Schauspieler außer sich: Exponiertheit und performative Kunst. Eine feminine Recherche [1. Aufl.] 9783839416761

"Why do you want to be an actor?" - Between philosophical reflexions and vivid narrative about the art of acti

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German Pages 162 [164] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Nous pathetikos. Warum wollen Sie Schauspieler werden?
Part I Hits
Lehrsaal X
Multiples Patt
Umschlag, Peripetie
Verkehrung
ich, mir
Spekulationen
Schauspielerängste
Weinen
Ein Kinderspiel
Exponiert
with-out me
Black out
Theaterbesuch
Part II Experten des Seins?
Das Fabeltier Akteur
Warum wollen Sie Schauspieler werden?
Die Causa Körper
Olimpias Kuss
Maschine contra Fleisch
Der Trumpf des Schauspielers
The Gift of Acting
Der Hüpfer
Das Vorurteil
Subjektdenken contra Bühnenerfahrung
Herr und Knecht
Körper on stage
Unschuld des Werdens
Sprache und Sprechen
Sprache verdauen
Gegenworte
Der Andere, die Anderen
Affektivität contra Denken
Denken und Spielen
Wiederholung
Tu es mort
Theater als symbolischer Tod
Point of no return
Glücken – ein Salto mortale
Freund Probstein
Finale und Punctum
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Schauspieler außer sich: Exponiertheit und performative Kunst. Eine feminine Recherche [1. Aufl.]
 9783839416761

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Susanne Valerie Schauspieler außer sich

Theater | Band 28

Susanne Granzer alias Susanne Valerie (Univ.-Prof. Dr. phil.) ist Schauspielerin und lehrt Schauspiel am Max-ReinhardtSeminar Wien (Universität für Musik und darstellende Kunst). Ihre Forschungsthemen sind Schauspieler auf der Bühne und »Philosophy on Stage« (Lecture-Performances).

Susanne Valerie

Schauspieler außer sich Exponiertheit und performative Kunst Eine feminine Recherche

Susanne Valerie Granzer Schauspieler außer sich Exponiertheit und performative Kunst Eine feminine Recherche Gedruckt mit freundlicher Förderung: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7), Wissens- und Forschungsförderung wiener kulturwerkstätte GRENZ_film Universität für Musik und darstellende Kunst, Rektorat und Institut für Schauspiel und Schauspielregie (Max Reinhardt Seminar) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Giordano Bruno, De monade numero et figura liber consequens de minimo magno et mensura, 1591 (M 344-5-6 RES): fol. 91 und 92, Universitätsbibliothek Heidelberg Innenlayout, Satz: Richard Ferkl, www.ferkl.at Lektorat: Arno Böhler Korrektorat: Irmgard Dober Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1676-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht –, nicht eine Fiktion sein? Friedrich Nietzsche Jenseits von Gut und Böse

Wir sind halt Narren am Theater! Arno Böhler und Susanne Granzer (Hg.) Ereignis Denken

Meinem Ge-Lücke, meinem Mann

Inhalt Nous pathetikos Warum wollen Sie Schauspieler werden? 11

Part I Hits Lehrsaal X Multiples Patt 17 Umschlag, Peripetie 22 Verkehrung 25 ich, mir 27 Spekulationen Schauspielerängste 29 Weinen 32 Ein Kinderspiel 36 Exponiert 37 with-out me 45 Black out Theaterbesuch 51

Part II Experten des Seins? Das Fabeltier Akteur Warum wollen Sie Schauspieler werden? 61

Die Causa Körper Olimpias Kuss 69 Maschine contra Fleisch 71 Der Trumpf des Schauspielers 73 The Gift of Acting Der Hüpfer 81 Das Vorurteil 85 Subjektdenken contra Bühnenerfahrung 88 Herr und Knecht 92 Körper on stage 100 Unschuld des Werdens 103 Sprache und Sprechen 106 Sprache verdauen 110 Gegenworte 112 Der Andere, die Anderen 114 Affektivität contra Denken 118 Denken und Spielen 123 Wiederholung 125 Tu es mort 136 Theater als symbolischer Tod 137 Point of no return 141 Glücken – ein Salto mortale 144 Freund Probstein 150 Finale und Punctum Warum wollen Sie Schauspieler werden? 155

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Nous pathetikos

Warum wollen Sie Schauspieler werden? Eine ausgebeutete, abgeschmackte, abgedroschene Frage. Verblasst, verkommen, kraftlos, langweilig. Zu oft gehört, zu oft gefragt, zu oft beantwortet. Eine besser zu unterlassende Frage. Die Klischees sind programmiert, es gibt kein Entkommen, nicht einmal in einem produktiven Stammeln. Das ist die Crux. Eine unerlässliche, eine unentbehrliche, eine aufregende Frage. Eine Frage, die immer wieder gestellt sein will. Eine Frage, die unruhig macht, beunruhigt, die heiß macht, die keine Antwort weiß und zugleich viele. Alle reichen nicht aus. Trotzdem. Naiv oder nicht, peinlich oder nicht, vielversprechend oder nicht – polyphon schießen Antworten wie Unkraut aus dem Boden: Aus Spielfreude, aus Spiellust. Weil es Spaß macht. Weil es geil ist. Aus Schaulust, aus mimetischer Lust. Aus Besessenheit. Es hat mich gepackt. Aus Neugier. Um große Rollen zu spielen, Titelrollen. Hamlet, Don Carlos, Antigone, Käthchen, nicht Karl Moor, nein, den bösen Franz, später den wahnsinnigen Lear, die Jungfrau von Orleans? Ja sicher, und dann irgendwann die wüste Medea. Die ganze Weltliteratur, einmal rauf, einmal runter und

Anmerkung: Formulierungen wie »der Schauspieler« sind immer männlich und weiblich zu verstehen.

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Susanne Valerie

natürlich auch alles, was jetzt der Fall ist. Um berühmt zu werden, um ein Star zu werden. Um die Welt zu verändern. Nicht nur, um sie zu interpretieren. Um den Menschen etwas zu geben. Aus Passion für die Phantasie, für das Imaginäre, für die Einbildungskraft. Aus Lust am Überfluss. Aus Lust an der Lüge. Nicht an der mit den kurzen Beinen, sondern an der, die mit der Wahrheit spielt. Faszination der Maskerade. Faszination der Verwandlung. Gleich unwiderstehlich beide. Eine andere sein, ein anderer sein, viele sein. An kein Ende damit kommen. Frei sein. Fliegen. Unvordenkliche Offenheit. Offenheit, die nicht besetzt ist mit Ideologien und nicht mit Theologien, sondern Offenheit als ein Mögliches, als eine Leerstelle in uns selbst, die nicht destruktiv, sondern affirmativ offen gehalten wird. »To make a believe«, antwortete Kate Falk, Schauspielerin der amerikanischen Wooster Group bei einem Interview 1 in New York auf die Frage, warum sie Theater spielt. Dem Staunen über das Befremdliche die Treue halten. Sich nicht anpassen, nicht zu Kreuze kriechen. Lieber mit dem Kopf durch die Wand, auch wenn es schmerzt. Kein Hinterwäldlertum, kein dramatisches und kein postdramatisches. Nur keinen Kurzschluss über ein schon im Voraus Gewusstes. Nur keine Konvention, so alt oder so jung sie ist, die nicht abdanken kann. Verachtung für die Spießer, die Konformisten, ob aus den Sicherheitszonen von rechts oder von links. Verachtung für das Gift des Ressentiments und jeden selbst ernannten Effendi, gleichgültig aus welchem Lager. Tiefe Abneigung gegen ein normiertes Nützlichkeitsdenken. Gegen ein Schielen auf das schon Akzeptierte. Gegen das Diktat der größtmöglichen Zahl. Anders sein, anders leben. Nicht risikoarm, sondern risikoreich. Unzeitgemäß. Was immer das heißen könnte. Jedenfalls nicht als Hamster im Rad,

1 Theater morgen. Gespräche über die Kunst im Global Village (Österreich, ORF Treffpunkt Kultur 1998, Produktionsteam: GRENZ_film, böhler&granzer, Arno Böhler, Susanne Granzer)

Nous pathetikos

nicht als Verwalter des Daseins, auch nicht als Karrierist oder als Abgesang einer späten Kultur. Vielleicht als ein Fabeltier der Wahrheit? Cool down. Why? »Das Wahre ist […] der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist« 2 , so Hegel in seiner berühmten Vorrede Zur Phänomenologie des Geistes.

2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, Band 3, S. 46.

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Part I Hits

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Lehrsaal X

Multiples Patt Hannah J., eine junge Schauspielstudentin, quält sich mit einem der großen Monologe aus Friedrich Schillers romantischer Tragödie Jungfrau von Orleans. Man kann es nicht beschönigen, es ist eine überaus mühsame Probe. Für alle Beteiligten. Nicht zum ersten Mal. Sämtliche Spielversuche bleiben glatt und konventionell, voller Klischees, in sich verfangen, in sich verbissen, die Arbeit tritt auf der Stelle, kommt nicht weiter, kommt nicht vom Fleck. Ein Patt. Eine Plage. Zugegeben. Der Text ist schwierig, verfänglich. Sprache und Stück muten fremd an. Sie werfen zeitgeschichtlich eine Menge ästhetische wie inhaltliche Fragen und Probleme auf. Das klassische Drama hat durch andere Formate am Theater eine radikale Zäsur erfahren und schon Nietzsche attackierte Schiller in seiner Götzendämmerung sarkastisch als »Moral-Trompeter von Säckingen« 3. Die Macht des Logos ist ent-setzt durch die Logik des Fragments.

3 Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, München–Berlin–New York: de Gruyter/dtv 1967–1977, KSA 6, S. 111. Im Folgenden werden Nietzsches Werke mit KSA-Bandnummer und Seitenzahl zitiert.

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Nun, durch welche Brille auch immer jeder Einzelne das sehen mag – ist es denn in spätmodernen Zeiten verwunderlich, dass eine junge Schauspielerin den Zugang zu einer Figur wie der hl. Johanna eingebüßt hat, dass sie sich mit Sätzen plagt wie: »Wer? Ich? Ich eines Mannes Bild In meinem reinen Busen tragen? Dies Herz, von Himmelsglanz erfüllt, Darf einer irdschen Liebe schlagen? Ich, meines Landes Retterin, Des höchsten Gottes Kriegerin, Für meines Landes Feind entbrennen! Darf ich’s der keuschen Sonne nennen, Und mich vernichtet nicht die Scham?« 4 Wie kann sich eine Schauspielerin heute einem Text wie diesem nähern? Sie, die den Text auf der Bühne zu spielen, das heißt zu »verkörpern«, hat. Sie, die ihn auswendig sprechen muss. Wie fühlt sich Schillers Sprache zweihundert Jahre später an? Wie schmeckt sie, womit ist sie aufgeladen, was ist noch lesbar, was unlesbar, was spielbar, was unspielbar? Ergo. Wie spricht, wie ent-spricht ein Akteur, hier eine Akteurin, heutzutage Schillers Worten, sodass sie »Kopf, Bauch und Schwanz« 5 nicht verlieren, um Jean-Luc Nancy zu zitieren? Also liegen die Schwierigkeiten der Schauspielstudentin Hannah J. im klassisch dramatischen Text Schillers, der längst nicht

4 Schiller, Friedrich: Die Jungfrau von Orleans, München–Wien: Hanser Verlag 2004, Band II, 4. Aufzug, S. 773. 5 »Platon verlangt, dass eine Rede den gut gebauten Körper eines großen Tieres hat, mit Kopf, Bauch und Schwanz. Deshalb wissen wir als gute alte Platoniker, und wir wissen doch nicht, was eine Rede ohne Hand und Fuß ist, ohne Kopf noch Schwanz, aphallisch und azephal. Wir wissen: Es ist ›Un-Sinn‹. Doch wir wissen nicht: Wir wissen mit dem Un-Sinn nichts anzufangen, wir sehen dort nicht über den Rand des Sinns hinaus.« Aus: Nancy, Jean-Luc: Corpus, Berlin: diaphanes 2003, S. 16.

Lehrsaal X

mehr der Kanon des Theaters ist? Wäre sie, statt als dramatis persona mit ihrer traditionell dialogischen Rede, besser in einer Sprachfläche aufgehoben oder in der Bearbeitung eines Romans, der freie, unterschiedlichste Text- und Spielformate kreiert? Fühlt sie sich daher im traditionellen Anspruch des »Authentischen« einer psychologischen Interpretation gefangen, die sich der Illusion verpflichtet fühlt, selbst wenn keinerlei Nötigung zu einer solchen »Menschendarstellung« vorliegt? Oder verunsichert sie in summa das Für und Wider der inhaltlichen wie ästhetischen Problemstellungen der zeitgenössischen Theaterlandschaften? Sind sie die Ursache für die vertrackte Situation, in der sie auf der Bühne augenblicklich steckt? Nein. Unwillkürlich schüttelt man den Kopf. Nein, die schauspielerischen Probleme Hannah Js würden wohl bei allen Spielformen auftreten. Ihre Schwierigkeiten fühlen sich anders an. Sie haben einen anderen Geruch. Faktum ist, das Mädchen plagt sich auf der Bühne. Es findet keinen Zugang zum Text, zur Rolle, zur Situation, zu deren Emotion. Die Worte sind papieren, der Körper klumpig. Kein Fluss, kein Groove, kein Spiel entsteht. Alles bleibt gemacht, hergestellt, leer. Stochert dahin, stockt, stagniert, sitzt fest. Warum? Die Sprache Schillers ist sicherlich eine Barriere. Sie ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was derzeit der Fall ist. Sie ist komplex, hitzig und sie reimt sich. Ihr Pathos ist fremd, ihre Grammatik ist fremd, ihre ungewöhnlich langen, in sich verschlungenen Sätze, ihr Wechsel von Prosa zu Versmaß, ihr Wortschatz, ihre Wortwahl. Wie soll man solche Texte noch sprechen? Diese Sprache sperrt sich. Sie will nicht aus dem Mund. Sie türmt sich. Wir sind längst an anderes Sprechen, an anderes Schreiben, an andere Satzbauten, an andere Wortfügungen gewöhnt. Jede Zeit hat ihr Diktat. Die öffentlichen Medien sozialisieren unseren Sprachgebrauch, nicht die Literatur. Sie geben andere Paradigmen vor. Kurz und kühl soll es sein, locker. Am Alltag orientiert. Möglichst distanziert, bis auf die Aufmacher. Pointiert, ja, ironisch, ja, aber trotzdem einfach. Nur

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nicht komplex, nur nicht kompliziert, und sicher nicht pathetisch, ungeachtet, was immer das heißen könnte. Als zweite Barriere, die es Hannah J. so schwer macht, bietet sich die historische Distanz zum Stück an. Der Sprung rückwärts in der Geschichte. Spricht er sich nicht schon im Titel des Stückes Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie und im Namen der Titelheldin heilige Jungfrau aus? Tragödie. Romantisch. Heilig. Jungfrau. Kriegerin. Gottes Kriegerin. Worte, denen wir längst adieu gesagt haben. Oder die sich bedenklich zurückmelden. Wir sind nicht mehr unschuldig genug für sie. Sie verstimmen politisch. Unversehens sträuben sich den aufgeklärt kodierten Ohren die Haare. Unterschiedliche Alarmglocken klingeln. Mit Bertolt Brechts Titel Heilige Jungfrau der Schlachthöfe haben wir es schon leichter. Im Kontrast zu den Systementwürfen des Deutschen Idealismus legitimiert sich das Wort heilig in Verbindung mit Schlachthöfen im Wissen um die Erschütterungen der Moderne und Brechts Namensverschiebung von Jeanne d’Arc zu Johanna Dark ruft vertrautes Terrain auf. »In my beginning is my end. […] O dark, dark, they all go into the dark«, heißt es bei T. S. Eliot in East Coker 6. Da kennen wir Postgeborene uns aus. Ergo, wie soll eine Schauspielerin, eine blutjunge Anfängerin, die lange nach 1968 geboren wurde, im Spielen noch Zugang zu den besonderen Ereignissen in und um Schillers Jeanne d’Arc finden? Ist sie da nicht per se überfordert? Kann denn das Phänomen, dass eine Botschaft Gottes an ein einfaches Mädchen vom Lande ergeht, die sich als großer, politischer Auftrag erweist, überhaupt noch, sinnlich praktisch und nicht bloß theoretisch, zugängig werden? Kann außerdem eine junge Frau, die sich angesichts einer aufflammenden Liebe zu einem Mann als Verräterin an ihrer göttlichen Sendung schuldig fühlt, heute noch

6 Eliot, T. S.: East Coker (No. 2 of ›Four Quartets‹), http://www.tristan. icom43.net/quartets/coker.html vom 18.07.2010.

Lehrsaal X

verstanden werden? Heute, in feministischen Zeiten, nach dem Tod Gottes und dem des Subjekts, in Zeiten von Diskursen und Dekonstruktion. Das alles ist in den Proben ausgiebig besprochen und bearbeitet worden. Wieder und wieder und immer wieder. Aber nichts hilft. Hannah J. wälzt vergeblich den Stein des Sisyphos den Text- und Spielberg hinauf, quält sich und die anderen. Schwerfällig und plump stelzen die Worte Schillers aus ihrem Mund daher. Wie die Gefühle bleiben sie bemüht in einem falschen Pathos hängen, im Unerträglichen »der verlogenen ›Ernsthaftigkeit‹ der öffentlichen und offiziellen Rhetorik« 7. Museales Theater, das keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlockt. Nichts wird schlüssig, nichts wird durchlässig, nichts porös. Gefühle und Worte gehen den Zuschauer nicht an, tangieren ihn nicht, öffnen sich nicht in die komplexe Welt ihrer Bedeutungen. Ihr Sinn bleibt hermetisch, ihre Dimension verschlossen, auch wenn akustisch jedes Wort zu verstehen ist. Die Welt der heiligen Johanna bleibt unzugängig. Da ersteht kein Mädchen, dem sich einst der Himmel durch die Zunge der Engel weissagend geoffenbart hatte und das, unter dem Banner Gottes, Frankreich von den Engländern befreien half und dem französischen König zu seiner Krone. Ein Mädchen, das nun, am Krönungstag, am Tag des Sieges und des Festes, verzweifelt um Verstehen ringt, warum sich ihm, seit dem verhängnisvollen Blick der Liebe in die Augen eines Mannes, der sichere Boden seiner göttlichen Sendung in einen Abgrund verkehrt hat. Tief verstimmt glaubt sich das Hirtenmädchen Johanna, des höchsten Gottes Kriegerin, wie Schiller seine Titelheldin selbst sagen lässt, durch diesen Augen-Blick der Liebe schuldig. Bis sie aufbegehrt. Das ist in etwa die Szene.

7 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 1999, S. 215.

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Von all dem entsteht nichts. Es entsteht aber auch keinerlei Protest gegen Schiller. Nicht gegen sein dramatisches Theaterverständnis, das als unzeitgemäß abgelehnt wird, nicht gegen seine Sprache, die zu unterlaufen versucht wird, nicht gegen sein Frauenbild, das als überkommen und reaktionär durch Verweigerung bekämpft wird. Das könnte ja auch sein. Ein Boykott durch eine ästhetische Suche oder durch eine gesellschaftspolitische Kritik, weil es sich gewissermaßen um einen autoritären Text handelt, der in seinem humanistischen Bildungsideal der Sehnsucht nach dem Einen und dem Ganzen verpflichtet ist. Aber von all dem ist nichts abzulesen. Da steht bloß eine Schauspielstudentin, die sich anstrengt. Schon mehrere Proben hindurch anstrengt. Das ist ihr unschön ins Gesicht geschrieben. Das Wort »unbegabt« geistert in der Luft, ein diffuses Gespenst der Angst für viele Anfänger. Heute scheint der Tiefpunkt erreicht, die Probe hängt kurz vor dem Abbruch. Warum sich weiter quälen?

Umschlag, Peripetie

Übergangslos, plötzlich, ohne jede Ankündigung schlägt die Situation auf der Bühne um. Die Gestalt der jungen Schauspielerin wächst – – – sie wird groß, größer – – – sie wächst über ihre eigene, tatsächliche Größe hinaus, setzt alles Perspektivische außer Kraft – – – obwohl sie ihren realen Umfang nicht verliert, ihren biologischen Maßen nach nicht verlieren kann – – – sie wird raumfüllend – – – durchdringt die Bühne, füllt sie an, füllt sie aus – – – bis ihre Grenzen platzen, bis sie aufplatzen. Gleichzeitig entsteht ein Sog der Zeit, ein Bann – – – wo sie sich eben noch so zäh, so mühsam erstreckte. – – – Alle Langeweile ist verflogen, alle öde Gleichförmigkeit. Kein Chronometer schlägt mehr im Sekundenschlag den Takt, nach dem sie immerzu geradeaus marschierte. Ungehorsam geworden tanzt

Lehrsaal X

sie aus der Reihe, ballt sich zusammen, wird dicht, wird dichter, bekommt einen Riss – – – sprengt sich auf, wie der Raum. Endlich aus ihrer linearen Ordnung befreit, schnellt sie simultan vor und zurück, springt rückwärts und vorwärts, Vergangenheit und Zukunft werden gleich gegenwärtig lebendig. Die Zeit ist wie beflügelt. Im Lehrsaal ist es still geworden. Kein Rücken eines Stuhls mehr, kein unruhiges Wetzen, kein heimlicher Blick auf die Uhr, kein Rascheln auf der versteckten Suche nach einem Kaugummi, einem Bonbon oder sonst etwas Nebensächlichem. All das ist vergessen. Nicht einmal ein Handy klingelt versehentlich. Auch das ist verstummt, zum Schweigen gebracht. Unwiderstehlich rückt die Schauspielerin den Zuschauenden auf den Leib, zum Greifen nah, hautnah. Ihr Spiel öffnet und bündelt die gesamte Aufmerksamkeit. Aber ohne das Autoritäre einer mimetisch erzeugten Illusion. Nicht weil sich überraschend eine vierte Wand imaginär aufgerichtet hat, deren Reiz darin besteht, dass sie in einer Art Peepshow eine fremde Intimsphäre preisgibt. Nein. Etwas anderes ist im Gange. Eine ganz andere Wahrnehmung verschafft sich Luft, bemächtigt sich des Raumes. Sie entfacht eine übergreifende Konzentration, die schlagartig alle und alles in ein Kraftfeld saugt, in ein und denselben Zwischenraum, in den die Schauspielerin selbst unbeabsichtigt geraten ist und der auch die Zuschauenden rücklings gepackt hat. Mit einem Mal. In einem Nu. Ein Zoom ohne Kamera mit freiem Auge? Oder hat unversehens Alicens Wunderland den Lehrsaal usurpiert? Aber kein Elixier ist getrunken, von niemandem. Weit und breit ist kein Fläschchen in Sicht, auf dessen Papierschild in großen, deutlichen Lettern die Worte »Trink mich!« steht und aus dem jeder Schluck in ungereimte Verhältnisse transferiert. Bis eben noch hatte sich die Probe so mühsam, so schwerfällig dahingeschleppt, einfallslos und langweilig, so unausstehlich brav. Eine Sackgasse, a dead end. Die Zuschauenden waren zer-

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streut gewesen, gelangweilt bis geplagt. Resignation hatte sich breitgemacht. Die Schauspielerin auf der Bühne war und blieb eine unscheinbare, alltägliche Erscheinung, ohne Ausstrahlung, nicht einmal interessant, da war nichts zu ändern. Sie fühlte sich offensichtlich selbst nicht wohl in ihrer Haut, und das übertrug sich unangenehm nach unten. Man verlor sie förmlich aus den Augen, als wäre sie gar nicht anwesend. Die Bühne kennt da kein Mitleid. Verloren und klein sah sie aus, ihr Gesicht war unschön verkrampft von der Plage des Spielens, das Gefühle forciert, sie herstellt, stemmt. Die eigenen Impulse wurden als Gegner unterdrückt, unterminiert, manipuliert, unterbrochen, die angebotenen Hilfen waren ins Leere gegangen. Hilflos geworden, war man dabei gewesen, beidseitig aufzugeben. – – – und jetzt, jetzt – – – mit einem Mal – – – unerwartet, unvermittelt – – – dieser Umschlag ins Gegenteil – – – Alle vorherige Misere ist liquidiert. Die Gestalt auf der Bühne wirkt gar nicht mehr unscheinbar, das Gesicht nicht mehr verspannt, sondern klar, lebendig, durchlässig. Plötzlich. Auch die Sprache und der Text sperrt sich nicht mehr. Aller Krampf ist verflogen, spielerisch leicht fließen die Worte, wie gerade gefunden, sie reanimieren den Körper von Kopf bis Zeh, jede Regung ist lesbar, jeder leise Gedanke im Gesicht erkennbar, einfach, ohne unleidliches Facework, ohne erzwungene Theatralik. Nichts wird aufgedrängt. Eine mühelose Nähe schließt die Sinne auf, alle Sinne: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten. Sie durchdringt den Raum, rückt das Geschehen, komplex und vielschichtig, zum Greifen nahe – und entzieht es zugleich, sodass es außer Sicht, außer Gehör, außer Greifweite in das Verborgene seiner Bedeutungen gerät, die sich als Abwesendes zeigen und verschweigen. Das Ereignis des Spiels ruft und widerruft, birgt und entbirgt, wird zum in sich gekrümmten Fragezeichen, dem sich auch die Zuschauenden nicht entziehen können. Es stülpt Innen und Außen um, seine Grenzen gehen verloren, werden unscharf, wie die Zeit, werden ein Areal, ein Feld des AugenBlicks, ohne ihre Differenzen im Diffusen aufzulösen.

Lehrsaal X

Ist das Johannas »verbotener« Liebes-Blick gewesen, von dem Schiller sie im Hader mit sich selbst sagen lässt: »Mit deinem Blick fing dein Verbrechen an«? 8

Verkehrung Mitten in dieser befreiten Ausdehnung und Sammlung, mitten in dieser Durchkreuzung von Innen und Außen – – – zwischen zwei Lidschlägen nicht einmal – – – ein nächster Umschlag, ein nächster Riss in der Zeit. Diesmal als Abriss, als völlig über raschender Abbruch des Spiels. Aus. Ende. Schluss, aus, Vorhang! Abrupt, unvorhersehbar, ohne jede Ankündigung. Genauso krass, genauso übergangslos wie knapp zuvor. Warum bricht Hannah J. ab? Warum jetzt, ausgerechnet jetzt! Wut steigt auf. Wut und Frustration. Warum zerstört die Schauspielerin mutwillig die Situation, jetzt, jetzt, wo ihr Spiel glückt, endlich glückt. Das ist nicht zu verstehen. Das ist hirnrissig. Vorher ja. Vorher hätten sich viele Gelegenheiten angeboten, da wäre viele Male ein Abbruch nahegelegen, da wäre man froh darüber gewesen, da hätte man sich gewünscht, dass sie abbricht. Aber jetzt? Gerade jetzt, in den Augenblicken des Gelingens! Warum? Ohne ersichtlichen Anlass war die Schauspielerin auf der Bühne in Tränen ausgebrochen. Aber nicht in Tränen der Johanna, sondern in Tränen der Hannah J. Sichtlich aus der Fassung gebracht, kann sie nicht weiterspielen, will sie nicht weiterspielen. Ein weiteres Mal ist Stille im Lehrsaal eingetreten. Eine andere Stille als vorhin, eine betretene Stille über ein unverständliches, sichtlich intimes Geschehen, das besser ohne Zeugen auskäme,

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F. Schiller: Die Jungfrau von Orleans, S. 775.

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das verwirrend wirkt, verunsichernd und gar nicht sentimental. Verlegenheit hängt in der Luft. Keiner weiß so recht, wie er sich verhalten soll. Aber niemand lacht oder reißt einen der üblichen Witze. Es bleibt angespannt still. In diese Spannung hinein ist nach einer Weile eine zwar verweinte, aber deutlich störrische Stimme zu hören, die bockig zur Überraschung aller hervorstößt: »Wenn das Theaterspielen ist, weiß ich nicht, ob ich Schauspielerin werden will!« Verblüffung zuerst, dann Irritation. Absonderliche Verkehrung. Absonderliche unerwartete Gegenläufigkeit. Sie stellt jede übliche Erwartung auf den Kopf, wirkt befremdlich, befremdend. Alle Pein auf sich zu nehmen, nicht entmutigt aufzugeben, solange das Spiel so misslich verfahren war, und ausgerechnet dann abzubrechen, wenn das Spiel ins Fließen kommt. In dieses mühelose Fließen der Kreativität, das nicht herstellbar, nicht machbar ist, das sich von sich her einstellen muss. Anstatt sich über dieses Ereignis zu freuen, statt sich tragen zu lassen von der Gunst der Stunde, dem Kairos des Augenblicks – offensichtlicher Widerstand, der so stark wirkt, dass er zum Abbruch des Spielens führt, dass Hannah J. in Tränen ausbricht und sich aufbegehrend gegen den eigenen Wunsch, Schauspielerin zu werden, ausspricht. Unverständlich, paradox. Das Gelingen löste Widerwillen aus. Nicht das Misslingen. Das Gelingen hatte Hannah J. zum Weinen genötigt, sodass sie abbrach, abbrechen musste und wollte. Aber warum? Warum das Gelingen, warum das geglückte Spiel und nicht das verunglückte? Was hatte sie zum Weinen gebracht? Was war über sie gekommen? Was hatte sie bedrängt, geängstigt, erschreckt? Was hatte der Schauspielerin auf der Bühne die Lust am Gelingen in Unlust verkehrt, Glück in Unglück? Diskret verlässt die Klasse die Probe, lässt Studierende und Lehrende alleine zurück.

Lehrsaal X

ich, mir schluss aus jetzt hab ich genug jetzt will ich nicht mehr so war das nicht ausgemacht wird man hier narkotisiert oder was spielen ist spielen ist bullshit alle lust darauf ist mir vergangen es ist weder cool noch geil noch fun erst war es frustrierend peinigend eine plackerei und jetzt mein magen flattert mein herz pocht im hals ich versteh nicht was passiert ist ich bin mir plötzlich selbst nicht geheuer ich mir als wäre ich ferngesteuert spräche mit fremder zunge was für worte mir in den sinn kommen hört sich blöd an nach als ob trotzdem wasistlosmitmir ich bin mir selbst nicht mehr sicher das macht angst macht desperat als wäre ich mir bin ich ja was irgendwie ist es irgendwie bin ich als hätte ich mich nach außen gestülpt – – – Nonsens! Außen ist außen und innen ist innen und ich bin ich. Hier ist mein Kopf, hier sind meine Hände, meine Beine, das hier ist mein Körper, ich kann ihn sehen, ich kann ihn anfassen, das hier bin ich, dreidimensional, Länge mal Breite mal Höhe, 55 kg schwer und 1,67 groß. Nichts hat sich daran geändert. Nichts. Das hier bin ich, mein Name ist Hannah J. Darauf war bisher immer Verlass. Darauf ist Verlass. Ich heiße Hannah J., mein Ausweis steckt in der Tasche. So ist das.

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Spekulationen

Schauspielerängste Was war in Hannah J. gefahren? Diese Frage hängt aufsässig in der Luft des Lehrsaals, der längst leer steht. Alle sind fort. Auch Hannah J. und ihre Lehrerin. Nach einer langen Schweige- und einer kurzen Gesprächsspanne lang. Entgegen aller sonstigen Gewohnheit hat jemand im Lehrsaal die Fenster geöffnet und das Licht abgedreht. Normalerweise ist alles dicht verschlossen, die Luft katastrophal und sämtliche Lichter brennen. Alle Scheinwerfer, alle Deckenlampen. Völlig sinnlos. Diesmal nicht. Diesmal sind alle Schalter abgedreht, die Fenster weit offen. Als bräuchte es frische Luft, damit die übrig gebliebenen Gedanken leichter Fuß fassen könnten. Überlegungen schießen hin und her für den Grund von Hannah Js querem Verhalten. Sie kreuzen sich, sie überlagern sich, lösen sich ab, werden verworfen, wieder aufgegriffen, wollen trotz ihrer Fehlpässe formuliert und gedacht werden. Was bringt eine Schauspielerin so weit, ihr Spiel mitten in einer Szene selbst abzubrechen und freiwillig, vielleicht radikal ganz, mit dem Beruf aufhören zu wollen? Spontan drängt sich als erste Antwort auf: Weil sie Misser folg hat. Weil ihr Spiel misslingt, weil sie nicht ankommt, weil sie abgelehnt wird. Das klingt trivial. Misserfolg ist für alle schwie-

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rig zu ertragen, nicht nur für Schauspieler. Da gibt es keine Exklusivrechte. Sicher. Aber bei Schauspielern trifft der Misserfolg ohne jeden Filter unmittelbar namentlich sie selbst. Sie können sich hinter nichts verbergen. Kein Medium schaltet sich zwischen sie und ihr Tun, kein Werkzeug, kein Instrument, keinerlei Maschine. Sie selbst sind die »Maschine«, die künstlerisch in die Gänge zu bringen ist. Ihr »Material« ist das eigene Fleisch, und alle Probleme, die auftauchen, müssen vom Akteur on stage mit »Leib und Leben« vor den Augen und Ohren anderer live ausgetragen werden. Denn ohne die Anwesenheit anderer kein Theater, keine Performance. Es braucht von jeher den Zeugen, den Augenzeugen, den Zuschauer. Der Zeuge aber kann loben oder beschämen, er kann bejahen oder verneinen, er kann mit dem Daumen nach oben oder nach unten zeigen. Davor ist niemand gefeit, dagegen ist niemand resistent, dafür gibt es auch keine Gerechtigkeit. Das alles ist nicht neu. Aber es ist unterschätzt. In der Theorie klingt die physische Exponiertheit der Schauspieler weitaus harmloser, als sie sich am eigenen Leib anspürt. Die Intimität, die ausgestellt wird, ist äußerst fragil, das Risiko hoch und immer brisant, da es nie zeitversetzt, sondern immer im Augenblick stattfindet. Ein Akteur kann nie insgeheim auf die Taste delete drücken. Immer ist er schon gesehen, immer ist ihm schon zugesehen worden. Ob im Probenprozess oder in den Aufführungen. Nur er selbst kann sich nicht sehen, nicht einmal spiegelverkehrt. Er selbst kann nicht zurücktreten, um zu prüfen, was er da eben gemacht hat. Er bleibt distanzlos in der eigenen Nähe befangen. Er bekommt seine Arbeit nie leibhaftig vor den eigenen Blick, immer nur die anderen. Das macht extrem abhängig von dem, was man über die eigene Wirkung zu hören bekommt, und es macht extrem sensitiv. Kaum ein Akteur, dem daher nicht nach einem Auftritt, zumindest stumm, die leise Frage auftaucht: Wie war ich? Das ist ein Klassiker, ein running gag unter Kollegen, über den gelacht wird. Die Frage hat schon etwas Komisches, Lachhaftes. Zwanghaftes. Aber Hand aufs Herz, wer kann von sich sagen, dass er nicht

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empfänglich (empfindlich) ist für das Echo, das er on stage ausgelöst hat? Angefangen vom Applaus bis zu den Kritiken. Wer freut sich nicht? Wer ist nicht gekränkt? Wer ist immun? Wenige schlagen nach einer Premiere nicht die Gazetten auf, auch wenn es viele behaupten. Wenigen ist nicht schon unterlaufen, dass sich der Blick beim Lesen neuer Kritiken unwillkürlich verselbstständigt und auf der Suche nach dem eigenen Namen im Geschriebenen vorläuft. Diesen Lapsus, immer gleich und zuerst nach sich selbst Ausschau zu halten, mit Eitelkeit und Ichsucht zu begründen, liegt nahe. Eitelkeit und Ichsucht sind beliebte Attribute für Schauspieler. Stereotype Zuschreibungen wie stereotype Erwartungen. Typisch, denkt man sich, ist zufriedengestellt und zerbricht sich nicht weiter den Kopf. Warum auch. Diese Vorurteile sind nicht nur ungerecht. Sie treffen heikle, neuralgische Punkte der (Selbst-)Darsteller. In Nietzsches Erfahrungen mit Richard Wagner ist nachzulesen: »Sie wissen nicht, wer Wagner ist: ein ganz grosser Schauspieler! […] der grösste Mime, das erstaunlichste Theater-Genie, […] er will die Wirkung, er will Nichts als die Wirkung.« 9 Aber das Label Selbstsucht-Gefallsucht-Erfolgssucht hilft beim Testlauf nach den Ereignissen rund um Hannah J. nicht weiter. Es greift nicht. Es passt nicht. Es ist sinnwidrig, so medial gehypt es ansonsten sein mag. Denn Hannah J. war ja eben äußerst erfolgreich gewesen. Das Echo, das ihr in der konzentrierten Stille der Zuschauenden entgegenkam, signalisierte alles andere als Misserfolg. Schade. Der Faden, dass eine junge Schauspielstudentin in Tränen ausbricht, weil ihr Spielen ein einziger Fehlschlag bleibt, wäre so schön schlüssig gewesen. Das hätte logisch eingeleuchtet. Die Schauspielerin hatte lange standgehalten, aber jetzt gibt sie auf. Sie weint, weil sie sich beschämt fühlt, weil sie sich

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F. Nietzsche: KSA 6, S. 29–31.

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schuldig fühlt. Ad personam beschämt, ad personam schuldig. Trotz allen Anstrengungen missglückt ihr Spiel, wieder und wieder, sie schafft es nicht, sie kann dem schauspielerischen Anspruch nicht genügen, sie ist eben nicht gut genug oder noch nicht gut genug, die Rolle zu schwer oder sie zu schlecht, wie auch immer. Aus der fatalen Selbstbeobachtung ist kein Entkommen, der Spektator in ihrem Rücken ist übermächtig, ihr Spiel bleibt hergestellt, gezwungen, sie weiß es, aber sie kann es nicht ändern und jetzt will sie nicht weiter, jetzt kann sie nicht weiter. Genug an Schinderei ohne Erfolg vor den Augen der anderen. Es geht ihr die Kraft aus. Tränen steigen auf. Es melden sich immer mehr Ängste. Angst vor den Gefühlen der Johanna, Angst vor der Sprache Schillers, Angst vor dem Text, dem nächsten Satz, dem nächsten Wort, dem nächsten Schritt. Angst vor der Bühne, vor dem Theater. Angst, niemals ein Engagement zu bekommen oder immer nur kleine Rollen. Angst, dass der Traum, Schauspielerin zu werden, vielleicht eine Illusion ist, eine Fehleinschätzung der eigenen Person – – – sie rettet sich ins Weinen. In Tränen des Versagens. In Tränen über ihren schauspielerischen Misserfolg. Im Falle von Hannah J. passte diese Folie nicht. Hannah J. reagierte konträr. Anachronistisch. Eins und eins ergab nicht eins. Die Logik hatte sich verhackt. Ihr Schluss kam ins Stolpern. Waren nicht gerade alle Blockaden verflogen gewesen, alle Poren geöffnet, das Spiel beflügelt, plötzlich geglückt? Sogar über alle Erwartung. Keine Rede von Misserfolg. Im Gegenteil. Hannah J. war exzeptionell gut gewesen. Trotzdem brach sie in Tränen aus und widersetzte sich auch noch demonstrativ ihrem eigenen Wunsch, Schauspielerin zu werden. Als müsste sie eine Attacke abwehren.

Weinen Französische Revolution. Die Zeit nach den Septembermorden. Die Revolutionäre haben begonnen, sich selbst zu richten. Robespierre hat Danton gestürzt. Im Morgengrauen wird er einen

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hässlichen, blutigen Tod auf der Guillotine sterben, auf der er selbst hat wüten lassen. Angesichts des sternenübersäten Nachthimmels lässt ihn Georg Büchner (zweiundzwanzigjährig, zwei Jahre vor seinem eigenen frühen Tod) sinnieren: »Wie schimmernde Thränen sind die Sterne durch die Nacht gesprengt, es muß ein großer Jammer in dem Aug seyn, von dem sie abträufelten.« 10 Leid, Kummer, Jammer verkehren Schönheit in Schrecken. Das löst Tränen aus. Etwas reißt, etwas stößt zu, schockiert, nimmt mit, verwundet, entblößt. Etwas, das wir nicht mehr in der Hand haben. Ein Schmerz war zu groß. Oder eine Freude. Wut hat uns übermannt, Ohnmacht, Zorn, Angst, Verzweiflung, Trauer, eine verschüttete Erinnerung ist ungerufen aus dem Vergessen hochgeschossen, oder unversehens schockiert eine Erkenntnis, die einen inneren Krieg entfacht. Es gibt bittere und es gibt süße Tränen. Beide lassen die Situation kippen. Die Augen gehen über, man kann nichts mehr sehen, kaum sprechen. Tränen signalisieren einen Ausnahmezustand. Sie appellieren an Schonung, an Rücksicht, die die anderen nehmen sollen und die man sich selbst einräumt. Sie entladen und erleichtern und als Schutzwall schotten sie ab, wehren sie ab. Der Blick verschwimmt, die Tränen verschleiern ihn, sie nehmen den Augen die Sicht. Sie machen blind. Seelenblind? Blind für den Grund des Weinens, obwohl dieser die Tränen hervortreibt? Beweint man das, was sich schmerzlich meldet, von dem man aber nichts wissen will? Darin liegt ein Widerspruch, ein Paradox, eine doppelte Botschaft. Im Eintrüben der Sicht entlarvt sich ein blinder Fleck, den die Tränen anschaulich machen. Tränen bringen klar vor Augen, was übersehen wurde, sie machen das Ereignis erkennbar, das uns gerade trifft.

10 Büchner, Georg: Dantons Tod, historisch-kritische Ausgabe, Hanser 1, Hamburg: Christian Wegner Verlag 1967, 4. Akt, 3. Szene, S. 67.

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»Im Grunde [fond] genommen, seinem innersten Wesen [fond] nach wäre das Auge nicht dazu bestimmt, zu schauen, sondern zu weinen. Im Augenblick selbst, wo sie die Sicht trüben, entschleierten die Tränen das Eigentliche [propre] des Auges. Das, was sie aus dem Vergessen hervorquellen lassen, in dem es der Blick zurückbehält, wäre nichts Geringeres als die aletheia, die Wahrheit der Augen.« 11 Einen weinenden Menschen zu ignorieren fällt schwer. Er zieht den Blick automatisch auf sich. Weinen irritiert. Tränen alarmieren. Auch diejenigen, die bloß zufällig dabei sind. In welchem Modus auch immer, und sei es als Gaffer, Tränen greifen nach dem stillen Beobachter gleichermaßen wie nach dem Kontrahenten. Ad hoc involvieren sie beide in ein und dasselbe Geschehen, das sie ausgelöst hat. Sie machen Unbeteiligte zu Beteiligten, selbst wenn man sich abwendet. Weinen durchbricht den Alltag. Es bestürzt, erregt Mitleid oder Abscheu, eventuell sogar Ekel. Es stimmt nachdenklich, macht hilfsbereit, neugierig. Etwas ist aus dem Lot, aus den Fugen. Was ist passiert? Die alte Frage nach dem Warum meldet sich automatisch. Sie lässt keine Ruhe. Verlangt nach Entladung. Sie will gelöst, sie will enträtselt, sie will entziffert werden. Unwillkürlich beginnt man, den Vorfall auf sich selbst zu beziehen, für sich selbst zu deuten. Immer davon getrieben, einen Schlüssel, einen passablen Schluss zu entdecken, um mit dem Vorgefallenen besser zurechtzukommen. Um es zumindest im Nachhinein besser verstehen zu lernen. Man beginnt zu spekulieren. Sich umzusehen, in dunkle Winkel zu spähen, Möglichkeiten ins Auge zu fassen (speculari), sie zu wägen und zu erwägen. Immer in der Gefahr, sich messerscharf zu verspekulieren. Immer in der Bereitschaft, sich entschlossen zu verirren.

11 Derrida, Jacques: Aufzeichnungen eines Blinden, München: Wilhelm Fink Verlag 1997, S. 122.

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Das Götterbild von Veivovis (Mars) als Bild des Unglücks war so bei den Ägyptern.

Aber das Bild des Glückes von Diovis (Jupiter) war so.

Human Form Divine. – Die Zahl Fünf ist Giordano Bruno zufolge die Zahl der Seele, da sie aus Gleichem und Ungleichem zusammengesetzt sei. »Weil die Figur des Menschen von fünf äußeren Punkten begrenzt wird, führt das äußerst ruchlose Geschlecht von bösen Zauberern die wirksamen Bannsprüche durch das Pentagramm aus. Wer begehrt, das Unwürdige zu wissen, der suche in den Büchern dieser Windbeutel […]« (Giordano Bruno, De monade numero et figura liber consequens de minimo magno et mensura, 1591, Ausgabe Hamburg, 1991).

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Ein Kinderspiel Die ersten Buchstaben. A, B, C. Kleine Striche, gerade und geschwungen, werden in vorgegebener Ordnung zu Buchstaben. ABCDEFG HIJKLMNOPQRSTUVWXYZ. Sechsundzwanzig, nicht mehr. Aus diesen 2 x 13 Buchstaben wachsen Worte, erste Sätze. Die Faszination von Lesen und Schreiben packt. In selbst erfundenen Tiraden geht im Spielen das neu Gelernte weiter. Buchstabiere: Haus. H A U S. Gut, noch einmal. HAUS. Sehr gut, jetzt kaaannnn ich es!! HausHausHausHausHaus. Turmbau der Silben. HausHausHausHausHaus? Verrücktes Wortmonster! komisch, hört sich seltsam an, HausHausHausHausHaus. Haus? Was ist das, ein Haus? Der Sinn der Buchstaben verwirrt sich in ihrem vielen Hintereinander. Ein Haus ist ein Haus, ist ein Haus, ist ein Haus! eben ein Haus! und eine Rose ist eine Rose, ist eine Rose, ist eine Rose, so Gertrude Stein, Vorbotin enigmatischer Texte, spiralförmiger Sätze, die sich immer weiterdrehen bis hin zu einer Art sprachlichem Stillstand. »Play, play every day, play and play and play away, and then play the play you played to-day, the play you play every day, play it and play it«*, – jetzt verstehe ich nichts mehr.

* Stein, Gertrude: A Stein Reader, hg. von Ulla E. Dydo, Evanston: Northwestern University Press 1993, S. 147–148.

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Exponiert Die Suchmaschine ist nicht zu stoppen. Sie sinnt und spinnt ihre Netze. Als Grübelei über Vergangenes. Oder als Protest über Gegenwärtiges. Oder als Lust auf Zukünftiges. Je nachdem. Die Suchmaschine spürt weiterhin den Tränen von Hannah J. nach. Der Tabuzone, die da berührt wurde. – Also noch einmal. Langsam. Schritt für Schritt. Was war im Lehrsaal X passiert, was war dort konkret zu beobachten gewesen. Justament zu dem Zeitpunkt, als der Abbruch des Spiels praktisch beschlossene Sache war, als alle weiteren Versuche innerlich aufgegeben waren, kam es zu einem unerwarteten Umschlag. Als würde der Schalter einer Weiche überraschend aus seiner Verankerung springen und sich umlegen, packte plötzlich das Ereignis des Spielens Hannah J. am Schopf, »entführte« sie (ja, warum nicht, entführt passt ganz gut), aller Kampf, aller Krampf, alle Willensanstrengung fiel von ihr ab – und das Spiel setzte sich glücklich frei. Das Misslingen schlug in sein Gegenteil um. Man könnte auch beschreiben: Der Augenblick der Resignation 12 war ident mit dem Augenblick, in dem der Wille die Herrschaft über das Spiel aufgab. Oder in umgekehrter Richtung, der Augenblick der Resignation war ident mit dem Augenblick, in dem sich dem Willen die Herrschaft über das Spiel entzog. Bei der jungen Schauspielerin löste jedoch wider Erwarten der Kairos 13 des Spiels keine Freude und keineswegs Glück aus,

12 Böhler, Arno: Politiken der Re-Signation: Derrida – Adorno, Wien: Verlag Turia + Kant 2008. 13 Kairos ist über keiro (abschneiden) mit krinein (scheiden, trennen, unterscheiden, auch entscheiden) verwandt. Das Substantiv dazu ist krisis. Die Krisis ist die Trennung, der Einschnitt. Kairos schneidet die Zeit (chronos) in zwei Hälften, eine davor und eine danach. Er ist die Mitte (metrion) der Zeit. Der Kairos, als Krise des chronos, ist das Maß der Zeit im Sinne von kriterion und metrion. Als Maß der Zeit ist er selbst nicht messbar. Daher hat er für die Griechen nicht nur praktische, sondern auch ästhetische Bedeutung. Als Maß erzeugt er Sym-metrie, Schönheit, Zusammentreffen der Teile, harmonia. Sein Einschnitt ist ein Einschnitt in das Fließen des chronos. Er teilt die Zeit,

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Die Sprache, die sonst alltäglich zuhanden ist, gerät abhanden, ihre Grammatik kommt ins Wanken, die Verlässlichkeit der Worte kommt ins Wanken. Sie wird zur Konvention, sie wird zum bloß verabredeten Sinn beliebiger Zeichen. In der Wiederholung ein und desselben Wortes schrumpft die Bedeutung seines Begriffs bis hin zur Auflösung seines Sinns, fremd reiht sich ein Buchstabe an den anderen. Sinnentleerung bis in die Unsinnigkeit. Tollheit des Möglichen, faszinierendes Spiel, doppeltes, das die Buchstaben eröffnen. Wortfindung, Wortentleerung. Sinnfindung, Sinnentleerung. Magic play in the playing field of being- in-the-world. Zu den allerersten der selbst buchstabierten Worte, die stolz in dem kleinen Schulheft stehen, gehört auch das Wort Ich. Das Wörtchen Ich windet sich in noch ungelenker Schrift die Linien entlang, jeweils ein ICH und ein Sternchen wechseln einander ab, über die erste, die zweite, die dritte Zeile hinweg bis an den unteren Rand der Seite. ICH * ICH * ICH *ICH*ICH. Ich, ich, ich, ichichichichichichich. Das Kind treibt wieder das Spiel mit dem Turmbau der Silben, lässt die Buchstaben gerinnen, zum leeren Echo erstarren, einstürzen, lustvoll werden sie neu aufgetürmt, hybrides Format, ichichichichich, die Buchstaben wachsen ins Monströse. Wie paralysiert setzt das Kind das Spiel fort, ichichichichichichich. Ich, anschmiegsamstes unter den Wörtern. Ich, Wort der Identität, Wort der unverbrüchlichen Einheit, der Übereinstimmung mit mir selbst. Ich? das meint ja mich! durchzuckt es das Kind, ichmichichichich, das klingt fremd, befremdend, beklemmend, plötzlich, ich, zu wem sage ich

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sondern, ganz im Gegenteil, er provozierte Tränen und Abwehr. Unglück. Als hätte die Gunst der Stunde Hannah J. nicht mit dem Gelingen ihres Spiels beschenkt, sondern sie in abwegiger Verkehrung mit dem Gelingen ihres Spiels bedroht. Wenn nun Hannah J. in der sich lösenden, lange angestauten Anspannung nicht hysterisch überreagierte oder bloß zickig war, worin bestand ihre Misere? Lag das Bedrohliche im Medialen, das einen unüberhörbaren Anspruch an die Kunst des Schauspielers angemeldet hatte? Wog die plötzliche (Über-)Macht der Resignation im geglückten Spiel schwerer als das Versagen im missglückten Spiel, weil durch sie eine unausgesprochene Regel verletzt wurde? Ein Tabu 14, dessen Bruch sich unmittelbar rächte, indem er das eigene Selbstverständnis destabilisierte. Brach Angst hervor, weil Hand in Hand mit der »edelsten aller Nationen, der Resignation« 15, wie der philosophierende Wiener Querulant Johann Nestroy ironisch pointiert, die Maxime der Selbstgewissheit ins Wanken geriet? Erfährt sich das handelnde Ich in den Armen der Passivität nicht mehr unzweifelhaft im freien Willen geschützt und verankert, sondern als zufällig, kontingent, nicht mehr positiv feststellbar,

rhythmisiert sie und macht sie so zur Harmonie, zum Zusammenstimmen des Gegenstrebigen. 14 »Uns geht die Bedeutung des Tabu nach zwei entgegengesetzten Richtungen auseinander. Es heißt uns einerseits: heilig, geweiht, andererseits: unheimlich, gefährlich, verboten, unrein. […] Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung; sie sind unbekannter Herkunft; für uns selbstverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen.« Aus: Freud, Sigmund, II, Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1974, Studienausgabe Band IX, S. 311. 15 »Tröste dich, Schnoferl, mit dem Bewusstsein und denke: Die edelste Nation unter allen Nationen is die Resignation.« Aus: Nestroy, Johann: Das Mädl aus der Vorstadt, Wien: Verlag Anton Schroll & Co. 1962, Ausgabe in 6 Bänden, 5. Band, 1. Akt, 12. Szene, S. 534.

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das? Unwillkürlich greift die Hand auf den Kopf. Ich, ich sage es zu mir selbst, ich. Wer ist der Adressat? Wer der Adressant? Rücklings auf den Buckel springt diese Frage dem Kind mitten im Spiel, ein hässlicher Zwerg, den es mit einem Mal zu schleppen hat. Erschaffung des Ichs, Entschaffung des Ichs, was wird da außer Kraft gesetzt? von wem? von mir, von mir selbst? unvorhergesehen abrupt mitten im arglosen Spielen mit harmlosen Worten, beängstigend, ängstigend, fremd, ich mir, ich werde mir selbst fremd, ichmir, ich werde mir selbst unheimlich, ichmir. Aus dem Kinderhimmel verstoßen, in ein jähes Vorlaufen – wohin? Sog wohin? Nirgendwohin. Was beansprucht mich da? Die Un-Möglichkeit meiner Existenz? Ganz außerhalb meiner selbst sein, selbst verschuldet, du sollst den Apfel nicht essen, den verbotenen. Der andere in mir, Phantasma meiner selbst. Bin ich mein eigener Untergang? Was überkommt mich? Das Ich entsorgt von einem unendlichen Echo, das den Sinn wegsaugt aus dem vertrauten Wort nächster Nähe. Törichtes Spiel! Vernichtet jede Freude, alles Plus verkehrt in ein Minus. Verkehrung in den Mangel, bis nichts mehr bleibt, nichts, nichts mehr, Ich verschwunden im Nichts, schwarze Magie, Korrespondenz mit der Un-Zeit. Daseinsnot, erste, meinetwegen.

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wo gerät es dann hin? Ins Ungereimte 16, in dem es kein Halten gibt, in dem man vor nichts mehr sicher ist, weil die Verlässlichkeit des Willens und der logischen Vernunft außer Kraft gesetzt werden? Angst könnte entstanden sein, sich im Spielen unversehens in einer Umwertungsmaschine verfangen zu haben, ähnlich der von Alice 17. Angst, ungewollt in der Gestalt der Schiller’schen Johanna einer Travestie des Weißen Kaninchens 18 nachgesprungen zu sein. Nicht den Buchstaben, sondern der Tat nach. Ob man am Ende närrisch an sich selbst wird? Sich den Hals bricht? Oder ausgewechselt wird? es ist als wäre nicht ich die die spricht nicht ich das subjekt als spräche eine andere aus mir 19 aber ich bin es ich die spricht niemand anderer als ich ich ich spreche ich schaue ich höre ich rieche ich schmecke ich taste ich stehe hier fest auf meinen beiden beinen ich gehe jetzt quer über die bühne

Das Ich fühlt sich bedroht. Es läuft mit seinen gewöhnlichen Ansprüchen Sturm. C’est moi, c’est moi!, hört man es schreien. Aber kein Protest hilft. Im Kairos der Zeit gerät die vertraute Ordnung aus den Fugen. Ein wunder Punkt ist erreicht. Eine offene Grenze. Die verbürgte Unterscheidung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit verwirrt sich, sie gerät durcheinander. A ist nicht mehr verlässlich nur A, B nicht mehr verlässlich nur B.

16 »Eil, o zaudernde Zeit, sie ans Ungereimte zu führen, / Anders belehrst du sie nie, wie verständig sie sind. / Eile, verderbe sie ganz, und führ ans furchtbare Nichts sie, / Anders glauben sie dir nie, wie verdorben sie sind. / Diese Toren bekehren sich nie, wenn es ihnen nicht schwindelt, / Diese … sich nie, wenn nicht Verwesung sie sehn.« Aus: Hölderlin, Friedrich: Gebet für die Unheilbaren, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1966, S. 35. 17 Siehe Alicens Selbstbefragung, wer sie denn nun sei, ob Ada, Mabel oder doch Alice: Carroll, Lewis: Alice im Wunderland, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1963, S. 22–23. 18 Ebd., S. 11–12. 19 »Die Stimme ist ein Schwellenphänomen. […] Ist die Stimme also die erlebte Präsenz eines unverfügbaren Anderen?« Aus: Kolesch, Doris/Krämer, Sybille (Hg.): Stimme: Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 12, 13.

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Nicht, dass es kein Gegenüber gäbe. Aber die alte Spaltung zwischen Subjekt und Objekt greift nicht mehr, andere Bezüge werden virulent. – Merde! – Dann soll das Ich eben selbst schauen, wo es bleibt! Sich erschaffen oder abschaffen oder entschaffen. Die Gunst der Stunde entlässt es jedenfalls in eine neue Karriere ungebändigter Freiheit. Kein Zwang mehr. Kein Korsett. Keine Disziplinierung. Keine Domestizierung. Die Schienen und Riemen aller imaginären »Geradhalter« 20 fallen ab. Niemand sitzt mehr hoch oben im Kontrollturm des Ichs. Die Fenster und Türen stehen dort sperrangelweit offen. Der mit dem langen, weißen Bart ist ja schon lange fort. Nun aber ist der Platz gänzlich leer. Alle Autoritäten sind verschwunden. Selbst das eigene Ich. Das System ist gecrasht. Das Spiel geglückt. Hat nun im Kairos des Spiels der Musagetes Apollon, Gott der Dichter und Anführer der Musen, seine Lyra in einen Bogen oder seinen Bogen in eine Lyra verkehrt? Ist Krieg oder Hoch-Zeit? Das arme Ich ringt um Luft. Es weiß keine Antwort. Seine Vorstellungskraft versagt. Im Clinch mit sich selbst überfällt es Ohnmacht. Hilflos kollabiert es in der Verkehrung der geläufigen Wahrnehmung. Johannas Leib, plötzlich nicht mehr zwischen zwei Buchdeckeln gebändigt, Schillers Sprache nicht mehr zwischen zwei Lippen gepresst, üben ihren Aufstand. Sie werden eigenmächtig. Eigensinnig. Setzen an Gewicht zu. Gewinnen an Fleisch. Pfropfen sich auf, schreiben sich weiter, schreiben sich fort. Ohne Sanktion des Ichs händigen sie sich subversiv an ihre offenen Gren-

20 Siehe Huizinga, Klaas: In Schrebers Garten, München: Knaus Verlag 2008. Ein »Geradhalter« ist ein vom deutschen Arzt (Orthopäden) Daniel Gottlob Moritz Schreber u.a. erfundener Apparat, der bei Kindern die aufrechte Haltung bei Tisch erzwang. Sein Sohn Daniel Paul Schreber ging durch Sigmund Freud und seine eigene Schrift »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« als Schulfall in die Geschichte der Psychoanalyse ein.

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zen aus. Sie werden Entsprechung, sie werden Entschreibung. 21 Fremde Worte für ein befremdendes Geschehen. Die Haut kein Schutz mehr, kein Schutz und Schild. Kein Halt, keine verlässliche Grenze. Kein Ende von mir selbst. Kein »Halt! Hier beginne ich, bis hierher und nicht weiter!« Die Haut nicht mehr Abgrenzung der Physis, sondern Ort ihrer Ausdehnung, ihrer Übertretung, ihrer Entgrenzung. Von dem sich freisetzenden Spiel, wie vom Schwindel erfasst, aus der gewohnten Balance ins Lotlose gesogen zu werden. In ein unbekanntes X. In den Ungrund des eigenen Daseins? Mitten im Spielen fremd an sich selber werden. Sich im Widerspruch zur Autonomie des Willens nicht mehr in der Hand zu haben, sich abhanden kommen, ungnädig zur Seite gestoßen, aus dem Zentrum katapultiert, nach draußen – und als Angst der Hintergedanke, sich dort verloren zu gehen. Sich selbst einzubüßen. Eine Selbstdemontage wider Willen zu erleiden. Das Ich – keine letzte Bastion der Gewissheit, sondern machtlos und verwundbar. Eine offene Stelle, die schmerzt. Eine Leerstelle. Ein Riss im Netz des bis eben noch herrschenden Bewusstseins. »But who is to say, that being for literal can be controlled? That gaping and scaring will not brake through to the real – at every given moment.« 22 War das die Zumutung des Glückens für die Schauspielerin, die sie zu Tränen und Aufhören nötigte, zu dem störrischen Nein gegenüber dem bisher ersehnten Wunsch, Schauspielerin zu werden? –––

21 »Es ist das Entschreiben unseres Körpers, mit dem wir beginnen müssen.« Aus: J.-L. Nancy: Corpus, S. 15. 22 Ronell, Avital: Derrida’s Greatest Hits, Mitschrift einer Vorlesung an der New York University, Contemporary Literature Department, 1997/98.

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Außer sich geraten zu sein. Spielerisch leicht, wie nebenbei. Als wäre man immer schon dort gewesen. Also nicht künstlich forciert, sondern ohne jede Hysterie, ohne jede Exaltiertheit, ohne jeden theatralisch aufgesetzten Beigeschmack. Nichts von diesen fadenscheinigen Krücken der Begabung. Nichts von dieser trügerischen Affektivität, die vor allem der Selbstbefriedigung dient. Im Überschuss des Spielens entfesselt, aus der Höhle der gewohnten Wahrnehmung geraten zu sein. Zufällig. Wie von ungefähr. In einem Nu an einen Rand, an einen Saum versetzt worden sein. In ein unbenanntes Zwischen. Zwischen den Ufern, zwischen den Fronten, zwischen den Grenzen. Unterwegs in einem imaginären Boot Charons? 23 – In Corpus heißt es bei Jean-Luc Nancy: »Das fort-von-sich als Aufbruch ist das, was exponiert wird. ›Exposition‹ bedeutet nicht, dass die Intimität ihrer Zurückgezogenheit entzogen und nach außerhalb getragen, sichtbar gemacht wird. […] ›Exposition‹ bedeutet im Gegenteil, dass das Ausdrücken selbst die Intimität und die Zurückgezogenheit ist. Das fort-von-sich […] ist: jene schwindelerregende Zurückgezogenheit von sich, die man braucht, um das Unendliche der Zurückgezogenheit bis zu sich zu öffnen. Der Körper ist dieser Aufbruch von sich, zu sich.« 24

23 Der Fährmann Charon setzte die Schatten der Toten über den Fluß Styx (oder Acheron) in den Hades, den Aufenthaltsort der Toten, über. Die Toten stiegen dann als Schatten und Phantome (eidola kamonton) in das Reich des Hades hinab. Der Gott der Unterwelt, dessen Name »Hades« vermutlich »der nicht Sichtbare« bedeutete, wurde von den Griechen nur ungern und zögerlich beim Namen genannt. Offensichtlich aus Furcht, die Aufmerksamkeit des schrecklichen Herrn der Toten auf sich zu lenken. Siehe: Lexikon der antiken Mythologie, Stuttgart: Reclam 19996. 24 J.-L. Nancy: Corpus, S. 33.

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with-out me nein so nicht nicht mit mir so war das nicht ausgemacht so nicht klar ohne mich wo käme ich denn da schluss aus ende jetzt steig ich aus jetzt reicht es mir aber jetzt will ich nicht mehr was steht hier eigentlich zur disposition ich dachte es geht um schillers johanna und jetzt

Falls Hannah J. so gedacht hat, hat sie recht. Schillers Jeanne d’Arc steht zur Disposition. Allerdings nicht ihre literarische Fiktion, die nach der Lektüre zugeklappt in Band II seiner gesammelten Werke unversehrt wieder ins Bücherregal zurückgestellt werden kann. On stage geht es nicht um eine intellektuelle Debatte über Schillers Johanna, sondern um ihre Verkörperung in Fleisch und Blut. Auf der Bühne geht es um Acting, wie es in englischer Sprache so treffend heißt, um Acting als einen lebendigen Akt der Aushändigung. Dazu bedarf es der leiblichen Präsenz eines Akteurs, einer Akteurin, die aufs Spiel gesetzt wird. Im Lehrsaal X bedarf es im konkreten Fall der Schauspielstudentin namens Hannah J. Sie selbst muss mit ihrer gesamten physischen Existenz elementar in Aktion treten. Mit allen ihren Sinnen, mit all ihren Vermögen. Mit ihrem ganzen konkreten Körper, mit ihrem gesamten komplexen Leib 25. Sie kann nichts anderes vorschieben, nichts anderes dazwischenschieben. Sie selbst als Hannah J. muss sich leibhaftig an den zu spielenden Part aushändigen.

25 Erika Fischer-Lichte spricht vom »embodied mind«, der durch und im theatralen Künstler aktualisiert und in Erscheinung gebracht wird, »bei dem Körper und Geist/Bewusstsein sich überhaupt nicht voneinander separieren lassen, vielmehr eins mit dem anderen immer schon gegeben ist. […] Der Mensch ist embodied mind. Er lässt sich weder auf seinen Körper noch auf seinen Geist reduzieren […]. Geist ist nicht ohne den Körper zu haben und artikuliert sich im bez. als Leib.« Aus: Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 171–172.

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ich soll mich an jeanne d’arc also wirklich so ein ich bin doch nicht ich bin selbst jeanne d’arc wenn ich ich soll mich also an mich selbst das ist absurd ohne mich nicht mit mir nein das will ich nicht

Verständlich. In der Aushändigung on stage liegt ein folgenreiches Malheur. So könnte es aus aufgeklärter Perspektive ausgedrückt werden. Denn nicht genug, dass der Akteur in seiner professionell bedingten Exposition seinen autonomen Anspruch an die Anderen einbüßt, das Malheur doppelt sich auch noch. Wird nämlich der homo sapiens in der Tat zum homo ludens 26, erfährt er sich nicht alleine an die Anderen ausgeliefert, sondern zusätzlich, paradox, an sich selbst. An sich selbst als elementares Medium seiner selbst, das im Spielen virulent wird. Ein Zwiespalt tut sich auf. Eine Struktur, die ihm zu Grunde gelegt ist und über die er nicht verfügen kann: Im Akteur als (aktives) Subjekt wird er selbst als (passives) subiectum 27 virulent. Darüber könnte ein Schrecken in Hannah J. eingefahren sein. Plötzlich zu verstehen, dass die aktive Gestaltungskraft des Willens zwar eine wesentliche Seite des Spielens ausmacht, der Akteur aber (s)einer medialen Seite ohnmächtig ausgeliefert bleibt. Auf sie gibt es keinen Zugriff. Wann und warum und ob sie sich kreativ einlöst, bliebe ein für alle Mal im Dunkeln. Trotz allem praktischen Wissen und Können, trotz allem Know-how, das sich ein Schauspieler aneignen kann und aneignen muss. Hannah J. begriff vielleicht erst im ereignishaft geglückten Spiel, dass die Kunst des Schauspielers weitaus tiefer in die eigene Existenz eingreift, als sie es sich vorgestellt hatte, weil das Theater, wie alle Kunst, an eine Blöße gebunden ist, die nicht übersprungen werden kann. – Künstler-Los, könnte man lakonisch kommentieren.

26 Huizinga, Johan: Homo ludens, Hamburg: Rowohlt 1987, S. 7. 27 »›Subiectum‹ ist die Übersetzung des hypokeimenon (Unterliegenden), worunter Aristoteles sowohl das logische Subjekt (Phys. I 2, 185 a 32) als auch die Substanz (s. d.) als Eigenschafts-Träger versteht (Met. VII 3, 1029 a 1).« Aus: Eisler, Rudolf: Philosophisches Wörterbuch, http://www.textlog. de/5199.html vom 02.05.2010.

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Aber vor aller Augen am eigenen Leibe, jedes Mal wieder und wieder? Lebenslang. Will ich mir das antun? Aber vielleicht galt die Verweigerung von Hannah J. gar nicht dem Theater. Vielleicht war weitaus beängstigender aufgeblitzt, dass am Dilemma des Schauspielers nur das Dilemma des homo sapiens überhaupt offenkundig wurde: die Uneinholbarkeit der dunklen Kehrseite dessen, was wir sind. Die Unruhe, nicht sicher sein zu können, was wir sind, oder dessen, was wir bisher zu sein geglaubt haben. Ein Dilemma, dessen Sprengkraft wir für gewöhnlich nicht freizusetzen, sondern bis zur Verleugnung auszublenden suchen. »Im Schrecken zerfällt das aufgeklärte Phantasma von der Macht und Überlegenheit des Selbstbewusstseins: Das Erhabene der Kunst als Gegenstand ästhetischer Erfahrung gemahnt an die Illusionen von Identität und Selbstbewusstsein, an die Brüchigkeit des Subjekts und lässt den Herrschaftsanspruch zerbrechen«, so Dieter Mersch in Ereignis und Aura, Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen 28 . Bei all dem – Acting freiwillig als Beruf wählen? Einen Beruf mit sich selbst als unmittelbares Schlachtfeld. Schauspielerin zu werden und damit unausgesetzt leibhaftig aktuell bedroht bleiben von der Spannung zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem. Zwischen Aktion und Passion. Immer in der realen Ungewissheit eines unentscheidbaren Moments der Offenheit, der beständig Mangel oder Überfluss generieren kann. Noch dazu in einer Zeit, in der das Passive seinen Rang eingebüßt hat und ihm gesellschaftlich kein Platz eingeräumt wird. In einer Zeit, in der das Pathische politisch wie religiös historisch verdorben und stigmatisiert ist. In einer Zeit, deren Kardinaltugend kritische Vernunft heißt und in der die Mathematisierung der Begriffe Vorrang hat.

28 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura, Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 135–136.

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Vielleicht waren Hannah J. solche Gedanken mit einem Mal durch den Sinn geschossen. Nicht den Worten, aber dem Gespür nach, und sie hatte sie abgewehrt. Schauspielerin zu sein, hatte sie sich anders vorgestellt. Wo war sie da hingeraten. Da hatte sie gar nicht hingewollt. Da ist sie im Spielen rein zufällig hineingeraten. – Bauz, pardauz, würde Alice im Wunderland im Hinuntersausen durch den Schacht schreien: »Es kann natürlich sein, dass ich durch die Erde hindurchfalle! Das kann ja lustig werden, wenn ich bei den Menschen herauskomme, die mit dem Kopf nach unten laufen!« 29 Bei Georg Büchners Lenz klingt das weitaus dunkler: »Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.« 30 Wer will schon auf dem Kopf gehen können und durch diese fatale Kunst plötzlich den Himmel als Abgrund unter sich haben? Wer will schon durch die Erde hindurchfallen? Das Alogische stiftet Unheil. Wissenschaftlichkeit ist das Ideal der Epoche, der Begriff, die Zahl, der Algorithmus. Nicht der Leib, nicht das metaphorische Wort, schon gar nicht ein dubioses Zwischen. Darüber gibt es keine Illusionen, aller Thematisierung der Differenzen zum Trotz. Ja ist ja, nein ist nein, rund ist nicht eckig, heiß nicht kalt, die Quadratur des Kreises ist unmöglich, und ich bin ich. Aber was geschieht mit dem, was ich nicht mehr zu denken, was ich nicht mehr zu sagen vermag und das sich beunruhigend trotzdem meldet? Zum Beispiel im Handeln als Acting am Theater. In diesem verdächtigen, korrupten with-out me. In einem Handeln, in dem ich als Täter von der letzten Vergewisserung, selbst der alleinige Täter zu sein, verlassen bin und trotzdem kein anderer Täter in Sicht ist?

29 L. Carroll: Alice im Wunderland, S. 13. 30 Büchner, Georg: Lenz, historisch-kritische Ausgabe, Hanser 1, Hamburg: Christian Wegner Verlag 1967, S. 79.

Spekulationen

»Wie verquer doch heute alles geht! Und dabei war gestern noch alles ganz gewöhnlich. Ob ich am Ende […] ausgewechselt worden bin? […] Aber wenn ich nicht mehr dieselbe bin, muss ich mich doch fragen: Wer in aller Welt bin ich denn dann? Ja, das ist das große Rätsel!« 31 But to take this literally? To channel the forgotten? Lachhaft. No. Without me. No, explicitly no. Da käme man am Ende in die peinliche Lage Alices, die nach der »Selbstheit selbst« 32 befragt wird, ob sie vielleicht das »schon einmal gesehen hat, das Gemälde von einer Selbstheit?« 33 In größter Verwirrung muss sie zugeben: »Also jetzt, wo du mich fragst, glaube ich nicht –. Dann halte den Mund« 34, wird ihr harsch empfohlen. Wie reagieren wir, wenn unser automatisiertes Verhalten, unsere Muster, unsere Klischees, unsere Schemata 35 sich ungewollt außer Kraft setzen? Wenn das aufgeklärt etablierte »Wer in aller Welt wir sind« nicht abstrakt, sondern physisch, in diesem Sterben in der Verwandlung, das Heiner Müller als das Wesentliche des Theaters bezeichnet 36, seine Legitimität verliert. Wie reagieren wir da? Legen wir den Hörer auf, um die ungewollte Verbindung abzubrechen, den unerbetenen Call, die ungerufene Nähe zum Numinosen. Exit tragoedia. Nichts wie weg! Auf und davon! Schluss, aus, Ende. Vorhang! Jetzt sind andere Zeiten. Ekelhaft, wie konnte ich mir so nahekommen!

31 L. Carroll: Alice im Wunderland, S. 22. 32 Ebd., S. 78. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Butler, Judith: Körper von Gewicht, Gender Studies, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 und Böhler, Arno: Singularitäten. Von der erotischen Durchdringung der Leere, Wien: Passagen Verlag 2005. 36 Kluge, Alexander/Müller, Heiner: Ich bin ein Landvermesser. Gespräche, Neue Folge, Hamburg: Rotbuch 1996, S. 176.

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Diese verwickelte Geschichte mit der Wahrheit. Diese verwickelte Geschichte mit der Wahrheit des Spiels auf der Bühne. »Einst war ich echt« 37, schluchzt die falsche Suppenschildkröte unter Tränen, als Alice sie nach der Geschichte ihres Lebens befragt.

37 L. Carroll: Alice im Wunderland, S. 97.

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Black out

Theaterbesuch Auf der Bühne wird Faust gespielt. Nicht Goethes Faust, sondern Die Historie von Doktor Johannes Fausten – dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler. Traditionell wird die Dramatisierung des alten Volksbuches gerne als Puppenspiel mit Handfiguren aufgeführt. Diesmal nicht. Diesmal agieren Schauspieler, Menschen aus Fleisch und Blut, auf einem kleinen Guckkastentheater. Gespielt wird eine Adaption für Kinder. Der Zuschauerraum ist knallvoll. Die Aufführung geht ihrem Ende zu. Die Kirchturmuhr hat schon begonnen, Mitternacht zu schlagen – – – gleich ist es so weit, gleich wird der Teufel den Dr. Faustus holen – – – nur noch wenige Glockenschläge – – – eins, zwei – – – In knapper, getreuer Folge hatte die Aufführung die Sage von jenem Johannes Faustus erzählt, der zunächst Theologie studiert, danach noch Medizin und Astrologie, der den Magister- und Doktorgrad erwirbt, aber allmählich durch Lebensgier und unbändigen Wissensdurst verführt zum Geisterbeschwörer und Nigromanten wird. Der Plot ging so:

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Nachdem Faust in tolldreister Gesellschaft sein gesamtes ererbtes Vermögen verprasst hat, beschwört er mit Hilfe dunkler Mächte um Mitternacht bei vollem Mond an einem Kreuzweg mitten im Wald den Teufel, um von ihm »zeitliche Freude und tägliches Wohlleben«* zu erlangen. Die Beschwörung gelingt. Der Teufel erscheint tatsächlich, und beim zweiten Mal in Fausts Studierstube willigt er schließlich ein, Faust dienen und ihm alle seine irdischen Wünsche erfüllen zu wollen. Mit einer Bedingung: Wenn der gelehrte, verehrte Herr Doktor ihm nach einer Frist von vierundzwanzig Jahren seinen Leib und seine Seele verschriebe. Faust willigt ein. Der Pakt wird geschlossen und mit Blut unterzeichnet. Der Teufel hält sein Versprechen. In Saus und Braus, mit immer tolleren schwarzen Zauberkünsten, verstreichen die vierundzwanzig Jahre im Nu. Nun ist es so weit. Nun hat der Countdown begonnen. Fausts letzte Stunde geht unaufhaltsam zu Ende, er kann die Zeit nicht anhalten, die Uhr kündigt bereits Mitternacht an – – – eins, zwei, drei, vier – – – Die Aufführung ist naiv. Kein Hahn würde in medialen Zeiten nach ihr krähen. Trotzdem nimmt sie gefangen. Zumindest eines unter den Kindern.

* Schwab, Gustav: Das Volksbuch vom Doktor Faustus, Prag: Vitalis 2003, S. 10.

Black out

Vielleicht ist es für die Aufführung noch zu klein, denn mitunter versteht es den konkreten Verlauf der Geschichte eher vage. Aber Geschichte hin, Geschichte her, dass Faust einer dämonischen Schicksalsmacht auf immer und ewig verfallen ist, das hat das Kind genau verstanden. Es ist empfänglich für das Unheimliche, das Unheildrohende, empfänglich für das, was über uns kommt, dem wir ausgesetzt sind. Die Aura des Dämonischen stößt es ab und zieht es zugleich an. Das Kind fürchtet sich und ist in einem fasziniert. Immer stärker gerät es in den Sog der Historie des weitbeschreyten Zauberers und Schwarzkünstlers Johannes Fausten. Als säße es in einem Film von David Lynch. Die Distanz zur Bühne verschwimmt, das Geschehen wirkt realer und realer, die Gestalten gewinnen mehr und mehr an faktischer Existenz. Das erste Erscheinen des Teufels im mitternächtlichen Wald trifft das Kind unvorbereitet, blank. Arglos hatte es bis dahin zugesehen. Ab jetzt fiebert es mit Faust auf das nächste Erscheinen des Teufels in der Studierstube mit, so als würde es selbst dort warten. Der Widersacher wird kommen. Er wird sich ein weiteres Mal zeigen, um den verabredeten Pakt zu schließen. Aber wann? Wann ist es so weit? Wann endlich? Und wie? In welcher Gestalt wird sich der Teufel diesmal zeigen? Das Warten ist kaum auszuhalten. Da kriecht um die Mittagszeit hinter dem Ofen ein Schatten hervor. Nichts weiter als ein Schatten, ein harmloser Schatten, ein Schatten, wie ihn alle Gegenstände in der Sonne werfen. – – – Aber es scheint keine Sonne

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mitten im Zimmer. Die steht am Himmel über dem Haus, gerade in ihrem Zenit. – – – Der Schatten wächst, wird groß und größer, überwuchert die Möbel, die Wände – – – drückt auf die Brust, auf den Atem – – – schwer, zentnerschwer – – – obwohl da nichts ist, nichts, nur dunkle Luft, kein Gewicht, nur Schatten, nur Schwärze. Das Kind starrt hypnotisch gebannt auf die Bühne. – – – Warum kommt der Schatten ausgerechnet hinter dem Ofen hervor! Das ist tückisch, das ist gemein. – – – Der garstige Widerspruch zwischen dem Wärme versprechenden Ofen und der monströsen Dunkelheit fährt ihm in die Knochen. – – – Der heimelige Ofen, kein Hafen der Sicherheit mehr. Seine vertrauliche Geborgenheit ein leeres Versprechen. Eine böse Täuschung? Eine Falle? – – – Als plötzlich ein ungestaltes, hybrides Monster mit Menschenkopf aus dem Schatten hervorbricht, kann das kindliche Vorstellungsvermögen endgültig keinen Unterschied mehr zwischen realem und fiktivem Geschehen machen. Black out. Als das Kind die Augen wieder öffnet, steht, statt des Untiers mit Menschenkopf, ein Mönch in grauer Kutte da. Ein heiliger Mann der Kirche. Ein Garant des Guten, der Vertrauen einflößen sollte. Aber die Angst hört nicht auf. Sie setzt sich fort. Provoziert sie das Wissen, dass in übler Verkehrung des Heiligen der Böse in der Kutte steckt? Ist es der implizite Hohn über die Allmacht Gottes, der unausgesprochen in der Erscheinung des Teufels

Black out

mitschwingt, der sich durch die Aneignung einer Mönchsgestalt zum Souverän über ein pervertiertes Gutes aufwirft? Ist es das, was dem Kind unter die Haut geht, was subkutan verstörend wirkt? Der kindliche Glaube an das Gute und an seine tradierten Bilder ist noch ungebrochen. Sein Lebensgefühl ist verlässlich bestimmt und durchstimmt von der Erfahrung, dass die Erde trägt, die Sonne scheint, man am Morgen wieder aufwacht, gesund und wohlauf, aber vor allem, dass man zu Hause bedingungslos in die Arme genommen wird und unterkriechen kann. Aber die Verkehrung des Bösen in die scheinheilige Maske des Guten trifft nicht die tiefste Angst des Kindes. Die sitzt woanders. Da ist eine Gestalt. Aber kein Gesicht. – – – Warum verbirgt der Mönch sein Gesicht – – – was lauert da, was verhüllt sich im Verborgenen unter der spitzen Kapuze – – – eine Fratze, ein Dämon – – – oder statt einer Fratze – – – uncanny and gloomy – – – nichts – – – einfach nichts – – – griffe man ins Leere – – – nach der sich wider Willen die eigene Hand ausstreckt – – – in eine Leere, die zupackt – – – in die man gegen allen Widerstand gesogen würde – – – gesogen wird – – – Es ist die Leerstelle, die das Kind aus der Fassung bringt, die Leerstelle, die gebieterisch das Unheimliche* erregt. Ausgeliefert

* Freud, Sigmund: Das Unheimliche, in: ders., Psychologische Schriften, Frankfurt a. M.: S.

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zu sein an eine gesichtslose Macht, die sieht, ohne selbst gesehen zu werden. »Dieser gespenstische jemand anders sieht uns an und wir fühlen uns von ihm angesehen.«* Derrida nennt dieses Zeichen höchster Macht den Visier-Effekt. Die Phantasie öffnet ihre Schleusen. Nonstop kreiert sie Bilder. Sie peinigen physisch. Es ist kaum auszuhalten. Fausts letzter Tag ist gekommen. Nach einem Abschiedsmahl für sich und seine Freunde sagt er Adieu und schließt sich in seine Studierstube ein. Mitternacht ist nahe. Es gibt keinen Ausweg. Kein ewig Weibliches gibt Hoffnung, keine Arme werden sich schützend um ihn schlingen. Auf den Faust der Sage wartet ewige Verdammnis, das ist das Grässliche, das Perverse der Vorstellung einer Hölle. Die Kirchturmuhr hat zu schlagen begonnen – – – Mitternacht ist fast erreicht – – – eins, zwei, drei – – – mit dem letzten Schlag, pünktlich um zwölf, wird die Seele Fausts auf immer und ewig in die Hölle fahren – – – nichts kann ihn retten – – – vier, fünf,

Fischer Verlag 1989, Studienausgabe Band 4, S. 245–250. Freud untersucht in unterschiedlichen Fremdsprachen die Bedeutungen für das Wort unheimlich und setzt es anschließend in Kontrast zu den Bedeutungen des Wortes heimlich oder auch heimelich, heimelig. * Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1995, S. 23–25.

Black out

sechs – – – unaufhaltsam rückt die Zeit vor, nichts hält die Chronologie der Schläge auf – – – sieben, acht, neun – – – ein Gewitter beginnt in Fausts Studierstube zu toben – – – ein Gewitter in einer Stube? – – – wüste Hilfeschreie – – – zehn, elf, zwölf. Black out. Den Kopf nach unten, die Arme schützend um ihn geschlungen, findet sich das Kind in seinen Sessel gekauert beim Applaus, dem Geschrei und dem Gelächter der anderen Kinder wieder.

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Part II Experten des Seins?

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Das Fabeltier Akteur

Warum wollen Sie Schauspieler werden? Zurück zur allerersten Seite und der verbrauchten wie stimulierenden Frage: Warum wollen Sie Schauspieler werden? Zurück zu der anfänglichen Kaskade möglicher und unmöglicher Gründe für diesen Wunsch, für diesen Traum, für dieses Glück, für dieses Unglück. Ungeniert und ungebremst, wirklichkeitsnah und wirklichkeitsfremd ergossen sich die freien Assoziationen. Sitzend versteht sich, nicht liegend. Am Computer, nicht auf der Couch. Auch wenn die Berggasse 19 nicht weit ist. Warum und von wem sich auch hemmen lassen? Der freie Gedankenfluss bedarf keiner Camouflage. Die Notzeiten der Zensur sind vorüber. Zumindest in aufgeklärten Zonen. Heißt es. Also. Warum sich Zwang antun. Warum sollte die Kunst, und mit ihr der Künstler, sich nicht unzeitgemäß versprechen? – Im Versprecher sind die Schauspieler ja zu Hause, mit ihm sind sie vertraut. Ob im banalen Lapsus der eigenen Zunge, die sich verhaspelt, oder im verhängnisvoll Fatalen, für das Penthesilea, angesichts des von ihr selbst grausam blutig zerrissenen Achill, nur mehr Worte bleiben wie: »So war es ein Versehen, Küsse, Bisse, Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, Kann schon das eine für das andere greifen.

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[…] Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen, Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin.« 38 Gehört das (Sich-)Versprechen also ohnehin in den theatralen Alltag, warum sollte sich dann das Phantasieren über Sinn und Selbstzweck des Akteurs zügeln? Warum daher nicht, wie ganz zu Beginn dieses Textes, von einer Hinkunft wie einer Herkunft des Schauspielers faseln, in der er als Fabeltier der Wahrheit angefragt ist? Warum nicht das Pathos seines Begreifens, seinen nous pathetikos, im Spiel mit der Wahrheit als »Pathos des Begreifens der zu sich selbst zurückkehrenden Existenz« 39 lesen – im Sinne einer Erinnerungsstätte und Maß-Gabe an das, was wir unserer Existenz nach einmal geworden sein könnten. Warum nicht? Wegen der Macht der herrschenden Diskurse? Der alten, der neuen, der neuesten? (ungläubig) Wie? Jede Zeit hat ihr Diktat? Aber nein! (nun mit leicht mokant aufgeworfenem Mund) Wie bitte? Jede Zeit hat ihre heiligen Kühe? (lachend) Bullshit!

Na, dann: Der Akteur – also ein Fabeltier der Wahrheit? Nein, kein Tier in einer Fabel (auch wenn Reineke Fuchs und Konsorten keine schlechten Rollen abgäben), sondern seiner Profession nach selbst fabelhaft. – Was fällt einem bei dem Wort Fabel ei-

38 Kleist, Heinrich von: Penthesilea, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 19682, Dramen II, 24. Auftritt, S. 256. 39 Klossowski, Pierre: »Nietzsche, Polytheismus und Parodie«, in: Hamacher, Werner (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Essays von Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Bernard Paurat, Frankfurt a. M.: Ullstein Verlag 1986, S. 27.

Das Fabeltier Akteur

gentlich alles ein, ohne dabei den Schauspieler aus den Augen zu verlieren? Spontan meldet sich da: Geschichte, erfundene, fiktive Geschichte, Lügengeschichte, Erdichtung. – Passt. – Von fabelhaft war schon die Rede. Es schillert zwischen großartig, unglaublich, phantastisch. – Passt. – Weiters fabulieren. – Passt. – Auch das ein wenig fremdere fabeln, das sich etymologisch von Geschichten ersinnen und erzählen zu lügen verschoben hat – passt. Apropos Etymologie. Von seinem Ursprung her stammt »Fabel fabula […] aus dem lateinischen Verb fari, was zugleich vorhersagen und faseln bedeutet, das Schicksal vorhersagen und faseln, denn fatum, das Schicksal, ist auch das Partizip Perfekt von fari.« 40 Jetzt wird es dubios. Bitte, was sagt der Schauspieler schicksalhaft voraus? Die Schuld des Ödipus? Oder Lears Wahnsinn? Oder das Ende bürgerlichen Bildungstheaters? Oder das einer gleichgültig gewordenen Konsumgesellschaft? Oder, oder, oder? Die Assoziationen zu dem Wort Fabel enden oder gipfeln in Nietzsches viel zitiertem Aphorismus: Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde. 41 In dieser Geschichte eines Irrtums wird in Analogie zur Erschaffung der Welt in sechs Tagen erzählt, wie die Welt in sechs Phasen der Geschichte wieder verschwindet. Sukzessive heben sich nämlich mit der Zeit die sinnliche Welt der Erscheinungen und die übersinnliche Welt der Ideen allmählich ineinander auf, und am Ende, am großen Mittag, sind die zwei Welten, die wahre und die scheinbare, ineinander gestürzt, ineinander verschwunden, abgeschafft. Die Welt wurde refabulisiert. Sie ist wieder erzähltes Ereignis geworden. Sie ist wieder – in vielfältigen Varianten und Variationen, in denen ihr Los fällt und sich ihre Glücks- oder Unglücksräder drehen – fabelhaft geworden.

40 Ebd., S. 22. 41 F. Nietzsche: KSA 6, S. 80–81.

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»Wenn man also sagt, dass die Welt zur Fabel geworden ist, so sagt man auch, dass sie das fatum ist, man faselt, aber faselnd sagt man wahr, man sagt das Schicksal voraus.« 42 Verhält es sich so, dass die Welt als unser Geschick, barmherzig oder unbarmherzig, nur in Fabeln einherrollt, ja, sie allein nur im Ereignishaften des Fabelns existiert – – – was ist dann einer, dessen Kunst ausgerechnet darin besteht, von der Welt und unserem Schicksal in der Welt live zu erzählen? Angenommen der Schauspieler ist (eventuell) mehr, als Nietzsche von ihm hält, wenn er in der Morgenröte, seiner Gedankensammlung über moralische Vorurteile, von den Schauspielern sagt: »Sie dringen bis nahe an die Seele, aber nicht bis in den Geist ihrer Objecte. […] Vergessen wir doch nie, […] dass der Schauspieler eben ein idealer Affe ist und so sehr Affe, dass er an das ›Wesen‹ und das ›Wesentliche‹ gar nicht zu glauben vermag: Alles wird ihm Spiel, Ton, Gebärde, Bühne, Kulisse und Publikum.« 43 Also, angenommen ein Schauspieler kann (eventuell) mehr sein als eben so ein idealer Affe, der alles großartig nachzuahmen weiß, was vermag ein Schauspieler darüber hinaus (eventuell) mehr? Das wäre in Hinblick auf das Wort Fabel und seine Bedeutungen näher zu erfragen. – Versuchsweise mit ein wenig mehr Morgenröte, Herr Professor Nietzsche? Moralist ist der Schauspieler im Allgemeinen keiner. Mit dem lehrhaft moralischen fabula docet der antiken Tierfabeln, die lange zum bürgerlichen Bildungskanon gehörten, hat er wenig zu tun. Badness or goodness sind für ihn primär willkommene Spielvorlagen und keine moralischen Problemstellungen. – Warum aber nicht trotzdem einmal eine bekannte Tierfabel zum Ausgang außermoralischen Fragens 44 machen? Zum Beispiel

42 P. Klossowski: Nietzsche, Polytheismus und Parodie, S. 22. 43 F. Nietzsche: Philosophie der Schauspieler, KSA 3, S. 231. 44 F. Nietzsche: KSA 1, S. 875–890.

Das Fabeltier Akteur

könnte man versuchen, die Fabel vom Wettlauf zwischen Hase und Igel in Hinsicht auf das Verhältnis des Schauspielers zu Wahrheit, Lüge und Fiktion zu lesen. Was passiert da? Hase und Igel haben gewettet, wer schneller laufen kann. Die Wette scheint unsinnig, das Resultat besiegelt. Aber der schlaue Igel startet nur zum Schein den für ihn aussichtslosen Lauf, denn im Ziel hat er schon seine Frau positioniert, die dort auf Meister Langbein wartet. Der aber kann keinen Unterschied zwischen den beiden Igeln wahrnehmen, sieht doch »bekanntlich den Swinegel sien Fro jüst so uut wie ehr Mann« 45. So gewinnt der Igel, trotz seiner viel zu kurzen Beine, den Wettlauf triumphal. Der Hase will das nicht glauben. Er besteht auf einer Wiederholung und treibt seinen Blindlauf um Identität bis hin zum eigenen Erschöpfungstod, da er nie imstande ist, den »wahren« Igel vom »falschen« zu unterscheiden. In Bezug auf das Theater könnte diese Fabel auf die Frage zugespitzt werden, ob es denn für den Schauspieler einen ähnlichen »Blindlauf um Identität« gibt, an dem auch er sich, ohne Aussicht zu gewinnen, bis hin zum Zeitpunkt seines Todes abrackert. Sitzt nicht der Schauspieler in einer ähnlichen Klemme wie der übrigens äußerst arrogante Hase? Allerdings in einer Klemme mit sich selbst. Ist er nicht Hase und Igel in einer Person, ständig im Wettstreit mit sich selbst? Quasi sein eigener Gegner, blind mit sich selbst geschlagen – – – weil er selbst lokale Stätte, Medium und Mittler seines Spiels ist. Weil er selbst mit Haut und Haaren, Aug, Nase, Mund und Ohr auf seine eigene komplexe Existenz angewiesen und rückverwiesen ist, aber im Spielen seiner selbst nie ansichtig werden kann. Faktisch wie metaphorisch. Explodieren dadurch nicht jede Menge Fragwürdigkeiten im Akteur, und seien sie noch so vage. Wie verhält es sich eigentlich im Spielen mit dem eigenen Ich? Wie mit dem der Anderen? Wie

45 Ebd., S. 766.

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mit dem der Figur und meinem Verhältnis zu ihr, wie mit den Figuren der anderen Spieler und meinem Verhältnis zu ihnen, einmal als Figur und einmal als ich selbst. Aber noch weitaus befremdlicher, wie verhält es sich überhaupt mit dem eigenen Ich? »O wer einmal jemand Anders sein könnte! Nur ’ne Minute lang«, 46 wünscht sich Büchners Leonce. Dann wäre ihm geholfen. Alleine, gesellt sich nicht andererseits diesem Wunsch ein gegenläufiges Verhängnis zur Seite, wo es gerade umgekehrt heißt: »Je est un autre.« 47 Geistert nicht sogar eine Unzahl von Personen in mir herum, die aus mir sprechen und im Dunklen ihren Un-Fug treiben? Darunter nicht wenige mit heruntergelassenem Visier? Also bin ich viele? Wer geriete über all das nicht kopfüber, rücklings und bäuchlings in einen Notstand wie ein armer Hase? Wer verwirrte sich nicht in einen Irrlauf, in einen Blindlauf, weil die Begriffe des aufgeklärten Bewusstseins, kritische Reflexion und logische Analyse, plötzlich nicht mehr ausreichen, um Herr der Lage zu sein? Im Spielen rückt dem Akteur, allem emanzipatorischen Votum zum Trotz, das dunkle, verdrängte Pathos des Begreifens zu Leibe, dem wenig Reputation zukommt. Aber eigensinnig greift es den Akteur an. Buchstäblich. Attackiert ihn. Stößt ihn in »dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist« 48, wie Goethe in einem seiner Gespräche über das Dämonische zu Eckermann formuliert. Womit nicht Mephistopheles gemeint sei, betont er, der trüge viel zu negative Züge. Nichts liege ihm daher bei der Nennung des Dämonischen ferner als Mephistos nihilistische Rede, dass alles, was entstehe, wert sei, dass es zugrunde

46 Büchner, Georg: Leonce und Lena, historisch-kritische Ausgabe, Hanser 1, Hamburg: Christian Wegner Verlag 1967, 1. Akt, 1. Szene, S. 106. 47 Rimbaud, Arthur: Lettre du voyant, Brief an Paul Demeny, 15. Mai 1871, in: Jens, Walter (Hg.), Neues Literatur-Lexikon, München: Kindler Verlag 1996, Bd. 14, S. 156. 48 Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe, München: dtv 1976, 2. März 1831, S. 469.

Das Fabeltier Akteur

gehe. Vielmehr wäre das Dämonische, so Goethe, eine positive, eine affirmative, das heißt eine schöpferische Kraft. Von hier jetzt zurück zur Frage, warum jemand Schauspieler werden möchte: Übt nicht in der Tat das Daimonische, diese dubiose, affektgeladene Zone, dieses durch Vernunft nicht auflösbare Un-Erhörte, eine subtil verführerische, erotische Wirkung auf die Entstehung des Wunsches aus, Schauspieler zu werden? Ist nicht der kreative Befreiungsschlag, dass A nicht gleich A sein muss, sondern auch A plus n sein kann, die tiefste Lust und die tiefste Faszination des Bühnengeschehens? Ist nicht gleichermaßen das Daimonische als erotischer Akt des Spielens, in dem sich das Heim(e)liche und das Unheimliche 49 paaren, der besondere Eros der Akteure? Ist es nicht genau dieser Eros, der letztendlich auf die Zuschauer wirkt? Eros als der viel gerufene große Daimon der Griechen, Eros als Medium, Mitte, Mittler und Vermittler zwischen Wissen und Unwissenheit, zwischen Erscheinungen und Ideen, der die Kluft ausfüllt, »so dass das All in sich verbunden ist« 50. Unverzichtbar für die Kraft und das Auratische allen Theaters, dessen Ereignis die Zuschauer wahrnehmen. Vielleicht könnte man den Schauspieler als Fabeltier der Wahrheit, in Hinblick auf die gemeinsame Wurzel von fabula und fatum, so beschreiben: Der Schauspieler als Fabeltier erzählt von der Ausgesetztheit als menschlichem Geschick in der Welt, in das wir exponiert sind. Aber nicht alleine in der Handlung einer Geschichte, von der er berichtet und deren schicksalhafte Fäden dem Zuschauer in ihrer Aufführung anschaulich werden. Sondern der Akteur selbst als Handelnder wird zur leibhaftigen, anschaulichen

49 Hier sei nochmals an Sigmund Freud erinnert und an seine lange Auseinandersetzung mit der Etymologie des Wortes »unheimlich«. Vgl. S. Freud: Das Unheimliche, S. 244–250. 50 Platon: Symposion, München: dtv 1975, S. 150.

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Stätte für das fragile Exponiert-Sein, das sich in ihm eine Maske, ein Gesicht, einen Namen sucht. Wie zur Erinnerung. Wie zur Erinnerung vor den Augen und den Ohren anderer an das anstößige Spektakel unseres Daseins. Dann wäre die Dämonie der Schauspieler, Kuppler des Heim(e) lichen und des Unheimlichen zu sein? Sie wären Eroten des Fatalen unserer Existenz, von der sie als ihre aisthetische Tat, im Pathos des Begreifens on stage lachend, fluchend, mordend, hurend, stammelnd, betend, liebend, wahr sagten: Dass wir ihr nicht auskommen können. Dass wir sie nur bejahen, dass wir sie nur souverän spielend, re-signieren können.

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Olimpias Kuss Die Zusammenkunft von Mensch und Maschine, von Lebendigem und Künstlichem, durchzieht nicht nur die Geschichte der Wissenschaften, sondern von jeher auch die Künste, die Literatur, das Theater. Sie fasziniert und befremdet. Sie wirkt vielverheißend wie vielverderbend. »Ach – Ach – Ach!«, seufzt die schöne Olimpia zum Entzücken des Studenten Nathaniel auf alle seine Liebesschwüre und sieht ihm »unverrückt ins Auge«. Wie könnte Olimpia auch anders als unverrückt schauen? Sie, die Puppe, die Gliederpuppe, die Maschine, die prothetische Kunstfigur. Aber von Liebeswahn geblendet, nimmt Nathaniel die Starre ihres Blicks nicht wahr. Er sieht nicht, dass er in tote Augen schaut, dass Olimpia seinen Blick nicht erwidert, dass er ins Leere schaut. Im Gegenteil. Der tote Blick des schönen Automaten wird seiner verzerrten Wahrnehmung zum Phantasma seiner Liebe. Nur von ihr allein fühlt er sich ganz und gar verstanden: »O du herrliche, himmlische Frau! – du Strahl aus dem verheißenen Jenseits der Liebe – du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt« 51, das und noch mehr flüstert er hingerissen und seine glühenden Lippen

51 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Der Sandmann, in: Meistererzählungen, Zürich: Diogenes 1994, S. 131.

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begegnen den ihren. Da durchzuckt es ihn eiskalt. Inneres Grausen erfasst ihn plötzlich und die Legende von der toten Braut geht ihm durch den Sinn. – So steht es bei E. T. A. Hoffmanns Nachtstück Der Sandmann, das Sigmund Freud 52 als Beispiel zu seiner Interpretation des Unheimlichen dient. Endlich ein Kuss. Endlich! So lange phantasiert, so heiß begehrt – und dann, statt eines blutvoll warmen, weichen Mundes Lippen kalt wie Eis, gefühllos, leblos, totengleich. Spontan wirkt die Vorstellung eines solchen Kusses abstoßend, und je plastischer sie wird, desto ekelhafter wird sie. Sie kriecht regelrecht unter die Haut. Wie von selbst kräuseln sich Mund und Nase, reckt sich der Gaumen und man schüttelt sich unwillkürlich, um den widerwärtigen Eindruck förmlich abzuschütteln. Nathaniel übergeht alle diese Signale, die alarmierend durch seinen Körper hindurchstreichen. Das hat fatale Folgen. Unbemerkt verkehrt sich ihm so der Kuss als Liebesversprechen in einen Kuss als Todesversprechen. Sein verblendeter Liebesblick in Olimpias leere Augen wird zum Vorausblick in den eigenen Tod, zum Augen-Blick in eine Totenmaske 53 als einem übersehenen memento mori. Das Ende der Geschichte bestätigt es. Ihr letales Verhängnis nimmt seinen Lauf. Nachdem Nathaniel seinen Schock, dass sich das himmlische Antlitz Olimpias als augenloses Wachsgesicht eines Automaten entpuppt hatte, überstanden zu haben scheint, steht er mit Klara, seiner nüchtern klugen Braut, glücklich wiedervereint auf dem höchsten Plateau des Ratsturms, der seinen dunklen Schatten riesengroß über den Markt wirft. Ein unseliger Blick durch das zufällig zur Hand genommene Perspektiv 54 – – – und neuerlich packt Nathaniel das Delirium. In

52 S. Freud: Das Unheimliche, S. 250–257. 53 Nancy, Jean-Luc: Die Totenmaske. Vom Tod zum Tod, in: ders., Am Grund der Bilder, Zürich–Berlin: diaphanes 2006, S. 149–161. 54 »Nathaniel fasste mechanisch nach der Seitentasche; er fand Coppolas Perspektiv, er schaute seitwärts – Clara stand vor dem Glase! – Da durch-

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wahnhafter Verwechslung mit dem Automaten Olimpia will er Klara vom Turm schleudern. Erst im allerletzten Moment kann sie durch ihren Bruder gerettet werden. An ihrer Statt stürzt sich Nathaniel in die Tiefe. So findet der Mensch Nathaniel in einem Todessprung mit zerschmettertem Körper sein Ende, ebenso wie die Puppe Olimpia mit zerrissenen Gliedern im wütenden Streit ihrer beiden Erzeuger ihr Ende findet. Die Differenz? Ein blutiges und ein unblutiges Ende. Einmal haucht ein Mensch seinen Atem aus, einmal geht die Mechanik eines Automaten zu Bruch.

Maschine contra Fleisch Die Entkörperung des Menschen via Technisierung, Medialisierung, Virtualisierung ist längst explodiert. In den Natur wissenschaften. In den Künsten. Im Alltag. Positiv, negativ. Fragen rufen sich auf. Schlagworte und Polemiken rufen sich ab. Schauspieler gegen Avatare? Armes Theater gegen reiches? Theatermaschinen gegen den leeren Raum? Anonymisierung durch Verwaltungsapparate. Kafkaeske Endlosschleifen bei telefonischen Anfragen. Wenn Sie … drücken Sie auf Taste 1, wenn Sie … drücken Sie auf Taste 2, wenn Sie, wenn Sie, wenn Sie, drücken Sie, drücken Sie, Taste 3, 4, 5, … haben Sie noch ein wenig Geduld, Sie werden sofort … tut, tut, tut tut, tut –. Transplantation, Organhandel, Gentechnik, Reduplikation des Menschen, endlos an Maschinen angeschlossene Patienten. Neuestens ist »Tagging«

zuckte es krampfhaft in seinen Pulsen und Adern – totenbleich starrte er Clara an, aber bald glühten und sprühten Feuerströme durch die rollenden Augen, grässlich brüllte er auf, wie ein gehetztes Tier; dann sprang er hoch in die Lüfte und grausig dazwischen lachend schrie er in schneidendem Ton: ›Holzpüppchen dreh dich – Holzpüppchen dreh dich‹ – und mit gewaltiger Kraft wollte er Clara herabschleudern.« Aus: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, S. 138.

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oder »Chipping« hip. Für bestimmte Clubbings 55 kann man sich (bei Tieren längst üblich) einen Mikrochip unter die Haut implantieren lassen. Das bringt VIP-Status, erspart Kreditkarte oder Barzahlung. Big Brother smiles. Was ruft sich noch ab? Artificial Intelligence, Computerspiele, die Online-Welten von Second Life, Bloggen in Twitter oder Facebook, Cybersex. To fake reality is a hit. Der künstliche Mensch, die maßgebliche Perspektive der Evolution? Traum, Phantom, Schattenbild, Engel, Übermensch, Dämon, Golem, Frankenstein, Roboter, Cyborg, Hybrid, Avatar? Werden die alten Bücher der Verwandlung, Ovids Metamorphosen, zu neuen Mythen tropisch gewendet? Vielleicht als Manifest Donna Haraways? Ist zum Beispiel Lara Croft, die ikonenhafte Spielfigur, eine feministische Variante Olimpias? Verführerisch schön, verführerisch perfekt. Ein weibliches Ideal. Wie viele Nathaniels ihr wohl schon blind erlegen sind? Virtuell, wohlgemerkt, nicht real. Real lägen sie nämlich zerschmettert am Beton, in einer Blutlache, schmerzhaft verzerrt, ein toter Fleischklumpen. Vielleicht ist ihr Schädel geplatzt und das Gehirn ausgetreten. Kein schöner Anblick. Nein. No fake of reality. A real hit. A painful hit. A deathly hit. Ach – Ach – Ach! So aber, im Virtuellen gesichert, ohne Risiko leibhaftiger Begegnung und ihrer unkontrollierbaren Folgen, sitzen die Anbeter in einem meist bequemen Sessel vor dem Computer, vielleicht schwitzen ihre Hände ein wenig, oder vielleicht macht sich sonst, irgendwo, in ihrem Körper eine Erregung spürbar, na gut, klar, der Screen ist ihr Perspektiv 56, das ihnen weibliche Schönheit imaginiert.

55 Unter anderem in Holland (Rotterdam), Spanien (Barcelona: Baja Beach Club), Schottland (Edinburgh: Bar Soba) und den USA (Miami: Amika Nightclub). http://www.heise.de/tp/r4/artikel/17/17707/1.html vom 04.05.2010. 56 »Er ergriff ein kleines sehr sauber gearbeitetes Taschenperspektiv und sah, um es zu prüfen, unwillkürlich in Spalazanis Zimmer; Olimpia saß, wie gewöhnlich, vor dem kleinen Tisch, die Arme darauf gelegt, die Hände gefaltet. – Nun erschaute Nathaniel erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und tot. Doch wie er immer schärfer

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Aber im Unterschied zu Nathaniel klicken sie zum guten Schluss mit der Maus auf Aus, das Programm fährt herunter, der Bildschirm wird dunkel, die Maschine schaltet sich ab – und sie sind nicht schmerzvoll in den Tod gestürzt. Sie leben und atmen, unter ihnen ist keine Blutlache, höchstens ein nasser Cola- oder Bierfleck, oder sonst einer.

Der Trumpf des Schauspielers Die zentrale Chiffre des Theaters ist die Physis des Schauspielers. Sein sinnlicher Körper. Seine singuläre körperliche Präsenz aus Fleisch und Blut, die ausgesetzte Verletzlichkeit eines Leibes, der einen Namen hat und dieses eine Leben. Auch wenn der menschliche Körper durch technische Reproduzierbarkeit und virtuelle Simulation in anderen spannenden Formaten und theatralen Formen vervielfältigt und fingiert werden kann, bis hin zu seiner völligen Leerstelle, die den Akteur nur mehr als Abwesenden in Erscheinung bringt 57, der anwesende Akteur bleibt das spezifische Faszinosum des Theaters. Widerborstig insistiert das Theater, trotz des kulturellen Phänomens steigender Entsinnlichung, auf die physische Anwesenheit der Schauspieler und damit auf das Eigensinnige des Körpers und auf die Verwundbarkeit des Fleisches. On stage kann der Körper und seine exponierte Blöße weder verdrängt noch als fake tabuisiert werden. Sie wird anschaulich. So oder so. Im Spielen riskiert der Schauspieler nicht weniger als Kopf und Kragen. Spielen ohne Netz nennt man das. Jetzt kann man

und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. Nathaniel lag wie festgezaubert im Fenster, immer fort und fort die himmlisch-schöne Olimpia betrachtend.« Aus: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, S. 127–128. 57 Siehe zum Beispiel Martin Arnolds High Noon Loop, Deanimated: The In visible Ghost oder Heiner Goebbels’ neues Musiktheaterstück Stifters Dinge.

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natürlich müde lächeln. Bitte, welcher Schauspieler riskiert schon sein Leben? Solche Ereignisse finden in anderen Arenen statt. Blutig, grausam, tatsächlich letal. Sicherlich. Das ist evident. Trotzdem. In seiner Arena, der Bühne, setzt der Schauspieler nicht weniger als sich selbst mit Haut und Haaren aufs Spiel. Das ist sein Einsatz, wenn die Glückskugel rollt. Zwar steht er nicht in der Gefahr, wenn er fehltritt, wie ein Seiltänzer, sich zu Tode zu stürzen, aber er ist gefährdeter, als es sich anhört. Selbst wenn nur Theaterblut fließt, selbst wenn die Toten nach dem Ende der Vorstellung gleich wieder auferstehen und sich zum Applaus verbeugen, man könnte dennoch das Spiel mit der Wahrheit als eine Art physisch gewalttätigen Akt beschreiben. Vielleicht als einen Akt des Durchlöcherns der Haut. Warum? Acting verlangt, dass der Körper sich seiner Porösität erinnert. Dass er sie aktualisiert, er wieder durchlässig wird, sich alle seine Sinne aufschließen. Das benötigt Durchschlagskraft. Das Brett vor dem Kopf, die Schutzschilder der Konventionen müss(t)en zerschlagen werden, einverleibte Ressentiments aufgebrochen. Augen und Ohren müss(t)en aufgehen, um ganz Aug und Ohr sein zu können. Atem und Sprache müss(t)en ebenso wie die Bewegungen unblockiert fließen, und und und und. Das in der Praxis zu realisieren, ist überraschend problematischer, zäher und weitaus entblößender als in seiner theoretischen Reflexion. Die europäische Geschichte der Auslegung des Subjekts hat die Analytik des Denkens favorisiert und die Ekstatik der Physis vernachlässigt. Das wird auf jeder Bühne und auf jedem öffentlichen Podium anschaulich. Bei allen, die es betreten, und für alle, deren Blick sich einmal für die Sprache der Körper und nicht nur für die der Diskurse geschärft hat. Beim Schauspieler wird es exemplarisch. Weder kann er seinen Körper ausblenden noch ihn absolut beherrschen. Er ist per se seiner Instabilität und Fragilität sensitiv ausgesetzt. Leibhaftig erfährt er, dass er weder in der Lage der Gliederpuppe ist, um in den Bildern von Kleists Marionettentheater zu bleiben, die frei schwebend der Trägheit der Materie widersteht, noch in der des fechtenden Bären, der unbeirrbar keinerlei Täuschungen unterliegt. Es wird ihm schmerzlich fühlbar, dass er auf der Seite des Jünglings

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steht, der sich der Gabe seiner unschuldigen Grazie bewusst wird, daraufhin ihrer sichergehen will und in ihrer wiederholten Demonstration versucht, sich und den anderen zu beweisen, dass er sie besitzt. Darüber verliert er sie zu seinem Unglück ganz. »Er war außerstand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen. […] Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen.« 58 Es ist nicht zu übersehen und durch nichts wegzuwischen. Die Exposition auf der Bühne setzt alle Akteure der Unsicherheit aus, der Angst und, wenn man es so nennen will, dem Schmerz illusionärer Allmacht. Heiner Müller geht sogar so weit zu sagen, dass das Theater – auch und vor allem – Spieler wie Zuschauer dem Sterben aussetzt. In einem seiner Gespräche mit Alexander Kluge heißt es: »Das Wesentliche am Theater ist die Verwandlung. Das Sterben. Und die Angst vor dieser letzten Verwandlung ist allgemein, auf die kann man sich verlassen, auf die kann man bauen. Das ist auch die Angst des Schauspielers und die Angst des Zuschauers. Das Spezifische am Theater ist eben nicht die Präsenz des lebenden Schauspielers oder des lebenden Zuschauers, sondern die Präsenz des potentiell Sterbenden.« 59 Die Bühne als ein Ort, der wieder bis zur Sterblichkeit hin welt weit porös machen kann, ist ein unübersehbarer Trumpf des Theaters. Indem on stage die exponierte Lage des Menschen und die Verletzlichkeit des Fleisches am Körper der Akteure demonstrativ vor Augen geführt und im Glücksfall dadurch in

58 Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater, in: ders., Sämtliche Werke, München: dtv 1964, Band 5, S. 76. 59 A. Kluge/H. Müller: Ich bin ein Landvermesser, S. 95.

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Erinnerung gerufen wird, erobert sie dem Körper seinen Eigensinn und seine Dignität zurück, die ihm auf Grund seiner Geburt zukommen müssten. In seiner Abstraktion und in seiner medialen Maskierung wird er so rasch und so leicht übersehen und oft so brutal missachtet. Seine Verwundbarkeit und seine Sterblichkeit rücken uns nicht mehr zu Leibe. Sie gehen uns nicht mehr nahe. Sie bleiben abstrakt und ein bloß theoretischer Faktor. Extreme postdramatische Formate stellen als Signal und Mahnung für die Blöße unserer Existenz den Schmerz im Körper direkt zur Schau. Sie exponieren den deformierten, den gequälten, den für Performer und Zuschauer bis zur Unerträglichkeit vom Schmerz heimgesuchten Körper. Sie treiben ihn bis an die Grenze seiner letalen Gefährdung. 60 Archaische Akte, dionysisch-bacchantisch inspiriert. Das kann man beurteilen, wie man will. Jede Suche, jede Beschwörung, jede Provokation des anstößigen Ereignischarakters der Kunst geht ihren eigenen Weg. Falls sie ihn überhaupt gehen will. Nicht überall wird dabei der Schauspieler benötigt. Seine Stelle kann und wird auch von anderen Künstlern aus anderen Sparten ersetzt. Oder in anderen, weniger bedrohlichen theatralen Konzepten von willigen Laien, von Experten der Wirklichkeit, die im Alltag und nicht in den performativen Künsten verortet sind. Theatrale Konzepte, deren ästhetisches oder politisches Programm andere Prioritäten setzt als die des leibhaftigen »Begreifens der zu sich selbst zurückkehrenden Existenz« 61. Das ist nicht jedermanns Sache. So be free, Mrs & Mr Jedermann, to download your private lives on stage.

60 Wiener Aktionismus. Oder u.a. Mariana Abramovic, in Lips of Thomas oder Rhythm 0, die Gruppe Societas Raffaeolo Sanzio oder der amerikanische Performance-Künstler Chris Burden in Five-Day-Locker-Piece, Shoot oder Through Night Softly. In: E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 146–157. 61 P. Klossowski: Nietzsche, Polytheismus und Parodie, S. 27.

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Dieser Text will explizit nach dem professionellen Schauspieler fragen. Nach seinem Pathos. Nach seinem Schmerz. Nach seinem Glück, nach seinem Unglück. Nach der Verwundbarkeit seines Fleisches. Nach seiner dionysischen Zerrissenheit. Nach seinem speziellen Vermögen. Nach seiner besonderen Kunst.

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Wir neigen oftmals dazu, zu denken, dass der Körper eine Substanz ist, dass Körper Substanz ist. Und ihm gegenüber, oder woanders, in einer anderen Ordnung, gäbe es noch etwas anderes, zum Beispiel Subjekt, was keine Substanz ist. Was ich zeigen möchte, ist, dass der Körper, wenn es so etwas gibt wie den Körper, keine Substanz ist, sondern eben genau Subjekt.

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Der Hüpfer Schauspieler tanzen gerne aus der Reihe. Nicht unbedingt vorsätzlich aus politischem oder sonstigem inhaltlichen Protest, das gehört vielleicht nicht gerade zu ihren Stärken, sondern ganz einfach deswegen, weil sie sich nicht brav domestizieren lassen wollen. Es ist auch schwer mit Kreativität vereinbar, von diversen möglichen und unmöglichen gesellschaftlich vorgegebenen Regelwerken gezügelt zu werden. Kreativität beinhaltet immer auch das Brechen von Regeln. Ohne Bruchstellen und Lücken, ohne Lust und Notwendigkeit eines Surplus an Unabhängigkeit und Freiheit ist kaum eine künstlerische Arbeit denkbar. Was treibt nun Schauspieler im Besonderen dazu, Ordnungen zu übertreten und sich den Zwängen von Konformität zu widersetzen? Gibt es einen allgemeinen Hang an ihnen zu beobachten, der sie zu ihrem spezifischen »Ungehorsam« drängt? Hört man genauer auf das Idiom aus der Reihe tanzen, fällt auf, dass seine Bedeutung von Störung in Verbindung mit dem Verb tanzen gebracht wird. Abgesehen davon, dass sich diese Redewendung tatsächlich vom Tanz, vom Reigentanz, herleitet, bei dem sich die Tanzenden nach Vorschrift in Reihen zu bewegen haben, welches Bild signalisiert diese Form der Störung, nimmt man sie wörtlich? Ein verschlossen grimmiges? Eines, das auf Konfrontation aus ist? Auf Streit, auf Kampf? Hebt da einer die geballte Faust oder zückt er die verborgene Waffe? Primär wohl

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kaum. Die Wendung visualisiert eher einen extra Tanzschritt aus einer Formation heraus, eher ein Sich-heraus-Drehen als ein Inden-Clinch-Gehen. Entsteht vor dem inneren Auge nicht sogar etwas wie ein kleiner Sprung? Ein Sprung zur Seite? Da tanzt einer oder eine ins verbotene Abseits. Einfach so. Einfach weil es Spaß macht und weil das brave Einhalten von Vorschriften so langweilig und so eintönig war. Wenn man möchte, kann man sich diesen kleinen Hüpfer auch noch mit einer arglosen Miene ausschmücken, oder mit einem still vergnügten Lächeln, das aus der Freude am Ungehörigen entsteht. Wird unter solchen Aspekten das Destruktive einer Störung nicht spielerisch gewendet zur musischen Dissonanz? So gelesen, bestünde der allgemeine Hang schauspielerischen Widerstands gegen Normen und festgelegte Regeln in einer Art tänzerischem Seitensprung, der unschuldig-schuldig Regeln durchbricht, weil Phantasie und Gestaltungsfreude dazu treiben. Er käme einem übermütigen Hüpfer gleich, ähnlich dem, der bei Kindern zu beobachten ist, die noch nicht normiert durchs Leben laufen und unbefangen verspielt ihrer Lebenslust Ausdruck verleihen. – Diesen kleinen »Hüpfer« oder »Hopser« erwähnt übrigens schon Platon. An allen jungen Lebewesen wäre eine Neigung zu beobachten, unvermutet und unbegründet zu hopsen und zu hüpfen und zu springen. »Dass alles sozusagen, was jung ist, weder seinen Körper noch seine Stimme in Ruhe zu halten vermöge, sondern stets teils durch Hüpfen und Springen, wie bei Aufführung ergötzlicher und fröhlicher Tänze, teils durch Anstimmen von Tönen aller Art sich zu regen und laut zu werden bestrebe.« 62 Vernünftige Erwachsene tun das landläufig nicht. Das gebietet der Anstand. Wäre ja peinlich. Sie benehmen sich gesittet, nicht närrisch. Das wird von ihnen erwartet und selbstverständlich entsprechen sie diesen Erwartungen. Sie tanzen

62 Platon: Nomoi, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, Band 4, 2. Buch, 653d, S. 190, Bilstein, Johannes: »Spiel-Glück und Glücks-Spiele«, in: Maske und Kothurn, Dies ist kein Spiel 4 (2008), S. 69.

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nicht aus der Reihe. Weit eher nach der Pfeife. Sie marschieren sogar in Reih und Glied, wenn man es anordnet, und lassen sich auch noch darauf drillen. Koste es, was es wolle. Kindern fällt das schwer. Es geht ihnen wider den Sinn. Es widerstrebt ihrer Bewegungslust, ihrem Spieltrieb. Werden sie nicht genötigt, gehorsam nebeneinander herzuschreiten, hopsen und tänzeln und tändeln sie weitaus lieber. Aus Spaß, aus Freude, aus Vergnügen. Aus dem Drang überfließender und überschäumender Energie, die weder ökonomisierbar noch verwaltbar ist. Auch nicht logisch nachvollziehbar. Der ungeplante, kleine extra »Hüpfer« geschieht ohne erkennbaren Grund, ohne bestimmten Zweck. Er hat seinen Zweck in sich. Wie Kunst und Freundschaft ihren Zweck in sich selbst haben. Zeichnet den Schauspieler als homo ludens nicht tatsächlich genau dieser spielerische Überfluss aus? Beruflich wie privat, im Habitus wie im Gemüt. Ist seine permanente Bereitschaft zu einem »Seitensprung« nicht eine ganz spezielle Quelle seiner Kreativität, die ihm die Gesellschaft halb bewundernd und beneidend, halb abschätzig zuerkennt? Max Reinhardts Sprache ist uns heute in Ton und Formulierung fremd bis befremdlich geworden. Wir sind empfindlich dagegen. Er ist nicht mehr der Mund für unsere Ohren. Trotzdem will an dieser Stelle eine Passage aus seiner berühmt gewordenen Rede über den Schauspieler, die er 1928 an der Columbia University gehalten hat, zitiert werden. Man kann sich ja das unnachahmliche Timbre Oskar Werners dazu imaginieren oder auch anhören 63, um durch seinen Genius leichter Zugang zu finden, falls der Gehör findet. Da heißt es: »Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters. Es ist der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich

63 Werner, Oskar: Rede über den Schauspieler, in: Wahrheit und Vermächtnis, BMG Wort 2000, 3 Audio-CDs.

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in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiterzuspielen.« 64 Ohne Sentiment gesprochen, was thematisiert Max Reinhardt in seiner Liebeserklärung an den Schauspieler anderes als seine besondere Begabung zu jenem überflüssigen »kindlichen Hüpfer« als dem »Freudensprung«, der Welt und Leben wieder in das Unvorhersehbare einrückt. In Komödie wie in Tragödie. Diese Brüchigkeit alles Vorgeschriebenen ist nicht an Inhalt und Verlauf gebunden. Sie eignet aller performativen Kraft, die in der Tat Akt, Vollzug, Ereignis wird. Generell vertreten Schauspieler selten ein explizit politisches Anliegen. Das darf gesagt werden. Aber sind sie nicht trotzdem per se »politisch«, da sie als öffentlich auftretende, subversive Störer systemimmanenten Verhaltens angesehen werden könnten? Abgesehen von den Inhalten alles Aufgeführten, ist nicht ihr Hang zu einer überraschenden Wendung, zu einem unkalkulierbaren, nutzlosen Sprung, ihr Überfluss an Einbildungskraft und Phantasie, zu dem sie ständig in Rede und Ton, in Gebärde und Handlung verführt und veranlasst werden, ihr ganz spezieller Widerstand gegen jegliches vorgeschriebene Denken und normierte Verhalten? Ist nicht zum Beispiel this little extra twist around, das sie sich herausnehmen, ihr Pathos der Dis-Tanz und die Gabe ihres Freispielraums entgegen alle Ökonomisierung und alle Effizienz, die als Metasprache uns zu regieren und zu kujonieren begonnen haben?

64 Reinhardt, Max: Leben für das Theater. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern, hg. von Hugo Fetting, Berlin: Argon Verlag 1989, »Rede über den Schauspieler«, S. 436.

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Das Vorurteil Vorurteile sind vereinfachend, schlagkräftig und daher langlebig. Man glaubt sie überwunden, ausgestorben, tot, da geistern sie unversehens aus den Archiven und Kulissendepots hervor und natürlich auch in Schauspielerköpfen und -herzen herum. Es muss nur das rechte Stichwort für ihren Auftritt fallen. Konkret ist hier die Rede vom Vorurteil gegen das Denken. Diese Antipathie hat sich raffiniert verhakt. So als wäre Denken der Feind künstlerischer und daher auch schauspielerischer Begabung. Als würde im Akt des Denkens Phantasie und Kreativität nicht bloß gestört und gehemmt, sondern verhindert und vergiftet. Als müsste die Sinnlichkeit gegen den Geist antreten und eines zu Gunsten des anderen unterjocht beziehungsweise geopfert werden. »Denk’ net, spü!« (Denke nicht, spiele!) lautet die Wiener Fassung dieses Klassikers am Theater. Apropos Vorurteil. Vielleicht wird ja das Phänomen der Denkfeindlichkeit nur mehr im »Wiener Blut« und in der »Wiener Luft« erinnert, blindlings ins Theater verliebt, wie diese Stadt ist und ihr daher der Verstand leicht in die Hose rutscht. Mag sein. Wer weiß. Denn welche Stadt nennt schon ihre Stars Lieblinge? – Dazu aus dem Schatzkästchen der Erinnerung: »Stess mi net, i bin a Liebling!« (Stoße mich nicht, ich bin ein Liebling!), so der Kommentar anlässlich eines zufälligen Anstoßens hinter der Bühne des Burgtheaters. – Aber weiter. In welcher Stadt streitet man so vehement über Theater und wo werden (Theater-)Schauspieler öffentlich so geehrt wie in der Stadt Wien? Im Leben und im Tode. Übrigens, Ehrenmitglieder des Wiener Burgtheaters haben nach ihrem Tod das Privileg – man höre! –, auf der mit einem schwarzen statt mit einem roten Teppich ausgelegten Feststiege des Theaters aufgebahrt zu werden, deren Eingangsportal mit einem pompösen schwarzen Samtvorhang mit silberner Posamentrie geschmückt ist. Die Wucht des Vorhangs an der Außenfassade und der Tausch der Theaterfarben Rot-Gold zu den Todesfarben Schwarz-Silber erzeugt eine starke Wirkung. Unwillkürlich bleibt man stehen, unwillkürlich hält man inne, irgendwie kann man nicht an diesem Signal

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vorbei. Gevatter Tod wird präsent und evoziert seine Bilder. – Nach den offiziellen Trauerfeierlichkeiten auf der Feststiege, die mit großem Aplomb unter Anwesenheit von Regierungsmitgliedern und natürlich der Direktion des Theaters stattfinden, wird der Sarg anschließend, von einer Musikkapelle, von Kollegen, Publikum und Passanten begleitet, rituell einmal um das Theater herumgetragen. In früheren Zeiten sogar dreimal. So feiert Wien den Liebesbeweis für seine toten Schauspieler. Eros und Thanatos sind hier bekanntermaßen besonders intim, was zu Wien als der Stadt Sigmund Freuds führt und zu einer anderen Variante der Lesart des alten Schauspieler-Vorurteils gegen das Denken. Könnte es nicht auch sein, dass es sich dabei um das Aufflammen eines verdrängten, affektiven Restes österreichisch-katholisch-barocken Widerstands gegen preußischprotestantische Intellektualisierung und Ideologisierung der perfor mativen Kunst handelt? Ende der Seitensprünge. Ende der kleinen Hüpfer. Denken als Feindbild schauspielerischer Begabung kurzzuschließen, ist nicht nur bedenklich, sondern bedenkenswert. Versucht man nun weiters das Problem über Glossen am Wiener Theater beziehungsweise über ein geographisch-kulturelles Erbe hinaus zu stellen, ergibt sich die Frage, welchen praktischen Wert haben überhaupt theoretische und ästhetische Reflexionen für einen Akteur? Darüber sollen sich doch andere den Kopf zerbrechen. Ich will spielen. Warum sollte man auch nicht die altbewährte Arbeitsteilung beibehalten und die Theorie, die theoria, die Schau Regisseuren, Dramaturgen, Theaterwissenschaftlern und nicht zu guter Letzt dem Feuilleton überlassen? – Warum? – Weil es mit der Zeit für den Schauspieler selbst einen Unterschied gemacht haben wird, sich auch für Theorie, das meint für die Macht vergangener wie gegenwärtiger Diskurse, interessiert oder nicht interessiert zu haben. Nicht in einem akademischen Sinn, sondern in der leibhaftigen Erfahrung seines Spiels. Es wird sich nämlich, unter Entzug seines Willens, sukzessive in seinen Körper einschreiben, ob er ästhetische Formate ignoriert oder erprobt hat, ob er ethische Fragen gestellt oder unterlassen hat, ob er die Frage nach der Kunst so oder so beantwortet hat. Seine

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jeweilige Antwort wird ihm dieses oder jenes Gesicht verleihen, ihm dieses oder jenes Gewicht 65 geben, und im Laufe der Jahre, im Laufe eines Schauspielerlebens, wird sich daraus schließlich ein unterschiedlicher Künstler, eine unterschiedliche Künstlerin herausgebildet haben. Man braucht nur aufmerksam den Blick auf die Bühnen zu richten. Das ist durchaus außermoralisch zu verstehen. Zum Glück ist der Tiergarten Gottes groß. Bleibt die Frage, welcher spezifische Begriff des Denkens wird denn nun eigentlich beim Vorurteil gegen das Denken angesprochen? Welche Form des Denkens hat sich nicht alleine in Schauspielerköpfen und -herzen, sondern allgemein historisch durchgesetzt und sedimentiert? Das gespaltene Verhältnis von Denken und Theater hat alte Wurzeln. Schon in der Antike findet im Denken selbst die Ambivalenz zum Theater ihren Ausdruck: »Einerseits bestimmte die antike Philosophie den Akt des Denkens in Analogie zum Theater als Ereignis einer Schau (theoría), in der den Philosophierenden das ›wahrhaft Seiende‹ (óntos on theós) im Staunen (thaumázeo) denkend offenkundig werden konnte. Andererseits identifizierte vor allem Platon das Theater als Widersacher des Denkens, insofern es, kraft seiner Nähe zur affektiven Sphäre, gerade dem Teil des menschlichen Daseins am nächsten stehe, der ›vom Besten‹ in uns, der noetischen Sphäre der Vernunft, am weitesten entfernt sei.« 66

65 J. Butler: Körper von Gewicht. 66 Böhler, Arno: »TheatReales Denken«, in: ders., Granzer, Susanne (Hg.), Ereignis Denken. TheatRealität – Performanz – Ereignis, Wien: Passagen Verlag 2009, S. 11.

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Handelt es sich dabei um eine frühe, vorkritische Abwehrreaktion der Philosophie gegen das Theater mit der Begründung der Barbarei der Affekte – und rächt sich das Theater dafür am Vermögen des Denkens mit dem Vorwurf der Tyrannei der Vernunft? Liegt da der Hase im Pfeffer? Wo bleibt das ausgeschlossene Dritte? Tja, weiß der Teufel, wo es bleibt! Die Differenzen zwischen schauspielerischen und philosophischen Qualitäten sollen weder verwischt noch übersehen noch verunglimpft werden. Sie sind geachtet und wertgeschätzt. Nicht alle können oder sollen alles können. Unterschiedliche Professionen verfügen über unterschiedliche Eignungen, die streitsüchtig oder sehnsüchtig verteidigt werden müssen. Aber welche? Welche Qualitäten wachsen dem Schauspieler kraft seiner Profession vermehrt zu und welche dem Philosophen, um im Beispiel zu bleiben, und wo sind die blinden Flecke? Was bleibt jeweils unterbelichtet, ignoriert, weil sich Denker und Spieler taub und blind dagegenstellen? Sei es mit der Überzeugung oder dem Vorwand, dass dieses oder jenes Vermögen gegenläufig sei und daher die eigene Profession behindern würde. Worauf gründet sich diese Annahme, diese vorgefasste Meinung, dieser ominöse Pool gegenseitiger Verdächtigungen? Was geht dadurch verloren, was wird ausgeschlossen, was vergessen? Was wird dadurch gesetzt?

Subjektdenken contra Bühnenerfahrung Das theatrale Subjekt ist kein autonomes Subjekt. So die unangenehme, irritierende Erfahrung auf der Bühne. In der Praxis des Spielens wird das rasch klar. Auf nicht diskursive Weise. Der Akteur arbeitet inmitten seiner materiellen Verkörperung, über die er sich nicht betrügen, die er nicht übergehen, die er nicht überspringen kann. Er ist offensichtlich an seinen Körper ausgehändigt, der in allem, was er tut, »mitspielt«, in allem ungefragt »mitredet«. Damit büßt die instrumentelle Vernunft inmitten des medialen Charakters des Spielens (des Handelns) bald die Übermacht ihrer Autorität ein. Alles Gelin-

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gen bleibt zwar an das Können des Schauspielers gekoppelt, aber es ist dem Gelingen und Glücken ausgeliefert. Vor ihm muss der Akteur kapitulieren – und nicht nur der theatrale Akteur. Das geht uns wider den Strich. Im Sinne eines kritisch aufgeklärten Denkens verhält es sich doch gerade umgekehrt. Subjektivität wird da verstanden »als die Macht normativen Gelingens – als die Fähigkeit, Vollzüge gelingen lassen zu können. Der Name dieser Fähigkeit oder Macht des Gelingenlassens ist ›Vernunft‹.« 67 Aufklärung als Subjektdenken ist folglich die Befreiung in die Autonomie unseres freien Willens, ausgestattet mit der (All-)Macht der Vernunft. Sie soll gewährleisten, die Wirklichkeit zum Gelingen bringen zu können, das heißt, sie unter subjektive Kontrolle bringen zu können. So haben wir es gelernt, so sitzt es uns in den Knochen. Im Übrigen, Hand aufs Herz, wer kann schon der entlastenden Aussicht widerstehen, das Gelingen in der eigenen Hand zu haben? Alles Misslingen wird damit zu Fehlern, die wir gemacht haben, die wir aber beheben können, schärfen wir nur unser Können und entwickeln es weiter. Das nimmt dem Dasein die Züge, die dubios und tragisch, wie von fremder Hand, über uns kommen. Angesichts der Schläge und Fehlschläge, die wohl niemandem fremd sind, muss da nicht zugegeben werden, wie verführerisch so eine »Maschine Vernunft« wäre? Weitaus verführerischer, als sich der uneinholbaren Differenz, die Können und Gelingen verbindet, exponiert zu wissen. Besser also, wir heben die Differenz von Können und Gelingen optimistisch auf und identifizieren die beiden. Der unkontrollierbare Überschuss in ihrer Verbindung wird ausgeblendet. Eine Apologetik der Zahl setzt sich subtil in Gang. Aus gegebenem Anlass der aktuellen Finanzkrise könnte jetzt an dieser Stelle in einem Wiener Possenspiel, eventuell mit dem Titel Krach mit dem Börserl oder die Launen des Glücks, der Herr Rechner auftreten. Er trägt ein

67 Menke, Christoph: »Subjektivität und Gelingen: Adorno – Derrida«, in: Eva L.- Waniek, Erik M. Vogt (Hg.), Derrida und Adorno – Zur Aktualität von Dekonstruktion und Frankfurter Schule, Wien: Verlag Turia + Kant 2008, S. 190.

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Krönchen auf dem Kopf, das ihm schief über den Kopf gerutscht ist. Etwas derangiert sieht er aus, trotz Maßanzug und teurer Krawatte. Aber er lächelt unbeirrt souverän – und das einschlägige Publikum begrüßt seinen Liebling mit starkem Applaus. Vorhang.

Das aufgeklärte Denken als »(affirmative) Theorie der Macht des Subjekts, des Subjekts als Macht« 68 infiltriert, trotz Kritischer Theorie, trotz Poststrukturalismus und Dekonstruktion, nach wie vor unser Selbstverständnis. Seine neuzeitliche Gestalt, die alles, »was immer es als Gehalt einer Empfindung oder eines Gedankens vorfindet […], auf das Subjekt dieser Empfindung oder dieses Gedankens zurückführt« 69, hat sich abgelagert und sedimentiert – und von da her ruft sie sich automatisch auf. Die Zurückführung auf das Subjekt im Denken der Aufklärung ist archiviertes Denken, denn es hat schon geschichtlich stattgefunden. Es ist uns unter die Haut gewachsen. Das kann man am eigenen Habitus und dem der anderen beobachten. Wir alle sind mit Fleisch und Blut Ort dieses Archivs. Wissentlich oder unwissentlich. Ob wir es bejahen oder verneinen. Subjektdenken ist inkorporiertes Denken, sodass es uns »natürlich« scheint. Es ist uns zur geschichtlichen Heim- und Schädelstätte geworden, bis hin zum Satzbau unserer Sprache, deren Grundstruktur von Subjekt und Prädikat suggeriert, dass immer »ich« es bin, der etwas »bewerkstelligt«, dass immer »ich« es bin, der »mein« Handeln bestimmt. Die Grammatik weist uns beständig als Täter aus. 70

68 Ebd., S. 189. 69 Ebd. 70 »Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie: wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Vernunft, zum Bewusstsein bringen. Das sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an’s ›Ich‹, an’s Ich als Sein, an’s Ich als Substanz und projicirt den Glauben an Ich-Substanz auf alle Dinge …« Aus: F. Nietzsche, KSA 6, S. 77.

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Damit ist die Dimension der Passivität, alles Pathische, all das, was über uns hereinbrechen kann und auch über uns hereinbricht, – da wird keiner gefragt –, aufgekündigt und ignoriert. Das Ich wird nicht nur als Bedingung der Möglichkeit, etwas fühlen zu können, gesetzt, sondern zugleich als Ursache und Grund der Gefühle. Nun ist das Ich zwar die Voraussetzung dafür, etwas fühlen zu können, aber Gefühle werden nicht vorgestellt, sie überkommen uns. Wir werden von ihnen heimgesucht. Enttäuschung tut weh, Angst überwältigt, Hass verzehrt, ins Chaos werden wir gestürzt. Unglück fällt über uns her, Glück kann nicht kalkuliert werden. Auch nicht das der großen Zahl. Theaterspielen ist Zündstoff für den Subjektbegriff der Aufklärung und die Pragmatik eines allein analytisch abstrakten Denkens, das in messbaren Kriterien seine Beruhigung sucht. Die Bühne torpediert die Dominanz solchen Denkens, das von Rationalität und Kausalität bestimmt und durchstimmt ist. Durch ihre Zurschaustellung wird das Ich in seiner offenen Exposition als Souverän in seinen Grundfesten angegriffen und getroffen. Das ist durchaus als Ereignis und nicht als Bild zu verstehen. Ein Ereignis, das wehtut. Das schmerzt. Das kränkt. Der Turm unseres neuzeitlichen Selbstvertrauens bekommt Risse und Sprünge. Nicht bloß theoretisch, sondern sinnlich dramatisch. Physisch. Denn on stage muss der Schauspieler am eigenen Leib die nachhaltigen Probleme der kollektiv gespeicherten Selbstauslegung der Moderne austragen. Er wird hautnah in die Erfahrung genötigt, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, dass er gerade nicht willentlich frei über das Gelingen seiner Vollzüge verfügt und dass ihm keine normative Macht der Welt dazu verhelfen kann. Kein Können, kein System, keine Methode. Das letztendliche Glücken seines Spiels entzieht sich der Machbarkeit und daher auch der Prognose. Es muss sich gewähren. Das ist der unerwartete Ernst, der den Akteur einholt, das ist der Stachel im seinem Fleisch. Darüber kann weder Erfolg noch Misserfolg hinwegtäuschen und es betrifft nicht alleine

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schauspielerische Anfänge. 71 Da irre man sich nicht. Wie lange ein Schauspieler seine Kunst auch ausübt, wie viel an Vermögen er dabei im Laufe der Zeit dazugewinnt, wie virtuos er also sein Handwerk beherrschen mag, als sein eigener Schatten wird ihn lebenslang begleiten, dass das Glücken seines Spiels in Schwebe bleibt. Der Ereignischarakter des Theaterspielens oszilliert zwischen Macht und Ohnmacht 72, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen »Täter und Opfer«. Diese Widersprüche sind unauskömmlich paradox aneinander gebunden. Verheißungsvoll und verhängnisvoll.

Herr und Knecht »Ich bin mein eigener Herr, sagte der Knecht und schnitt sich den Fuß ab.« 73 So Brechts bissige Ironie. Das passt gar nicht schlecht auf die physische Attacke, auf die Wunde, die dem Akteur »durch sich selbst« zugefügt wird. Theatralisch könnte man sie so beschreiben. Für das herrschende Subjekt wird die Entdeckung der uneinholbaren Differenz zwischen Können und Gelingen, zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Handeln und Widerfahrnis zur »blutigen« Injurie an sich selbst. Das Ich erleidet am eigenen Körper, der aufständisch wird, »amputiert« zu werden. Wird es nicht »enthauptet«, »geköpft«? Den König spielen die anderen, heißt es am Theater. Ohne Einhaltung dieser Konvention wird kein Herrscher glaubhaft. Da ist der beste Schauspieler machtlos. In eine ähnliche Notlage gerät das

71 Diese Probleme sind nicht mit »Begabung« oder »Unbegabung« zu verwechseln. Davon ist hier nicht die Rede. Begabung gilt in dieser Auseinandersetzung mit dem Schauspieler als vorausgesetzt. 72 Krämer, Sybille: »Was ist ein Medium? Über Boten, Engel, Viren, Geld und andere Medien«, in: GRENZ_film (Hg.), Philosophy On Stage, Wien: Passagen Verlag 2007, DVD-Buch, DVD 2, Texte: Kraemer_Medium.pdf, 3. 73 Brecht, Bertolt: Der kaukasische Kreidekreis, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1992, Werke GBA Band 8, S. 87.

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Ich im Spiel auf der Bühne. Sein Königsspiel wird verweigert. Es funktioniert nicht. Das Ich, der König, ist abgesetzt, entthront, im eigenen Haus zum Leibeigenen degradiert. Aber nicht durch Kollegen, die nicht mitspielen, oder durch Kritiker, die einen Verriss schreiben, oder durch das Publikum, das einen Akteur auspfeift. Die Kränkung, von der hier die Rede ist, ereignet sich als narzisstische Kränkung des Subjekts an sich selbst. Durch sich selbst gefährdet, kann es sich seiner selbst nicht mehr sicher sein. Es geht sich wider Willen abhanden. Das ist die Verletzung. Das Verhängnis oder die Feuerprobe in der Kunst des Schauspielers besteht nun darin, dass er sich durch seine Profession physisch gezwungen sieht, den unerwünschten Einbruch der Passivität nicht nur auszuhalten, sondern auch auszutragen. Er erfährt sich an das Paradox von Tun und Lassen ausgeliefert und muss, seinem Spiel zuliebe, die schöpferische Verkuppelung von actio und passio in sich selbst als Existierender affirmieren. Trotz aller Einwände die Bühne betreffend, könnte man jetzt allmählich ein wenig achselzuckend einwenden, dass das 21. Jahrhundert die Problemstellungen des neuzeitlichen Subjektdenkens – bitte schön – lange schon verstanden, eingeholt und überholt hat. Warum also mit Nachdruck auf seine inkorporierte Wirksamkeit insistieren? Warum? Da der Schauspieler hier die Testperson ist, zu dem Warum ein kurzer Blick auf die Theaterpraxis und auf eines der Probleme, das sich bei Anfängern zeigt: Eine Rolle wird zum ersten Mal probiert. Dabei entsteht eine vorläufige Skizze. Bei den nächsten Proben führt diese Skizze zumeist ein erstaunliches Eigenleben, ja Diktat, denn es laufen viele junge Schauspieler automatisch, wie ferngesteuert, in diese erste gefundene szenische Vorgabe. Sie treten an derselben Stelle auf, sie setzen sich an derselben Stelle hin, sie legen sich an derselben Stelle nieder etc. (man könnte dasselbe Phänomen am Sprechen ausführen). Es ist, als handelte es sich um Haltegriffe einer unsichtbaren Bahn, der sie gehorchen und der sie in ihrer Ausgesetztheit unüberprüft Vertrauen schenken. Sie laufen, »ohne zu denken«, ins Arrangement, sagt man im Jargon. Bemerkenswert ist außerdem, dass

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es den Betroffenen nicht auffällt. Es wird nicht registriert. Es passiert. Bemerkenswert ist weiters, dass in beginnender Hitze des Spielens Anfänger oft neuerlich auf das alte Schema zurückfallen. Es ruft sich offensichtlich im Affekt von alleine ab und überlagert die neue Lösung. Liegt da bei einer großen Erzählung, wie jener der Aufklärung, nicht die Frage auf der Hand: Was ist die Einschreibung einiger Stunden gegen die Einschreibung einiger Jahrhunderte? Für den Theoretiker stellt sich das anders dar. Er kann sich die Passion des Schauspielers ersparen. Seine Auftritte sind vorrangig »begrifflicher, nicht sinnlicher Natur«. Er reflektiert die historische Selbstauslegung des Menschen aus der Distanz. Während sie den Schauspieler leibhaftig überkommt und unsanft am Kragen packt, spaltet er sie mit dem Verstand von sich ab, um intellektuell, in der Abstraktion, ihrer habhaft zu werden. Wenn der Theoretiker also den Begriff der Physis hinterfragt, kann er sich seinen eigenen Körper vom Leibe halten. Reflektierend vergegenständlicht er ihn, indem er ihn als Objekt von außen her betrachtet. Dass dabei seine eigene Materialität übersprungen wird, fällt weitgehend unter den Tisch, wird vergessen, und im Schutz reflexiver Distanz kann der Theoretiker sie auch vergessen, denkt er doch »bloß« formal über die Physis seiner eigenen Subjektivität nach. Das gebietet ihm auch der wissenschaftliche Gestus der Objektivität. Sonst gilt er nicht als glaubwürdig. Das spricht dem Theoretiker seine Leidenschaft nicht ab, aber die historisch-kulturelle Platzierung des Ichs außerhalb des Körpers bringt, wie schon gesagt, seinen Körper immer nur theoretisch, aber nicht praktisch an ihm selbst ins Schussfeld seiner Auseinandersetzungen. Seine Arena ist das Papier, die Mattscheibe des Computers, nicht das (eigene) Fleisch 74, das attackiert wird. Einen herrschenden Diskurs schriftlich zu

74 Zur Wiederentdeckung des Fleisches als philosophischer Kategorie im 20. Jahrhundert siehe Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Wilhelm Fink Verlag 1994.

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dekonstruieren, verlangt etwas anderes, als ihn physisch zu korrigieren, physisch zu transformieren, physisch zu supplementieren. Da wird die Luft dünn, weil der eigene »phänomenale Leib« 75 mit all seinen historisch kontingenten Einschreibungen mit ins Spiel kommt. Er muss durch alle Widerstände, durch alles automatisierte Verhalten hindurch. Denn sobald der Körper das gewohnte, alltägliche Terrain verlässt, wird er auffällig. 76 Er meldet sich mit eigenen Begehrlichkeiten, beginnt ein ungewolltes Eigenleben, das von dem Betroffenen selbst (zumeist) gar nicht, und wenn, gewöhnlich nur unklar, als diffuses, körperliches Unbehagen bemerkt wird. »Etwas« ist peinlich. Es ist hart, härter, als man es sich vorstellt, die im eigenen Körper kulturell und persönlich kodifizierten Archive umzuarbeiten und die signifikanten, materiellen Spuren seiner ritualisierten Wiederholungen, seine Normierungen und Register im materiellen Ort ihres Stattfindens durch neue zu ersetzen. Eine solche Dekonstruktion und kritische Umarbeitung des eigenen Körpers tut weh. Sie kommt ohne Passion nicht aus. Sie ist in sich selbst pathetisch. An dieses fleischliche Pathos ist der Schauspieler exponiert. Er kann sich nicht ausblenden, er kann seine Materialität nicht

75 Zum Terminus »phänomenaler Leib« siehe E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 129–175. In diesem Kapitel verweist sie auf das Problem der im westlichen Menschen traditionell postulierten Dichotomie von Körper und Geist. »Der Mensch ist embodied mind. […] Geist ist nicht ohne Körper zu haben und artikuliert sich im bez. als Leib.« Ebd., S. 172. Sie zieht eine frappierende Parallele zur Arbeit des polnischen Theatergranden Jerzy Grotowski – »der Schauspieler bringt den ›Geist‹ in seinem Leib zur Erscheinung, indem er dem Leib ›agency‹ verleiht«, ebd., S. 140 – und zur Spätphilosophie von Merleau-Ponty in Das Sichtbare und das Unsichtbare: »Es ist das ›Fleisch‹, durch das der Körper immer schon mit der Welt verbunden ist. […] Deshalb eben übersteigt der Leib in seiner Fleischlichkeit jede seiner instrumentellen und semiotischen Funktionen.« Ebd., S. 141. 76 Zum Beispiel ist ein Körper, der vom Fitnessideal der Gegenwart her gesehen besonders hoch geschätzt wird, von den Bedingungen des Theaters her wenig brauchbar. Er ist hart, undurchlässig, ein Muskelblock, der Atem fließt nicht. Es braucht viel Arbeit und Geduld, um die Verhärtungen zu lösen.

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übergehen. Er muss inmitten seiner eigenen Verkörperungsbedingungen schöpferisch werden. Unweigerlich stolpert und fällt er dabei, durchaus im wörtlichen Sinn, über sich selbst. Die leibliche Exposition seiner Kunst konfrontiert ihn zwangsläufig mit allen Phänomenen menschlicher Existenz, mit allen ihren individuellen, kulturellen wie historischen Einschreibungen, und alle seine »Fehler« und alle seine »Erkenntnisse« muss er am eigenen Leib austragen. Aus diesem Grund ist die Figur des Schauspielers ein geeignetes »Studiensubjekt« im Labor des Daseins. An ihr wird die verworfene und vergessene passive Seite unserer Existenz exemplarisch anschaulich und das Gift/gift ihres Ereignischarakters wird laut. Damit auch die Angst und der Widerstand des Subjekts vor dem dubiosen Sprung »down the Rabbit-Hole« in die Erfahrung einer Welt, in der »ein Grinsen ohne Katze« 77 existiert und wir wie Alice einsehen müssen, dass wir über die Vollzüge von Gelingen und Misslingen nicht verfügen können, dass wir ihre Differenz nicht optimistisch aufheben können, dass wir nicht selbstgewiss auf unsere Autonomie vertrauen können, dass wir einem Anderen, einem Fremden, für das es keinen Namen gibt, ausgesetzt sind. Eines schönen Tages sogar ein für alle Mal. Vielleicht wird letztlich auf den Bühnen des Theaters in seinen stärksten Momenten der sogenannte Tod des Subjekts zur Aufführung gebracht – – – und vielleicht ist diese Aufführung als das größtmögliche Ereignis des Theaters genau dasjenige, was

77 Alice zur Edamer Katze, die sich in Luft auflöst, kommt und wieder verschwindet: »›Übrigens tätest du mir einen großen Gefallen, wenn du etwas weniger plötzlich auftauchen und verschwinden wolltest; man wird ja ganz schwindlig davon.‹ ›Wie du willst‹, sagte die Katze und verschwand diesmal ganz allmählich, von der Schwanzspitze angefangen bis hinauf zu dem Grinsen, das noch einige Zeit zurückblieb, nachdem alles andere schon verschwunden war. ›So etwas!‹, dachte Alice. ›Ich habe zwar schon oft eine Katze ohne Grinsen gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze! Das ist doch das Allerseltsamste, was ich je erlebt habe!‹« Aus: L. Carroll: Alice im Wunderland, S. 68.

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Heiner Müller das Sterben in der Verwandlung am Theater nennt. Diese wesentliche Dimension des Theaters würde Schauspieler wie Zuschauer in der Angst vor dieser Verwandlung einigen, ergänzt er. Auf sie wäre Verlass.

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Friedrich Nietzsche Götzen-Dämmerung

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Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen zu lernen: das Ziel in allen Dreien ist eine vornehme Cultur. – Sehen lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-herankommen-lassen angewöhnen; das Urtheil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. Das ist die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort reagieren …

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Körper on stage Die Bühne ignoriert den Schutzwall einer vorgestellten Welt samt ihrer reflexiven Distanznahme. Sie verlangt den Schauspieler mit Haut und Haaren und begnügt sich nicht mit seinem Verstand. Sein gesamter phänomenaler Leib muss zum Einsatz kommen, kein Teil kann ausgespart werden, von Kopf bis Zeh wird er gebraucht, mit Haut und Haaren, ebenso wie seine Mitspieler von Kopf bis Zeh mit Haut und Haaren gebraucht werden, das Publikum nicht zu vergessen. Theater ist eine ekstatische Kunst. Sie veranlasst den Schauspieler qua Profession, sich vorzuwagen, sich im Spiel selbst physisch aufs Spiel zu setzen, und zwar vor Zeugen im Vollzug des Spielens. Kein Verstecken ist möglich, kein Verschieben, kein Vor und Zurück, kein technisches Medium kann im Nachhinein korrigierend eingreifen. Was jetzt stattfindet, ist geschehen – – – die Zeit springt auf – – – reißt eine Lücke – – – eine offene Leere – – – mitten durch die Akteure hindurch – – – das Ereignis des Spielens packt am Schopf, rücklings und rücksichtslos – – – und die Auslegung des Menschen als selbstmächtiges Subjekt wird zum Konflikt, zum Hindernis, zum obstacle für das Spiel. Einmal on stage ernst gemacht und nicht bloß herumgetändelt, nicht nur kokettiert mit dem Anspruch theatraler Kunst, meldet sich ungeschminkt, was es tatsächlich heißt, sich dem Spielen als Ereignis versprochen zu haben. Premieren stehen paradigmatisch für diesen Anspruch. Sie versetzen in eine ungewöhnliche Spannung, selbst wenn das nach außen hin gut kaschiert werden kann. Ungefragt gibt der Körper Signale. Er lässt sich nicht kontrollieren. Der Magen flattert oder die Hände schwitzen oder der Mund wird trocken oder die Unruhe treibt zum Hin- und Hergehen oder noch einmal schnell hinaus, weil die Blase sich meldet. Es gibt die unterschiedlichsten Modi. Angespannt sind alle Schauspieler. Junge wie alte. Allen klopft das Herz höher, bevor sie auf die offene Bühne hinausgehen und wissen, dass sie gleich den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt sein werden. Da soll keiner lügen. Der Körper ist in Alarm. Der Puls schlägt schneller, der Atem beschleunigt sich, das Adrenalin steigt wie

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vor einer ersehnten oder gefürchteten Verabredung, bei der man nicht vorhersehen kann, was passieren wird, die man aber um keinen Preis versäumen will. Die Aussicht auf diesen Moment von Uneinholbarkeit lockt und erschreckt. Angst und Lust geben sich die Hand. Das spezielle Dilemma des modernen, aufgeklärten Schauspielers ergibt sich aus dem genannten subkutan virulenten Widerspruch, dass sich schauspielerisches Handeln per se dem neuzeitlichen Selbstverständnis widersetzt, sich aber gleichzeitig automatisch, noch im selben Atemzug, genau dieses archivierte Selbstverständnis der Neuzeit abruft. Das stürzt den Schauspieler in eine eigentümliche physische Passion. Er kann aus der Haut der Moderne nicht heraus, sie ist ihm zugewachsen, und zugleich muss diese Haut für ein schöpferisches Spiel porös werden, ekstatisch durchbrochen, aufgerissen. Ins Rampenlicht auf die offene Bühne gestoßen, ohne Tarnkappe, »nackt«, ohne niedergeschriebenen Text in der Hand, ohne ein schützendes Pult vor sich, ohne den Schild wissenschaftlicher Neutralität, sondern unter dem Anspruch performativer Qualität, verkehrt sich nämlich – in einem Nu – das tradierte Herr/Knecht-Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Verstand. 78 Die Geister, die das Spiel ruft, wird es nun nicht mehr los. Der Körper gerät in Aktion, er beginnt aufzuwallen, sich zu vervielfältigen – und kein alter Hexenmeister ist in Sicht; der ist in der Geschichte verschwunden. So wirft der Körper seine ganze Schwerkraft, sein ganzes Gewicht in die Waagschale 79, wird selbstmächtig, eigenmächtig. Herkömmlich zum Sklaven degradiert, zum Lehrling, zum »Schleppdepp«, wie der

78 Zur Umwertung des idealistischen Körper/Geist-Verhältnisses in der Philosophie Friedrich Nietzsches siehe Gerhardt, Volker: »Die ›große Vernunft‹ des Leibes. Ein Versuch über Zarathustras vierte Rede«, in: ders. (Hg.), Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, Berlin: Akademie-Verlag 2000, S. 123–163. 79 Zum Gewicht der Körper vgl. J. Butler: Körper von Gewicht sowie J.-L. Nancy: Corpus.

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Schweizer Jargon die Handlanger, die Hilfsarbeiter, die Zuarbeiter lautmalerisch nennt, übernimmt jetzt er das Kommando. Ungeniert und sehr trivial. Zum Beispiel führt er sich wie ein Klotz auf. Ungerührt gegenüber allem Zuspruch, aller Beschwörung benimmt er sich unbeholfen und hölzern. Mit einem Mal haben junge Schauspieler nicht nur zwei, sondern vier Arme und vier Beine. Wohin mit den Händen? Das wird zum Problem. Sie hängen auf einmal so seltsam herunter. So nicht zugehörig, so fremd. Einfach nur dazustehen, ohne die Hände sofort in den Hosentaschen zu verstecken, wie es an jungen männlichen Akteuren immer wieder zu beobachten ist, einfach nur dazustehen, ohne wie angeschraubt zu wirken und ohne gleich wieder den Ort zu wechseln, weil man es nicht aushält und glaubt, etwas tun zu müssen, kann zur schwierigen Aufgabe werden. – Es mag banal klingen, aber sich on stage, exponiert vor den Augen anderer, unbefangen, nicht steif, nicht verkrampft, nicht in Klischees gefangen zu bewegen und selbstverständlich, mit Leichtigkeit, aber höchst konzentriert auch nur eine alltägliche Handlung »glaubhaft« zu spielen, ist eine höhere Kunst, als man gemeinhin annimmt. Der Schauspieler macht die paradoxe Erfahrung, dass ein dominierender Wille, das gewohnte Instrument autonomen Handelns, für das Gelingen des Spiels auf der Bühne kontraproduktiv wirkt. Der Wille stellt sich quer, er steht im Wege, im wörtlichen Sinn. Er setzt eine Selbstbeobachtung in Gang, die Atem und Phantasie zu zensurieren beginnt. Er wird zum Kritiker, der Noten verteilt, zum Über-Ich, das urteilt, beurteilt, rechtet und richtet. Die Blockade ist programmiert, die Unschuld verloren. Gleichzeitig erfährt sich der Schauspieler auf seinen Willen angewiesen. Er braucht ihn. Ohne ihn kann er nichts spielen, ohne ihn kann er keine Handlung durchführen. Selbst wenn er nur geht, muss er wissen, warum er geht und wohin er geht, oder sein Gehen hat kein Ziel und keine Absicht, weil er zum Ausdruck bringen will, dass dieses Gehen kein Ziel und keine Absicht hat. Ohne jedes willentliche Handeln, ohne jede Intention kann kein Spiel auf der Bühne stattfinden, geschweige denn wiederholt werden. Selbst bei einem Happening ist ein Happening als Happening beabsichtigt und alle seine Elemente werden zum Spielball seiner Intention.

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Unschuld des Werdens Einerseits auf die Wirksamkeit des Willens und andererseits auf das Aussetzen des Willens angewiesen zu sein, ist für den Verstand ein unauflösbares Paradox. Es entfacht im Akteur große Widersprüche. Der größte Widerspruch besteht wohl darin, dass sein regulierender Verstand, die Ratio, von der Herrschaft über den Willen ausgeschlossen ist und der Willkür des Fabulierens Platz zu machen hat. Ohne Kraft der Imagination, ohne schöpferische Einbildungskraft, die diametral zum begrifflich argumentierenden Verstand nie um ihre »Ergebnisse« wissen kann, gibt es kein künstlerisches Arbeiten. Von diesem spätmodernen Ruin liest und schreibt es sich leichter, als ihn in der Tat selbst auszutragen. Darauf darf im Hochhalten schauspielerischen Vermögens insistiert werden. Es trifft seinen empfindlichsten Nerv. Das Paradox, sich entgegen dem Mythos der Moderne der Unschuld des Werdens 80 ergeben zu müssen und dann auch noch Abend für Abend, in jeder Aufführung, im Spannungsfeld der Gleichzeitigkeit widerstrebender Kräfte diese Unschuld des Werdens willentlich zu wiederholen, stellt eine Anforderung an die künstlerische Potenz des Schauspielers, für die der Laie der falsche Adressat ist. Außerdem bedarf es jeder Menge Handwerk (techne, Know-how), um dieser Herausforderung gerecht werden zu können. Es ist ein weiter Weg zur absichtlosen Absicht 81 eines Spiels auf der Bühne.

80 »Was kann allein unsere Lehre sein? – Dass Niemand dem Menschen seine Eigenschaften giebt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst ( – der Unsinn der hier zuletzt abgelehnten Vorstellung ist als ›intelligible Freiheit‹ von Kant, vielleicht auch schon von Plato gelehrt worden).« Aus: F. Nietzsche: KSA 6, S. 96. 81 Bekanntlich ist für Kant das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ohne alles Interesse und daher eine zwecklose Zweckmäßigkeit. Vgl. dazu Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1974, S. 116f.

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Schaut man allerdings nur von unten zu, kann man die auftauchenden Probleme nicht nachvollziehen. Im Falle des Misslingens fragt man sich, warum sich die da oben auf der Bühne eigentlich so anstellen, das ist doch alles gar nicht so schwer, und im Falle des Gelingens findet man sich bestätigt, denn es sieht alles so leicht, so spielerisch leicht aus. Den vielen Text auswendig zu behalten, das ist schwer! Aber zu gehen, zu stehen, sich im verabredeten Moment zu setzen? Unter Theaterleuten gibt es für die Kunst der Unschuld ein aus dem Theateralltag entlehntes und gerne zitiertes Bild: den Gang eines Bühnenarbeiters quer über die Bühne. Nichts anderes geschieht, nichts Aufregenderes, er geht einfach – – – und sein Gehen zieht alle Blicke auf sich. Aber nicht weil er plötzlich in die Probe hereinplatzt und alle notgedrungen auf den Störenfried schauen und ungeduldig warten, bis er endlich wieder draußen ist. Nein, sondern weil es spannend ist, wie er da einfach so geht. Das kann ich auch. Das kann doch jeder. Gehen, einfach gehen. Gehen können wir alle von Kindesbeinen an. Aber was die Unschuld des Laien vermag, der sich nicht einmal beobachtet weiß, geht unter dem Anspruch des Spielens leicht verloren. Leichter, als man denkt. Man müsste nur den Laien auffordern, seinen so gelungenen, vielsagenden Gang in derselben Qualität zu wiederholen. Schon wäre die Ernüchterung da, gepaart mit der Verwunderung, dass das alles tatsächlich gar nicht so einfach ist, wie es aussieht. Denn bloß quer über die Bühne zu gehen, als ob man dieser Bühnenarbeiter wäre, und dabei wie er alle Blicke neugierig auf sich zu ziehen, diese Unschuld des Künstlers hat einen anderen Rang. Es braucht viele Voraussetzungen für einen »Experten des Seins« auf der Bühne Being on stage im Anspruch performativer Kunst ist nicht durch ein Konzept, Schauspieler durch Laien zu ersetzen, geleistet. Theater als physisches Ereignis, so es glückt, ist eine hohe Kunst und weitab von virtuoser Hermetik, die dem professionellen Schauspieler gerne nachgesagt wird. Es ist ein Akt höchster Verletzlichkeit und Fragilität. Der soll dem Laien nicht abgesprochen werden. Aber Künstler und Laien haben unterschiedliche Qualitäten, die nicht austauschbar sind. Sie sollten nicht

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gegeneinander ausgespielt werden. Nicht Ressentiment und Trend sollten das letzte Wort bekommen, sondern die Neugier auf eine mögliche Vielfalt ästhetischer Formen. Der Clou des Problems – im Anspruch professioneller Schauspielkunst – liegt in der eigenen, bewussten Teilhabe am Gehen, am Stehen, am Sprechen usw. Alles Handeln ist immer auf jemanden angewiesen, der handelt. Gehen, stehen, sprechen usw. kommt nie ohne some-body aus, der geht, der steht, der spricht, ohne eine, die geht, die steht, die spricht. Der Infinitiv eines Verbs bleibt unbestimmt, alles Handeln abstrakt, belanglos, solange no-body es vollzieht. Ohne Spieler kein Spiel, die physische Anwesenheit ist elementar für Theater. Die Bühne braucht den Gehenden, den Stehenden, den Sprechenden, die Gehende, die Stehende, die Sprechende, sie braucht, wie schon gesagt, die Spielenden aus Fleisch und Blut mit Haut und Haaren von Kopf bis Zeh – und genau in diesem doppelbödigen, ungefügigen Brauchen wurzeln im Spielen die Probleme. Es ist eine unangenehme Erfahrung, auf das Gewicht des (eigenen) Körpers, auf sein Eigengewicht, auf seinen störrischen Eigensinn zu stoßen. War das nicht mit der Pubertät abgeschlossen? Nicht nur, dass der Körper, durch die Blicke der Anderen und die Anforderung des Spielens gehemmt, sich plötzlich wie ein Klotz aufführt, er ruft auch rücksichtslos seine spezifischen Blockaden auf, die neuralgischen Schwachstellen, die jeder gerne vor sich selbst verbirgt. Es ist peinlich, wie geschwätzig der Körper wird. Er verrät Intimes, das gar nicht verraten werden will. Außerdem reproduziert er, ganz entgegengesetzt zur Intention des Akteurs, alle möglichen Klischees, alles mögliche normierte, konventionelle Verhalten, von dem man gar nicht wusste, oder sogar abgestritten hätte, dass man es in sich gespeichert hat. Es ist fatal, an sich selbst zu beobachten, dass individuell wie geschichtlich einverleibte Konditionierungen virulent werden, von denen man sich doch frei glaubte, frei wusste. Es ist fatal, dass sie wider besseres Wissen passieren. Das Gedächtnis des Körpers spult eine Leier ab, automatisch, was man so macht, wie man sich so verhält, wie man so reagiert, wie man frau eben so ist, wozu

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man frau eben so gemacht worden ist. 82 – Natürlich benützt alles Theater die persönlichen Eigenheiten der Spieler, ihre Brüche, Widersprüche und Widerständigkeiten. Natürlich arbeitet es mit allen möglichen Ticks und verräterischen Merkmalen von Personen und in der Folge mit dem Vergnügen wie der Kritik an Stereotypen und Klischees. Aber in dieser Interpretation des Akteurs entstammen sie nicht einer ausgestellten Privatheit, die gar nicht überschritten werden kann, sondern der Weise des Spielens. Die Spieler stellen nicht quasi »authentisch« ihre eigenen »empirischen Daten« aus. Spielen im Sinne der Poiesis hat sich der Leerstelle Zukunft versprochen. Sie dokumentiert nicht alleine Wirklichkeit, die sie abbildet, sie spiegelt nicht alleine den schmerz- oder freudvollen Aufriss des Gegenwärtigen und Vergangenen, von dem jemand in seinem Leben biographisch markiert worden ist.

Sprache und Sprechen Eine der Figuren in Peter Handkes Theaterstück Das Spiel vom Fragen oder die Reise zum sonoren Land heißt Parzival. Dieser Parzival versäumt keine Frage, er erträgt keine Frage. Hochaggressiv reagiert er zähnefletschend auf jede. Ansonsten ist er wortlos, stumm. Bloß einmal, beim Mithören einer Erzählung über das Sterben, beginnt er zögerlich, in Ansätzen stammelnd und stotternd, zu sprechen. Aber im Sprechen überfällt ihn sofort, als hätte er es geahnt, eine neue Raserei. Ein würgender Sprechzwang bemächtigt sich seiner. Aus seinem Mund strömt Phrase nach Phrase, ohne dass er ihre Flut stoppen kann. Ob Gebetszeile, Dichtung, Reklametext, Schlagzeile oder Schlagerzeile, alles Sprechen verkehrt sich in einen unausgesetzten Schwall leer gewordener Worte. Es ist, als wäre ein Fluch, eine moderne Tartarosqual über ihn verhängt. Als er schlussendlich

82 Zur Konstruktion von Gender-Normierungen siehe Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1995.

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erschöpft verstummt, redet es offensichtlich in seinem Kopf von alleine weiter. Eine Tortur, die ihn erneut toben lässt. – Erst sehr viel später, fast gegen Ende der Reise, wird Parzival von dem Wust sinnlos gewordener Buchstaben erlöst. Er kann endlich aufhorchen. Fremd und vertraut lädt ihn die Sprache ein. Buchstabe um Buchstabe ertastend, langsam einzelne Wörter bildend, entdeckt er sie wie zum ersten Mal. »Wind, Himmel, Staub, Wasser.« 83 Im Sprechen entsteht ihm das Angesprochene. Parzival kann es nennen, benennen, rufen, beim Namen rufen und es ist da. Staunend spricht er Wort um Wort um Wort um Wort. In der Sprache wiederholt sich auf der Bühne dasselbe irritierende Phänomen wie in der Bewegung. Alle ihre Vollzüge, die uns tagaus tagein gang und gäbe sind, also Sprechen, Hören, Antworten bis hin zum Schweigen, verlieren ihre Selbstverständlichkeit. Sie werden fraglich und zu überraschend komplexen Schwierigkeiten. Anfänger sehen sich damit konfrontiert, dass ihnen die Sprache nicht gehorcht. Über alle funktionellen Probleme hinaus, also über die einfache Tatsache, dass Atem- und Sprachorgan erst ausgebildet werden müssen, entdecken sie, dass sie nicht sprechen können, dass sie nicht hören können, ja dass sie den Text, den sie gelernt haben, nicht wirklich denken können. Sie sprechen, ohne sich auf das Gesagte im Augenblick des Sagens einzulassen, und in der Folge verstehen sie nicht wirklich, was sie sagen, während sie sprechen. Aus lauter Konzentration auf sich selbst und den Akt des Gelingens wird auch dem Partner nicht wirklich zugehört, was er sagt. Er wird zum Stichwortgeber. Die Aufmerksamkeit ist besetzt mit gleich bin ich dran, jetzt kommt mein Text, jetzt muss ich sprechen. Sie wird vom eigenen Tun absorbiert, vom wie »mache« ich es, wie »gestalte« ich den nächsten Satz, das nächste Wort. Merde, jetzt kommt wieder dieses eine Wort, dieser eine blöde Satz. Wie sage ich ihn nur, dass

83 Handke, Peter: Das Spiel vom Fragen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1989, Abschnitt 3.5, S. 124–125.

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es richtig klingt. So wird manipuliert und illustriert und gefärbt, aber nicht zugehört, daher auch nicht geantwortet. Es entsteht kein Dialog, keine gemeinsame Phantasie, keine Inspiration des Einen durch den Anderen. Hören und Antworten, die zentralen Passagen allen kreativen Zusammenspiels, werden versäumt und verschenkt. Sie werden zur verpassten Möglichkeit. Man könnte es so formulieren: Im Sprechen wird vergessen, auf den Text zu hören. Was er sagt, was er dem Schauspieler zuspricht. Der gesprochene Text ist im Grunde nichts anderes als die Antwort auf das jeweils im Text Gehörte/Erhörte. Darum scheitern Schauspieler rasch an einem instrumentellen Verhältnis zur Sprache. Sind sie primär mit der Gestaltung des Textes beschäftigt und nicht primär mit dem Erfassen seines Sinns, geht dieser letztlich an ihnen und an den Zuschauern vorbei. Er greift nicht. Die Worte werden zu Hülsen, zu illustrierten Sätzen, die mit Zuständen gefärbt schal schmecken und keine performative Kraft entwickeln. Das Gesagte beginnt im Gefühligen zu verschwimmen, das zwar kurzfristig interessant sein mag, rasch aber langweilig wird. Es ist immer wieder dasselbe. Die Dominanz des Willens zur Souveränität und die mit ihm verknüpfte Erwartung des Gelingens stellt dem Spielen rasch ein Bein. Der Schauspieler kommt weder in Bezug auf seinen Körper noch in Bezug auf die Sprache an der professionellen Hürde vorbei, dass er nicht alleine Akteur, sondern auch Medium ist. Er kann dieses verzwickte Verhältnis nicht »vernünftig« lösen. Er ist weder der Eigentümer seines Körpers noch der Besitzer der Sprache, auch wenn ihm beide zugehörig sind. Wie der Körper lässt sich auch die Sprache nicht einfach verwenden, wie er will. Sie lässt sich nicht manipulieren. Sie gehorcht ihm nicht. Instrumentalisiert er sie, will er sie zwingen, will er ihr ihren Sinn abzwingen, wendet sie sich gegen ihn. Sie versagt sich. Sie verflüchtigt sich im Beliebigen. Sie verrutscht ins Plakative. Die Worte hören sich aufgesagt an, gestelzt, gemalt, ihre Bedeutung illustriert, sie laufen leer und davon, ihr Sinn bleibt schwarz-weiß Gedrucktes. Gerede. Das Gesagte wird zur Phrase, zum Klischee, zum zugekleisterten Text.

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Aus Lust an der Pointe, aber sicherlich auch um langwierige Verständigungsversuche abzukürzen, gibt es dazu unter Theaterleuten jede Menge Aussprüche, die tradiert werden. Zum Beispiel aus dem berühmt-berüchtigten Repertoire des Regisseurs Fritz Kortner: »Sprechen Sie Ekel und Scham nicht wie eine jiddische Firma!« Oder: »Spiel nicht Eiche-Birke!« – Meldet sich mit Kortners bissigem Kommentar nicht gleichzeitig alles gedankenlose Sprechen? Und werden nicht mit dem »ehernen Eichenton« und dem der »wispernden Birke« gleichzeitig alle falschen Theatertöne laut? Ohne technisches Können, ohne jede Menge Know-how bleibt dieser Anspruch von Sprache und Sprechen ohne handfeste Basis. Das ist evident, auch wenn Können seinen verbindlich guten Ruf eingebüßt hat. Kein professionelles Theater ohne handwerkliche Fähigkeiten, ohne Schulung des Handwerks, ohne techne. Eine ungeschulte Stimme, die wenig von Atem und Rhythmus weiß, die falsch sitzt und keine Kraft hat, wird ihre Gestaltungsspielräume kaum ausschöpfen können und bald ihren Dienst aufgeben. Wird die Stimme strapaziert, ausgebeutet, tut das weh. Dem Organ wie dem Hörer. Sei es, weil zum Beispiel die Stimme im Hals sitzt und sie um die Resonanzräume des Körpers betrogen wird, oder weil eben die Sprache gedankenlos und inflationär missbraucht wird. Eine doppelte Bewegung ist notwendig. Hingabe an die Sprache und Achtung vor der Sprache. Der Akteur muss einerseits vor der Sprache zurücktreten und ihr gleichzeitig den Einsatz seiner gesamten Physis schenken. Er darf sie also weder in Besitz nehmen wollen, noch darf er ein schlampiges Verhältnis zu ihr eingehen. In beiden Fällen entzieht sie sich, verfällt, bleibt schal, unentfaltet, ohne Potenz, ohne Fleisch, ohne Ereignischarakter. Sprache und Sprechen lassen sich nicht unterwerfen und dingfest machen und Sprache und Sprechen reagieren empfindlich auf einen leichtfertigen, nachlässigen Umgang. Nur in dem Wort, das der Redner über sich selbst hinausschickt und unauslotbar in das unsichtbare Web seiner mitgesprochenen Bedeutungen hineinspricht, öffnet sich der magische Fundus von Sprache und Sprechen in seinem theatralen Charakter. Ihn

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beschwört jeder gute Akteur – bis hin zu dem in der Stille Mitgesprochenen – bis hin zu dem Unsagbaren im Schweigen. Nur bei gespitzten Ohren, nur im achtsamen Hören auf die Sprache spricht sie sich dem Schauspieler zu. Nicht umgekehrt. Es ist die Sprache, die spricht 84. Für diese Formulierung braucht es kein philosophisches Wissen. Sie ist aus der Erfahrung zu verstehen. Es ist die Sprache, die pendelnd zwischen Anwesenheit und Abwesenheit durch den Schauspieler hindurch laut/Laut zu werden beginnt. Im Kairos solchen Sprechens blitzt das jeweils Gesagte in seinem möglichen Sinn und zugleich im Moment seiner Uneinholbarkeit auf. »Wind, Himmel, Staub, Wasser.« 85

Sprache verdauen Einen Text so zu erlernen, dass er auswendig wiederholt werden kann, heißt, ihn sich inwendig einzuverleiben. Das setzt voraus, ihn zu lesen 86, ihn aufzulesen, zu sammeln, und zwar so lange, bis er im Gedächtnis verlässlich archiviert ist, quasi eingescannt, so, dass er automatisch wiederholt werden kann. Der Text muss innerlich gespeichert worden sein, um ihn von diesem Archiv her in jeder Aufführung neu verlesen zu können. To learn by heart heißt in englischer Sprache das deutsche auswendig lernen. Inwendig und auswendig sind also zwei Aspekte eines Geschehens, die zusammengehören und einander bedingen. Erst nach einem solchen Prozess der Einverleibung ist der Text auch gründlich verstanden. Nicht vom Kopf, sondern eben vom gesamten Leib. Die Inkorporation einer Schrift ist ein komplexer

84 Vgl. dazu Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1975. 85 P. Handke: Das Spiel vom Fragen, S. 124–125. 86 Das griechisch-deutsche Wörterbuch Gemoll verzeichnet für das Verbum légein in erster Bedeutung (zusammen-)lesen, (auf-)lesen, sammeln. Erst in zweiter Angabe wird seine Bedeutung von erzählen, auslegen, sprechen, sagen etc. genannt. Das dazugehörige Substantiv ist Logos.

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Lernvorgang und kommt einem ganzen Verdauungsvorgang 87 gleich, der vom Körper geleistet werden muss. Das braucht Zeit. Er wird meist als mechanischer Repetitionsvorgang, als ödes Auswendiglernen à la Schulerinnerung zu kurz und daher gründlich missverstanden. Ein Schauspieler muss seinen Text förmlich essen. Am besten mit Genuss, den er auskosten möchte. Er muss ihn langsam und gründlich kauen, und je mehr sein Appetit dabei steigt, desto reichhaltiger wird sich der Text entfalten. Nur im langsamen und wiederholten Kauen fächert sich sein Geschmack mit all seinen Differenzen auf. Schluckt der Schauspieler dagegen den Text einfach hastig herunter, saugt er ihn mechanisch möglichst rasch ein, wird seine mögliche Qualität vergeudet. Sie bleibt oberflächlich verstanden. Unverdaut. Erst wenn ein Text sorgfältig durchdrungen und in alle seine Elemente aufgespaltet ist, ist er gut verarbeitet. Dann wird er sich auch im Spiel, wie von alleine, abrufen. Verlässlich und automatisch. Andernfalls kann er im Affekt plötzlich wegbleiben. In der Erregung der Gefühle wird er vergessen, die Erinnerung versagt, die Emotionen schwemmen ihn weg. Der Schauspieler bleibt »hängen«, wie es heißt. Oder, wenn das nicht passiert, bleibt der Text »heißer Dampf«. Man sieht zwar einen Schauspieler in Aufruhr, aber versteht nicht wirklich, worum es geht. Das erzeugt bald Langeweile und der Zuschauer verliert sein Interesse, zuzuhören. Ist hingegen der Text einmal einverleibt, das heißt physisch erinnert, dann sind Affekte, Logik und Logos der Rede geeinigt und werden jederzeit zum Spiel frei. Der Text kann spielerisch wiederholt werden, wie neu erfunden und gefunden, zum Genuss und zur Freude aller – – – wieder und wieder und wieder und wieder – – – ohne langweilig zu werden, ohne mechanisch leerzulaufen, und je dichterischer ein Text ist, desto erstaunlich reicher kann er in der Wiederholung entdeckt, verstanden und gespielt werden.

87 Zur Geistigkeit als Frage von Ernährung und Verdauung siehe F. Nietzsche: Ecce Homo, KSA 6, S. 278–281.

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Gegenworte Entbindet sich die Sprache in einen Schwebezustand des Hörbaren und des Unhörbaren, des Erhörten und des Unerhörten, entbindet sie zusätzliche Energie. Zumindest für Augenblicke. Dann genügt die Wucht eines einzigen Schreis, um eine tödliche Leere in Hoffnung oder um Hoffnung in eine tödliche Leere zu verkehren. Luciles 88 Aufschrei in Büchners Drama um die französische Revolution ist so ein Aufschrei. Seiner Geschichte nach ist er das sinnlose Auf bäumen der menschlichen Kreatur im Glauben, den Tod im allerletzten Augenblick doch noch aufhalten zu können. Aber niemand hört ihn. Kein Mensch, kein Gott, alles geht seinen Gang, die Uhren gehen, die Bienen summen, die Zeit verrinnt und nimmt das Leben mit sich fort. Camille stirbt seinen blutigen Tod am Schafott. Wie Danton und die anderen. Kein Schrei kann ihn aufhalten. Das nicht. Doch ein Wort kann ihn verkehren. Paul Celan nennt es »das Gegenwort, […] das den ›Draht‹ zerreißt, das Wort, das sich nicht mehr vor den ›Eckstehern und Paradegäulen der Geschichte‹ bückt« 89. Lucile wagt dieses Gegenwort. Ganz am Ende des Stückes, auf den Stufen der Guillotine sitzend, wird sie einer Patrouille der Revolutionsgarden »Es lebe der König!« entgegenrufen. Worte einer durch den Tod ihres Geliebten in den Wahnsinn getaumelten Liebenden? Paul Celan liest es anders. Es wäre ein Akt der Freiheit. Es wäre ein Schritt. Das Gegenwort, das der Schauspieler zu sprechen vermag und das sich vor keinen Eckstehern oder Paradegäulen alter, neuer oder neuester Theatergeschichte bückt, ist – – – wie dieser Schrei Luciles geschrieen wird. Das Wie dieses Schreis kann ein Schritt, kann ein Akt der Freiheit sein, wird im Schreien die Blöße unserer Existenz riskiert und nicht seine Wirkung kalkuliert, nicht seine Virtuosität vorgeführt, nicht ein bestimmtes Format

88 G. Büchner: Dantons Tod, 4. Akt, 8. Szene, S. 74. 89 Celan, Paul: Der Meridian, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1968, S. 135.

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bedient. Das schließt Wissen um Wirkung und Virtuosität nicht aus und alle Formate mit ein, aber mit keinem kurz. Das Wie eines solchen Schreis kann den Draht zerreißen, an dem der Automat, die Puppe, die Gliederpuppe Mensch hängt – – – und eine Welt aufschließen, wie sie da ist, wie sie auch da ist – – – nämlich eine, die in Hinblick auf ihre Vergangenheit nicht endgültig abgeschlossen ist, sondern immer noch weitergeschrieben werden kann und die sich in Hinblick auf die Unantastbarkeit ihrer möglichen Zukunft immer schon überschritten und zugleich eingeholt hat. Das ist die musische Aussicht, die Wende, die Atemwende und Schönheit performativer Kunst. »Sie [die Schönheit] tritt namenlos als Geheimnis hervor: Ihr Rätsel bezeichnet die ›Blöße der Form‹. […] Sie nimmt Anteil an der Einzigkeit des Augenblicks. Deshalb lässt sie jenseits des Sprachlichen einzig den Imperativ eines Zeigens zu: ›Schau!‹ oder ›Hör!‹« 90 Angesichts der ästhetischen Garden des aktuellen Theaters, die in neuerlicher Verkehrung selbst begonnen haben, dogmatisch zu sein, kann der Ausruf Luciles »Es lebe der König!« mit »Es lebe die Schönheit!« übersetzt werden. Damit ist keineswegs ein zu konservierendes Gestern oder Vorgestern beschworen, um weiter an Celans Worten entlang zu argumentieren. Es wird keinem »ancien régime« vergangener Tage gehuldigt, vielmehr einem »régime à l’avenir«. »Es lebe die Schönheit!« ist die Anrufung einer Schönheit, die sich plötzlich als Moment äußerster Verletzlichkeit und Porosität einstellt. Eine Schönheit als Atemwende, die in eine große Affirmation hinaushorcht. Warum wollen Sie Schauspieler werden? Vielleicht deswegen.

90 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2002, S. 127.

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Der Andere, die Anderen Theater braucht ein Gegenüber. Ein Gesicht vis-à-vis. Es braucht den Anderen, die Anderen. Ohne die Gegenwart Anderer gibt es kein Theater. Es braucht Zuschauer und Spieler. Theater ist eine gemeinsame Kunst, die sich aus der lebendigen Anwesenheit mit Anderen ergibt, und so ist es eine Kunst im Augenblick und eine Kunst des Augen-Blicks. Ein Augen-Blick ist immer auch mit einem Risiko behaftet. Nie kann im Voraus gewusst werden, wie er erwidert wird und was aus ihm resultiert. Öffnet er sich, liefert er sich zwangsläufig einem Fremden, eben einem Anderen aus. Das kann fatale Folgen haben und vieles entbinden, mit dem man nicht gerechnet hat und das man sich nicht vorstellen konnte. Ein Blick kann alles Bisherige umstürzen – wie zum Beispiel der von Johanna in die Augen Lionels in Schillers Jungfrau von Orleans – und ungewollt vor die Tragödie und das Rätsel einer Nichtidentität stellen, in die man sich plötzlich gestürzt sieht. Er kann also etwas ans Licht bringen, das vielleicht lieber unangetastet im Dunklen verborgen geblieben wäre, weil es konfrontiert, schmerzt, bedroht. Die Sehkraft eines Blickes kann viel Unheil anrichten. Er kann den Anderen vergegenständlichen, ihn verraten, verfluchen, verletzen, vernichten, er kann sogar töten, sagt man. Ein Blick in die Augen der Medusa, in die man unwillkürlich geschaut hat, versteinert, und die Angst vor den Kräften des bösen Blicks findet sich in allen Kulturen und reicht bis in die frühesten Zeiten unserer Geschichte. Das Zusammenspiel auf der Bühne verlangt einen anderen Augen-Blick. Mit einem völlig anderen Begehren. Vielleicht einen mit »anblickenden Augen« 91, die denen des Dionysos verwandt sind, die inspirieren und darin den Anspruch auf das unauslot-

91 Otto, Walter F.: Dionysos, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 1996, S. 80–84.

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bare Reservoir des Schöpferischen erheben. – Dieser Blick will den Anderen herausfordern, aber nicht beschädigen. Nicht einmal durch die Verirrungen der Idealisierung. Er will generell Zukunft nicht verstellen, verweigern oder sogar verunmöglichen und steht daher auch nicht – heureka! – unter dem alleinigen Diktat der eigenen Ressentiments, die blenden und verblenden und den Anderen durch Rechten und Richten von dem abspalten, was er kann. Im Gegenteil. Er heißt den Anderen grundsätzlich willkommen und will ihn in seinem Äußersten ermöglichen. Ein solches Schauen ist primär generös. Es ist mit der Passion geladen, einen Liebes-Blick zu riskieren, und dabei getragen von dem Vertrauen, letztlich fremd von fremd unterscheiden zu können, sodass er sich nicht naiv einem Anderen ausliefert, der auf Unheil aus ist. Starrt ihm dann doch einmal ein Medusenhaupt entgegen, – das soll auch auf den schönsten Musentempeln schon vorgekommen sein – , so wendet er sich entweder rechtzeitig ab oder lässt sich auf einen Probegang ein, wer im Kairos der Zeit letztlich mehr Potenzen entfaltet. Der Kuppler Eros oder der Dämon Negativität? Im geglückten Zusammenspiel sind die Chancen von Eros groß. In der Gunst der Stunde paaren sich nämlich auf der Bühne die Blicke des homo ludens im gemeinsamen Eros musischer Kreativität. Und bitte, was wäre das für ein Bund, was wäre das für eine Kopula, was wäre das für eine Kopulation, wo der Eine den Anderen um seines eigenen Genusses und Vorteils willen beschneidet? Im Anspruch eines gelungenen Aktes ergäbe das eine armselige Veranstaltung. Selbst dann noch, wenn sich einer der beiden, durch Akklamation verführt, dabei als Sieger wähnte. Die musisch siegreichen Augenblicke/Augen-Blicke am Theater sehen anders aus. Sie haben nichts mit Selbstsucht, allerdings auch nichts mit Selbstverzicht zu tun. Vielmehr nähren sie sich aus der Erfahrung, dass jeder seine äußersten Potenzen nur im Mit-ein-ander eröffnen und beleben kann und dass letztlich die größtmögliche Qualität des Einen von der größtmöglichen Qualität des Anderen abhängt. Nun hebt im Gegensatz zur gängigen Meinung Abhängigkeit Freiheit nicht auf. Daher wird sie auch im kreativen Zusammenspiel als zuinnerst notwendige

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Bedingung für die maximale Freiheit und Freigabe des Spielens erfahren. Schauspieler wissen, oder zumindest erraten sie instinktiv, »dass der wahre Ort der Originalität weder der Andere noch ich selbst bin, sondern« 92 der Ort ihrer Beziehung. »Die Originalität der Beziehung gilt es also für sich zu gewinnen«, damit das Spiel sich glückhaft ereignet. Daher ist der Ort des Verhältnisses von Schauspielern weder das Ich des Einen, noch das Ich des Anderen, sondern er befindet sich an der Schwelle zwischen beiden in ihrem in-between. Quasi im Bindestrich (englisch: hyphen) des offenen Augen-Blicks, der zugleich trennt und verbindet, wie der zugeneigte Blick, der im Spielen beidseitig über sich selbst hinausgeworfen wird, ohne dass deswegen die Eigenheit jedes Einzelnen verloren ginge. Im Paradox von with-out me entspinnt sich so zwischen-ein-ander ein kunstvolles, fein verästeltes, jeweils besonderes Flechtwerk (griechisch: hyphen, Gewebe) – und wenn das gelingt, wenn »die Beziehung originell ist, wird das Stereotyp erschüttert, überwunden, außer Kraft gesetzt, und die Eifersucht hat beispielsweise keinen Raum mehr in dieser Beziehung ohne Ort« 93. Antworten und Ver-Antwortung gäben einander die Hände. Gerieten nicht Ethik und Ästhetik in einer so gearteten sinnlich virulenten Durchdringung der eigenen Existenz im Miteinander mit den Anderen in unmittelbare Nähe? Wäre nicht der Kunst des Ensemblespiels das Achten auf die exponierte Verletzlichkeit des Anderen als Achtung vor dem Antlitz des Anderen 94 vorausgesetzt? In solcher Verbindung durchbrechen und durchstoßen die Akteure die Vorstellungen und Verstellungen, die jeder aus den

92 Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe, Atopos, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1988, S. 45. 93 Ebd., S. 45–46. 94 Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit, III. Das Antlitz und die Exteriorität, Freiburg/München: Alber Verlag 1987, S. 267–318.

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Konditionierungen seiner Vergangenheit mitbringt. Zugewandt geben sie einander Raum und eröffnen in gemeinsamer Gegenwart, Einer durch den Anderen, das Unvorhergesehene, das Unvorhersehbare, in das sie zusammen vorlaufen. Das geschieht nicht nur im Findungsprozess der Proben, sondern im Grunde in jeder Wiederholung einer Aufführung. Denn ihre performative Qualität beruht immer auf Vorgriff und Rückgriff, auf verbindlichem Gedächtnis und offenem Spielplatz, in Urwald und Garten. Von den drei Zeitformen her gesehen, könnte man sagen, das Ereignis des Spielens bleibt jedes Mal wieder an die stimmige Einigung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 95 verfugt und verfügt. Ihre festgeschriebene Folge wird im Kairos der Zeit ins Offene gewirbelt und augenblicklich neu zusammengefügt. So hören die Spieler nicht auf, vorwärts und rückwärts miteinander unterwegs zu sein in ein Fremdes, in ein Niemandsland, into the unknown, das neugierig anzieht und dem sich alle Mitspieler in der aisthetischen Lust auf Wachstum zuneigen und zueignen. In gemeinsamer Freude, aber auch in gemeinsamer Angst gewinnen und verschwenden sie sich im Pathos von Lachen und Weinen darüber, sich so zu exponieren, sich so im Mit-ein-ander exponiert zu wissen. Post Scriptum. In all dem Dilemma der Ausgesetztheit ist – zum Glück oft genug – ein Augen-Zwinkern mitgesprochen und mitversprochen. In ihm blinzeln sich die Akteure selbst zu und aus dem Souffleurkasten ihres Gemüts hört man Sätze wie zum Beispiel: »ey daß dich [doch] der Kuckuck, du liebes Närrchen du!« 96 – – – und die Schwere der Exponiertheit springt aus den Angeln und trollt sich.

95 Zur ekstatischen Einheit von Zeitlichkeit und zum vulgären Begriff der Zeit siehe Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer Verlag 1979, S. 364–366 und S. 420–428. 96 Müller, Friedrich (genannt Maler Müller): Der Satyr Morpfus, 3. Gesang, Heidelberg: Mohr und Zimmer 1811, S. 157.

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Affektivität contra Denken Der Verdacht, Denken wäre der Widersacher schauspielerischer Begabung und Affektivität der Widersacher philosophischwissenschaftlicher Redlichkeit, verlangt noch einmal Aufmerksamkeit. Warum? Weil Vorurteile zäh sind. Hartnäckig. Kaum auszurotten. In Anlehnung an Nietzsche könnte man sagen, Vorurteile sind zäh wie der Erdfloh 97, sie leben am längsten. Nicht zu übersehen, dass sie auch ihr Lüstchen haben. So schleichen sie sich gerne bei jeder Gelegenheit ein. Spritzen ihr Gift aus, lassen Dampf ab. Das ist praktisch. Der Vorteil ihrer Dynamik liegt auf der Hand. Man ist entlastet, entschuldigt, entschuldet, ein Sündenbock ist griffbereit. Freud und Nietzsche schütteln einander die Hände. Sie haben richtig diagnostiziert. Ressentiment und Übertragung sind regierende Kräfte, von denen es wohl nur eine relative Freiheit gibt. Betrachtet man nun das Paket Schauspieler und Gefühl eingehender und beginnt zuerst einmal mit dem gängigen Vorwurf, Schauspieler seien auffällig affektgesteuert, muss da nicht konstatiert werden, dass die prekäre Stelle, die typische Schwäche der Schauspieler tatsächlich das Affektive ist? Sind Schauspieler nicht immer ein bisschen zu laut, immer ein bisschen zu aufgeregt, immer ein bisschen zu willensschwach um Wirkung bemüht? Lassen sie sich nicht allzu willfährig auf den Wogen ihrer Emotionen treiben? Irrlichtern ihre Gefühle nicht weiß Gott hin und her, treulos und gefährlich verführbar? Gibt es dafür aus der jüngeren Geschichte der Politik nicht genügend beunruhigende Beispiele? Sind Schauspieler nicht per se Flüchtlinge der Vernunft? »Geist hat der Schauspieler, doch wenig Gewissen des Geistes. Er glaubt immer an das, womit er am stärksten glauben macht – glauben an sich macht. Morgen hat er einen neuen Glauben und

97 F. Nietzsche: KSA 4, S. 19.

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übermorgen einen neueren. Rasche Sinne hat er […] und veränderliche Witterungen.« 98 Oder müsste man die Disposition des Schauspielers nicht noch einmal um die Achse drehen und einräumen, dass der Schauspieler sich berufsbedingt auf den »Wogen der Emotionen« treiben lassen muss? Dass er gar nicht anders kann? Im Trockenen kann man nicht schwimmen und »im Trockenen« kann man nicht spielen. Spielen fließt über, wuchert, ist leidenschaftlich, chaotisch, randständig. Was sonst? Auch Brecht konnte keine papierenen Schauspieler brauchen. Nur Philister können daher vom Schauspieler verlangen: »Ich rat Euch drum Zuerst Collegium Logicum, Da wird der Geist Euch wohl dressiert In spanische Stiefel eingeschnürt, Dass er bedächtiger fortan, Hinschleiche die Gedankenbahn.« 99 Trifft Mephistos Spott nicht genau die Vorwürfe, die Schauspieler allem Theoretischen gerne machen? Heißt es nicht trefflich weiter: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, / Und grün des Lebens goldner Baum?« 100 In der Stube hocken oder hinein ins volle Leben, da fällt die Wahl nicht schwer. Diese Gegenüberstellung leuchtet ein. Schulbildung lässt den Famulus Wagner in Goethes Faust auferstehen, diesen trockenen, langweiligen, biederen Vertreter der Vernunft. Keine der begehrten Rollen! Unwillkürlich denkt man an grau. Schon ist Partei ergriffen, und diesmal ist nicht der Affekt, sondern das Denken der Verlierer. – Mephistos Hohn ist tiefsinniger. Er höhnt in seinem Rat an den Schüler nicht über das Denken als Denken schlechthin, sondern

98

Ebd., S. 65.

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J. W. Goethe: Faust I, Zürich: Artemis Verlag 1997, Studierzimmer, S. 200.

100 Ebd., S. 203.

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über eine ganz bestimmte Form des Denkens. Er verspottet ein Denken, das von allem Physischen, von allem Sinnlichen abstrahiert – auch wenn so manchem Repräsentanten dieser Art bei Ratschlägen wie »Besonders lernt die Weiber führen; / Es ist ihr ewig Weh und Ach / So tausendfach / Aus einem Punkte zu kurieren« 101 der Mund wässrig wird und die Hose heimlich schwellt. Aber hat nicht schon Eva mit ihrem Apfel die ganze sündige Misere der Menschheit angezettelt? Heute könnte man das rationalistische Bild des Denkens in das intellektualistische Bild 102 des Denkens übersetzen, das zwischen Inhalt und Aufführung seines Inhalts rigoros unterscheiden zu können glaubt. Ein intellektualistisches Denken etabliert ein hierarchisches Verhältnis zwischen Sprache und Sprechen. Es vertritt den reinen Anspruch eines Inhalts, der wahr oder falsch ist, ohne die Situation, ohne den Kontext, ohne die Tonart, ohne den Gestus im Sprechen zu berücksichtigen, in dem ein Satz verkörpert wird. Die spielten für seine Bedeutung keine Rolle. Das grammatische oder pragmatische Regelsystem der Sprache gibt »wahr« oder »falsch« vor. Der Famulus Wagner atmet auf. Gegen solche Formen theoretischen Denkens wendet sich intuitiv die schauspielerische Intelligenz. Sie wittert mit Recht, dass ein Denken dieser Art on stage kontraproduktiv ist. Es hemmt Kreativität, behindert, verhindert, sperrt ein, zügelt. Züchtigt, wie eine Rute. Spielen ist keine mathematisch-logische Aufgabe, die in der vorhersehbaren Summe ihrer Teile übereinzustimmen hat. Es hat kein berechenbares Ergebnis, es ist sinnlich, widersprüchlich, performativ, ekstatisch und beinhaltet daher immer ein Unvorhergesehenes, ein Unvorhersehbares, ein plus esse, ein nicht voraussagbares Mehr an Sein. Eine Aufführung hat kein

101 Ebd. 102 Zum intellektualistischen Bild von Sprache siehe Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2001.

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logisches, sondern ein ontologisches Ergebnis. Ihre Qualität kann nicht argumentativ eingeholt werden. Sie hat generell amourösen Charakter. Sie ist erotisch, begehrlich, kupplerisch. Eine Aufführung ist eine Kopulation, eine Kopula 103,eine Amour fou. Vom Collegium Logicum aus beurteilt, ist sie natürlich eine Verfehlung, eine Gefahr. Parasitär. Arbiträr. Voll von Nichtsnutz, und Schauspieler sind mutmaßlich Tunichtgute, ein Luxus, den die arbeitende Gesellschaft sich leistet. Der Satz vom Widerspruch wird missachtet, das ausgeschlossene Dritte spielt mit, A ist nicht gleich A, sondern A plus n. Das Resultat stimmt nie, es passieren generell Rechenfehler. Lücken tun sich auf, Leerstellen, unerwartete Differenzen. Aber genau in dieser Ungleichheit, in diesen Differenzen, in diesem begehrten, verborgenen Unkalkulierbaren liegt der Schatz der performativen Kunst des Schauspielers. Jetzt hebt einer drohend den Zeigefinger. Wieder der Mahner von vorhin? Rachsüchtig, wie wir nun einmal sind, verschafft sich daraufhin ein kleines Vergnügen Raum. Es malt sich aus, wie es dem ehrbaren Famulus Wagner wohl erginge, geriete er in die Fänge einer ähnlich pudelnärrischen Rede, wie sie Mephisto dem Schüler hält. Er flüchtete wohl stante pede in seine einsame Kammer und zöge sich die Bettdecke über beide Ohren. Aber wer weiß? Alles Performative ist voller Überraschungen. So steckt auch das intelligente Verwirrspiel Mephistos, das er mit dem fahrenden Scholaren aufführt, voller überraschender Wendungen. Es ist ein schönes Beispiel für die Kunst performativer Rede. Daher bringt sie den armen Tropf auch in rechte Bedrängnis. Der weiß am Ende nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, so verdreht hat ihm ihn der Teufel mit seinen gelehrten Worten. Das Verwirrendste ist nicht einmal, was Mephisto sagt, sondern die

103 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1975, S. 38.

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Art und Weise, wie er es sagt. Wie er die Worte und die Begriffe dreht und wendet, wie die Beweislast seiner Argumente klingen, das ist für den Schüler so aberwitzig, so anstößig, so anrüchig. Auch wie er schaut, unpassend auflacht und nach dem Schüler fasst. Da klingeln allerlei Alarmglocken in dessen Kopf, aber er weiß nie, wo es brennt. Ständig nehmen Mephistos Begründungen und Beweise einmal diese und einmal jene Bedeutung an. Sie changieren. Sie schillern. Sie oszillieren. Sie werden zu wahren Chamäleons. Mit klebriger, blitzschneller Zunge greifen sie an und bei jeder Attacke geht ihnen der Schüler erneut auf den Leim. Aber das Allerverwirrendste ist, dass trotz allem Hin und Her die Worte und Sätze in sich logisch bleiben. So logisch und konsistent! Aber ihr Ton, ihr Ton und all das andere Drumherum! Am Ende ist’s ihm »wie ein Traum« 104. Könnte man nun in einer nächsten Wendung nicht »träumen«, ja sogar behaupten, dass sich im Ereignis des Spielens Denken und Affektivität in inniger Dynamik fruchtbar verschränken – und dass es in solchem Geschehen nicht um die Befreiung von den Affekten, sondern um eine Reinigung der Affekte ginge? Um ihre noble Durchdringung. Ihre Nobilitierung. In welcher spezifischen Qualität der Empfindung fände das seinen Ausdruck? In der Schulung der Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auf den Anderen, auf seine Alterität. Sie wäre begleitet von einer allmählichen Entgiftung der Ressentiments. Von Angesicht zu Angesicht fände keine Vergegenständlichung und keine Verurteilung mehr statt, sondern der Blick in das Antlitz des Anderen und die Antwort, die jeder gibt, hätte mit Ver-Antwortung zu tun. In solcher Sensibilisierung und Herausarbeitung der Sinne würde die Bühne zum Ort für eine Ethik der Responisvität und zum Ort der Erfahrung und Wiedererinnerung (Anamnesis) des Vorrangs der Alterität überhaupt – als eines Zuvorkommenden. 105 Wär’s uns am Ende dann nicht »wie im Traum?«

104 J. W. Goethe: Faust I, Studierzimmer, S. 203. 105 Siehe D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 9–21.

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Denken und Spielen Von ihrem Rang her können weder Denken noch Spielen angepasst und gesittet sein. Eines gegen das andere ausspielen zu wollen, ist ein müßiges Geschäft. Beiden gehen Normierungen wider den Strich. Lassen sie sich allerdings gefügig machen, hören sie auf, auszuufern, hören sie auf, spielwütig und denkwütig zu sein, hören sie auf, ihre Sehnsucht über sich hinauszuwerfen, verwerfen sie ihren Liebescharakter – dann ist der Geist dressiert, im Spielen und im Denken. Dann ist der Geist eingeschnürt, geknechtet, unterjocht, und der Schraubstock, der »spanische Stiefel«, hat Denken und Spielen genau dort, wo sie angepasst und gehorsam das »richtige Ergebnis« liefern. Ganz wie es Mephistos Hohn empfiehlt. Das ist ein Holzweg für Spielen und Denken. Ihr Credo lautet anders. Stimmen beide nicht darin überein, sich in der Lust am Ereignis des Spielens, sich in der Lust am Ereignis des Denkens zu verschwenden? Wollen sie sich nicht gleichermaßen bis in das Äußerste ihrer Möglichkeiten unzeitgemäß herausfordern und herauswagen? Ist nicht für beide das unabschließbare Fragen, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts? – und daher das Fragen nach der Interpretation des Menschen, nach Sinn und Unsinn unserer Existenz libidinös besetzt? Ein Fragen, das unaufhörlich ins Abwesende, ins Offene und Leere und Freie weist. Alle Schauspieler (die ganze Skala ihrer Typologien auf und ab), die nicht nur ihr eigenes Begehren lieben, die nicht nur auf sich selber zeigen, die ihre Arbeit nicht nur als super Job verstehen, was er ja auch ist, sondern als künstlerisches Begehren, sind sich darin einig, dass sie um ihrer Kunst willen diesem Offenen, diesem Freien, dieser Porosität verpflichtet sind. Schauspieler können »Wahrspieler« 106 sein, weil sie »Durchlässe-Schaffende« 107 zu sein vermögen. Künstler, die vor den

106 P. Handke: Das Spiel vom Fragen, S. 24. 107 Ebd., S. 25.

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Augen anderer im sichtbaren Licht »die Durchlässigkeit in Person« zur Aufführung bringen, sodass am Ende nicht sie, »sondern die Leute als Schauspieler nach Hause gehen, und zwar als von ihrem Schauspielertum überzeugte, weil sie durch ihn, den Durchlässe-Schaffenden, erst begriffen haben, dass auch sie dieses immer wieder verkörpern …« 108 Die Welt nachzuahmen und zu spiegeln, ist wichtig und ist spannend. Der historische Blick, die mimetische Nachahmung sind von großem Nutzen. Ihre Kenntnis und ihr Können sind elementare Tools für Denken und Spielen. Ob sich allerdings die Libido des Spielens und des Denkens mit einem Blick in den Spiegel, mit der bloßen Spiegelung von Glanz und Elend der Welt begnügt? Fügt nicht das Ereignis des Denkens und das Ereignis des Spielens in der glückhaften Zusammenkunft von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft notgedrungen jeder konstatierenden Wahrnehmung eine Bruchstelle zu? Einen Bruch in der Kontinuität – als Versprechen eines »anderen Anfangs« inmitten der Welt, inmitten der Kunst. In seiner Zäsur verschwände weder die bisherige Welt noch die bisherige Kunst, nur ihr jeweils bisher regierendes »Selbstverständnis«. Wird Denken und Spielen zum Ereignis, ist es immer auch an das Ungesehene, das Ungedachte, das Unerhörte gekoppelt. In ihm blitzt die genannte Kopula auf, die Verbindung, die Anbindung, der Bund, das Joch, wenn man so will. Aber ein anderes als das der Unterdrückung. Denken und Spielen wollen nicht dressieren, nicht zwingen, nicht einzwängen. Umgekehrt wollen sie nicht beschwichtigen, nicht beruhigen, nicht beschönigen. Sie wollen einen Stachel ins Fleisch setzen. Einen Stachel der Aufmerksamkeit, der die Krusten durchstößt, sie durchlässig macht, sodass Augen und Ohren übergehen, die Haut platzt. Im Ereignis des Spielens wie im Ereignis des Denkens wird der Körper porös, die Haut wird Entgrenzung. Öffnung nach außen.

108 Ebd., S. 25–26.

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Das lullt nicht illusorisch ein, sondern schlägt zu, schont auch die Anderen nicht. Macht auch sie porös, elektrisiert, setzt das Leben unter Strom. Stülpt es um. Eine Peripetie physisch-geistiger (physio-logischer) Verfassung durch die Wieder-Erinnerung an das Ekstatische unserer Existenz. Im Märchen wird Dornröschen im Kairos der Zeit wach geküsst. Nach hundertjährigem Schlaf und vielen vergeblichen Toden in der Dornenhecke. Ja, vielleicht so. Wir sind halt Narren im Theater.

Wiederholung Wäre es nicht weitaus nützlicher, die Lektionen, die uns die Wirklichkeit lehrt, ordentlich von links nach rechts oder auch von rechts nach links aufzusagen, statt sich ins Närrische verliebt zu verrennen und ähnlich unsinnigen Idealen nachzuspüren, wie es wohl angehen mag, dass man sich »einmal auf den Kopf sehen könnte!« 109 Ob uns damit geholfen wäre? Man würde am Ende noch, wie Büchners Helden, traurig an sich selber und verlöre bloß unnütz Zeit. »Aber die Zeit verliert uns«, meint Danton. »Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hose drüber zu ziehen und des Abends in’s Bett und Morgens wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer so vor den anderen zu setzen, da ist gar kein Absehens wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig und daß Millionen es schon so gemacht haben und daß Millionen es wieder so machen werden und daß wir noch obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beyde das Nämliche thun, so dass alles doppelt geschieht. Das ist sehr traurig.« 110

109 G. Büchner: Leonce und Lena, 1. Akt, S. 105. 110 G. Büchner: Dantons Tod, 2. Akt, S. 31.

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Ach, papperlapapp!, tönt es aus den Lautsprechern der fröhlichen Markwirtschaft. Die Macht der Wiederholung ist fatal. Für Glück und für Unglück. Sie pendelt und kreiselt zwischen Nötigung und virtueller Potenz, zwischen Wiederholungszwang und Vermögen der Zukunft, zwischen Schablone und Metamorphose. Von erwünscht zu verflucht, von gefürchtet zu geliebt feiert sie ihre Komödien und Tragödien, ihre Skandale und Triumphe. Für die Kunst des Schauspielers ist sie ein diffiziler Schlüssel. Ganz entgegen einem alltäglichen Verständnis von Wiederholung besteht am Theater ihr künstlerischer Code nicht in der Repetition immer ein und desselben. Man kann von Aufführungen keine Kopien ziehen. Theaterspielen ist keine technische Reproduktion, die auf Knopfdruck abgespult werden kann. Es läuft nicht immer »ein und derselbe Film«, auch wenn ein und dasselbe Stück gespielt wird, auch wenn ein und derselbe Text gesprochen wird. Eine Aufführung ist keine in sich geschlossen kreisende Wiederholung und der Schauspieler klont sich nicht selbst. Das würde rasch Gähnen verursachen, Langeweile. Das Spiel bekäme keine Luft, könnte nicht atmen, die größte Anstrengung wäre umsonst, die Worte setzten sich nicht frei, sie darbten papieren dahin, tot, Wortleichen, alle Handlung bliebe kleben, bliebe theoretisch. Man könnte sich ebenso gut ein Programmheft kaufen und alle Informationen dort nachlesen. Eine »mechanisch« bleibende Wiederholung verspielt das Schönste und Schwierigste des Theaters: seinen möglichen Ereignischarakter. In der Folge betrügt es den Zuschauer um dessen lebendige Anschauung, die ihn in einer Welt der Medien wohl immer noch ins Theater lockt. Vorausgesetzt, dass er sich nicht mit Repräsentationsakten auf der Bühne und im Zuschauerraum sowie den Pausenräumen begnügt, sondern seine Freude am Theater aus der unabschließbaren Offenheit alles Lebendigen zieht. Wiederum, abermals, noch einmal zum x-ten Mal. Dieses Vokabular riecht allerdings auch nach Zwang. Nach einem Zwang, der die Freiheit raubt, weil er übermächtig aus dem Unterbewussten hervortritt. Damit hat das Theater nichts zu tun, selbst wenn der

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Schauspieler von so manchem theatralen Über-Ich in Gestalt von Regisseuren, Direktoren und Kritikern zeitweilig geplagt sein mag. Ganz konträr zum Übel eines Wiederholungszwangs ist die Wiederholung des Schauspielers eine frohe, freudige, freudvolle. Sie findet nicht jenseits, sondern inmitten eines Lustprinzips 111 statt. Sie ist die lustvolle Stätte der Kreativität, Pool der Regeneration. Warum? Jede Vorstellung ist die Wiederholung der letzten Vorstellung. So oder so. Wie immer sie gewesen ist, ist sie gewesen. Wenn das Licht ausgeht, der Vorhang fällt, die Schauspieler sich verbeugt haben und in ihre Garderoben gehen und die Zuschauer zu ihren Mänteln, dann ist die Vorstellung vorbei, vorüber, abgeschlossen. Aber, und das gehört zum Phantastischen des Theaters, am nächsten Abend, am nächsten Termin des Spielplans kann sie wiederholt und in der Wiederholung mit neuem Leben aufgeladen werden. Sie kann repotenzialisiert werden. Was das heißt? Jede einzelne Aufführung ist auf der Basis ihres gesamten Probenprozesses im Gedächtnis des Schauspielers gespeichert. All ihre Wege und Abwege, Gedanken, Gefühle, Texte, Kontexte, Auftritte, Gänge, Abgänge – ihr ganzes komplexes szenisches und dialogisches Gefüge und Gepräge. Sie sind in ihm aufgezeichnet und erinnert. Von diesen Vorgaben her kann er sie wieder aufrufen und spielen, wobei jede weitere Aufführung eine zusätzliche Spur der Erinnerung hinterlässt, sodass ihr Archiv immer dichter und reichhaltiger wird. Aber nur, indem der Schauspieler das Gewesene neuerlich aufs Spiel und daher in Schwebe setzt, setzt er es neuerlich unter Strom. Nur in dem Risiko, sein Spielen wieder und wieder und immer wieder dem Ungewissen seiner Bewegung in der Zeit auszuliefern, nur so

111 »Die neue und merkwürdige Tatsache aber, die wir jetzt zu beschreiben haben, ist, dass der Wiederholungszwang auch solche Erlebnisse der Vergangenheit wiederbringt, die keine Lustmöglichkeit enthalten […]« Aus: S. Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: ders., Psychologie des Unbewussten, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1975, Studienausgabe Band 3, S. 229.

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kann eine Aufführung beflügelt werden. Diese schöpferische Wiederholung ist ihre elektrisierende Wirkung. Sie ist ihre ästhetische Lust. Für Spieler wie Zuschauer. Sie macht beide empfänglich für ein zeitliches Kunststück, das dem Alltagsverstand fremd ist. Für eine musische Gabe, wenn man so will, die den Einbruch einer Zeit ermöglicht, in der das Gesetz ihrer Chronologie außer Kraft gesetzt wird. Rücklings gewendet geht der Schauspieler in die erinnerte Vergangenheit zurück, holt Wort für Wort, Situation für Situation in die Gegenwart seines Spiels herein und schickt zugleich Wort für Wort, Situation für Situation nach vorwärts in die Zukunft hinaus, indem er alles Gewesene gegenwärtig wieder in ein offenes Verhältnis exponiert. So hört sein Spiel nicht auf, Zukunft zu haben. Es schließt sich nicht ab, sondern es schließt sich in jeder seiner Wiederholungen neu auf. Zwar bleibt der Schauspieler an die Chronologie eines Handlungsverlaufs gebunden, einem bestimmten Setting ist er verpflichtet, aber er kann im Kairos der Zeit, inmitten der drei Zeiten das Stück und seine performative Form in immer komplexerer Bedeutung aktuell neu entdecken, neu erkennen, neu entfalten, neu erinnern. Er kann das, was er dem Spiel vielleicht schuldig geblieben ist, nachholen. Er kann in das Vergangene der Zeit zurück und es nachträglich um Versäumtes ergänzen. Daher ist jede Aufführung in ihrer differenziellen Wiederholung immer auch ein Akt der Freiheit und der Befreiung. Ein Akt der Regeneration. 112 Er reißt Vergangenheit und Gegenwart aus den Fugen, weil in ihm Zukunft wirkt. Immer einmalig, immer singulär. In diesem Sinne findet jeden Abend, in jeder Vorstellung mit ein und demselben Namen eben nicht ein und dieselbe Vorstellung statt, sondern jede Aufführung behält ihren anfänglichen Charakter und jede ihrer Wiederholungen bleibt immer auch an die Aufgabe der Überschreitung des einmal schon so und so Gewesenen gebunden. Das ist der theatralische Kampf oder

112 Böhler, Arno: »Nietzsche – Vom regenerativen Charakter des Gemüts«, in: psycho-logik 2 (2007).

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die theatralische Gunst in der Wiederholungskunst des Schauspielers, dass sich sein gegenwärtiges Spiel beständig mit dem Gewesenen und dem Zukünftigen paart, paaren muss. Ob zu ihrem Gelingen oder ihrem Misslingen. In der Entdeckung und Belebung der Lücke Zukunft wird alle Handlung, wird alles Gefühlte, alles Gedachte, alles Gesagte in der Tat erneut lebendig. Ohne diese Differenz 113 bleibt es seine Potenz schuldig und verliert seine animierende Aura. Nur wenn das Spiel aus dem Bauch seiner Archive jedes Mal wieder so gespielt wird, als würde es zum ersten Mal gefunden und formuliert, nur dann lädt sich alle Handlung mit ihrem Sinn auf – bis hin zu dem, was nicht erklärt werden kann, bis hin zu dem, was rätselhaft bleibt. Ohne diese Differenz und ohne physischen Einsatz für diese Differenz wäre der Schauspieler eine Art kunstvolle Gliederpuppe, deren Mechanik höchstens vom Perspektiv 114 der Repräsentation verschleiert wird. Im Anstoßen und Wahren der immanenten Differenz in jeder aktuellen Wiederholung 115 repotenzialisiert der Schauspieler sein Spiel. Er pneumatisiert es. So kann er aller Leier, allem Drehorgelspiel entkommen, so kann er Abend für Abend »ein und demselben« neues Leben entlocken, ohne dass es deswegen »ein und dasselbe« bleibt und ohne dass dadurch willkürlich die erarbeitete Aufführung und ihre notwendigen Verabredungen gebrochen würden. Im Anstoßen der Differenz beginnt ein Spiel, beginnt ein Text zu leben, zu sprechen, die Zuhörer anzusprechen. Die Worte werden physisch. Sie entfalten ihre Intensität, ihre materielle Qualität. Sie laden sich machtvoll auf, dringen in Herz, Hose und Verstand und entspinnen ihr ganzes sinnliches Netz an Bedeutungen und Bezügen. Jedes einzelne Wort nur die Spitze eines verborgenen Eisbergs. Alle Handlung nur das Sichtbare eines

113 Zu einem solchen Bild des Denkens siehe Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink Verlag 1997. 114 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. 115 A. Böhler: Singularitäten, S. 165–183.

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weit komplexeren Zusammenhangs, der bis in das Abwesende, in das Ungefügte, Ungereimte reicht. Auf solch überfließende Wiederholung und auf das, was sich in ihr zeigt, könnte man süchtig werden und sie bis in das abgelegenste Unterbewusste installieren wollen. Ist ihre Kunst nicht ein weiterer Grund, Schauspieler werden zu wollen?

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Eine der acht Dionysos Masken für den Chor in der Lecture-Performance »Nach(t) der Tragödie«, Philosophy On Stage, GRENZ_film, böhler&granzer 2010, ent worfen und hergestellt von Elisabeth Binder-Neuruer.

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Heiner Müller Ich bin ein Landvermesser

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Man kann sagen, daß das Grundelement von Theater und also auch von Drama Verwandlung ist, und die letzte Verwandlung ist der Tod. Das einzige, worauf man ein Publikum einigen kann, worin ein Publikum einig sein kann, ist die Todesangst, die haben alle. … Und auf diesem einzigen Gemeinsamen beruht die Wirkung von Theater. Also beruht Theater immer auf einem symbolischen Tod.

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Jean Paul Erstes Blumenstück

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Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! … Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alls! … Ach, wenn jedes Ich sein eigener Vater und Schöpfer ist, warum kann er nicht auch sein eigener Würgeengel sein? … Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen, aus dem Totenmeer, die Zukunft. Und nach dem Tode, ihr Unglücklichen, kein schönerer Morgen, … und es kommt kein Morgen.

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Tu es mort Der Tod geht uns nichts an, denn solange wir sind, ist der Tod nicht, wenn aber der Tod ist, dann sind wir nicht mehr, so Epikur vor mehr als zweitausend Jahren. Aber dein Tod geht mich etwas an. Du bist tot. Jetzt werde ich dich nie wieder sehen. Nie mehr. Nur darum weiß ich, was sterben heißt, was Tod heißt. Nur von deinem Tod her wird mir die Radikalität, tot zu sein, offenbar. Dein Tod macht mich trostlos, nimmt mir allen Trost. Er reißt ein Loch in mein Leben. Der andere Tod ist der erste Tod, nicht der eigene. Nur von ihm her wissen wir, dass wir sterblich sind. Der Riss im Herz, ein Riss in der Zeit. Eine Kluft, ein Spalt, ein Abgrund, in der Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft verschwinden. Diese tote Zeit saugt sich selbst auf, verfällt, fällt in die eigene Auslöschung, die nichts zurücklässt als Leere. Schlägt sie einmal ihre wimpernlosen Lider auf, liegen darunter keine Augen, sondern schwarze, hässliche Höhlen. Wieder das Ziffernblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erscheint und das sein eigener Zeiger ist. Wieder dieser eklige, schwarze Finger, der auf die leere Scheibe zeigt – denn die Toten wollen ihre Zeit darauf sehen, so Jean Paul. Ananke stürzt Kairos in seine Verkehrung. Keine Gunst der Stunde mehr, keine, die heilige, die verfluchte Notwendigkeit, das Fatum,

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Theater als symbolischer Tod Es ist Zeit, um in dieser Recherche über den Schauspieler wieder auf ihren Anfang zurückzukommen. Auf den Vorfall im Lehrsaal X rund um die Schauspielstudentin Hannah J. Die Suchmaschine, die sich daraufhin in Gang gesetzt hatte, um zu verstehen, was hier vor sich gegangen sein könnte und warum es sich so abgespielt hatte, hat nun etliche Seiten mit Überlegungen gefüllt. Dabei ist sie abgestürzt und wieder angeschaltet worden, wieder abgestürzt und wieder angeschaltet worden, eine ganze lange Reihe von Testläufen hin und her, vorwärts und rückwärts. Sie spuckte dies und das aus, Aspekte, Splitter, Fragmente, Bruchstücke von Beobachtungen, Eindrücken, Thesen, erging sich in Spekulationen und phänomenalen Beschreibungen. Direkt oder indirekt hörten alle diese Spuren nicht auf, zur Geschichte von Hannah J. vor- und zurückzudeuten. Paradox zu aller »vernünftigen« Erwartung hatte Hannah J. ihr Spiel ausgerechnet in seinem kreativen Umschlag unter Tränen abgebrochen, sich geweigert weiterzuspielen, und der eigene sehnliche Wunsch, Schauspielerin werden zu wollen, hatte sich in einen plötzlich aufgestiegenen Widerwillen verkehrt. Der Stoß vor den Kopf für den Zuschauer bestand im Warum. Warum hatte sie das getan? Welcher Schlag wurde ihr versetzt? In welche Grube war sie gefahren? Beweinte Hannah J. sich selbst? Galt ihr Aufstand dem Ereignis eines »symbolischen Todes«, weil im Elementaren der Kreativität gleichermaßen die Zäsur des Sterbens aufgeblitzt war – in einem unverstellten Blick in die ganz gegenwärtige Maske des Dionysos 116, hinter der nichts ist. Hatte dieser Augen-Blick, der Schrecken über das Abwesende hinter der Maske, das Erschrecken über die Entbindung in ein Bodenloses in the playing field of our Being-in-the-World ihr inhaliertes Weltbild von der Souveränität des Subjekts bedroht? Attackierte das geglückte Spiel diesen Common Sense,

116 W. F. Otto: Dionysos, Das Symbol der Maske, S. 80–85

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das auch den Tod bringt, unwiderruflich, unwiderruflich deinen Tod gebracht hat, dich mir genommen hat, reißt mit dir alles in seine Absenz. »Sum in puncto desperationis«, schreibt Nietzsche an Overbeck 1881. Verzweiflung als Punkt und Stillstand. Ein Deckel aus Blech, der geschlossen wird, schließlich einer aus Holz, dein Gesicht aus dem Blick verschwunden, entzogen für immer der Anblick, das Antlitz, das ich so liebe. Der Gedanke an das Kühlfach, in das unsere Kultur seine Toten schiebt, macht noch desperater. Mit dir ist alles ausgelöscht, ins Koma gefallen, die Zeit kann weder vergehen noch dauern, Kairos und Kronos sind gleichermaßen gelähmt, vernichtet. Hermetisch geworden, wird das Dasein zu einer einzigen Misere. Träg, dumpf, gallig. Aussichtslos, teilnahmslos, elend, und die Angst frisst sich satt. Eine diffuse, aufsässige Angst, die sich in alles verklammert. Überall Schatten der Angst; an den Mauern, an den Wänden, in der Luft, im Atem. Die Gegenwart, bloß ein Nie-mehr. Die Zukunft, bloß ein Nie-mehr. Die Vergangenheit, bloß der Schmerz des Nie-mehr. Die Zeit, ein einziger Mangel. Vergebliches Festkrallen. Alles weist ab, verweigert sich, bleibt unnahbar. Das Leben stürzt in seine Absenz. In du bist nicht mehr da, wird alles andere vernichtet. Das äußerste Ausbleiben von allem, das in deinem Tod beschworen wird, treibt die Angst vor sich her, Tag für Tag, Nacht für Nacht, unheimlich, übermächtig. Vor allem morgens. Da liegt sie auf der Brust, sargdeckelschwer. Sie insistiert beharrlich, dass vielleicht tat-

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sodass es exzessiv in einen »heiligen Ernst« 117 umschlug, in dem statt der Freude die fatale Angst, von der Heiner Müller spricht, in der jungen Schauspielerin hochschoss? Der Sirenengesang eines »Ungeheuren« in der Verwandlungskunst des Schauspielers. Aber nicht »harmlos«, wie wir es primär verstehen, durch eine Erzählung, in der Handlung einer Geschichte, sondern als zentrales Geschehen im Ereignis des Spielens, in dem das eigene, vertraute Ich nicht mit »heiler Haut« davonkommt. – Der listige Odysseus ließ sich von seinen Gefährten, die ihre Ohren mit Wachs verstopft hatten, an den Mastbaum fesseln, um in den Genuss des Gesangs der Sirenen kommen zu können, ohne sich darüber ins Verderben stürzen zu müssen. Hatte Hannah J. rasch alle ihre Sinne verschlossen, weil sie entfesselt in einen befremdlichen, ängstigenden Sog der Preisgabe ihrer eigenen Existenz geraten war? War ihr störrisch hervorgestoßenes Selbstverbot für Theater ein Notsignal, eine Notbremse, um nicht noch weiter in ungesichertes Areal gelockt zu werden, das ihr nicht geheuer war? »Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon«, findet sich in einer posthum veröffentlichten Notiz Freuds vom 22. August 1938. Der Philosoph Jean-Luc Nancy bezeichnet diese Notiz als das faszinierendste und vielleicht entscheidendste Wort in Freuds Werk. 118 So ähnlich hat es sich vielleicht im Lehrsaal X abgespielt. Ja, so könnte sich die abrupte Erfahrung der befremdlichen Ausdehnung unserer Psyche über die eigene Haut hinaus – wie weit? bis wohin? – angefühlt haben. Ein Ereignis, in dem das bloß Fiktionale des Theaters gesprengt wurde und das Hand in Hand mit der nötigenden Erfahrung einer Art Selbstverlusts im Spielen einherging. Keiner müsste sonst im Augenblick des Glückens in Tränen ausbrechen. Keiner dem Theater abschwören. Die Irritation ging offensichtlich unter die Haut, tat weh, war affektiv, hatte das Pathos einer Zerreißprobe.

117 J. Huizinga: Homo ludens, S. 27. 118 J.-L. Nancy: Corpus, S. 23.

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sächlich einmal kein Morgen mehr ist, keine Zukunft, keine Zuflucht, dass tatsächlich einmal im Tod alles endgültig vernichtet ist und, hässlicher Zusatz, dass wir radikal scheitern können, dass wir in eine Sackgasse als unser dünnes Ende laufen können. Es erst bemerken, wenn es zu spät ist, dann im Sterben, im Krepieren unter einem gleichgültigen Himmel. Verflucht, verlassen, verloren, schließlich vergessen, weil es die Zeit nicht gibt, in der alles zumindest gut enden könnte. Das sind Worte der Täuschung, falsches Vertrauen. Vergeblicher Trost eines Kinderwunsches. Wo ist das Gegenwort, von dem Paul Celan spricht? Das Wort, das den Draht zerreißt, dieser eine Schritt, dieser eine Schritt ins Freie? Ach, ach, die Kunst! In der Kunst ist gut reden. Aber im Leben? Ohne Bühne, ohne Theater, ohne Souffleur, ohne auswendig gelernten Text? Da ist kein Wort, kein Gegenwort. Da ist nur Leere in Kopf und Gemüt. Nur Abwesenheit von allem. Die Sinnlosigkeit nistet sich ein, gierig wie der Krebs, der wuchert, zehrt alle Kräfte auf, alle Freude, alles Glück, die gesamte Wahrnehmung und allmählich wächst eine augen- und mundlose Maske über das eigene Gesicht. Blicklos geworden, verliert das Dasein den Rest seiner Orientierung, läuft im Kreis. Immer rundum, immer rundum. Ein Kreislauf in immer ein und dieselbe Sackgasse der Ohnmacht, ein Zirkel der Schwermut, ein Zirkel der Angst, ein Circulus vitiosus – und der Teufel lacht sich heimlich ins Fäustchen.

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Welches Gespenst geht da um? »Where wilt thou lead me? speak, I’ll go no further.« 119 wieder an derselben stelle gelandet in dieselbe falle geraten wo die sprache ausgeht wo die grammatik ausgeht der plötzliche schrecken dagegen bleibt er will sich nicht und nicht abschütteln lassen entzieht sich der reflexion die greift in die luft ich von mir selbst entbunden ich mir selbst entwendet in die absenz genötigt wo wir schauspieler doch alle auf präsenz aus sind gar nicht anders können als auf präsenz aus zu sein das prinzip meiner individuation verletzt verstört verspielt preisgegeben abwesenheit bei simultaner anwesenheit destabilisierender widerspruch wie kann ich für eine leerstelle inmitten meines daseins worte finden worte die entlasten klären erklären aufklären wo sie sich doch gerade in das unsagbare entziehen in das entschriebene wie ich in corpus gelesen habe ohne zu verstehen was das heißt sakrament nocheinmal würde mein großvater jetzt fluchen diese vermaledeite lücke in der der akteur verschwindet ohne zu verschwinden diese tücke des spiels kind of point of no return das ist kein spiel mehr with-out me

Point of no return Ein Punkt ohne Wiederkehr ist ein irreversibler Wendepunkt, an dem der Wille nichts mehr ausrichtet. Ein Schnitt in der Zeit, eine Zäsur, an dem ein Geschehen eintritt, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Etwas geht zu Ende. Eine Grenze wird überschritten, ein Schlag wird versetzt – mit den Folgen einer Wendung, einer Verwandlung, die nicht die äußere Gestalt meinen muss, sondern ebenso ein verwandeltes Verhältnis zu sich selbst. In jedem Fall wird es nachher nie mehr so sein, wie es vorher gewesen ist. Viele Texte erzählen davon. Zum Beispiel ist in Schillers Monolog der hl. Johanna, mit dem Hannah J. im Lehrsaal X zugange war, gleich zweimal von

119 Shakespeare, William: Hamlet, London–Edinburgh: W. & R. Chambers 1862. Vol. VII., Act 1, Scene V. Siehe auch dazu J. Derrida: Marx’ Gespenster.

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einem solchen Einschnitt die Rede, dem Johanna machtlos gegenübersteht. Einmal, als sie, das Hirtenmädchen, vom Ruf Gottes getroffen sich zur Befreiung Frankreichs aufmacht, und das zweite Mal im Kampf mit dem Briten Lionel. Diesmal ist es der Blick in die Augen eines Mannes. Ein plötzlich in sie einfahrender Liebesblick, der es ihr unmöglich macht, ihn, den Feind – wie andere vorher – zu töten, obwohl sie ihn besiegt hat. »Mir ist das Herz verwandelt und gewendet« 120, beklagt Johanna diesen Liebesblick, in dem ihr zugleich die Stimme Gottes erlischt. Skandalöser Widerspruch, der hier beschworen wird. Inmitten der Epoche der Weimarer Klassik löst Schiller Johannas point of no return »moralisch«. Einerseits bestätigt er ihn durch ihren Tod in der Schlacht. Wie sollte, wie könnte sie, »unschuldig-schuldig« geworden, weiterleben? Johanna muss sterben, sie muss ihr Leben in der Schlacht einbüßen. Aber andererseits hebt er ihr Ende durch ihre Verklärung im Tod auf. Auf seinem Schlachtfeld Bühne ist der Schauspieler einem ähnlich anstößigen Widerspruch ausgesetzt, paradox gleichzeitig »schuldig-unschuldig« zu sein, weil auch er zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Passivität und Aktivität, zwischen mit mir und ohne mich ausgespannt ist. Taucht diese Unterscheidung in ihm auf, verliert das Spiel gewissermaßen seine Naivität oder, in Anlehnung an Johan Huizinga, dann verliert das Spiel den profanen Charakter der Alltäglichkeit. Eine solche Erkenntnis ist keine Frage intellektuellen Verstehens. Diese Unterscheidungskraft ergibt sich weit eher aus der leibhaftigen Erfahrung, dass im Spielen simultan Aneignung und Enteignung nach dem Schauspieler greifen, und mit einem Schlag weiß er, dass er ihrem Miteinander, Gegeneinander, Füreinander zeitlebens preisgegeben bleibt. Man könnte diese Differenz oder auch Wunde, die in der eigenen Existenz aufklafft, das Gebrechliche des Unvorhersehbaren nennen. 121 Sein Geheimnis. Oder das

120 F. Schiller: Die Jungfrau von Orleans, 4. Aufzug, S. 773. 121 Vgl. J.-L. Nancy: Corpus.

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Abwesende, das sich entzieht, das unaufgeklärt bleibt. Oder das Ich-Fremde, das dunkle Andere unserer selbst. Dasjenige, das vom Ich nicht gebändigt werden kann und das in keinem Ergebnis vorhersehbar ist. Das kann einem schon in die Seele fahren, so wie es im Fall von Hannah J. passiert sein mag, und in einem Nu die Vorstellung umstürzen, die man bisher vom Theater hatte. Plötzlich geht seine Unverbindlichkeit zu Bruch und das Spiel verliert den Schutz seines Repräsentationscharakters, hinter dem sich der Schauspieler, bewusst oder unbewusst, verstecken kann, um sich letztlich Heiner Müllers Votum von der Verwandlung vom Leibe zu halten. Aber! Welches Gesetz diktiert, dass nur die Angst im Spiel der Verwandlung regiert und dass nur sie alleine der einzige Horizont ist, der Spieler wie Zuschauer machtvoll einigt, dass nichts anderes als Verlust droht und sich kein Gewinn schenkt? Es soll daher nun – gegen Heiner Müller – darauf insistiert werden, dass die Freude und der lustvolle Übermut gleich unwiderstehlich über Spieler wie Zuschauer hereinbrechen und sie ebenso magisch in ihren Bann ziehen können. Das alte Emblem des Theaters ist doppelt. Zum Trauer-Spiel gehört das Lust-Spiel. Im Ende wartet der Anfang. Auch in seiner fiktiven Vorwegnahme. Ist nicht alle Realität selbst imaginär durch das Antizipieren von Möglichkeiten, die sie in-sich-selbst vorwegnimmt? Wie aber könnte in dem erwachten Unterscheidungsvermögen ein Schlag der Befreiung aussehen, der uns in die Freude katapultiert und die Option eröffnet, dass der Hampelmann nicht nur in seinen Drähten verheddert und verknotet, tot und ausrangiert in einer Ecke liegen muss? Gibt es ein Versprechen, das in der Preisgabe unserer selbst wartet – und das sich am Schauspieler beispielhaft ablesen lässt? Die Bedeutungen von preisgeben reichen von ausliefern, aufgeben, aufopfern, verraten – bis hin zu Valet sagen und begraben. Aufgeladen mit Auslieferung und Verrat, mit Verzicht und Adieu ist es ein ängstigendes Wort. Nimmt man es jedoch in seiner

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Zusammensetzung von preisen und geben auseinander, entsteht ein anderer, vielversprechender Klang. Seiner Etymologie nach bedeutet preisen rühmen, verherrlichen, hochschätzen, (Gott) loben. Außerhalb des Marktes sind Preise Auszeichnungen für besondere Taten und Verdienste. So rückt preisen in die Nähe von danken, und einen Preis zugesprochen zu bekommen, ist immer auch mit Freude und mit einer Gabe verbunden, die jemand erhält. Gabe steht für Gegebenes, Schenkung, Geschenk, wie zum Beispiel die Begabung oder die Talente als dasjenige Kapital, das wir uns nicht »verdient« haben und das uns ganz ohne Gegenleistung gegeben wurde. Von dieser Doppelbelichtung her muss die Feier- und Schreckensstunde unserer Geburt, die uns Leben und Tod zugleich verspricht, oder der heikle Punkt, sich selbst preisgeben zu müssen – der »symbolische Tod« in der Verwandlung am Theater – nicht mehr allein synonym mit Verlust und Vernichtung gelesen werden. We could flip the whole thing around!

Glücken – ein Salto mortale Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde, hieß es. Warum sollte man also nicht über die Angst und über den Tod mit seinem neuzeitlichen Vorrang restloser Vergänglichkeit hinaus fabulieren dürfen? Spekuliert das Allheilmittel Wirtschaftwachstum nicht auch, ohne jede Schamröte, inmitten des Endlichen über alle Endlichkeit hinaus, selbst wenn alle Vernunft dagegen spricht? 122 Außerdem sind wir ja am Theater, und da entbrennt immer auch ein Streit um die Besetzung der Protagonisten, wobei Titelrollen besonders begehrt sind. Ergo. Warum dem Sensenmann als Figur eines letzten verbliebenen »Gottes« die Bühne überlassen!

122 Luks, Fred: Endlich im Endlichen. Oder: Warum die Rettung der Welt Ironie und Großzügigkeit erfordert, Marburg: Metropolis 2010.

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»From hour to hour, we ripe and ripe, / And then, from hour to hour, we rot and rot, / And thereby hangs a tale« 123, so the Shakespearian Fool namens Touchstone. Sicherlich. Aber – welche Geschichte wird dabei erzählt worden sein? Die Geschichte der letzten legitimen europäischen Selbstgewissheit, die Geschichte von Puppen an einem Draht, der nicht zer reißt, weil ihre Mechanik unaufhaltbar auf ein Sterben als Verenden hin programmiert ist und wir uns, Geiz ist geil, mit Goldtalerchen zu trösten versuchen? Warum sollte man über diesen letzten Mythos der europäischen Moderne 124 nicht hinaus fabulieren, ohne automatisch mit der Zuflucht in eine hintere Welt stigmatisiert zu werden? Warum sollte man nicht, ohne automatisch in den alten Bann der Entgegensetzungen zu geraten, den Hahnenschrei nur dem Nihilismus zuschreiben und nicht auch der Zukunft als einem kommenden, schönen Morgen? Weil das alle möglichen Idiosynkrasien in Gang setzt? Ach, seien wir doch milde mit den Toren, mit den Narren am Theater. Räumen wir ihnen Kredit ein. Aber da ist kein Kredit. Da ist nur die düstere Fatalität unseres Daseins, die Glauben findet. Selbst in der Gleichgültigkeit, in der Verdrängung, im Ausblenden wirkt die Zensur der Sirenen, um die herum ein großer Haufen Knochen von »verfaulenden Männern liegt und ums Gebein schrumpft die Haut ein« 125. »Was haben wir Menschenseelen in irgendeinem schwarzen Abgrund dieses schwarzen Himmels bloß verbrochen, dass wir mit dem Leben bestraft werden.

123 Shakespeare, William: As you like it, London–Edinburgh: W. & R. Chambers 1862, Vol. II, Act 2, Sdene 7. 124 Bahr, Hans-Dieter: Den Tod denken, München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 10. 125 Homer: Odyssee, aus dem Griechischen übersetzt von Kurt Steinmann, Zürich: Manesse Verlag 2007, S. 178.

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Wie zur Vergeltung einer ungeklärten Schandtat reißt man uns aus einem gestaltlosen, schmerzlosen, namenlosen Frieden und pfercht uns in strampelnde, fressende Körper, die von ihrem Hunger und Durst, ihrem Hass, ihrer Angst oder der nackten Blödheit getrieben, am Ende doch auf irgendeinem Schlachtfeld des Lebens verstümmelt werden. Und selbst wenn es uns gelingt, alt und gebrechlich zu werden, […] gehen wir nach dem Ratschluss irgend eines gnadenlosen Schöpfers schließlich doch zugrunde – an unserer Lebensgier, an unserem Zerstörungswillen oder zugrunde am bloßen Lauf der Zeit.« 126 So beginnt Christoph Ransmayr seine Neudichtung von der Rückkehr des Griechen Odysseus, der Troja vernichtet hat. Odysseus Verbrecher heißt nun der Held aus Homers großem Epos, das den Beginn der abendländischen Kultur mit markiert. Ein ähnlich grandios nihilistischer Exzess wie Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab. Mit dem Unterschied, dass jetzt nicht mehr alptraumhaft eine Zukunft visioniert wird, sondern dieses Schauspiel einer Heimkehr liest sich als tragisches, spätmodernes Echo auf den Sirenengesang, in dem das zwanzigste Jahrhundert sich blutig ertränkt hat, und auf die Tragödien der Vernichtung, die sich auch weiterhin – in vielen Masken – ohne Aussicht auf ein Ende fortsetzen und fortsetzen. Schlachten und Töten ist eine Zäsur ohne Heimkehr. Der »Städteverwüster« Odysseus kehrt zwar zurück, aber als ein anderer, und die Zeit des Wartens hat auch die verlassene Penelope irreversibel zu einer anderen gemacht. Nichts kann wieder gutgemacht werden. Da ist kein Umarmen mehr möglich, die alte Liebe, das alte Glück sind verdorben, verloren, verraten und auch der Sohn Telemachos bleibt nicht verschont. Traumatisch wird er in ein neuerliches Töten und Sterben hineingerissen.

126 Ransmayr, Christoph: Odysseus, Verbrecher. Schauspiel einer Heimkehr, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2010, S. 11.

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Homo sacer 127, der verfluchte Mensch, der keine Flucht vor dem Tod kennt. Homo sacer, der heilige Mensch, der über ein lumen naturale, über ein Licht der Erkenntnis, verfügt. Un-seliger Doppelsinn, der ihm die alles durchdringende Schönheit und den alles durchdringenden Schrecken der Welt zu verstehen gibt. »›It is ten o’clock: Thus we may see,‹ quoth he, [the fool] ›how the world wags: ’Tis but an hour ago since it was nine, And after one hour more ’twill be eleven; And so, from hour to hour, we ripe and ripe, And then, from hour to hour, we rot and rot; And thereby hangs a tale.‹ When I did hear The motley fool thus moral on the time, My lungs began to crow like chanticleer. That fools should be so deep-contemplative, And I did laugh sans intermission An hour by his dial.« 128 Folgt man dem Melancholiker Jaques aus Shakespeares Komödie Wie es euch gefällt, der über das Räsonieren des Narren Probstein über Leben und Tod vor Lachen fast vergeht, dann wären die Bretter dieser Welt und all ihr Theater, das sie aufführt, ein-

127 Agamben, Giorgio: Homo sacer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2002. 128 Der Melancholiker Jaques erzählt von seiner Begegnung mit einem bunt gescheckten Narren im Wald, der über das Leben philosophierte und über dessen Rede er sich halb totgelacht hätte: »›Zehn ist’s an der Uhr, / Da sehn wir nun‹, sagt’ er, ›wie die Welt läuft: / ’s nur ’ne Stunde her, da war es neun, / Und nach ’ner Stunde noch wird’s elfe sein; / Und so von Stund zu Stunde reifen wir, / Und so von Stund zu Stunde faulen wir / Und daran hängt ein Märlein.‹ Da ich hörte / So pred’gen von der Zeit den scheck’gen Narrn, / Fing meine Lung an, wie ein Hahn zu krähen, / Dass Narrn so tiefbedächtig sollten sein; / Und eine Stunde lacht ich ohne Rast / Nach seiner Sonnenuhr.« Aus: Shakespeare, William: Wie es euch gefällt, in: Sämtliche Werke in vier Bänden, hg. von Anselm Schlösser, aus dem Englischen übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin, Berlin–Weimar: Aufbau Verlag 1994, 2. Akt, 7. Szene.

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zig ein Ort, an dem bunt zusammengewürfelte Narren ihr tiefsinniges memento mori krähen, das zum Totlachen ist. Folgt man weiters, im Sprung auf die Bühne, auf die Bretter, die die Welt bedeuten, Heiner Müllers Blick im Zeichen des Saturn, dann wäre die Schaubühne Theater einzig ein Ort der Erinnerung an uns »potentiell Sterbende«, die allein in der Angst vor dem Tod als ihrem letzten Horizont geeinigt werden. Was spricht dagegen? Das Glücken. Das kapitale Ereignis des Glückens. Ein weiterer Grund, um sich totzulachen? Wie es euch gefällt. Das Unlehrbare des Glückens scheidet die Geister. Soll es. Im irrlichternden Verwirrspiel um die Fabel der Wahrheit muss jeder selbst herausfinden, wo er hin(ge)hört. Keinem bleibt erspart, sich so oder so versprochen zu haben. Im Glücken ereignet sich ein Umsprung, ein unerwarteter Umschlag, eine Peripetie, in die kein überzeugendes Argument reicht. Behauptet einer, es wäre eine Chimäre, dann steht man blöd da. Beschämt, wie ein Narr, und gerät ins Stottern. Glücken kann nicht schlüssig erklärt, nur versuchsweise in seinem Geschehen und seiner Wirkung beschrieben werden. Es ist durch Reflexion nicht einholbar und bricht mit der Herrschaft der Begriffe, die davon ausgeht, dass die Begriffe in allen ihren Relationen definiert und fixiert werden können. Aber im Glücken findet Schließen und Urteilen seine Grenze. In ihm kommt ein Strom ins Fließen, ein Soma-Strom, ein Fluss, ein freigiebiger Überfluss, ein Surplus, der sich der abendländischen weißen Droge 129 objektiver Wissenschaftlichkeit entzieht und den Sirenengesängen ihre Macht nimmt. Die Bezüge schießen über und werden fruchtbar. Sie werden üppig, verschwenderisch, orientalisch. Elektrisierend, erotisierend. Generös. Ihre Verkupplung, ihre musische Verkoppelung, das ist, die Kopula hört nicht auf,

129 Derrida, Jacques: Weiße Mythologie, in: ders., Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann, Wien: Passagen Verlag 1988, S. 229–290.

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schöpferisch zu sein. Im Seitensprung, im Verlassen der Regel, im Brechen der Norm entsteht eine Lücke, in der etwas hereinbricht, das bisher nicht zugelassen wurde. Der blinde Fleck wird zur Pore, die sieht, ohne zu sehen, und in spielerischer Vielfalt öffnet sich wieder und wieder eine neue Pore, eine weitere Lücke für Neues, man kommt an kein Ende, ihr reiches Spektrum verliert sich im Losen. Vielleicht könnte man sagen, dass dem Glücken Porosität zugrunde liegt. Seine Herkunft von Ge-Lücke (mittelhochdeutsch) als den vielen Lücken, die sich versammeln, spricht dafür. So stellt es sich außerhalb unserer Vorstellungskraft, außerhalb der logischen Vernunft und ihrer reinen Verstandesbegriffe – und wendet sich der Metapher, der Trope, der Fabel sowie dem Gemüt zu, dem Erkenntnis nicht mehr abgesprochen, sondern zugesprochen wird. Im Pathos des Glückens begreifen wir, dass der Tod das Leben beendet, aber dass er die Geburt nicht ungeschehen macht, dass das Unmögliche möglich ist und dass trotzdem das Mögliche unmöglich bleibt, dass alles verwandelt ist, auch wenn sich nichts verändert hat. In seiner Potenz wird die Unwiderrufbarkeit von Vergangenheit hinfällig. Sie suspendiert die Struktur des Oppositionellen zugunsten einer anderen, gewandelten Wahrnehmung, in der eine Zuvorkommenheit, eine Großzügigkeit wirksam wird, die gegen das Gift des Ressentiments immunisiert und sogar sein reaktionäres Schema außer Kraft setzt. Zumindest für Augen-Blicke. Die Zunge löst sich, es öffnet sich das Ohr hinter den Ohren, das Auge hinter den Augen, das Gemüt im Verstand und der Verstand im Gemüt, das Herz in der Hose und die Hose im Herz. Sie werden füreinander durchlässig, zwinkern sich verschwörerisch zu, Mitspieler in ein und demselben Spiel – nicht um die größtmögliche Zahl, sondern um die größtmögliche Stimmigkeit der Verhältnisse. Im Glücken und in der Freude steigt der Geschmack aller Sinne vielversprechend in Gaumen und Nase. Es riecht nicht mehr alleine nach Moder und Verwesung, und der Apfel, in den wir beißen, ist nicht vergiftet.

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Freund Probstein Müßig auf einem Waldfleck in der Sonne liegend, rechtet Shakespeares Narr Touchstone – übersetzt Probstein oder Prüfstein – mit Lady Fortune über ihren launischen Charakter. Selbst wenn er darüber ins Schelten gerät, tut er es höchst vernünftig. Aber vergeblich. Mit logischen Gründen sei dieser Dame nicht beizukommen, sagt er, die müsse man aufgeben. Daher dürfe man ihn auch erst dann einen Narren heißen, wenn die Fügung, das Geschick, das Los, der günstige Zufall, das Glück als Reichtum vom Himmel über ihn gekommen sei. Erst dann also, wenn sich Fortunas Glücksrad zu seinen Gunsten gedreht und sich ihr Füllhorn gnädig über ihn ergossen habe. »Call me not fool till heaven hath sent me fortune.« 130 Schlegel übersetzt mit »nennt mich nicht Narr, bis mich das Glück gesegnet« und Thomas Brasch mit »nein Herr, bevor der Himmel mich beglückt, nennt mich nicht Blödel«. Ironisches Wortspiel, kluge Einsicht, dumme Verirrung? Wie ist die Rede des Narren Touchstone zu verstehen? Vielleicht will er, der »Buntscheck, ach – verwirrte Welt« 131, in seinem widersprüchlichen Hin und Her über das Rätsel Fortuna, das Glück, auf den Prüfstein, den Probstein, den Probierstein legen und seinen Gehalt an Gold ermitteln. Das könnte in seinem Namen 132 mitgesprochen sein. Denn ein Probierstein diente zu Zeiten Shakespeares zur Ermittlung und Prüfung des Feingehalts von Gold, indem das Probestück an einem Probierstein so lange gerieben wurde, bis es einen sichtbaren Strich hinterließ, dessen Farbe mit der von reinem Gold verglichen wurde.

130 W. Shakespeare: As You Like It, Act 2, Scene 7. 131 So übersetzt Thomas Brasch »A motley fool; a miserable world!« Siehe: Barsch, Thomas: Shakespeare-Übersetzungen, Frankfurt a. M.: Insel Verlag 2002, »Wie es euch gefällt«, 2. Akt, 7. Szene. 132 Prüfstein, (ältere Bezeichnung) Probierstein, engl. touchstone, im 16. Jh.; ursprünglich im konkreten Sinn als Bezeichnung für einen Probierstein zur Ermittlung des Feingehalts von Gold- und Silberlegierungen. Siehe: Das Herkunftswörterbuch. Die Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim–Wien– Zürich: Dudenverlag 1963, Duden Band 7.

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Diese Entdeckung in der Bedeutung der Namensgebung Touchstone kann durchaus metaphorisch gelesen werden. Dann prüft und erprobt der Narr in seinen aufreibenden Gedanken über das Rätsel des Glücks nicht einfach den Säckel Gold, um dessen Besitz sich angeblich alle Welt dreht. Als Metapher verstanden prüft und erprobt dann der Narr einen anderen Goldschatz, der glänzt – und zwar den Glanz, das Glänzen, das Scheinen, die Aura, die sichtbar von dem ausgeht, dem das Glück seine Gunst schenkt und den die Freude heimsucht, sodass er vor Glück strahlt. Die Kunst des Schauspielers kann dafür ein Beispiel sein. Im Glücken des Spiels, das Können und Gelingen in der Gunst der Stunde musisch übersteigt, geht von den Spielern ein besonderes Leuchten, ein besonderes Strahlen, eine besondere Aura aus. Diese Aura übersteigt das Mimetische ihrer Kunst und kann auf keine ästhetische Grammatik reduziert werden. Sie ist auch nicht zu verwechseln mit der Ausstrahlung einer Person, die fasziniert. Bei der Strahlkraft des Glückens handelt es sich nicht um die Potenzierung des Subjekts, das alleine durch die Kraft seines Könnens und seiner Personalität in ihren Bann zieht. Vielmehr kennzeichnet sie die Grenze der Macht des Subjekts, seinen Notstand. In der Aura des Glückens ereignet sich die nötigende Erfahrung eines ganz Anderen, eine Verwandlung, eine Metamorphose des Ichs oder, in der Formulierung Heiner Müllers, sein »symbolischer Tod«. Das Auratische in der Verwandlung on stage markiert theatral, könnte man formulieren, den vielzitierten »Tod des Subjekts«. Das Subjekt erfährt sich mit einem Mal nicht mehr als Ursprung und Grundlage des Wissens, der Freiheit, der Sprache und der Geschichte, aber gewinnt sich paradox gleichzeitig als subiectum neu. Sein »trauriges Ende« und sein »fröhlicher Anfang« fallen zusammen und es erstrahlt in der Aura einer »einmaligen Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft.« 133

133 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1977, S. 15.

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Im Einfall des Glückens in ihr Spiel – quel malheur! – von der Angst gepackt werden, wie Hannah J. – und zurückschrecken? Wie konnte sie plötzlich können, was sie nicht konnte, und um welchen Preis? Oder – quel bonheur! – von der Freude gepackt werden, dass dieser Augen-Blick als Kairos und Umschlag ein geglückter Salto mortale der im risikoreichen Spiel zu sich selbst zurückkehrenden Existenz sein kann – und seiner Passion verfallen? Das bedeutet nicht, die eigene Freiheit aufzugeben, sondern heißt, sich freiwillig einem Liebes-Blick in die Augen des Daseins zu ergeben. Einem Blick der Bejahung und des Einverständnisses. Einem Blick der Re-signation, der sich ohne Angst ergeben kann – weil ein Liebes-Blick immer ein Ja spricht und kein Nein, weil er zugleich eine Zusage und ein Versprechen ist, das Vertrauen verheißt und Generosität und nicht Mangel und Verlust. Theater vertritt die unterschiedlichsten Konzepte, Bedürfnisse, Wünsche, Ideen, Paradigmen. Aber vorausgesetzt ein Schauspieler ist elektrisiert von der auto-poietischen Kraft theatraler Kunst, dann besteht die Kunst eines Schauspielers nicht alleine in der Virtuosität seines Könnens. Auch nicht im Abbilden der faktischen Realität, das heißt in der Reproduktion des schon Vorhandenen, schon Gekannten und vorher Gewussten, so viel mimetische Lust das auch für Spieler wie Zuseher ergeben mag. Sie gibt sich auch nicht alleine mit politisch-ideologischen Inhalten zufrieden. Der elektrisch 134 geladene Ariadnefaden in der Kunst des Schauspielers ist durch alle ästhetischen Formate hindurch das Austragen des Monströsen unserer Existenz, der leibhaftige, kreative Auf bruch von sich selbst – zu sich selbst. Inwendig, auswendig wird zum doppelten Boden eines immer einzigartigen Geschehens. Äußerste Expo-

134 »Elektra ist ›die strahlende Sonne‹. Als electron bezeichnet man das helle Gold, das Silbergold, eine besondere Legierung, auch den Bernstein und die Bernsteinkoralle.« Aus: Samsonow, Elisabeth von: Anti-Elektra, Zürich-Berlin: diaphanes 2007, S. 9.

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sition gerät zur äußersten Intimität und äußerste Intimität zur äußersten Exposition, immer im Feld eines gemeinsamen miteinander Da-seins. Das Unheimliche schlägt enthusiastisch um in Staunen über das, was über unsere eigenen Möglichkeiten hinausgeht, was uns, unsere Subjektivität übersteigt und sich doch nur mit und durch uns zeigen kann. With-out me kehrt sich aus seinem Schrecken in die Freude über die unendliche Differenz, die in dem mit-gesprochen, mit-versprochen ist, was wir einmal, hier und jetzt, geworden sein könnten. As a chamber of the sublime wäre das Theater ein gemeinsamer Ort der Erinnerung, der Wieder-Erinnerung an die Potenzialität menschlicher Existenz. Das Ereignis des Performativen im Prozess des Spielens bestünde dieser Recherche nach in einer bewussten Übernahme der kritischen Umarbeitung der je eigenen Archive. Historisch wie persönlich. Dieses Pathos, diese Passion, passio einzugehen und sie physiologisch zu bezeugen, wäre die Verantwortung und das Ethos des Schauspielers seiner besonderen Begabung gegenüber, und er wüsste sich dem Existenzial der Wiederholung als einer Kategorie der Zukunft versprochen, als einer immer im Werden bleibenden Möglichkeit – – – die aber nicht in ein nie sich einlösen könnendes Versprechen eines kommenden Morgens verschoben bliebe, sondern die im Augen-Blick des Glückens auch ankommt. Es könnte unzeitgemäß an der Zeit sein, das Schöne und das Glücken wieder in den Kanon der Kunst aufzunehmen. L’avenir du bonheur! L’avenir de la beauté!

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Finale und Punctum

Warum wollen Sie Schauspieler werden? Aus vielen, aus unterschiedlichen Gründen. Aber auch und vor allem deswegen: Warum sollen wir einem Hampelmann huldigen müssen, der kaputt in der Ecke liegt? Einer toten Gliederpuppe und einem kalten Herzen im Regal? Warum sollte der Hampelmann nicht aus Übermut einen kleinen extra Hüpfer, einen Luftsprung, einen Freudensprung machen dürfen und dabei dem Nihilismus die lange Nase drehen? Zum Narren verwandelt liegt er danach müßig auf einem sonnigen Waldfleck am lichten Grund und memoriert flüsternd die Fabel von Amor Fati, die demnächst zur Aufführung gebracht werden soll.

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Literaturverzeichnis

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Theater Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten Mai 2011, ca. 130 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1

Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz 2010, 456 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6

Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen 2010, 284 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2

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