gesunden blick vor uns voraus, dasz es ihnen schwerlich in solchem 107

ernste beigefallen ist, ihre eigene landessprache unter die gegenstände des Schulunterrichts zu zählen, den geheimen schaden, den dieser Unterricht, wie alles überflüssige, nach sich zieht, wird eine genauere prüfung bald gewahr, ich behaupte nichts anders, als dasz dadurch gerade die freie entfaltung des Sprachvermögens in den kindern gestört und eine herliche anstalt der natur, welche uns die rede mit der muttermilch eingibt und sie in dem befang des elterlichen hauses zu macht kommen lassen will, verkannt werde, die spräche gleich allem natürlichen und sittlichen ist ein unvermerktes, unbewustes geheimnis, welches sich in der Jugend einpflanzt und unsere Sprechwerkzeuge für die eigenthümlichen vaterländischen töne, biegungen, Wendungen, härten oder weichen bestimmt; auf diesem eindruck beruht jenes unvertilgliche, sehnsüchtige gefühl, das jeden menschen befällt, dem in der fremde seine spräche und mundart zu ohren schallt; zugleich beruhet darauf die unlernbarkeit einer ausländischen spräche, d. h. ihrer innigen und völligen übung. wer könnte nun glauben, dasz ein so tief angelegter, nach dem natürlichen gesetze weiser Sparsamkeit aufstrebender wachsthum durch die abgezogenen, matten und misgegriffenen regeln der sprachmeister gelenkt oder gefördert würde und wer betrübt sich nicht über unkindliche kinder und Jünglinge, die rein und gebildet reden, aber im alter kein heimweh nach ihrer Jugend fühlen, frage man einen wahren dichter, der über Stoff, geist und regel der Sprache gewisz ganz anders zu gebieten weisz, als grammatiker und wörterbuchmacher zusammengenommen, was er aus Adelung gelernt habe und ob er ihn nachgeschlagen? vor sechshundert jähren hat jeder gemeine bauer Vollkommenheiten und femheiten der deutschen spräche gewust, d. h. täglich ausgeübt, von denen sich die besten heutigen Sprachlehrer nichts mehr träumen lassen; in den dichtungen eines Wolfram von Eschenbach, eines Hartmann von Aue, die weder von declination noch von conjugation je gehört haben, vielleicht nicht einmal lesen und schreiben konnten, sind noch unterschiede beim substantivum und verbum mit solcher reinlichkeit und Sicherheit in der biegung und Setzung befolgt, die wir erst nach und nach auf gelehrtem wege wieder entdecken müssen, aber nimmer zurückführen dürfen, denn die spräche geht ihren unabänderlichen gang, sollte es mir nicht gelungen sein, die früheren eigenschaften und Schicksale unserer deutschen aus den verbliebenen denkmälern getreu darzustellen; so zweifle ich gleichwol nicht, würde eine noch mangelhaftere ausführung dessen, was ich im sinn 108

gehabt, genug siegende kraft in sich tragen, um die völlige Unzulänglichkeit der bisher ausgeklügelten regeln in den einfachsten grundzügen, aus denen alles übrige flieszt, offenbar zu machen, sind aber diese Sprachlehren selbst täuschung und irrthum; so ist der beweis schon geführt, welche frucht sie in unseren schulen bringen und wie sie die von selbst treibenden knospen abstoszen statt zu erschlieszen. wichtig und unbestreitbar ist hier auch die von vielen gemachte beobachtung, dasz mädchen und frauen, die in der schule weniger geplagt werden, ihre worte reinlicher zu reden, zierlicher zu setzen und natürlicher zu wählen verstehen, weil sie sich mehr nach dem kommenden inneren bedürfnis bilden, die bildsamkeit und Verfeinerung der spräche aber mit dem geistesfortschritt überhaupt sich von selbst einfindet und gewisz nicht ausbleibt, jeder Deutsche, der sein deutsch schlecht und recht weisz, d. h. ungelehrt, darf sich, nach dem treffenden ausdruck eines Franzosen: eine selbsteigene, lebendige grammatik nennen und kühnlich alle sprachmeisterregeln fahren lassen. Gibt es folglich keine grammatik der einheimischen spräche für schulen und hausbedarf, keinen seichten auszug der einfachsten und eben darum wunderbarsten elemente, deren jedes ein unübersehliches alter bis auf seine heutige gestalt zurückgelegt hat; so kann das grammatische Studium kein anderes, als ein streng wissenschaftliches und zwar der verschiedenen richtung nach, entweder ein philosophisches, critisches oder historisches sein. [. . .] Von dem gedanken, eine historische grammatik der deutschen spräche zu unternehmen, sollte sie auch als erster versuch von zukünftigen Schriften bald übertroffen werden, bin ich lebhaft ergriffen worden, bei sorgsamem lesen altdeutscher quellen entdeckte ich täglich formen und Vollkommenheiten, um die wir Griechen und Römer zu neiden pflegen, wenn wir die beschaffenheit unserer jetzigen spräche erwägen; spuren, die noch in dieser trümmerhaft und gleichsam versteint stehen geblieben, wurden mir allmälig deutlich und die Übergänge gelöst, wenn das neue sich zu dem mittein reihen konnte und das mittele dem alten die hand bot. zugleich aber zeigten sich die überraschendsten ähnlichkeiten zwischen allen verschwisterten mundarten und noch ganz übersehene Verhältnisse ihrer abweichungen. diese fortschreitende, unaufhörliche Verbindung bis in das einzelnste zu ergründen und darzustellen schien von groszer Wichtigkeit; die ausführung des plans habe ich mir so vollständig gedacht, dasz was ich gegenwärtig zu leisten vermag, weit dahinten bleibt. 109

Kein volk auf erden hat eine solche geschichte für seine spräche, wie das deutsche, zweitausend jähre reichen die quellen zurück in seine Vergangenheit, in diesen zweitausenden ist kein Jahrhundert ohne Zeugnis und denkmal. welche ältere spräche der weit mag eine so lange reihe von Begebenheiten aufweisen und jede an sich betrachtet vollkommnere, wie die indische oder griechische, wird sie für das leben und den gang der spräche überhaupt in gleicher weise lehrreich sein? Ich hätte mich auf die Untersuchung der uns in Deutschland zunächst liegenden Überbleibsel der althochdeutschen mundart, für deren sicheres Verständnis eine feste, grammatische behandlungsart nicht blosz wünschenswerth, sondern unerläszlich war, beschränken können und vielleicht zu meinem vortheil. inzwischen stand mir bald vor äugen, dasz ohne das gothische als grundlage überhaupt nichts auszurichten wäre und selbst die anknüpfung der spräche, wie sie von den hochdeutschen dichtem des dreizehnten Jahrhunderts geredet worden, an unsre heutige mislingen würde, wo nicht die einflüsse der niederdeutschen mundart in den anschlag kämen, es muste folglich auf ältere quellen des niederdeutschen: sächsische, anglische und friesische bedacht genommen werden, woran sich wiederum die nordischen, ohnedem in absieht auf unverkümmerte, freie entfaltung voraus gesegneten sprachen von selbst fügten, der erfolg scheint mir bewährt zu haben, dasz keine einzige dieser vielfachen mundarten des groszen deutschen Stammes ohne merklichen nachtheil des ganzen hätte auszer acht gelassen werden dürfen. Verführerischer war die vergleichung der fremden, gleichwol unleugbare urgemeinschaft verrathenden sprachen, hat man einmal bis zu einem gewissen punct fort untersucht, so wird es schwer einzuhalten und sich nicht noch weiter zu wagen, indessen war mir zu wenig räum vergönnt, um meine Vorstellung von dem groszen Zusammenhang beinahe aller europäischen Zungen untereinander und mit einigen asiatischen vorzulegen; blosz einzelnes ist hin und wieder, und zwar das meiste bei der conjugation mehr angedeutet, als ausgeführt worden, an der genauen ausführung liegt jedoch eben die hauptsache, da man über das allgemeine, namentlich die bevölkerung Europas durch verschiedene auf einander aus Asien eingewanderte und mit den dort verbliebenen Persern und Indiern näher, als diese mit ändern Asiaten sind, verwandte Völkerstämme längst im reinen war. auch ist meine kenntnis von dem gröszten theil dieser fremden sprachen zu mangelhaft, als dasz ich oft, ge110

schweige überall ins einzelne hätte gehen dürfen, unterdessen hat Rasks treffliche, mir erst beinahe nach der beendigung dieses buchs zugekommene preisschrift4 weitreichende aufschlüsse über die vielseitige berührung der deutschen mit den lettischen, slavischen, griechischen und lateinischen sprachen geliefert; besonders anziehend ist die Vermittlung deutscher und slavischer formen in dem lettischen und lithauischen stamm aufgehellt und für die frühere geschichte, wo Gothen mit ändern im dunkel liegenden Völkern jene gegenden bewohnten, von gröszter bedeutung. derselbe gelehrte bereist gegenwärtig einen theil des russischen Asiens und wird uns eine ausbeute wichtiger entdeckungen über die sprachen der dort wohnenden Völkerschaften und ihr Verhältnis zu dem slavischen und deutschen stamm zurückbringen; frühere reisende haben blosz nach wurzeln sammeln können, wer des innern baues der sprachen kundig ist, vermag ungleich sicherer und fruchtbarer zu werke zu gehn. insoweit ich mit Rasks ansichten von der beschaffenheit der alten deutschen sprachen übereingetroffen war, muste mir daraus die erfreulichste bestätigung der richtigkeit meiner Untersuchungen hervorgehen; historische Studien führen nothwendig zu ähnlichen resultaten, wie unabhängig von einander sie auch angestellt gewesen sein mögen, über das Verhältnis der europäischen sprachen untereinander bin ich durch die Raskische schrift beträchtlich gefördert worden; da mein buch mehr die durchgeführte aufstellung des einzelnen bezweckte, wird hoffentlich auch Rask manche willkommene ergänzung und bestätigung, zumal was die ihm grösztentheils unbekannt gebliebene alt- und mittelhochdeutsche mundart angeht, daraus schöpfen, dasz er die persische und indische spräche aus der reihe seiner forschungen absichtlich geschlossen hat, gereicht diesen gewisz zum vortheil und ihm zum lob; denn sich beschränken thut jeder arbeit wohl, wenn man von dem innern, d. h. hier dem einheimischen ausgehen will und soll, die ringe der Verwandtschaft, welche die slavische, lateinische und griechische spräche um unsre deutsche herum bilden, sind engere und der aufgäbe näher gelegene, als die weiteren des persischen und indischen, aufschlüsse aber, wozu uns die allmälig wachsende bekanntschaft mit der reinsten, ursprünglichsten aller dieser sprachen, nämlich dem Sanscrit, berechtigt, erscheinen darum nicht geringer, sondern als schluszstein 4

undersögelse om det gamle nordiske eller islandske sprogs oprindelse. Kjöbenhavn 1818.

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der ganzen Untersuchung überhaupt, und sie hätten keinen besseren händen anvertraut werden können, als denen unseres landsmannes Bopp.5

JOHANN ANDREAS SCHMELLER Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt Vorwort [1821] Von dem seit längerer Zeit angekündigten Versuche über die Mundarten Bayerns erscheint nun der erste Theil, oder die grammatische Darstellung derselben. Der zweyte, oder das Wörterbuch über die eigenen Ausdrücke dieser Mundarten wird in möglichst kurzer Zeitfrist folgen. Ich hatte mir vorgenommen, durch dieses Vor- und Fürwort mancherley zu sagen über die Einrichtung des gegenwärtigen Versuches einer historisch-geographisch-grammatischen Darstellung der deutschen Sprache, so wie sie in einem beträchtlichen Theile von Süddeutschland ins Leben tritt, - über die Fehler und Mängel dieses Versuches, - und über den Nutzen, der, meines Erachtens, für die vergleichende deutsche Sprachkunde überhaupt, und im Inlande insbesondere für den denkenden Sprachlehrer, für Geistliche, Richter und Beamte aller Art, kurz, für jeden der mit dem gemeinen Mann verkehren will, daraus zu schöpfen seyn dürfte. Ja auch von der Hoffnung wollte ich sprechen, die ich mir machte, diesen oder jenen meiner Landsleute dann und wann zu einem ernstern und dabey vergnüglichen Nachdenken über sonst unbeachtete, ihm unaufhörlich vorkommende Erscheinungen in der Rede des Volkes zu veranlassen, und auf diesem Wege sogar das gegenseitige Verständniß, die gegenseitige Achtung aller Bewohner des bayerischen Staates, Aller, die durch das Doppelband Eines geliebten Regentenhauses und Einer Verfassung verbrüdert sind, gewissermaßen zu befördern. 5

vorläufig ist von ihm erschienen: das conjugationssystem der sanscritsprache. Frankf. 1816. und die bereits s. 388 gedachte beurtheilung von Forsters Sanscrit grammatik in den Heidelberger jahrbüchen 1818, mit triftigen bemerkungen über pronomen, partikeln und comparation.

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Doch ich unterlasse es. Mein Versuch soll durch sich selbst sprechen. Die Mängel und Fehler, mit denen er nun einmal hinaustreten muß, werden nicht geringer, wenn ich sie entschuldige. Auf manche, die ich noch nicht kenne, wird mich freundliche, sey es auch unfreundliche Kritik aufmerksam machen, und nur so werde ich in den Stand gesetzt, in der Folge etwas mehr befriedigendes zu liefern. Auch wäre es wohl wenig an seinem Orte, wenn ich mich hier über den Werth solcher Forschungen und über die Bedeutung der Mundarten überhaupt erst weitläufig herauslassen wollte. Denkenden Sprachfreunden würde ich nichts neues zu sagen wissen. - Diejenigen aber, die nun einmal gewohnt sind, das Won und das geistige Leben von neun Zehntheilen eines Volkes neben dem eines zehnten Zehntels als gleichgültiges Nichts zu betrachten, würde ich schwerlich zu überzeugen vermögen, daß die, der größern Masse eines Volkes eigene Sprache, so wie sie von Jahrhundert zu Jahrhundert wechselnd ins Leben tritt, eine Thatsache sey, in welcher sich das geistige wie das körperliche Seyn und Thun des Volkes und der Zeit mehr als in irgend einer ändern darstellt, und daß daher solche Thatsachen eben so sehr verdienen, kommenden Geschlechtern zur Vergleichung und Belehrung überliefert zu werden, als so manche andere, die den gewöhnlichen Inhalt unserer Fürsten- und Völker-Geschichten ausmachen. Eine andere Classe von bedeutenden und achtungswerthen Personen gibt es, die bey dem ernsten Wunsche, daß auch die große Masse sich bilde, von der Ansicht ausgehen, daß zu diesem Ende die althergebrachten Eigenheiten derselben als so viele Hindernisse erst zu beseitigen und auszumerzen seyen. Auch mit diesen würde ich in Widerstreit gerathen, wenn ich behauptete, daß man, um ein Volk in Masse höher heben zu können, dasselbe erst recht verstehen, daß man seine Eigenheiten als Fundamente benutzen müsse, um Besseres darauf zu bauen; daß es also nicht klug sey, sie zu verachten, und auf ihre Vertilgung auszugehen, sondern daß man vielmehr sie pflegen müsse, damit sie desto minder der Veredlung widerstreben, ja, daß sie selbst einen organischen Uebergang bilden zu dem, wovon sie früher der schroffe Gegensatz zu seyn schienen. Denn dieses ist einmal die Meinung die ich in Hinsicht auf Volks-Bildung und Volks-Erziehung von den Mundarten und ihrer Bearbeitung habe. Eine nicht geringere Bedeutung lege ich denselben in sprachwissenschaftlicher und historischer Rücksicht bey. 113

Mir stehen die Mundarten neben der Schriftsprache da, wie eine reiche Erzgrube neben einem Vorrathe schon gewonnenen und gereinigten Metalles, wie der noch ungelichtete Theil eines tausendjährigen Waldes neben einer Partie desselben, die zum Nutzgehölz durchforstet, zum Lusthain geregelt ist. Wenn die Erscheinungen der Mundarten gewöhnlich so betrachtet werden, wie der gemeine Einwohner Italiens, Griechenlands die Trümmer und Ruinen betrachtet, die ihn allenthalben umgeben, nemlich mit der ärmlichen Rücksicht, wie sie etwa aus dem Wege zu räumen, oder allenfalls wozu sie zu verwenden, zu benutzen wären: so können sie auch anders, ja mit einem Anklänge von jenem Hochgefühle betrachtet werden, mit welchem die Reste einer grauen Vorzeit, freylich nur den, ergreifen, der von einer ändern Seite her mit denselben bekannt ist. Und ich gestehe, daß es etwas ähnliches war, was mir Vorliebe für diese Art von Forschungen und Geduld gab zum Fortfahren in denselben. Daß ich übrigens hier von meiner Arbeit auf mich selbst zu reden komme, darf ich vielleicht mit dem, in einem geschätzten Buche (Heynatzens neuen Beyträgen zur Verbesserung der deutschen Sprache 1. B. S. 98.) vorkommenden Ausspruch entschuldigen, welcher dahin geht, daß zu Forschungen, wie die vorliegenden, nicht ein solcher Landesbewohner, der nie das Land verlassen, sondern auf alle Fälle ein solcher, der mehrere Länder durch längern Aufenthalt kennt, besonders geeignet sey, und daß jeder Sammler in diesem Fache eigentlich von Rechtswegen ausführliche Anzeige darüber geben sollte, ob er ein Einheimischer oder Ausländer sey, fremde Landschaften kenne oder nicht, u. s. w. Geboren in der Gegend des Fichtelgebirges, habe ich einen Theil meiner Jugend an der Donau und an der Isar verlebt. Frühe ward ich von meinem Stern in die weite Fremde hinausgeführt. Fern vom engern, ja zum Theil auch vom gemeinsamen deutschen Vaterlande habe ich es nur inniger schätzen und lieben gelernt. Seine Sprache, das einzige was ich noch von demselben hatte, ward mein liebstes Denken und Forschen. Als ich nach zehn Jahren, im Winter 1813, wieder zurückkehrte ins engere Vaterland, dessen Laute meinem Ohr einigermaßen fremd geworden waren, konnte ich mein freudiges Erstaunen nicht bergen, in den Hütten der Heimat so viele Klänge und Ausdrücke zu vernehmen, die mich lebhaft an die Sprache der deutschen Vorzeit erinnerten, mit der ich mich in der Fremde so gerne beschäftigt hatte. 114

Von jenem Augenblick an war es mir eine angenehme Unterhaltung, alles, was mir in der Sprache des gemeinen Mannes auffiel, zu bemerken und zu sammeln. Wie glücklich war ich, als mir zwey Jahre später, (m.s. Zeitschrift für Bayern und die angrenzenden Länder v. 1816), auf den Antrag eines deutschen Sprachfreundes,1 mit Genehmigung des königlichen Kriegsministeriums, meine Lieblingsunterhaltung durch die königliche Academie der Wissenschaften zur förmlichen Aufgabe gemacht wurde, als unser Durchlauchtigster Kronprinz auf die Ihm eigene großmüthige Weise mein Bestreben zu unterstützen geruhte! Meine Arbeit ward nicht wenig gefördert durch die theils unmittelbare, theils mittelbare Theilnahme von so manchem Freunde der vaterländischen Sprache. Allen sey hiemit der wärmste Dank gesagt; so wie ich mir insbesondere von denjenigen, die mir entweder schon früher selbst angelegte Sammlungen zur Benutzung mitgetheilt, oder auf mein Ansuchen in ihrem Kreise Beobachtungen angestellt und mich mit ihren Bemerkungen beehrt haben, die Erlaubniß erbitte, dieselben im Wörterbuch als meine Gewährsmänner namentlich aufzuführen, wobey ich bemerke, daß auch fernere Beyträge, besonders aus den Mayn- und Rhein-Gegenden, mir noch künftig sehr willkommen seyn werden. Viele Notizen habe ich durch Selbsthören und Selbstsehen auf wiederholten Wanderungen durch die meisten Gegenden des Königreichs gesammelt; andere habe ich, mit Bewilligung der MilitärBehörden, durch planmäßige Vernehmung neueingereihter Conscribirten, als einzelner Repräsentanten ihrer Dialekte, mir zu verschaffen gesucht. Daß ich übrigens die verschiedenen, in dieses Gebiet einschlagenden gedruckten Arbeiten eines Heumann, Prasch, Zaupser, Hübner, Freyh. v. Moll, Radlof, Höfer, von Westenrieder, von Delling etc., die eines Christoph Schmid, Stalder, Reinwald, Vater .. ., eines Adelung, Benecke, Docen, Fulda, Grimm, von der Hagen und Anderer dankbar benutzt habe, brauche ich kaum zu bemerken. Möchten auch meine Bemühungen ein Schritt vorwärts seyn! A. Schmeller, Ober-Lieutenant im k. ersten Jäger-Bataillon. Es hat das Publicum von dessen Hand in kurzem die Herausgabe eines der ältesten und bedeutendsten germanischen Sprach-Monumente zu erwarten.

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JACOB GRIMM

Geschichte der deutschen Sprache [1848] 1. Widmung An Gervinus. Auszer unsrer landsmannschaft, auf die ich immer noch ein gutes stück gebe, die ich jetzt sogar enger geschürzt wünsche, hat in vielen dingen gemeinsame forschung und Sinnesart, zu Göttingen gleiches Schicksal uns verbunden, seit Reinhart Fuchs nahmen Sie an meinen arbeiten beständig theil und hielten das streben alles ernstes in unsre spräche, sage und geschichte zu dringen für ein unmittelbar der gegenwärtigen und künftigen zeit zu gute kommendes unaufschiebbares geschäft. Das buch, mit dessen Zueignung, wie niemand als Ihre liebe frau weisz, ich mich schon lange umtrug, war gerade fertig, als die Verhängnisse dieses jahrs herein brachen, die mich, wären sie vor dem druck eingetroffen, bewogen haben würden damit ganz zurückzuhalten; jetzt habe ich Ihnen anderes auszusprechen als was mir sonst angelegen hätte, und den etwas übermütigen ton meiner doch mit einer düsteren ahnung schlieszenden vorrede musz ich herabstimmen, denn es kann kommen, dasz nun lange zeit diese Studien danieder liegen, bevor das wühlende öffentliche geräusch ihnen wieder räum gestatten wird; sie müssen uns dann wie ein edler und milder träum hinter uns stehender Jugend gemuten, wenn ans ohr der wachenden ein roher wähn schlägt, alle unsere geschichte von Arminius an sei als unnütz der Vergessenheit zu übergeben und blosz am eingebildeten recht der kurzen spanne unserer zeit mit dem heftigsten anspruch zu hängen, solcher gesinnung ist im höchsten grade einerlei, ob Geten und Gothen jemals gewesen seien, ob Luther in Deutschland eine feste macht des glaubens angefacht oder vor hundert jähren Friedrich der grosze Preuszen erhoben habe, das sie mit allen mittein erniedrigen möchten, da doch unsrer stärke hofnung auf ihm ruht, gleichviel, ob sie fortan Deutsche heiszen oder Polen und Franzosen, gelüstet diese selbstsüchtigen nach dem bodenlosen meer einer allgemeinheit, das alle länder überfluten soll. 116

Wie verschieden davon war Ihre von jeher politische, aber für die herlichkeit des lebendigen Vaterlandes streitende richtung. Ihre geschichte der poesie legt immer den maszstab an die dichter, ob sie es auferbaut und des volks geistigen fortschritt in der seele empfunden und gepflegt haben, sogar für die thierfabel geht das sittliche beispiel oder auch die satire Ihnen über das weichere epische leben, wobei ich doch beherzigte, dasz es im gegensatz zum offenen bekenntnis, auch eine stille, alles epimythiums entrathende förderung des volks gibt, und einige Ihrer urtheile über Göthe schienen mir ungerecht, in dessen Jugend und blute kein deutscher aufschwung fiel, dessen alter die politik müde sein muste, und der doch so gesungen hat, dasz ohne ihn wir uns nicht einmal recht als Deutsche fühlen könnten, so stark ist diese heimliche gewalt vaterländischer spräche und dichtung. Jetzt haben wir das politische im überschwank, und während von des volks freiheit, die nichts mehr hindern kann, die vögel auf dem dach zwitschern, seiner heiszersehnten uns allein macht verleihenden einheit kaum den schatten, o dasz sie bald nahe und nimmer von uns weiche. In wie ungelegner zeit nun mein buch erscheine, das vom vorgesteckten ziel sich nicht abwandte, ist es doch, wer aus seinem inhalt aufgäbe und gefahr des Vaterlandes ermessen will, durch und durch politisch, es lehrt, dasz unser volk nach dem abgeschüttelten joch der Römer seinen namen und seine frische freiheit zu den Romanen in Gallien, Italien, Spanien und Britannien getragen, mit seiner vollen kraft allein den sieg des christenthums entschieden und sich als undurchbrechlichen dämm gegen die ungestüm nachrückenden Slaven in Europas mitte aufgestellt hat. Von ihm zumal gelenkt wurden die Schicksale des ganzen mittelalters, aber welche höhe der macht wäre ihm beschieden gewesen, hätten Franken, Burgunden, Langobarden und Westgothen gleich den Angelsachsen ihre angestammte spräche behauptet. Mit deren aufgeben giengen sie uns und groszentheils sich selbst verloren; Lothringen, Elsasz, die Schweiz, Belgien und Holland sind unserm reich, wir sagen noch nicht unwiderbringlich entfremdet, viel zäher auf ihre muttersprache hielten die Slaven und darum kann uns heute ein übermütiger slavismus bedrohen; in unserer innersten art lag je etwas nachgibiges, der ausländischen sitte sich anschmiegendes, sollen wir von dem fehler bis zuletzt nicht genesen? 117

Der sich zunächst dem forscher in der spräche enthüllende grundsatz, dasz zwischen groszen und waltenden Völkern (neben welchen es jederzeit unterwürfige und bewältigte gab) auf die dauer allein sie scheide, und anders redende nicht erobert werden sollen, scheint endlich die weit zu durchdringen, aber auch die innern glieder eines volks müssen nach dialect und mundart zusammentreten oder gesondert bleiben; in unserm widernatürlich gespaltnen vaterland kann dies kein fernes, nur ein nahes, keinen zwist, sondern ruhe und frieden bringendes ereignis sein, das unsre zeit, wenn irgend eine andere mit leichter hand heranzuführen berufen ist. Dann mag was unbefugte theilung der fürsten, die ihre leute gleich fahrender habe zu vererben wähnten, zersplitterte wieder verwachsen, und aus vier stücken ein neues Thüringen, aus zwei hälften ein starkes Hessen erblühen, jeder stamm aber, dessen ehre die geschichte uns vorhält, dem groszen Deutschland freudige opfer bringen. Mein blick sucht in lichte Zukunft einzudringen, wenn auch noch über uns schwer ein wolkenbedekter himmel steht, und nur am säum der berge die helle vorbricht, vielleicht, bevor einige menschenalter vergangen sind, werden sich nur drei europäische Völker in die herschaft theilen: Romanen, Germanen, Slaven. Und wie aus der letzten feindschaft zwischen Schweden und Dänen der schlummernde trieb ihres engen Verbandes erwacht ist, wird auch unser gegenwärtiger hader mit den Scandinaven sich umwandeln zu brüderlichem bunde zwischen uns und ihnen, welchen der spräche gemeinschaft laut begehrt, wie sollte dann, wenn der grosze verein sich binnenmarken setzt, die streitige halbinsel nicht ganz zum festen lande geschlagen werden, was geschichte, natur und läge fordert, wie sollten nicht die Juten zum alten anschlusz an Angeln und Sachsen, die Dänen zu dem an Gothen wiederkehren? sobald Deutschland sich umgestaltet kann Dänemark unmöglich wie vorher bestehn. Frankfurt 11. juni 1848.

JACOB GRIMM.

2. Zeitalter und Sprachen Weder das in unermessener zeit von den höchsten Sternen auf uns niederfunkelnde licht, noch die am gestein der erde lagernden schichten unvordenklicher Umwälzungen geben unsre älteste geschichte her, welche erst anhebt wann menschen auftreten, was vor 118

den menschen geschah, so erhaben es sei, ist unmenschlich und erwärmt uns nicht. Um des menschengeschlechts anfange spielt mythus. bald steht im Vordergrund ein seliges paradies, wo milch und honig flieszen, die erde ungepflügt und unbesät fruchte trägt und noch die thiere reden, bald musz was alle thiere gleich der menschlichen spräche entbehren sogar das lebendige feuer den menschen erst errungen werden. Ein goldnes silbernes ehernes eisernes Zeitalter folgen auf einander; unter Kronos herschaft heiszen die langlebigen menschen selbst noch goldne, der nordische Fruoto liesz gold und friede malen, amrita, der unsterblichen trank, wurde aus flüssigem gold und milch bereitet, an des friedens stelle trat sodann krieg und der mensch brauchte statt goldes eisen, auf den duft und glänz der vorzeit gefolgt ist farblosere Wirklichkeit, wie wir für alte poesie der prosa bedürfen. Es wird dadurch, nach unverrückbarer stufe, ein herabsinken vom gipfel früher Vollendung wehmütig ausgedrückt, im scheinbaren Widerspruch zu dem ewig steigenden aufschwung der menschheit, die sich jenes göttliche Feuer nimmer entreiszen läszt. Eine andre sage, indem sie von den menschen als jetzt lebenden einheimischen geschlechtern ausgeht, setzt ihnen früher geschafne fremde von riesen und zwergen entgegen, in den riesen scheint unmittelbar das steinalter dargestellt, da sie auf felsen hausen, ungeheure mauern thürmen, steinkeulen führen und durch kein metall zu erlegen sind, während mit den schmächtigen aber kunstfertigen zwergen die zeit des erzes beginnt, das sie unter der erde schürfen und schmieden: aus ihrer hand empfängt der mensch köstliches geschmeide und leuchtende waffe. Auf beide, riesen und zwerge, fällt aber ein doppeltes licht, günstig oder ungünstig, bald wird den riesen uralte treue und Weisheit beigelegt, sie sind milchesser, säen und ernten nicht, sondern weiden ihre herden, kämmen der rosse mahne, legen ihren hunden goldbänder an; die zwerge bilden das stille friedliche volk, das von einfacher speise lebt und mit den menschen gute nachbarschaft hält, bald stehn jene unbeholfen, steinkalt und grausam da, diese tückisch und feindselig, und des menschen ausharrende kraft trägt am ende den sieg davon über des riesen leiblichen Vorzug, den sie mit dem geist, über des zwergs geistigen, den sie mit dem leib bezwingt, jedesmal widerfährt aber den riesen und zwergen gemeinschaftlich, dasz sie zuletzt dem andrang der menschen weichen und das land räumen müssen. 119

So verschieden sie gewendet sind, greifen diese Vorstellungen von den vier altern und drei geschlechtern ineinander, und der mensch des eisenalters gleicht dem besieger der riesen und zwerge. beide sagen erreichen zuletzt den boden der Wirklichkeit, allein rückwärts sind sie undeutbar auf die geschiente: sie können nur dumpfen anklang geben. Der menschliche geist hat andere wege eingeschlagen nach den geheimnissen der vorweit und ist beinahe wieder auf dieselbe spur gerathen. . Wie das messer in leichname schneidet, um den menschlichen leib innerst zu ergründen, ist in verwitterte erdhügel eingedrungen und die lange ruhe der gräber gestört worden, von schnee eingeschneit, von regen geschlagen, von thau durchtrieben muste die todte völva dem mächtigen gott rede stehn; was in staub und asche übrig geblieben war, fragt unermüdliche neugier nach dem zustand der zeit, aus welcher es abzustammen scheint. Beschaffenheit der gräber, gestalt der morschen schädel, art und weise des eingelegten geräths sollen antwort geben, alle diese zeugen sind beinahe stumm, nur inschrift und deutliche münze haben noch kraft des Wortes, Samenkörnern, die unsre geschiente befruchten, gleicht das in unendlicher menge durch alle europäischen felder und hügel zerstreute römische geld. Nach den allenthalben unternommnen ausgrabungen hat man drei verschiedne Zeitalter ermittelt, die jenen mythischen zu begegnen scheinen, zuerst angesetzt wird ein steinalter, aus welchem mächtige felsengräber mit unverbrannten leichen und steinernen waffen übrig sind; das volk welches sie baute und brauchte, soll nur jagd und fischerei getrieben, aller metalle entbehrt haben, hierauf sei die eherne zeit oder das brennalter gefolgt, dem gold und erz [Lisch jahrb. 25,228] zu waffen und schmuck eigen waren, das im feuer schmiedete und durch dasselbe element seine leichen zerstörte, deren asche in irdnen krügen beisetzte, ackerbau, weberei und schiffart kannte, endlich ein eisenalter, welches wieder unverbrannte leichen in hügel begrabend eiserne waffen und schrift besessen habe. Diesen kennzeichen gemäsz pflegt man die aufgefundnen denkmäler zu ordnen und sorgsam zu betrachten; es scheint einleuchtend dasz jene Steingrüfte den riesenbetten der sage entsprechen und der Volksglaube versetzt die unterirdischen schmiede des zwergstamms mit ihren schätzen unmittelbar in die grabhügel der ehernen zeit, so dasz mit der eisernen das treiben und die kraft des menschlichen geschlechts eingetreten wäre. 120

Als oberste frage erhebt sich aber nun hierbei, inwiefern die gewonnene Unterscheidung auf bestimmte Völker der geschichte anwendung leide, ob sie stufen eines und desselben Stamms zusage, oder bei dem unablässigen Wechsel vieler hintereinander von verschiednen gelten müsse? jene mythischen Zeitalter gründeten sich auf wiederholte Schöpfung und die goldnen menschen waren nicht einer abkunft mit den eisernen, riesen zwerge menschen jede für sich besonders entsprossen. Wenn aber auch, und dafür streitet manches, das historische steinalter einem eignen volkschlag überwiesen werden darf, scheint es desto bedenklicher erzalter und eisenalter auf ungleiche volkstämme zu beziehen und nicht nach dem fortschritt eines und desselben auszulegen, mag man immer befugt sein zu der annähme, dasz gebrauch des erzes und goldes dem des silbers und eisens vorausgehe und nach dieser folge die waffenschmiedekunst sich ausgebildet habe; es wird schwer bleiben zu erhärten, dasz in einzelnen ländern das erz nicht länger gedauert, das eisen nicht früher begonnen haben könne. So lange diese zweifei dauern, so lange nicht sichere merkmale aus der form der waffen, des schmucks und aller geräthe gewonnen werden, die den ausschlag gäben, scheint die älteste geschichte der europäischen Völker hier keine eigentliche aufklärung zu erlangen, wie manches willkommne für Sitten und gebrauche daraus hervorgehn mag. An dem ehernen Zeitalter (Lindenschmitt 153) scheitert alle mühe der forscher; sie haben sich um die reihe berechtigt zu der annähme gehalten, bald dasz es den Kelten, bald den Deutschen gehöre, und es scheint, Slaven hätten gleich starke ansprüche darauf zu erheben, wer Deutschen steinhämmer, Kelten eherne waffen beimiszt, musz die riesengräber von dem gebrauch der Steinwaffen absondern und unser volk aus der mitte und dem vorschritt seiner entwicklung reiszen; weit naturgemäszer ist es das eherne Zeitalter Kelten, Deutschen, Slaven und allen übrigen Völkern auf ähnliche weise, wenn auch nicht zugleich einzuräumen und aus ihm für jedes einzelne volk den Übergang in die zeit zu finden, wo das eisengeräth sich verbreitete. Ein neulicher anziehender fund in Schwaben hat sogenannte todtenbäume, d. h. zur leichbestattung ausgehölte eichstämme an den tag gebracht, die nicht unwahrscheinlich noch dem alamannischen heidenthum angehören; wer aber möchte feststellen, dasz zu gleicher zeit nicht schon die übrigen Deutschen und selbst Alamannen auch aus brettern sarge zimmerten? 121

Es gibt ein lebendigeres Zeugnis über die Völker als knochen, waffen und gräber, und das sind ihre sprachen. Sprache ist der volle athem menschlicher seele, wo sie erschallt oder in denkmälern geborgen ist, schwindet alle Unsicherheit über die Verhältnisse des volks, das sie redete, zu seinen nachbarn. für die älteste geschichte kann da, wo uns alle ändern quellen versiegen oder erhaltne Überbleibsel in unauflösbarer Unsicherheit lassen, nichts mehr austragen als sorgsame erforschung der Verwandtschaft oder abweichung jeder spräche und mundart bis in ihre feinsten ädern oder fasern. Aus der geschichte der sprachen geht zuvorderst bedeutsame bestätigung hervor jenes mythischen gegensatzes: in allen findet absteigen von leiblicher Vollkommenheit statt, aufsteigen zu geistiger ausbildung. glücklich die sprachen, welchen diese schon gelang als jene nicht zu weit vorgeschritten war: sie vermählten das milde gold ihrer poesie noch mit der eisernen gewalt ihrer prosa. Seien alle über den ganzen erdball gebreiteten menschen ausgegangen von dem ersten paar, folglich die manigfalten zungen geflossen aus einer einzigen, oder nicht; sei die weisze braune oder schwarze race unter den himmelstrichen von einander ausgeartet oder ihre abweichung unvereinbar; die meinung zählt nur noch geringe gegner, dasz Europas gesamtbevölkerung erst im laufe der Zeiten von Asien eingewandert sein, dasz die meisten europäischen sprachen in unverkennbarer Urverwandtschaft stehn müssen zu einem groszen auch noch heute in Asien wurzelnden sprachgeschlecht, aus welchem sie entweder fortgezeugt sind, oder, was weit mehr für sich hat, neben dem sie auf gleichen urquell zurückweisen, einzelne europäische sprachen scheinen aber von ihnen abzurücken und auch ihre besondere wurzel an anderer statte Asiens zu begehren, so dasz ihr Zusammenhang mit jenen ungleich ferner und dunkler aussieht. Ehmals hat man gestrebt, wie alle alte geschichte auf die Überlieferungen der heiligen schrift zu beziehen, so der neueren sprachen Ursprung in der hebräischen zu ersprüren; seitdem die kenntnis des Sanskrits geöfnet wurde, ist volle einsieht aufgegangen, dasz zu ihm und dem zend unsere europäischen zungen in engem band stehn, von den semitischen weiter abliegen. Viel härter hält es eindrücke zu verwinden, die wir von Jugend auf empfangen haben, es ist wahr, die gesamte europäische bildung gründet sich, seit dem Christenthum, auf die unsterblichen werke der Griechen und Rö122

mer; aber weit über die ihrem einflusz gebührende gerechtigkeit hinaus hat man sich allzulange gewöhnt den maszstab griechischer und lateinischer sprachen an alle übrigen zu legen, beinahe jede germanische slavische keltische eigenthümlichkeit zu verkennen und als blosze trübung jener lauteren quelle anzusehn. wie wenig, für sich erwogen und den gehalt ihrer denkmäler redlichst angeschlagen, unsere sprachen jene mit vollem recht classisch genannten erreichen; so hat in der geschichte alles, auch das geringere sein recht und seinen reiz, und erst eine ernsthafte bekanntschaft mit den einheimischen angeblich neueren, an sich aber gleich alten, der lateinischen oder griechischen blosz verschwisterten sprachen und mit der frischen, unbillig verachteten roheit ihres alterthums unsern forschungen, wenn sie von allen Seiten her gedeihen sollen, die rechte freiheit verliehen, da die spräche mit dem glauben, dem recht und der sitte jedes volks von natur eng zusammenhängt, so werden dem, der seinen fleisz diesen zuwendet, über die spräche selbst unerwartete aufschlüsse daher entspringen. Jeder spräche, welche sie auch sei, stehn auszer ihren heimischen Wörtern auch fremde zu, die der verkehr mit den nachbarn unausbleiblich einführte und denen sie gastrecht widerfahren liesz. sie nach langer niederlassung auszutreiben ist eben so unmöglich, als es die reinheit der Sprachsitte gefährdet, wenn ihr zudrang leichtsinnig gestattet wird, für die geschichte der sprachen leisten diese lehnwörter guten dienst, weil sie bei ihrer wurzellosigkeit leicht ins äuge fallen und als ausnahme die regel der spräche, gegen welche sie sich allenthalben sträuben, hervorheben. Die einheimischen Wörter sind wiederum doppelter art, je nachdem sich ihre wurzel in kraft und fülle frisch erhalten hat oder abgestorben ist und nur noch in einzelnen formen fortdauert, jene regen wurzeln verleihen der spräche sinnliche stärke und gewähren die günstigste entfaltung aller ihrer grammatischen eigenheiten; in deutscher spräche wird sie durch das vermögen abzulauten kennbar. Hiernach kann nun alle gemeinschaft zwischen sprachen theils auf jenem zufälligen äuszeren anstosz beruhen, der hier und dort einzelnes aus der fremde borgen liesz, theils auf einer langsam fortwirkenden wesentlichen Urverwandtschaft, die vorhanden gewesen sein musz, als die sprachen von einander sich abtrennend jede ihren eigenthümlichen weg einschlugen, auf dem sie sich mehr oder minder entfremdeten, als deutlichstes zeichen solcher urgemeinschaft werden einstimmige persönliche pronomina, Zahlwörter und das ver123

bum substantivum anerkannt; sie wird zumal in jenen lebendigen wurzeln, von welchen das innere gewebe der spräche abhängt, vorbrechen, aber auch in einer groszen zahl von abgestorbnen aufzusuchen sein, deren wahrer keim gerade in der ändern spräche haften kann. Bei Sprachvergleichungen überhaupt glaube ich den grundsatz aufstellen zu dürfen, dasz zwischen den Wörtern verschiedner Völker zwar gleichheit der buchstaben wie der begriffe obwalten, dennoch für jedes volk eigenthümliche beziehung auf ihm vertraute wurzeln, formen und Vorstellungen eintreten könne, nothwendigkeit und freiheit sind auch in den sprachen ewiges gesetz.

JACOB UND WILHELM GRIMM Deutsches Wörterbuch Einleitung zum ersten Band [1854] Auch wissenschaftliche Unternehmungen, denen es noth thut tiefe wurzel zu schlagen und weit zu greifen, hängen von äuszeren anlassen ab. allgemein bekannt ist, dasz im jähr 1837 könig Ernst August von Hannover die durch seinen Vorgänger gegebne, im lande zu recht beständige und beschworne Verfassung eigenmächtig umstürzte, und dasz mit wenigen ändern, die ihren eid nicht wollten fahren lassen (denn wozu sind eide, wenn sie unwahr sein und nicht gehalten werden sollen?), ich und mein bruder unserer ämter entsetzt wurden, in dieser zugleich drückenden und erhebenden läge, da den geächteten die öffentliche meinung schützend zur seite trat, geschah uns von der Weidmannschen buchhandlung der antrag, unsere unfreiwillige musze auszufüllen und ein neues, groszes Wörterbuch der deutschen spräche abzufassen, unmusze, und die freiwilligste war genug da, sie wäre nimmer ausgegangen, was frommte ihrer mehr und im überschwank zu bereiten? beinahe hiesz es alte warm gepflegte arbeiten aus dem nest stoszen, eine neue ungewohnte und mit jenen, aller nahen Verwandtschaft zum trotz unverträgliche, ihren fittich heftiger schlagende darin aufnehmen, auf deutsche spräche von jeher standen alle unsere bestrebungen, den gedanken ihren unermessenen wortvorrat selbst einzutragen hatten wir doch nie gehegt, und schon der mühsamen zurüstungen sich zu unterfangen konnte den für die ausdauer unentbehrlichen mut auf die probe stellen, aber im Vorschlag lag auch etwas unwiderstehliches, das sich 124

gleich geltend machte und zum voraus allen Schwierigkeiten, den vor äugen schwebenden, wie solchen, die sich erst, wenn hand angelegt werden sollte, erzeigen würden und die es vorauszuschauen unmöglich ist, die spitze bot. wir erwogen und erwogen, ein unabsehbares, von keinem noch angelegtes, geschweige vollbrachtes werk öfnete allenthalben die fernsten aussichten. es gab weder ein deutsches Wörterbuch, noch einer ändern neueren spräche in dem umfassenden, ausgedehnten sinn, den wir ahnten, welchem gerade jetzt mehr als irgend wann mit treu aufgewandten kräften folge geleistet, mit reger theilnahme entgegen gekommen werden könnte, seine ungeheure wucht sollte nun auf vier schultern fallen: das schien sie zwar zu erleichtern und vertheilen, indem ihm aber auch zwei häupter erwuchsen, die nothwendige einheit wo nicht des entwurfs, doch der ausführung zu gefährden, dies bedenken dennoch hielt keinen stich gegen die stete gemeinschaft, in der wir von kindesbeinen an gelebt hatten, die wie bisher auch für die Zukunft unsere geschicke zu bestimmen und zu sichern befugt war. eingedenk des uralten Spruchs, dasz ein bruder dem ändern wie die hand der hand helfe, übernahmen wir williges und beherztes entschlusses, ohne langes fackeln, das dargereichte geschäft, zu dessen gunsten auch alle übrigen gründe den ausschlag gegeben hatten, auf welche weise wir uns beide in es finden und einrichten, soll hernach unverhalten bleiben. Jahre sind, nachdem durch die gnade des königs von Preuszen wir hier in Berlin schirm und freiheit für unsere forschungen erlangt haben, verflossen, bevor angehoben werden konnte, und schon ist jenes öffentliche ereignis vor ändern noch viel stärker erschütternden, deren Vorspiel es gleichsam abgab, in den hintergrund gewichen, mag das werk, dessen beginn auf des geliebten vaterlandes altar wir nun darbringen, einst vollführt gegründetere Zuversicht erwecken, dasz es im andenken der nachweit haften und nicht schwinden werde, so ist uns damit alles leid vergolten. Längst entbehrt unsere spräche ihren dualis, dessen ich mich hier immer bedienen müste, und den pluralis fortzuführen fällt mir zu lästig, ich will das viele, was ich alles zu sagen habe, und von dem auch meine eigensten, innersten empfindungen beschwichtigt oder angefochten werden, frischweg in meinem namen aussprechen; leicht wird, sobald er künftig das wort ergreift und seine weichere feder ansetzt, "Wilhelm meinen ersten bericht bestätigen und ergänzen, hingegeben einer unablässigen arbeit, die mich je genauer ich 125

sie kennen lerne, mit stärkerem behagen erfüllt, warum sollte ich bergen, dasz ich meinestheils entschieden sie von mir gewiesen hätte, wenn unangetastet ich an der Göttinger stelle geblieben wäre? im vorgerückten alter fühle ich, dasz die faden meiner übrigen angefangnen oder mit mir umgetragnen bücher, die ich jetzt noch in der hand halte, darüber abbrechen, wie wenn tagelang feine, dichte flokken vom himmel nieder fallen, bald die ganze gegend in unermeszlichem schnee zugedeckt liegt, werde ich von der masse aus allen ecken und ritzen auf mich andringender Wörter gleichsam eingeschneit, zuweilen möchte ich mich erheben und alles wieder abschütteln, aber die rechte besinnung bleibt dann nicht aus. es gälte doch für thorheit, geringeren preisen obschon sehnsüchtig nachzuhängen und den groszen ertrag auszer acht zu lassen. Und was, wenn dieser weit mehr in der ergriffenen sache selbst als in meiner befähigung geborgene gewinn erfolgen kann, verschlägt es, dasz heimliche pfade, die ich steigen wollte, nun unberührt bleiben, andere beweise, die zu demselben ziel führen sollten, fehlen? sie durften, aber sie müssen nicht hinzutreten, ich hatte eingesehen, dasz die grundlage der menschlichen Sprachwerkzeuge, die uns anerschaffenen bedingungen der spräche unter den geheimnisvollen gesetzen stehen, die uns die naturwissenschaft überall unwandelbar zeigt, zugleich aber, dasz in der spräche noch ein wärmeres und veränderliches element walte, das ihrer findung, aneignung, fortpflanzung und Vervollkommnung unter den menschengeschlechtern, das sie der geschichte überweist und aus ihrem schosz die ganze manigfaltigkeit der literatur hervorgehn läszt. jenen verhalt der spräche zu den naturlauten auf zahllosen stufen hat vorzugsweise die grammatik, die flut oder ebbe ihrer zeitlichen erscheinungen zumal das Wörterbuch darzustellen, welchem wie der geschichte die Urkunden, die reichsten Sammlungen des Sprachvorrats unentbehrlich werden. Über eines solchen Werkes antritt musz, wenn es gedeihen soll, in der höhe ein heilbringendes gestirn schweben, ich erkannte es im einklang zweier zeichen, die sonst einander abstehen, hier aber von demselben inneren gründe getrieben sich genähert hatten, in dem aufschwung einer deutschen philologie und in der empfänglichkeit des volks für seine muttersprache, wie sie beide bewegt wurden durch erstarkte liebe zum Vaterland und untilgbare begierde nach seiner festeren einigung. was haben wir denn gemeinsames als unsere spräche und literatur? 126

Wer nun unsere alte spräche erforscht und mit beobachtender seele bald der Vorzüge gewahr wird, die sie gegenüber der heutigen auszeichnen, sieht anfangs sich unvermerkt zu allen denkmälern der vorzeit hingezogen und von denen der gegenwart abgewandt, je weiter aufwärts er klimmen kann, desto schöner und vollkommner dünkt ihn die leibliche gestalt der spräche, je näher ihrer jetzigen fassung er tritt, desto weher thut ihm jene macht und gewandtheit der form in abnähme und verfall zu finden, mit solcher lauterkeit und Vollendung der äuszeren beschaffenheit der spräche wächst und steigt auch die zu gewinnende ausbeute, weil das durchsichtigere mehr ergibt als das schon getrübte und verworrene, sogar wenn ich bücher des sechzehnten ja siebzehnten Jahrhunderts durchlas, kam mir die spräche, aller damaligen Verwilderung und roheit unerachtet, in manchen ihrer Züge noch beneidenswerth und vermögender vor als unsere heutige, welchen abstand aber auch von ihnen stellte die edle, freie natur der mittelhochdeutschen dichtungen dar, denen angestrengteste mühe zu widmen unvergleichlichen lohn abwirft, doch nicht einmal aus ihrer fülle schienen alle grammatischen entdeckungen von gewicht müssen hergeleitet zu werden, sondern aus sparsam flieszenden fast versiegenden althochdeutschen und gothischen quellen, die uns unserer zunge älteste und gefügeste regel kund thaten. es gab stunden, wo für abhanden gekommne theile des Ulfilas ich die gesamte poesie der besten zeit des dreizehnten Jahrhunderts mit freuden ausgeliefert haben würde, den leuchtenden gesetzen der ältesten spräche nachspürend verzichtet man lange zeit auf die abgeblichenen der von heute. Allein auch sie weisz schon ihren anspruch zu erheben und verborgene anziehungskräfte auf uns auszuüben, nicht nur ist der neue grund und boden viel breiter und fester als der oft ganz schmale, lockere und eingeengte alte, darum aber mit sichererem fusze zu betreten, sondern jener einbusze der form gegenüber steht auch eine geistigere ausbildung und durcharbeitung. was dem alterthum doch meistens gebrach, bestimmtheit und leichtigkeit der gedanken, ist in weit gröszerem masze der jetzigen zu eigen geworden, und musz auf die länge aller lebendigen Sinnlichkeit des ausdrucke überwiegen, sie bietet also einen ohne alles Verhältnis gröszern, in sich selbst zusammenhängenden und ausgeglichenen reichthum dar, der schwere Verluste, die sie erlitten hat, vergessen macht, während die Vorzüge der alten spräche oft nur an einzelnen platzen, abgebrochen und abgerissen, statt im ganzen wirksam erscheinen, bei allen durch die 127

zeit hervorgebrachten Verschiedenheiten waltet im groszen dennoch eine beträchtliche durchblickende gemeinschaft zwischen alter und neuer spräche, die in allen ihren Wendungen und Sprüngen zu belauschen überraschende f reude macht, wenn auf zahllose stellen unserer gegenwart licht aus der Vergangenheit fällt, so gelingt umgedreht es auch hin und wieder im dunkel liegende flecken und gipfel der alten spräche eben mit der neuen zu erhellen, manches im alterthum vorragende beruht ganz auf sich selbst und läszt auszerhalb seiner schranke sich weiter nicht verfolgen; die ungleich gröszere masse des heutigen Sprachschatzes wird durch überflieszende belege lehrreich begründet, wahr ist, die alte spräche leistet der grammatik bessere dienste, aber für auffassung der Wortbedeutungen wird die neue offenbar wichtiger, die gothische formlehre, wo wir sie nur anrühren, trägt zehnfach mehr frucht als die neuhochdeutsche, doch die magerkeit eines gothischen oder selbst althochdeutschen glossars gegen das mittelhochdeutsche springt ins äuge, wie könnte das mittelhochdeutsche sich messen mit einem neuhochdeutschen Wörterbuch? Hier also kehrt sich die betrachtung zu gunsten des übernommenen werkes, das auf dem geebneten gründe historischer Sprachforschung ruhend eine weit vollere und lebendigere samlung aller deutschen Wörter veranstalten soll, als sie noch stattgefunden hat. ein deutsches Wörterbuch mislang bisher aus dem doppelten gründe, dasz es weder den gelehrten noch dem volk ein genügen that. Die wiederanfachung der classischen literatur im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert hatte den abstand der einheimischen, wissenschaftlich unausgebildeten spräche von der griechischen und lateinischen sehr fühlbar gemacht und nun begann die kluft zwischen ihnen und jener desto schroffer vorzutreten, unsre eigne muttersprache, welche doch seit jene classischen zungen aus dem leben verschwunden waren, vor allen europäischen ehmals zuerst sich geregt und eignes lebens fähig erzeigt hatte, muste bald nur für eine dienende handlangerin, für die brücke gelten, über welche man aus dem schlämm heimischer barbarei ans gestade jener beiden, vielmehr die hebräische, heilig gehaltne hinzugerechnet, der drei einzig vollkommnen sprachen schreite; die beschaffenheit einer rein menschlichen, uns unmittelbarst nahe liegenden wundervollen gäbe zu erwägen, fiel lange gar niemand ein. man war weder gewohnt noch darauf eingerichtet, hinter dem, was seiner natur nach feine 128

und tiefe regel haben musz, sie auch wirklich zu suchen, und schleppte für den oberflächlichsten gebrauch fortwährend sich mit mageren leeren behelfen, die der spräche selbst keinen nutzen, nur empfindlichen schaden zufügten, die classischen sprachen waren gelehrt und zünftig, die deutsche wurde nicht in die lehre genommen und in keine zunft gelassen. Unvergessen sein sollen die namen Goldast, Schilter, Scherz, Bodmer, welche mit erfolg auf rettung und herausgäbe altdeutscher quellen dachten, die namen Dasypodius, Maaler, Henisch, Frisch, denen samlung der deutschen Wörter innig am herzen lag. alle, ohne ausnahme, weisen nach Süddeutschland, wo vor alters hochdeutsche spräche und poesie erwachsen war, wo die meisten handschriften aufbewahrt lagen und die fortlebende volksmundart stärker als anderswo an das alterthum gemahnte und dessen Verständnis förderte, gleichwol traten die bemühungen dieser manner nicht so weit vor, dasz ihnen selbst schon gelungen wäre, sich eine geläufige künde der frühern grammatik zu erwerben, durch deren darstellung allein den nur unbefriedigend bekannt gemachten quellen hätte können eingang verschaft und das Verhältnis der heutigen zur alten spräche festgesetzt werden. Was im verschiedensten sinn Leibnitz, Lessing, Klopstock, Adelung, Voss, sämtlich dem norden Deutschlands angehörig, zum heil der deutschen spräche gewollt und geleistet haben, wird jederzeit hochgeachtet bleiben, konnte diese aber immer nicht im äuge der classischen philologen als voll erscheinen lassen, und es war vergeblich das zu empfehlen, dessen ebenbürtigkeit der schule erst auf überzeugendere weise dargethan werden muste. niemals blieb einer der rechten wege, die dahin führten, nur von ferne eingeschlagen, sollte man es glauben, das im gesamten alterthum unserer spräche durch die untiefen der vorzeit wie ein fels ragende hauptwerk, auf dessen grund jeder bau zu errichten war, Holländern, Engländern, Schweden überlassen, wurde vor dem neunzehnten Jahrhundert niemals in Deutschland gedruckt und zugänglich gemacht, durch Knittels entdeckung auf Ulfilas geführt, dachte Lessing (11, 297) nur dem mageren theologischen gewinn, nicht dem groszen sprachlichen nach: diesen hellen, scharfen geist lenkte seine verliebe für fabel und spruch nur zu wenigen altdeutschen dichtem zweiten oder dritten rangs; hätte er die besten je gelesen, er würde auch mittel gefunden haben für sie zu gewinnen, von Klopstock, den das alterthum und die schöne unsrer spräche entzündete, der ihre gram129

malische eigenheit fein herausfühlte, und in Kopenhagen leicht hätte an die nordische lautere quelle näher treten können, von ihm wäre gut gethan gewesen, sich doch mit dem wollautreichen Otfried und einigermaszen mit den minnesängern vertraut zu machen; schlimmer ist, dasz er in altsächsischer zunge, aus stellen die ihm Hickes darreichte, nur ganz dilettantische kenntnisse zu ziehen verstand und doch zur schau legt, auch der ihm nacheifernde, in der versbildung bald überlegne Voss gibt, bei gröszerer belesenheit, namentlich in seiner schrift von der Zeitmessung höchst unzureichende einsieht in die altdeutsche spräche wie dichtkunst kund, darin zur seite tritt beiden der ihnen sonst überall entgegenstehende nüchterne Adelung, dem nur gedichte von Hagedorn, Geliert, Weisze gefielen, unter den altern höchstens noch die von Opitz und dessen anhang eine halbe autorität, alle seiner jüngeren Zeitgenossen zuwider waren; wie hätte er über sich gewonnen, die vermeinte roheit des mittelalters mit ernsten blicken anzusehen? ihm genügte fast an dem aller poesie baaren Teuerdank und an einzelnen aus Bodmers samlung erlesenen anführungen oder an denen, die schon Frisch und Schilter reichten, leichter als die der alten dichtkunst wäre ihm wol noch die anerkennung einer alten sprachregel gefallen, von welcher er keine ahnung hatte, und die doch vielen irrthümern und verstöszen seines Wörterbuchs abzuhelfen allein vermocht hätte, dem verleugnen der altdeutschen poesie ein unbeabsichtigtes ende machte, dasz es der neuen gelang ihren thron prächtig aufzuschlagen. Göthes und Schillers hohe Verdienste um unsere spräche strahlen so glänzend, dasz ihre gelegentlich etwa dargegebne abneigung vor einigen dichtungen des mittelalters, deren gehalt dabei weniger in betracht gekommen sein kann, als zufällige umstände, gar nicht angeschlagen werden darf. Nachdem diese groszen dichter vor dem ganzen volk mit immer steigendem erfolg, was deutsche Sprachgewalt sei und meine, bewährt hatten und durch feindliche Unterjochung in den wehevollen anfangen dieses Jahrhunderts allen gemütern eingeprägt war, an diesem kleinod unsrer spräche stolzer festzuhalten; fand sich das bewustsein eines auch in ihr seit frühster zeit waltenden grundgesetzes so erleichtert, dasz es nichts als der einfachsten mittel bedurfte, um es auf einmal zur anschauung zu bringen, diese willfährig aufgenommene erkenntnis traf aber glücklicherweise zusammen mit einer vom Sanskrit her erregten vergleichenden Sprachwissenschaft, welche keiner sie nah oder fern berührenden sprachei130

genthümlichkeit aus dem wege gehend vor allen ändern auch der einheimischen das gebührende recht widerfahren zu lassen geneigt sein muste, in welcher noch mehr als eine saite zu den volleren klängen jener ehrwürdigen sprachmutter anschlug, so hat sich unter mancherlei gunst und abgunst allmälich eine deutsche philologie in bedeutenderem umfang als je vorher gebildet, deren selbständige ergebnisse vielfache frucht tragen, unabhängigen werth behaupten und fortdauernde theilnahme in anspruch nehmen können, früherhin liesz alles und jedes, was von den denkmälern unseres alterthums mühsam gedruckt erschienen war, in ein paar folianten und quartanten sich beisammen haben; jetzt stehn in den bibliotheken ganze gefache von altdeutschen büchern erfüllt und die Verleger zagen nicht mehr vor dieser literatur. wie viel noch übrig bleibe zu thun, ein rühmlicher eifer regt sich alle lücken zu ergänzen und ungenügende durch bessere ausgaben zu verdrängen, nicht länger verschlossen liegen die quellen unserer spräche und ihre bäche und ströme dürfen oft bis auf die stelle zurückgeführt werden, wo sie zum erstenmal vorgebrochen sind; fortan aber kann eine deutsche grammatik, ein deutsches Wörterbuch, die sich dieser forschungen und aller daraus erwachsenen fordernisse entäuszern, weder gelten noch irgend ersprieszlichen dienst leisten. Von an der oberfläche klebenden, nicht tiefer eingehenden arbeiten beginnt heutzutage auch die ernstere Stimmung des volks sich loszusagen, aufgelegt zum betrieb der naturwissenschaften, die den verstand beschäftigen und mit einfachen mittein, wenn sie recht verwendet werden, das nützlichste ausrichten, wird ihm auch sonst das unnütze und schlechte verleidet; wozu ihm noch immer handbücher und auszüge unseres gewaltigen Sprachhortes und alten erbes vorlegen?, die statt dafür einzunehmen davon ableiten und nichts als schalen absud seiner kraft und fülle bieten, aus dem keine nahrung und Sättigung zu gewinnen steht, als sei der unmittelbare zutritt verschlagen und die eigne anschau verdeckt, seit den befreiungskriegen ist in allen edlen schichten der nation anhaltende und unvergehende Sehnsucht entsprungen nach den gutem, die Deutschland einigen und nicht trennen, die uns allein den Stempel voller eigenheit aufzudrücken und zu wahren im stände sind, der groszen zahl von Zeitgenossen, vor deren wachem äuge die nächsten dreiszig jähre darauf sich entrollten, bleibt unvergessen, wie hoch in ihnen die hofnungen giengen, wie stolz und rein die gedanken waren; wenn nach dem gewitter von 1848 rückschläge lang und 131

schwerfällig die luft durchziehen, können spräche und geschichte am herlichsten ihre unerschöpfliche macht der beruhigung gewähren, auch die kräfte der unendlichen natur zu ergründen stillt und erhebt, doch ist nicht der mensch selbst ihre edelste hervorbringung, sind nicht die bluten seines geistes das höchste ziel? seiner dichter und Schriftsteller, nicht allein der heutigen, auch der früher dagewesenen will das volk nun besser als vorher theilhaft werden und sie mit genieszen können; es ist recht, dasz durch die wieder aufgethanen schleuszen die flut des alterthums, so weit sie reiche, bis hin an die gegenwart spüle, zur forschung über den verhalt der alten, verschollenen spräche fühlen wenige sich berufen, in der menge aber waltet das bedürfnis, der trieb, die neugier, den gesamten umfang und alle mittel unsrer lebendigen, nicht der zerlegten und aufgelösten spräche kennen zu lernen, die grammatik ihrer natur nach ist für gelehrte, ziel und bestimmung des allen lernen dienenden Wörterbuchs, wie hernach noch entfaltet werden soll, sind neben einer gelehrten und begeisterten grundlage nothwendig auch im edelsten sinne practisch. Durch warme theilnahme des volks allein ist die erscheinung dieses deutschen Wörterbuchs möglich und sicher geworden, das also im auffallenden gegensatz steht zu den Wörterbüchern anderer landessprachen, die von gelehrten gesellschaften ausgegangen auf öffentliche kosten an das licht getreten sind, wie es in Frankreich, Spanien, Dänemark geschah. [. . .] 2.Was ist eines Wörterbuchs zweck? nach seiner umfassenden allgemeinheit kann ihm nur ein groszes, weites ziel gesteckt sein. Es soll ein heiligthum der spräche gründen, ihren ganzen schätz bewahren, allen zu ihm den eingang offen halten, das niedergelegte gut wächst wie die wabe und wird ein hehres denkmal des volks, dessen Vergangenheit und gegenwart in ihm sich verknüpfen. Die spräche ist allen bekannt und ein geheimnis. wie sie den gelehrten mächtig anzieht, hat sie auch der menge natürliche lust und neigung eingepflanzt. >wie heiszt doch das wort, dessen ich mich nicht mehr recht erinnern kann?< >der mann führt ein seltsames wort im munde, was mag es eigentlich sagen wollen ?< >zu dem ausdruck musz noch es bessere beispiele geben, lasz uns nachschlagen.< Diese neigung kommt dem Verständnis auf halbem wege entgegen, das Wörterbuch braucht gar nicht nach platter deutlichkeit zu ringen und kann sich ruhig alles üblichen geräths bedienen, dessen die Wissenschaft so wenig als das handwerk entbehrt und der leser 132

bringt das geschick dazu mit oder erwirbt sichs ohne mühe, fragst du den schuster, den becker um etwas, er antwortet dir auch mit seinen Wörtern und es bedarf wenig oder keiner deutung. Auch ist gar keine noth, dasz allen alles verständlich, dasz jedem jedes wort erklärt sei, er gehe an dem unverstandnen vorüber und wird es das nächstemal vielleicht fassen, nenne man ein gutes buch, dessen Verständnis leicht wäre und nicht einen unergründlichen hintergrund hätte, das Wörterbuch insgemein führt so schweren stof mit sich, dasz die gelehrtesten bei manchem verstummen oder noch nicht rechten bescheid wissen, auf zahllosen stufen dürfen auch die ändern leser bei seite lassen, was ihres Vermögens nicht ist, in ihren gesichtskreis nicht fällt oder was selbst sie abstöszt. leser jedes Standes und alters sollen auf den unabsehbaren strecken der spräche nach bienenweise nur in die kräuter und blumen sich niederlassen, zu denen ihr hang sie führt und die ihnen behagen. Einen häufen bücher mit übelerfundenen titeln gibt es, die hausieren gehn und das bunteste und unverdaulichste gemisch des manigfalten wissens feil tragen, fände bei den leuten die einfache kost der heimischen spräche eingang, so könnte das Wörterbuch zum hausbedarf, und mit verlangen, oft mit andacht gelesen werden, warum sollte sich nicht der vater ein paar Wörter ausheben und sie abends mit den knaben durchgehend zugleich ihre sprachgabe prüfen und die eigne anfrischen? die mutter würde gern zuhören, frauen, mit ihrem gesunden mutterwitz und im gedächtnis gute Sprüche bewahrend, tragen oft wahre begierde ihr unverdorbnes Sprachgefühl zu üben, vor die kisten und kästen zu treten, aus denen wie gefaltete leinwand lautere Wörter ihnen entgegen quellen: ein wort, ein reim führt dann auf andere und sie kehren öfter zurück und heben den deckel von neuem, man darf nur nicht die fesselnde gewalt eines nachhaltigen füllhorns, wie man das Wörterbuch zu nennen pflegt, und den dienst, den es thut vergleichen mit dem ärmlichen eines dürren handlexicons, das ein paarmal im jähr aus dem staub unter der bank hervor gelangt wird, um den streit zu schlichten, welche von zwei schlechten Schreibungen den Vorzug verdiene oder die steife Verdeutschung eines geläufigen fremden ausdrucks aufzutreiben. Wer mag berechnen, welchen nutzen das Wörterbuch dadurch stiftet, dasz es unvermerkt gegenüber denen, die sich mit fremden sprachen brüsten, eine lebhaftere empfindung für den werth, häufig die Überlegenheit der eigenen einflöszt, und die vorläge anschauli133

eher beispiele, ganz abgesehn von dem, was sie beweisen sollen, liebe zu der einheimischen literatur stärker weckt, im hohen alterthum half dem gedächtnis das hersagen gebundner lieder und bewahrte damit zugleich auch die spräche, bei Völkern, die keine oder eine dürftige literatur erzeugten, musten sprachformen, Wörter und ausdrucksweisen aus mangel an Wiederholung in Vergessenheit sinken; den verfall reichgewesener sprachen in arme mundarten lehrt ein solcher abgang lebendiger übung begreifen, den glänz der alten sprachen haben dichtkunst und werke des geistes empor getragen und erhalten; wesentlich scheinen die Wörterbücher auf gesicherte dauer der neueren sprachen einzuwirken, ein grund mehr ihnen Vorschub zu leisten, schützen sie nicht alle Wörter, so halten sie doch die mehrzahl aufrecht; wenige leser eines Wörterbuchs werden in abrede stellen, wie viel einzelnes sie ihm zu danken haben, die lebendigste Überlieferung erfolgt freilich von munde zu munde und nach Verschiedenheit der landschaften ist ein menschenschlag rühriger und sprachgewandter als der andere, durch ausgestreuten samen können aber auch verödete fluren wieder urbar werden. [. . .] Unablässig, nach jedem vermögen das in mir gelegen war, wollte ich zur erkenntnis der deutschen spräche kommen und ihr von vielen Seiten her ins äuge schauen; meine bücke erhellten sich je länger je mehr und sind noch ungetrübt, aller eitlen prahlsucht feind darf ich behaupten, dasz, gelinge es das begonnene schwere werk zu vollführen, der rühm unserer spräche und unsers volks, welche beide eins sind, dadurch erhöht sein werde, meine tage, nach dem gemeinen menschlichen losz, sind nahe verschlissen, und das mir vom lebenslicht noch übrige endchen kann unversehens umstürzen, der weg ist aber gewiesen, ein gutes stück der bahn gebrochen, dasz auch frische wanderer den fusz ansetzen und sie durchlaufen können. Deutsche geliebte landsleute, welches reichs, welches glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten, uralten spräche, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure volkskraft und dauer hängt in ihr. noch reicht sie über den Rhein in das Elsasz bis nach Lothringen, über die Eider tief in Schleswigholstein, am ostseegestade hin nach Riga und Reval, jenseits der Karpathen in Siebenbürgens altdakisches gebiet, auch zu euch, ihr ausgewanderten Deutschen, über das salzige meer gelangen wird das buch und euch wehmütige, liebliche gedanken an die heimatsprache eingeben oder befestigen, mit der ihr zugleich unsere 134

und euere dichter hinüber zieht, wie die englischen und spanischen in Amerika ewig fortleben. C. HlNRICHSEN

Die Germanisten und die Wege der Geschichte Vorrede [1848] Das vorliegende Buch war zum grössten Theile geschrieben, ehe der Krieg zwischen Dännemark und Deutschland ausbrach, in einer Periode, wo der Verfasser hoffte, dass das heranziehende Ungewitter sich werde vertheilen lassen. Die Zeit hat uns eines Besseren belehrt. Der Kampf gegen das von Hochmuth und Ausdehnungslust überschwellende Deutschland ward zur Nothwendigkeit für das in seiner Ehre und Selbständigkeit tiefgekränkte Dännemark, ein Kampf, in welchem Deutschland eben so klein dasteht, wie die dänische Nation gross und ihrer Vorzeit würdig. Es ist ein bedeutungsvolles Zeichen, das keine der unbetheiligten Nationen dem deutschen Volke seine Zustimmung gegeben hat, wie es doch bei einem gerechten Kampfe natürlich wäre, dagegen viele die Sache beim rechten Namen nannten: einen mit schlechten Mitteln begonnenen und mit noch schlechteren fortgeführten Eroberungskrieg. Doch nicht ein Eingehen auf die Tagesfragen ist der Zweck dieser Schrift. Das national-theoretische Deutschland, der wahre Brütofen des Völkerhasses, die germanistische Lehre von Deutschlands Welthegemonie in Folge seiner nationalen Vortrefflichkeit, die verdrehte Geschichtsauffassung, welche schon seit Decennien in Deutschland üblich geworden ist, und in eben dieser Verdrehtheit allen Menschen klar ist, nur den ideologischen, vom Natürlichen und Gesunden stets abirrenden Deutschen nicht; diese zu bekämpfen und zwar weniger gegen deutsche Schriftsteller persönlich zu polemisiren, als von vornherein positiv eine andere Anschauung der Dinge gründlich zu basiren und geltend zu machen, ist des Verfassers Absicht. Um aber ein solches wissenschaftliches Ziel zu erreichen war es nothwendig, den Zorn des Augenblicks, die gerechte Aufwallung gegen das grosse elastische Vaterland fahren zu lassen - denn der Zornige wird von der Muse der Geschichte abgewiesen und rein und allein die Sache zu behandeln. Die Hauptfrage dreht sich um das Grundwesen der Nationalität, ihre Bedeutung für die 135

Geschichte und ihr Verhältniss zur allgemeinen Cultur. Als Kennzeichen der germanistischen Theorien sind hier zwei Punkte zu nennen: l, dass Alles, was Lebenskraft und historische Bedeutung im neueren Europa hat, germanischen Ursprungs ist (wobei Deutschthum und Germanenthum, zwei himmelweit verschiedene Dinge, gewöhnlich identificirt werden) und 2, dass der nationale Individualismus das einzige Ziel der neueren Zeit sei, infolge dessen dem deutschen Volke die Welthegemonie zufällt. Mit diesen Anschauungen ist die ganze Atmosphäre in Deutschland geschwängert bis zum Ersticken, und es wäre eine Wohlthat, nicht nur für die deutsche Nation selbst, sondern auch für ganz Europa, wenn dort ein wenig ausgelüftet würde. Die wissenschaftliche Waffe ist hier nicht die schlechteste, nur muss die Wahrheit nicht gebraucht werden, um wehe zu thun. In vielen neueren Schriften ist Wahrheit sagen und Grobheiten sagen einerlei geworden, ja in der allerletzten Zeit bietet die periodische Presse - namentlich von Seiten Deutschlands gegen die Dänen - ein eigenthümliches Schauspiel dar, insofern die Reden sinnlos giftig werden, so dass man mitunter fast befürchten kann, der Schriftsteller wolle sich ein Leid anthun. Die Deutschen reden viel von antiken Characteren, aber ihr Zorn ist wirklich so unschön und frauenhaft hektisch, so entfernt von der kalten, stolzen Ruhe der Nordländer, dass sie in diesem Punkte nur mit den südlichen Völkern zu vergleichen sind. Aber ihre angeborne Empfänglichkeit für das ideelle Leben hebt sie wiederum weit über diese; und eben desshalb muss man gegen sie Waffen der Wissenschaft gebrauchen. Jetzt gerade beginnen in Deutschland die Früchte des Germanismus zu reifen. Bei Lichte betrachtet ist der ganze Reichstag in Frankfurt nichts Anderes, als eine Fortsetzung der früheren Germanistenversammlungen, wie man sie z. B. in Lübeck hielt, nur dass sie jetzt offen politisch und executiv sind, was sie damals verstohlen waren. So lange sie Fragen behandelten oder noch behandeln, die nur Deutschland betreffen, kann man gegen ihr Einheitstreben und die Regenerationspläne Nichts einwenden; im Gegentheile wird Jeder diesen Bestrebungen Gerechtigkeit widerfahren lassen; aber ihr Gelüste geht im Grunde ganz anderswo hin, nemlich auf eine Hegemonie in Europa, als sogenanntes Herz des Erdtheils, als das heilige deutsche Reich, welches der Christenheit Gesetze schreibt. Seit Decennien ist dies der heranwachsenden Generation eingeimpft worden und eine solche Saat des nationalen Hochmuths ausgesäet, 136

dass man sich über das jetzige Verfahren der Deutschen gar nicht wundern kann. Wie ein römischer Patricier seine Sklaven behandelte, so wollen sie andere Völker behandeln; was für sie Recht ist, soll ändern Nationen Unrecht sein. Will man einige schön abgedruckte Exemplare des germanistischen Hochmuthsgenius kennen lernen, so lese man nur einige Nummern des jetzigen Kieler Correspondenzblatts und betrachte ihre vermeintliche »Überlegenheit« über die dänische Nation. So sind die Schüler; nun denke man sich erst die Meister. Sagt man einem Deutschen, dass seine Literatur allerdings reich und schön ist, aber doch in einzelnen Puncten der dänischen nachsteht, dass ganz Deutschland nicht im Stande gewesen ist, eine Nationalcomödie oder einen guten historischen Roman, wie etwa Ingemann's, zu produciren, dass die schönste Blüthe der Nationalität, der Volkshumor, bei ihnen nie in der Literatur zum Vorschein kommt, weil an die Stelle der Natürlichkeit ein unheimlich reflectirtes Wesen getreten ist - der Deutsche wird alle diese Literaturgattungen unter seiner Würde erklären. Ich habe Holberg von Deutschen tadeln hören, weil ihm »der welthistorische Hintergrund« fehlt. Ihrer ideellen Expansionslust entspricht die räumliche; die nächsten Gränzvölker, wie Polen, Czechen, Dänen, Holländer u. s. w. betrachten sie als Stufen zum deutschen Tempel, als Aussenwerke ihres Weltreichs, oder, wie ein Mann in Frankfurt sagte, als ihre Hausthüren; Frankfurt selbst aber ist der neue Erdnabel, wo die germanistische Pythia der staunenden Welt Orakel ertheilen soll. Gegen all diese Überschwenglichkeit muss bei Zeiten eingeschritten werden. Freilich fehlt der antideutschen Bewegung in Europa, namentlich vom Osten her, noch Kraft und Zusammenhang, aber gehen die Deutschen in ihrer Geringschätzung fremder Völker so fort, wird der slavische Coloss schon über sie herfallen, wenn die Zeit erfüllt ist, und auch dem übrigen Europa werden sich die Augen öffnen. Kein Volk lässt sich hassen, ohne wieder zu hassen, und so sind denn auch die Deutschen jetzt von ihrer ganzen Völkerumgebung so gründlich gehasst, wie eine Nation es nur sein kann. Natürlich schreiben sie das der fremden Nationaleitelkeit zu, aber Alles, was sie ändern Völkern vorzuwerfen pflegen, reducirt sich gewöhnlich darauf, dass sie nicht sind wie die Deutschen. Sie selbst vergessen das Hochmuthsgerüste, welches sie schon seit 20 Jahren, seit dem 137

Entstehen der germanistischen Theorien, bestiegen haben, und von wo aus sie unablässig schwächere Völker gekränkt und verhöhnt haben. Dadurch sind sie die Erwecker der übermässig heftigen Nationalitätsbewegungen geworden, welche jetzt ganz Europa entflammen. Jetzt, da wir mitten darin sind, erscheinen diese uns natürlich, aber nach nicht langer Frist werden die gegenwirkenden, versöhnenden Kräfte sich geltend machen, und die Deutschen werden mittlerweile auch wohl zur Einsicht gelangen, dass sie nicht berufen sind, Gottes wohlgegründete Erde aus den Fugen zu reissen. JACOB GRIMM

Brief an Carl Christian Rafn [1849] Berlin, 13. nov. 1849.

Lieber freund, nicht blos einmal stand ich im begriff die feder anzusetzen und Ihren nun gerade vor neun monaten geschriebenen also völlig ausgetragnen brief vom 13. febr. zu beantworten, der unverrückt neben mir auf dem tische liegt und den ich wiederholt mit derselben empfindung gelesen habe, gegen diese empfindung werden Sie sich nicht sträuben, denn sie erkennt an, dasz Sie als treuer Däne die sache Ihres Vaterlandes verfechten und geneigt sind dem gegentheil sein recht widerfahren zu lassen, allein verbirgt sich auch nicht, dasz es vergeblich sein wird, diesen widerstreit der meinungen in briefen auszugleichen. Sie glauben, die blosze darlegung Ihrer gründe werde mich von meinen irrthümern zurück bringen und ich gestehe ihr keine solche kraft zu, aber ich wähne eben so wenig im stände zu sein Sie auf den deutschen standpunct zu versetzen, ich meine den aller guten und besseren unter uns. Die gewechselten briefe mögen also nur gegen einander aufstellen, was von beiden Seiten das herz bewegt und die gedanken erfüllt, nicht darauf ausgehen zu bekehren, hoffen wir dasz die zeit das wahre, wo es nun liege, hervorziehen und geltend machen werde. Als der Christian 1 in die luft fuhr, schien sich von weitem ein gottes urtheil zu regen, denn da war keine menschliche rechnung im 1

Am 5. April 1847 erlitt die dänische Flotte in der Bucht von Eckernförde eine Niederlage, wobei das Linienschiff Christian VIII. in Brand geschossen wurde.

138

spiel, und damals hätte ich es für unedel gehalten Ihnen auch nur einen zug von siegesfreude zu verrathen. einige monate nachher, als sich das glück gedreht und das dänische heer die schleswiger überrumpelt hatte, mochte ich noch weniger Ihren jubel stören. Doch meiner Schweigsamkeit hauptgrund ist die fortwährende gährung und der leidvolle anblick unsrer innern zustände, von denen aus wir noch nicht fest und sicher in die Zukunft zu schauen wagen, im nebel dieser angelegenheiten erscheint Schleswig und der dänische krieg nur wie ein kleiner fleck, den wir dennoch nicht aus dem äuge verlieren. Diese innere Verwirrung Deutschlands könnte allen schritten Ihrer regierung fast gewonnen spiel geben; gott und unsre natur wird uns darüber hinaus helfen. Jeder sieht ein, die Vielheit, rathlosigkeit und der zwispalt unsrer fürsten ists was uns hemmt; setzen Sie den fall Sie hätten in Dänemark ausser dem könig auch noch herzöge von Fünen, Fürsten von Falster und Laaland, die alle mit einsprächen und alle beschlüsse vereitelten. Der angel um den sich die schleswig-holsteinische sache dreht ist die frage: fühlte sich dies land von Dänemark so gedrückt, dasz es zum aufstand schreiten muszte? die Dänen leugnens und geben alles für künstlich von professoren und advocaten erregt aus. wird dieser wähn immer noch fortbestehn, seitdem auch nach einer niederlage Schleswig 30 000 krieger rüstet, die freudig in die schlacht wollen, wofern man sie nur gewähren läszt und die knöcherne diplomatik nicht wieder dazwischen tritt? solche aufregung im volk halte ich wenigstens für etwas natürliches, nichts künstliches, gemachtes. Fühlen sich die Dänen eben so entzündet, wolan, die schlacht möge entscheiden. Das vordrängen und weichen der deutschen oder dänischen spräche kann hier nur einen nebengrund abgeben, ich weisz wol, dasz man nicht zu tief zurück greifen dürfe in die dunkle geschichte, und nicht wieder aufrühren was lange beigelegt ist. Einmal aber war gewis die ganze halbinsel germanisch in dem sinn, dasz die Scandinaven von ihr ausgeschlossen waren; die Gothen musz man nicht ins spiel bringen, sie sind der cimbrischen halbinsel fremd, offenbar waren die Juten den Sachsen und Friesen näher verwandt als den Dänen, später drangen die Dänen vor und allmälich danisirten sie den jütischen stamm, die Eider scheidet die Sachsen nicht von Dänen als solchen, sondern dänisch redenden Juten. Was wäre denn so fürchterlich in dem gedanken, dasz die ganze halbinsel auch wieder in Zukunft sich enger an Deutschland schlies139

sen müsse als an die scandinavischen inseln? es könnten dänischredende deutscher herrschaft unterworfen werden, damit würde nichts als vergolten, dasz deutschredende in Schleswig-Holstein, und nun gar Lauenburg so lange dänischen königen gehorchten, fühlten diese Deutschen sich unter Dänen unglücklich und hart behandelt? jeder Däne wird hierauf mit nein antworten, nun, so würden auch Dänen unter Deutschen keine unglücklichen, verstosznen menschen sein und heimlich vielleicht das deutsche blut, wenn es noch in ihnen steckt, wieder fühlen, fordert irgendwo die politik geographische rücksicht, so scheint Jutland viel natürlicher auf Hamburg hingewiesen als auf Seeland. Sie werden sagen, das sind gespinste und träume und hoffen, dasz sie sich nie verwirklichen, für unmöglich und ungerecht lassen sie sich nicht halten. Ich träume auch von einem groszen verein zwischen Deutschen und Scandinaven, der mir eine der Zukunft vorbehaltene fruchtbare that erscheint. Sie fühlen cosmopolitischer und wollen z. b. den künftigen einflusz Ruszlands auf Dänemark für eben so wolthätig erachten, als den der aus dem deutschen bund hervorgehen würde. Ich meines theils schätze zwar keins der übrigen mitlebenden Völker gering, möchte aber doch nicht die eigenthümlichkeit meines volks und der uns urverwandten preis geben gegenüber einem unserer ganzen art fremden und von uns abstechenden. Der gemeine Russe ist kräftig und practisch, voll verstand und begabung, allein höheren zielen der menschlichen entwicklung strebt er nicht eben zu, alle beamten sind in hohem grade verderbt und bestechlich, die vornehmen stände durch frühreife treibhauscultur im voraus fast zu gründe gerichtet. Wer möchte wünschen, dasz diesem, mit breiter, plumper gewalt in der Weltgeschichte, wie fast kein anderes, auftretenden volke noch ein gröszerer Spielraum zu theil werde? Sie nennen es verkannt und verleumdet und entnehmen vielleicht einen maszstab von abgeschliffnen seeofficiren, die zu Kopenhagen ans land stiegen, fragen wir lieber Finnen, Liefländer, Polen nach dem gefühl, was die russische nachbarschaft erzeugt. Diese Russen möchten sich auch zu Kiel einnisten und sind natürliche feinde alles dessen, was Deutschland da oder anderswärts stark machen würde, aber ich begreife kein dänisches gefühl, das Russen den Deutschen vorzöge. Sehr mit unrecht werfen Sie mir vor, warum ich Elsasz und Lothringen nicht auch ins deutsche reich zurück begehre? ich thue es ja 140

(seite V meiner Zueignung an Gervinus) und der deutsche sinn ist dort im steigen, nicht im schwinden, aber auch Frankreich und England werden uns eine ganz andere stimme in der politik einräumen, wenn unsre einheit gelingt und nicht wieder scheitert. Erwägen Sie Norwegen, dessen ablösung, wie ich schon geäuszert zu haben meine, eigentlich Dänemark entkräftete, ob es nicht dadurch an freiheit und macht gewonnen hat, ob dort nicht die liebe für das alterthum mit einem eifer erwacht, der Schweden und Dänemark in schatten stellen könnte? auch der etwas verdummte, und wie uns Holberg lehrt, auf Seeland ein wenig über die achsei angesehne Jute würde sich vielleicht lebendiger entfalten, wenn er einmal in andere richtung gebracht wäre, für die Dänen (so verwegen es ist einem gefühlvollen und aufgeklärten volk das auszusprechen) sehe ich nur heil im wiedererwerb von Schonen oder im engern anschlusz an Schweden. Weder ich noch Sie, wir werden die neue gestalt der dinge nicht erleben, aber soll es den menschen genügen sich in der gegenwart festzusaugen und nicht auch im geist die wehen der unaufhaltsam nahenden Zukunft der dinge zu erschauen? nur dann vermögen wir diese vorzubereiten und bäume zu pflanzen unter deren schatten unsre nachkommen wandeln werden; uns selbst wird es nicht mehr kühlen. Der naturgemäsze gang aller Völker ist, dasz sie nach freier entfaltung ihrer nationalität streben und jede schranke wegräumen, die diesem streben entgegentritt, ich ehre das dänische gefühl hoch, wie etwa das preuszische oder bairische, halte aber eine scandinavische und deutsche einheit für das endziel aller patriotischen wünsche, in solcher einheit wird sich der Däne, Norwege, Schwede erst vollständig fühlen, wie hier auf dem festen land jeder unsrer stammgenossen. Das sind keine träume, weil sie mich schon in der gegenwart meines kurzen lebens mit mut und hoffnung ausstatten und fähig machen dahinaus zu wirken nach meinen kräften, von woher die Vervollkommnung unserer zustände eintreten musz. Den entgegenstehenden ansichten wackrer und von mir hochgeachteter Dänen thue ich aber hiermit nicht den geringsten abbruch, wie man auch im privatleben geneigt ist seinen freunden alle meinungsverschiedenheit einzuräumen. Ich höre, dasz herr Worsaae2 in Zeitungsblättern öffentlich gegen mich aufgetreten ist, weisz aber nicht einmal in welchen, und hoffe 2

Jyllands Danskhed. En Protest mod Jacob Grimm's nye tydske >Folkeretgib dem herrn eine hand, er ist ein flüchtlingwir haben es nicht gewagt dem könige zu widersprechen, und sieben professoren nehmen es sich herausrt Vorlesungen

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