LaborARTorium: Forschung im Denkraum zwischen Wissenschaft und Kunst. Eine Methodenreflexion [1. Aufl.] 9783839429693

With an interdisciplinary approach, »LaborARTory« explores the highly topical practice of artistic research in the field

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German Pages 336 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
LaborARTorium – Begegnungen im Denkraum. Vorwort
Künstlerische Forschung – Institutionalisierung und Perspektiven
Practice-as-Research – Paradox mit Potential
Kunst als Forschung. Ein Rückblick
Künstlerische Forschung gibt es gar nicht. Und wie es ihr gelang, sich nicht davor zu fürchten
Interdisziplinäres Raumlabor – Praxis künstlerischer Forschung
Reflexionen zum LaborARTorium als umfassenden Denkraum künstlerischer Forschung
Diskursive Materialität. Das Labor als Ort ästhetischer Aufschreibesysteme
Experimentieren als Forschung in Wissenschaft und Kunst. Eine philosophische Untersuchung in Bezugnahme auf symbol- und erkenntnistheoretische Arbeiten von Nelson Goodman und Arno Ros
Performativität zwischen Wissenschaft und Kunst. Das künstlerische Experiment als wissenschaftsanaloge Pragmatik
Der Kosmos aus der Petrischale. Oder: Wie lässt das Ähnlichkeitsprinzip Universen entstehen?
Körper denkt Tabu. Denkprozesse im Tanztheater
How to do things? – Praxis als Methode und Ergebnis künstlerischer Forschung
Theater denken. Was können Schauspieler und Wissenschaftler voneinander lernen?
Thinking by doing. Bioar t as a Form of Hands-on Ethics
Das Verklingen der Stille in der Wissenschaft
»Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?« Per formativ-reflexive Kunstvermittlung
Sichtbarmachung als Wissensproduktion. Zur künstlerischen Methode der Enzyklopädie der Handhabungen
The Seduction of Understanding. Notes on the Realities of Poetry, Science and Floriography
Grenzen der Objektivität. Ein Wahrnehmungsexperiment am Bauhaus Dessau
Freiheit von der Zeit. Ästhetisches Anschauen als Verweilen
Beutezüge an den Rändern des Gegenstandes. I Take Part and the Part Takes Me
Blush. Drei Versuche zum Erröten
The Poetics of Anamorphosis and the Art of Entropy. Cosmoscreator Omnipotens – Scientific Fairy Tale and Ar tistic Science Fiction
How to do things… Sprechaktexperimente im intermedialen Musiktheaterlabor
Nach(wort) dem LaborARTorium
Biografien
Dank
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LaborARTorium: Forschung im Denkraum zwischen Wissenschaft und Kunst. Eine Methodenreflexion [1. Aufl.]
 9783839429693

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Anna-Sophie Jürgens, Tassilo Tesche (Hg.) LaborARTorium

Anna-Sophie Jürgens, Tassilo Tesche (Hg.)

LaborARTorium Forschung im Denkraum zwischen Wissenschaft und Kunst. Eine Methodenreflexion

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Tassilo Tesche, München, 2015 Korrektorat: Angelika Wulff, Witten Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2969-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2969-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt LaborARTorium – Begegnungen im Denkraum Vorwor t Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche | 9

K ünstlerische F orschung – I nstitutionalisierung und P erspek tiven Practice-as-Research – Paradox mit Potential David Roesner | 25

Kunst als Forschung Ein Rückblick Florian Dombois im Interview mit Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche, 2014 | 33

Künstlerische Forschung gibt es gar nicht Und wie es ihr gelang, sich nicht davor zu fürchten Julian Klein | 43

Interdisziplinäres Raumlabor – Praxis künstlerischer Forschung Albert Lang | 51

R eflexionen zum L abor ART orium als umfassenden D enkraum künstlerischer F orschung Diskursive Materialität Das Labor als Or t ästhetischer Aufschreibesysteme Kevin Liggieri | 59

Experimentieren als Forschung in Wissenschaft und Kunst Eine philosophische Untersuchung in Bezugnahme auf symbol- und erkenntnistheoretische Arbeiten von Nelson Goodman und Arno Ros Nicolas Constantin Romanacci | 73

Performativität zwischen Wissenschaft und Kunst Das künstlerische Experiment als wissenschaftsanaloge Pragmatik Nicole Vennemann | 91

Der Kosmos aus der Petrischale Oder: Wie lässt das Ähnlichkeitsprinzip Universen entstehen? Sarine Waltenspül | 109

Körper denkt Tabu Denkprozesse im Tanztheater Olaf A. Schmitt | 123

H ow to do things ? – P raxis als M ethode und E rgebnis künstlerischer F orschung Theater denken Was können Schauspieler und Wissenschaftler voneinander lernen? Richard Weihe | 133

Thinking by doing Bioar t as a Form of Hands-on Ethics David Louwrier | 153

Das Verklingen der Stille in der Wissenschaft Norbert Lang | 167

»Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?« Per formativ-reflexive Kunstvermittlung Pamela Goroncy und Jessica Petraccaro-Goertsches | 181

Sichtbarmachung als Wissensproduktion Zur künstlerischen Methode der Enzyklopädie der Handhabungen Anette Rose | 199

The Seduction of Understanding Notes on the Realities of Poetry, Science and Floriography Michael Rodegang Drescher | 213

Grenzen der Objektivität Ein Wahrnehmungsexperiment am Bauhaus Dessau Emanuel Mathias | 229

Freiheit von der Zeit Ästhetisches Anschauen als Verweilen Jörg Weinöhl und Ulrike Wörner | 243

Beutezüge an den Rändern des Gegenstandes I Take Par t and the Par t Takes Me Juliane Laitzsch | 257

Blush Drei Versuche zum Erröten Anna Romanenko und Björn Kühn | 269

The Poetics of Anamorphosis and the Art of Entropy Cosmoscreator Omnipotens – Scientific Fairy Tale and Ar tistic Science Fiction Anna-Sophie Jürgens and Markus Wierschem | 281

How to do things… Sprechaktexperimente im intermedialen Musiktheaterlabor Leo Dick und Tassilo Tesche | 301

Nach(wort) dem LaborARTorium Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche | 321

Biografien  | 323 Dank  | 333

LaborARTorium – Begegnungen im Denkraum Vorwort Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche

Der Begriff ›LaborARTorium‹ bezeichnet einen Denkraum, in dem das Zusammenwirken mehrerer Elemente diese gegenseitig begünstigt. Er möchte keine Gegenüberstellung des Ortes naturwissenschaftlicher Erfahrung, dem Labor, und spezifischer Räume der Kunst implizieren, sondern vielmehr den sie vereinenden Aspekt der Arbeit (lat. labor) in den Vordergrund stellen. Arbeit soll hier definiert sein als Prozess einer bewussten und schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen mit Natur und Gesellschaft, wie sie in der künstlerischen sowie natur- und geisteswissenschaftlichen Forschung erfolgt. Im Zentrum dieses Verständnisses von Arbeit steht der Versuch. Dieser hat seinerseits Prozesscharakter, da er für die Durchführung von Experimenten steht, deren Ziel Wissenserweiterung und Mehrinformation (lat. informare: ›Gestalt geben‹) ist. Dieses Gestaltgeben erreicht die künstlerische ebenso wie die naturwissenschaftliche Forschung über empirische Wege und LaborARTorium­als Denkraum möchte die hierbei entstehenden Fährten aufzeigen und Wegkreuzungen diskutieren, denn »[w]as sich in den ›hyperrealen‹ Räumen des modernen Labors ereignet, steht den Produktionen des Ateliers (und damit ist der Raum aller Künste gemeint), gemeinhin näher als man zumeist annimmt« (Rheinberger 2005: 61f.). Kunst kann auf wissenschaftlicher Forschung auf bauen. Die Entwicklung ästhetischer Verfahren geht Hand in Hand mit technisch-wissenschaftlichen Neuerungen, die sich in neuen Medien und Materialien von der Camera obscura über den Buchdruck bis zum Synthesizer und zur Aerosoldose niederschlagen. Umgekehrt führen die Versuche, künstlerische Verfahren in wissenschaftliche Kontexte zu integrieren, z.B. zum Nachweis der beruhigenden Wirkung klassischer Musik, aber auch zu kontroversen Fachdiskussionen um den sogenannten Mozart-Effekt. Jenseits dieser offensichtlichen Zusammenhänge können wissenschaftliche Methoden in künstlerische Prozesse übertragen werden, beispielsweise in den Experimental-Ästhetiken der historischen

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Avantgarden. Aber wie forscht Kunst mit ihren eigenen Mitteln? Welches Wissen wird in der Kunst produziert? Hat es eine spezifische Qualität, ist es ein fühlbares und gefühltes Wissen? Jede kreative systematische Betätigung mit dem Ziel, den Wissensstand zu erweitern, ist nach der Definition der UNESCO Forschung (vgl. Klein 2010: 1). Aber was ist kreativ, was ist systematisch und wessen Stand, welches Wissens wird hier überhaupt verhandelt? Künstlerische Forschung verortet die Spezifika ästhetischer Zeichensysteme, den Material- und (offenen) Prozesscharakter sowie unterschiedliche (Diskurs-)Rahmungen, die Forschung charakterisieren, neu und fördert mit ihrer »archäologischen Wirklichkeit« (Kittler in Halcour 2002: 42; vgl. Brandstätter 2013: 76) auch im Rahmen der Selbstreflexivität von Kunst verborgene Motive und Beweggründe ans Licht. Die Frage, ob und inwiefern Kunst erkenntnisfähig ist, wird hier immer wieder neu gestellt. Die unter der Bezeichnung Artistic Research oder Practice-as-Research schon seit einigen Jahrzehnten international praktizierte künstlerische Forschung zielt – und hierin liegt ihre außerordentliche Brisanz – nicht nur auf das Hinterfragen und Ausagieren einer Deutungsherrschaft in einem kunstinternen Diskurs, sondern verfolgt die »Praxen, Inhalte und Formen einer zukünftigen ›Ästhetik der Existenz‹« (Schiesser 2012: 99). Künstlerische Forschung ist inzwischen institutionalisierte Realität, die in die Praxis von Kunsthochschulen und wissenschaftlichen Instituten Eingang gefunden hat und »von (europäischen) Politikleitlinien zur Kultur und Kreativwirtschaft« festgeschrieben wird (vgl. Joly/Warmers 2012: IX). Gleichwohl wurde sie bisher kaum aus geisteswissenschaftlichen Perspektiven diskutiert. Die Konferenz LaborARTorium, die am 6. und 7. Dezember 2013 an der LMU München mit sechs Keynotes, fünf Performances, 31 Rednern – davon fünf Lecture Performances – und circa 200 Teilnehmern stattfand und vom Kulturreferat der Stadt München sowie dem Promotionsprogramm ProArt der LMU unterstützt wurde, bemühte sich, dies nachzuholen. Diese von den Geisteswissenschaften ausgerichtete Tagung zu künstlerischer Forschung setzte sich zum Ziel, durch einen interdisziplinären Ansatz die hochaktuelle und polarisierende Praxis der künstlerischen Forschung im Spannungsfeld – d.h. im LaborARTorium – von Wissenschaft und Kunst auszuloten. Im Fokus stand hierbei insbesondere die Frage, welche praktischen und theoretischen Ansätze von Künstlern und Wissenschaftlern derzeit angeboten, diskutiert und für eine Erweiterung der Disziplinen fruchtbar gemacht werden. Während der Tagung LaborARTorium wurden v.a. die Methoden der künstlerischen Forschung thematisiert und diskutiert, wovon die Beiträge in diesem Buch unter verschiedenen Blickwinkeln ein Zeugnis ablegen. Der vorliegende Tagungsband versteht sich einerseits als Bestandsaufnahme von Standpunkten zur aktuellen Situation der Institutionalisierung künstle-

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rischer Forschung, wobei eine Beleuchtung von Sackgassen ihrer Disziplinwerdung ebenso geleistet wird wie ein Kahlhieb durch die um sie gewachsenen Vorurteile. Das Ergebnis ist keine tabula rasa, sondern eine Rekadrierung. So werden im ersten Teil des Buches die Leistungen künstlerischer Forschung hervorgehoben. Künstlerische Forschung – nur um einige herauszugreifen –, aktiviert mehrere Wirklichkeitsebenen gleichzeitig (Klein), vermag semantische Mehrdeutigkeit sowie vordiskursive Elemente wie Erfahrung, Körperwissen und sinnliches Erlebnis neuartig bzw. überhaupt erst zu vermitteln ­(Roesner), ermöglicht ein Eingehen auf die Angebote materialer Eigendynamiken (Dombois) oder legt prozesshafte Verflechtung innerhalb von Kunst und Wissenschaft offen (A. Lang). Andererseits möchte dieser Tagungsband einen Querschnitt durch die Reflexionen der im Kontext künstlerischer Forschung vorgeschlagenen Methoden legen. In diesem Sinn führt der zweite Teil verschiedene Perspektiven aus den Geisteswissenschaften auf die künstlerische Forschung vor, die in Vergleichen und Analogien die Verbindungsstränge zwischen Kunst und wissenschaftlichen Disziplinen herausarbeiten. Insbesondere die ersten beiden Beiträge (Liggieri, Romanacci) widmen sich im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit Kunst, Forschung und künstlerischer Forschung der Definition von Begriffen, v.a. des Forschungsbegriffs. Sie versuchen die Vorbedingungen künstlerischer Forschung zu klären bzw. reflektieren über Kunst in der wissenschaftlichen Methode. Anders die Aufsätze im dritten Teil dieses Bandes: Sie verdeutlichen, inwiefern die künstlerische Arbeit selbst als Methode und Ergebnis bei der Beantwortung von Forschungsfragen aktiviert werden kann. Gleichzeitig thematisieren sie die Beziehung von Form und Inhalt als Wechselverhältnis von Ereignis und Wahrnehmung sowie »ihren je eigenen Potentialitätscharakter, der immer auch Möglichkeiten des Andersseins einschließt« (Badura in Dick/ Tesche in diesem Band). Die Beiträge des dritten Teils lassen sich folglich nicht nur als eine Antwort auf Albert Langs Aufruf lesen, künstlerische Forschung als explorative und ästhetische Grundlagenforschung zu begreifen, auf deren Methoden der Entstehungskontext ebenso einwirkt wie der Forschungsgegenstand (vgl. den Beitrag von A. Lang), sondern unterstreichen im selben Atemzug auch, dass künstlerische Forschung methodisch nicht auf statische Prämissen zu fixieren ist. Die methodischen Fundamente der im vorliegenden Band vorgestellten Arbeiten und Projekte sind vielmehr Projektlösungen und also so beweglich wie die Scheibe eines Messerwerfers – die künstlerisch Forschenden treffen stets an anderen Stellen ins Schwarze. Die Aufsätze verdeutlichen außerdem die Variabilität von Wiederholbarkeit im Rahmen künstlerischer Forschung als ein Element der Unvorhersehbarkeit, denn die Verunsicherung der Wahrnehmung ist für sie von grundlegender Bedeutung. Daraus folgt u.a., dass die extreme Einengung von Perspektiven (vgl.

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die Beiträge von Dombois und Laitzsch) ebenso zu einem Überblick verhelfen kann wie ein Hochsitz auf einem Standpunktgeflecht und dass Wissen als Prozess des Verstehens nur im Moment der Wahrnehmung durch den Rezipienten gilt. Die Singularität künstlerischer Forschung gründet folglich auch hier im Subjektiven und zeitigt eine Mannigfaltigkeit von Herangehensweisen an teilweise sehr komplexe Fragestellungen, wie sie sich andere Disziplinen nur wünschen können. Im Sinne dieser Vielfalt die Kreativität unserer Autoren respektierend haben wir uns als Herausgeber gegen formale Einheitlichkeit und für Persönlichkeit sowie künstlerische Absicht entschieden. Insbesondere betrifft dies den zentralen Begriff ›künstlerische Forschung‹, denn die Autoren des LaborARToriums verwenden ihn verschiedenartig. So bezeichnet er in diesem Band ein Modell und eine ›Gattung‹, fungiert aber auch als Pendant zur wissenschaftlichen Forschung – mit entsprechender Schreibweise. Dieses Verständnispanorama betrachten wir als eine Stärke ›künstlerischer Forschung‹, die wir offenlegen möchten. Mit seinen vielseitigen Aufsätzen reflektiert dieser Tagungsband nicht zuletzt, dass Verschriftlichungen von Recherche-, Denk- und Arbeitsprozessen im Bereich der künstlerischen Forschung ebenso wie wissenschaftliche Schriften literarische Inszenierungen sind, die exemplarisch für die kreative Schöpfungstätigkeit der Forschung als Ganzes stehen.

D ie B eitr äge des L abor ARToriums Künstlerische Forschung – Institutionalisierung und Perspektiven Practice-as-Research – Paradox mit Potential heißt der Aufsatz von David ­Roesner in diesem Band, der die aktuelle Situation der künstlerischen Forschung definitorisch und institutionell ins Verhältnis zur Entwicklung der Practice-asResearch im englischsprachigen Raum setzt. Beide Ansätze können der Erforschung kunstimmanenter Fragestellungen dienen bzw. der Erarbeitung eines neuen, auf Erfahrung und Elementen des Prozesshaften basierenden Verständnisses von ›Wissen‹ und werfen u.a. die folgenden, von Roesner im Hinblick auf ihr produktives Potential diskutierten Problematiken auf: • • • •

die Eigengesetzlichkeiten von Kunst und Forschung Fragen der Neubewertung von Wissen Die Untrennbarkeit von Forscher bzw. Künstler und Gegenstand Prozess- versus Ergebnisorientierung

Vor wor t

David Roesner, der seit seiner Berufung an die LMU München im Jahr 2014 hier in Pionierarbeit künstlerische Forschung in seiner Lehrtätigkeit reflektiert, fordert eine Bündelung unterschiedlicher, interdisziplinärer Standpunkte, die den aktuellen Diskurs zu künstlerischer Forschung nicht nur abbildet, sondern ihm auch performative Impulse verleiht. In seinem Interview mit den Herausgebern Kunst als Forschung – Ein Rückblick aktualisiert Florian Dombois seine Weg weisenden Thesen zu Kunst als Forschung von 2006. Im Rückblick auf seine künstlerische Praxis arbeitet er zudem die Bedeutung, die Reflexionen über künstlerische Forschung für seine eigene künstlerische Arbeit und Orientierung gebührt, heraus und betont hierbei insbesondere die Produktivität von Selbstanalyse und -bewusstsein für das künstlerische Werk allgemein sowie für sein persönliches im Speziellen. Die Kraft der Induktion führt für Dombois zur »Überraschung der Kunst« und ihrer Singularität, die in einem dialektischen Oszillieren zwischen der fundamentalen Signifikanz der Persönlichkeit des Künstlers und seiner totalen Überflüssigkeit gründet. Im Rückgriff auf seine Hochschulpraxis betont Dombois zudem die Bedeutung sowie die in der institutionellen Affirmation lauernde Gefährdung des provokativen Potentials künstlerischer Forschung. In Julian Kleins Beitrag Künstlerische Forschung gibt es gar nicht – Und wie es ihr gelang, sich nicht davor zu fürchten, erzählt Scheherazade keine Geschichten. Vielmehr ist es die künstlerische Forschung höchst persönlich, die Gitarre spielt, während Fé in einem fiktiven Interview bzw. in »elf Quinten Trost« die häufigsten Vorwürfe gegen sie selbst, also gegen die künstlerische Forschung, entkräftet. Klein nimmt sich ausgehend von dieser poetischen Setzung die Freiheit zu einer Zuspitzung der Diskussion, die er u.a. in folgende Vorwürfe fasst: • Künstlerische Forschung versucht, die Kunst als Forschung auszugeben • Künstler wollen mit dem Forschungsbegriff ihre Kunst aufwerten, um sich unberechtigterweise Forschungsförderung zu erschleichen • Der Begriff der künstlerischen Forschung ist nötig, um von einer mangelhaften Qualität der künstlerischen Arbeit abzulenken Klein entgegnet diesen Vorwürfen ebenso luzide wie nachdrücklich und verfolgt, wie der künstlerische Wahrnehmungsmodus, der im Zentrum seiner ästhetischen Relativitätstheorie steht, scheinbare Dichotomien auflöst. Er enttarnt hierbei die Diskussion um die Abgrenzung von Kunst und Wissenschaft durch eine Fokusverschiebung als historische, epistemische und v.a. einschnürende Korsage. Den Herausgebern gegenüber bezeichnete Klein diesen Aufsatz als »das kleine Pamphlet«, tatsächlich ist er jedoch ein kleiner Meilenstein, der das Fundament der künstlerischen Forschung saniert.

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Die Verbindung zwischen wissenschaftlicher Forschung und ästhetischer Praxis verfolgt auch Albert Lang am Raumlabor der TU Berlin, das in visionären Arbeiten manifestiert, inwiefern Inszenierungsformen andere Räume als das Theater betreffen können und betreffen. Mit wissenschaftlichen Instrumentarien und ästhetischen Ausdrucksmitteln wird hier Architektur auf Bewegungsmuster zurückgeführt, neonomadische Lebensbedingungen erforscht oder die Historizität repräsentativer Räume hinterfragt, wobei generell die Verräumlichung der geführten Auseinandersetzungen angestrebt wird. Anhand der aktuellen Arbeiten seiner am Raumlabor tätigen Studenten1 Francisca Villela, David Roth, Friederike Kunze, Elena Koch und Jana Barthel skizziert Lang in Interdisziplinäres Raumlabor – Praxis künstlerischer Forschung, wie sich diskursive und gestalterische Praxis verflechten.

Reflexionen zum LaborARTorium als umfassenden Denkraum künstlerischer Forschung Kevin Liggieri diskutiert in seinem Aufsatz Diskursive Materialität – Das ­Labor als Ort ästhetischer Aufschreibesysteme die Kunst als Experiment und das Labor als Schöpfungsraum. Er verfolgt Wissenskonfigurationen und deren wechselseitige Austauschprozesse zwischen den Disziplinen sowie die im Labor primär verschriftlichten Spuren ästhetischer Produktionsverfahren. Das Labor versteht er hierbei als ›Schreibstube‹ und Ort moderner Erkenntnis. Es zeigt sich – wider Erwarten –, dass das Labor auf die literarische Inszenierung wissenschaftlicher Schriften verweist und gleichzeitig hybride und inszeniert ist, da es selbst aus Objekten fabriziert wird, die es erschafft. Wie dieser Aufsatz verdeutlicht, kann Literatur Zeugnis von der historischen Variabilität naturwissenschaftlicher Wissenskonfigurationen ablegen. Wissen, so zeigt Liggieri, ist nicht rein abstrakt-theoretisch zu denken, sondern wird – gerade im Labor – durch literaturtechnische Strukturen, Prozesse und Umwelten ausgeübt, die ihrerseits epistemische Kulturen sind. In diesem Sinne lassen sich statt ›harten‹ Fakten im Labor ausgeübte Denkstile als das Fundament der Wissenschaft beschreiben. Liggieri überlegt zudem, inwieweit das Labor als gemeinsamer Ort von Naturwissenschaft und Kunst die Methoden der Naturwissenschaft in Bezug auf institutionelle Fragen selbst überdenkbar macht. Dem Experimentbegriff widmet sich auch Nicolas Constantin Romanacci in seinem Beitrag Experimentieren als Forschung in Wissenschaft und Kunst – Eine philosophische Untersuchung in Bezugnahme auf symbol- und erkenntnistheoretische Arbeiten von Nelson Goodman und Arno Ros. Romanacci setzt sich das 1  |  Die Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung in diesem Buch schließt immer auch die weibliche Form mit ein. Abbildungen ohne Bildunterschriften sind stets von den Autoren des jeweiligen Artikels.

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Ziel, einen Ansatz vorzuschlagen, auf dessen Basis ein Begriff von Forschung entwickelt werden kann, der eine sinnvolle Anwendung sowohl im Hinblick auf künstlerische Vorgehensweisen als auch in Bezug auf wissenschaftliche Praxis ermöglicht. Diesen Forschungsbegriff entwickelt er ausgehend von der Praxis des Experimentierens. Hierbei ersetzt Romanacci im Kontext seiner Betrachtungen den Begriff ›Wissen‹ durch die viel weiter gefasste Bezeichnung ›Verstehen‹, denn »[s]o könnte […] ein Weg zu einer Gesellschaft eröffnet werden, die menschenwürdigere kognitive Ziele anstrebt als eine Gesellschaft, deren Forschungsziele in erster Linie an materialistischen und funktionalistischen Gesichtspunkten ausgerichtet sind« (Romanacci in diesem Band). Nicole Vennemann fokussiert in ihrem Aufsatz Performativität zwischen Wissenschaft und Kunst – Das künstlerische Experiment als wissenschaftsanaloge Pragmatik methodische Fragen im Hinblick auf zeitgenössische Kunstprojekte, die, obzwar sie sich durch Hybridität auszeichnen, in ihren Vorgehensweisen Analogien zur wissenschaftlichen Praxis aufzeigen. Sie unterscheidet das Experiment als Versuchsanlage in der Kunst vom Experimentellen, für das feste Parameter, wie z.B. die Wiederholbarkeit, keine Rolle spielen, denn »[i]m Mittelpunkt der wissenschaftsanalogen Pragmatiken […] steht ein in seinem Verlauf unvorhersehbares Ereignis, dessen Parameter vom Künstler als Konzept produziert worden ist« (Müller in Vennemann in diesem Band). Die Kunstwerke werden dadurch Konstellationen zur Initiierung von Ereignissen selbst: Ihre Leistung ist die adäquate Darstellung des Ereignishaften in einer Wahrheitsprozedur als eine Aneinanderreihung singulärer Akte. Sarine Waltenspül verfolgt in Der Kosmos aus der Petrischale – Oder: Wie lässt das Ähnlichkeitsprinzip Universen entstehen? auf Basis von verschiedenen Filmen die These, dass die visuelle bzw. ästhetische Ähnlichkeit, die die Darstellung des Großen im Kleinen ermöglicht – »Das Ähnlichkeitsprinzip kann als Grundlage für die Erzeugung der Universen gesehen werden« (Waltenspül in diesem Band) –, eng mit physikalischen Ähnlichkeiten verbunden ist und beispielsweise die Herstellung von Film-Aufnahmen durchaus mit Techniken erfolgen kann, die aus der wissenschaftlichen Praxis bekannt sind. Ihre wesentliche Erkenntnis ist, dass sich beide Blickrichtungen ergänzen: die Ableitung von Lösungen aus wissenschaftlichen Modellbildungen (als Formeln verschriftlicht) sowie das künstlerische Erfahrungswissen, das durch trial and error entsteht. Die Qualität beider Herangehensweisen ist ihre prinzipielle Offenheit. In seinem Beitrag Körper denkt Tabu – Denkprozesse im Tanztheater betont Olaf Schmitt die Macht des Nonverbalen. Er verfolgt anhand des Tanzstücks I love I von Modjgan Hashemian sowie der Performance Hacking Wagner von Saar Magal die alternativen Kommunikations- und Erkenntnismöglichkeiten des Tanzes, die das Verbale weit überschreiten, Gedanken und Ungesagtes körperlich aussprechen und dabei durchaus politische Tabus herausfordern.

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Schmitt interessiert sich also für die Forschungsmöglichkeiten der Kunst am Beispiel des Tanzes und fragt, ob der menschliche Körper Gedanken zu formulieren vermag, die der verbalisierten Sprache nur schwer zugänglich oder unmöglich sind. In seinem Aufsatz verdeutlicht er eindrücklich, wie körperliche Bewegung einen Denkprozess in Gang setzen kann, der in verbale Sprache transformiert, wenn nicht einen Wissensstand erweitert, so doch die Perspektive auf einen Sachverhalt verändert.

How to do things? Praxis als Methode und Ergebnis künstlerischer Forschung In seinem Erfahrungsbericht mit dem Titel Theater denken – Was können Schauspieler und Wissenschaftler voneinander lernen? diskutiert Richard Weihe am Beispiel der Accademia Teatro Dimitri in Verscio (Schweiz) die spezifischen Herausforderungen der Akademisierung einer Schule für Bewegungstheater, in der er seit einigen Jahren Theatertheorie vermittelt. Die wissenschaftliche Fachsprache, so erfuhr Weihe hier, unterschied sich so stark von der praxisbezogenen Ausdrucksweise dieser Theaterschaffenden, dass sie die Kommunikation verhinderte. Deshalb entwickelte er bald ein eigenes Unterrichtsmodell, das Fach Inszenierte Theorie, das durch einen spielerischen wie körperlichen Zugang, mittels des Bewegungstheaters, Theatertheorie vermittelt. Die Anwendung dieses Modells verwandelt den Hörsaal in ein Laboratorium, in dem Theatertheorie im Sinne von Motion wird Emotion inszeniert und dadurch räumlich veranschaulicht werden kann. Der Raum und die körperliche Präsenz der Schüler formen die konstituierenden Elemente des Unterrichts. Nachdrücklich betont Weihe hierbei den Prozesscharakter, den er im Verb »wissenschaften« manifestiert, und legt dar, wie eine Didaktik zu finden ist, die die Würde der Wissenschaft wahrt, spielerisch und gleichzeitig parodieresistent ist. Richard Weihe stellt in seinem Beitrag eine Unterrichtsform vor, die er »darstellende Wissenschaft« nennt und die – durchaus »querdisziplinär« (Badura/ Schmidt 2004: 9) – ein Theoriegebäude bespielt und verlebendigt. Ein ganz anderer Bereich befasst sich gleichfalls mit der Darstellung von Wissen: BioArt setzt sich künstlerisch mit lebender Materie, Biotechnologie und Prozessen des Lebens auseinander, wobei u.a. Fragen zur Rolle der Wissenschaften in den gegenwärtigen Gesellschaften provokativ aufgeworfen werden. David Louwriers Beitrag mit dem Titel Thinking by doing – Bioart as a Form of Hands-on Ethics thematisiert im Rahmen einer Diskussion der Aktivitäten von BioArtisten v.a. einen spezifischen Aspekt: den der hands-on ethics, der ›angewendeten‹ Ethik. Mit anderen Worten diskutiert Louwrier, wie lebende Materie für eine Auseinandersetzung mit moralischen und aktuellen ethischen Fragestellungen – wortwörtlich – fruchtbar gemacht werden kann. Er kommt zu dem Schluss, dass angewandte Ethik sehr produktiv das Feld der Ethik er-

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weitere, und zwar nicht durch klare Antworten auf ambivalente Zustände, sondern dadurch, dass sie klare Zustände ins Ambivalente führe: »This happens through emotions that are triggered while performing the hands-on activity. These emotions can raise inner conflict with other emotions, morals or beliefs, which then causes the participant to rethink his or her position on the matter. Thus, bioart can be considered a valuable addition to the field of bioethics.« (Louwrier in diesem Band)

Den eigenen Standpunkt hinterfragt auch Norbert Lang in seinem Essay Das Verklingen der Stille in der Wissenschaft. Dies erfolgt jedoch nicht im Rahmen von Problematiken bioethischer Natur, sondern im Weltraum, denn Lang begibt sich in die unermesslichen Weiten kosmischer Töne. Er stellt eine klangliche Exploration des (Assoziations-)Weltraumes vor und rekonstruiert, wie Klangvorstellungen des Weltalls mit Macht- und Wissensstrukturen ihrer jeweiligen Zeit zusammenhängen. Hierbei spürt er Wahrnehmungsweisen nach, zum Beispiel anhand der Erhörung und Betörung von und durch Sirenen. Lang verschafft in seinem Beitrag den labyrinthischen Pfaden zwischen Mathematik und Musik Gehör und schreibt Geschichte fort, wobei er zeigt, inwiefern die Frage »Wie klingt das All?« von den gesellschaftlichen, wissenschaftshistorischen und ästhetischen Strukturen verschiedener Zeiten aufgefüllt ist. Dieser Text von Lang ist eine Weiterentwicklung seiner Lecture Performance Die Stille im All und ihr Klang auf der Welt I: Zählung, die er im Rahmen der Konferenz LaborARTorium vorstellte. Es handelte sich hierbei um einen Vortrag mit elektroakustischer Komposition. Den darin aufgebauten konkreten Echoraum versucht er im vorliegenden Aufsatz in einer Verschriftlichung zu fassen, die eine künstlerische Repoetisierung der Sprache betreibt. Einer anderen Sprache, dem Tanz, widmet sich der folgende Beitrag, der die Frage in den Raum, nun kein Weltraum mehr, stellt: »Lassen sich Kunst und Wissenschaft tanzen?« Pamela Goroncy und Jessica Petraccaro-Goertsches reflektieren darüber in ihrem Aufsatz »Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?« – Performativ-reflexive Kunstvermittlung. Die beiden Autorinnen begreifen ausgehend von Theoremen einer partizipativen Kunstvermittlung Wissenserzeugung als kontinuierlichen Transformationsprozess zwischen impliziten und expliziten Wissen und entwickeln eine performativ-reflexive Vermittlungspraxis. Ihr Beitrag schafft dabei eine wissenschaftliche Fundierung ihrer auf der Tagung vorgestellten Arbeitsweise und überschreitet gleichzeitig tänzerischsicher die formalen Grenzen einer bloß objektivierenden Einordnung. Goroncy­und Petraccaro-Goertsches veranschaulichen schließlich das Potential ihres vorgeschlagenen zyklischen Annäherungsprozesses an verschiedenen Kunstwerken und ihrer Geschichte.

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Implizites Wissen handwerklicher Praxis im Umgang mit Materialien und Werkzeugen sowie die Spuren der Verkörperung dieses Wissens in Maschinenbewegungen der industriellen Produktion bilden den Interessenschwerpunkt von Anette Rose in ihrem in diesem Band vorgestellten künstlerischen Langzeitprojekt Enzyklopädie der Handhabungen. Rose arbeitet mit der videotechnischen Fragmentarisierung und Synchronisierung filmischer Dokumentation in Räumen und Videoinstallationen. Ihr Ziel ist die intuitive Klärung und Verdichtung von Vorgängen ›zwischen den Sinnen‹. In ihrem Beitrag schildert sie unterschiedliche Visualisierungsstrategien und reflektiert die Problematik der Verschriftlichung, die die Synchronizität der Wahrnehmung, die für ein Forschungsobjekt sowie seine künstlerische Umsetzung konstitutiv ist, in ein lineares Nacheinander übersetzt. Auf der Basis dokumentarischer, konzeptueller und minimalistischer Strategien geht es ihr nicht nur um die Frage, wie Kunst Wissen schafft, sondern vielmehr darum, wie sie es sichtbar macht. (Alternative) Wahrnehmungsformen von Wissen, die durch Kunst vermittelbar sind, stehen auch in Michael Rodegang Dreschers Aufsatz The Seduction of Understanding – Notes on the Realities of Poetry, Science and Floriography im Vordergrund. Drescher realisiert hier, indem er die künstlerische und wissenschaftliche Erkenntnis von Realität, Erkenntnisproduktion und Lyrik diskutiert, selbst ein Experiment, das mit den Mitteln der Blumensprache Kunst und Wissenschaft definierende Methoden fokussiert. Der Autor verfolgt die These, dass die Lyrik der Konstruktion, Vervollkommnung und auch Weiterentwicklung von Wissen sowie der Sinnstiftung dient, denn: »It is just as much part of the rational approach towards reality as is science.« (Drescher in diesem Band) Die ebenso an der Realitätsproduktion wie die Wissenschaft beteiligte Dichtung ist in diesem Sinne performativ. Wie Liggieri fokussiert auch Drescher folglich die Rolle von Sprache(n) im Kontext des Denkraums von Kunst und Forschung. Subjektivität als wesentliches Element der Wissensgenerierung setzt ein anderer Beitrag grundlegend voraus, und zwar der Aufsatz Grenzen der ­Objektivität – Ein Wahrnehmungsexperiment am Bauhaus Dessau. Ein eigenes Labordesign entwarf sein Autor, Emanuel Mathias, am Bauhaus Dessau, in dem er Wahrnehmungsexperimente u.a. mit Primatenforschern durchführte, mit dem Ziel, ihre Selbstwahrnehmung sowie ihr Verhältnis zu den jeweiligen Forschungsobjekten mit den in der Primatologie gängigen Methoden zu ergründen. Mathias arbeitet heraus, wie Methoden aus der Naturwissenschaft zu Methoden der Kunst werden, mit der Erkenntnis, dass und wie der Forscher in der Naturwissenschaft ein Rezipient ist und der Rezipient der Performance zum Forscher werden kann. Die Rezeption von Performances fokussieren gleichfalls Ulrike Wörner und Jörg Weinöhl in Freiheit von der Zeit – Ästhetisches Anschauen als Verweilen. In diesem Aufsatz wenden sie sich der Kunstrezeption sowie dem Museum als

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Ort der Speicherung und Archivierung zu. In diesen Raum bricht eine experimentelle Tanzperformance gleichsam ein, eine Choreographie (in) der Stille, getanzt von Jörg Weinöhl. Untersuchungsgegenstand der choreographischen Installation ist die zwischen Kunstwerk und Rezipient hergestellte Erfahrung, die durch eine Veränderung der Zeitwahrnehmung als intensives »Sich-selbstVerspüren« erlebbar wird. Sehen vermag somit neu gedacht zu werden, indem es hier über die optische Dimension hinausgeht. Ausgehend von diesem Konzept des point of being entwickeln sie Kunst als Denkmodell, in dem Reaktion, Austausch und Erfahrung des situativ Wahrgenommenen im Vordergrund stehen. Wörner und Weinöhl klären damit die Vorbedingungen, unter denen ein Kunstwerk (z.B. im Rahmen der künstlerischen Forschung) als Versuchsanordnung wahrgenommen werden kann. Die Metapher vom LaborARTorium manifestiert sich in ihrem Beitrag folglich nicht nur als Denk-, sondern auch als Zeitraum. Zeiträume sind es, die Juliane Laitzsch künstlerisch festhält bzw. die sie festhalten. Denn mit Beutezüge an den Rändern des Gegenstandes – I Take Part and the Part Takes Me, d.h. mit Ornamenten in Raum und eben Zeit, befasst sich die Autorin in ihrem Forschungsprojekt Unendlichkeit in kleinen Fetzen, dessen Ausgangspunkt die Beschäftigung mit dem Ornat des Heiligen Valerius von Saragossa, einer Reihe kirchlicher Gewänder aus dem 13. Jahrhundert, bildet. Laitzsch ergründet ihre zahlreichen und unterschiedlichen Vermittlungen durch Historiker und Museen. Die Künstlerin sieht ihr spezifisches Arbeitsfeld im Zwischenraum zwischen den Erzählungen im weitesten Sinne und dem Gegenstand. Ihre Herangehensweise beschrieb sie während der Tagung LaborARTorium mit: »Es gibt drei Protagonisten: den Gegenstand (das Ornat), die Zeichnung, und mich«. In diesem Raum bewegt sich der vorliegende Artikel, der nicht zuletzt die Wirkungen, die das Material auf die Künstlerin ausübt, thematisiert, sowie ihre eigenen künstlerischen Arbeiten, die gleichsam Geschichte fortschreiben, wobei ein neues Stück Stoffgeschichte entsteht. Eine völlig andere Geschichte auf einer, gleichfalls sehr spezifischen Oberfläche, verfolgen Björn Kühn und Anna Romanenko in ihrem Beitrag Blush – Drei Versuche zum Erröten. Sie gehen einem Geheimnis des Äußeren nach, oder anders formuliert der Kalyptik, denn »[d]as, was sich erwartungsgemäß u n t e r einem Schleier oder Vorhang zu verbergen scheint, wird hier a l s Schleier und in seiner Form vorgezeigt« (Hansen-Löve 2001: 525 [Emphase im Original]). Kalyptisch sowie ein Grenzbegriff zwischen Physischem und Psychischem ist bei Kühn und Romanenko schamhaftes Erröten, das sie als Modus der ästhetischen Erzeugung von Wissen und Form, als Ort, an dem das andere auftritt, verfolgen. Zum Erröten zählt die Haut, ein Medium zwischen dem Selbst und dem Anderen, zwischen dem Privatimen und der Öffentlichkeit. Kühn und Romanenko verstehen das Erröten als wissenschaftlich ambivalentes Phänomen sowie gleichzeitig als Ausdruck eines nicht vollständig zu

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Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche

versprachlichen, impliziten Wissens, wobei sie gerade das, was im Zeigen versteckt ist, fokussieren. In dieser kalyptischen Situation ist die Form der Inhalt – oder die Täuschung eine höhere Wirklichkeit? Einer anderen Facette der Herausforderung von Wahrnehmung wenden sich Anna-Sophie Jürgens und Markus Wierschem zu. Einen Vorschlag, das Medium Buch durch eine bestimmte, als Verfahren angewendete Perspektive neu zu denken, liefern sie in ihrem gemeinsamen Aufsatz The Poetics of Anamorphosis and the Art of Entropy: Cosmoscreator Omnipotens – Scientific Fairy Tale and Artistic Science Fiction. In ihrem Projekt Cosmoscreator Omnipotens, dessen vierten Teil, den Chaoscre(m)ator sie vorstellen, entwickeln Jürgens und Wierschem ein anamorphotisches Werk. Kunst und Wissenschaft sind hier keine separaten Domänen, sondern zwei sich gegenseitig durchdringende Dimensionen in einem gemeinsamen Raum. Auf vier Weisen lesbar – als spannendes Märchen, als wissenschaftliche Untersuchung, als suchbildhaftes Kunstbuch explosionsartiger Zeichenstrudel sowie als sprachlicher Gedächtnisreiz – sind die Bände dieses Projekts ein Plädoyer gegen jede Art zyklopischen Blicks und für das Genre der Artistic Science Fiction. Ein Thema, das in allen Artikeln dieses Bandes immer wieder auf blitzt, sei es, dass sie sich dem Kosmos oder Cosmos, dem Museum, dem Körper, der Sprache, Oberflächen und ihren Strukturen, Entfernungen oder Nähen u.v.m. im Rahmen der künstlerischen Forschung widmen, ist die Frage »How to do things?« In einer Feedback-Schleife aus Denken und Tun verfolgen Leo Dick  und Tassilo Tesche in ihrem Beitrag diese schließlich ganz konkret, und zwar am Beispiel des intermedialen Musiktheaters. How to do things… – Sprechaktexperimente im intermedialen Musiktheaterlabor fokussiert die Transformation des im postdramatischen Diskurs wirkungsmächtigen Diktums von der Unmittelbarkeit theatraler Akte als eine andauernde Aktualisierung von Begrifflichkeiten. In ihrer gleichnamigen, im Rahmen der Tagung LaborARTorium präsentierten Lecture Performance thematisierten sie die aktuellen Veränderungen der künstlerischen Darstellungsmittel im experimentellen Musiktheater und untersuchten live and plugged, wie durch den Computer als erweitertes Instrument Klangerzeugung und Klangereignis  räumlich und zeitlich  entkoppelt werden. Ihre zentrale Frage lautet: Wie beeinflusst unsere Medienerfahrung oder -kompetenz heutzutage unsere Wahrnehmung theatraler Ereignisse? Sie kommen u.a. zu dem Resultat, dass die neuen technischen Möglichkeiten zu einem shift im Erleben von Theater beitragen: »Während im experimentellen Musiktheater der 1960er Jahre noch die Dimension der gemeinschaftlich und unmittelbar geteilten Erfahrung von Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Körperlichkeit im Vordergrund stand, verschiebt sich der Fokus durch den Einsatz des Computers zusehends in Richtung einer Reflexion der Vermitteltheit von Aufführungssituationen.« (Dick/Tesche in diesem Band)

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Vorschläge für das How to do things? – z.B. um Dimensionen der Wirklichkeit erfahrbar zu machen oder Verstehen als Prozess zu zeigen –, bietet dieser Tagungsband. Seine Beiträge dokumentieren plastisch und unter verschiedenen Perspektiven die große Bandbreite und die experimentellen Freiräume mit ihren je individuellen Verfahren, die unter dem Begriff der künstlerischen Forschung subsumiert werden, sowie seine unbestreitbare Aktualität. Sie manifestieren und reagieren auf dringliche Fragen und Antworten zu den Praxen, Inhalten und Formen einer ›Ästhetik der Existenz‹, wie sie die künstlerische Forschung thematisiert. Sie diskutieren die Grenzen der Objektivität der Wissenschaft; die Veränderung des Denkens durch das Tun; implizites Wissen des Körpers, z.B. mittels des Tanzes; das ›Wissenschaften‹ anstelle der Wissenschaft; das »Fragmentarische« in einem »Patchwork des Wissens« (Rheinberger in Liggieri in diesem Band); Wahrnehmungsveränderungen durch Neue Medien und deren Korrektiv. Bei aller Vielfalt der Stimmen und Zugänge innerhalb der vorliegenden Beiträge lässt sich ein Konsens darüber erkennen, dass Methoden im Rahmen der künstlerischen Forschung immer projektspezifische Konstruktionen sind, die Wissen als singuläre Erkenntnis erfahrbar machen.

L iter atur Badiou, Alain (2001): Kleines Handbuch der In-Ästhetik, Wien: Turia + Kant. Badura, Jens/Schmidt, Sarah (Hg.) (2004): Niemandsland. Topographische Ausflüge zwischen Wissenschaft und Kunst, Stuttgart: IZKT. Brandstätter, Ursula (2013): Erkenntnis durch Kunst. Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation, Köln: Böhlau. Halcour, Dorothée (2002): Wie wirkt Kunst? Zur Psychologie ästhetischen Erlebens, Frankfurt a.M.: Peter Lang. Hansen-Löve, Aage (2001): »Eine Ästhetik der ›Kalyptik‹. Apollinische Motive bei Vladimir Nabokov«, in: Susi K. Frank (Hg.), Gedächtnis und Phantasma. Festschrift für Renate Lachmann, München: Otto Sagner, S. 524-555. Joly, Jean-Babtiste/Warmers, Julia: »Künstler und Wissenschaftler als reflexive Praktiker – Ein Vorwort«, in: Martin Tröndle/Julia Warmers (Hg.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft, Bielefeld: transcript, S. IX-XVIII. Klein, Julian (2009): »Zur Dynamik bewegter Körper. Die Grundlagen der ästhetischen Relativitätstheorie«, in: Ders., per.SPICE!, Berlin: Theater der Zeit, S. 104-134. Klein, Julian (2010): Was ist künstlerische Forschung?, in: Gegenworte 23, S. 24-28. Online unter kunsttexte.de [01.03.2015]. Rheinberger, Hans-Jörg (2005): Iterationen, Berlin: Merve.

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Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche

Schiesser, Ciaco (2012): »›Eine gewisse Frustration...‹ Paradoxien, Leerstellen, Perspektiven künstlerischer Forschung heute«, in: Department Kunst und Medien (ZHdK)(Hg.), Praktiken des Experimentierens, Zürich: Scheidegger & Spiess, S. 98-113.

Künstlerische Forschung – Institutionalisierung und Perspektiven

Practice-as-Research – Paradox mit Potential David Roesner

In einem Band über künstlerische Forschung liegt es nahe, über eine eng verwandte aber nicht ganz synonyme Entwicklung im englischsprachigen Raum zu sprechen und anhand dieser einige Thesen und Fragestellungen zu pointieren, die für den deutschsprachigen Diskurs ebenfalls sinnfällig sein dürften. Gemeint ist natürlich das viel diskutierte Phänomen von ›Praxis als Forschung‹, das sich unter dem Begriff ›practice-as-research‹ v.a. in meinem Fach – der Theaterwissenschaft bzw. den theatre studies  – gegenüber verwandten Termini durchgesetzt hat.1 Zwei wesentliche Unterschiede will ich herausgreifen: Practice-as-research zielt m.E. häufiger auf die Erforschung kunst-immanenter Fragestellungen,2 während künstlerische Forschung bevorzugt versucht, kunst-fremde Problemstellungen mit theatralen, musikalischen oder bildnerischen Verfahren zu untersuchen (siehe z.B. die Webseite des Instituts für künstlerische Forschung). Andererseits ist practice-as-research im Vergleich zum deutschsprachigen Raum in vielfacher Hinsicht institutionell fester im akademischen Bereich verankert und anerkannt: In Großbritannien z.B. gibt es an vielen Universitäten, an denen künstlerische Fächer theoretischpraktisch studiert werden, akkreditierte Abschlüsse, die künstlerische Praxis als Qualifizierungsleistung vorsehen und dafür meist recht klare Kriterien und Rahmenbedingungen entwickelt haben. Man kann dort dezidiert mit einem MA oder PhD in Practice-as-Research abschließen. Auch für wissenschaftliche Forschung jenseits akademischer Abschlüsse ist in der Drittmittelförderung sowie in internen und externen Evaluierungsverfahren praktische Forschung vorgesehen und eingeführt, was es vielen ProfessorInnen und DozentInnen erlaubt, ihren künstlerisch-akademischen Doppelbegabungen gleichermaßen produktiv nachzugehen. Groß angelegte Forschungsprojekte und -institutio1 | Für eine ausführliche Begriffsdiskussion und Einführung in den Gegenstand siehe u.a. Piccini 2004; Borgdorff 2006 u. Freeman 2010. 2  |  Das zeigt z.B. die Auswahl an dokumentierten Projekten auf der Webseite des Drittmittelprojekts PARIP oder in Fuschini/Jones/Kershaw 2009.

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nen (wie z.B. Practice as Research in Performance, PARIP an der Bristol University (2000-2005) oder das ResCen Centre for Research into Creation in the Performing Arts an der Middlesex University) und einschlägige Publikationen (wie z.B. Robin Nelsons Practice as Research in the Arts [2013]) tragen weiter dazu bei, dass practice-as-research fester Teil der Wissensökonomien geworden ist, was man von künstlerischer Forschung noch nicht behaupten kann. Beiden – practice-as-research und künstlerischer Forschung – ist die Frage gemeinsam, was heißt eigentlich ›Wissen‹? Das ist in letzter Zeit in den Geisteswissenschaften wieder häufiger gefragt worden, nachdem bestimmte Modelle von Wissenserwerb und Vermittlung fragwürdig oder zumindest problematisch geworden sind. Verantwortlich dafür sind eine ganze Reihe von Entwicklungen, zu denen die Digitalisierung unserer Welt, die damit verbundene Dynamisierung von Inhalten und dem Zugang zu ihnen, Erkenntnisse der Neuro-Forschung und der Kognitionswissenschaften über unsere Lernund Verstehensprozesse als auch der ›practical turn‹ – einer von vielen Paradigmenwechseln (performative turn, acoustic turn, scenographic turn etc.) in den Humanities – gehören. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Veränderungen unseres Verständnisses von ›Wissen‹, dass sie Aspekte der Verkörperung, der kinetischen, sensorischen, somatischen Erfahrung sowie das Element des Prozesshaften betonen und damit einen Übergang von »situated knowledge to experiential knowing« markieren, wie Ian Sutherland und Sophie Krzys Acord es im Journal of Visual Art Practice genannt haben. (Sutherland/Acord 2007) Wenn wir, wie die Philosophie das tut, zwischen ›knowing that‹ und ›knowing how‹ unterscheiden, fällt auf, wie stark die Episteme der Geisteswissenschaften in ihrer Geschichte ersteres bevorzugt haben und auf die Frage, wie wir mit letzterem umgehen oft die Antwort schuldig geblieben sind. Der Prozess der zunehmenden Anerkennung von practice-as-research im englischsprachigen Ausland hat nach meiner Erfahrung und Beobachtung einige Paradoxe deutlich hervortreten lassen, die ich jedoch gleichzeitig als durchaus produktiv beschreiben möchte.3 Durch ihre tendenzielle Unauflösbarkeit fordern sie eine fortwährende Selbstvergewisserung, Autoreflexivität und Transparenz ein, während anderswo im methodenmodischen Karussell Dinge als etabliert und nicht mehr hinterfragenswert gelten – die Ubiquität und vermeintliche Unantastbarkeit des französischen (Post-)Strukturalismus sei hierfür ein Beispiel. Was sind nun diese Paradoxe, von denen ich spreche?

3 | Ich habe diese Paradoxe bereits einmal ähnlich in einem anderen Zusammenhang formuliert, siehe Roesner 2009.

Practice-as-Research – Paradox mit Potential

E rstes Par adox : E igengese t zlichkeiten von K unst und F orschung Forschung wird im Allgemeinen als ein Vorgang zur Generierung, diskursiven Verbreitung sowie zur Anwendung von Wissen gesehen, der selbstreflexiv, transparent und eindeutig ist, also Prämissen offen legt, Methoden begründet und Quellen zitiert. Künstlerische Praxis hingegen beruht meist auf einem polymethodischen patchwork, verschleiert ihren Prozess, zielt auf semantische Mehrdeutigkeit und auf vordiskursive Elemente wie Erfahrung, Körperwissen und sinnliches Erlebnis – sowohl für Künstler als auch für Zuschauer – und ihre Verbreitung ist, im Falle des Theaters, flüchtig und nicht fixierbar. Was Angela Piccini also als »artistic imperative«  gegen einen  »research imperative« abgrenzt (Piccini 2004), scheint bei allen Überlappungen durch einige intrinsische Konflikte und Widersprüche geradezu unvereinbar zu sein. Es bedarf, meiner Meinung nach, einiger Kompromisse, um pragmatisch mit diesem Widerspruch umzugehen. Universitäre Forschungsprojekte bzw. so genannte practice-led oder practice-based PhDs, die explizit als Practice-as-Research gekennzeichnet, mit Drittmitteln gefördert und evaluiert bzw. benotet werden, umgehen das Paradox in unterschiedlicher Weise, aber lösen es nicht auf. Eine pragmatische Lösung besteht häufig darin, zu akzeptieren, dass forschende Praxis in ihrer Zweckgebundenheit zwar eine Erkenntnis leitende Methode sein kann, aber eben nicht auf Kunst zielt, sondern auf ein Forschungsergebnis. Es ist vielleicht kein Zufall, dass immer von practice selten aber von art die Rede ist. Forschende Praxis ist hier ein künstlerisches Tun, das in seinem Zweck aufgeht, während Kunst weiterhin immer auch von einem Überschuss an Bedeutung und Sinnlichkeit, von prä- und postdiskursiven Elementen von Zweckfreiheit bestimmt ist.

Z weites Par adox :
E xplizite und implizite F orschung Obwohl Practice-as-Research den Anspruch hat, in und durch Praxis zu forschen, braucht es stets eine Etikettierung und Kontextualisierung von außen, damit eine künstlerische Praxis als Forschung gelten darf. Es wird der Praxis gleichzeitig intrinsischer Wert als Forschung zugesprochen, die Kriterien allerdings werden nach außen verlagert, in ein von den Theatermachern explizit zu formulierendes Forschungsvorhaben. Die drei Faktoren, die beispielsweise das Arts and Humanities Research Council Englands früher vorsah,4 sind dafür ein klarer Beleg: Als Forschung 4 | Leider hat das AHRC die Förderung für practice-as-research Projekte mittlerweile eingestellt – ähnliche Kriterien gelten aber nach wie vor bei vergleichbaren Institutionen.

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wird gewertet, was eine oder eine Reihe von Forschungsfrage(n) (research question[s]) formuliert und deren Beantwortung verfolgt. Forschung muss sich außerdem in einem relevanten wissenschaftlichen Zusammenhang oder Stand der Forschung verorten (research context) und schließlich seine Methodik transparent machen (research methods).

D rit tes Par adox : N eube wertung von W issen Eine forschende Theaterpraxis schafft zwar neues Wissen, nicht selten stellt sie jedoch in Frage, was wir Wissen nennen. Das Wissen, das in einer Aufführung verkörpert, vermittelt und erfahren wird, lässt sich nicht ›getrost nach Hause tragen‹. Forschung als Praxis erfordert eine Neubewertung von Wissen. Wissen ist hier eben, wie Eingangs angedeutet, ein Prozess der Erkenntnis, der in Gang gesetzt wird und eher durch das Verb ›wissen‹ als durch das Substantiv ›Wissen‹ beschrieben werden kann. Wissen wird zu einem aktiven, dynamischen Vorgang und damit selbst wieder zu einer Praxis. Diese Art der Verschiebung haben Sutherland und Acord anhand von Beispielen aus Musik und Bildender Kunst als eine Abwendung von einer »isolation of knowledge in the artistic artifact, separated from its production and the evolving reception« (Sutherland/Acord 2007: 125) beschrieben. Und Joseph Raelin ergänzt: »An epistemology of practice would make way for learning that is acquired from reasoning and sense making in the midst of action itself, rather than only from formal logic and content knowledge.« (Raelin 2007: 67)

V iertes Par adox :
N ot wendigkeit und U nmöglichkeit der Theorie /P r a xis -D ichotomie Forschende Theaterpraxis basiert auf einer konzeptionellen Abgrenzung von Theorie und Praxis, die sie gleichzeitig zu problematisieren oder sogar aufzuheben sucht. Diese Erkenntnis hat sich im englischsprachigen Raum v.a. in der praxisbetonten Arbeitsweise von universitären Theaterstudiengängen und Promotionen durchgesetzt und wurde unter anderem bereits 1998 von Christopher McCullough in seinem Buch Theatre Praxis (London) reflektiert. Er benutzt dort den im Englischen wenig gebräuchlichen Begriff der praxis als ein Verhältnis von theory und practice, die sich in einem zyklischen Wechselprozess befänden: »The precise division between theory as a contemplative activity and practice as all action seems to crude a model. There is surely a form of action in theory in the form of verbal discourse, as there is contemplation and decision-making in practice.« (McCullough­1998: 4)

Practice-as-Research – Paradox mit Potential

Stephen Farrier ergänzt diese Bestimmung von praxis (siehe auch Raelin 2007: 62) um die Idee eines Fluidums zwischen Denken und Tun: »The fluidity of moving from work to theory and back to work is probably familiar to most university teachers working in the studio. The fluidity of such a way of working is, I think, best expressed in the idea of praxis. [...] Praxis can be seen as an axis around which the exploration of performance genres and processes can be questioned, along with their theoretical categories and considerations.« (Farrier 2005: 132)

Die Feedback-Schleife zwischen theoretischen Überlegungen und praktischer Erprobung, deren Balance und ›Drehmoment‹ in jedem Projekt neu ausgehandelt werden müssen, erlaubt einen fließenden Wechsel zwischen Außen- und Innensicht des theatralen Entstehens und Geschehens und ermöglicht so einen experimentellen, forschenden Zugang zur Theaterpraxis. Die Idee einer forschenden Theaterpraxis braucht also gleichzeitig die konzeptionelle Abgrenzung von Theorie und Praxis, um sich als eigenständiger methodischer Weg zu etablieren, muss aber in ihrer Ausübung die gedachte Dichotomie zwischen Theorie und Praxis aufzuheben suchen.

F ünf tes Par adox : ›O utsider - versus -I nsider -P erspek tive ‹ Eine weitere problematische Dichotomie ergibt sich aus der eben erwähnten Feedback-Schleife, zwischen Theorie und Praxis sowie Außen und Innen: Es besteht nämlich ein wesentlicher Unterschied zu einem von der Naturwissenschaft her gedachten Begriff des Experiments als Forschungsmethode. Während sich im naturwissenschaftlichen Labor meist klar zwischen den Forschenden und dem Forschungsgegenstand unterscheiden lässt – sei es eine chemische Substanz, eine Zelle oder eine weiße Maus –, sind im Theaterlabor die ForscherInnen meist auch ihr eigener Gegenstand und Versuchsobjekt und müssen immer wieder neu Verfahren erfinden, wie dieses Paradox der teilnehmenden Beobachtung produktiv zu machen ist. Vilém Flusser hat darauf hingewiesen, dass sowohl die Beobachtung ihren Gegenstand verändert und manipuliert (oder verändern muss, um ihn beobachten zu können), als auch, dass der Gegenstand den Beobachter verändert (vgl. Flusser 1995: 111). Dieses Problem haben natürlich alle Wissenschaften und innerhalb der Theaterwissenschaften alle Disziplinen, von der Historiographie bis zur Aufführungsanalyse, aber die häufige psycho-physische Untrennbarkeit von Forscher und Gegenstand in der praktischen Theaterforschung stellt ein graduell gravierenderes Problem dar, dem je individuell kreativ begegnet werden muss.

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S echstes Par adox :
P rozess - vs . E rgebnisorientierung Obwohl Forschung in aller Regel ergebnisorientiert ist, führt die methodische Öffnung zur forschenden Theaterpraxis u.a. zu einer Betonung des Prozesses in der Arbeit und der Aufführung. Forschungsgeleitete Kunstexperimente bewahren häufig ihre Prozesshaftigkeit auch in der Aufführung oder Präsentation und legen Teile ihres Entstehungsprozesses offen. Das ermöglicht eine für Forschung erforderliche Transparenz und Nachvollziehbarkeit und demonstriert methodische Selbstreflexivität, schafft aber häufig gleichzeitig eine Ambiguität und Unabgeschlossenheit, die zusätzlicher Kommentierung bedarf, um Teil einer Forschungsveröffentlichung sein zu können. Was diese, sicher unvollständige, Liste von Widersprüchen markieren soll, ist sowohl das produktive Spannungspotential als auch den hohen Gesprächsbedarf, die künstlerische Forschung impliziert. Im deutschsprachigen Raum existiert nun – trotz vereinzelter Ansätze, wie man sie zum Beispiel auf der Tagung der Gesellschaft der Theaterwissenschaft 2014 in Bochum zum Thema der »Episteme des Theaters« antreffen konnte – noch zu wenig Literatur und zu wenige Fallstudien zu diesem Thema: zu stark greift oft noch die institutionelle Trennung von Universitäten und künstlerischen Hochschulen und die mit ihr verbundene Trennung von Theorie und Praxis, die sich mal in getrennten Gebäuden mal in verschiedenen Mentalitäten artikuliert. Dass es aber eine ganze Reihe von Ansätzen gibt, sowohl wissenschaftstheoretischer als auch akademisch-pragmatischer Natur, beweist der vorliegende Band. Er stellt daher in meinen Augen einen überfälligen Schritt dar – eine einschlägige Sammlung unterschiedlicher Positionen, Berichte und Analysen von kompetenten FachvertreterInnen und KünstlerInnen verschiedener Disziplinen, die den ­aktuellen Diskurs zu künstlerischer Forschung nicht nur abbildet, sondern ihm entscheidende neue Impulse verleiht. Dies mag dazu beitragen, dass künstlerische Forschung an deutschsprachigen Universitäten Teil von Studien- und Promotionsordnungen wird. Erste Ansätze wie in Bochum, Gießen oder Hildesheim gibt es bereits. An meiner eigenen Institution, der LMU München, konnte ich bisher practice-as-research nur zu einem Seminarthema machen, zu einem Lektürekurs, nicht aber zu einer eigenständigen Methode in der Lehre oder Forschung: Der Weg dahin ist sicherlich schon deshalb noch recht weit, weil es beim entscheidenden Personal der relevanten Forschungs- und Förderinstitutionen vielfach noch an nötigen Doppelkompetenz fehlt, um die Gratwanderung zwischen künstlerisch-praktischem Tun und akademischer Reflektion zu wagen. Deutsche Biografien mussten sich in der Vergangenheit eben häufig an einer Weggabelung zwischen Wissenschaft und Kunst entscheiden. Perspektiven kann hier die interdisziplinäre Zusammenarbeit bieten, bei der KünstlerInnen und Wissen-

Practice-as-Research – Paradox mit Potential

schaftlerInnen gemeinsam Fragestellungen unserer Zeit in Angriff nehmen und dabei im Idealfall wechselseitig von den je eigenen Ideen und Methoden profitieren. Es dürfte sich lohnen, die bereits begonnen Wege in diese Richtung weiter zu beschreiten.

L iter atur Borgdorff, Henk (2006): »The debate on research in the arts«. Online unter: http://www.ips.gu.se/digitalAssets/1322/1322713_the_debate_on_research _in_the_arts.pdf [22.08.2014]. Farrier, Stephen (2005): »Approaching Performance Through Praxis«, in: Studies in Theatre and Performance 25, S. 129-143. Flusser, Vilém (1995): »Die Geste des Fotografierens«, in: Ders. (Hg.), Die Revolution der Bilder, Köln: Bollmann, S. 99-114. Freeman, John (2010): Blood Sweat and Theory. Research Through Practice in Performance, London: Libri Publishing. Fuschini, Ludivine Allegue/Jones, Simon/Kershaw, Baz (2009): Practice-asResearch: In Performance and Screen, Basingstoke: Palgrave Macmillan. Institut für künstlerische Forschung: http://www.artistic-research.de [27.01. 2015] McCullough, Christopher (1998): Theatre Praxis. Teaching Drama Through Practice, London: Palgrave Macmillan. Nelson, Robin (2013): Practice as Research in the Arts. Principles, Protocols, Pedagogies, Resistances, Basingstoke: Palgrave Macmillian. PARIP (Practice as Research in Performance): www.bris.ac.uk/parip/ [27.01. 2015]. Piccini, Angela (2004): »An historiographic perspective on practice as research«, in: Studies in Theatre and Performance 23, Bristol: Intellect, S. 191-207. Raelin, Joseph A. (2007): »The Return of Practice to Higher Education. Resolution of a Paradox«, in: The Journal of General Education 56, S. 57-77. Roesner, David (2009): »›An entirely new art form‹. Katie Mitchells intermediale Bühnen-Experimente«, in: Forum Modernes Theater 24, S. 101-119. Sutherland, Ian/Acord, Sophie Krzys (2007): »Thinking with Art. From Situated Knowledge to Experiential Knowing«, in: Journal of Visual Art Practice 6, S. 125-140.

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Kunst als Forschung Ein Rückblick Florian Dombois im Interview mit Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche, 2014

Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche: Lieber Florian Dombois, 2005 stellten Sie – zusammen mit Guy Krneta in Nah am Original: Fünf Autoren antworten auf Albert Einstein – die These in den Raum, dass jede Form einen Einfluss auf den durch sie dargestellten Inhalt habe (vgl. Dombois/Krneta 2005). Als wir bezüglich eines Beitrages von Ihnen für die Publikation zur Tagung ­LaborARTorium nachfragten, haben Sie ein Email-Interview vorgeschlagen. Wir freuen uns über Ihren Vorschlag! Hier ist nun unsere erste Frage: Was wird dieses Gefäß mit unserer Kommunikation machen? Und was bedeutet die oben genannte These für die künstlerische Forschung? Florian Dombois: (lacht) Genau! Die Frage stellt sich. Wir werden sehen, ich weiß es nicht. Jürgens/Tesche: Vielen Dank für das Lachen und damit den Verweis auf die ›sekundäre Oralität‹ des gewählten Mediums! Anders gefragt: Was bedeutet das Verhältnis von Form und Inhalt für die Praxis der künstlerischen Forschung? Welche Rolle spielt die Sprache bei der Formulierung von Forschungshypothesen oder der Veröffentlichung von künstlerischen Forschungsergebnissen? Dombois: Als ich 2003 das Institut Y in Bern gegründet habe, ging es mir um zweierlei: Einerseits gab es den institutionellen Auftrag, die damals neu geformte Hochschule der Künste Bern zusammenzuführen, also Studierende aus Musik, Theater, Design, Kunst miteinander zu vernetzen; und zweitens wollte ich meiner kritischen Haltung gegenüber der heutigen Praxis der bildenden Kunstausbildung Ausdruck geben. Ich glaube, dass gute Kunst sowohl

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Florian Dombois im Inter view mit Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche

auf formaler als auch auf konzeptueller Ebene spielt, dass ›Form‹ und ›Konzept‹ einander bedingen, durchdringen. Ich schreibe es in Anführungszeichen, weil die Worte Form und Konzept bereits eine Zweiteilung denken, die ich gerne vermeiden möchte. In jedem Fall braucht es in der Kunst konzeptuelle Arbeit geradeso wie die Formfindung. Und nur wenn beides gleichzeitig stattfindet, können belastbare Werke entstehen. Mit dem Forschungsbegriff habe ich damals politisiert und habe die Künstlerkolleginnen und -kollegen absichtlich provoziert und ins Diskutieren gebracht. Es ging mir dabei also erst einmal um eine Entwicklung der Kunst selber – und dann auch der Künste untereinander – etwa in dem Sinne von: Wie geht es mit dem Jazz weiter? Später bin ich in die institutionelle Forschung hineingeraten, wo dann plötzlich auch die Wissenschaften vor der Tür standen und sich beschwerten, dass wir als Künstler den Forschungsbegriff beanspruchten. Mein damaliges Manifest (2006) begann daher einleitend mit einem »Vor dem Gebrauch«, das klar macht, dass »Kunst als Forschung« sicher nicht »Kunst als Wissenschaft« bedeuten kann. Und genauso verwies der Untertitel auf das vor allem kunstinterne Denken: »Ein Versuch sich selbst eine Anleitung zu schreiben« bzw. im Englischen »An attempt to draft some instructions for myself«. Darum habe ich auch Mühe mit dem, was an vielen Stellen heute unter künstlerischer Forschung praktiziert und diskutiert wird; nämlich da, wo dieser Gedanke, Kunst als eine eigene Form der Forschung zu denken, dem Denkenden selbst keine Irritation mehr auslöst. Denn hier hört der Slogan »Kunst als Forschung« auf, ein Kunstwerk zu sein. An diesem Punkt wandelt sich das ästhetische Denken in ein affirmatives. Und damit kommen wir vielleicht – und pardon, dass meine Antwort so lang ist – gut hinüber zu Ihrer zweiten Frage: Die Sprache ist eine der möglichen Artikulationen künstlerischer Praxis, eine Form der Konkretisierung. Sie hat in unserer sozialen Realität eine hohe Mächtigkeit – Christentum, Islam, Judentum sind Schriftreligionen –, und darum ist es als Künstler nicht immer einfach, in ihr frei zu arbeiten. Die Zuhörer wollen einen immer gerne wörtlich verstehen und nicht poetisch. »Kunst als Forschung« ist dafür ein Beispiel. Aber man muss nicht Gedichte schreiben, um in und mit der Sprache Kunstwerke zu formulieren. Die Begriffe ›Forschungshypothese‹ und ›Forschungsergebnis‹ sind nun sehr wissenschaftlich geprägt, so dass es nicht einfach ist (aber möglich), in ihnen einen künstlerischen Ausdruck zu finden. Wir müssten insofern lieber über einen konkreten Fall reden. Jürgens/Tesche: Gerne! Uns würde sehr interessieren, wie Sie mit der in Ihrer Antwort aufscheinenden Doppelfunktion von Sprache – zwischen künstlerischer Praxis und Antragsdeutsch – in Ihrer Hochschularbeit umgehen. Denn bei der Programmierung eines Instituts, bei der Beantragung von Drittmitteln, bei der Formu-

Kunst als Forschung – ein Rückblick

lierung eines PhD-Projektes etc. müssen Forschungshypothesen aufgestellt werden, die sich in der sprachlichen Form nicht zu sehr von geistes- und naturwissenschaftlichen Texten unterscheiden sollten, da die Adressaten dieser Texte Hochschulpolitiker, Stiftungsmitarbeiter und ein gemischtes Kolleg aus Künstlern, Geistes- und Naturwissenschaftlern sind. Könnte man sagen, dass sich durch den Forschungsauftrag der Kunsthochschulen eine direkte Konkurrenz zu den Geistes- und Naturwissenschaften ergeben hat, die sich in einer sprachlichen Mimikry niederschlägt? Wie begegnen Sie der Gefahr, dass diese Anverwandlung die darauf folgende künstlerische Arbeit konditioniert? Dombois: Für mich ist Antragsprosa ein mögliches Genre von vielen und ich finde es eigentlich immer interessant, Grenzen auszuprobieren. Was geht in einem wissenschaftlichen Antrag? Wo sind dort die ästhetischen Spielräume? Es gibt ja keinen hierarchiefreien Raum und so ist es immer auch eine Frage des Umgangs mit den Gegebenheiten. Wie gut mir das allerdings gelingt, in meinen Anträgen das ästhetische Denken wach zu halten, kann ich nicht beurteilen. Apropos: Viele Künstler schreiben ständig Projektanträge für kulturelle Stiftungen. Lesen Sie dort mal das Antragsdeutsch... Als ich 1986 begann, in Berlin Geophysik und Philosophie zu studieren, fühlte ich mich als Fremder. Und genau daran habe ich mich wohl inzwischen gewöhnt. Jürgens/Tesche: Sie merken schon ›Verschriftlichung‹ ist ein wichtiges Thema für uns! Schauen wir doch nochmals von einem anderen Blickwinkel darauf: In Was man nicht aufschreiben kann formulierten Sie: »Die Darstellung eines Gegenstandes und seine Materialität, die jeder Formulierung (wissenschaftlicher) Hypothesenbildung vorausgeht, konditioniert die weitere Diskussion im Forschungskontext maßgeblich und ist insofern als epistemische Korsage nicht zu unterschätzen.« (Dombois 2012: 153) Das ästhetische Denken ist sich dieser Konditionierung bewusst – also in diesem Falle: der Konditionierung durch Darstellung und Materialität, von der die Wissenschaft zu abstrahieren versucht –, kann sie aber ästhetisch denkend und handelnd Spielräume in transdisziplinären Forschungsprojekten schaffen? Dombois: Ja, ich glaube auch, wenn man in vorgegebenen Formaten schreibt, dass es einen Unterschied macht, ob man es bewusst oder unbewusst tut. Antragsprosa ist ein vorgegebenes Format. Ästhetisch wird dieses Schreiben für mich nicht dadurch, dass man möglichst anders, sagen wir in rot, großer Schrift usw. schreibt, sondern dadurch, dass man in Bezug auf das eigene Anliegen und aus diesem heraus sich am Vorgegebenen abarbeitet. Das scheint mir vergleichbar mit dem Segler, der mit dem vorherrschenden Wind segeln

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Florian Dombois im Inter view mit Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche

kann – oder gegen ihn kreuzen. Ersteres ist bequemer und schneller, aber das zweite ist, wenngleich anstrengender, durchaus möglich; und man braucht Schratsegel und nicht einfach nur Rahsegel. Jürgens/Tesche: Die Bewegungen des Seglers führen uns zu der nächsten Frage: Was kann man nicht aufschreiben? Dombois: ... Jürgens/Tesche: Das, was man zeigen aber nicht sagen kann? Dombois: Wenn es sich zeigen will, kann es sagend oder zeigend geschehen. Ich weiß, heute sagen die Studierenden oft: »Ich wollte es so.« Für mich gilt das erst, wenn ich weiß: »Es wollte es so.« Und dabei geht es mir nicht um einen neuen Mystizismus. Aber ich glaube, dass künstlerische Autorschaft notwendig, aber nicht hinreichend ist. Denn erst wenn das Ich sich selbst überwunden hat, wenn ich durch mein Ich hindurchgegangen und mich transzendiert habe, wird es interessant. Denn dann kann ich trotz der persönlichen Anteilnahme exemplarisch, also allgemein werden. Jürgens/Tesche: Unsere Frage zielte darauf ab, zu erfahren, ob der gekonnte Umgang mit Schrat- und Rahsegeln zu den Wissensgebieten gehören könnte, welche »sich mit dem wissenschaftlichen Begriffsapparat nicht adäquat beschreiben lassen« (Dombois/Ursprung 2006) und ob dieses ›embodied knowledge‹ mit künstlerischen Mitteln erforscht werden kann. Aber vielleicht können wir an anderer Stelle darauf zurückkommen, wie Sie heute das Einsatzgebiet der künstlerischen Forschung umreißen würden. Denn jetzt sind wir neugierig! Sie haben in unserer kurzen Kommunikation einige Forderungen aufgestellt, die nicht nur für das Gelingen ›belastbarer Werke‹ in der künstlerischen Arbeit gelten können, sondern sich darüber hinaus auch als Anleitungen für ein künstlerisches Forschen lesen lassen. Ihre letzte Antwort erschließt sich uns allerdings nicht so leicht: Können Sie ausführen ob – und wenn ja, wie – die Überwindung des Ich für die Praxis der künstlerischen Forschung perspektiviert werden kann? Dombois: Ich habe mich lange mit der Frage des ›Ich‹ in der Kunst beschäftigt. Ich ertrage den Narzissmus und den Egoismus vieler Kollegen und Kolleginnen kaum. Ja, ehrlich gesagt, lag einer der Gründe für mich, Mitte der 1980er nicht Kunst zu studieren, genau hier: Ich fand die Selbstbezogenheit in der Kunst extrem langweilig. Inzwischen sehe ich die Sache differenzierter. Für mich gehört es zu einer der Überraschungen der Kunst, dass man in ihr durch eine extreme Einengung der Perspektive zu einem Überblick gelangen kann –

Kunst als Forschung – ein Rückblick

durch das Exemplarische ins Allgemeine. Das heißt, das Ich des Künstlers, der Künstlerin spielt für das Gelingen eines Kunstwerks und einer künstlerischen Praxis eine wesentliche Rolle und gleichzeitig ist er/sie egal. Das ist eine erstaunliche Bewegung – und in der wissenschaftlichen Forschung im Grunde undenkbar. Jürgens/Tesche: ... obgleich in der wissenschaftlichen Forschung die Rolle des Ich essentiell sein und sogar – hier wären wir wieder bei der Sprache – Terminologie begründen kann. So bestimmt schließlich oft der, der etwas entdeckt, die Form wie es aussieht. Ein Beispiel wäre die Infinitesimalrechnung, die man heute ›schreibt‹ wie Leibniz (und nicht Newton) sie entwickelte. Nach Leibniz ist »die Unmittelbarkeit der inneren Empfindung der Ausdruck des ›natürlichen Lichtes‹ der Vernunft (lumen naturale), das uns die (ewige) Vernunftwahrheit offenbart« (Arndt 2013: 16). Dieses Beispiel zeigt zudem, dass eine gleichsam im Geburtskanal des Zeitgeistes steckende Innovation – bzw. ein Kunst-Stil? – auf die richtige Zange warten muss oder, weniger brachial ausgedrückt, dass nur der, der den richtigen Spiegel besitzt, den anamorphotischen Zeitgeist zu erkennen und (kreativ) zu verstehen vermag. Dombois: Ist das eine Frage? Jürgens/Tesche: Das ist ein Versuch über das Ich als Methoden-Katalysator zu reflektieren. Anders: Mit welchen (weiteren) genuinen Methoden arbeitet die Kunst – im Unterschied? Dombois: Ich kann dazu nur meine Ansprüche formulieren, die ich mir selbst in der künstlerischen Praxis setze: (1) Für mich hat eine gute Arbeit eine Dimension der Theorie, der Reflexion, der Verbalität und dabei sollen die Worte bzw. die sie begleitende Narration nicht zu einer Erklärung führen, sondern zu einer Anreicherung, einer Steigerung des Potentials. (2) Weiterhin agiert eine gute Arbeit in der Praxis, besitzt ein Raffinement im Umgang mit der selbst gewählten Materialität ihrer Erscheinung. Das bedeutet nicht unbedingt handwerkliche Virtuosität, sondern ein Eingehen auf die Angebote materialer Eigendynamiken. (3) Und schließlich muss sich darüber ein Horizont poetischen Zaubers entfalten. Vielleicht noch dieses: Die Kunst kann wahr sprechen, ohne dass der Künstler wusste, was zu sagen war. Jürgens/Tesche: Wie würden Sie heute in Bezug auf diese drei Punkte zwischen Kunst und künstlerischer Forschung differenzieren?

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Dombois: Jenseits institutioneller Aufträge war der Gedanke, mir die Kunst als Forschung vorzustellen, Ende der 1990er Jahre für mich selbst eine große Hilfe, meine Ansprüche und Kriterien an meine künstlerische Praxis und an meine künstlerischen Vorbilder zu klären. Die drei genannten Punkte verdanken sich insofern dieser Vorarbeit. Aber heute ist aus der behaupteten Möglichkeit, Kunst unter der Frage einer eigenen Forschung zu denken, die Realität ›künstlerische Forschung‹ geworden. Diese hat das Substantiv ›Kunst‹ in das Adjektiv ›künstlerisch‹ herabgestuft. Mich aber hat stets als erstes die Kunst interessiert und nicht die Forschung. Jürgens/Tesche: Die Bedeutung, die eine forschende Kunst für ihre Tätigkeit in der Lehre sowie für ihre künstlerische Arbeit hat (und wir meinen dieses Adjektiv sicher nicht pejorativ!), untermauert, so wie Sie es in diesem Interview schildern, die Notwendigkeit über diese nachzudenken. Warum sollte dies nicht während des Studiums geschehen? Was ist während eines nun über zehn Jahre andauernden Akademisierungsprozesses schief gelaufen und was kann in Zukunft besser gestaltet werden? Dombois: Das finde ich gut: dass man sich in der künstlerischen Lehre Gedanken darüber macht, was eine ›Kunst als Forschung‹ sein könnte. Aber nur solange es um das ›als ob‹ geht. Schwierig wird es in meinen Augen, wenn man ›künstlerische Forschung‹ als Fach unterrichtet und damit das Postulat von der Provokation in die Affirmation überführt. Meine zehn Thesen von 20061 formulieren im Grunde Fragen, die mir für die künstlerische Produktion und Ausbildung wichtig scheinen: Was ist eigentlich das, um das man sich in der eigenen Arbeit bemüht (§ 1)? Will man sich als Künstler haftbar für die eigene Arbeit machen oder sich entziehen (§ 2)? Was und wo wäre die Kunst, wenn sie sich nur noch nach den Kriterien 1 | »§ 1 Eine ›Kunst als Forschung‹ setzt ein Erkenntnisinteresse voraus! § 2 Das Erkenntnisinteresse wird offen gelegt! § 3 Das Wissen formuliert sich in den jeweiligen künstlerischen Darstellungsformen! § 4 Quer zur Organisation nach Darstellungsformen tritt die Gruppierung nach Themen! § 5 Forschung ist eine Unternehmung von vielen! § 6 Die Evaluation von Forschungsergebnissen geschieht durch Fachleute! § 7 Die Forschungsergebnisse werden der Allgemeinheit durch Veröffentlichung zugänglich gemacht! § 8 Für die Verhandlung der Forschungsergebnisse besteht eine Einigung über die Qualitätskriterien! § 9 Eine Kunst als Forschung berücksichtigt den ›State of the Art‹! § 10 Eine Kunst als Forschung spielt der wissenschaftlichen Forschung ihre Antworten als Fragen zurück!« (Dombois/Ursprung 2006)

Kunst als Forschung – ein Rückblick

der Produzierenden selber richten würde und dafür die der nur Rezipierenden (also Kritiker, Theoretiker, Kunsthistoriker, Sammler) vernachlässigte (§ 6)? Wie wollen wir mit unseren Vorgängern umgehen, wollen wir dem Avantgardemodell eines historischen Fortschritts wirklich weiter folgen (§ 9)? – und so weiter. All diese Fragen greifen tief in den heutigen Kunstbetrieb. Sie könnten zu nicht unerheblichen Umwertungen führen. Ich glaube, darum sind die Thesen auch bei den Studierenden beliebter als bei den Dozierenden und Kollegen. Jürgens/Tesche: Gerade an den deutschen Kunsthochschulen mit ihren immer noch vorherrschenden Meister-Schüler Verhältnissen entfalten diese Fragestellungen sicher eine große Sprengkraft! In Ihrem Vortrag auf unserer Tagung sprachen Sie auch das Thema der Veröffentlichung der künstlerischen Praxis an (§ 7). Wenn wir uns richtig erinnern, haben Sie die Veröffentlichung als Alternative zur Ausstellung exemplifiziert. Würde dies bedeuten, dass die Veröffentlichung es ermöglicht, den Prozess der Arbeit im Unterschied zur Ausstellung einzufangen, welche traditionell das Werk in den Vordergrund rückt? Dombois: Ich möchte gerne vorausschicken: Ich finde es interessant, als Künstler ›Werke‹ zu machen, auch wenn ich um den Antiwerkdiskurs weiß bzw. mit der Kritik am überlieferten Werkbegriff sympathisiere. Ein Werk muss kein Artefakt haben, alles kann Werk sein etc. Dennoch halte ich es aus verschiedenen Gründen ratsam, am Grundkonzept des Werks festzuhalten. Ein Werk kann – nehmen wir als Beispiel die Bildende Kunst – aus einem Artefakt und einem Diskurs bestehen. Dann steht das Artefakt vielleicht in der Ausstellung, der Diskurs findet, z.B., in einer Podiumsdiskussion statt. Ich habe öfter Texte für Bücher geschrieben – manche haben für mich Werkanspruch. Philippe Pirotte, ehemals Direktor der Kunsthalle Bern und heute Rektor der Städelschule, hat darum mit mir vor einigen Jahren das Buch Florian Dombois: What Are the Places of Danger. Works 1999-2009 (siehe Kunsthalle Bern 2010) gemacht, weil er meine Werke, die in sehr unterschiedlichen Kontexten publiziert wurden, in einem Band zusammenbringen und sichtbar machen wollte. Ich kann mich an meinen Vortrag nicht mehr genau genug erinnern, aber ich will hier sagen, dass die Veröffentlichung eines Werkes für mich ein wichtiger Moment ist und dass für mich sämtlich denkbare Formate und Formen der Veröffentlichung auch für die Kunst nutzbar sind. Oder salopper gesagt: Kunst findet nicht nur in der Ausstellung statt, genauso wie nicht alles, was in einer Ausstellung gezeigt wird, (ernstzunehmende) Kunst ist.

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Jürgens/Tesche: Könnte man sagen, dass sich bestimmte Formate anbieten, um spezifische Inhalte zu exponieren, da sie eine bestimmte soziale Situation oder ein bestimmtes Verhältnis zum Artefakt implizieren? Welche Funktion kommt – zur Zeit – in diesem Kontext dem Internet zu? (Sie hatten auf der Tagung das Journal for Artistic Research vorgestellt!) Dombois: Als Künstler habe ich heute die Wahl, in welchem Medium und welchem Format ich agieren will. Es gibt keine Beschränkung, alles kann Kunst sein. Ich habe in meiner bisherigen Praxis oft sehr unterschiedliche Formate verwendet, und zwar genau aus dem von Ihnen genannten Grunde: Es geht im Produktionsprozess für mich immer wieder um ein Aushandeln von Form und Konzept, um ein Befragen der Formate und deren Antworten auf meine an sie gerichteten ›Konzepte‹. Ich schreibe das in Anführungszeichen, weil für mich eine wichtige Bedingung dieser Befragung ist, dass das von mir ursprünglich intendierte Konzept in seiner Realisierung immer auch zur Disposition steht. Man muss mit jedem Werk die Rationalität riskieren, die es entworfen hat, finde ich. Das ist die große Chance des Denkens in, mit und durch Dinge. Und, ja, ich denke dabei immer wieder über neue Formate nach, so auch über das Internet. Als Michael Schwab und ich ab 2009 das Journal for Artistic Research konzipiert haben, ging es immer durchaus darum, eine Alternative zur Gutenberg-Revolution zu entwerfen. Denn wie sähe eine Wissenspraxis aus, die sich nicht mehr über den gedruckten Text ggf. ergänzt um Illustration in Form des Buch-Codex definiert? Was ist das für ein Denken, das sich auf einer unendlich großen Fläche ausbreitet, das Bild, Text, Ton, Video gleichberechtigt nebeneinander stehen haben kann? Wenn Sie die bisherigen Versuche anschauen – und dazu empfehle ich unbedingt zusätzlich www.researchcatalogue.net [28.05.2015] zu studieren –, dann sieht man, wie schwierig das ist. Plötzlich wird z.B. die Navigation eine wichtige Frage, denn in der neuen Form ist nichts mehr intuitiv. Ich bin gespannt, was dort noch passiert; ebenso darauf, wie das in die Künste sowie in die Praxis der Natur- und Geisteswissenschaften zurückspielen wird. Aber ich bin sicher, dass es unser Denken verändert. Das hat mich immer interessiert: mir selbst mein Denken zu verändern. Jürgens/Tesche: Ihr Vortrag bei LaborARTorium trug den Untertitel ein Rückblick und wir würden hier gern mit einem Ausblick enden. Sie haben eindrücklich geschildert wie Ihr Ansinnen, sich Kunst als Forschung vorzustellen Sie zu neuen Einsichten geführt hat. Ist ein ähnlich grundlegender Perspektivwechsel in Sicht? Oder gilt es das Potential von einzelnen Themen zu entwickeln, die in der aktuellen Diskussion um künstlerische Forschung aufscheinen? (Wenn ja, woran sind Sie da gerade?)

Kunst als Forschung – ein Rückblick

Dombois: Der Perspektivwechsel ist eine grundsätzlich wichtige Bewegung. Das gilt auch für mich selbst, so arbeite ich weiter und an für mich neuen Perspektivpunkten. Ob sich das wieder in so einen Slogan wie ›Kunst als ­Forschung‹ fassen lässt, kann ich noch nicht sagen. Momentan stehe ich vor dem Problem, dass ich ein Projekt ins letzte Jahr bringe, das ich vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung gefördert bekomme. Ich finde, wir haben mit dem Projekt – Size Matters. Zur Maßstäblichkeit von Modellen – ungewöhnlich viel bewirkt. Das Projekt hat wichtige Protagonisten aus der Aerodynamik (wir haben einen eigenen Windtunnel gebaut, der uns als Ausgangspunkt dient), aus der Wissenschaftstheorie sowie aus der Kunst erreicht und wirklich zum Denken angeregt. Aber wie erkläre ich diesen Erfolg nun dem Geldgeber? Wie dokumentiere ich die Forschungsergebnisse, die durch unseren Input entstehen? Manche Leute sagen, dass die Kunst Fragen stelle und die Wissenschaft Antworten gäbe. Ich glaube, dass gute Forschung aus guten Antworten, aber eben auch aus guten Fragen besteht. Was also tun?

L iter atur Arndt, Andreas (2013): Unmittelbarkeit, Berlin: Eule der Minerva Verlag. Dombois, Florian/Krneta, Guy (Hg.) (2005): Nah am Original. Fünf Autoren antworten auf Albert Einstein, Basel: Engeler. Dombois, Florian/Ursprung, Philip (2006): Kunst und Forschung. Ein Kriterienkatalog und eine Replik, in: Kunstbulletin 4.2006. Online unter: http:// www.kunstbulletin.ch [9.3.2015]. Dombois, Florian (2012): »Was man nicht aufschreiben kann«, in: Stephan Füssel, Medienkonvergenz – Transdisziplinär, Berlin: De Gruyter, S. 149-156. Kunsthalle Bern (Hg.) (2010): Florian Dombois. What Are the Places of Danger. Works 1999-2009, Berlin: argobooks.

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Künstlerische Forschung gibt es gar nicht Und wie es ihr gelang, sich nicht davor zu fürchten Julian Klein

»Also gut«, flötete Fé, »sing mir Gründe, warum es Dich gar nicht gibt, und ich werde Dir flüstern, warum Du Dich nicht vor ihnen fürchten musst – solange Du mich auf der Gitarre begleitest.« – »Aber ich kann doch gar nicht Gitarre spielen!« – »Wenn es Dich gar nicht gibt«, fuhr Fé fort, »dann kannst Du auch Gitarre spielen, denn Du existierst ja, sonst würdest Du Dich nicht fürchten, und aus einer falschen Prämisse folgt das ganze Universum.« Und so spielte sie und spielte, sang ihre liebsten Befürchtungen und empfing von Fé elf Quinten Trost.

B efürchtung N r . 1: K ünstlerische F orschung versucht, die K unst als F orschung auszugeben Trost: 
Es mag gute Gründe geben, die dafür sprechen können, manche Kunst oder Kunstwerke als Forschung anzusehen (vgl. Schmücker 2015). Doch die Suche nach diesen Gründen unterscheidet sich durchaus von der Frage, unter welchen Umständen eine Forschung künstlerisch genannt werden kann. Anders gesagt: Die Debatte um »Kunst als Forschung« ist ein dezidiert kunsttheoretisches Programm, das zumeist posthoc stattfindet, wohingegen der Begriff Künstlerische Forschung« auf bestimmte Qualitäten in der Forschung zielt: Er fragt vielmehr danach, wann, wo und wozu der künstlerische Modus im Verlauf von Forschung eingesetzt wurde, wird oder werden soll (ausführlicher siehe Klein 2010). Der künstlerische Modus der Wahrnehmung (bisweilen auch »künstlerische Erfahrung« genannt) zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm, anders als im bloßen ästhetischen Erleben, mehrere Wirklichkeitsebenen gleichzeitig aktiviert sind und sich durch Rahmungen (mentales Decoupling) voneinander abgrenzen lassen. Anders als bei nichtkünstlerischen multiplen Rahmungen (etwa prästabilen Repräsentationen) ist die Wahrnehmung im künstlerischen Modus eigens auf diese Gleichzeitigkeit gerichtet und erhält damit einen prä-

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Julian Klein

senten oder opaken und damit bewusst erfahrbaren Charakter (vgl. Klein 2009 b).

B efürchtung N r . 2: 
K ünstlerische F orschung produziert K unst und ist daher keine F orschung Trost:
Die Prämisse trifft nur teilweise zu, denn wie alle Forschung produziert auch die künstlerische zunächst einmal Forschungsergebnisse; im günstigsten Fall damit auch Erkenntnisse. Das ist ihre hauptsächliche Bestimmung, sonst wäre sie keine Forschung. Diese Ergebnisse können zwar, müssen aber nicht ihrerseits in Form von Kunst auftreten (für Beispiele siehe Klein 2013). Insofern könnte es besser heißen: Künstlerische Forschung produziert unter anderem auch Kunst. Die Konklusion, Künstlerische Forschung sei keine Forschung hingegen ist entweder trivialerweise falsch, wenn sie denselben Begriff von Forschung wie die Prämisse verwendet, oder sie meint etwas anderes, nämlich etwas der Art, dass Künstlerische Forschung keine wissenschaftliche Forschung sei. Abgesehen davon, dass die künstlerische Art und Weise zu forschen durchaus schon seit längerem auch innerhalb der Wissenschaft eingesetzt wird, ist diese Aussage trivialerweise wahr, denn sonst wäre das Attribut ›künstlerisch‹ überflüssig (siehe weiter unten in Nr. 7 und Nr. 8).

B efürchtung N r . 3: 
K ünstlerische und wissenschaf tliche F orschung schliessen sich aus Trost: 
Nicht alles, was zu Recht künstlerisch genannt werden kann, ist allein deswegen, weil es künstlerisch ist, gänzlich unwissenschaftlich (man denke etwa an anatomisch gestaltete Kunst-Zeichnungen). Genauso wenig wie nicht alles, was zu Recht wissenschaftlich genannt werden kann, allein deswegen, weil es wissenschaftlich ist, gänzlich unkünstlerisch sein muss (man denke etwa an künstlerisch gestaltete Anatomie-Zeichnungen). Die künstlerische Erfahrung und die wissenschaftliche Argumentation sind daher vielmehr zwei unabhängige Dimensionen in einem gemeinsamen kulturellen und epistemischen Raum, die sich durchaus in immer neuen Verhältnissen miteinander verbinden lassen (vgl. Klein 2010). So finden sich auch innerhalb der wissenschaftlichen Forschung Vorgänge und Methoden, in denen der künstlerische Modus aktiv zum Erkenntnisgewinn beiträgt (siehe unten unter Nr. 7).

Künstlerische Forschung gibt es gar nicht

B efürchtung N r . 4: 
K ünstler wollen mit dem F orschungsbegriff ihre K unst auf werten , um sich unberechtigterweise F orschungsförderung zu erschleichen Trost:
Die Forschungstätigkeit in der Kunst wird derzeit nur in Ausnahmefällen mit zusätzlichen Mitteln oder Einkommen belohnt. Der weitaus größte Teil der Forschungstätigkeit muss hingegen rein ehrenamtlich geleistet werden (im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung, die in aller Regel zumindest befristet eine Grundfinanzierung des Lebensunterhalts der an der Forschung Beteiligten anzubieten in der Lage ist). Dazu gehören beispielsweise die Projektentwicklung, das Verfassen von Artikeln für Fachzeitschriften und von Buchkapiteln, Vorträge auf Konferenzen, die Beteiligung an kollegialen Gutachterverfahren, und dergleichen mehr. Inhaltlich erfordert die Forschungstätigkeit sowohl das Engagement im theoretischen Diskurs über die methodischen und epistemologischen Grundlagen der jeweiligen Forschung als auch die (zumeist nicht honorierte) Publikation von Studienergebnissen, Essays und Forschungsberichten außerhalb der künstlerischen Tätigkeit. Die Lehre und die Betreuung von Studierenden und Doktoranden wird in der Regel (wie in der wissenschaftlichen Lehre ebenfalls verbreitet), wenn überhaupt, mit einer vergleichsweise geringen Aufwandsentschädigung abgegolten. Schließlich haben forschungsorientierte Förderanträge in der Kunst den strukturellen Nachteil, dass die Projekte und Antragsteller häufig mit Messinstrumenten des Unterhaltungsmarktes evaluiert werden müssen (wie etwa Auflagenhöhe, Zuschauerzahlen, Einschaltquoten, Papiergewicht des Pressespiegels) und nur selten tatsächlich als Forschungsvorhaben gewürdigt werden können. All dies führt eher zu einer Tendenz der Abwertung von Kunst, die sich zu einem forschenden Ansatz bekennt. Generell wäre einer Künstlerin, die ihre Kunst durch irgendein externes und wesensfremdes Merkmal aufwerten möchte, jedenfalls nicht zu raten, sich deswegen ausgerechnet in der Forschung zu engagieren. Alternative Strategien wie beispielsweise Sozialarbeit mit verhaltensauffälligen Straßenkindern, die Vermittlung von Umwelt-, Bildungs- und Gesundheitsthemen oder auch schlicht virtuoser und höherer intellektueller Unsinn sind da wesentlich erfolgversprechender (und finden sich zu Recht von der Kunstförderung großzügig unterstützt – wobei auch solche Formate durchaus nicht selten hinter dem Begriff Künstlerischer Forschung vermutet werden).

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B efürchtung N r . 5: 
K ünstlerische F orschung be treibt nicht F orschung , sondern künstlerische E nt wicklung Trost:
Vorhaben, die sich der künstlerischen Entwicklung widmen, sind unbestritten genauso wichtig und relevant wie Forschungsvorhaben, die einem Erkenntnisgewinn dienen wollen. In der Wortverwendung in der produzierenden Industrie wird in der Regel streng zwischen Forschung und Entwicklung unterschieden. Künstlerische Entwicklung kann hierbei mindestens dreierlei bedeuten: erstens, die individuelle Entwicklung einzelner Künstlerpersönlichkeiten (die jeweils immer nötig ist), zweitens, die Entwicklung der Vermarktung von künstlerischen Inhalten zur besseren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit (auch dies ist immer nötig), und drittens, die Entwicklung von künstlerischen Inhalten, Methoden, Arbeitsweisen zur Innovation in verschiedenen künstlerischen Gattungen und Formen (dies ist ebenfalls unbestreitbar eine kontinuierliche Notwendigkeit). Alle diese Entwicklungsvorhaben und -programme sind für verschiedene Arten von Fortschritt in der Kunst legitim, haben aber mit dem spezifischen Erkenntniswunsch in der Forschung zunächst wenig gemein. Es mag Forschung geben, die u.a. der künstlerischen Entwicklung dienen kann, aber weder kann die künstlerische Entwicklung per se zur Forschung beitragen oder immer nur das einzige Ziel jeder mit künstlerischen Methoden betriebener Forschung sein, noch kann jeder Erkenntnisgewinn, der sich aus einer künstlerischen Tätigkeit ergibt, immer vollständig als künstlerische Entwicklung aufgefasst werden. Künstlerische Entwicklung hat in der Regel die Aufgabe, die Kunst weiterzuentwickeln, während Künstlerische Forschung auch auf andere Erkenntnisse gerichtet sein kann, die oftmals teilweise oder ganz außerhalb der eigentlichen Sphäre der Kunst liegen können. Künstlerische Forschung und künstlerische Entwicklung sind demnach zwei verschiedene Anliegen, die sich treffen können, aber es in der Regel nicht unmittelbar tun.

B efürchtung N r . 6: 
K ünstlerische F orschung ist E rforschung der K ünste und daher selbstbezüglich Trost:
Wie alle Forschung ist auch die künstlerische zunächst frei in der Wahl ihres Gegenstands. Dieser kann, muss aber nicht, aus der Sphäre der Kunst stammen. Insofern kann die Erforschung der Künste ein Teil der Künstlerischen Forschung sein, die dann ihren Gegenstand mit der Kunsttheorie einerseits (beispielsweise der Musiktheorie) und den Kunstwissenschaften andererseits (beispielsweise der Theaterwissenschaft) teilt – möglicherweise sogar auf eine selbstbezügliche Art und Weise (dies wäre dann die künstlerische Erforschung der Künstlerischen Forschung). Sie kann sich aber auch Gegenstände,

Künstlerische Forschung gibt es gar nicht

Themen oder Phänomene von außerhalb der Sphäre der Kunst suchen, die dann möglicherweise ebenfalls von anderen theoretischen oder wissenschaftlichen Disziplinen geteilt werden, etwa der Philosophie, Soziologie, Psychologie oder Physik. Es empfiehlt sich, zwischen den Begriffen der Künstlerischen Forschung und der Erforschung der Künste zu unterscheiden.

B efürchtung N r . 7: 
K ünstlerische F orschung wird nur von (minderbegabten) K ünstlern be trieben Trost:
Forschung kann dann künstlerisch genannt werden, wenn sie den künstlerischen Modus als Erkenntnisinstrument einsetzt. Dies tun nicht nur Künstler, sondern beispielsweise auch Wissenschaftler. Dreidimensionale Modellierungen, Gedankenexperimente, Simulationen, argumentative Narration, Sonifikationen, Spiele und (Re-)Enactments sind genauso offensichtlich Teil des Repertoires wissenschaftlicher Forschung, wie offenbar in ihnen der künstlerische Modus maßgebend zur Anwendung kommt. Manche Wissenschaftler produzieren bisweilen ihrerseits Kunst, etwa wenn Philosophen Ausstellungen oder Theateraufführungen gestalten. Doch hier dient der künstlerische Modus in der Regel eher der Darstellung und nicht der Erkenntnis. Für Wissenschaftler wie Künstler gilt gleichermaßen: wenn und solange sie Kunst produzieren, forschen sie nicht unbedingt. Wenn sie jedoch forschen, also nach Erkenntnissen suchen, und sich oder andere dabei in den künstlerischen Modus versetzen, dann ist ihr Forschen (auch) künstlerisch.

B efürchtung N r . 8: 
K ünstlerische F orschung versucht, wissenschaf tlich zu erscheinen Trost:
Es wird gelegentlich unterstellt, dass Künstlerische Forschung sich deswegen so nennt, weil sie sich damit eine Art »Ehrentitel« der Wissenschaftlichkeit verschaffen möchte. Das mag in einzelnen, auch durchaus eher unehrenhaften Fällen der Fall gewesen sein, trifft jedoch auf die große Mehrzahl der künstlerischen Forschungsvorhaben nicht zu. Der Subtext dieser Befürchtung übersieht zudem, dass die Künstlerische Forschung, indem sie sich so nennt, gar nicht den Anspruch erhebt, wissenschaftlich sein zu wollen, sondern ja geradezu stattdessen künstlerisch genannt werden will. Darüber hinaus übersieht sie ebenso, dass der Ehrentitel des Künstlerischen mindestens genauso ehrenvoll sein kann wie der des Wissenschaftlichen. In jedem Fall geht diese Unterstellung jedoch am Wesentlichen vorbei, nämlich dem zur Unterscheidung vorangestellten Adjektiv ›künstlerisch‹, das

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gerade die Unterschiede zu den verschiedenen ›wissenschaftlichen‹ Arten und Weisen zu forschen betonen soll. Dies behindert auf der anderen Seite wenig eine interdisziplinäre Forschung, die mehr dem (mitunter deckungsähnlichen) Erkenntnisinteresse und Wissensdurst von künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung gleichermaßen verpflichtet sein kann.

B efürchtung N r . 9: 
G emeinsame interdisziplinäre F orschung von wissenschaf tlichen und künstlerischen D isziplinen ist gar nicht möglich Trost:
Dass es inhaltliche und methodische Schwierigkeiten zwischen verschiedenen Disziplinen geben kann, gilt zunächst einmal ganz generell – auch innerhalb der Wissenschaften und innerhalb der Künste. Oftmals erscheinen dabei die Differenzen zwischen den geisteswissenschaftlichen Disziplinen einerseits und den naturwissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen andererseits als durchaus größer als die Unterschiede zwischen den naturwissenschaftlichen und den künstlerischen Disziplinen. Das mag daran liegen, dass Geisteswissenschaftler rein soziographisch weit mehr daran gewöhnt sind, über Künstler zu sprechen, als mit ihnen. Das mag aber auch daran liegen, dass ein naturwissenschaftliches Labor in seiner epistemologischen Struktur oftmals mehr einem künstlerischen Atelier oder einer Probenbühne ähnelt, als dem Sessel eines Armchair Humanitist. Hinzu kommt: Geisteswissenschaftliche Disziplinen arbeiten oft hermeneutisch. Die Hermeneutik jedoch ist als positivistisches Programm das natürliche Komplement und damit eher eine Gegenspielerin als eine Partnerin der Kunst, die in der Regel eher von einer konstruktivistischen und relativistischen Wirklichkeitsstruktur ausgeht. Auch hierin gleichen sich naturwissenschaftliche Modellbildung und künstlerischer Modus. Die empirische Arbeitsweise der Naturwissenschaft ist von einer ähnlichen, idealerweise unvoreingenommenen Neugier auf die Vielfalt der Wirklichkeit geprägt und ebenso darin geschult, in Paradoxa denken und sich in ihnen einrichten zu können, wie dies oft der Kunst zugesprochen wird. Der wesentliche Unterschied besteht hingegen in der Betrachtungsebene: In den (Natur-)Wissenschaften geht es meist um das Typische, das Allgemeine, das Repräsentative, das Paradigmatische, das Durchschnittliche, das Gewöhnliche, wohingegen es in der Kunst oft um das Individuelle, das Eigene, das Rätselhafte, Außergewöhnliche, das Vorbildliche und das Originelle geht. Gerade hierin besteht daher ein besonderer Vorteil, wenn sich künstlerische und wissenschaftliche Disziplinen gemeinsam einem Forschungsprogramm widmen. Die Kunst kann uneingeschränkt subjektiv vorgehen, was bisweilen gegenüber der objektivistisch oder intersubjektiv geprägten Wissenschaft ein Vorteil sein

Künstlerische Forschung gibt es gar nicht

kann, vor allem, wenn es um einen möglichst großen Erkenntnisgewinn aus bestimmten Fakten, Quellen oder Versuchsanordnungen geht. Darüber hinaus zeigen zahlreiche Beispiele, dass insbesondere die wissenschaftlichen Disziplinen von einer Zusammenarbeit mit künstlerischen insofern profitieren können, als diese ihnen einen Zugang zu Erkenntnissen ermöglichen können, der ihnen ohne die künstlerische Komponente verschlossen bliebe (vgl. Klein 2011). In der Bewertung von Interdisziplinarität generell wird zusätzlich oftmals die Notwendigkeit unterschätzt, sich zunächst disziplinübergreifend überhaupt eine sinnvolle Ebene von Kommunikation und Methodik zu erarbeiten. Ohne diese vorangehende Investition, die oftmals bedeutet, sich wesentliche Kompetenzen der Disziplin des jeweiligen Gegenübers, wenigstens zu einem gewissen Teil, ebenfalls zu erarbeiten, laufen gemeinsame Vorhaben jedoch Gefahr, sich auf simple Arbeitsteilung und einen eher oberflächlichen Gedankenaustausch zu beschränken. In interdisziplinärer Forschung, die diesen Namen zu Recht verdient, tendieren die Disziplinen stets dazu, ihre personenbezogenen und inhaltlichen Grenzen aufzulösen und in einer höheren Ebene der ›In-Disziplinierung‹ miteinander zu verschmelzen (nach Rancière, siehe Klein/Kolesch 2009). Die hierfür nötige Kraft, Zeit und Gelegenheit ist derzeit sowohl im Kunst- als auch im Wissenschaftsbetrieb nur in besonders glücklichen Fällen gegeben. Die Existenz insbesondere der interdisziplinären Künstlerischen Forschung hängt mithin am meisten davon ab, ob ihr derartige Möglichkeiten und Infrastrukturen gestattet und zur Verfügung gestellt werden. Solange sie hingegen weiterhin keine oder zu wenig Chancen bekommt, ihre Fähigkeiten und Leistungen unter Beweis zu stellen, sind weitere Vorwürfe unfair und selbsterfüllend: Wenn Forschung, sobald sie künstlerisch wird, die Unterstützung verweigert wird, ist der Beweis, dass es keine relevante Künstlerische Forschung gebe, schon geführt, bevor die Diagnose überhaupt gestellt werden muss.

B efürchtung N r . 10: 
K unst müsste sich zu stark ver ändern , um F orschung genannt werden zu können Trost:
Künstlerische Forschung kann auch wissenschaftliche Forschung sein, genauso wie wissenschaftliche Forschung auch Künstlerische Forschung sein kann. Es ist daher völlig unnötig, weder die Kunst selbst, noch den Kunstbegriff, noch den Forschungsbegriff oder gar die Forschung zu verändern. Es kommt lediglich darauf an, die glücklicherweise verschiedenen Bedeutungen dieser Begriffe zur Kenntnis zu nehmen und sie dann, wenn dies angebracht erscheint, in einem sinnvollen Verhältnis miteinander zu verknüpfen.

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Julian Klein

B efürchtung N r . 11:
D er B egriff der K ünstlerischen F orschung ist wohl nötig , um von einer mangelhaf ten Q ualität der künstlerischen A rbeit abzulenken Trost:
Auch vor der Einführung oder ohne Verwendung des Forschungsbegriffs kann die nötige künstlerische Arbeit, die jeweils in die Forschung einfließt, bereichernd, befriedigend und qualitativ hochwertig sein. Die Bezeichnung als Forschung qualifiziert sie lediglich als erkenntnisgetrieben, was sie aber auch ohne so genannt zu werden, getrost bleiben kann, ohne sich zu ändern. Letztlich sind es die künstlerische Arbeit und die mit ihrer Hilfe gewonnenen Erkenntnisse, die überzeugen müssen. Die Projekte und die Herstellung der künstlerischen Produkte jedenfalls werden kaum vornehmlich zur Verteidigung eines angegriffenen Begriffs unternommen. Der Begriff kann lediglich helfen, ihren Sinn und ihre Struktur zu verdeutlichen: zumeist wollen sie zuallererst Fragen, Phänomene und Probleme untersuchen, und dann auch erheben, unterhalten und ihr Publikum finden. Wen der Begriff hingegen mehr stört als bereichert, der darf und sollte ihn ohne größeren Verlust wohl besser weglassen. Die Künstlerische Forschung wird es trotzdem geben, auch wenn sie nicht so heißt.

L iter atur Klein, Julian (Hg.) (2009a): per.SPICE! Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen, Berlin: Theater der Zeit. Klein, Julian (2009b): »Zur Dynamik bewegter Körper. Die Grundlagen der ästhetischen Relativitätstheorie«, in: Ders., per.SPICE!, Berlin: Theater der Zeit, S. 104-134. Klein, Julian/Kolesch, Doris (2009): »Galileis Kugel oder das absolut Relative des ästhetischen Erlebens«, in: Ders., per.SPICE!, S. 7-18. Klein, Julian (2010): »Was ist künstlerische Forschung?«, in: Gegenworte 23, S. 24-28. Online unter: kunsttexte.de [21.03.2015]. Klein, Julian (im Gespräch mit Martin Tröndle) (2011): »Wie kann Forschung künstlerisch sein?«, in: Martin Tröndle/Julia Warmers (Hg.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft, Bielefeld: transcript, S. 139-147. Klein, Julian (2013): »Das !KF – Institut für künstlerische Forschung Berlin«, in: Aussichten – zur Öffnung des Unverhofften, DASA Dortmund, Essen: Klartext. S. 298-305. Schmücker, Reinold (2015): Künstlerisch forschen. Über Herkunft und Zukunft eines ästhetischen Programms. Unveröffentlichtes Manuskript zum Vortrag an der Universität der Künste Berlin, 23.01.2015.

Interdisziplinäres Raumlabor – Praxis künstlerischer Forschung Albert Lang

Die Verschränkung von Lehre und Forschung ist fester Bestandteil und Grundlage der Arbeit im Interdisziplinären Raumlabor der Technischen Universität Berlin. Ausgangspunkt der Forschungspraxis ist nach Projektwahl die Recherchearbeit und Auseinandersetzung mit bestehender Theorie. Aus der theoretischen Annäherung ergeben sich konkrete Versuchsanordnungen für die Projekte der (studentischen) Forschenden, in denen verschiedene Medien (visuelle Kunst, performative Kunst, Bewegung im Raum etc.) räumlich zur Anschauung gebracht werden. Auf der Basis ästhetischer Erfahrung können die erarbeiteten Objektbestände einen Diskurs eröffnen und im Sinne eines »Mit-Kunst-Denkens« die theoretischen Figuren affizieren und umgekehrt (siehe hierzu www.zhdk.ch/?trans/fsp [28.02.2015]; vgl. Peters 2013). Künstlerische Praxis wird dabei ganz konkret als experimentelle Anwendung von Hypothesen verstanden, die sich erneut ins Verhältnis zu wissenschaftlicher Theorie setzt. Entscheidend ist, dass sich die diskursiven und gestalterischen Fragmente nicht nur gegenseitig beleuchten, sondern darüber hinaus begründbare Verflechtungen offenlegen. Wie aufzuzeigen ist, fokussieren die Arbeiten im Interdisziplinären Raumlabor insbesondere den Erfahrungsgehalt genuiner Räume und Raumphänomene: Sie analysieren u.a. Raumanordnungen für Herrschaftskritik, die Radikalisierung bzw. Umkehrung vom NichtSichtbaren zum Sichtbaren sowie neonomadische Lebensbedingungen, arbeiten die Historizität repräsentativer Räume heraus und führen Architektur auf Bewegungsmuster zurück. Das Interdisziplinäre Raumlabor bietet Studierenden die Möglichkeit an eigenen Themen zu forschen, wie es auch den Kontext für Forschungsarbeiten von Absolvierenden bilden kann. Das Interdisziplinäre Raumlabor bekennt sich dezidiert zum Experimentalcharakter von Labor-, Werkstatt- und Forschungssituationen und begreift diese als Grundlage theoretischer und praktischer Innovation (vgl. außerdem Mersch 2009 und Rheinsberger 2014). Ausgehend von jeweils spezifischen Problem-

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stellungen entstehen kooperative Formate, die Künstlerische Forschung vor allem als inter- oder transdisziplinäre Tätigkeit verstehen. Jens Badura, der u.a. an der Kunstuniversität Graz eine Gastprofessur für Künstlerische Forschung inne hat, beschreibt diese als »Konstellationen, die durch die scheinbar klaren Grenzen zwischen ›der‹ Wissenschaft und ›der‹ Kunst hindurch forschend Erkenntnisse generieren und damit zugleich die bestehenden Grenzziehungen zwischen den vorgeblich homogenen Disziplinen verschieben« (ausführlicher siehe Badura 2012: 13-16). Die dafür notwendige Abkehr vom methodologischen Korsett der ›richtigen Dinge‹ erfordert demgemäß einen Perspektivwandel von Ordnungssystemen, den das Interdisziplinäre Raumlabor als künstlerische Forschungspraxis zu gestalten beginnt. Anzumerken ist hierbei, dass eine Forschungspraxis in diesem Sinne nicht als Dienstleistung der Kunst gegenüber der Forschung oder umgekehrt fehlinterpretiert werden darf. »Künstlerische Forschung«, so formuliert es Jens Badura, »kann zwar im Dialog mit den Wissenschaften erfolgen, sie kann aber auch auf dem Wege künstlerischer Selbstreflexion oder explorativer künstlerischer Welterschließung betrieben werden. Jede Engführung des Begriffs auf eine der genannten Dimensionen – z.B. mit dem Ziel, handliche Kriterien für Standardisierungen zu schaffen oder künstlerische Forschung legitimatorisch an wissenschaftliches Vorgehen rückzubinden – ist daher abzulehnen.« (Badura 2011) Künstlerische Forschung sollte vielmehr als explorative und ästhetische Grundlagenforschung verstanden werden (vgl. Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung 2013), deren Methoden stark durch Entstehungskontext und Forschungsgegenstand bestimmt werden.1 Das Interdisziplinäre Raumlabor sieht seinen zu leistenden Anteil in der Untersuchung des ästhetischen Erfahrungsgehalts im Singulären (vgl. hierzu auch Mersch 2009: 30). Methodologische Konstrukte zur Standardisierung von Ergebnissen weichen einer offenen prozesshaften Verflechtung innerhalb von Kunst und Wissenschaft. Würde die koexistente Verschränkung als Bedingung und nicht als Grenzziehung begriffen werden, dann generierte das Interdisziplinäre Raumlabor neue Kontexte zur Eröffnung eines künstlerischen Dialoges und/oder eines wissenschaftlichen Diskurses, wie folgende Projekte skizzieren. Francisca Villela forscht mit Lapso en zona de nadie (Lücke/NiemandsRaum) an einem herausragenden Beispiel über Perspektivverlust. Mit dem Herrschaftssystem der Colonia Dignidad brach auch deren räumliche Organisationsform auseinander. Jenen, die blieben, fehlte die Orientierung durch vorgegebene Strukturen, sie wussten sich nicht mehr zwischen den ehemals streng abge1 | Dieser Grundsatz zu Methoden künstlerischer Forschung entstammt dem Text zu künstlerischer Forschung aus dem Kollaborationsentwurf zwischen dem Interdisziplinärem Raumlabor (Albert Lang) und dem Institut für künstlerische Forschung der Filmuniversität Babelsberg (Fee Altmann) vom 13. Februar 2015.

Interdisziplinäres Raumlabor – Praxis künstlerischer Forschung

grenzten Bereichen zu bewegen, die einer neuen Zuordnung harrten. Das Machtvakuum war ihnen kein Freiheitsraum. Dieses Zeitmoment gießt Villela in absurde Objekte, die Erwartungen brechen und die imaginäre Komponente der Raumerfahrung im Moment ihrer Verunsicherung herausarbeiten: Ein Schallplattenspieler unter einem Teppich. Der Blick durch die Tür eines Bretterverschlages auf das Poster eines Treppenaufganges. In einem Spint wächst Gras. Seilzüge bestimmen die Position eines Tisches im Raum. David Roth führt mit decoding dna2 ein szenografisches Experiment zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms durch, das als interaktive Mockumentary wissenschaftliche Systematik veranschaulicht: Die Installation zeigt auf einem Tisch in fiktiven Zusammenhang gebrachte Objekte, tatsächliche Dokumentarteile, wie einen mit Dekodierungssoftware eingespeisten Computer. In der Lecture Performance stellt Roth als Performer die Entschlüsselung des menschlichen Genoms in Zusammenhang zur Besetzung des Iraks durch die Amerikaner im Jahr 2003. In der Hauptstadt Bagdad befindet sich die Ausgrabungsstätte von Etermenaki, die zugleich als Verortung der biblischen Erzählung des Turmbaus zu Babel dient. Diesen Ort greift Roth als Metapher für unendliches Wissen auf und legt ihn als Folie über den Mesokosmos des World Wide Web und dessen Analogie im Mikrokosmos, die DNA. Das WWW als babylonische Bibliothek unserer Zeit und die entschlüsselte DNA als Mikrometapher und Archiv alles darin verborgenen entlarven den Rezipienten als Speicher unterschwelligen Wissens. Die Teilnehmer erfahren am eigenen Leibe multiperspektivische Erzählstränge, die sie als Synthese zwischen Inhaltsebenen und Bildebenen begreifen. David Roths Lecture Performance radikalisiert die Präsenz des verborgenen menschlichen Wissens. Friederike Kunze kommuniziert über die Dauer eines halben Jahres durch eine wöchentliche elektronische Postkarte mit fünf modernen Nomaden. Ihre systematisierte Befragung interessiert sich für die konkreten Lebensräume von Menschen, die sich entschieden haben, die Dichotomien zwischen Innen und Außen, Lebensmittelpunkt und Reise, Fremde und Privatheit in großem Maße durchlässig werden zu lassen. An den Wänden eines 60 qm großen Raumes werden die visuellen Ergebnisse der Recherche, Farben und Zeichnungen, projiziert. Ein Turm in der Raummitte gibt den Blick in drei Richtungen frei. Die vierte fehlt: Die Leerstelle symbolisiert die Anpassungsleistung zwischen objektiven und subjektiven räumlichen Bezugssystemen. Drifters arbeitet mit der Abstraktion in Übersetzungsleistungen, die die gegenseitige Prägung von Menschen und Räumen ermöglichen. Lautsprecher geben biografische Texte wieder: Was in der Recherche schriftliche Kommunikation war, wird zur frem2 | In Kooperation mit Prof. Dr. Gero Wedemann, Professor für Software Engineering an der Fachhochschule Stralsund, und Studierenden der Charité Universitätsmedizin Berlin.

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den, akzentgefärbten Stimme, die Erzählungen werden von der räumlich ungebundenen Identität zur akustischen Perspektive. Elena Koch rekonstruiert für There Is Nothing There die Lebensgeschichte verlassener Räume. Kartografiert werden Entstehungsumstände und Bewohnergenealogien leerstehender Bauten in Berlin und dessen Umland, von Schrebergartenhütten über Fabrikanlagen, von Schlössern zu Wohnmaschinen. Die Präsentation widmet sich der irakischen Botschaft der DDR, in der Elena Koch die Spuren ihrer Benutzung vorfindet: Die Dechiffriermaschine und Kleidung der Botschaftsangehörigen, Fragmente des Mobiliars und der produzierten Schriftstücke. Die Rauminstallation verbindet die museale Rekonstruktion des historischen Raumes mit der filmischen Reproduktion des Prozesses ihrer Entstehung. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeitläufe konterkariert Elena Koch durch ein Bild für Gedächtnistechniken, wie sie topographische Ordnungen überschreiben: An den Wänden des Ausstellungsraumes ist Schrift appliziert, die erst unter spezifisch einfallendem Licht sichtbar wird. Für A Perfect Place3 untersucht Jana Barthel Räume, in denen künstlerische Ausbildung an Hochschulen stattfindet. Sie entscheidet sich für die Auseinandersetzung mit den Arbeitsplätzen von vier Studierenden der bildenden und angewandten Künste, beobachtet ihre Interaktionen, die Prozesse ästhetischer Entwicklung und die Strategien zu deren Verhinderung im Raum. Architektur wird als Muster von Bewegungen begriffen. In Interviews werden nicht nur die räumlichen Bedingungen der schöpferischen Arbeit reflektiert, sondern auch die paradoxalen Anforderungen an Räume, die entstehen, wenn die Raumanordnung als ideale Arbeitsbedingung gedacht wird: A Perfect Place sei zur gleichen Zeit weit weg und in einer Minute erreichbar, lautet eine der Maximen. Die vorhandenen Raumkonstruktionen überträgt Jana Barthel für ihre Präsentation auf Folien, die übereinandergelegt um eine imaginäre Folie ergänzt werden und damit die Raumdimensionen in einen utopischen Raum überführt, der die vorhandenen Konflikte aufhebt. Die Visualisierung provoziert die Erkenntnis, dass es keinen idealen Raum für künstlerische Schaffensprozesse gibt. Vielmehr ist die Reibung am realen Raum konstitutiv.

L iter atur Badura, Jens (2011): Künstlerische Forschung. Ein Postulat, Plattform Künstlerische Forschung in Österreich. Online unter: http://art-based-research. net/2011/08/ vom 3.8.2011 [28.2.2015].

3 | Eine Präsentation dieser Arbeit fand am 7. Dezember 2013 auf der Tagung ­L aborARTorium in München statt (Anmerkung der Herausgeber).

Interdisziplinäres Raumlabor – Praxis künstlerischer Forschung

Badura, Jens (2012): »Forschen mit Kunst«, in: Zeitschrift der dramaturgischen Gesellschaft 2, S. 13-16. Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Hg.) (2013): Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste (PEEK), Wien. Mersch, Dieter (2009): »Kunst als epistemische Praxis«, in: Elke Bippus (Hg.), Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich/Berlin: diaphanes, S. 27-39. Peters, Sibylle (Hg.) (2013): Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld: transcript. Rheinsberger, Hans-Jörg (2014): »Experimentalanordnungen in Wissenschaft und Kunst«, in: Hermann Parzinger/Stefan Aue/Günther Stock (Hg.), ArteFakte. Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen. Reflexionen und Praktiken wissenschaftlich-künstlerischer Begegnungen. Jahresthema der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2011/12, Bielefeld: transcript, S. 307-319. ZHdK, Forschung: www.zhdk.ch/?trans/fsp [28.02.2015]

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Reflexionen zum LaborARTorium als umfassenden Denkraum künstlerischer Forschung

Diskursive Materialität Das Labor als Ort ästhetischer Aufschreibesysteme Kevin Liggieri

»Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung […] und nicht eine Welt-Erklärung ist«. (N ietzsche , 1999a : 28) »Ich liebe das Labor, denn dort ist alles immer noch Zauberei.« (G ale B oet ticher , B reaking B ad)

E in › ausser - ordentlicher ‹ O rt Wenn es einen Raum gibt, in dem keine ästhetische Freiheit, keine genial künstlerische Schöpfung stattfindet, ein Ort der apollinischen Ordnung und nicht des dionysischen Chaos, dann ist es das naturwissenschaftliche Labor – so sollte man denken. Schaut man allerdings in die fiktionale Literatur, wird schnell deutlich, dass diese besondere Wissensformation einen differenzierteren epistemischen Blick auf den ›außer-ordentlichen‹ Raum des Labors freigibt: Wir betreten einen kleinen, hohen Raum. Er ist bestückt mit »weitläufige[n], unbehülfliche[n] Apparate[n] zu phantastischen Zwecken« (Goethe 1986: 209). Behutsam nähern wir uns einem Forscher, der am Herde steht, sein Name, einige werden ihn kennen, ist Wagner, der Ex-Famulus Faustens. Nach viel Aufwand des Komponierens, Verlutierens und Kohobierens (ebd.: 210) kann der »trockne Schleicher«, wie Faust ihn noch zu Beginn des Dramas nannte (ebd.: 24), euphorisch ausrufen: »Es wird ein Mensch gemacht!« (Ebd.: 209) Aber nicht irgendein Mensch wird hier von Wagner bzw. dem Laboratorium, in dem die Szene spielt, fabriziert, sondern Homunculus, also reines Wissen, reiner Geist. Wagner hätte dieses personifizierte Wissen wohl kaum auf dem freien Feld herstellen können, da erst der Raum und die technischen

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Apparate ihm dieses protogenetische ›Meisterstück‹ ermöglichen. Der theoretisch-affirmierte Bücherwurm Wagner konnte nur in diesem und durch diesen Raum des Labors zur Praxis gelangen. Erst hier wird er zum Schöpfer. Doch was versteht man überhaupt unter einem Laboratorium? Da es das eine Labor ebenso wenig wie die Naturwissenschaft gibt, muss man genau abwägen über welches Labor man spricht. Auch zwischen (biotechnologischen, physikalischen, medizinischen, etc.) Laboratorien existieren erhebliche Unterschiede, daher wird es im Folgenden v.a. um eine Metareflexion über Grundkonstanten der Laborforschung gehen, wobei eine weitere, detaillierte Betrachtung unterschiedlicher Laborräume an anderer Stelle geleistet werden muss. Bleibt man zunächst im 18. Jahrhundert und folgt der Definition aus Diderots Encyclopedie von 1765, ist das Labor ein »geschlossener und bedeckter Ort, Zimmer, Teil eines Hauses oder Laden, der alle chemischen Utensilien beinhaltet, die unter den Bezeichnungen Öfen, Gefäße und Instrumente zusammengefasst werden, und in denen sich die chemischen Tätigkeiten in bequemer Weise ausführen lassen« (Diderot in Schmidgen 2011: 12).

Glaubt man den Naturwissenschaftlern, den Medien und der Politik, die immerhin reichlich Gelder in diese speziellen Räume des Wissens fließen lässt, ist das Labor der moderne Ort der Erkenntnis, welcher Wissen als fundiert darstellt (vgl. Sandkühler 2009: 157-164). Hier finden, so der Grundgedanke, objektive Forscher durch rationale Anwendung von Theorie und Technik Naturwahrheiten. Man könnte zustimmend mit Heidegger formulieren: »Das Wesen dessen, was man heute Wissenschaft nennt, ist die Forschung« (Heidegger­1977: 77). Demzufolge ist das Labor das Zentrum einer experimentellen Naturwissenschaft, und damit vielleicht sogar der räumliche Knotenpunkt der westlichen Gesellschaft an sich, die durch Wissen bestimmt wird und sich selbst definiert (vgl. Knorr Cetina 2002: 15). Die Kluft zwischen Kunst und Wissen, Praxis und Theorie scheint unüberbrückbar, eine Poetologie des Wissens sowie eine wissenschaftliche Poetologie in der Heterotopie des Labors nicht denkbar. Wissen ist jedoch, so soll im Folgenden gezeigt werden, nicht rein abstrakt-theoretisch, sondern wird – gerade im Labor – durch liteaturtechnische Strukturen, Prozesse und Umwelten ausgeübt, die wiederum »spezifische epistemische Kulturen ausmachen« (ebd.: 18). Diese Kulturen besitzen im Kern ästhetische Paradigmen, die die Differenz und die Agonie zwischen Kunst und Wissenschaft subvertieren. Ein ›Wissen‹, welches nur als reines intellektuelles oder technologisches Produkt definiert wird und gerade nicht als Schreibund Handlungsprozess in bestimmten Produktionskontexten auftritt, greift daher zu kurz. Dabei kann man Knorr Cetina folgend argumentieren, dass, »[a]nstatt wissenschaftliche Produkte als irgendwie die Wirklichkeit abbildend

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zu betrachten, […] man sie auch als selektiv aus dieser Wirklichkeit fabriziert ansehen [kann]« (Knorr Cetina 2012: 21). Im Labor finden sich demnach im weiten Begriff Kunstwerke sowie – auch das soll erörtert werden – Experimentaltopologien in der Kunst. Der Raum, in dem Goethes Homunculus vorgestellt wird, ist also paradigmatisch für einen epistemologischen Blick auf das Wissen und seine Produktion, da unsere Gesellschaft überwiegend aus Objekten besteht, »die im Laboratorium fabriziert sind« (Latour 2008: 33). In der vorliegenden Analyse werden erstens verschiedene philosophische sowie wissenshistorische Ansätze des Labors dargelegt und zweitens eine prozesshafte Ausarbeitung von ästhetischen Aufschreibesystemen bzw. Produktionsverfahren, die im Labor stattfinden, zur Diskussion gestellt.

Ein ›kurzes‹ Präludium des Laboratoriums In der Moderne, wo Großraumlabore und Industrielabore zu einer »Streuung des Labors« (Schmidgen 2011: 9) beitragen,1 wird oft übersehen, wie immens dieser spezielle Raum des Wissens historisch in ein operatives Gerüst eingebunden ist. Schon die eindrucksvolle Faust-Szene zeigt praktisches Arbeiten im Labor. Wagner ist eben kein abstrakter Denker mehr, sondern ein ›Macher‹. Ähnlich wie Chemiker um 1800 verwendet er Methoden der Extraktion, Decoction (Abkochung), Destillation, Sublimation, Kalzination, Auflösung und Präzipitation (Niederschlagen eines Stoffes aus einer Lösung). Um 1450 lassen sich erste Verwendungen des Begriffs ›Labor‹ in klösterlichen Kontexten nachweisen, die sich auf Werkstätten beziehen. Interessant scheint hierbei, dass der Begriff synonym zur Schreibstube (scriptorium) und Schlafsaal (dormitorium) Verwendung fand (ebd.: 2). Das Laboratorium weist damit schon begrifflich (lat. labor: ›Anstrengung‹, ›Mühe‹, ›Arbeit‹) auf eine ›Hand-Arbeit‹ sowie auf eine handwerkliche Beschäftigung hin. Aufschlussreich ist hierbei der Bezug zum Apothekergewerbe, in dem schon vor dem 16. Jahrhundert Praktiken der Destillation und Auskochung betrieben wurden. Dahingehend entwickelte sich das moderne Labor aus einem Dienstleistungsraum der Apothekenlabore (vgl. Klein 2008: 14). Auch die Homunculus-Figur bei Faust ist aus dem paracelsischen Geiste der Alchemie geboren, der sich im 16. Jahrhundert an den Fürstenhöfen ausbreitete und zu zahlreichen alchemistischen Laboratorien führte (vgl. Liggieri 2014: 102-111). Bis ins 18. und frühe 19. Jahrhundert waren daher ›Laboratorien‹ überwiegend als Räume für chemische Experimente und chemische Verfahren zu denken (vgl. Schmidgen 2011: 6). In diesem Sinne schrieb der französische Chemiker Pierre Joseph Macquer 1  |  Zur Ausweitung und Transformation des Labors in andere gesellschaftliche Systeme siehe Hoof/Jung/Salaschek 2011.

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1776 in seinem Chemischen Wörterbuch ähnlich wie Diderot: »Es ist (demnach) für einen jeden, welcher ein Chymist werden will, eine unumgängliche Sache, ein mit denen zur Ausübung dieser Wissenschaft nöthigsten Werkzeuge versehenes Laboratorium zu haben.« (Macquer in Klein 2008: 2-3) ›Laboratorium‹ war gleichbedeutend mit ›chemischem Laboratorium‹ (vgl. Schmidgen 2011: 6).2 Bereits bei den Aufgaben und Parametern dieser chemischen Laboratorien (in denen Stoffe destilliert, geschmolzen, verbrannt, aufgelöst und präzipitiert wurden) wird deutlich, dass es sich nicht nur um Orte des wissenschaftlichen Experimentierens, sondern gerade auch um Typen handwerklicher Werkstätten handelt: Orte der materiellen Produktion.3 Die Labore der frühen Neuzeit und des 18. Jahrhunderts waren demzufolge »hybride Institutionen, in denen Naturbeobachtung und Experiment mit handwerklich-gewerblicher Produktion und Innovation auf vielfältige Weise verwoben waren« (Klein 2008: 10). Klein beschreibt diese Hybride als technowissenschaftliche Orte, da die technischen Dinge und Apparate nicht genuin für das Labor als Forschungsfeld erfunden oder hergestellt wurden, sondern im großen Maße aus der Apothekenkunst hervorgingen. Aus diesem Grund ist eine Kontinuität der Ausstattung und Techniken alchemistischer und chemischer Laboratorien bis ans Ende des 18. Jahrhunderts nur schwer zu leugnen (ebd.: 12) und unterstreicht als materieller Transfer erneut den Bezug zur Praxis in der Forschung rund ums Labor (ebd.: 29). Wissen und Praxis schreiben sich, so lässt sich rekapitulieren, seit der Neuzeit immer stärker und subtiler in diesen Raum des Wissens ein. Das Labor wird damit zum exemplarischen Ort der Moderne (vgl. Schmidgen 2011: 1). Das Denken, Verständnis und vielleicht am meisten das Bild von Wissenschaft ist ohne das Labor nicht denkbar, da dieses den Ort der ›Verdichtung‹ von Praxis und Wissen, von Subjekt und Objekt darstellt (Knorr Cetina 1988: 85-101). Dabei legt die moderne Definition, obwohl der Begriff ›Arbeitsraum‹ weiterhin mittransportiert wird, stärkere Gewichtung auf »wissenschaftliche und technische Versuche, Messungen Auswertearbeiten, Kontrollen usw., mit den dazu erforderlichen Einrichtungen« (Brockhaus 1990: 670). Wie schon mit der definitorischen Parallele zur Schreibstube erwähnt, ist das moderne Labor, sicherlich immer noch ein Arbeitsraum, doch wird die körperliche Arbeit nun unmittelbar abgebildet und schriftlich fixiert. »Man könnte auch sagen, erst durch diese Wechselwirkung zwischen Wissenschaft, Handwerk und Schreibarbeit erhielt der Begriff des 2  |  Erst 1898 verliert die Chemie ihre Vormachtstellung im Labor und der Ausdruck ›Laboratorium‹ wird im Allgemeinen für einen Raum verwendet, »in dem chemische, pharmaceutische oder technische Arbeiten ausgeführt werden« (Brockhaus’ KonversationsLexikon [1898], in Schmidgen 2011: 12). 3 | In den Texten des 18. Jahrhunderts wurden Termini wie ›Laboratorium‹ und Arbeitsund Werkshaus synonym verwendet (Krünitz 1773-1858: 58/47).

Diskursive Materialität

Labors seine volle Bedeutung: als Produktionsstätte wissenschaftlichen Wissens« (Schmidgen 2011: 13). Hierbei sollte nicht vergessen werden, dass diese bildliche Repräsentation stets von technischen Apparaten abhängig ist sowie von Subjekten, die diese Bilder sehen und deuten. Die unleugbare Praxis, die körperliche Mühe und die kommunikative Arbeit im Labor muss erst erlernt werden, bevor sie erkannt werden kann. Wissenschaftler werden nicht geboren, sie werden vom Labor und seinen Räumlichkeiten gemacht.

Ästhetische Aufschreibesysteme Das Labor als ›Schreibstube‹ verweist schon auf die literarische Inszenierung der wissenschaftlichen Schriften, die exemplarisch für die kreative Schöpfungstätigkeit der Wissenschaft als Ganzes stehen. Hybridität von Wissenschaft und Kunst zieht eine Leuchtspur durch die Historie und scheint trotz Rationalisierung – oder gerade wegen ihr – nicht auflösbar zu sein. In diesem Sinne sind Kunst und Wissenschaft eben keine klar voneinander getrennten Bereiche (vgl. Rheinberger 2006: 285). Wirft man einen Blick auf die wissenschaftlichen Ergebnisse, die in fachspezifischen Journalen publiziert werden, fällt auf, dass diese Texte, diese »wichtigsten und am wenigsten untersuchten aller rhetorischen Vehikel« (Latour 1987: 31; vgl. Schmidgen 2010: 122), starker Stilisierung unterliegen. Sie zeigen nicht mehr viel vom eigentlichen, ›chaotischen‹ Forschen (›Herumirren‹, ›Basteln‹ [vgl. Pernkopf 2006: 73-90; Rheinberger 2006: 25]), und machen deutlich, dass im Labor paradoxerweise keine reine Rationalität im Gange ist, wie es Publikationen in wissenschaftlichen Journalen dem Leser vorweisen. Forschung und Papier zeigen folglich eine deutliche Diskrepanz, da der endgültige Text seine Entstehungsspuren invisibilisiert. Aus der wissenschaftlichen Arbeit eines wilden Räsonierens wird ein zahmer, strukturierter, argumentativ einwandfreier, fast literarischer Text (vgl. Knorr Cetina 2012: 61; 175-180). Aus Chaos wird Kosmos. Ähnlich wie bei einem Liebesgedicht von Goethe (Willkomm und Abschied) wird zwar in einer Vorform (noch ohne Titel in Jakobis Zeitschrift Iris [1775] veröffentlicht) die Wirklichkeit – bei Goethe: Die Trennung von seiner Geliebten Friederike Brion – als Ausgangspunkt genommen, jedoch immer wieder neu am Text selbst gearbeitet und diese Realität ästhetisch literarisiert. Dichter wie Laborforscher führen eine Reinigung von zwei Welten (reale und literarische) durch. Die so lang angepriesene Erlebnisdichtung ist erst durch den Gewaltakt der formgebenden Sprache (beim genannten Gedicht Goethes: Kreuzreim) möglich (vgl. Goethe 1981: 27-28; Staiger 1952: 55-61; Hölscher-Lohmeyer 1982: 11-31). Nietzsche fragt nicht zu Unrecht »[w]as sind unsere Erlebnisse?« und antwortet mit poetischer Selbsttechnologie: »Viel mehr das, was wir hineinlegen, als Das, was darin liegt! Oder muss es gar heissen: an sich liegt Nichts darin? Erleben ist ein Erdichten?«

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(Nietzsche 1999b: 114; siehe auch Nehamas 2012: 25) Man kann es ebenso mit Mallarmé fassen, der sagt, dass ein Gedicht nicht aus Gefühlen, sondern aus Worten besteht (vgl. Gehlen 1957: 25ff.).4 Die Dichtung ist dementsprechend nicht Erlebnis, sondern Erschreibnis. In Analogie dazu spricht Latour davon, dass auch im Labor »manische Schreiber« am Werk (literary inscription) sind, »who spend the greatest part of their day coding, marking, altering, correcting, reading, and writing« (Latour/Woolgar 1986: 48ff.). In dieser Transformation – vom Objekt im Experimentalsystem zum Text – wird ähnlich wie beim Gedicht auch in der Naturwissenschaft vom Labortisch zum Science-Journal eine Narration geschaffen, in der das ganze Experiment einen neuen, »rationalen Rahmen« bekommt (Knorr Cetina 2012: 186).5 Im Labor selbst zeigen sich in vorrationalisierter Stufe noch »primärverschriftet[e] Spuren« (Exzerpte, Notizen, Gedankenfetzen, Skizzen etc.), die sich im Raum zwischen Experimentalsystemen und »narrativen Gebäuden« häufen (Rheinberger 2012: 442). In diesen narrativen Gebäuden verschwimmen die tropischen Sprachbarrieren von Kunst und Wissenschaft: So wie literarische Begriffe wissenschaftliche sind, so arbeitet die Wissenschaft mit Sprachbildern und Metaphern. Die feste Wissenschaftssprache, die nur eindimensional deutbar und auslegbar ist, wird als Mythos offengelegt und wissenschaftliche Begriffe, »sofern sie forschungsleitend wurden – man denke etwa an den Begriff des Gens für das 20. Jahrhundert – [sind] selten allzu präzise. Sie dürfen es auch gar nicht sein, wenn sie ihre Orientierungsfunktion ausüben sollen« (Rheinberger 2011: o.P.). Da Forschung demzufolge immer zwischen Wissen und Nicht-Wissen oszilliert, muss jede Fest-Stellung, auch die der Begriffe, vermieden werden. Dadurch, dass Begriffe in diesem Sinne nur einen literarisch-metaphorischen Aggregatszustand annehmen können, rückt Wissenschaft in die Nähe ästhetischer Erfahrung. Gerade das Nicht-Gänzlich-Zu-Lösende, die Polyvalenz und Iteration, das immer wieder Neu und Andere wird als ›schön‹ oder – um einen weniger beladenen Begriff zu verwenden – ›interessant‹ erfahren. »Die Forschung ist ein endloser Prozeß, von dem man niemals sagen kann, wie er sich entwickeln wird. Unvorhersehbarkeit gehört zum Wesen des Wagnisses Wissenschaft.« (Jacob 1983: 94)6 Alfred Hershey, einer der renommiertesten amerikanischen Bakteriophagenspezialisten, weist in diesem Sinne darauf hin, dass für den Biologen »alles Glück darin besteht, ein möglichst vertracktes Experiment auf die Beine zu stellen, um sich Tag für Tag daran zu versuchen, ohne mehr als nur ein winziges Detail daran zu ändern« (Hershey in Rheinberger 2006: 4 | Gehlen greift hier auf Gottfried Benns Vortrag Probleme der Lyrik (1951) zurück. 5 | Im wissenschaftlichen Paper kommt es zur Reinigung von Akteuren, Beziehungen, Anliegen und Sozialem (ebd.: 211), es ist damit eine »Übung in Entpersonifizierung« (ebd.: 214). 6 | Zur Codierung von Kunst (insbes. Literatur) siehe Plumpe/Werber 1995.

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20ff.). Hershey geht es um eine Vielschichtigkeit des Experimentes; ein Labyrinth, ein Puzzle, das nicht zu lösen ist, und daraus eben seinen Reiz gewinnt. Eine Erfahrung von Wiederholung und Differenz wird sichtbar, die dem Kunstwerk wie, will man Jacob, Hershey und Rheinberger folgen, dem Experimentalsystem inhärent ist. »[E]s hat eine Struktur, die sich repetieren lässt und die nicht zerfließt, und es birgt zugleich ungelöstes. Das kinästhetische Moment liegt in der Erfahrung einer Virtuosität des Experimentierens« (Rheinberger 2011: o.P.). Die Praxis des Versuchs ist ebenso wie ein interessantes Kunstwerk (z.B. der inkommensurable Faust II) nicht vollends zu erschöpfen, sie sind – um Jacob abzuwandeln – Maschinen zur Herstellung von kommunikativer Anschlussfähigkeit. Experimentalsysteme im Labor und Kunstwerk können somit als Xenotexte (Fremdschriften) beschrieben werden. »Was es bezeichnet, ist nichts anderes als seine Fähigkeit, weiter zu bezeichnen. Sein Wert ist bestimmt durch seine Fähigkeit, Lesarten seiner selbst ins Leben zu rufen. Ein Xenotext hat daher keine letzte ›Bedeutung‹, keine einzigartige, kanonische, definitive oder endgültige ›Interpretation‹: Seine Bedeutung besteht genau darin, daß er in der Lage ist, seine eigene interpretatorische Zukunft zu erzeugen.« (Rotman 1987: 102)

So wenig wie Goethes Gedicht Willkomm und Abschied das reale Erlebnis einer Trennung darstellt oder Thomas Manns Buddenbrooks das zeitgenössische Lübeck, so wenig »repräsentiert« das wissenschaftliche Paper in »irgendeiner Form das Laborgeschehen« (Knorr Cetina 2012: 239). Doch dieser Sachverhalt soll nicht zu einer schlichten Abwertung der Wissenschaft oder seiner Objekte führen. Das modifizierte und transformierte Wissenschaftspaper der Forschung ist keineswegs Betrug, sondern basiert auf Typisierung. Es zeigt die normalisierte, durchschnittliche, und komplexreduzierte Serie experimenteller Schritte, in der jede Besonderheit und Spezialität inklusive der des Handelnden nicht mehr erscheinen (ebd.: 220). Das Papier wurde sozusagen bis zum Äußersten rationalisiert. Ähnlich wie Goethes Gedicht bis zum Äußersten ästhetisiert wurde, zeigt das wissenschaftliche Paper »wie soziale Integration durch literarische Transformationsstrategien produziert werden kann« (ebd.: 244). Somit verdankt sich »[d]ie eigentümliche Geschichtlichkeit der idealen Objekte der Wissenschaft [...] letztlich dem Prozeß ihres Auf- und Umschreibens« (Rheinberger 2006: 140); ihrer diskursiven Materialität. Allgemein gesprochen kann man sagen, dass im Labor Strategien für »materielle Signifikanten« entwickelt werden, wobei das Labor sich durch Reinigungsarbeit zu einer »Schreibfläche« formiert, die aus den epistemischen Dingen ein »Zeichen-Flickwerk aus Ikonen, Symbolen und Indizes« generiert (Rheinberger 2012: 444). Die Technik und Materialität des Schreibens (und seiner Apparate) schreibt sich folglich mit in die Wissensobjekte und Graphiken ein (vgl. Hoffmann 2008; Hoffmann 2010: 186; Gamper 2011). Hierbei

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bleibt die Repräsentation im Labor wie bei den Künsten (Malerei oder Literatur) an die jeweilige materielle Vorrichtung gebunden, die das wissenschaftliche Wissen zu Tage fördern (siehe das Schmelzflussdiagramm, das unter dem Titel ›Schreiber‹ geführt wird oder die Feder Goethes, der Pinsel Picassos etc. (vgl. Hagner 1997: 339).7 ›Objektivität‹ (wie dichterisches ›Erlebnis‹) wird erschrieben und aus Invention wird Inskription. Es generieren sich in der literarisch-rhetorischen Reinigungsarbeit folglich produktive Darstellungsräume (vgl. ebd.). Dabei stehen wir als Kultur-Ethnologen im Labor vor Zähltechniken – Listen, Tabellen und wissenschaftliche Buchhaltung – sowie literalen Techniken (vgl. Rheinberger 2012: 451). Mit Rheinberger gesprochen, tritt mit Blick auf diese beschriebenen »literalen Anschreibetechniken, die mit iterativen Überschreibungen arbeiten«, das Labor als »wissenschaftliches Schreibkollektiv« (kollektiver Autor) auf (ebd.: 452). Diese Labor-Texte sind demzufolge keineswegs, auch wenn dieses paradox erscheint, einzelnen Autoren zu zurechenbar, sondern vielmehr einem epistemischen ›Wir‹ (vgl. Brandt 2014). Analog zur Laborarbeit sind es Kollektivarbeiten. Was vordergründig gegen eine Kunstanalogie spricht, nämlich ein Autorenkollektiv, wird um 1800 von der Romantik (und von späteren Kunstrichtungen) unter dem Aspekt einer ›Sympoesie‹ in den literarischen Diskurs integriert. Schlegel sieht eine »ganz neue Epoche der Wissenschaft und Künste« aufziehen, sobald es »nichts seltenes mehr wäre, wenn mehrere, sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten« (Schlegel 1964: 42). Auch Novalis spricht von einer »Realisierung großer, neuer Ideen« im »gemeinschaftliche[m] Denken« (Novalis 1965: 559). Diese Idee vom ›synthetischen Schriftsteller‹ ist Konsens in der Wissenschaft (selbst wenn man einen Wandel der Autorschaft in den Naturwissenschaften beobachten kann [vgl. Biagioli/Galison 2003: 1-9; Brandt 2014]). Der Autor ist somit in der Naturwissenschaft wie in der Literatur ein mehrdimensionales Phänomen (vgl. Steiner 2009).

Zur Produktion epistemischer Wirklichkeit(en) Blickt man reflektierend auf die Geschichte materieller Kulturen, die sich in den Schriften und epistemischen Objekten des Labors lichten, so ist die Analogie von Kunst und Wissenschaft nicht mehr allzu fremdartig. Beide sind 7 | Eine Methode ist keineswegs rein theoretisch zu denken, da sie gerade auch technische Apparate, die von der Theorie nicht abzutrennen sind, beinhaltet. Bachelard betitelt dieses als »Phänomenotechnik« (Bachelard 1984: 111). Nach Bachelard denkt die »zeitgenössische Wissenschaft […] mit(ten)/in ihren Apparaten« (Bachelard 1988: 18). Das Experiment ist dabei materialisierte Theorie. Jedes Forschungs- und Kunstsystem ist durch (technische) Werkzeuge gerahmt, und damit ist auch das produzierte Wissen nicht vom technischen Raum mit seiner Materialität zu trennen.

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auf Neues, Innovatives gerichtet, immer bewusst sich im diskursiven Spagat des Epigonalen zu befinden. Wissenschaftler wie Künstler »arbeite[n] [gleichermaßen] im Dunkeln und [werden] nur von den Tunnels und Schächten früherer Werke geleitet« (Kubler 1982: 194). Das Neue, welches die Kunst wie die Wissenschaft in der Praxis (im ›Machen‹) herauf beschwören will, ereignet sich überwiegend im schöpferischen Prozess: Nicht das Planbar-Theoretische wird produktiv, sondern das Experimentelle. Kunst ist Experiment sowie Labor Schöpfungsraum ist (vgl. Blättler 2010: 254; Specht 2010: 254). Dieses Faktum zeigt nicht nur die erhellende Verbindung in Goethes Faust II mit dem GenMenschlein Homunculus, auch insgesamt benötigen Kunst wie Wissenschaft zur ästhetischen wie epistemischen Kreativität Orte der Emergenz. Das Chaos bietet frische Luft, »wie eine Maschine, die Spiel hat. Das Spiel [wiederum, K. L.] macht erfinderisch.« (Serres 2013: 42; Jacob 1983: 94) Wenn der Molekularbiologe Hoagland von »Überraschungsgeneratoren« (Hoagland 1990: 16), Jacob von »Maschinen zur Herstellung von Zukunft« (Jacob 1988: 12) und Rheinberger von »experimenteller Virtuosität« (Rheinberger 2011: o.P.) spricht, liegt die statische Grenze zur Kunst bereits hinter uns. Der Künstler wie der Wissenschaftler besitzt demnach einen Möglichkeitssinn, denn nicht das, was plastisch ist, regt ihr Interesse, sondern was möglich sein wird. »Das Neue kommt gerade nicht durch die dafür vorgesehene Pforte, sondern durch den unvorhergesehenen Riß in der Wand.« (Rheinberger 2006: 133) Neben den literarischen Aufschreibesystemen und der Bedingung der Möglichkeit von Zufällen, soll nun noch auf eine dritte Gemeinsamkeit von Kunst und Wissenschaft verwiesen werden. Die schon erwähnte Produktion von ›Tatsachen‹, ›Fakten‹ und in dem Sinne auch von ›Wirklichkeit(en)‹, die sich in ihrer Hergestelltheit nicht von der literarisch-rhetorischen Wirklichkeitsproduktion unterscheidet, rückt in den Fokus. Goethe produziert den Faust unabhängig von der Außenwelt und von externer Logik (»Was ich besitze, seh’ ich wie im Weiten,/ Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten« [Goethe 1986: 9]). Der Regisseur Gustav Gründgens kann in diesem Sinne sagen, dass Goethe »[i]n diesem Vorspiel und mit diesem Vorspiel […] uns [...] ein- für allemal der Verpflichtung [enthebt], den Zuschauer glauben zu machen, sein Himmel sei der Himmel – seine Kaiserpfalz sei die Kaiserpfalz – sein Griechenland sei das Griechenland. Nein es ist alles, der Himmel, die Hölle, die kleine, die große Welt: Die Welt des Theaters.« (Gründgens­ 1959: 87)

Ähnlich verfährt auch das Labor mit der Natur, die für die interne Konstruktion eher störend als fördernd ist. Wissenschaft wird zum Schreibspiel und das Schreibspiel zur Wissenschaft (vgl. Rheinberger 2005: 21). »[D]ie künstlerische und wissenschaftliche Kultur wird an den Frontstellen Virtuosenreser-

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vat.« (Gehlen 1957: 32) Das Labor verkörpert dabei den eigentlichen Raum der Darstellung und Repräsentation. Repräsentation ist in Experimentalsystemen nicht nur ein Widerspiegeln, sondern ein »Erfassen und Erzeugen« (Goodman­1997: 19), damit gleichzeitig auch »Intervention, Invention und Kreation« (Rheinberger 2006: 133). »Gewiß bemüht sich die Wissenschaft«, so der Genetiker Jacob, »die Natur zu beschreiben und zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Man darf jedoch nicht vergessen, daß der Mensch den Traum wahrscheinlich ebenso braucht wie die Realität.« (Jacob 1983: 94) Durch die Schrift- und Darstellungsräume werden epistemische Dinge erst sichtbar und – das ist zentral – interpretierbar (vgl. Rheinberger 2005: 23; Knorr Cetina 2012: 221), demzufolge ist das Labor die »soziale Organisationsform der Forschung, die weit über das Arrangement von Geräten in einem Arbeitsraum hinausgeht« (Köchy/Schiemann 2006: 2). Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass das Fundament der Wissenschaft nicht aus ›harten‹ Fakten besteht, sondern aus »in Laboratorien praktizierten Denkstile« (Schäfer 2006: 27). Wie Hoffmann treffend herausstellt, gibt es zwischen Labor, Klinik, Bibliothek und Archiv keine qualitativen Unterschiede im Schriftgebrauch: Alle sind »Schreibtischwissenschaften« (Hoffmann 2010: 182). Forscher wie Künstler lesen weder einfach im ›Buch der Natur‹, noch fallen, um mit Bourdieu zu sprechen, Wissenschaft, Erkenntnisobjekte und Kunstwerke »vom Himmel […] wie ein geheimnisvolles Geschenk, das für immer unerklärlich bleibt« (Bourdieu 1997: 130ff.).

Ö ffnung des L abors ? Z ur I nterdependenz von W issenschaf t und K unst Das Ziel der vorliegenden Untersuchung war es dem Labor als lokalem Denkraum mehrere Stimmen zu geben, wobei seine diskursive bzw. materielle Problematisierung im Mittelpunkt stand. Kunst wie Wissenschaft, Schreibstube wie Labor lassen sich in bestimmten Zügen unter dem Paradigma eines »Patchwork des Wissens« subsumieren, in dem sich mehrere Faktoren einfügen und die, wenn man sie überhaupt bestimmen oder fixieren kann, mit dem Begriff des »Fragmentarischen« ausgestattet sind (vgl. Rheinberger 2006: 287). Fragment ist dabei nicht nur Nachteil, sondern weist auf Öffnung, Zufall und Entwicklung hin. Eine »Fragmentierung«, so die möglicherweise begründete Hoffnung Rheinbergers, »die auf Einfachheit zielt, führt am Ende zu sehr komplexen Lösungen« (ebd.). Vielleicht ist es zu schematisch und sicherlich zu pathetisch zu behaupten – wie Owens es tut –, dass die ganze Welt »ein großes Labor [ist], in dem die menschliche Gesellschaft eifrig experimentiert« (Owens 1985: 184). Nichtsdestotrotz scheint durch das Labor und seine epistemischen

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Konfigurationen in der Moderne eine pulsierende Grenze aufgekommen zu sein, die sich selbst immer wieder dynamisch überschreitet. Zwei Tendenzen sollten sichtbar geworden sein: Zum einen konstituiert sich Wissenschaft durch literarisch-kollektive Aufschreibeprozesse und ästhetisch-materielle sowie metaphorische Offenheit (vgl. Hoffmann 2010: 206ff.), welche Forschung erst ermöglicht. Zum anderen ist Literatur im Umkehrschluss kein Ingenium-Projekt eines Musenanrufs, keine Erlebnisdichtung, kein eingehauchtes Wort der Gefühle, denn auch Literatur generiert sich aus dem Geiste der Reinigung. Trennung und rekursive Verwischung sind konstitutiv für Literatur wie Wissenschaft, die beide gegen eine Subversion ihrer dichotomen Feindschaft ankämpfen, eben auch um ihre eigene Identität zu wahren.

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Experimentieren als Forschung in Wissenschaft und Kunst Eine philosophische Untersuchung in Bezugnahme auf symbol- und erkenntnistheoretische Arbeiten von Nelson Goodman und Arno Ros Nicolas Constantin Romanacci »Man muß in der Philosophie nicht nur in jedem Fall lernen, was über einen Gegenstand zu sagen ist, sondern auch, wie man über ihn zu reden hat. Man muß immer wieder erst die Methode lernen, wie er anzugehen ist. Oder auch: In jedem ernsteren Problem reicht die Unsicherheit bis in die Wurzeln hinab.« (W it tgenstein 1979: 52)

E inleitung : F r agestellung , me thodologische V orüberlegungen , A usgangsperspek tiven Von ›Künstlerischer Forschung‹ ist seit einiger Zeit die Rede (vgl. z.B. ­Dombois 2006; Klein 2010; Bippus 2011). Was allerdings damit genau gemeint sein sollte, darüber herrscht keine Einigkeit. Ein Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, einen Ansatz vorzuschlagen, auf dessen Grundlage ein Begriff von Forschung entwickelt werden kann, welcher eine sinnvolle Anwendung ermöglicht, bezogen sowohl auf bestimmte künstlerische Vorgehensweisen, als auch auf wissenschaftliche Praxis. Der zu entwickelnde Begriff von Forschung sollte dabei notwendigerweise einerseits weit genug gefasst sein, um Kunst und Wissenschaft aus einer entsprechenden, erkenntnistheoretischen Perspektive angemessen thematisieren zu können. Andererseits müsste der Begriff eng genug sein und hinreichend Unterscheidungsmöglichkeiten bereitstellen, um die Vorgehensweisen in Wissenschaft und Kunst wiederum möglichst differenziert miteinander vergleichen zu können, da es – aus der Perspektive der

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vorliegenden Untersuchung – als äußerst problematisch aufzufassen ist, wenn durch die Anwendung eines unangemessenen Forschungsbegriffs auf die künstlerische Praxis deren Eigenständigkeit aus dem Blick gerät, bzw. eine damit in Zusammenhang stehende Position formuliert werden kann, welche darauf abzielt, künstlerisches Handeln beispielsweise auf die Illustration von wissenschaftlichen Theorien oder die Darstellung von Rechercheergebnissen reduzieren zu wollen. Derartige Ansätze befürworten und fördern eine Rationalisierung und Instrumentalisierung von Kunst, anstatt sie als eigenständiges Erkenntnismedium zu verstehen. Darin läge wiederum gerade eine Funktion eines angemessenen Begriffs ›Künstlerische Forschung‹: über diesen bewusst machen zu können, dass und in welcher Weise Kunst ein bedeutsames und nicht ersetzbares Erkenntnismittel darstellt für menschliches Welt-, Fremd- und Selbstverständnis. Aus einer entsprechenden erkenntnistheoretischen Perspektive kann begründet werden, warum Kunst als Praxis der Forschung ebenso gefördert und gefordert werden sollte wie wissenschaftliche Forschung. Um dem Problem der Versuchung und im Wortsinn ›Anmaßung‹ einer möglichen, und im gerade angedeuteten Sinn, ausdrücklich negativ zu verstehenden Rationalisierung von künstlerischer Praxis – durch Einnahme einer zu theoretischen Ausgangsperspektive – vorzubeugen, wird der Forschungsbegriff ausgehend von der Praxis des explorativen Experimentierens entwickelt. Das Experimentieren in Kunst und Wissenschaft wird dabei als exemplarisch für eine Vorgehensweise verstanden werden, anhand deren Untersuchung der Forschungsbegriff vermittelt werden kann. Mit der bewussten Beschränkung auf exploratives experimentelles Handeln ist unter anderem das Vorhaben verbunden, zeigen zu wollen, dass nicht jede Form von künstlerischer Tätigkeit sinnvoll als Forschung verstanden werden kann und wiederum nicht jede Form wissenschaftlicher Forschung ein Modell für ›Künstlerische Forschung‹ abgibt. Bevor man versucht, aufzuzeigen, in welcher Weise Kunst und Wissenschaft als Forschung verstanden werden könnten, ist es notwendig, sich zunächst bewusst zu machen, dass auch von den Begriffen ›Kunst‹ und ›Wissenschaft‹ unterschiedlichste Auffassungen vertreten wurden und werden, somit von einem Konsens bezüglich beider Begriffe tatsächlich nicht die Rede sein kann und hier eine kritische Klärung ebenso notwendig ist, wie bei der daran anknüpfenden Diskussion des Forschungsbegriffs. Bestimmte traditionelle, teils noch in der aktuellen Diskussion verwendete Begriffe von Wissenschaft und Kunst sollten dabei erst einmal auf ihre Tragfähigkeit unabhängig vom zu entwickelnden Forschungsbegriff untersucht werden, um dann entsprechend revidierte Auffassungen als Bezugspunkte weiterführender Überlegungen zu setzen.

E xperimentieren als Forschung in Wissenschaf t und Kunst

Die vorliegende Untersuchung möchte in einem ersten Schritt darauf aufmerksam machen, dass es sich bei einer Diskussion des Phänomens ›Forschung‹ aus der Perspektive zeitgenössischer Philosophie (in der analytischen Tradition) erst einmal darum handeln sollte, sich mit Begriffsklärungen und der Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Begriffen, bzw. Begriffsfeldern auseinanderzusetzen (siehe grundlegend Ros 1989/1990). Dazu im folgenden einige methodologische Anmerkungen, die einerseits in gebotener Kürze Aufschluss geben sollen über meine Herangehensweise in Bezug auf die Konsequenzen des so genannten ›linguistic turn‹ (siehe Rorty 1967, Tugendhat 1976, Ros 1989/1990), der Wende zur Philosophie als Begriffsklärung, die andererseits – und damit eng zusammenhängend – hinführen werden auf eine erste Benennung derjenigen symbol- und erkenntnistheoretischen Perspektiven in Bezug auf nichtsprachliche Symbolsysteme, die meiner Untersuchung zugrunde liegen. Konkret werde ich dabei eingehen auf die Arbeiten von Nelson Goodman. In denjenigen philosophischen Entwicklungslinien, die sich den Einsichten und speziell den damit verbundenen methodologischen Konsequenzen des ›linguistic turn‹ verpflichtet fühlen – auch wenn der sprachphilosophische Schwerpunkt um eine Untersuchung nichtsprachlicher Symbolsysteme erweitert wird (etwa Sachs-Hombach/Schirra 2011) – ist es üblich geworden, beim Fragen nach Bedingungen und Möglichkeiten unseres Welt- und Selbstverständnisses nicht mehr nach dem ›Wesen‹ der vorliegenden ›Gegenstände‹ (in einem weiten Sinn) zu suchen. Ebenso wenig wird der alternative Ansatz weiter verfolgt, einsichtig machen zu wollen, wie uns die zu untersuchenden ›Gegenstände‹ in unserem Bewusstsein erscheinen mögen (siehe grundlegend Tugendhat 1976; Ros 1989/1990; Ros 2005: 26-52). Der letztere, so genannte bewusstseinsphilosophische Ansatz führt zu unlösbaren Problemen speziell bezüglich der Fragestellung, wie intersubjektive Prozesse, genauer, wie regelgeleitete (kommunikative) Handlungsformen überhaupt nachvollziehbar gemacht werden können, wenn man für ein Verständnis des Menschen grundlegend von einem je ›vereinzelten‹ Bewusstsein ausgeht. Hier zeigt sich das so genannte ›Solipsismus‹-Problem (vgl. Ros 1989/1990: 18f., 5383, 63f., 65ff., 67-83). Für die Zwecke der vorliegenden Überlegungen ist ein so knapper kritischer Kommentar zum bewusstseinsphilosophischen Ansatz an dieser Stelle ausreichend, um dem alternativen methodologischen Ansatz der Begriffsklärung etwas besser Kontur geben zu können. Später werde ich noch einmal auf die Probleme der bewusstseinsphilosophischen Perspektive hinweisen, konkret im Zusammenhang mit einer Thematisierung der Praxis des Mustergebrauchs, welche sich als Schlüssel für ein Verständnis der Praxis des Experimentierens erweisen wird und welche als regelgeleitetes, kommunikatives Handeln aufgefasst werden muss, was, wie gerade erwähnt, über den bewusstseinsphilosophischen Ansatz gar nicht angemessen in den Blick

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geraten kann. In welchem Sinn und in welchen speziellen Phasen dann beim Experimentieren allerdings nicht mehr von einem regelgeleiteten Prozess gesprochen werden sollte – wenn etwas genuin Neuartiges geschaffen wird – darauf wird später etwas genauer einzugehen sein, im Zusammenhang mit Goodmans Untersuchungen zum Induktionsproblem und spezieller in Bezug auf Goodmans Begriff der »Verankerung« (Goodman 1988; Birk 2009). Etwas näher befassen möchte ich mich nachfolgend mit den Gründen für eine Abkehr von denjenigen erkenntnistheoretischen Ansätzen, deren Ziel es ist, das ›Wesen‹ einer Sache zu erkennen, dem ›Ding an sich‹ auf die Spur zu kommen. Es ist aufschlussreich, sich mit derartigen, ›essentialistischen‹ Auffassungen auseinandersetzen, weil erst die – aufgrund der berechtigten Kritik an jenen Positionen entwickelten – alternativen Perspektiven die Mittel bereitstellen, einen Begriff von ›Wissenschaft‹ zu entwickeln, der mit einem Begriff von ›Kunst‹ in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden kann, wobei wiederum die für uns relevante Auffassung davon, wann man von ›Kunst‹ sprechen sollte, aus derselben philosophischen Perspektive entwickelt werden wird. Erkenntnistheoretische Positionen, deren Ziel es ist, das ›Wesen‹ der Wirklichkeit zu ergründen, sind geleitet von der Absicht, möglichst ›objektive Wahrheiten‹ über die Welt entdecken zu wollen. Die Zielvorstellung ist dabei, zu einem Verständnis der Dinge zu gelangen, welches im Idealfall absolut neutral formuliert ist, was dazu führt, den Begriff der Erkenntnis unabhängig von den (Beschränkungen der) Wahrnehmungsvermögen des Menschen zu konzipieren. Das höchste Erkenntnisziel wäre laut derartigen Positionen, die ›Wahrheit‹ über Sachverhalte zu entdecken und ein ›Wissen‹ über die Welt zu erkunden, deren Natur prinzipiell unabhängig von menschlichen Erkenntnisbemühungen als gegeben angenommen wird. Eine derartige Position kann als (metaphysischer) Realismus bezeichnet werden, dessen ›Hauptsatz‹ Arno Ros – in kritischer Absicht – folgendermaßen formuliert: »Eine Erkenntnis über einen Teil der Welt ist dann gewonnen worden, wenn es gelungen ist, diesen Teil der Welt so zu erfassen, wie er ›an sich‹ ist (= wie er sich darstellen würde, wenn es gelänge, ihn ohne alle dem Subjekt der Erkenntnis zuzurechnende Bedingungen der Erkenntnis zu erfassen).« (Ros 2005: 35)

Ohne an dieser Stelle näher auf die Details historischer und systematischer Entwicklungen weg von ›realistischen‹ Auffassungen einzugehen, soll dieser Position hier unmittelbar die Alternative des ›perspektivischen Realismus‹ gegenübergestellt werden, als dessen Grundlage Ros den »Grundsatz der Erkenntnistheorie überhaupt« so ausführt:

E xperimentieren als Forschung in Wissenschaf t und Kunst »Alles, was ein Individuum zu erkennen vermag, vermag es nur auf der Grundlage der Verwendung bestimmter Unterscheidungsfähigkeiten/bestimmter Begriffe zu erkennen.« (Ebd.: 38)

Die erkenntnistheoretische Position des ›perspektivischen Realismus‹ wirkt sich einerseits auf methodologischer Ebene aus, indem das Fragen nach dem ›Wesen‹ der Welt abgelöst wird durch die Methode der Begriffsklärung, was wiederum auf erkenntnistheoretischer Ebene zur Folge hat, dass die Suche nach objektiver ›Wahrheit‹ in Folge als eine naive Auffassung dessen gesehen werden muss, was als ›Erkenntnis‹ verstanden werden sollte. Erkenntnis kann in diesem Sinn gar nicht mehr als das ›Entdecken‹ von ›Wahrheiten‹ verstanden werden, sondern muss jetzt aufgefasst werden als die richtige Anwendung unserer Mittel, mit welchen wir Unterscheidungen in der Wirklichkeit konstruieren. Noch einmal dazu Arno Ros: »Eine Erkenntnis über einen Teil der Welt ist dann gewonnen worden, wenn es gelungen ist, diesen Teil der Welt richtigerweise in den Anwendungsbereich einer bestimmten Unterscheidung/eines bestimmten Begriffs einzuordnen – vorausgesetzt diese Unterscheidung beziehungsweise dieser Begriff hält Standards einer rationalen Überprüfung stand.« (Ebd.: 42)

Mit der Einnahme der Position des perspektivischen Realismus wäre ein erster Schritt getan, um eine Auffassung von Wissenschaft zu entwickeln, die nicht schon in den Grundvoraussetzungen den Möglichkeiten von Kunst widerspricht (vgl. Elgin 2005). Denn in jedem Fall dürfte es unstrittig sein, dass es nicht als die charakteristische Funktion von Kunst aufgefasst wird, objektives ›Wissen‹ über objektive ›Tatsachen‹ zu entdecken und zu vermitteln, wenn man beispielsweise an ungegenständliche Malerei denkt oder an Musik. Was Kunst zum Ausdruck bringt, wird aber auch nicht in einem engeren Sinn in den Anwendungsbereich bestimmter Begriffe fallen, nicht einmal sprachliche Kunstwerke würden diesem Aspekt gerecht werden, alleine wenn man bedenkt, dass literarische Werke oftmals mit Metaphern durchsetzt sind, und Dichtung sich ja gerade dadurch auszeichnet, übliche begriffliche Ordnungen zu umgehen. Man muss sich also folglich den von Ros (an genannter Stelle) nicht näher erläuterten ›Unterscheidungen‹ zuwenden, die er ausdrücklich neben den Begriffen anführt. Sprachliche und nichtsprachliche Unterscheidungsfähigkeiten untersucht Nelson Goodman in seinen symbol- und erkenntnistheoretischen Arbeiten. Goodman steht dabei einerseits mit seinem nominalistischen, konstruktivistischen, und relativistischen Ansatz (vgl. Elgin 1997; Cohnitz/Rossberg 2006) dem perspektivischen Realismus von Ros nahe (wobei Goodman sogar nicht einmal mehr den Begriff ›Realismus‹ gelten lassen würde), und darüber hinaus thematisiert Goodman eben genau die nicht-

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begrifflichen Unterscheidungsmöglichkeiten, die Ros neben den sprachlichen Mitteln nennt. In Sprachen der Kunst entwickelt Goodman den Entwurf einer Symboltheorie, welche die Weisen der Bezugnahme unterschiedlicher Symbolsysteme in Wissenschaft, Kunst und Alltagspraxis untersucht und welche speziell mit der enthaltenen ›Theorie der Notation‹ die Mittel bereitstellt, die unterschiedlichen Systeme, wie etwa Sprache, Bilder, Skizzen, Tanz oder Musik, wiederum äußerst differenziert unterscheiden und vergleichen zu können (Goodman 1997). Goodman unterscheidet zwei grundlegende Weisen der Bezugnahme: Denotation und Exemplifikation. Für unsere Untersuchung wird in besonderer Weise der Begriff der Exemplifikation eine zentrale Rolle spielen, da er – wie zu zeigen sein wird – jene Form der Bezugnahme darstellt, die beim Experimentieren sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst praktiziert wird (vgl. Elgin 2011; Steinbrenner 2011). Weniger technisch gesprochen, lässt sich das Experimentieren als Praxis des Mustergebrauchs verstehen, welche sich über die Bezugnahme der Exemplifikation vollzieht. Somit ließe sich festhalten: Mit der erkenntnistheoretischen Position des perspektivischen Realismus wäre die Grundlage gegeben, weit genug argumentieren zu können, um Kunst und Wissenschaft gleichermaßen thematisieren zu können (vgl. Goodman/Elgin 1989). Es wird des weiteren zu zeigen sein, inwiefern speziell über den Begriff der Exemplifikation die gemeinsame Basis für einen Vergleich zwischen der Praxis des Experimentierens in Kunst und Wissenschaft geschaffen werden kann. Über die Theorie der Notation wiederum können spezifische Unterschiede zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis auf syntaktischer und semantischer Ebene differenziert erschlossen werden. In diesen Zusammenhängen entwickelt Goodman die Formulierung von »Symptomen des Ästhetischen« (Goodman 1987: 192196; Goodman 1997: 232-234), welche verständlich machen sollen, »wann« (!) es sinnvoll ist, von Kunst zu sprechen (Goodman 1990: 76ff.). Goodman argumentiert hier im radikalen Gegensatz zu so genannten essentialistischen Definitionsversuchen, die im Sinne eines metaphysischen Realismus über die Fragestellung ›Was ist Kunst?‹ nach dem Wesen (bzw. der ›Essenz‹) von Kunst(werken) suchen (vgl. Steinbrenner 1996: 14-19). Neben der Zurückweisung von bestimmten, traditionellen Begriffen von Kunst wird für eine Diskussion der Sinnhaftigkeit des Begriffs der ›Künstlerischen Forschung‹ auch eine spezifische Auffassung von wissenschaftlicher Forschung in Frage gestellt werden müssen. Genauer, in Folge wird eine bestimmte Auffassung von der Funktion und der Praxis des wissenschaftlichen Experimentierens um ein alternatives Verständnis zu erweitern sein. Zurückgewiesen werden muss dabei die Ansicht, dass das Experiment lediglich die Funktion habe, wissenschaftliche Theorien zu überprüfen, eine Position, wie

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sie klassisch etwa von Karl Popper vertreten wurde (Popper 1994). Ein wiederum klassisch gewordenes alternatives Verständnis hat Ian Hacking in seinem Buch Representing and Intervening entwickelt (Hacking 1983; der deutsche Titel Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften ist deutlich weniger pointiert und aufschlussreich als der englische). Hacking vermittelt hier die Einsicht, dass das Experimentieren nicht als theoriegeleitet verstanden werden darf, sondern seine »genuin schöpferische Funktion« (Heidelberger 1997: 9) als Praxis und als »Erweiterung der Wirklichkeit« (a.a.O.) verstanden werden muss (vgl. Chalmers 1999: 155-170). In diesem Zusammenhang ist es auch notwendig, genauer auf die materiellen Anordnungen von experimenteller Praxis zu achten bzw. zu erkennen, dass das Experimentieren grundlegend durch das systematische Erzeugen von Variationen geprägt ist, was zur Folge hat, dass man, anstatt von einzelnen Experimenten zu sprechen, besser alternativ den Gebrauch von »Experimentalsystemen« (Rheinberger 2006a) untersuchen sollte. Soweit die einführenden Bemerkungen zur Vorschau auf die zu diskutierenden Themenbereiche.

N elson G oodmans S ymbol- und E rkenntnistheorie : E xemplifik ation , S ymp tome des Ä sthe tischen , V er ankerung und N euartigkeit E xemplifikation in Kunst und Wissenschaft Arno Ros versteht auf Grundlage eines perspektivischen Realismus den Begriff ›Erkenntnis‹ im Zusammenhang mit der richtigen Anwendung von Begriffen oder anderen (nichtsprachlichen) Unterscheidungsfähigkeiten. Im Gegensatz zur naiven Auffassung des metaphysischen Realismus ergibt sich hierbei die Einsicht, dass Wirklichkeit für den Menschen immer nur auf Grundlage der Anwendung von Symbolsystemen erkennbar wird, genauer betrachtet, dass Wirklichkeiten vom Menschen durch Symbolgebrauch erzeugt bzw. ›konstruiert‹ werden und dass eine objektive Wahrheit unabhängig vom zugrunde liegenden Symbolgebrauch nicht erkannt werden kann. Aus einer vergleichbaren Perspektive formuliert Nelson Goodman in Sprachen der Kunst seine allgemeine Symboltheorie. Deren Gegenstand ist die Untersuchung verschiedener Symbolsysteme und die Analyse verschiedener Weisen der Bezugnahme durch Symbolsysteme (Goodman 1997). Als grundlegende Weisen der Bezugnahme unterscheidet Goodman dabei die Denotation und die Exemplifikation. Für unsere Überlegungen ist die Exemplifikation von zentraler Bedeutung, da sie nichtsprachliche Weisen der Bezugnahme verständlich macht und da sie darüber hinaus die gemeinsame Form der Bezugnahme beim Experimentieren in Kunst und Wissenschaft darstellt. Somit kann die

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Exemplifikation als Basis für einen sinnvollen Vergleich zwischen dem Experimentieren in Kunst und Wissenschaft verstanden werden. Weiterführend bieten Goodmans ›Symptome des Ästhetischen‹ die Mittel für differenzierte Unterscheidungen zwischen der unterschiedlichen Praxis des Experimentierens in Wissenschaft und Kunst. Exemplifikation ist nach Goodman »Besitz plus Bezugnahme« (Goodman 1997: 60). Goodman veranschaulicht dies anhand seines vielzitierten Beispiels: dem Gebrauch eines Stoffmusters in einem Polsterergeschäft, das der Auswahl eines Stoffes für einen Sofabezug dienen soll (Goodman 1990: 8384). Im Zusammenhang mit der Stoffauswahl sind von dem Stoffmuster nur bestimmte Eigenschaften relevant. So sind beispielsweise Farbe, Webart, Materialqualität für eine Auswahl von Bedeutung, hingegen Eigenschaften wie Größe (beispielsweise 10 x 10 cm) oder ein gezackter Rand, wie oft bei Stoffmustern üblich, hingegen nicht. Das bedeutet, dass in Goodmans Formulierung das Stoffmuster Eigenschaften wie ›Größe‹ oder ›gezackter Rand‹ zwar besitzt, aber im Kontext der Praxis dieses Mustergebrauches nur über relevante Eigenschaften wie ›Farbe‹ oder ›Webart‹ Bezug genommen wird, nur diese Eigenschaften (nominalistisch formuliert: Etiketten) werden exemplifiziert. Goodman und seine langjährige Mitstreiterin Catherine Z. Elgin betonen zu recht und wiederholt, dass ein Verständnis der Bezugnahme über die Exemplifikation eine grundlegende Bedeutung hat für ein Verständnis der Praxis in diversen Künsten, Wissenschaften und Alltag (Elgin 1983: 71-95, 121-125; Goodman 1997: 53-88, 209-241). Denn sowohl in den Künsten als auch in den Wissenschaften ist es für ein Verstehen der jeweils vorliegenden ›Proben‹ notwendig, zu erkennen, welche Eigenschaften im jeweiligen Fall exemplifiziert werden. Bei einem Kunstwerk ist es eine entscheidende Voraussetzung, zu verstehen, welche Eigenschaften exemplifiziert werden, bevor man das Kunstwerk überhaupt eingehender interpretieren kann. Wenn beispielsweise bei einem klassischen Konzert ein Gast aus einem anderen Kulturkreis das erste Mal europäische Musik hört, muss er wissen, dass das Stimmen der Instrumente vor dem Beginn der Aufführung noch nicht zum musikalischen Werk gehört. Auch wenn dann etwa ein buddhistischer Zen-Mönch nach dem ersten Anhören eines Konzertes auf Nachfragen antwortet, der Beginn habe ihm am Besten gefallen, so mag dies wohl als Geschichte eine buddhistische Weltsicht charmant exemplifizieren, aber im Kontext europäischer Kunsttradition kann man sagen, dass hier die Wahrnehmung des Stimmens der Instrumente als Teil der Musikaufführung eine falsche Interpretation des Konzertes darstellt. In diesem Sinn gibt es für die Grundlage der Interpretation von Kunst tatsächlich Kriterien, die man als ›richtig‹ oder ›falsch‹ bewerten kann. Was aber subtilere Interpretationen von Kunst betrifft, das betont Goodman mehrfach, kann es kein ›richtig‹ oder ›falsch‹ geben, eine abschließende Interpretation gibt es nicht (vgl. etwa Goodman/Elgin 1989: 76-80, 161), was mit den beson-

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deren Eigenschaften künstlerischer Symbolsysteme zu tun hat, die Goodman differenziert analysiert durch seine »Symptome des Ästhetischen«.

Goodmans Symptome des Ästhetischen Die Bezugnahme über die Exemplifikation ist der Praxis in den Künsten, in Wissenschaft und Alltag gemeinsam. Dennoch gibt es natürlich spezifische Unterschiede zwischen den verschiedenen Bereichen, was durch Untersuchungen auf syntaktischer und semantischer Ebene deutlich wird. Um das Charakteristische künstlerischer Symbolsysteme zu erfassen, formuliert Goodman seine fünf »Symptome des Ästhetischen« (Goodman 1987: 192-196; Goodman 1997: 232-234). Diese sind: 1. syntaktische Dichte, 2. semantische Dichte, 3. relative Fülle, 4. (metaphorische) Exemplifikation, 5. multiple und komplexe Bezugnahme. Syntaktische Dichte bedeutet dabei, einfach formuliert, dass bei einem Kunstwerk oftmals jedes noch so kleine Detail bedeutsam ist. So spielt für die Beurteilung (alleine schon der Echtheit) eines Druckes von Hokusai, um ein Beispiel Goodmans aufzugreifen (Goodman 1997: 212), eine entscheidende Rolle, auf welchem Papier gedruckt wurde. Würde man nun im Vergleich ein Elektrokardiogramm betrachten, dass zufällig genau den gleichen Linienverlauf aufweist wie etwa die Linien des Fudschijama auf dem Bild von Hokusai, wäre es im Kontext einer medizinischen Untersuchung nicht sinnvoll, auf die Papierqualität des Ausdruckes zu achten. Das Kardiogramm wird syntaktisch nicht als ›dicht‹ interpretiert, weil eben nur ganz bestimmte, eng vorgegebene Merkmale bedeutsam sind. Entsprechend erschließt sich auch der Sinn des Symptoms der semantischen Dichte. Bei Kunstwerken hängt die Interpretation auf semantischer Ebene von vielfältigen Faktoren ab, welche wiederum durch die mannigfaltigen Kombinationsmöglichkeiten dazu führen, dass ein Kunstwerk auf der Bedeutungsebene sehr subtil interpretiert werden kann; es ist semantisch dicht. Gerade durch das Beispiel von Elektrokardiogramm und dem Linienverlauf bei Hokusai erschließt sich auch der Begriff der relativen Fülle. Im Vergleich sind, unter möglichen exakten Gegebenheiten, bei einem Kunstwerk relativ mehr Eigenschaften bedeutungsvoll, als bei einer wissenschaftlichen Probe. So ist es auch problemlos nachvollziehbar, wie etwa Aufnahmen von Elektronenmikroskopen entsprechend als wissenschaftliche Proben interpretiert werden und parallel den Weg in Ausstellungen finden können. Als viertes Symptom des Ästhetischen nennt Goodman die (metaphorische) Exemplifikation. Da, wie beschrieben, die Exemplifikation als die gemeinsame Basis der unterschiedlichen Praxis von Kunst, Wissenschaft und Alltag aufgefasst werden kann, sollte man, was die Kunst betrifft, nur die metaphorische Exemplifikation als Symptom des Ästhetischen auffassen, womit bzgl. dieses Symptoms des Ästhetischen ein Vorschlag zur Präzisierung der Auffassung von Goodman gemacht werden soll. Was bedeutet

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hier ›metaphorische Exemplifikation‹? Charakteristisch für Kunstwerke ist, dass Eigenschaften, die exemplifiziert werden, etwa ein bestimmtes Grau auf einer Landschaftsdarstellung, im übertragenen Sinn, also, metaphorisch, Etiketten wie ›düster‹, oder ›melancholisch‹ zum Ausdruck bringen können. Bei wissenschaftlichen Proben dagegen werden Eigenschaften, die exemplifiziert werden, nicht metaphorisch interpretiert. Selbsterklärend ist das fünfte Symptom der multiplen und komplexen Bezugnahme: Die Qualität eines Kunstwerkes erschließt sich oftmals durch die vielfältigen und subtilen Bezüge, die über das Kunstwerk vermittelt werden können. Bei wissenschaftlichen Proben oder im Alltag wird im Gegensatz zur Kunst in der Regel eine möglichst einfach nachvollziehbare Interpretationsmöglichkeit angestrebt. Die allgemeinen Ausführungen zur Exemplifikation und zu den Symptomen des Ästhetischen lassen sich nun auf die Praxis des Experimentierens übertragen. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst werden über das Experimentieren ›Proben‹ geschaffen und genommen, es wird wörtlich ›etwas ausprobiert‹ (vgl. Steinbrenner 2011). Zum Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Experimentieren und den Symptomen des Ästhetischen formuliert Elgin treffend: »Exemplification is the relation of an example to whatever it is an example of. Goodman maintains that exemplification is a symptom of the aesthetic: although not a necessary condition, it is an indicator that symbol is functioning aesthetically. I argue that exemplification is as important in science as it is in art. It is the vehicle by which experiments make aspects of nature manifest. I suggest that the difference between exemplars in the arts and the sciences lies in the way they exemplify. Density and repleteness (among the other symptoms of the aesthetic) are characteristic of aesthetic exemplars but not of scientific ones.« (Elgin 2011: 399)

Induktion, Verankerung und Neuartigkeit Grundlage für ein tiefer gehendes und weiter reichendes Verständnis der symbol- und erkenntnistheoretischen Untersuchungen Goodmans sind seine frühen Arbeiten zum Problem der Induktion (Goodman 1988). In Tatsache, Fiktion, Voraussage formuliert Goodman sein berühmt gewordenes »Neues Rätsel der Induktion«. Eine eingehende Auseinandersetzung ist an dieser Stelle nicht notwendig. Relevant für die vorliegenden Überlegungen ist in jedem Fall Goodmans Einsicht, dass die Grundlage des Funktionierens der Praxis der Induktion »in unserem Gebrauch der Sprache« (ebd.: 152) zu finden ist. Dies bedeutet, einfach formuliert, dass der Unterschied zwischen gesetzesartigen Aussagen und anderen lediglich darauf zurückzuführen ist, was sich durch den Gebrauch der ›Sprache‹, allgemeiner formuliert, durch den Gebrauch von Symbolsystemen, bewährt hat. Ob eine Hypothese also ›fortsetzbar‹ ist, wird

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durch unsere bisherige Praxis des Symbolgebrauches bestimmt und nicht, wie Vertreter des metaphysischen Realismus behaupten würden, weil die Hypothese eine ›objektive Wahrheit‹ zum Ausdruck bringt. Was fortsetzbar ist und was fortgesetzt wird, beruht in Goodmans Formulierung darauf, welche der zur Diskussion stehenden alternativen Prädikate besser »verankert« sind (ebd.: 121). Die Untersuchungen Goodmans zur Induktion lassen sich in einen Zusammenhang zur Praxis des Symbolgebrauchs bringen (vgl. Ernst 2005; Birk 2009: 93-135). Bei der Exemplifikation beispielsweise gibt lediglich unsere bisherige Praxis Anhaltspunkte, welche Eigenschaften (Etiketten) eine Probe exemplifiziert und welche Eigenschaften eine Probe lediglich besitzt. Im Zusammenhang mit Goodmans Arbeiten zur Induktion lässt sich so das Problem der Neuartigkeit bei experimentellen Forschungsprozessen erläutern. Die Praxis des explorativen Experimentierens in Wissenschaft und Kunst zielt darauf ab, die Aufmerksamkeit auf Eigenschaften zu lenken, die in bisherigen Kontexten nicht beachtet wurden, um in Folge diesen Eigenschaften eine Bedeutung zu geben in Bezug auf bereits etablierte Systeme, oder, noch anspruchsvoller, durch die Einbettung in neu geschaffene Symbolsysteme. Oftmals bedingen sich dabei das Aufmerksamwerden auf bisher nicht beachtete Eigenschaften und die Schaffung neuer Symbolsysteme gegenseitig. Dies bedeutet, anders formuliert, die Praxis des explorativen Experimentierens in Wissenschaft und Kunst hat zum Ziel, etablierte ›Verankerungen‹ zu lösen, um Rahmenbedingungen zu schaffen, die neuartige ›Verankerungen‹ ermöglichen. Wichtig für ein Verständnis der Praxis des explorativen Experimentierens als Forschungsprozess ist dabei, zu begreifen, dass hierbei das explorative Experimentieren kein theoriegeleitetes Verfahren sein kann (vgl. Hacking 1983). Denn wenn wirklich genuin Neuartiges entwickelt wird, was ja das Ziel jeden explorativen, experimentellen Forschungsvorhabens ist, kann das Neuartige grundsätzlich nicht theoretisch aus bestehenden Regelsystemen abgeleitet werden, da ja dann genau genommen immer noch einer bestehenden Regel gefolgt würde. Auch in diesem Zusammenhang macht es keinen Sinn, künstlerisches Experimentieren aus einer zu theoretischen Perspektive analysieren zu wollen, womöglich durch einen Verweis auf das wissenschaftliche Experimentieren. Eine Pointe beim Vergleich der Praxis des Experimentierens in Kunst und Wissenschaft ist, dass man auch das wissenschaftliche, explorative Experimentieren, wenn genuin Neuartiges geschaffen wird, nicht als theoriegeleitet verstehen darf. Im Zusammenhang mit der Diskussion des Phänomens der Einführung eines neuen Musters ist es aufschlussreich, Wittgensteins Ausführungen zum Mustergebrauch und Regelfolgen zu beachten. Wittgenstein weist zu recht subtil darauf hin, dass bei Einführung eines neuartigen Musters das erste Exemplar eben dieses Musters streng genommen in einer besonderen Weise nicht die Eigenschaften exemplifizieren kann, welche es dann als Muster bereitstellt

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und zugleich jene Eigenschaften doch in besonderer Weise exemplifiziere. Die Leistung Wittgensteins ist es unter anderem, durch seine Untersuchungen die Problematik des bewusstseinsphilosophischen Ansatzes aufgezeigt zu haben und die alternative philosophische Perspektive der Sprachphilosophie in richtungsweisenden Grundzügen zu entwickeln (vgl. Ros 1989/1990). In den Philosophischen Untersuchungen schreibt Wittgenstein zum besonderen Status eines neu eingeführten Musters: »Man kann von einem Ding nicht aussagen, es sei 1m lang, noch, es sei nicht 1m lang, und das ist das Urmeter in Paris – damit haben wir aber diesem nicht eine merkwürdige Eigenschaft zugeschrieben, sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Meterstab gekennzeichnet. – Denken wir uns auf ähnliche Weise wie das Urmeter auch die Muster von Farben in Paris aufbewahrt. So erklären wir: ›Sepia‹ heiße die Farbe des dort unter Luftabschluss aufbewahrten Ur-Sepia. Dann wird es keinen Sinn haben, von diesem Muster auszusagen, er habe diese Farbe, noch, es habe sie nicht«. (Wittgenstein PU §50; vgl. die sehr differenzierten Ausführungen bei Ros 1989/1990, Band 3, speziell: 45; ebenso zum Vergleich Ros’ »Einführung eines neuen Musters in der Sprache« (ebd.: 138-139; vgl. auch zu Wittgenstein und Goodman in Birk 1990).

Darüber hinaus darf das explorative Experimentieren nicht auf Grundlage der Analyse von Einzelexperimenten untersucht werden, vielmehr handelt es sich dabei immer um ein methodisches Erzeugen von Variationen mittels Experimentalsystemen (vgl. Rheinberger 2006a, 2006b, 2011a, 2011b).

Ü berblick und A ussicht Mit der vorliegenden Untersuchung soll nachvollziehbar gemacht werden, wie über die Symbol- und Erkenntnistheorie von Nelson Goodman – auf Grundlage eines perspektivischen Realismus – ein Ansatz erschlossen werden kann, um die Praxis des explorativen Experimentierens in Wissenschaft und Kunst sinnvoll miteinander vergleichen zu können. Basis für einen Vergleich ist dabei Goodmans Begriff der Exemplifikation, Mittel für differenzierte Unterscheidungen bieten Goodmans ›Symptome des Ästhetischen‹. Eine Orientierung für die Diskussion des Phänomens der Neuartigkeit stellt wiederum Goodmans Theorie der Induktion, bzw., der Verankerung dar. Aus der Perspektive eines entsprechenden Ansatzes kann und sollte der Begriff ›Forschung‹ sowohl auf wissenschaftliches als auch auf künstlerisches exploratives Experimentieren angewandt werden. Im Gegensatz dazu sind diejenigen Ansätze als problematisch aufzufassen, die – aus der Perspektive eines metaphysischen Realismus – das Ziel jeder Forschung auf die Vermehrung propositionalen Wissens reduzieren, was zur Folge hat, dass eine derartige

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Auffassung von Forschung, auf künstlerische Praxis angewendet, zu einer problematischen Rationalisierung und Funktionalisierung von Kunst führt. Ein anderes Problem ergibt sich, wenn der Forschungsbegriff zu weit gefasst wird, und in Folge jede Art künstlerischer Betätigung als Forschung bezeichnet wird. Aus der Perspektive des hier skizzierten Ansatzes macht es keinen Sinn, für sich alleine stehende Kunstwerke in jedem Fall als Forschung zu begreifen, lediglich künstlerische Ansätze, die wirklich experimentell und methodisch Variationen erzeugen, sollten dazu gezählt werden. Eine andere problematische Variante ist die Position, Kunst als Forschung zu begreifen, wenn dem Kunstwerk eine theoretische, wissenschaftliche Untersuchung zugrunde liegt, bzw. wissenschaftliche Verfahren wie beispielsweise Recherche oder Dokumentation. Aus Sicht der vorliegenden Untersuchung wäre eine solche Kombination lediglich genau als das zu benennen, was getan wird: Erarbeitung eines Kunstwerkes auf Grundlage wissenschaftlicher Recherchen und keine genuin ›Künstlerische Forschung‹. Die möglichen Kombinationen aus künstlerischer und wissenschaftlicher Methodik, die ja durchaus sinnvoll sein können, sollten möglichst klar auseinander gehalten werden, um zu vermeiden, dass durch einen zu engen oder zu weiten Forschungsbegriff künstlerische Praxis entweder rationalisiert wird, oder die Anwendung des Forschungsbegriffs auf jede beliebige künstlerische Praxis dazu führt, dass der Begriff ›Künstlerische Forschung‹ keinen Sinn mehr ergibt. Aus Sicht des Autors und im Sinn der vorliegenden Untersuchung kann und sollte der Begriff ›Forschung‹ sowohl auf Kunst als auch auf Wissenschaft angewendet werden. Grundlage ist dafür unter anderem, den Begriff ›Wissen‹ zu ersetzen mit dem viel weiter gefassten Begriff des Verstehens (vgl. Goodman/Elgin 1989). Um es mit Elgin zu formulieren: »Goodman macht geltend, dass die Künste eine kognitive Funktion haben. Die Aufgabe der Ästhetik ist es, diese zu erklären. Eine solche Behauptung wäre eigenwillig, würde man Erkenntnistheorie als Theorie des Wissens auffassen. Die Künste sind gewöhnlich kein Vorratslager für gerechtfertigte, wahre Meinungen. Aber Wissen ist, wie Goodman und ich behaupten, ein unwürdiges kognitives Ziel. Viel besser ist es, unser Augenmerk auf das Verstehen zu richten.« (Elgin 2005: 42)

Nelson Goodman und Catherine Z. Elgin schlagen in ihrem gemeinsam verfassten Buch Revisionen (Goodman/Elgin 1989) Neufassungen einiger traditioneller philosophischer Grundbegriffe vor bzw. argumentieren für Neugewichtungen, Ersatz und Neueinführung. Im letzten Kapitel ihres Buches, »Eine Neufassung der Philosophie« (ebd.: 202-218), zeigen sie beispielsweise auf, warum ›Wahrheit‹ ein äußerst problematischer Begriff ist und betonen, dass das Streben nach ›Gewissheit‹ sogar ganz aufgegeben werden muss. ›Richtigkeit‹ dagegen sollte in der vorgeschlagenen Neufassung »eine Hauptrolle« (ebd.:

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Ein möglicher Gewinn der Anwendung und Umsetzung eines sinnvollen Begriffs von ›Künstlerischer Forschung‹ wäre u.a., dass das innerhalb der traditionellen Forschung vorherrschende Streben nach Zuwachs von propositionalem Wissen erweitert werden könnte hin zu einer Praxis der Forschung in Wissenschaft und Kunst auf Grundlage eines weiter gefassten Begriffs von ›Verstehen‹. So könnte – um Elgins pointierten Hinweis auf »würdevolle kognitive Ziele« aufzugreifen – ein Weg hin zu einer Forschungskultur in Wissenschaft und Kunst eröffnet werden, deren kognitive Ziele einem humanistischen Menschenbild würdig sind und die eine auf dem Verstehensbegriff basierende Idee von Forschung – und einem damit zusammenhängenden Bildungssystem – verteidigt gegen eine fortschreitende Vereinnahmung durch kurzsichtig funktionalistisches Verwertungsdenken der Marktwirtschaft und Forschungspolitik.

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Performativität zwischen Wissenschaft und Kunst Das künstlerische Experiment als wissenschaftsanaloge Pragmatik Nicole Vennemann In den letzten Jahren hat die künstlerische Forschung als eine spezifische Vorgehensweise im aktuellen Diskurs der Kunst immer mehr an Relevanz gewonnen. Dieses Phänomen manifestiert sich insbesondere in Begriffen aus der Naturwissenschaft, die schlagwortartig in der Literatur zu Kunst und Forschung angewendet werden: Versuchsanordnungen, experimentelle Anordnungen, Versuchsanlagen, Experimente oder Forschung (vgl. Bippus 2009; Caduff/Siegenthaler/Tan 2009; Schöbi/Rey 2009; Tröndle/Warmers 2012). In diesem Zusammenhang ist ebenfalls die Tendenz auffällig, die Forschung oder das, was unter Forschung in der Kunst verstanden wird, auf unterschiedlichste Gattungen sowie Epochen zu übertragen (als Beispiele sind folgende Ausstellungskataloge zu nennen: Dopplereffekt [2010]; oder Say it isn’t so [2007]). Diese Tatsache führt direkt zur Annahme, dass die Kunst, wie Cobussen ebenfalls behauptet, schon immer geforscht hat und auch weiterhin forschen wird (vgl. Cobussen 2009: 50-59).1 Die spezifisch künstlerische Form der Forschung kann dementsprechend nicht neu sein, da sie schon immer ein Zeugnis für die Suche nach Form und Ausdruck und in diesem Sinne ein Ringen mit der Darstellung von faktischer Realität ist. Wenn die Kunst schon immer über die genannte Suche als erkundender Vorgang eine Form der Forschung betrieben hat, dann muss im Folgenden betrachtet werden, was die Kunst ›erforscht‹ und was daran das spezifisch künstlerische Vorgehen ist. Insbesondere muss analysiert werden, anhand welcher Kriterien die Kunst eine 1 | Wobei in diesem Zusammenhang einschränkend bemerkt werden muss, dass der Vorgang einer künstlerischen Forschung vergleichbar ist mit einer Suche im Sinne einer Erkundung, die weniger zielgerichtet, sondern vielmehr im forschenden Kontext der Entdeckung anzusiedeln ist.

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Forschung betreibt, die sich von der allgemeinen Suche als erkundender Vorgang unterscheidet. Dabei gilt es auch den Begriff der Forschung, der spezifisch geprägt ist von einer zielgerichteten naturwissenschaftlichen Vorgehensweise, in Relation zu setzen zu einer künstlerischen, die sich dadurch von diesem allgemeinen Vorgang der Erkundung in der Kunst abhebt. Die Ergebnisorientierung der Naturwissenschaft, die mit dem Begriff der Forschung impliziert ist, ist zunächst nicht kongruent mit dem Bereich der Kunst, die Ambiguitäten und weniger die Eindeutigkeiten in den Vordergrund ihrer Weltbetrachtung stellt. Doch gerade diese Übertragung der Begriffe aus den Naturwissenschaften in den Kontext der Kunst, wie oben erwähnt, macht eine neuartige Vorgehensweise der Kunst offensichtlich, die durchaus geprägt sein kann von einem systematischen Vorgehen basierend aus Kontrolle und Wiederholung wie es dem Experiment in der Naturwissenschaft zu eigen ist. Die Aktionskunst, die als »Laborsituation« (Fischer-Lichte 2004: 299) bezeichnet wird, eröffnet als künstlerisches Experiment Möglichkeiten, neuartige Handlungs- oder Vorgehensweisen zu probieren. Der Ausdruck des Experimentellen, wie er sich in den frühen Arbeiten der Aktionskunst wie beispielsweise bei John Cages Improvisationen, Yves Kleins Aktionen oder Jackson Pollocks Action Paintings wiederfindet, unterscheiden sich grundlegend von denjenigen, die als wissenschaftsanaloge Pragmatiken bezeichnet werden sollen. Diese sind vielmehr künstlerische Experimente, da sie in Anlehnung an wissenschaftliche Vorgehensweise des Experiments operieren, indem sie systematisch Gebiete, die aus einem Thema oder einer Fragestellung bestehen, erkunden. An dieser Stelle ist dementsprechend der Begriff des Experimentellen eindeutig von dem des Experiments zu unterscheiden, da sie zwei unterschiedliche Praktiken in der Kunst bezeichnen. Das Experiment ist eine Versuchsanlage, die mit festen Parametern das stattfindende Ereignis über das Konzept des Künstlers zu initiieren sucht, um es unter anderem auf diese Weise wiederholbar zu machen, was dann wie bereits erwähnt zu einer systematischen Erkundung führt. Das Experimentelle hingegen arbeitet nicht über feste Parameter und damit einer künstlerischen Kontrollinstanz, so dass in diesem Fall die Wiederholung weniger relevant ist als beim künstlerischen Experiment. Beispielsweise ist die Aktion von Joseph Beuys die Free International University (vgl. Tisdall 1979: 260-264)2 durchaus als eine 2 | Die Free International University (FIU) wurde vom 24. Juni bis zum 1. Oktober 1977 anlässlich der Documenta 6 parallel zur Installation Honigpumpe am Arbeitsplatz abgehalten. Es wurden mehrere Workshops initiiert, in denen die Besucher der Documenta eingeladen waren, sich aktiv in Form von Diskussionen zu beteiligen. Es wurden während dieser Zeit gesellschaftsrelevante Themen mit internationalem Publikum diskutiert. Zu folgenden Themen hatten sich unter anderem Workshops gebildet: Periphery Workshop, Nuclear Energy und Alternativer Workshop, Community Workshop, Media

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Versuchsanordnung im Sinne einer »Laborsituation« zu verstehen, die es Besuchern ermöglichte, an Workshops im Rahmen der Documenta 6 teilzunehmen. Was diese Form des Experimentellen von dem eines Experiments unterscheidet, ist die fehlende künstlerische Kontrolle, die das Systematische erst ermöglicht, die aber über die Partizipation des Besuchers aufgehoben wird. Mit seiner Teilnahme komplettiert der Besucher letztlich das Konzept von Beuys, über die von ihm vorgeschlagenen Themenbereiche zu diskutieren, ohne einem durchgängigen künstlerischen Konzept unterstellt worden zu sein. Insbesondere dann nicht, wenn der Künstler bei der Aktion selbst nicht anwesend ist. Der Künstler holt sich auf diese Weise die Kontingenz (vgl. Fischer-Lichte 2004: 61)3 der Ereignisse in seine Aktion hinein, indem er dem Besucher Möglichkeiten der Handlung eröffnet. Beuys regte den Teilnehmer dazu an, zu diskutieren und sich selbst in den von ihm festgelegten Konzeptbereich der Workshops einzubringen. Der Mensch als Partizipient ist in diesem Rahmen als ein autonomes Subjekt installiert, das letztlich das Ereignis initiieren und somit gestaltend in das Kunstwerk als Aktion eingreifen kann. Dieser Teil des Kunstwerks, also die Initiierung des Ereignisses, liegt dann außerhalb der Kontrolle des Künstlers. Die Kontingenz als ein Faktor in der experimentellen Konstellation der künstlerischen Aktion ist ebenfalls beim künstlerischen Experiment zu finden und somit zu berücksichtigen, allerdings ist die Kontrolle des Künstlers dementsprechend stärker ausgeprägt. Diese Beobachtung führt wiederum zu einer grundlegenden Eigenschaft des künstlerischen Experiments, das geprägt ist von Systematik, basierend auf Kontrolle und Kontingenz, wobei ersteres einen sehr viel größeren Anteil trägt. Ein frühes Beispiel einer solchen Dialektik aus Kontrolle und Kontingenz in einem künstlerischen Experiment ist die Korridor-Serie von Bruce Nauman. Bruce Nauman hat mit Performance Corridor eine Werkgruppe von begehbaren Gängen eröffnet, die von 1969 bis 1984 reicht.4 Der Performance Corridor Workshop I: Manipulation, Media Workshop II: Alternatives, Human Rights Week, Migrant Workshop, Violence and Behaviour Workshop. Das Konzept der Free International University folgt ganz dem Konzept, den Menschen in eine selbstbestimmte Position über die Aktion zu führen, die diskutierend und unabhängig von Autoritäten beziehungsweise Fachleuten stattfindet. 3 | Die Künstler nahmen die Kontingenz als einen Bestandteil der Aktion bewusst auf, indem der Partizipient wichtiger Bestandteil wurde, dessen Handlung nicht vorhersehbar war. 4 | Zur Korridor-Serie zwischen 1969 bis 1984 gehören unter anderem: Lighted Performance Box 1969; Performance-Corridor 1969; Corridor Installation/Nicholas Wilder Installation 1969; Acoustic Wall 1969/1970; Live-Taped Video Corridor 1970; Corridor Installation with Mirror 1970; Green Light Corridor 1970/1971; Acoustic Pressure Piece 1971; Floating Room: Lit from Inside 1972; Kassel Corridor: Elliptical Space

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von 1969 selbst besteht aus sich zwei gegenüberliegenden, jeweils 2,44 m hohen Sperrholz-Platten (vgl. von Bismarck 2010: 87). Die Tiefe des so gebildeten Gangs beträgt ca. 6 m und ist für die Besucher begehbar. Die Außenwände sind in ihrer Rohfassung belassen worden, so dass die haltenden Außenstreben aus Holz sichtbar sind und keinerlei Verkleidung erhalten haben. Der Rezipient ist aufgefordert, diese Installation des Korridors zu betreten. Auf diese Weise hat sich das im Museum gewohnheitsmäßig wahrgenommene Kunstwerk als Anschauungsobjekt im Fall des Performance Corridor zu einem Erfahrungsobjekt einer Performativen Installation gewandelt. Es ist die Übertragung der Selbsterforschung als Idee auf die Eigenwahrnehmung des Betrachters. Die Performative Installation, die den Rahmen für dieses Konzept bereitstellt, besteht aus dem performativen Teil, der vom jeweiligen Besucher als ephemerer Bestandteil gebildet wird, sowie der aus statischen Bestandteilen bestehenden Installation (vgl. Nollert 2003: 8-31). Letztere bildet den Aktionsrahmen oder die Aktionsarchitektur für die in ihr stattfindende Aktion. Der Aufbau unterschiedlicher Erfahrungsumgebungen legt ein experimentelles Vorgehen Naumans über das Evozieren individueller Gefühls- und Wahrnehmungsebenen des Besuchers offen. Ein Konzept von Nauman, das die Basis für die Korridor-Serie insgesamt bildet. Gezwängt durch einen Gang, der lediglich 50 cm breit ist, macht sich für den Besucher durch die hohen Wände zunächst ein Gefühl der Bedrückung bemerkbar. Die Option, sich in irgendeiner Form anders als im aufrechten Gang vorwärts zu bewegen, sind aufgrund der 50 cm Breite des Korridors sehr eingeschränkt, wenn nicht sogar unmöglich. Der Künstler gibt auf diese Weise den Weg für den Besucher vor, dem sich keine alternativen Möglichkeiten der Aktion in diesem Gang ergeben können. Der Rezipient wird durch den Korridor, der Konzeption des Künstlers folgend, gelenkt, wobei die Rezeption des Kunstwerks oder das, was derjenige oder diejenige in dem Korridor wahrnimmt, individuell veranlagt ist und sich somit der Konzeption des Künstlers entzieht. Nauman weicht in seinen Aktionen formal somit sehr stark von Beuys ab, indem er die Aktion eng kontrolliert, ohne in Erscheinung treten zu müssen, um sein künstlerisches Konzept in der Aktion zu bewahren. Den Auftritt von Künstlern wie Beuys, der sich unter anderem auch selbst als Person inszenierte, lehnt Nauman dementsprechend entschieden ab (vgl. von Bismarck 2010: 97). Dieser tritt ausschließlich über sein künstlerisches Konzept in den Performativen Installationen in Erscheinung. Allerdings halten beide Künstler, so unterschiedlich sie auch vom künstlerischen Ansatz sein mögen, grundsätzlich an der Idee der zentralen Funktion des Rezipienten im Kunstwerk fest. Die Weiterentwicklung des Gedankens, dem Betrachter im Kunstwerk eine Rolle zuzuweisen, wurde von beiden Künstlern in der Aktion erfüllt. Beuys und 1972; Dream Passage 1983; Room with My Soul Left Out, Room That Does Not Care 1984.

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Nauman haben den Betrachter nicht nur als intellektuelle Instanz, die rezipierende Funktion zur Vollendung des Kunstwerkes übernimmt, herangezogen, sondern sie installierten diesen darüber hinaus als Subjekt, der im Kunstwerk das Ereignis initiiert; allerdings mit unterschiedlichen Handlungsoptionen, die bestimmend für das künstlerische Experiment sind. Anhand der Korridor-Serie von Nauman wird der Anspruch des Künstlers offensichtlich, den Rezipienten nur so weit einzubeziehen, dass das primäre Konzept bestehen bleibt. Bruce Nauman lehnt die freiheitliche Beteiligung des Betrachters im Sinne der Konzeption von Beuys, ohne sich explizit auf ihn zu beziehen, deutlich ab: »Ich misstraue Publikumsbeteiligung. Deshalb bemühe ich mich, diese Arbeiten so eng wie möglich einzugrenzen.« (Sharp 1996: 15) Dieses Vorgehen eröffnet eine Entwicklung hin zu einer Gruppe von Aktionen, in deren Mittelpunkt die Partizipation, aber auch die Kontrolle steht, über die der Künstler das Konzept seines Kunstwerks abzusichern wünscht. Es ist daher sinnvoll, die Performativen Installationen unter der neuen Bezeichnung der wissenschaftsanalogen Pragmatiken zu subsumieren.5 Unter diesem Begriff sind dann auch alle diejenigen Aktionen zu verstehen, die weder unter naturwissenschaftlicher Forschung, da sie nicht ergebnisorientiert im Sinne der Eindeutigkeit vorgehen, noch unter der experimentellen Vorgehensweisen in den Anfängen der Aktionskunst subsumiert werden können, da diese keine Systematik kennen, sondern vielmehr auf »Intuition« und »Inspiration« beruhen (Friese 2007: 16). Die wissenschaftsanalogen Pragmatiken grenzen sich in dieser Weise eindeutig von weiteren experimentellen Vorgehensweisen in der Kunst ab. Die Orientierung des künstlerischen Experiments an das naturwissenschaftliche Pendant eröffnet eine weitere Perspektive, die für die wissenschaftsanalogen Pragmatiken ebenfalls charakteristisch sind. Nach Heidelberger ist die Methode der Naturwissenschaft mit dem Vorgehen des Experiments gleichzusetzen, so dass die Praxis die Methode definiert, die eine systematische ist, da sie zielgerichtet operiert (vgl. Heidelberger 1998: 71-92). Spricht man in der Kunst demnach von Forschung als eine aus der Naturwissenschaft entlehnte Vorgehensweise, so muss die Aktion in der Kunst, die als systematisch gemäß der wissenschaftsanalogen Pragmatik charakterisiert wird, ebenfalls einer bewussten Methode folgen, die sich aus ihrer eigenen Praxis erschließt. Wie an diesem Beispiel zu beobachten ist, bildet sich dann die Methode in der Kunst auf der Grundlage der konzeptuellen Entscheidung des Künstlers für eine Vorgehensweise aus, wie etwa die Performative Installation bei Bruce 5 | Gemäß der Eigenschaft der systematischen Erkundung in der Aktionskunst können auch Performances sowie die Interaktive Installationen der wissenschaftsanalogen Pragmatik zugeordnet werden. Darauf wird noch in dieser Abhandlung eingegangen.

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Nauman, die sich dann von dem Vorgehen der weiteren Formen der Aktionskunst wie Performance oder Interaktive Installation unterscheiden. Diese sind als Methoden spezifisch künstlerisch und gleichzeitig analog zu einem wissenschaftlichen Vorgehen zu sehen, das sich durch Systematik auszeichnet. Ist auch bei den Korridoren von Bruce Nauman der Aktionsradius des Rezipienten innerhalb der Installation sehr begrenzt, so dass in seinem Fall nicht von einer Erkundung, sondern vielmehr von einer kontrollierten Lenkung die Rede sein kann, so zeigt die Dialektik zwischen Kontrolle und Partizipation (vgl. K ­ raynak 2003: 22-45) in der Performativen Installation gerade diese Neuerung an, die in der Aktion zu den wichtigen Merkmalen (Systematik und Erkundung) der wissenschaftsanalogen Pragmatiken führen werden. Dem Partizipienten kommt die Vollendung des Kunstwerkes zu, der die semantische Leerstelle einer nicht vorhandenen Hypothese oder Auswertung von seinem Standpunkt aus als Subjekt füllen kann. Umberto Eco spricht in diesem Zusammenhang von einem offenen Kunstwerk, das nicht eine objektive Struktur wiedergibt, sondern eine Form der »Rezeptionsbeziehung«, die gebildet wird mittels der individuellen Verankerung des jeweiligen Rezipienten (Eco 2012: 15). Die beiden Beispiele von Beuys und Nauman machen offensichtlich, dass die Aktionen, in denen sich erkundend einem vom Künstler gesetzten Gebiet6 angenähert wird, unterschiedliche künstlerische Konzepte über die jeweilige Ausführung der Performancekunst, der Performativen Installation und der Interaktiven Installation widerspiegeln. Der Besucher übernimmt die Aufgabe der Bewertung sowie die der Initiierung des Ereignisses, wobei letzteres vom Künstler selbst vorgenommen werden kann. Die künstlerische Lenkung über die im Vorfeld festgelegten Parameter dieses Versuchs, das ein Ereignis hervorruft, offenbart eine von Systematik geprägte Suche (vgl. Schmidt 1978: 8-12).7 In diesem Sinne sind drei Methoden in der Aktionskunst erkennbar, die mit den Kunstaktionen der Performance, Performativen Installation und Interaktiven Installation kongruieren: • Die Methode der Vorführung • Die Methode der Irritation • Die Methode der Repräsentation

6 | Das Gebiet steht für eine übergeordnete thematische Abgrenzung eines Bereichs, das, wie bereits festgelegt wurde, nicht nur ein Thema oder eine Fragestellung beinhalten kann, sondern auch Materialversuche wie bei Roman Signer, die sich keiner bestimmten Fragestellung unterordnen lassen. 7 | Schmidt sieht im Vorgang der Suche im Kontext des Experimentellen den Künstler als »heuristische Instanz« verwirklicht.

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Die Betitelungen »Vorführung«, »Irritation« und »Repräsentation« für die den Aktionsformen zugeschriebenen Methoden bilden keine Definitionen, sondern bezeichnen lediglich den jeweiligen funktionalen Zusammenhang, in dem sie stehen. Darüber hinaus implizieren die Betitelungen strategische Schwerpunkte des jeweiligen Vorgehens, denn die Vorführung, Irritation und die Repräsentation sind prinzipiell in allen wissenschaftsanalogen Pragmatiken vorhanden. Allerdings wird über die jeweils gewählte Kunstform ein thematischer Schwerpunkt gesetzt, an dem eine systematische Suche begonnen werden soll. Im Folgenden wird die dritte künstlerische Methode der Repräsentation exemplarisch am Beispiel von Ursula Damm vorgestellt, die sich in ihrem Vorgehen durch ein systematisches Erkunden eines Gebiets auszeichnet und dabei über die Praxis der Aktionskunst der Interaktiven Installation eine spezifische Methode herausgebildet hat.

D ie V ersuchsumgebung Z eitr aum/Timescape (51° 13.66 N ord , 6° 46.523 O st/51° 13.66 north , 6° 46.523 e ast) von U rsul a D amm Das Konzept der Interaktiven Installation von Ursula Damms Zeitraum ist zunächst thematisch verankert im Bereich der Stadtplanung und Architektur.8 Ursula Damm geht mit ihrer Installation der Frage nach, wie eine neuartige Gestaltung von Wohn- und Lebensraum für die Bewohner einer Stadt erforscht werden kann. Die Installation Zeitraum ist im bisherigen Gesamtwerk von Ursula Damm als Teil der Werkgruppe der InOutSite-Serie (vgl. http://www. ursuladamm.de/inoutsite/de/index.html [28.12.2014] ) zu betrachten, in der das Bewegungsverhalten des Menschen im urbanen Raum allgemein visualisiert und beobachtet werden soll. Die Realisierung dieser Installation fand im Zusammenhang mit der Einzelausstellung Ursula Damms unter dem gleichnamigen Titel vom 10. September bis 9. Oktober 2005 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf statt.

8 | Die nachfolgende Beschreibung zur Konzeption und technischen Realisierung der Installation basiert auf den Informationen des Begleitheftes zur Ausstellung (vgl. Damm/Kruszynski 2005: 12-34.) sowie den Beschreibungen auf der Homepage, insbesondere zu ihrem Projekt InSiteOut (http://www.ursuladamm.de/inoutsite/de/index. html [28.12.2014]).

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Abb. 1: Ursula Damm: Zeitraum (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost), Modellskizze

© Ursula Damm 2005.

Abb. 2: Ursula Damm: Zeitraum (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost) Eingangs- und Durchgangsbereich der Kunstsammlung NRW K20 Düsseldorf

© Ursula Damm 2005.

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Abb. 3: Ursula Damm: Zeitraum (51° 13.66 Nord, 6° 46.523 Ost), Projektion im Innenraum

© Ursula Damm 2005.

Die Anlage bezieht räumlich den Grabbeplatz, der sich direkt vor der Kunstsammlung befindet, und den Eingangsbereich der Kunstsammlung des K20 ein (s. Abb. 1). Der Grabbeplatz dient in dieser Versuchsumgebung als Beobachtungsund Aufzeichnungsfeld, in dem die vorübergehenden Passanten ohne selektierende Vorgaben der Künstlerin per Videotracking aufgezeichnet wurden (s. Abb. 2). Im Eingangsbereich des K20 wurden diese Bewegungen der Passanten über eine Projektion in virtuelle Körper, die sich in kontinuierlicher Bewegung befinden, übersetzt. Die Prozesse der Aufzeichnung und der Projektion sind räumlich voneinander getrennt. Die Passanten werden daher im Außenbereich zunächst ohne Kenntnis von einem Videotracking-System erfasst. Deren Bewegungen oder deren Verweilmomente werden über einen algorithmischen Prozess des Computersystems im Innenraum des Museums über einen Beamer als Projektionen auf einer Wandfläche visualisiert (s. Abb. 3). Wie auf der dritten Abbildung zu sehen ist, können die Passanten nach dem Betreten des Innenraums ihre Bewegungen oder Verweilmomente – als übersetzte Dynamiken in dieser Projektion transferiert – beobachten. Abhängig von den Bewegungen der Passanten auf dem Grabbeplatz befinden sich ein oder mehrere runde Gebilde in dem virtuellen Raum, die in ihrer Form auch an weiche bewegliche Körper erinnern. Diese tauchen auf, vergrößern oder teilen sich und können schließlich wieder verschwinden. Es ist ein harmonisches Gleiten von mehreren Gebilden, die sich in ständiger Bewegung befinden. Diese virtuellen Körper bleiben dabei das Ergebnis eines algorithmischen

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Vorgangs, basierend auf den zuvor erfolgten Aufzeichnungen der Passanten dieses Platzes. In der Projektion werden über Markierungen in Form mehrerer Kreuze die aktuellen Positionen der Passanten auf dem Grabbeplatz aufgezeigt, bevor sie sich in einem der virtuellen Körper in Form von Raumhüllen auflösen. Die Größe der Hüllen und deren Dynamik werden bestimmt durch die Aktivität der Passanten, die auf dem Grabbeplatz über Videotracking aufgezeichnet wurden. Die auf diese Weise entstandenen Spuren werden während dieses Prozesses nicht sofort wieder gelöscht, sondern sie manifestieren sich temporär als ein Konglomerat in diesen Körpern, bevor sie sich auflösen und wieder verschwinden. Der aktuelle Standort des Betrachters im Vorraum der Sammlung, der in einem Verhältnis zu den Ereignissen in der Projektion gesetzt werden soll, ist dort als rotes Kreuz gesondert markiert worden. Von diesen Passanten, die als weitere Kreuze in der Projektion erscheinen, sind Verbindungslinien sichtbar, die zu unbestimmten Raumpunkten oder bestehenden Körpern führen. Diese Linien zeigen an, wie die Menschen auf dem Grabbeplatz lokalisiert sind, bevor sie sich in diesen Raumhüllen als individueller Standort auflösen (vgl. http://www.ursuladamm.de/inoutsite/de/index.html [28.12.2014] ). Die arithmetischen Nachbildungen im virtuellen Raum sind somit als visuelle Manifestationen der Dynamiken auf dem Grabbeplatz zu verstehen. Allerdings sind die Projektionen mit den Bewegungen der Passanten auf dem Platz nicht identisch, sondern diese werden innerhalb des arithmetischen Vorgangs noch zusätzlich über ein neuronales Netz verfremdet. Das neuronale Netz, auch Kohonen-Karte genannt, ermöglicht als ein eigenständig lernendes System eine Projektion, die auf die Vorgänge des Platzes basiert, diese allerdings zu einer eigendynamischen Gestaltung der Raumhüllen innerhalb der Projektion führt (vgl. Rey/Wender 2008: 78). Das neuronale Netz bewirkt neben dem Verfremdungseffekt für den betrachtenden Rezipienten, der vormals die Rolle des Passanten in der Interaktiven Installation übernommen hat, auch ein zu beobachtendes Phänomen für die Künstlerin, das sich außerhalb ihrer Kontrolle eigenständig entwickelt. Die Künstler werden in den wissenschaftsanalogen Pragmatiken zu Versuchsleitern, wobei sie sich weitestgehend einem aktiv-gestalterischen Prozess entziehen und den Verlauf der Ereignisse beobachten können. Indem Ursula Damm beispielsweise über die sich selbst entwickelnde Form eines Lernprozesses (neuronales Netz) einen künstlerischen Output erzeugt, entzieht sie sich aus dem Prozess der Gestaltung und akzeptiert auf diese Weise die Kontingenz im System ihres Kunstprozesses. Dementsprechend äußert sie sich sehr positiv über die Einflussnahme des neuronalen Netzes auf das visuelle Ergebnis, das in seiner dynamischen Eigenschaft als ephemer zu bezeichnen ist:

Per formativität zwischen Wissenschaf t und Kunst »Für mich als Künstlerin ist die Anwendung neuronaler Netze sehr spannend, weil sie von mir verlangen, dass ich mein gestalterisches und visuelles Wollen zugunsten von Prozessen zurücknehme, die mit Hilfe des Kameraauges von sich aus ablaufen.« (Damm/ Kruszynski 2005: 18)

Der von Ursula Damm konzipierte Aktionsrahmen lässt somit Ereignisse zu, die unabhängig von ihrer künstlerischen Kontrolle existent sind. Folglich ist das Ereignis, das vom Rezipienten als Passant automatisch ausgelöst wird, der Gegenstand des forschenden Interesses der Künstlerin oder auch des Rezipienten, der mit der Projektion, dessen Auslöser er ist, konfrontiert wird. Im Mittelpunkt der wissenschaftsanalogen Pragmatiken – das kann auch für die beiden weiteren Methoden festgestellt werden – steht ein in seinem Verlauf unvorhersehbares Ereignis, dessen Parameter vom Künstler als Konzept produziert worden ist. Der Einbau von in ihren Auswirkungen nicht vorhersehbaren Einheiten, wie beispielsweise die Integration eigenständig funktionierender Systeme wie die der neuronalen Netze, lassen letztlich Ereignissysteme entstehen, die Wiederholung möglich machen, jedoch im Sinne einer Vielfalt und nicht einer Fixierung in Form einer Regelformulierung. Diese bieten der Kontingenz im Rahmen der vom Künstler geplanten Installation bewusst einen Raum für die sich vollziehenden Möglichkeiten der Ereignisse, so dass ein Überraschungsmoment im Sinne des Unerwarteten entsteht, der dann sowohl von ihm selbst als auch vom Rezipienten beobachtet und erfahren werden kann. Der Künstler geht dabei mit dem lavierenden Zusammenspiel zwischen seiner Rolle als Arrangeur des Ereignisses auf der einen Seite und des Austretens aus diesem Geschehen auf der anderen Seite transgressiv um. Es entsteht ein vom Künstler konzipierter Kontingenzraum, der sowohl von ihm selbst als auch vom Rezipienten unter der Beachtung der jeweiligen Interessen unterschiedlich forschend erkundet und interpretiert werden kann. Das Ereignis auslösende Kunstwerk wird auf diese Weise zu einer zu beobachtenden Repräsentation im autopoietischen System der wissenschaftsanalogen Pragmatik erklärt. Abschließend stellt sich noch die Frage, ob das künstlerische Experiment ebenso wie sein Pendant in der Naturwissenschaft Erkenntnis stiftet oder einer Wahrheitsfindung dient, da die mehrfach erwähnte Systematik auf eine Form der Ergebnisorientierung schließen lassen kann. Nach Alain Badiou ist die Wahrheit in der Kunst nicht zu konkretisieren (vgl. Badiou 2012).9 Aller9 | Badiou geht in dieser Publikation insbesondere auf die Poesie, Tanz, Theater und den Film ein.

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dings verfolgen die wissenschaftsanalogen Pragmatiken über die Wiederholung von Ereignissen, durch das, worin sie sich von den anderen Kunstwerken unterscheiden, eine permanente Aufdeckung singulärer Akte, indem sie in diesem experimentellen Rahmen initiiert werden.

Die Wahrheitsereignisse In das Konzept der Wahrheitsereignisse sind zwei zentrale Begriffe für das Werk von Alain Badiou impliziert: die Wahrheit und das Ereignis. Letzterer bildet den Ausgangspunkt seiner Untersuchung und ist der Schlüsselbegriff seiner Ontologie, die er in Das Sein und das Ereignis (Badiou 2005) entwickelt. Dabei steht das Ereignis in einer spezifischen Relation zu einer Wahrheit, die für die abschließende Betrachtung zu den wissenschaftsanalogen Pragmatiken bezogen auf deren experimentelle Konstellation, die eine Initiierung des Ereignisses möglich macht, relevant sein wird. Das Ereignis ist bei Badiou zunächst etwas, das unvorhersehbar ist, keiner Ordnung folgt und dementsprechend von ihm in dessen Eigenschaft als singulär bezeichnet wird (vgl. Badiou/Tarby 2012: 77). Das Ereignis ist somit ein Akt des punktuellen Auftauchens, das losgelöst von einem Zusammenhang ist, weil es unerwartet kommt. Es ist der Augenblick in einem Prozess, der einen Unterschied bezeichnet, eine Differenz zu dem, was gewesen ist, zeigt und gleichzeitig darauf hinweist, was sein kann (vgl. ebd.). Das Ereignis ist das Aufscheinen einer Leerstelle (vgl. Badiou 2005: 69-76). Badiou geht es dabei um das, was strukturell keinen Platz findet und nicht zum Vorschein kommt, weil es nicht gedacht werden kann. Diese Leerstellen, die keine Beachtung gefunden haben, werden von den Ereignissen hervorgeholt und somit sichtbar gemacht. Ereignisse folgen wie bereits erwähnt keiner Regel und keinem Zusammenhang, so dass von einer Kontingenz der Ereignisse gesprochen werden kann, die allerdings von Badiou nicht als ein Chaos der Unendlichkeit verstanden wird, sondern als eine Menge, die unendlich zerlegbar ist. Die Mathematik ist somit für Badiou das Werkzeug zur Beschreibung dieser Vielfalt, aber sie ist nicht die Realität. Sie beschreibt leidglich diese unendlich zerlegbaren Mannigfaltigkeiten (vgl. Badiou 2005: 59f.). Die Wahrheit, die nach Badiou auf die Ereignisse bezogen werden kann und für unsere Betrachtungen im Zusammenhang mit den wissenschaftsanalogen Pragmatiken von Bedeutung ist, kann dementsprechend auch keine Formalisierung des Wissens sein, sondern ist vielmehr der Augenblick, in dem eine Differenz ersichtlich wird zum bisher verankerten Konsens, der sich durch eine allgemeine Akzeptanz im Diskurs auszeichnet.

Per formativität zwischen Wissenschaf t und Kunst

In der Kunst sieht Badiou eine Form der Überwindung der Leerstellen in Ereignissen verwirklicht. Ein Kunstwerk steht für einen Augenblick in den Wahrheitsereignissen, das einen Unterschied oder eine »Mutation« (Badiou/ Tarby 2012: 81) bezeichnet. Die Wahrheit ist demzufolge nach Badiou »die generische Menge der ereignishaften Folgewirkungen dieser Mutationen der Kunst« (ebd.). Das Kunstwerk selbst stellt die Verkörperung eines Ereignisses und nach Badiou ein zunächst unpersönliches Subjekt dar (vgl. ebd.), das aus seiner spezifischen Konfiguration der Entstehung heraus wirkt. Der Künstler ist dementsprechend von seinem Kunstwerk losgelöst und wird von Badiou ebenfalls als unpersönliches Subjekt bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist dann der Künstler ausschließlich der Produzent des Kunstwerks. Dieses wird durch eine Neuheit, d.h. die Differenz, die sich zum verankerten Wissen als Konsens bildet, in Form eines Ereignisses gelenkt und vom Rezipient sowie Künstler inkorporiert. Unter Inkorporation versteht Badiou, das Zeigen einer »Treue« (ebd.: 161)10 zu einem Ereignis, denn sie bezeichnet den Vorgang der Verpflichtung gegenüber den Folgewirkungen eines Ereignisses, das sich von dem verankerten Wissen als status quo differenziert (vgl. ebd.: 84). Der Mensch nimmt das Ereignis an, verpflichtet sich diesem und den damit zusammenhängenden Wirkungen der Veränderung. Einem Ereignis treu zu sein, heißt dementsprechend auch die Gelegenheit einer Veränderung zu ergreifen (vgl. ebd.: 123). Dafür ist es notwendig, das Ereignis zu benennen, die Prozedur zu erkennen und es insgesamt zu inkorporieren. Die Wahrheit wird dementsprechend von Badiou als Körper verstanden, der wiederum selbst aus anderen individuellen Körpern besteht (vgl. ebd.). Dieser Vorgang der Inkorporation zeigt schließlich auf, wie Wahrheit sich in einer Welt verhält. Das Kunstwerk als Subjekt vollzieht sich über diesen Vorgang der Inkorporation, die aus einer Vielzahl an singulären Ereignissen besteht, die für die jeweiligen künstlerischen Werke stehen. Das Subjekt des Kunstwerks, das sich über die Inkorporation in den künstlerischen Ereignissen gebildet hat, ist dann folgerichtig das System der Werke. Damit schafft das Kunstwerk als Subjekt betrachtet »Kompatibilitäten« (ebd.) zwischen den Dingen, die noch nicht in Beziehung gesetzt worden sind. Dazu zählt auch die Zusammenführung von sich vollständig ausdifferenzierenden Bereichen wie Kunst und Wissenschaft, die in dem Ereignis der wissenschaftsanalogen Pragmatik zusammengeführt werden. Die Kunst ist nach Badiou ein Beispiel für die »Präsenz der Mannigfaltigkeit« (ebd.: 77) in den Wahrheiten. Sie operiert dementsprechend auf eine parti10 | Die Treue, die von Badiou in Relation zum Ereignis gesetzt wird, bezeichnet einen Akt, in dem wir uns einem Ereignis verpflichten und somit die Wirkungen, die sich daraus ergeben können, anerkennen.

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kuläre Art und Weise, denn sie ist der Bereich, in dem versucht wird, das Reale punktuell mit künstlerischen Mitteln zu fixieren. Das bedeutet allerdings, dass ein Kunstwerk als Objekt keine absolute Wahrheit sein kann, denn diese ist lediglich ein nur kurzer vorübergehender Augenblick in den Wahrheitsereignissen. Das Kunstwerk in seiner finalen Form als Objekt besitzt immer einen Ereignischarakter, da es für diesen Augenblick steht, der in der Fertigstellung schon immer vergangen ist. Folglich ist die Wahrheit der Kunst das Offenhalten, welches das Ereignis beispielsweise vor seiner Fixierung als Kunstwerk entfaltet und sich einer empirischen Fixierung von Realität widersetzt.

Die wissenschaftsanalogen Pragmatiken als Ereignisfallen Die Wahrheit in der Kunst ist dementsprechend für Badiou eine zukünftige Wahrheit. Das Kunstwerk ist nicht ihr Speicher, sondern sie ist in dem Ereignis der Produktion die vorübergehende Offenlegung der Leerstelle, die mit der Fertigstellung des Kunstwerkes schon wieder vergangen ist. Diesem ist als statisches Objekt, als Aktion im Theater, Tanz oder Kino immer die Form des Vergangenen eigen, die das Vergangene bannt und gleichzeitig etwas Künftiges aufscheinen lässt. In den wissenschaftsanalogen Pragmatiken eröffnet sich über die Prägung des Ereignishaften in der Kunst eine Perspektive, die sich von der Kunstproduktion und -rezeption, wie sie Badiou als Grundlage für seine Betrachtungen herangezogen hat, unterscheidet. Für ihn bedeutet die Kunstproduktion das Fixieren eines kurzen Moments, der eine Lücke aufdeckt. Das Kunstwerk ist somit der differentielle Punkt einer Wahrheit, die als solche nicht im Kunstwerk fixiert ist, sondern sich in dem Erscheinen des Ereignisses zu erkennen gibt (vgl. ebd.: 159). Anders als in den Kunstwerken, die eine objekthafte Manifestation des Ereignisses sind, bieten die wissenschaftsanalogen Pragmatiken experimentelle Konstellationen zur Initiierung von Ereignissen. Diese – und das ist der Moment der Differenz zu den Kunstwerken, wie sie Badiou für seine Untersuchungen in der Kunst herangezogen hat (Vgl. Badiou 2012),11 sind wiederholbar oder müssen sogar wiederholbar sein, da das Ereignis einzigartig und bedeutungskonstituierend ist. Das, worin sich die wissenschaftsanaloge Pragmatiken von den objektorientierten sowie inszenierten Kunstwerken unterscheiden, ist die adäquate Darstellung des Ereignishaften in einer Wahrheitsprozedur, wie sie Badiou beschreibt, nämlich als eine Aneinanderreihung singulärer Akte. So gesehen ist es die Form der Initiierung von Ereignissen in den wissenschaftsanaloge Pragmatiken mit ihren gleichzeitigen Repräsentationen derselben, ähnlich der dynamischen Repräsentation von Ursula Damm. 11 | Badiou geht in dieser Publikation insbesondere auf die Poesie, Tanz, Theater und den Film ein.

Per formativität zwischen Wissenschaf t und Kunst

Die Voraussetzung für die Konstellation der wissenschaftsanalogen Pragmatik ist der Künstler, der, wie es auch Badiou beschreibt, in seiner Funktion ausschließlich in diesem Rahmen als Produzent fungiert. Auf diese Weise ist er abgelöst von seinem Kunstwerk zu betrachten, das sich im Ereignis manifestiert, ohne auf das einzelne Ereignis als eine Inszenierung fixiert zu sein. Ursula Damm ist, wie die Künstler der beiden anderen Methoden, daran interessiert, sich als Subjekt von dem Ereignis zu distanzieren, indem Mechanismen wie die rezipierenden Probanden sowie neuronale Netze in die Konstellation der wissenschaftsanalogen Pragmatik eingebunden wurden. Die Künstlerin hat sich bewusst als Subjekt zugunsten des stattfindenen Ereignisses zurückgenommen, für das sie als Produzentin einen Rahmen geschaffen hat. Auf diese Weise gibt sie die Möglichkeit, Ereignisse sich als singuläre Akte unendlich wiederholen zu lassen. Die Mannigfaltigkeit, die dann zu Tage tritt, ist das spezifisch Partikularistische der Kunst, die im Fall der wissenschaftsanalogen Pragmatik einer Aneinanderreihung ohne Zusammenhang folgt und nicht beendet werden kann, weil auch die Wahrheitsprozedur nach Badiou niemals beendet wird. Die wissenschaftsanalogen Pragmatiken verfolgen nun über die Wiederholung der Ereignisse also das, worin sie sich von den anderen Kunstwerken unterscheiden, eine permanente Aufdeckung singulärer Akte, indem sie in diesem experimentellen Rahmen initiiert werden. Ich möchte demzufolge die wissenschaftsanalogen Pragmatiken als Ereignisfallen12 bezeichnen, die dem Betrachter alternativ zu einer reinen medialen Übermittlung der künstlerischen Idee über die Mannigfaltigkeit der Wahrheit und ihrer Darstellung, das Ereignis initiiert und gleichzeitig präsentiert als das Aufscheinen einer Leerstelle, die dann unsere Aufmerksamkeit erreicht. Das Ereignis wird im künstlerischen Experiment somit über die Initiierung erzwungen. Sich als rezipierender Proband oder als Künstlerforscher mit den initiierten Ereignissen in den wissenschaftsanalogen Pragmatiken zu beschäftigen, ist dann im Vorgang der Inkorporation impliziert, die Veränderungen über den differentiellen Punkt des Ereignisses als Repräsentation einleiten kann. Die Wahrheit der Kunst, auch in den wissenschaftsanalogen Pragmatiken, bleibt unbestimmt, dennoch ist es gleichzeitig nach Badiou die Verpflichtung, an ihr festzuhalten (vgl. Badiou 2005: 82). Diese Ereignisfallen der wissenschaftsanalogen Pragmatik sind die Möglichkeiten, Wahrheiten aufzudecken, ohne diese in Form von Dokumentationen und Auswertungen fixieren zu müssen.

12 | In Anlehnung an die von Paul Good so bezeichneten Ereignisse bei Roman Signer als Zeitfallen (vgl. Good 2009: 93).

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O nline -D okumente Ursula Damm: www.ursuladamm.de/inoutsite/de [28.12.2014]

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Der Kosmos aus der Petrischale Oder: Wie lässt das Ähnlichkeitsprinzip Universen entstehen? Sarine Waltenspül

Die thematische Diversität der Vorträge der Tagung LaborARTorium verdeutlichte, wie vielseitig die Zugänge sein können, Forschung in Kunst und Forschung in Wissenschaft in Beziehung zueinander zu setzen, und dies, um sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten auszuarbeiten. Im vorliegenden Text möchte ich die Bereiche Kunst und Wissenschaft nicht als getrennt voneinander behandeln, da ich eine solche Trennung in den meisten Fällen nicht für einen produktiven Ausgangspunkt halte. Das bedeutet keineswegs die Negierung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Die Entscheidung zum Verzicht auf eine Aufteilung ist vielmehr strategisch, da durch eine Trennung die Untersuchungsgegenstände bereits vor jeglicher Konfrontation mit ihnen als kategorisiert gelten würden, was den Blick auf sie entsprechend lenkt oder einschränkt. Ebenso möchte ich Trennungen vermeiden, durch die Dinge – egal welcher Art – als einander entgegengesetzt oder dichotomisch bestimmt werden. Dem entgegen stelle ich einen Versuch zur Entgrenzung der Forschung in Kunst und Wissenschaft, indem ich explizit weder über das eine, noch über das andere berichten werde, implizit jedoch – versucht ungetrennt – über beides. Um ein solches Vorhaben davor zu bewahren, in Beliebigkeiten zu zerfallen, werde ich mit konkretem Material arbeiten. Die hierfür exemplarisch ausgewählten visuellen Beispiele sind Filmsequenzen, die Bilder des Kosmos zeigen. Sie stammen aus den Kinofilmen The Fountain (USA/CH 2006) von Darren Aronofsky und aus The Tree of Life (USA 2011) von Terrence Malick, die zwar beide dem narrativen Kino zugeordnet werden können, darin jedoch einen eher ›experimentellen‹ Status einnehmen. Ausgehend von den Filmen soll ausgearbeitet werden, inwiefern die visuelle oder auch ästhetische Ähnlichkeit, die die Darstellung des Großen im Kleinen ermöglicht, mit physikalischen Ähnlichkeiten verbunden ist. Die im Zentrum stehenden Sequenzen sollen im Folgenden beschrieben werden, wobei ich – dem Printmedium geschuldet – primär auf Einzelbilder aus diesen eingehe, die als Stellvertreter für die Bewegtbilder fungieren. Das

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Exempel aus The Fountain zeigt im mittleren Bildbereich eine helle, runde Fläche, ähnlich einem gleißenden Stern respektive einer Sonne, welche von dichten, wolkenähnlichen Gebilden umsäumt wird, die sich gegen den Rand des Bildes hin auflockern (Abb. 1). Ferner umgeben helle Lichtpunkte das Zentrum, die sich im Film nach außen hin bewegen.1 Das Einzelbild aus The Tree of Life zeigt ein konzentrisches Gebilde auf schwarzem Grund, dessen Mittelpunkt dem unteren rechten Bildrand entspringt (Abb. 2) und dessen Färbung von einem kräftigen Rot in ein Gelb übergeht, das sich wiederum zum Rande hin in ein zunächst durchscheinendes, dann deckendes Eierschalenweiß erhellt. Vor diesem weißen Rand befindet sich ein schwarzer Kreis, der an einen im Schatten einer Sonne stehenden Planeten erinnert. Die Sequenz im Film zeigt, wie sich das rot-weiße Gebilde von seinem Mittelpunkt aus nach außen vergrößert, der ›schwarze Planet‹ sich in Gegenrichtung bewegt, also auf den Mittelpunkt zu. Die Gemeinsamkeiten der Ausschnitte beschränken sich nicht auf das Motiv der Aufnahmen, also auf den gezeigten Kosmos, sondern betreffen ebenso die Herstellung derselben. Denn entgegen geläufiger Tendenzen wurde der Kosmos in beiden Fällen nicht computergeneriert, sondern tatsächlich gefilmt, was nicht bedeutet, dass in der Postproduktion auf jegliche Nachbearbeitungen verzichtet wurde. Aronofsky, der Regisseur von The Fountain, der die Ansicht vertritt, dass digitale Effekte wesentlich schneller altern als die Techniken, für die er und sein Team sich schließlich entschieden haben, erläutert seine Entscheidung wie folgt: »And I think it’s going to be looking 
really good for a very long time because it’s real particles in real physical space. It’s not like the technology that was responsible for it is going to change and we’re going to start to see through it, which I find in a lot of CGI work sometimes six months or a year down the line. As an audience member, you start to see the magic trick.« (Aronofsky in Desowitz 2006b: o.P.)

Eine ähnliche Motivation findet sich beim Regisseur Terrence Malick, wenn auch in The Tree of Life sogenannte old school-Filmtechniken und CGI (computer generated imagery) miteinander kombiniert bzw. konfrontiert werden. Im Bestreben computergenerierte Bilder zu vermeiden kamen Aronofsky und sein Team schließlich dazu, ihre kosmischen Bilder in einer Petrischale anzufertigen. Desowitz zufolge erstellte das visual effects-Team von The Fountain anfänglich Testaufnahmen unterschiedlichster Art, die sich dann allerdings als so unbefriedigend herausgestellt hätten, dass sie entschieden, einen Spezialisten hinzuzuziehen (vgl. Desowitz 2006a: o.P.). Diesen fanden sie in Peter Parks, der später ebenfalls die kosmischen Welten aus The Tree of Life 1 | Genau dieselbe Sequenz wird Darren Aronofsky in N oah (USA 2014) wiederverwenden.

Der Kosmos aus der Petrischale

herstellen sollte. Der Brite Parks ist ursprünglich Zoologe und hat im Jahre 1968 gemeinsam mit anderen die auf Dokumentar- und Naturfilm spezialisierte Firma Oxford Scientific Films gegründet. In seiner (filmischen) Arbeit spezialisierte er sich auf marine Mikroorganismen (vgl. Thompson 1981). Im Jahre 1981 berichtete er, dass der Wunsch, Mikroorganismen nicht nur mit Mikroskopen zu sehen, sondern diese auch zu filmen, durch ein altes RossMikroskop ermöglicht wurde: Dieses »110-year-old piece of optical equipment was to be the route on which John Paling and I based our careers« (Cooke/ Parks 1981: 31). Nach einigen Adaptionen des Mikroskops und der Installation desselben auf einer optischen Bank, gelang es Parks und seinen Mitarbeitern, die Vergrößerung von anfänglichen 40:1 auf 400:1 zu steigern. Dazu kam der Einsatz der Dunkelfeldmikroskopie, mithilfe derer durch die Verwendung eines dunklen Hintergrunds selbst durchsichtige und andere, wenig kontrastreiche Objekte sichtbar gemacht werden können (ebd.: 34-36).

V om L abor ins F ilmstudio Die kosmischen Welten für The Fountain erschufen Peter Parks und sein Sohn Chris mithilfe von Hefe, Lösungsmitteln, Baby-Öl und Aufnahmen des Weltraumteleskops Hubble, die lediglich »for inspiration« hinzugezogen wurden (Kendricken 2013: o.P.). In einem der Making-ofs des Films wird ersichtlich, wie sich diese Arbeit gestaltete: Die entsprechende Sequenz zeigt eine gelbe Flüssigkeit inmitten einer weißen, beide auf schwarzem Grund (Abb. 3). Durch das Zuführen einer weiteren, durchsichtigen Substanz mithilfe einer Glaspipette ändert sich die räumliche Verteilung der beiden anderen Flüssigkeiten in unterschiedlicher Weise: Es bilden sich nach außen bewegende konzentrische Kreise, die weiße Flüssigkeit dehnt sich stärker aus als die gelbe, wodurch sich die Intensitäten der beiden unterschiedlich verändern (Abb. 4). Parks Erfahrung mit der Dunkelfeldmikroskopie kann als Grundlage für die Erstellung dieser Aufnahmen betrachtet werden, denn bei dem Motiv des Kosmos wird der zunächst rein technisch bedingte schwarze Hintergrund zum nahezu perfekten Surrogat für den als schwarz wahrgenommenen Weltraum. Die Entscheidung, das Weltall in Parks Laboren entstehen zu lassen, fiel jedoch nicht nur aufgrund der relativen Alterungsbeständigkeit von nicht-computergenerierten Effekten, sondern auch, da mithilfe der optischen Bank und des Mikrozooms etwas erzeugt werden konnte, das »neither a computer nor an old-fashioned matte painter could deliver – chaos, in all its ultra high-definition fractal glory« (Silberman 2006: o.P.). Peter Parks meint diesbezüglich: »The CGI guys have ultimate control over everything they do. They can repeat shots over and over and get everything to end up exactly where they want it. But they’re forever

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Sarine Waltenspül seeking the ability to randomize, so that they’re not limited by their imaginations. I’m incapable of faithfully repeating anything, but I can go on producing chaos until the cows come home.« (Parks in ebd.)

Die visuelle Ähnlichkeit des materiell erzeugten Petrischalenkosmos und des ›realen‹ Kosmos besteht diesen Aussagen zufolge in der Zufälligkeit oder Unberechenbarkeit, im ›Chaos‹, wie es weder von Programmierern noch von Malern geschaffen, wohl aber im Labor entstehen könne.

M aterielle physik alische I mplik ation : G asförmige und liquide S toffe sind F luide Bei der Herstellung der Aufnahmen wurde jedoch nicht nur (1.) direkt mit Techniken gearbeitet, die aus der wissenschaftlichen Praxis bekannt sind – oder mit dieser in Verbindung gebracht werden, wie die Arbeit im Labor –, vielmehr hatte Parks sich (2.) dabei ebenso physikalische Grundannahmen zueigen gemacht, was sich an folgender Aussage belegen lässt: »When these images are projected on a big screen, you feel like you’re looking at infinity […]. That’s because the same forces at work in the water […] are happening in outer space.« (Parks in ebd.) 2

Der Petrischalenkosmos besteht aus flüssigen oder liquiden Stoffen, der Kosmos hingegen aus gasförmigen. Beides ist sich visuell ähnlich, was die Übertragung – also das Filmen ›im Kleinen‹ für die Darstellung ›im Großen‹ – erst ermöglicht. Die Ähnlichkeit des Verhaltens von gasförmigen und liquiden Stoffen beschränkt sich allerdings nicht einzig auf die Visualität, sondern ist zudem an deren physikalische Ähnlichkeit geknüpft, denn liquide und gasförmige Stoffe werden in der Physik zu den Fluiden gezählt. Mit ihnen beschäftigen sich die fluid dynamics – oder Fluiddynamik –, eine Unterdisziplin der Strömungslehre. Ohne hierbei ins Detail zu gehen, möchte ich festhalten, dass Parks liquider Petrischalenkosmos dem gasförmigen Kosmos nicht nur visuell, sondern auch in physikalischer Hinsicht ähnlich ist. Eine Tatsache, derer sich, wie dem Zitat zu entnehmen ist, der Zoologe durchaus bewusst war. Das Prinzip der Ähnlichkeit von gasförmigen und liquiden Stoffen findet ebenso in einer verwandten Filmtechnik Anwendung: in den cloud oder water tanks. Das sind große Wassertanks aus Glas, in denen je nach Gemisch und Art der Flüssigkeiten unterschiedliche Arten von Wolken bis hin zu ganzen 2 | Was Parks zufolge im Wasser als auch im Weltall wirke, sind sowohl die Gravitation als auch Brechungsfaktoren.

Der Kosmos aus der Petrischale

Tornados erzeugt werden können.3 Sowohl Wirkung als auch technische Herstellung dieses Verfahrens thematisiert der Künstler Rainer Eisch in seinem Experimentalfilm Cloudtank von 2009. Darin sind Wolkenformationen zu sehen, von denen sich die Kamera im Laufe der Projektion zusehends entfernt und so die ansonsten unsichtbare Technik zeigt: ein beleuchtetes, mit Schläuchen versehenes Aquarium, in dem sich die wolkenähnlichen Formationen bewegen. So tritt in den Fokus, was sonst im Film verborgen bleibt (Abb. 5).

I mmaterielle physik alische I mplik ation : Ä hnlichkeitsprinzip und D imensionsanalyse Ein zweites physikalisches Prinzip, welches in den Bildern am Werk sein könnte, ist das Ähnlichkeitsprinzip. Anders als die zuvor benannte Ähnlichkeit von gasförmigen und liquiden Stoffen, die Parks Aussagen gemäß von ihm im Wissen um ihre Wirkung als quasi materielle physikalische Implikation eingesetzt wurde, um die Bilder des Kosmos zu erzeugen, sind meine Überlegungen bezüglich des Ähnlichkeitsprinzips an dieser Stelle tentativ und thesenhaft. Das Ähnlichkeitsprinzip ist ein Grundprinzip aus der Physik, das die Übertragung von Versuchsergebnissen auf reale Systeme ermöglicht, wie beispielsweise im Falle von Modellversuchen. Dem Lehrbuch Ähnlichkeitstheorie und Dimensionsanalyse ist Folgendes zu entnehmen: »Die Grundidee der Ähnlichkeitstheorie baut auf der Tatsache auf, dass sich jede physikalische Gleichung dimensionsbehafteter Einflussgrößen – unabhängig vom benutzten Maßsystem – als Beziehung zwischen einem Satz dimensionsloser Kennzahlen ausdrücken lässt.« (Siemes/Worthoff 2012: 1)

Als Grundidee der Dimensionsanalyse und der Ähnlichkeitstheorie lassen sich anhand dieser Prämisse dimensionsbelastete Gleichungen auf dimensionslose reduzieren. Dadurch können Resultate in unterschiedlich skalierte Systeme übersetzt werden. Das Ähnlichkeitsprinzip schafft so grundsätzlich die Möglichkeit zur Übertragung von Messungen auf geometrisch ähnliche Körper oder auf physikalisch anders beschaffene Fluide, wie solche mit anderer Zähigkeit oder Dichte (vgl. ebd.). Das Ähnlichkeitsprinzip – als Grundlage der in 3  |  Wie beispielsweise in C lose E ncounters of the third K ind (USA 1977, R: Steven Spielberg), F lash G ordon (USA/UK 1980, R: Mike Hodges), R aiders of the L ost A rk (USA 1981, R: Steven Spielberg), P oltergeist (USA 1982, R: Tobe Hooper), S tar Trek II: The W rath of K ahn (USA 1982, R: Nicholas Meyer), D ie U nendliche G eschichte (D/USA 1984, R: Wolfgang Petersen), I ndependence Day (USA 1996, R: Roland Emmerich) (vgl. Bjerre 2010: o.P.).

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der Dimensionsanalyse vorgenommenen Berechnungen – ermöglicht so die Nivellierung variabler physikalischer Größen oder ganzer Systeme. Dadurch können beispielsweise die Messungen von im Windkanal getesteten Autos oder Flugzeugmodellen auf größere Systeme, also auf ›Realgrößen‹, übertragen werden. In klassischer Opposition von Kunst und Wissenschaft könnte nun behauptet werden, dass hierbei das Ähnlichkeitsprinzip als immaterielle Technik auch bei der Herstellung der besprochenen Aufnahmen der Petrischalenuniversen ›aktiv‹ war. Dan Glass, der visual effects supervisor von The Tree of Life, beschreibt die Wirkung der Bilder folgendermaßen: »They [Peter und Chris Parks, Anm. d. V.] do these richly detailed visual flows of colour which are very hard to describe and can imply things at any scale.« (Glass in Hogg 2011: o.P.) Die Beobachtung, dass die Bilder Dinge »at any scale« enthalten könnten, legt den Schluss auf eine ähnliche visuelle Wirkung nahe – also die der Skalierung –, wie sie mithilfe mathematischer Berechnungen im Bereich der Dimensionsanalyse und auf bauend auf das Ähnlichkeitsprinzip simuliert werden kann.

S cale and time Die skalierende, im vorliegenden Falle vergrößernde Wirkung der Aufnahmen lässt sich auf (mindestens) zwei Gründe zurückführen: erstens auf die bereits benannten fluiden Kräfte, die sowohl in flüssigen als auch in gasförmigen Gemischen wirken und deren visuelle Ähnlichkeit die Übertragung von ersteren auf letztere ermöglicht, und zweitens auf die manipulierte Bildwechselfrequenz, mit der gefilmt wurde respektive das Gefilmte abgespielt wird. Diese Manipulation kommt im filmischen Bereich insbesondere dann zum Einsatz, wenn der Eindruck von Masse erzeugt werden soll, wie beispielsweise beim Filmen von Miniaturen und Modellen oder – nach Peter Parks – auch beim Filmen mit Mikroskopen: »Many small animals move rapidly, but watched down a microscope their movements seem even more frantic. This is because lenses and optics can only magnify length and breadth (or space) and not time.« (Cooke/Parks 1981: 36)

Parks meint, dass Linsen das Gefilmte zwar in Länge und Breite und somit räumlich zu vergrößern vermögen, nicht aber zeitlich. Ganz wie Gaston Bachelard in seiner Feststellung »[a]lle kleinen Dinge erfordern Langsamkeit« (Bachelard 2001: 165) verlangt auch Parks, dass die hektischen Bewegungen der Mikroorganismen verlangsamt werden müssen. Dies wird mithilfe entsprechender Bildwechselfrequenzmanipulation gemacht, wobei die Kamera »over-cranked« wird (Cooke/Parks 1981: 36). Das bedeutet, dass die Aufnah-

Der Kosmos aus der Petrischale

men mit einer erhöhten Bildwechselfrequenz erstellt werden (unterstützt durch stärkere Beleuchtung), die Wiedergabe dann jedoch in den genormten 24 oder 25 frames per second (fps) erfolgt. Ferner möchte ich an dieser Stelle an den Ausdruck der ›Zeitlupe‹ erinnern, der in einer optischen Metapher die Vergrößerung und damit Verlängerung einer Frequenz durch Zeitmanipulation bedeutet. In einschlägigen Filmtechnikbüchern4 finden sich zur Berechnung der Bildwechselfrequenz Formeln wie die folgende, die die Filmenden bei ihrem Skalierungsvorhaben unterstützen sollen:

(Rickitt 2007: 116)

Nach dem zuvor Dargestellten verwundert es an dieser Stelle kaum, dass die Formeln auf eine Diskussion zurückzuführen sind, die wiederum aus dem Bereich der Dimensionsanalyse stammt und in den 1920er und frühen 1930er Jahren stattfand. Der Text von Joseph A. Ball mit dem Titel Theory of Mechanical Miniatures in Cinematography von 1924 bildet die Grundlage für den sechs Jahre später erschienenen Text Dimensional Analysis as an Aid to Miniature Cinematography von G.F. Hutchins. Bereits der Titel von Hutchins Text verdeutlicht, auf welchen Bereich die Formel zurückzuführen ist, die sich resistent bis in heutige Filmtechnikbücher zu halten vermag.

Trial and error Folglich möchte ich an dieser Stelle die These aufstellen, dass im Film ein Teilgebiet der Ähnlichkeitstheorie praktische Anwendung findet, wenn es um das Filmen von skalierten Objekten geht, die auf dem Filmbild größer erscheinen sollen als sie faktisch sind. Ebenso will ich jedoch anführen, dass die Formeln, die die Grundlage der Dimensionsanalyse bilden, empirisch oder insbesondere visuell gewonnen wurden, und selbst heute – trotz der vorgeblich mathematischen Genauigkeit – zu einem gewissen Grade an das trial and error-Prinzip geknüpft sind. Dies verdeutlicht auch eine Betrachtung des Status der Formeln in den Filmtechnikbüchern: Denn anders als möglicherweise zu 4 | Wie beispielsweise in Fielding 1985: 325; Hutchison 1987: 16; Rickitt 2007: 116. Bei Hutchison findet sich die Formel in sprachlich ausformulierter Form, wohingegen die beiden anderen Autoren die mathematische Formulierung bevorzugen.

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erwarten wäre, relativieren die Autoren der drei Technikbücher die Gültigkeit dessen, was nach mathematischer Präzision und entsprechend nach einem Garant für das ›Gelingen der Skalierung‹ klingt. Raymond Fielding schreibt, dass der Effektkameramann mit dem Ziel das Publikum zu täuschen »partly from mathematical formula, partly from insight, partly from experience, and partly from trial-and-error experiment« arbeite (Fielding 1985: 324), wodurch er der Formel zwar einen gewissen Geltungsbereich zuerkennt, diese jedoch klar als einen Faktor unter vielen ausweist. Bei David Hutchison ist die Formel »not a firm rule, but it is a starting point for the special effects cinematographer«, wobei er abschließend konstatiert »[w]hat looks ›right‹ on the screen may not necessarily be mathematically correct.« (Hutchison 1987: 16) Somit kann die Formel gemäß Hutchison auch ›falsche‹ Resultate liefern. Ein »starting point« ist die Formel ebenso bei Richard Rickitt, der schreibt, dass »[t]he following mathematical formula can be used to calculate the correct camera speed when filming miniatures«, dann jedoch mit »however, this formula is just a starting point« schließt (Rickitt 2007: 116). Selbst diese Relativierung der Formeln haben die späteren Autoren Hutchins Text Dimensional Analysis as an Aid to Miniature Cinematography von 1930 entnommen. Zum Schluss desselben kommt dieser nämlich auf die Anforderungen seitens der Produktion zu sprechen, die nach seiner präzisen Erarbeitung von anwendbaren Formeln doch etwas überraschend erscheinen: »There is no set of equations by the use of which any one may design convincing models, but one who has a sound foundation in physics and mathematics combined with a clear understanding of dimensional relations may use this knowledge to see at a glance the important considerations of the problem, and apply his ingenuity to a solution that will give an excellent impression on the screen.« (Hutchins 1930: 383)

So relativiert Hutchins den von ihm selbst eingeführten Satz von Gleichungen, indem er schreibt, dass es einen solch allgemeingültigen und für jeden anwendbaren nicht gebe. Mit fundierten mathematischen und physikalischen Kenntnissen und einem klaren Verständnis von dimensionalen Beziehungen könne hingegen ein gutes, überzeugendes Ergebnis produziert werden. Diese abschließende Bemerkung lässt ferner darauf schließen, dass durch die späteren Autoren Fielding, Hutchison und Rickitt nicht einzig die Formeln Hutchins, sondern sehr wohl auch dessen Relativierung derselben übernommen wurde. Dadurch wird deutlich, dass der Geltungsbereich mathematischer Präzision – hier in Form der Formeln – beschränkt ist und sich gute Resultate in nicht allzu strikter Umsetzung derselben produzieren lassen.

Der Kosmos aus der Petrischale

V on P r a xis , Theorie und C haos In seinem Aufsatz Die Kraft der Verkleinerung schreibt Reinhard Wendler bezüglich der oben aufgeführten (Waltenspül 2013: 31-33) sowie zwei weiteren Formeln, dass diese »die Komplexität der Vorgänge, die sie fassbar zu machen vorgeben«, ostentativ überbieten (Wendler 2013: 5). Ferner würden sie in ihrer mathematischen Kürze eine nicht vorhandene Einfachheit der Phänomene suggerieren, weswegen sie entsprechend »pragmatische Fiktionen« im Sinne von Hans Vaihinger wären (ebd.). Zur Frage des Verhältnisses von (Ähnlichkeits-)Theorie und praktischer Umsetzung derselben im Film möchte ich Folgendes festhalten: Die ›Theorie‹ lässt sich hier gleichwohl als Grundlage der ›Praxis‹ beschreiben als auch umgekehrt. Denn die gesamte Dimensionsanalyse kann gleichsam als eine, aus dem praktischen Umgang mit Objekten und Kräften gewonnene, gesehen werden. Daher schließt der Untertitel dieses Aufsatzes mit einem Fragezeichen und nicht mit einem Punkt. Das Ähnlichkeitsprinzip kann als Grundlage für die Erzeugung der Universen gesehen werden, muss es aber verständlicherweise nicht. Zur thematischen Rahmung des Textes, d.h. der Forschung in Kunst und Wissenschaft, passt folgendes Zitat aus Hans-Jörg Rheinbergers Experimentalsysteme und epistemische Dinge: »Wenn wir davon ausgehen, dass Forschung der grundlegende Vorgang der modernen Wissenschaft ist, dann gilt es zu untersuchen, wie die Wissenschaftler sich an den Grenzen zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten verhalten.« (Rheinberger 2006: 22)

Diese Bestimmung der Forschung als Vorgang, sich an den Grenzen von Bekanntem und Unbekanntem zu verhalten, lässt sich problemlos auf künstlerische Tätigkeiten übertragen. Dadurch ließe sich möglicherweise auch die eine oder andere Brücke zwischen zwei Bereichen schlagen, deren Trennung als für gegeben gehalten und selten kritisch überdacht wird, jedoch in vielen Fällen bei genauerem Hinsehen gar nicht so ausgeprägt existiert. Den Schwerpunkt in Rheinbergers Zitat würde ich einerseits auf den Ort – also auf die Grenzen von Bekanntem und Unbekanntem –, andererseits auf die dort stattfindende Aktion legen, was das Verhalten der Forschenden an diesen Grenzen wäre. Das Verhalten kann sich auf Formeln und Theorien stützen oder sich sogar von diesen leiten lassen. Das Wissen darum, dass es Fiktionen sind, die der Vereinfachung von faktisch stattfindenden, mitunter sehr komplexen Vorgängen dienen, sollte die Arbeit mit ihnen stets begleiten. Denn Probleme, die sich im Umgang mit Fiktionen ergeben, rühren oft nicht von ihrer Fiktivität her, sondern kommen vielmehr dann zustande, wenn die Fiktivität der Fiktionen vergessen wird. Ich möchte somit abschließend festhalten, dass forschende Tätigkeiten – ob in künstlerischer oder wissenschaftlicher Absicht – an den Grenzen von

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Bekanntem und Unbekanntem stets mit (verbaliter) unberechenbaren Begebenheiten konfrontiert sein werden. Und ganz im Sinne der behandelten Beispiele kann dieses Unberechenbare auch zum Gesuchten werden: Das chaotische Moment in Parks Bildern stammt genau daher, dass er auf die Arbeit mit Formeln verzichtet und nicht versucht hatte, die Bilder in perfekter Manier computerzugenerieren, sondern vielmehr Zufälligkeiten walten ließ. Abb. 1: Kosmos aus The Fountain

Einzelbild aus The F ountain (USA/CH 2006, R: Darren Aronofsky).

Abb. 2: Kosmos aus The Tree of Life

Einzelbild aus The Tree of L ife (USA 2011, R: Terrence Malick).

Der Kosmos aus der Petrischale

Abb. 3: Making-of des Kosmos aus The Fountain

Einzelbild aus dem Making-of I nside ›The F ountain ‹: D eath and R ebirth (M aking of) The F uture (http://www.youtube.com/watch?v=QgkZHNpGKhY [20.10.2014]).

Abb. 4: Making-of des Kosmos aus The Fountain

Einzelbild aus dem Making-of I nside ›The F ountain ‹: D eath and R ebirth (M aking of) The F uture (ebd.).

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Sarine Waltenspül

Abb. 5: Rainer Eisch, Cloudtank, 2009

Cloudtank, 2009, digitales Video, Farbe, Stereo, 13min. Installationsansicht, Kunsthalle Wilhelmshaven. Copyright © Rainer Eisch/VG Bild-Kunst Bonn.

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F ilmverzeichnis The Fountain (USA/CH 2006, R: Darren Aronofsky) The Tree of Life (USA 2011, R: Terrence Malick)

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Körper denkt Tabu Denkprozesse im Tanztheater Olaf A. Schmitt

»Im Grunde haben Theater und Philosophie dieselbe Frage: Auf welche Weise kann man sich an die Leute wenden, damit sie ihr Leben anders denken, als sie es gewöhnlich tun? Das Theater wählt das indirekte Mittel der Darstellung und der Distanz, während die Philosophie das direkte Mittel der Lehre im Gegenüber zwischen einem Lehrer und einer Hörerschaft wählt. Auf der einen Seite haben wir die Lehre durch die gewollte Mehrdeutigkeit der Darstellung von einem versammelten Publikum, auf der anderen Seite die Lehre durch die eindeutige Argumentation und den Dialog von Angesicht zu Angesicht, der dazu dient, deren subjektive Ereignisse zu festigen.« (B adiou 2014: 28)

»Gewollte Mehrdeutigkeit« versus »eindeutige Argumentation« – der französische Schriftsteller und Philosoph Alain Badiou skizziert mit diesen Begriffen die Mechanismen der künstlerischen Arbeit und der wissenschaftlichen Forschung. Die zugrundeliegende Frage aber ist dieselbe: Wie lässt sich das menschliche Denken auf außergewöhnliche Pfade führen? Die gewollte Mehrdeutigkeit des Theaters entsteht v.a. durch die Benutzung anderer Sprachen als der verbalen, obgleich auch diese eine Mehrdeutigkeit in der künstlerischen und manchmal auch der wissenschaftlichen Anwendung – ob gewollt oder nicht – transportiert. Im Zentrum der darstellenden Künste steht der menschliche Körper, trotz aller durchaus gewinnbringenden Versuche ohne ihn. Die Frage nach den Forschungsmöglichkeiten der Kunst scheint mir besonders interessant, wenn diese Forschung jenseits der in der Wissenschaft dominierenden verbalen Sprache stattfindet. Kann der menschliche Körper

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Gedanken formulieren, die der verbalisierten Sprache nur schwer zugänglich oder unmöglich sind? Durch die körperliche Bewegung kann ein Denkprozess in Gang gesetzt werden, der dann – übersetzt in die verbale Sprache – wenn nicht den Wissenstand erweitert, so doch die Perspektive auf einen Sachverhalt verändert. Die künstlerische Bewegung des Körpers jenseits der verbalen Sprache schlechthin ist der Tanz. Da der Tanz nicht an die schriftliche beziehungsweise verbale Sprache geknüpft ist, kann er zum unmittelbaren Ausdruck des Prozesses des Denkens werden, bevor es in ein Wissen überführt wird. Alain Badiou formuliert es folgendermaßen: »der Tanz [zeigt] das Denken als Ereignis an, aber bevor ihm ein Name gegeben wird, knapp vor seinem wahren Vergehen, im Entschwinden seiner selbst, ohne vom Namen beschützt zu werden. Der Tanz ahmt das noch unentschiedene Denken nach. Ja, im Tanz findet sich die Metapher des Unfixierten.« (Badiou 2001: 104)

Indem der Körper in der Lage ist, Gedanken jenseits beziehungsweise vor der verbalen Sprache zu formulieren, kann dieses körperliche Denken über die Grenzen der verbalen Möglichkeiten hinaus führen und Nicht-Erlaubtes thematisieren: Tabus. Zwei Aufführungen mögen nun als Beispiele hierfür dienen, weil sie in der körperlichen Bewegung, im Tanz, Tabus formulieren, die gesellschaftlichen und politischen Sprengstoff der besonderen Art bieten. In beiden Fällen geht es um Israel: einerseits um das Nicht-Verhältnis zwischen Israel und Iran, andererseits um das unausgesprochene Verbot, die Musik Richard Wagners in Israel aufzuführen. Im Ballhaus Naunynstraße Berlin kam am 6. März 2013 Modjgan Hashemians Tanzstück I love I zur Uraufführung. Die Choreographin und Tänzerin persischer Abstammung, die in ihrer Heimatstadt Berlin an der Ernst-Busch-Schule ausgebildet wurde, setzt sich in diesem Stück mit dem Nicht-Verhältnis der beiden Staaten Iran und Israel auseinander. Eine Flugreise zwischen beiden Staaten zu buchen ist unmöglich. 2009 reiste Hashemian nach 27 Jahren zum ersten Mal wieder in das Land ihrer Wurzeln und verbrachte Zeit in Teheran. Aus diesen Eindrücken entstanden ebenfalls am Ballhaus Naunynstraße die beiden Abende Don’t move und In Motion, die sich unter anderem mit dem existierenden Tanzverbot im Iran auseinandersetzen. Im Vorfeld zu I love I schrieb die Choreographin: »Im Zuge der zunehmenden politischen Spannungen zwischen Iran und Israel sowie meiner Auseinandersetzung mit dem Konflikt wuchs in mir der Wunsch, mit einer Arbeit Stellung zu nehmen. I love I beschäftigt sich mit Fragen, die über meine Identität und das Geschehen im Iran hinausgehen. Haben sich die von klein auf suggerierten Feind-

Körper denkt Tabu bilder verinnerlicht? Welche Vorurteile haben sich verhärtet? Was bewegt uns an dem Konflikt? Was weiß ich eigentlich von meinen israelischen Kollegen, und was wissen sie über uns? In beiden Ländern leben die Menschen in Angst vor einem möglichen Krieg und vor Repressalien. In Exzessen, die nahezu an Körperverletzung grenzen, feiern die jungen Iraner und Israelis die Angst weg. Sie tanzen, singen und lachen ihr ins Gesicht.« (Hashemian 2013: o.P.)

Hashemian entwickelt den Titel ihres Abends aus Initiativen, die über soziale Netzwerke Annäherungen zwischen Israelis und Iranern versuchten. Der israelische Grafi kdesigner Ronny Edry tat das, was er schon mehrmals getan hatte: sich mittels entworfener Plakate in sozialen Netzwerken politisch zu äußern. Doch dieses Plakat verbreitete sich in rasantem Tempo und schaff te es weltweit auf die Titelseiten. Das Bild zeigt einen Mann mit einem Kind auf dem Arm und der darunter stehenden Zeilen »Iranians, we will never bomb your country. We you.« Weitere Initiativen wie »I love Israelis« oder »I love Iranians« stießen auf ähnlich großes Echo. Was Regierungen nicht vermochten und Fluggesellschaften ignorierten, wurde zwischen Bürgern plötzlich möglich: eine Kommunikation zwischen zwei zutiefst verfeindeten Staaten. Die Choreographin entwickelte gemeinsam mit ihrem deutsch-iranischisraelischen Ensemble Bewegungen, die dieses Tabu denken können, die Möglichkeiten aufscheinen lassen, dass sich Menschen annähern, die nichts voneinander wissen können, weil aufgrund politischer und kultureller Schranken der andere quasi nicht existiert. Wie kann eine solche Annäherung aussehen? In einer Szene beginnen mehrere Tänzer, ihren eigenen Körper zu küssen. Ein Kuss ist seinem Wesen nach für einen anderen bestimmt. Die Tänzer küssen aber überwiegend nur sich selbst, finden darin allerdings mehr und mehr einen gemeinsamen Rhythmus. Erst am Ende dieser Szene kommt es zu einer direkten körperlichen Kontaktaufnahme, die allerdings einseitig und offenbar unverstanden bleibt. Diese Szene eröffnet weitere Dimensionen des Titels I love I. »I« ist nicht nur die Abkürzung für Israel und Iran, sondern zunächst einmal das Personalpronomen der ersten Person Singular. »I love I« heißt nicht »I love me« im Sinne einer Selbstliebe, sondern meint das Ich, das ich liebe. Das sozial gebildete Ich – das Über-Ich würde Sigmund Freud es nennen –, das eben nie gelernt hat, jemanden außerhalb des eigenen Ich-Raums zu lieben. Dazu passt, dass einige Szenen später gesprochene Sprache zu hören ist. Jüdische Klischees und Vorurteile werden von Maryam Zaree als Charakteristika von »I« im Plural vorgetragen. »I are greedy«, »I are stinky«, »I defend themselves«, »Everyone is afraid of I«. Dazu blasen die Tänzerin und Michael Shapira Luftballons auf, deren Luft sie dann quietschend wieder ablassen. Er stört dadurch mehrmals ihre Sätze. Zuvor sind die beiden anderen Performer mit Luftballons gepolstert aufeinander zugegangen, was witzig, verspielt und

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elegant wirkt, trotz der unförmig gewordenen Körper. Mit Schutzschicht funktioniert die Annäherung offensichtlich leichter, doch diese Schicht ist fragil, sie besteht nur aus Luft, die nach einem Platzen sofort entweichen kann. Ob die Nähe hält, wenn die Schicht verschwunden ist? Der internationale Code der Annäherung, aber auch des gegenseitigen Respekts ist der Händedruck. Hashemian hat den Händen eine ganze Szene gewidmet, die auch an ein beliebtes Kinderspiel erinnert: Zwei Menschen strecken sich gegenseitig beide geschlossenen Hände entgegen und schlagen aus dieser Position unvermittelt die Hände des anderen. Dieser muss seine Hände rechtzeitig wegziehen, um nicht getroffen zu werden. In der Aufführung wird dieses Spiel weiterentwickelt: Die Hände des anderen werden nicht nur geschlagen, sondern gelegentlich auch gestreichelt, ebenso unvermittelt. Badiou spricht von der Nachahmung des »unentschiedenen Denkens« durch den Tanz, dieser »Metapher des Unfixierten« (Badiou 2001: 104). Der Tanz ist wie das Denken dem Wissen entzogen, beide sind vor dem Namen. Zwar beruht der Tanz – auch die hier gemeinte Form des zeitgenössischen Tanztheaters – auf einem sehr tiefen Wissen in Form der Technik, was Badiou natürlich weiß, doch für ihn tritt die »wahre Tänzerin« niemals so auf, »als wüsste sie, was sie tanzt«: »In Wirklichkeit hebt die Tänzerin jeglichen gewussten Tanz auf, weil sie ihren Körper so einsetzt, als wäre er erfunden. Sodass in der Tanzvorführung der dem Wissen entzogene Körper eines Körpers dargestellt wird, der Körper als Werden.« (Badiou 2001: 111) Badiou hatte sicher andere, technischere Momente des Tanzes vor Augen, aber sein Wort vom »Körper als Werden« als Metapher des Denkens trifft viele Szenen in I love I (vgl. http://vimeo.com/66628109 [28.05.2015]). Die Hand des anderen geschlagen, aber auch gestreichelt zu haben, ihm dabei in die Augen geblickt zu haben, sind zwischen Israelis und Iranern schon völlig undenkbare Tabus. Jenseits der verbalen Sprache und jenseits der politischen Elite eröffnet die rein körperliche Annäherung eine andere Möglichkeit, ähnlich wie die sozialen Netzwerke jenseits der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Eben diese gesellschaftliche Wirklichkeit verbietet in Israel die Aufführung der Musik Richard Wagners. Seine antisemitischen Schriften, sein völkisches Denken und besonders der Gebrauch seiner Musik durch die Nationalsozialisten machen bis heute jede Aufführung seiner Musik in Israel unmöglich. 2012 unternahmen der Dirigent Asher Fisch und der 2010 gegründete Richard Wagner-Verband Israel einen weiteren Versuch, ein Konzert mit Musik Richard Wagners in Tel Aviv zu veranstalten, das aufgrund der massiven Proteste, trotz bereits gebuchter Künstler und verkaufter Karten, abgesagt wurde. Die Bayerische Staatsoper in München lud anlässlich der Neuinszenierung von Wagners nach wie vor Grenzen sprengendem Werk Der Ring des Nibelungen mehrere Künstler ein, sich in freien künstlerischen Formaten mit Wagners

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Musik und Person auseinanderzusetzen. Eine von ihnen war die israelische Choreographin Saar Magal. Sie kannte Richard Wagner lediglich von ihrer Zusammenarbeit mit dem Regisseur Krzysztof Warlikowski bei dessen ParsifalInszenierung für die Opéra National de Paris. Relativ schnell nach der Anfrage aus München war ihr klar, dass sie sich mit dem ungeschriebenen Verbot, Richard Wagners Musik in Israel aufzuführen, performativ auseinandersetzen möchte. Für den riesigen Westflügel des Münchner Haus der Kunst – dem ersten Nazi-Monumentalbau – entwickelte sie gemeinsam mit ihrem Team und sechs Tänzern die Performance Hacking Wagner. Das Publikum saß einzeln auf in diagonalen Reihen gestellten Stühlen über den gesamten, extrem lang gestreckten Raum verteilt. Der Abend begann mit einem Video-Prolog von knapp 20 Minuten, in dem Protagonisten der Debatte über Wagner in Israel – Dirigenten, Historiker, Intendanten – aber auch Regisseure und HolocaustÜberlebende die Komplexität dieses Themas verdeutlichten (vgl. http://vimeo. com/68517682 [28.05.2015]). Wagner ist heute in Israel weniger der Name eines zweifelsohne großartigen Komponisten als vielmehr ein Symbol für die Erinnerung an den Holocaust. Seine Musik öffentlich aufzuführen – im Radio wird sie gelegentlich gespielt – ist für viele ein Affront gegenüber Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen. Kaum jemand kennt seine Musik wirklich, viele halten Wagner für ein Mitglied des NS-Regimes. Orchestermusiker spielen heimlich Wagner, weil sie es als unverzichtbaren Teil des Repertoires erachten. Einige von ihnen, Mitglieder des Israel Philharmonic Orchestra, haben schon vor mehreren Jahrzehnten die Frage gestellt, warum in Israel niemand ein Problem damit habe, einen VW Käfer zu fahren, der ursprünglich ein Produkt der nationalsozialistischen »Kraft-durch-Freude«-Kampagne war, aber niemand Wagner spielen dürfe (vgl. Sheffi 2002: 71f.). Diese Stichworte sollen kurz die Brisanz des Themas in Israel verdeutlichen, ausführliche Einblicke bietet Na’ama Sheffis Studie Der Ring der Mythen. Nach diesem Video-Prolog erlebte das Publikum mehrere Szenen, in denen in ihrer unmittelbaren körperlichen Nähe die Tänzer sich mit Klischees über Wagner, die Juden und Elementen der Debatte auseinandersetzen. Es ging darum, Wagner zu hacken, wie der Titel des Abends versprach. Die Choreographin schrieb dazu: »Mit dem Ausdruck ›hacken‹ ist das Auf brechen eines Codes gemeint: etwas entschlüsseln und eigenwillig neu zusammensetzen, eine Art reverse engineering, um den ursprünglichen Zweck zu entkräften.« (Magal 2013: o.P.) Der Komponist Moritz Gagern hat Samples überwiegend aus Wagners Der Ring des Nibelungen montiert. Saar Magal erfand stark emotionalisierte Szenen, die das Publikum vor Herausforderungen stellten. Gerade in München ist eine devot ergebene Haltung zahlreicher Opernbesucher gegenüber Wagners

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Werk zu erleben. Viele Zuschauer haben für sich eine strikte Trennung von Werk und Person vorgenommen, obgleich bei kaum einem anderen Komponisten die Persönlichkeit für das Werk eine so bedeutende Rolle spielt. Was passiert nun, wenn der widerlichste Text aus der Feder Richard Wagners, Das Judentum in der Musik, mit seiner Vision des Untergangs der Juden am Ende, mit Klängen der Tannhäuser-Ouvertüre kombiniert wird und dazu die nur in Unterwäsche bekleideten Tänzer Gesten der Erniedrigung und Unterwerfung ausführen? Diese Szene arbeitet auf sämtlichen Theaterebenen mit Emotionalisierung: Text, Musik, Licht, Raum. Die unmittelbare Erfahrung des sich unterwerfenden Körpers vor dem einzelnen Zuschauer erzeugt eine Form der Unentrinnbarkeit. Es ist der denkende Körper, der gerade in Deutschland immer wieder tabuisierte Fragen an das Schaffen Richard Wagners formuliert: Lässt sich das Werk tatsächlich von den persönlichen Ansichten des Komponisten trennen? Wie lässt sich das Wort »Untergang« am Ende dieses Textes verstehen, den die Schauspielerin Sandra Hüller in ihrer Aufnahme mit bestechender, neutraler Stimme spricht? War es für Wagner eine rein philosophische Idee, wie er sie in seinen Schriften aus der Revolutionszeit entwickelt und am Ende seiner Götterdämmerung komponiert hat: der Untergang als Notwendigkeit, um Raum für Neues zu schaffen? Führt diese Idee des Untergangs geradewegs in die Idee und Wirklichkeit des Holocaust, eine menschliche Gemeinschaft untergehen zu lassen? Für den zweiten Teil des Abends wurden die Stühle der Zuschauer von den Performern zu zwei sich gegenüberliegenden Längsblöcken arrangiert, zwischen denen nun unter anderem eine Choreographie aus Hitler-Posen sowie das Auftauchen eines VW-Käfers und seiner widersprüchlichen Geschichte zwischen »Kraft-durch-Freude«-Wagen, Ikone des Wirtschaftswunders und der Hippie-Generation zu erleben war. Einer Tänzerin wurden mehrere Sensoren am Körper angebracht, durch die auf einen Bewegungsimpuls voreingespeicherte Samples von Wagners Musik abgespielt wurden. Die Sensoren reagierten sowohl auf die eigenen Bewegungen der Tänzerin als auch auf die der Zuschauer, sobald sie sich ihnen näherte. Hier wurde nun Wagners Musik sinnlich zu dem Sprengsatz, den sie für die israelische Gesellschaft darstellt. Der Körper im so genannten MIDISuit erinnerte auch an einen Selbstmordattentäter, ein leider viel zu bekanntes Bild im Nahen Osten. Die verkabelte Tänzerin trägt aber andererseits Wagners Musik am eigenen Körper, sie lässt diese so physisch wirkende Musik sehr nah an sich heran und könnte damit der israelischen Gesellschaft eine neue Möglichkeit eröffnen, nämlich die Musik überhaupt einmal anzuhören und nicht ausschließlich aufgrund ihres ideologischen Hintergrunds zu verurteilen. Letztlich ist das nicht ausgesprochene Verbot von Wagners Musik – es gibt kein Gesetz dazu – ein ebensolcher Mechanismus, wie ihn die Nazis selbst

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ausgeführt haben: Kunst, die nicht passt, wird verboten. Zahlreiche jüdische Musiker, die mit Freude in Deutschland Wagner gespielt haben, mussten Deutschland nach 1933 verlassen. In ihrem Land durften sie ihre Musik nun auch nicht mehr spielen. Die MIDI-Suit-Sequenz in Hacking Wagner mündete in eine rauschhafte Szene, in der sich aus den Wagner-Samples zunehmend ein pochender Clubsound entwickelte. Die Performer eigneten sich verspielt und durchaus humorvoll Requisiten aus Wagners Opern an. Sie nahmen den Zuschauern ihre Stühle weg, die sie gewaltsam zu einem riesigen Haufen aufwarfen, was an die Leichenberge der Konzentrationslager erinnerte. Das nun stehende Publikum geriet durchaus selbst in Bewegung. Manch einer lernte Wagners Musik anders kennen, andere gewannen ihr zum ersten Mal etwas ab. Hacking Wagner bezog keine Stellung, ob der Wagner-Bann in Israel aufgehoben werden sollte oder nicht. »Das Theater gibt keine Erklärungen ab, es zeigt!«, schreibt Alain Badiou (Badiou 2014: 35). Die Performance brachte die Debatte auf die Bühne beziehungsweise in den gesamten Westflügel des Haus der Kunst (vgl. http://www.youtube.com/watch?v=h7Tzjxpo9U4 [28.05.2015]). Einfacher wurden die Fragen dadurch nicht, eher komplizierter. Das ist wahrscheinlich die wichtigste Aufgabe der Kunst – genauso wie der Wissenschaft: die Welt so kompliziert erscheinen zu lassen wie sie ist. Das Instrument dazu ist das Denken. Denken aber ist auch ein körperlicher Vorgang, der wie der Tanz das leisten kann, was Alain Badiou in so weitgreifende Worte fasst: »Der Tanz ist jedes Mal ein neuer Name, mit dem der Körper die Erde neu tauft. Aber ein neuer Name ist kein letzter Name. Ununterbrochen tauft der Tanz, körperliche Darstellung des Vor-Namens der Wahrheiten, die Erde neu.« ­(Badiou 2001: 119)

L iter atur Badiou, Alain (2001): Kleines Handbuch der In-Ästhetik, Wien: Turia + Kant. Badiou, Alain (2014): »Theater als Ereignis. Alain Badiou spricht mit Nicolas Truong«, in: Lettre International, Herbst 2014, S. 24-37. Hashemian, Modjgan (2013): Der Angst ins Gesicht tanzen. Die Choreografin Modjgan Hashemian über ihr neues Stück. Online unter: http://tanzraumberlin.de/Magazin-Artikel--435-0.html?id=438 [28.05.2015]. Magal, Saar (2013): Hacking Wagner, in: Hacking Wagner. Programmheft der Bayerischen Staatsoper, Spielzeit 2012/13. Sheffi, Na’ama (2002): Der Ring der Mythen. Die Wagner-Kontroverse in Israel, Göttingen: Wallstein.

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O nline -D okumente Ballhaus Naunynstraße: I love I, Ausschnitte. Online unter: http://vimeo.com/ 66628109 [28.05.2015] Bayerische Staatsoper: Hacking Wagner, Trailer. Online unter: http://www.you tube.com/watch?v=h7Tzjxpo9U4 [28.05.2015] Bayerische Staatsoper: Hacking Wagner, Interviews. Online unter: http://vimeo .com/68517682 [28.05.2015]

How to do things? – Praxis als Methode und Ergebnis künstlerischer Forschung

Theater denken Was können Schauspieler und Wissenschaftler voneinander lernen? Richard Weihe Fünf Jahre nach der Eröffnung eines eigenen Theaters im Tessiner Dorf Verscio gründete der Schweizer Clown Dimitri 1975 im selben Ort eine Theaterschule, die Scuola Teatro Dimitri (STD). Mitbegründer war der tschechische Mime und Maskenbildner Richard Weber. Mit ihrem Fokus auf Bewegungstheater galt diese Schule als Pendant zu den Schauspielschulen für Sprechtheater. Die Diplomprüfung bestand aus einem 15-minütigen, selbstständig erarbeiteten Bühnenstück. Die Schule hat zwar ein Clown gegründet, sie war aber nicht speziell als Ausbildungsstätte für den Clown-Nachwuchs gedacht. Dennoch haftet der STD der Ruf einer Clown-Schule an. Abb. 1: Hauptgebäude der Scuola Teatro Dimitri in Verscio, Schweiz

Foto: STD.

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Im Wintersemester 2006/07 wurde die STD der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (SUPSI) angegliedert, englisch University of Applied Sciences and Arts of Southern Switzerland. Im Herbst 2015 erhält die Schule den Namen Accademia Teatro Dimitri, um den neuen Status einer Hochschule zu betonen. Im Zuge des Bologna-Prozesses zur Reform der Hochschulen wurde der zweistufige Bildungsgang mit den akademischen Abschlüssen Bachelor und Master eingeführt. Verscio bietet seitdem einen BA-Studiengang für Teatro di movimento und einen MA-Studiengang für Physical Theatre an. Der BA-Studiengang schließt mit den LIFF ab (lavori individuali di fine formazione); individuelle Abschlussarbeiten, die aus einem schriftlichen und einem praktischen Teil bestehen (LIFF scritto und LIFF pratico). Die Studierenden wählen eine beliebige fiktive oder reale Person als Thema. Ihre Recherchen dokumentieren sie in Form eines Tagebuchs, das auch Zeichnungen, Fotos und Videomaterial enthalten kann. Das Material dient als Grundlage für eine viertelstündige Performance. Auch der MA-Studiengang schließt mit einer eigenen Bühnenkreation sowie einer schriftlichen Master-Thesis ab. Welche Auswirkungen hat die mit der Bologna-Reform eingeleitete Akademisierung nun auf die ursprüngliche Scuola Teatro Dimitri? Zur Beantwortung dieser Frage greife ich auf ein im April 2007 vom Master Campus Schweiz, dem Verbund der Schweizer Theaterhochschulen von Bern, Zürich, Lausanne und Verscio formuliertes Rahmenkonzept zurück. Darin wird als »Qualifikationsschwerpunkt« des Master-Studiengangs ein »wissenschaftliches Profil« verlangt. Es führt zu einer Master-Thesis, »die stärker künstlerisch oder wissenschaftlich ausgerichtet sein kann, in jedem Fall aber die beiden Ausrichtungen miteinander verbindet« (Hochschule der Künste Bern 2007: 7). Der Beurteilungsbogen für die Master-Thesis, den Verscio seit 2010 im Masterstudiengang anwendet, enthält die Rubrik »Wissenschaftliche Arbeitsmethoden«. Als Bewertungskriterien sind »Kompetenzen« angegeben, wie die Fähigkeiten, »eine klare, thematisch relevante Fragestellung zu formulieren«, »Argumente fachlich und logisch zu begründen«, »angemessene Methoden der Untersuchung zu wählen«, »Literatur erkennbar und inhaltlich richtig zu verarbeiten«, »die Fachterminologie inhaltlich richtig, präzise zu verwenden« – Anforderungen an methodisch-wissenschaftliches Arbeiten werden in dem Kriterienkatalog evident (Scuola Teatro Dimitri o.J.: 2f.).

1. A ls W issenschaf tler an der A ccademia Te atro D imitri Ein Jahr vorher, 2009, bin ich als Geisteswissenschaftler (MLitt, Dr. phil. ­habil.) mit dem Theorieunterricht im Masterstudiengang betraut worden. Vor dem Universitätsstudium in Literaturwissenschaft und Philosophie hatte ich die Schauspielklasse an der Schauspiel-Akademie Zürich belegt, die Vorläuferinstitution der heutigen Theaterabteilung an der Hochschule der Künste Zürich.

Theater denken

Als ich dem Schulgründer Dimitri begegne, damals 76 Jahre alt, und mich als der neue Theorielehrer im Masterstudiengang vorstelle, reagiert er spontan mit einer pantomimischen Parodie über den Repräsentanten der Fußnotenschreiber: Er zieht ein imaginäres Buch aus dem Regal, schlägt es auf, liest, geht via Fußnote zum eigenen Fuß, um die Fußnote mit einer Fußbewegung wieder spielerisch zum Kopf zu befördern… Fußnoten sind in der Tat symptomatisch für die unterschiedlichen Arbeitsweisen in Wissenschaft und Kunst. Dimitri dient die Fußnote allenfalls als Idee für einen Sketch, ich brauche sie u.a., um auf Publikationen hinzuweisen, aus denen ich zitiere oder auf die ich mich beziehe. Ein Kennzeichen wissenschaftlicher Texte ist ihr hoher Grad an Intertextualität; Fußnoten verbinden meinen Text mit bereits veröffentlichten Texten. Wenn jedoch Fußnoten mehr Platz einnehmen als der Haupttext, kommt es zu einem augenfälligen Missverhältnis zwischen der Aussage des Autors und den Belegen für diese Aussage. So entsteht mitunter der Eindruck, der Autor wolle mit einer Fülle von Fußnoten v.a. seine Belesenheit demonstrieren. Abb. 2: Beispiel für ein erkennbares Ungleichgewicht zwischen Haupttext und Fußnoten1

1 | Es handelt sich hierbei um eine literaturwissenschaftliche Dissertation der 1970er Jahre (Pross 1975: 4f.).

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Die Fußnote ist Ausdruck meiner Forschungsabsicht als Geisteswissenschaftler: Ich möchte etwas über die Arbeit anderer herausfinden. Durch die Fußnoten belege ich, dass ich den Forschungsstand zu dem betreffenden Untersuchungsgebiet aufgearbeitet habe, um darauf bezogen meine Hypothese zu formulieren. Demgegenüber möchte ein forschender Künstler primär die eigene Arbeitsweise reflektieren. Seine Forschungsfragen gründen in der Praxis, nicht im Studium von Sekundärliteratur und einem daraus erschlossenen Forschungsstand. Die künstlerische Forschung kann jedoch wie die wissenschaftliche Forschung »Wissen über etwas [...] erzeugen, das vorher noch niemand gewusst hat« (Groebner 2012: 21). Eingedenk des Leitspruchs, den ich als Student in Oxford verinnerlicht habe, das Grundprinzip des wissenschaftlichen Arbeitens laute ›to compare and contrast‹, beabsichtigte ich im Theorieunterricht das Vergleichen zu fördern und die Studierenden anzuhalten, ihre eigenen Positionen im Abgleich mit anderen zu bestimmen. Zunächst bin ich als strenger Akademiker aufgetreten, im Bestreben bei den MA-Arbeiten im Sinne des Kriterienkatalogs einen gewissen Anspruch an Wissenschaftlichkeit zu gewährleisten. Doch waren die Arbeiten weit davon entfernt, den Kriterien zu genügen. Das ist kaum verwunderlich, zumal die an der Accademia Studierenden in den wenigsten Fällen eine Universität besucht haben und mit den Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens nicht vertraut sind. Als Literaturwissenschaftler hatte ich diese Techniken schließlich in unzähligen Proseminar- und Seminararbeiten eingeübt, einem jahrelangen Ausstoß wissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten bis hin zur Habilitationsschrift. Wie sich zeigte, lag hierin das eigentliche Problem. Die wissenschaftliche Fachsprache, die ich mir in diesem langwierigen Prozess angeeignet hatte, unterscheidet sich so stark von der praxisbezogenen Ausdrucksweise eines Theaterschaffenden, dass sie die Kommunikation verhinderte. Für die Praktiker war meine Fachsprache eine Fremdsprache. Wenn ich einem Schauspieler Begriffe wie ›Theatralität‹ oder ›Performativität‹ klarzumachen versuche, könnte ich ebenso gut einem Vogel Ornithologie erklären. Was hilft ihm das beim Fliegen? Kurz, meine Aussagen wurden mit großer Skepsis aufgenommen. Aus der Sicht der Studierenden war ich ein Theoretiker, der aus mangelnder Praxiserfahrung gar nicht imstande war, ihre Theaterarbeit zu verstehen. Nach ihrem Verständnis wird Theorie von Lesen und Schreiben bestimmt, ihre Arbeit hingegen von der Beobachtung und vom Spiel. Es liegt nicht in ihrem Interesse, Dinge, die bei der täglichen Bühnenarbeit für sie selbstverständlich sind, mit komplizierten Fremdwörtern zu etikettieren. Umgekehrt verwenden sie mit Vorliebe vage Begriffe wie Intuition, Inspiration, Imagination gerade dann, wenn ich auf die Begründung ihrer Meinungen poche. Während meines Unterrichts überprüften die Studierenden die Richtigkeit meiner Aussagen im Internet oder sie standen auf und entfernten sich von ihren Plätzen, um sich

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Bewegung zu verschaffen, weil ihnen das lange Sitzen unbehaglich war. Ich geriet bald in die Defensive: Was haben Sie eigentlich als Wissenschaftler hier zu suchen? Diesem Vorwurf hat der universitäre Wissenschaftsbetrieb freilich zugearbeitet. Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft oder Theaterwissenschaft analysieren und interpretieren die Produkte kreativer Praxis. Dieser Logik entspricht eine klare Trennung zwischen der schöpferischen Kunst auf der einen und der analytischen Wissenschaft auf der anderen Seite, zwischen den Kulturen des Primären und des Sekundären. Wer beide Seiten verbindet, diskreditiert sich; ein promovierter Theaterwissenschaftler, der an der Universität tätig und zugleich Schauspieler ist, begeht fast einen Tabubruch. Wissenschaftliche Glaubwürdigkeit wird von Universitätsprofessoren geradezu durch Talentlosigkeit im Bereich jener künstlerischen Praxis verbürgt, die sie beruflich beobachten. Kunst und Wissenschaft werden als einander entgegengesetzte Begriffe verstanden. Wo ich als Wissenschaftler Objektivität und Berechenbarkeit einfordere, halten die Künstler mit dem Ruf nach Subjektivität und Spontanität dagegen. Wie die Doppelseite in einer literaturwissenschaftlichen Dissertation (Abb. 2) veranschaulicht, ist der Autor bemüht, seine Stimme in den Chor der Wissenschaft einzureihen. Der Autor, dessen Name auf dem Buchdeckel einer wissenschaftlichen Studie erscheint, ist gleichsam ein Chorsprecher. Es geht darum, andere Stimmen als Garanten für den Wert der eigenen Stimme zu Gehör zu bringen. Man könnte sogar behaupten, die Wissenschaft sei eine Anleitung zur intellektuellen Abhängigkeit, indem der Autor seine Kernaussagen anderen, renommierteren Autoren, etablierten Geistesgrößen, in den Mund legt. Zugespitzt formuliert: Die Geisteswissenschaft hat sich im Widerspruch zu Kants Definition der Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (vgl. Kant 1784: 481) im Sinne des Gegenteils, einer Anti-Aufklärung entwickelt, als selbst verschuldeter Eingang in die Unmündigkeit. Die Wissenschaftssprache, die ich als Geisteswissenschaftler gelernt hatte, kennt drei Stilverbote (vgl. Weinrich in Auer/Baßler 2007: 17-20 u. Kretzenbacher 1992: 8): • Das Ich-Verbot. Ich soll schreiben »man«, »wir«, »es scheint« oder »wie nachgewiesen wurde«, aber nicht »ich habe entdeckt«. Anders gesagt, es spricht ein Chor, wie das Literaturverzeichnis am Ende einer wissenschaftlichen Publikation belegt, in dem die einzelnen Stimmen aufgeführt werden. • Das Metaphern-Verbot. Ich soll präzise Termini verwenden und den im alltäglichen Sprachgebrauch unverzichtbaren bildlichen Ausdruck zugunsten der eigentlichen Bedeutung vermeiden.

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• Das Erzählverbot. Ich soll meine Forschungsergebnisse vorlegen und begründen, aber nicht erzählen, wie ich dazu gekommen bin. Die MA-Studierenden wollen hingegen für sich selbst sprechen. Sie wollen sich nicht in den Chor des geltenden Kunstverständnisses einreihen, sondern sich im Gegenteil davon abgrenzen und die eigene Stimme durchsetzen. Was in meiner Sprache Verbote sind, sind in ihrer Gebote: • Sage »ich«, zeige deine Individualität und Originalität, beziehe einen Standpunkt, erhebe deine Stimme. Diese Haltung entspricht bezeichnenderweise dem Schauspieler in der Aufführungspraxis der griechischen Tragödie als hypokrités, als »Antwortender«: Die Einzelstimme antwortet dem Kollektiv (Chor) und entwickelt aus der Gegenrede Selbstständigkeit. • Benutze eine poetische, bildhafte Sprache, die Raum für Fantasie lässt. • Zeige nicht nur, was du gefunden hast, sondern erzähle, wie du dazu gekommen bist.

2. The aterl abor atorium Es stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit der Stilverbote und -gebote in einer gemeinsamen Sprache. Kann die gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Trennung der Diskurse der Wissenschaft und Kunst rückgängig gemacht werden? Aus angehenden Schauspielern, so viel steht fest, lassen sich in drei bis vier Semestern keine Wissenschaftler machen, zu vermitteln ist allenfalls der präzise Gebrauch von Begriffen. Ich musste mich vielmehr fragen: Was kann ich als Wissenschaftler von den Theaterpraktikern lernen? Dabei leitete mich eine Bemerkung von Ludwig Wittgenstein aus dem Jahr 1940. Darin stellt Wittgenstein die positivistische Position in Frage, wonach wissenschaftliche Erkenntnis (im Sinne der Naturwissenschaften) die einzig mögliche Form der Erkenntnis sei: »Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da, sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen. Daß diese sie etwas zu lehren haben; kommt ihnen nicht in den Sinn.« (Wittgenstein 1992: 501; kursiv im Original) Durch Gebrauch der Wörter »belehren« und »erfreuen« bezieht sich Wittgenstein offenkundig auf die Officia oratoris, die »Pflicht des Redners« in der klassischen Rhetorik. Demnach verfolgt der Redner verschiedene Ziele, zu ›belehren‹ (docere) und zu ›erfreuen‹ (delectare) (vgl. Cicero 1981: 2. Buch, 115-117).2 Der Philosoph stellt die konven2 | Die Rezeptionsgeschichte von Ciceros Rhetorik hat die Wirkungsfunktionen der Rede auf die Formel docere-delectare-movere verkürzt: belehren, erfreuen, bewegen (vgl. Lausberg 1971: 154f.).

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tionelle Zuordnung in Frage, wonach allein die Wissenschaft für das Docere zuständig sei, die Kunst für das Delectare. Wittgensteins Bemerkung klingt wie ein Echo auf Friedrich Nietzsches rund 60 Jahre zuvor erschienene Schrift »Die fröhliche Wissenschaft«, das Programm einer Wissenschaft des Docere und Delectare: »Die liebliche Bestie Mensch«, schreibt Nietzsche, »verliert jedesmal, wie es scheint, die gute Laune, wenn sie gut denkt; sie wird ›ernst‹! Und ›wo Lachen und Fröhlichkeit ist, da taugt das Denken Nichts‹: – so lautet das Vorurtheil dieser ernsten Bestie gegen alle ›fröhliche Wissenschaft‹. – Wohlan! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist!« (Nietzsche 1988: 555) Neben docere und delectare wird in der Rhetorik noch eine dritte Wirkungsfunktion der Rede unterschieden, die Wittgenstein nicht zitiert, nämlich ­movere (›bewegen‹, ›erschüttern‹), die Emotionalisierung der Zuhörer. Von den drei Redezielen entspricht dieses am ehesten der Arbeit des Schauspielers, da es die Komplizenschaft des Publikums voraussetzt. Der Akteur versucht das Publikum zu affizieren. Wenn die Sprache des Physical Theatre im Wesentlichen eine non-verbale Körpersprache ist, so lässt sich die Wirkungsabsicht des rhetorischen Movere formelhaft verkürzen: Motion wird zu Emotion. Sollen im Sinne der Rhetorik im Theorieunterricht nicht nur der Intellekt angesprochen, sondern zugleich Emotionen geweckt werden, muss meine Didaktik dem Rechnung tragen. Damit die Kommunikation gelingt, braucht es neben dem Docere Raum für das Delectare und insbesondere für das Movere. Den Unterricht auf das Docere zu beschränken, hieße ein Hinunterreden von der Warte des Mehrwissenden auf die tiefere Position des Wenigerwissenden. Aber so ist es nicht, denn was ich an theoretischem Wissen voraus habe, haben mir die Zuhörenden an praktischer Erfahrung voraus. Es geht um die produktive Verständigung zwischen Gesprächsteilnehmern mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Kompetenzen, ausgehend davon, dass auch Künstler, wie sich Wittgenstein ausdrückt, »etwas zu lehren haben«, d.h. auf ihre Weise Erkenntnisse vermitteln. Ich kam zu dem Schluss, dass ich neue Kriterien für meine Didaktik entwickeln musste, ehe ich genaue Kriterien für die Master-Thesis festlegen konnte. Mit Blick auf die Dimitri-Episode galt es zunächst, das Ansehen des Fußnotenschreibers zu verbessern und als Theoretiker an der ›Clown-Schule‹ möglichst parodieresistent aufzutreten. Wie leicht man als Akademiker in einem Theaterumfeld zu einer unfreiwillig komischen Figur werden kann, zeigt das Beispiel des Dottore aus der Commedia dell’arte, der Karikatur eines Gelehrten: Statt die Dinge beim Namen zu nennen, verliert sich Dottore in seinen Juristenjargon und macht sich als Bewohner des Elfenbeinturms zu einer lächerlichen Figur (vgl. Weihe 2004: 217-250). Mein Hauptanliegen war, eine Unterrichtsform zu finden, in der ich Theorie und Praxis verbinden konnte. Die Schwierigkeit, die bei der Akademisierung einer Theaterschule überbrückt werden muss, ist evident. Schauspieler sehen

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ihre Leistung im Spiel, in der Aufführung; demgegenüber sehen Theoretiker ihre Leistung in der Reflexion, im Strukturieren und Abstrahieren, vor allem in Form von wissenschaftlichen Publikationen. In der Masterarbeit im Studiengang Physical Theatre spiegelt sich die dem europäischen Theater inhärente Grundspannung zwischen Theater als Literatur und Theater als Aufführung. Der Theorieunterricht hat es beim ›Drama‹ mit einem ambivalenten Begriff zu tun: Wir verstehen darunter eine literarische Gattung, eine Textform, doch das ursprüngliche griechische Wort bedeutet ›Handlung‹ oder ›Geschehen‹, nicht als Handlung eines Theaterstücks verstanden, sondern als Verhalten von Menschen. Diese Doppeldeutigkeit ist ebenso dem englischen Wort play eingeschrieben. Es bezeichnet das ›Spiel‹ einerseits als etwas Geschriebenes und andererseits als etwas Gespieltes. Wenn wir den Begriff ›Theater‹ im ursprünglichen Wortsinn als ›Zuschauerraum‹ verstehen, dann zeigt sich das Gemeinsame von Theater und Theorie. Das griechische Wort théatron ist vom Verb theásthai – ›(zu-)schauen‹ oder ›betrachten‹ – abgeleitet. Das Stammwort théa bedeutet ›die Schau‹ oder ›das Anschauen‹. Theorie ist ebenfalls mit Anschauung verbunden: Theoroi hießen in der Antike Delegierte einer griechischen Polis, deren Aufgabe es war, die in anderen Städten im Rahmen der religiösen Festspiele stattfindenden Theateraufführungen zu sehen und in ihrem Heimatort darüber zu berichten. Ihre Funktion lässt sich mit der eines modernen Theaterkritikers vergleichen. So verstanden war Theorie Beschreibung und Reflexion einer ästhetischen Erfahrung. Noch im 17. Jahrhundert wird das lateinische theatrum als ›Schauplatz‹ übersetzt, allgemein verstanden als Ort, an dem etwas gezeigt wird. Diese Begriffsbestimmung traf genauso auf Stätten für wissenschaftliche Demonstrationen zu. Nur unter diesem Aspekt ist »L’idea del Theatro« (1550) des italienischen Philosophen Giulio Camillo (1480-1544) zu verstehen, das »Theatrum amplissimum« (1565) des flämischen Kunstwissenschaftlers Samuel Quiccheberg (1529-1567) oder das »Theatrum naturae et artis« (1675) von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Bei diesen Konzeptionen handelt es sich um erkenntnistheoretische Realientheater; Schauspieler treten darin nicht auf.3 Im Laufe des 17. Jahrhunderts wird theatrum unter dem Einfluss des französischen 3 | Zu Giulio Camillo, siehe Yates 1994: 123-149; zu Camillo, Quiccheberg und Leibniz, vgl. Bredekamp 2004. Bredekamp und andere Autoren geben den Titel von Quicchebergs Traktat »Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi [etc.]« verkürzt wieder. Vgl. außerdem Blair 1997: 153-179. Zu ergänzen wäre, dass die Theatrum-Metapher in ganz verschiedenen Bereichen Anwendung fand und mit ihr die Vorstellung dieser Bereiche als Theater verknüpft ist; auch mit einer gewissen Ausrichtung auf das Sammeln und Klassifizieren von Aus- und Dargestelltem (vgl. z.B. Theatrum anatomicum, Theatrum historicum, Theatrum botanicum). Vgl. »Voraussetzung für die Verwendung der Meta-

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théâtre eingedeutscht und erhält die spezifische Bedeutung eines Gebäudes für Schauspielaufführungen (vgl. Rusterholz 1970: 15). Auf die frühneuzeitlichen und barocken Vorstellungen wissenschaftlicher ›Theater‹ zurückgreifend, können wir die Idee eines Theatrum scientiae reaktivieren, als Raum zum Schauen, eine Theater- und Wissenschaftsbühne zugleich, die begriffliche Arbeit mit Anschauung und sinnlicher Erfahrung verbindet – gleichsam ein Wissen schaffendes Theater (vgl. Schramm/Schwarte/Lazardzig 2003).4 Als Motto für dieses Theater passt Wittgensteins Satz aus seinen »Philosophischen Untersuchungen«: »Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!« (Wittgenstein 1984: 277) Ein so konzipiertes didaktisches Theater vermittelt nicht nur Wissen über das Theater, es stellt das Wissen zugleich dar. Die Bühne wird zu einem wissenschaftlich-künstlerischen Laboratorium, im Wortsinn eine Arbeitsstätte für Versuche. In diesem Laboratorium arbeiten Theoretiker und Praktiker, forschende Wissenschaftler und Künstler zusammen. Was zählt, ist die Erweiterung des Buchwissens um die Dimensionen des Raums, des Körpers und der Bewegung. Es ist ein Raum, in dem Wissen nicht nur begrifflich dargelegt, sondern auch dargestellt wird. Bezeichnenderweise ist der Begriff des Laboratoriums im 20. Jahrhundert nicht von Theoretikern, sondern von Theaterpraktikern verwendet worden. So nannte einer der einflussreichsten experimentellen Theaterregisseure der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Jerzy Grotowski (1933-1999), seine theatrale Versuchsstätte in Opole schlicht »Teatr Laboratorium«. Was können Schauspieler und Wissenschaftler voneinander lernen? Die Bedingung der Möglichkeit, voneinander zu lernen, ist dann gegeben, wenn beiden Seiten ihr primäres Ausdrucksmittel zugebilligt wird, das heißt zum einen Begriffe und Denkmodelle, zum anderen körperlicher Ausdruck und das In-Szene-Setzen als Mittel der Veranschaulichung und Klärung einer Aussage oder eines Vorgangs. Im Theaterlaboratorium sind die Stilverbote der Wissenschaftssprache aufgehoben, das Ich-, Metaphern- und Erzählverbot. Denn das erste Ziel des Labors ist, die Sprache nicht mehr aufzuteilen in die der Wissenschaft und die der Kunst, sondern in einem gemeinsamen Wortfeld zu operieren, das einen Dialog ermöglicht. Wie ich mir ein solches Labor vorstelle, zeige ich im Folgenden anhand meines Theatermodells und seiner Anwendung.

pher ist die Annahme einer Scheinhaftigkeit der Welt. Damit wird Theatrum zur globalen Metapher für eine Welt aus Schein.« (Weber 2008: 339) 4 | Die »Spurensuche«, schreibt Schramm in der Einleitung, »richtet sich ganz auf Interferenzen von Kunst und Wissenschaft« in einem »Theatrum scientiarum« (ebd.: XIII).

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3. I nszenierte Theorie Das Laboratorium soll der Theatertheorie eine räumliche Dimension hinzufügen, um den Körper als Erkenntnismittel einzubeziehen. Zu diesem Zweck habe ich ein Theatermodell entwickelt, das sich dazu eignet, inszeniert zu werden.5 Ich bezeichne es als diachronisch-funktionales Theatermodell, da es Theatergeschichte und -theorie verbindet: ›Diachronisch‹, weil es die historischen Veränderungen des europäischen Theaters in seiner nunmehr 2.500 Jahre überspannenden Geschichte beobachtet; ›funktional‹, weil es jede Theaterform als spezifisches Zusammenspiel einer Anzahl historisch ausdifferenzierter Funktionen versteht.6 Abb. 3: Südthüringisches Staatstheater Meiningen, Großes Haus. Erbaut 1908/09 vom Architekten Karl Behlert

Foto: Erhard Driesel. 5 | Für die kritische Auseinandersetzung mit dem Modell danke ich Sarah Lerch, die in ihrer Master-Thesis das Modell auf den Produktionsprozess ihrer Bühnenkreation Blocage angewendet hat (Scuola Teatro Dimitri, April 2013). 6 | Das Theatermodell umfasst die vier unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs ›Theater‹: das Theatergebäude (als Gesamtbegriff für Zuschauerraum und Bühnenraum sowie die Funktionsräume), die Tätigkeit des Theaterspielens, das Theater als Institution (der ›Theaterapparat‹, d.h. die Einrichtungen, Strukturen und Systeme, die eine Institutionalisierung dieser Tätigkeit ermöglichen), das Theater als Kunstform; siehe dazu auch Sandkühler 1990: Band 4, 580.

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Das Modell ist von der Fassade des Meininger Theaters inspiriert. Das heißt aber nicht, dass ich das Meininger Theater selbst als Modellfall betrachte. Der Vier-Sparten-Betrieb mit Schauspiel, Musiktheater, Ballett und Puppentheater ist allerdings wegen der sogenannten ›Meininger Prinzipien‹, die man als Gründungsakte des ›Regietheaters‹ bezeichnen kann, von historischer Bedeutung (vgl. Erck 2006). Es ist die klare Struktur der neoklassizistischen Fassade des Großen Hauses, die mich angeregt hat, sowie die Tatsache, dass dieser Baustil die antike griechische Architektur zitiert und damit die Epoche, in der die Geschichte des institutionalisierten Theaters in Europa beginnt. Abb. 4: Diachronisch-funktionales Theatermodell

Legende und Erläuterungen Produktionsstufen 1 bis 3: 1. TEXT. Der Text bezeichnet die Ebene A, das Verfassen, die Übersetzung und die Bearbeitung eines Theatertextes, traditionell als Drama, die theaterspezifische Literaturgattung. 2. INSZENIERUNG. Die Inszenierung bezeichnet die Ebene B-C-D und meint den Prozess des In-Szene-Setzens eines Textes, nicht das Ergebnis dieses Prozesses. 3. AUFFÜHRUNG. Die Aufführung bezeichnet die Ebene E-F-G.

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Funktionen A bis H: A: AUTOR/-IN. Der Autor, dessen Text inszeniert wird, ist traditionell ein Dramatiker. Allerdings muss der Text nicht zwingend ein Drama sein und folglich der Autor kein Dramatiker. B: REGISSEUR/-IN. Der/die Regisseur/-in trägt die Gesamtverantwortung für die Inszenierung, bei der weitere Spezialisten zusammenarbeiten: B1: BÜHNENBILDNER/-IN B2: KOSTÜM- UND MASKENBILDNER/-IN B3: BÜHNENTECHNIKER Anmerkung: Das Lichtdesign ordne ich der Funktion B zu. Die Musik kann ein Spezialist B4, der Autor A oder der Dramaturg D verantworten. C: ROLLE. Die Rolle meint die dramatis persona, die nur als literarische Fiktion im Medium des Textes existiert, solange sie nicht – durch einen Schauspieler oder eine Schauspielerin verkörpert – als F auf der Bühne in Erscheinung tritt. E ist freilich auch auf der 2. Produktionsstufe präsent, aber dort steht noch die zu probende Rolle im Vordergrund. Der Vorgang der Inszenierung bedeutet hier das Einüben der Rollen unter Anleitung von B. D: DRAMATURG/-IN. Der Dramaturg oder die Dramaturgin ist der/die meist wissenschaftlich-akademisch geschulte Berater/-in des Regisseurs und vermittelt zwischen den Produktionsstufen. Die relativ prominente Stellung von D im Modell trägt der besonderen Bedeutung des Dramaturgen im deutschen Theater Rechnung. E: SCHAUSPIELER/-IN. Der Schauspieler bzw. die Schauspielerin hat einerseits durch direkten Publikumskontakt die Kontrolle über die Aufführung, andererseits stehen sie beim Rollenstudium und bei den Proben im Dienst des Autors und des Regisseurs. F: FIGUR. Das Modell unterscheidet zwischen der Rolle und der Figur. Figur heißt die durch den Schauspieler oder die Schauspielerin verkörperte Rolle, in der er oder sie vor dem Publikum erscheint. Im Unterschied zur dramatis persona wäre die Figur somit als scenae figura zu bezeichnen. Die Figur muss nicht unbedingt durch Rollenstudium entstanden sein, es kann sich dabei auch um eine Eigenschöpfung des Schauspielers oder der Schauspielerin handeln. G: PUBLIKUM. Von zentraler Bedeutung ist die räumliche Anordnung von Bühnen- und Zuschauerraum, im Modell dargestellt durch die Achse zwischen F und G. Diese Achse ist üblicherweise durch die Bühnenrampe klar getrennt. H: SCHAUSPIELDIREKTOR/-IN. Das Modell bezieht sich auf den Bereich Schauspiel. Im Hinblick auf ein typisches Mehrspartentheater wie das

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Meininger Theater bezieht es sich somit nur auf einen Teilbereich. Der/ die Schauspieldirektor/-in gestaltet zusammen mit dem Intendanten oder der Intendantin (künstlerische Leitung des Theaters) und den beteiligten Künstlern und Künstlerinnen den Spielplan. Im Modell beinhaltet die Funktion H auch die Verwaltung des Theaterapparats und das Management der Strukturen, die den Produktionsablauf ermöglichen. Soziale Systeme I-III: 7 I: RELIGION. Wenn auch die Religion im heutigen Theater kaum noch eine Rolle spielt, ist sie als tragende Säule des Theaters historisch von großer Bedeutung. In der griechischen Antike wurde das Theater aus religiösen Gründen institutionalisiert und am Ende der Antike vom Christentum wiederum aus religiösen Gründen abgeschafft. – Das Medium der Religion ist der Glaube.8 II: POLITIK. Die zweite Säule spielt immer wieder dort eine gewichtige Rolle, wo das Theater für politische Zwecke vereinnahmt wird, entweder von den Theaterschaffenden selbst oder vom Staat. Er kann das Theater als Propagandainstrument verwenden oder versuchen, es zu unterdrücken, falls er darin eine Bedrohung seiner Macht sieht. – Das Medium der Politik ist die Macht. III: WIRTSCHAFT. Die Relevanz finanzieller Mittel für den Theaterbetrieb ist zu allen Zeiten gegeben und hat u.a. grundlegende ästhetische Auswirkungen, je nachdem, ob das Theater als kommerzielles Unternehmen geführt wird, staatlich subventioniert ist oder sich anders finanziert. – Das Medium der Wirtschaft ist das Geld.

Das Modell und seine Anwendung Das diachronisch-funktionale Theatermodell ist als heuristisches Instrument zur vergleichenden Analyse historischer und zeitgenössischer Theaterformen und -konzeptionen gedacht. Es betont das Zusammenwirken verschiedener Funktionen im kollektiven schöpferischen Prozess der Theateraufführung und ihrer Entstehung. Das Modell geht von der These aus, dass solche Funktionen als historische Konstanten benannt werden können. Die schematische Darstellung kann auf ein Papier oder großräumig auf den Boden gezeichnet 7 | Das Theater unterliegt gesellschaftlichen Einflüssen und ruft soziale Wirkungen hervor. Das Modell, das mit drei sozialen Systemen als Säulen des Theaters operiert, orientiert sich an der Systemtheorie von Niklas Luhmann, siehe Luhmann 1987. 8 | Ich stütze mich hier auf Luhmanns Theorie »symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien«, vgl. Luhmann 1974: Band 2, 170-192 sowie Luhmann 1998, 316-395.

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werden. Nun lassen sich anhand des Schemas so unterschiedliche Formen wie beispielsweise ›Griechische Tragödie‹, ›Commedia dell’arte‹, ›Regietheater‹, ›postdramatisches Theater‹ oder ›Physical Theatre‹ untersuchen. Wie verhält es sich in diesen Fällen mit den Produktionsstufen, den Funktionen und den sozialen Systemen? ›Inszenierte Theorie‹ meint, dass Schauspielschüler die verschiedenen Positionen des Schemas besetzen (1-3, A-H, I-III). Welche Beziehung besteht im jeweiligen Fall zwischen Person und Funktion? Kann eine Person mehrere Funktionen übernehmen? Sind gewisse Funktionen von Fall zu Fall irrelevant? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Betrachten wir die genannten Beispiele. Ein wesentliches Element bei der Aufführung griechischer Tragödien war, dass nur drei Schauspieler durch Maskenwechsel ein Vielfaches an Rollen spielen konnten und dass der Autor gleichzeitig als Schauspieler und Spielleiter fungierte. In der Commedia dell’arte wurde die Funktion des Regisseurs von den Schauspielern übernommen, ebenso war die Autoren-Funktion meist die kollektive Leistung des Ensembles. Als Spielvorlage diente nur ein Szenarium mit knappen Inhaltsangaben, kein Drama mit ausformulierten Dialogen. Kennzeichnend für das Regietheater ist die Spannung auf der Achse A-B-E, insbesondere das Verhältnis von B zu A beziehungsweise von 2 (Inszenierung) zu 1 (Text). Ein Begriff wie ›Werktreue‹ ist in diesem Spannungsverhältnis zu sehen, das freilich nicht losgelöst von den anderen Korrelationen betrachtet werden kann, insbesondere die Verbindung zum Publikum. Im postdramatischen Theater wird die dominante Stellung des Autors A (Dramatikers) im literarischen Theater verabschiedet. Daraus ergibt sich eine neue Konfiguration, v.a. auf der Achse A-C-F. Das Physical Theatre bricht radikal mit der Hierarchie A-B-E und überträgt die Funktionen A und B auf den schöpferischen Schauspieler oder das Schauspielensemble (Cre-attore, devised theatre). Es gibt kein traditionelles Rollenspiel mehr, der Schauspieler oder die Schauspielerin kreieren ihre Figur selbst. Der Akteur ›dient‹ nicht mehr einem Regisseur und dieser ›dient‹ nicht mehr einem Autor. Das gezeichnete Schema wird zu einem Spielfeld, in dem die Studierenden verschiedene Konfigurationen erproben und als Stellungsspiel nachvollziehen können. Viele Begriffe aus der Theatertheorie lassen sich so als Positionen und Relationen innerhalb des Modells veranschaulichen, z.B. der Begriff ›Verfremdungseffekt‹, die Idee der ›vierten Wand‹ oder das Konzept des ›Als ob‹. In dem Theaterlaboratorium wird das Theoriegebäude betreten und belebt. Die Studierenden agieren gewissermaßen als Denkfiguren in einem Theoriespiel. In Abwandlung von Hegels Umschreibung der Theateraufführung als »Exekution des Dramas« (vgl. Hegel 1996: 504-506) – im lateinischen Wortsinn der ›Ausführung‹ – könnten wir hier von einer ›Exekution der Theorie‹ sprechen. Dabei erhebt das Modell, wenn auch am Organigramm des deutschen Stadttheaterbetriebs orientiert, den Anspruch als Standard zu fungieren. Die

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Besonderheit einer bestimmten Theaterform zeigt sich, so meine These, in spezifischen Abweichungen von dieser Standardkonfiguration. So wird Theatergeschichte und -theorie als Folge sich verändernder Konfigurationen einer konstanten Menge von Funktionen sinnlich erfahrbar.

4. D arstellende W issenschaf t Die spielerische Anwendung des Modells verwandelt den Hörsaal in ein Laboratorium, in dem Theatertheorie inszeniert und dadurch räumlich veranschaulicht werden kann. Der Raum und die körperliche Präsenz der Studierenden sind somit konstituierende Elemente des Unterrichts. Dabei zeigen die erwähnten Beispiele von wissenschaftlichen Theatern in der Renaissance und im Barock einerseits und die kreativen Theaterlaboratorien im 20. Jahrhundert andererseits, dass die Idee, Wissen mit theatralen Darstellungsweisen zu vermitteln, keineswegs neu ist. Ich möchte auf die eingangs problematisierte Trennung der Diskurse der Wissenschaft und Kunst zurückkommen und das »2. Stilverbot der Wissenschaftssprache« wieder aufgreifen, das Metaphern-Verbot. Die Absicht, Theater als Schauplatz von Wissenschaft zu reaktivieren, als Ort der Visualisierung von Begriffen, findet ihre sprachliche Entsprechung in der Metapher als bildlicher Ausdruck. Die aktuellen Bemühungen um einen Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst erinnern an das Projekt der deutschen Frühromantik einer ›Poetisierung der Wissenschaft‹. Friedrich von Hardenberg (1772-1801), besser bekannt unter seinem Dichternamen Novalis, hat diesen Gedanken aus seiner Doppelperspektive des Naturwissenschaftlers und Schriftstellers entwickelt. Seit seinem 23sten Lebensjahr beschäftigt sich von Hardenberg intensiv mit Fichtes »Wissenschaftslehre« und anderen philosophischen Schriften. Seine Lektüre reflektiert er fortlaufend in Studienheften. In seinen Aufzeichnungen zu Kants »Kritik der reinen Vernunft« findet sich folgende Notiz: »philosophiren ist soviel, als wissenschaften, Gedanken durchdenken, Erkenntnisse erkennen – die Wissenschaften wissenschaftlich und poetisch behandeln« (Novalis 1981: 390). Von Hardenberg hat das Wort »wissenschaften« durch Unterstreichung hervorgehoben und klein geschrieben, es soll als Verb gelesen werden. Fast homophon mit ›Wissen schaffen‹ betont die Neubildung den Prozess, als handle es sich beim Wissen um ein künstlerisches Werk. Ab 1797 betreibt von Hardenberg neben seiner beruflichen Tätigkeit im Direktorium einer Saline in Freiberg ein intensives Studium der Naturwissenschaften. Am 24. Februar 1798 schreibt er in einem Brief an August Wilhelm Schlegel, den Shakespeare-Übersetzer und Bruder des Philosophen Friedrich Schlegel: »Künftig treib ich nichts, als Poesie – die Wissenschaften müssen

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alle poetisiert werden – von dieser realen, wissenschaftlichen Poesie hoff ich recht viel mit Ihnen zu reden.« (Novalis 1978: 662) Wir wissen nicht, was zwischen den beiden geredet wurde; im Sommer 1800, weniger als ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlicht von Hardenberg unter dem Namen Novalis sein berühmtestes Gedicht, die Hymnen an die Nacht. Als Reaktion auf den Tod seiner Verlobten Sophie von Kühn entstanden, lassen sich die »Hymnen« allerdings kaum als ›wissenschaftliche Poesie‹ bezeichnen, es sei denn, man läse Formulierungen wie »abwärts wend ich mich« oder »in eine tiefe Gruft versenkt« vor dem Hintergrund seiner Berufstätigkeit in der Salzgrube als konkreten Vergleich zur Arbeit unter Tage. In dieser biographischen Spanne zwischen Naturwissenschaft und Dichtung entsteht der Gedanke einer ›Poetisierung der Wissenschaften‹. Vor seinem frühen Tod mit 28 Jahren hat Novalis sein Konzept nicht weiter ausgeführt, es bleibt ein Stichwort. Wie ist es zu verstehen? Was Novalis sicher nicht meint, ist ein Besingen von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Gedichtform. ›Poetisieren‹ ist vielmehr selbst ein Erkenntnisprozess: Die poetische Sprache, im Sinne eines Sprechens in übertragenen Bedeutungen, ist der Wechsel vom Begriff zum Bild und eröffnet dadurch die Möglichkeit, die Dinge nicht nur zu benennen, sondern auch zu sehen. So verstanden, bestünde die Aufgabe der Dichtung darin, mittels der Sprache über die Grenze der Sprache hinauszusehen und »auf das hinzuweisen, was nicht in Worte gefasst werden kann« – die »Übersetzung von Wortlosigkeit in Worte« mittels einer bildlichen Sprache der Metaphern, Vergleiche, Gleichnisse und Analogien (Simic 2007: 58). Die dichterische Sprache erweckt Vorstellungsbilder, welche eine andere Art des Verstehens hervorbringen. Novalis’ Programm der ›Poetisierung‹ ist nach meinem Verständnis kein allgemeines Konzept der Ästhetisierung von Wissenschaft, sondern Ausdruck einer spezifisch literarischen Perspektive. Zu fragen wäre, wie der entsprechende Begriff aus der Perspektive des Theaters lauten müsste. Wie wäre eine vergleichbare ›Poetisierung der Wissenschaft‹ vom Theater ausgehend zu denken? Wäre die entscheidende Komponente die Rückkehr zum Körper? Könnte man von einer ›Physiologisierung‹ der Wissenschaft sprechen? Ich möchte jedoch einen anderen Begriff vorschlagen. Man unterscheidet in der Kunst zwischen ›bildender‹ und ›darstellender‹ Kunst oder Künsten. Die hier präsentierte Unterrichtsform eines bespielten, verlebendigten Theoriegebäudes würde ich entsprechend als ›darstellende Wissenschaft‹ bezeichnen. In der darstellenden Wissenschaft arbeiten Wissenschaftler und Wissenschaftsakteure zusammen. In seinen 1807 gehaltenen Dresdener Vorlesungen »Von der Idee der Schönheit« verriet Adam Müller seinem Publikum, »dass ich selbst nach dem strebe, was ich [...] Wissenschaftskunst nannte« (Müller 1967: 74). Schon am Anfang der Vorlesungen hatte er angekündigt: »Möchten unsre

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Vorlesungen und das daringelegte Streben Sie ahnden lassen, dass es dereinst auch Wissenschaftskünstler geben wird.« (Ebd.: 23) Wenn in der Kunstwissenschaft die Kunst der Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft ist, so ist umgekehrt in der Wissenschaftskunst die Wissenschaft der Untersuchungsgegenstand der Kunst. Sind Wissenschaftskünstler neben Kunstwissenschaftlern und Künstlern nicht der dritte Stand, den die Kunsthochschulen nach der »Akademisierung« auszubilden hätten? Wissenschaftskünstler – ich könnte auch sagen darstellende Wissenschaftler – können die Wissenschaftler lehren, die Wissenschaft zu ›poetisieren‹ und die Künstler lehren, in und mit der Kunst zu ›wissenschaften‹.

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Thinking by doing Bioart as a Form of Hands-on Ethics David Louwrier

Bioscience has an enormous influence on society: from cradle to coffin, our lives are dominated by the latest scientific developments in the pharmaceutical sciences and healthcare. New scientific findings lead to innovations that change the way we live, with irreversible effects to both culture and environment. The developments in the life sciences sector alter living organisms on a fundamental (molecular) level, which sparks philosophical discourses on unprecedented moral and ethical issues. It is therefore only evident that science is a source of inspiration for the contemporary artistic community, who react on these developments. A small group of avant-garde artists, the so-called bioartists, even enter the laboratory to work with the latest techniques and to react on the developments while they happen. The new art forms that come from these collaborations trigger confusions and fiery reactions among art critics and the general public. This has always been a common reaction to new art-movements, and can even be described as a sign of influence (cf. Levine 2007). Over the last five years, I have been collaborating with bioartist Adam Zaretsky, who is known for his enthusiasm and his sometimes controversial approaches to working with living organisms. In this paper the meaning and application of hands-on ethics is discussed. Hands-on ethics is a relatively new addition to the field of ethics. It is a practical engagement and is at the moment predominantly used in education (cf. Mathison 1988). A mostly artistic version of the method that is discussed in this paper, takes the name hands-on literally. In this context, living material is used to study and question moral and ethical contemporary issues.1 The practical, material methodology differs from the solely theoretical approach to ethics 1 | The words ethical and moral are often used interchangeably, although there are important differences. The field of ethics studies different approaches and systems of how to determine moral frameworks. Morals are personal, or cultural values or standards about good and bad. Normativity is part of ethics and looks at the ways that people

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which is seen in most schools and universities. Thereby, the proposed handson approach to ethics is not directly opposed to the practice of theory-based ethics but can very well be viewed as complementary, adding a different form of understanding. Although mostly a form of education, it can also be used as a method to assess ethical issues, which will be discussed at a later point in this paper.

M aking ambiguities cle ar through conflicting emotions and r atio The method of hands-on ethics might be a way of showing ambiguities because of the dual character of the living research objects. These laboratory objects are first of all epistemic things: quantifiable research objects (cf. Rheinberger 1997). Next to this, the object is alive, or represents a living entity. This could lead to frictions between the idea of the research object and the view that the material is living, and thereby possibly even a subject. To make something quantifiable under laboratory conditions, the object is usually changed physically. This change can for example consist of sampling from a larger object, or only a small fraction of such a sample is fixed in a certain way. In the case of living material, the object itself might be changed (e.g. the windowing in an egg), or the data collection can be mediated, with for example a microscope. The mediated view can distance the observer from the ethical implications of the idea that the object is living. Hands-on ethics can help students to identify with the subject of inquiry. The approach is exciting, and perhaps even a little scary, which helps students to focus and to be attentive. The aim is to push participants into analysing their actions from an ethical point of view by getting them involved directly. The emotional and ethical involvement can be compared with how marketing is used for the difficulties in motivating people to reduce their carbon footprint and live more sustainably: as long as the ethical issues are presented as theoretical, and people do not see what is at stake, no action or even shallow involvement is seen. By triggering empathic reactions the students take an active and tactical stance on the issue they work with (Zaretsky 2012: 32). Similarly, NGOs often use the provocation of emotions to get people behind their cause and make donations. In the case of ethics classes however, the emotions are directed at both the action and the acting person him or herself. Another way by which the students engage in the ethics course is that access is given to certain techniques that would otherwise be hidden away in should act, following certain moral frameworks. Ethics can be taught, but morals can only be taught to a certain extent since they are partially determined by emotions.

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closed and secured laboratories. Working with the technologies can make it easier for people to form an opinion about these techniques. An example of this can be seen in art students who are invited at Leiden University to create genetically modified bacteria, and make art with it. It is illegal to work with living genetically modified materials, unless it happens in a special laboratory for which a permit must be given. It can therefore be very difficult for laypeople to work with these materials, and to develop a material understanding of the practice.2 In spite of the ethical deliberations it could still be argued that it is morally wrong to let students perform activities that are ethically questionable. Usually people are instructed to refrain from any action that may be morally unacceptable. However, when the ethical dilemma that is used in the education process can help to make better decisions on future topics which might have more severe consequences, it might be worth the moral investment. When someone dealt with modifying living bird embryos in an ethics class context, that person might have been triggered to think a lot around the dilemmas such as the intrinsic value of life. These insights can then later be applied in different scenarios. There are nevertheless also indications that students become less empathically responsive during their education, which might suggest the possibility that hands-on ethics classes harden the students instead of making them more ethically responsible (cf. Newton et al. 2008). This probably happens in a higher degree during the education of life scientists and medical students than in an artistic or ethics educational setting. Life scientists do not necessarily learn to focus on bioethical concerns during their lab work as they mostly concentrate on repeatability and scientific integrity.

H ands - on e thics as e thics education The approach of hands-on ethics could first of all be used in education. Before explaining the logics behind this it is important to briefly touch upon the reasons behind the education of ethics. In such education a way of thinking is taught, which could eventually lead to a different way of acting, although learning about the rules and logics behind morals does not always seem to affect the behaviour of a person. There even seems to be no difference in moral behaviour between ethicists and non-ethicists (cf. Schwitzgebel and Rust 2009). So why should students then be educated in ethics? The most important reason for this education is that students should be prepared to make certain ethical choices, and also be ready to explain and defend these choices. In the traditional education of ethics the instructors mostly use case studies which are based on real situations. The students however, do not always engage in these real situations 2 | This material understanding is further discussed at a later point in this paper.

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and are still sitting behind their desk and write about the case as objectively as possible. In medical education a certain hands-on approach is used by enacting certain real-life cases by actors, to which the students have to react. Although this form only represents the ethical dilemma, it is not very different from the real situation and can be valuable to the students since it teaches them to act under relatively stressful conditions. In life or death situations, professionals sometimes have to make split-second decisions, in which no time can be wasted on deliberative reflections. The practical aspect is also important because students frequently have difficulties with the theoretical nature of ethics courses, due to which it can be very challenging to identify with the presented issues. Experiential case-based education has shown to help students to study more efficiently, at least in medical ethics (cf. Vertrees et al. 2012). Another setting in which students use hands-on training practices is in the simulation of certain situations that would be too risky to train in real-life. Often actors or fellow students enact the moment as realistic as possible, for the best results. In this way risk can be reduced while the learning process is as little compromised as possible. This method, which is now used in medical education, started a long time ago in high-hazard professions such as fire-fighters and aviation (cf. Amitai et al 2003).

H ands - on e thics as an assessment me thod In hands-on ethics, the ethicist assesses the situation by taking his or her own emotions as a starting point. Although it seems that these emotions bias mostly towards deontological decision-making, this decision process can be overridden by cognition (Szekely and Miu 2014: 2). This collision between ratio and gut feeling can subsequently lead to a valuable uncertainty and scepticism, which is a constructive mindset to tackle ambiguous challenges. It is however clear that hands-on ethics cannot be used to assess every situation; some affairs would simply be too precarious. For what kind of ethical investigation would a hands-on method be best suitable? It might for example be morally wrong to use such a method on human subjects, in cases where the human dignity could be threatened. This is however a sliding scale and it is impossible to pinpoint the exact limits. There are several laws protecting human dignity, it is even the most fundamental human right. At the same time ethics can overrule legal guidelines, this especially happens in fields that are developing so rapidly that the laws cannot keep up. By crossing certain boundaries court cases can be provoked. The jurisprudence can subsequently be used in future cases. Another way that people are allowed to cross certain laws is when this is used to show a certain technical or legal flaw. This often happens in software development where so called ethical hackers show by hacking how easy it is to get access to for

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example passwords or other secret information. This knowledge can then be used to secure the information before it is misused by others. Similarly, in the case of hands-on ethics certain laws may be crossed when the goal is to show the obsoleteness of this law or to serve a greater good. One of the main reasons why the field of ethics is mostly theory-based relates to the fact that a theoretical vantage point allows ethicists to determine whether or not a particular course of action can be deemed morally acceptable, without actively engaging in the act that is investigated. There is however critique on the armchair ethicists: they would not know what actually happens because they do not go out to experience the subject that they are investigating (cf. Verbeek 2011). This critique is mainly aimed at ethical research around emerging technologies. In these cases it is important to know as much as possible around a certain technology. Can someone judge a technology without ever using it? Embryo selection for example is a technique that is under a lot of ethical discussion, while the ethicists most probably have not participated in such a selection method themselves. In more ambiguous situations it could be beneficial to experience the technology directly, and use emotional responses in the moral judgement.

R el ation to M ilgr am e xperiments : hier archy, awareness and reflection By being allowed and offered to perform a hands-on ethics practice, it is shown to the students (or to other people in a hands-on ethics situation) that the practice is somehow accepted, and allowed from a hierarchal power relation. The consequences of such a relationship have been tested in a more extreme setting during the Milgram experiments performed in 1963, in which volunteers were asked to give electrical shocks to other people (cf. Milgram 1963). By doing what is ordered, or in the context of the hands-on ethics classes, offered to the participants, the volunteers are able to shift the moral responsibility from themselves to the person in charge. Hands-on ethics could therefore possibly not be seen as an ethical investigation, since the participants are likely to mentally pass on the accountability to someone higher in the hierarchy. In the case of the Milgram experiments, critics argued that not enough care was given to protect the participating volunteers. These people might have experienced extreme guilt feelings and a changed self-image after the realisation that they were able to inflict so much harm to others. In his article Milgram also describes that after the experiment there was a moment of dehoaxing, where the volunteer and the victim met each other to »reduce any tensions that arose as a result of the experiment« (Milgram 1963: 374). Additionally, according to Milgram (1974), some of the volunteers were actually grateful to have participated and become aware of their dark side. In this way the participants had the ability to anticipate on future moments in which

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their rational-moral standpoints could be compromised. An example of this was a young man who refused to go into the army because he was afraid that he would easily cross his moral boundaries. In a similar way hands-on ethics could be seen as a personal investigation on how the participants react to certain moral choices. Overall two parallels can be drawn between hands-on ethics and the Milgram experiments. The first one is that hierarchy is an important component in both of the cases: Milgram shows that common people are capable of doing immoral things as long as they are directed to do so. The second comparison is that the ethical reflection on the choices that were made in a particular situation seems to occur in the aftermath of the event. An example of this is the zebrafish injection performance where the public was invited to inject living zebrafish embryos at a festival. Here, people were very enthusiastic to inject, for several reasons.3 It can be assumed that after the event, the participants would look back at the moment to reflect on what had happened. The transition from acting to reflecting could teach the participants about their own moral boundaries. Hierarchy does not always play such an important role in hands-on ethics. It would also be possible that someone practices a practical ethical assessment in a more private setting, or that although a hierarchical power is present, this power is challenged.

E motions , mor als and e thics There is undoubtedly a relationship between ethics and emotions, nonetheless the question remains of what comes first: is something good because it is wanted or is it wanted because it is (objectively) good? This is basically the question when considering whether morals are projections of emotions or whether emotions are feelings about pre-existing moral values. It is often assumed that emotions are predominantly not controlled, or at least subconscious, and that morals have a more or less rational basis, although morals, emotions and ethics seem to influence each other highly. It has been argued that morality has a biological basis and some primates and other non-humans appear to act according to certain moral principles (cf. De Waal 2006). According to Roeser affective states (feelings and sentiments) are of major importance in the making of moral judgements (cf. Roeser 2009). In this way, morals and emotions go together: »emotions are not only assessable from the moral point of view, but are themselves revealers of value. [...] Emotions are viewed as modes of perception, and therefore as giving us access to certain sorts of knowledge. What they give us knowledge of is the value of things, facts or situations« (cf. Roeser 2009). One of the emotions that have been subject 3  |  A more detailed description of the performance is given at a later point in this paper.

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of research around the relationship between ethics, morals and emotions is compassion. It seems that compassion has a foundation in certain feelings that seem to precede ethical understandings; these are also called proto-ethical elements (Nussbaum 2003: 337). Empathy, which could be defined as the capability that enables individuals to share emotions of others, can help in the transition from an emotion to an ethics case. This process is usually triggered by sight, and has a social function of predicting people’s actions and in promoting social cooperation (cf. de Vignemont and Singer 2006). Cognitive perspective is somewhat similar to empathy but does not necessarily include emotions: psychopaths for example are very good in understanding other people’s intentions but are not empathic with them (cf. Hein and Singer 2008:4). Both empathy and the taking of a cognitive perspective can play significant roles in hands-on ethics. The combined functions can help the student (or ethicist) to incorporate a less objective view in the ethical analysis of a certain situation. In the work of Adam Zaretsky, the various emotions that are triggered mostly lead to laughter, confusion and ambiguities. This cheerful confusion makes the students subsequently question the values that are at stake. The approach could also bring up certain emotions that might reveal or help form particular moral positions. These positions can then be used to discuss ethical frameworks. The direct emphatic connection can trigger emotions that might lead to a better understanding of and a personal involvement with moral dilemmas. Emotions help in this way in giving ethical insights in complicated cases, such as constructed life forms, which are difficult to assess on rational arguments alone (cf. Roeser 2009; Roeser 2012). The emotions are triggered by seeing and touching the actual object which is ethically investigated and the ethicist can become more aware of possible moral implications. This awareness sometimes leads to friction between the rational and the emotional elements in ethics. An example that Roeser (2006) gives is the difficulty that people can have with condemning certain practices in other cultures as morally wrong. This condemnation opposes their (rational) respect for the choices made by that other culture. This same dilemma is seen in risk assessments around genetically modified organisms (GMOs), where it is often difficult to come up with rational arguments that express possible feelings of unease against the scientific reasoning. Intuitionism, which is a combination of cognitivism, non-reductive moral realism and foundationalism, has been proposed as resolution for the tension between tolerance and criticism (Roeser 2006: 79). In intuitionism the idea is proposed that there are basic moral principles that do not have to be deduced from anything else (Roeser 2006: 86). This idea is compared to perception through senses: explaining the reasons for a certain sensation does not influence the sensation itself. Seeing the colour red is usually accepted as this sensation, and does not need a further justification. Intuitionists believe that moral intuitions similarly do not need to be justified and can be regarded as knowledge in itself.

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The emotional involvement is also more pronounced through the senses: touch, smell, sight and sound. A bystander will already have a deeper involvement by sharing more sensational aspects of the action: smell for example triggers emotional and memory regions in the brain, leading to an innate emotional response (cf. Spinella 2002). However, can something be considered morally good because it smells good? It seems absurd, but it might be the case. Is this one of the reasons why foie gras is hardly condemned by its eaters? The innate emotions triggered by the smell, taste and touch of the delicacy might lead to moral reasoning: nose-on ethics. However, the moral judgement might also contribute to a difference in taste and smell. When assessing practices through hands-on ethics, certain emotions are triggered in the participants. These emotions can subsequently lead to a more thorough ethical understanding. A simplistic way of describing this would be that positive emotions lead to a positive conclusion, and the other way around. If someone experiences feelings of regret and guilt while or after poking a living chicken embryo, the act could be seen as morally wrong. And if conversely this brings happiness or joy, it could be viewed as morally good. However, what moral consequences could someone assign when he or she experiences feelings of arousal, excitement or an energising sensation of hate? Participants could experience inner conflicts between a sentiment of wonder and curiosity on the one hand and empathic pain on the other hand. It is also clear that if something feels good for one person, it does not necessarily mean that it is morally good. Empathy is very selective, and the emotions that come up during hands-on ethics assessments will often be contradictory. And while the emotions that are triggered can lead to initial moral judgements, these are often overruled by reappraisal (cf. Feinberg et al 2012). The result of a hands-on ethical assessment will therefore rarely be univocal. However, the different emotions and thoughts that are triggered during such an event can lead to a further awareness of the ambiguity of the matter, and a realisation of the different possible points of view. This is not only of importance for the assessment itself, but can also be very valuable in societal debates.

B ioart as a form of hands - on e thics The ambiguous field of biotechnology has numerous times been the subject of hands-on ethical investigations, especially by bioartists.4 The hands-on approach is familiar to artists, who are used to both express themselves and investigate issues using their hands. According to bioartist Adam Zaretsky, 4  |  Examples are among others Genesis (Kac 2009), Common Flowers (BCL 2011), The Bipolar Double Dipped Arabidopsis (Zaretsky 2012).

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hands-on bioart often intends to re-mystify life, by an agnostic appreciation of the unknowable (cf. Zaretsky 2012: 162). This can be interpreted as a critique against the common view of a lot of scientists that there is an explanation for everything. A hands-on ethical investigation of certain methods could lead to a more nuanced view than when using only a theoretical approach, for example by making the participants feel that there is still a certain irresolvable mystery around life. One of the reasons for this more nuanced view is the combination of rational and emotive elements in the assessment. Another reason might be that someone is probably not completely against a technique that he or she is using. By acting, a certain ethical choice for the technique has already been made and when one makes such a decision it can be difficult to change it afterwards. Using this logic, hands-on ethics is hardly an investigative method, and more a way of getting familiar (also on an ethical level) with a technique. One example of hands-on ethics with bioart occurred in the summer of 2012, at the Lowlands festival in the Netherlands. During three days, Adam Zaretksy led an experimental performance where the festival crowd was invited to microinject living zebrafish embryos (see fig. 1). During this performance, the morality of the project was discussed and bioethical questions were addressed. These questions included »can the embryos experience pain?«, »is there a higher scientific goal?« and »will the embryo die?«. There was some confusion among the participants in categorising the project between art and science, since most people were unaware of the possibility of these kinds of transdisciplinary endeavours. Against our expectations only three individuals out of the more than 250 participants were unwilling to inject. Even in the cases where people were hesitant, the feeling of curiosity seemed to be stronger than their feeling of reluctance. One person state the following: ›I think these injections are [morally] wrong, but I still want to try it, because this is probably the only opportunity I’ll ever have!‹ The volunteers were not followed after the injection performance so it is unclear if their opinion on the injections changed over time. Only after someone acted, that person might realise that he or she has moral objections against the act. This visceral reaction can come unexpectedly, and can have profound impact on someone’s moral landscape. The provoked moral emotions are not only useful as a case study for an ethical analysis; they also help people to know themselves and to predict how they will respond to future scenarios. These scenarios can be an extrapolation from the lessons learned while handling the materials.

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Fig. 1: A visitor of the Lowlands festival injects living zebrafish embryos, while others observe (2012)

An example of how art is experienced as a hands-on ethics practice around the life sciences can also be seen in the vivoarts honours class at Leiden University. Over the last eight years this yearly class has introduced students from different disciplinary backgrounds to the developments in molecular biology and its bioethical implications. The course is led by a bioartist who discusses several contemporary ethical issues with the help of art. In one of such sessions, the students are given a fertilised egg, usually from a chicken, to use for artistic ethical experimentation. Legally it is allowed to work with these embryos as long as they are still in the egg. From the moment that this egg hatches, the chicks fall in a different legal category and are considered as experimentation animals, for which a licence is required. The abruptness in which the legal status of a living entity is changed is one of the ethical issues that the students are confronted with. Over the years, different experiments have been performed on the embryos. In the first year of the class, these were led by the artist Adam Zaretsky. He used embryos from pheasants and the experiments included microsurgery that could lead to multiple heads and limp formations. Before each lab work starts, the students are instructed to read some theoretical background information to prepare them to engage as critically as possible with the matter at hand. The literature includes texts on basic embryology

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and bioethics. Almost every year there are some students who morally object to working with the embryos and sometimes even decide not to be present during the experimentations. These objections and refusals show that at least part of the students is aware of the freedom to retain from the experiments, and is thereby already making an ethical decision. The reasons to refuse to participate are thoroughly discussed, and the instructors are careful not to take a normative stand. During the embryology lab session each of the students receives a fertilised egg. The students are free to hold it and some of them even give the egg a name. The participants are then introduced to the technique of windowing: making a peeking hole in the egg, to be able to follow the embryonic development. The hole is also used to apply chemicals to the embryos, or to poke or cut it. The students learn that the survival of the embryo decreases with the amount of physical interaction it undergoes, but are told that they are free to treat the embryo as they please. Less than two weeks later, the embryos have to be terminated, before they hatch. The students are again free to choose a method to do this, ranging from giving it an overdose of valium to smashing it with a hammer. This often leads to emotional reactions. After working with the embryos, the students are invited to share their experiences with each other, and to reflect on the meaning of the past act. When one agrees with the idea that emotions are an integral part of ethics, this will also have consequences to the way that the field is undertaken. One approach might be to take as much emotional data as possible: what emotions are triggered when someone witnesses an action with all the senses? The emotion that is triggered by the smell of burned meat that could be released during an execution on the electric chair might for example be an additional contribution in condemning the practice as immoral. Although there are several limitations to hands-on ethics, such as the risk for habituation and crossing ethical borders, hands-on ethics as an assessment method shows to be a productive addition to the field of ethics. Not because it gives clear answers to ambiguous situations, but the other way round: it makes seemingly clear situations more ambiguous. This happens through emotions that are triggered while performing the hands-on activity. These emotions can raise inner conflict with other emotions, morals or beliefs, which then causes the participant to rethink his or her position on the matter. Thus, bioart can be considered a valuable addition to the field of bioethics.

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0. Sie sind sehr leise, so leise, dass man kaum sagen kann, ob es sich noch um ein Rauschen handelt oder bereits um einen Gesang. Die Sirenen sind kaum zu vernehmen, man möchte ihnen näher kommen, um besser zu hören, um deutlicher zu verstehen, was sie singen, was sie berichten. Die Sirenen singen schwach und doch gelingt es ihnen, die vorbeisegelnden Schiffe von ihrer Route abzubringen und zu sich zu locken. In Homers Odyssee berichtet die Zauberin Kirke, dass die Sirenen auf ihren Inseln von menschlichem Gebein und ausgetrockneten Häuten umringt seien. Ihre Erzählung weckt Bilder wach: von zahllosen Schiffen, die an den Felsen zerschellen oder Seemännern, die von Bord springen und auf dem Weg zu den Inseln ihren Tod finden. Nach dem Unglück klingt das laute Brausen der Brandung dann wieder aus; es geht über in dieses schwache, kaum hörbare, aber lockende Rauschen. Wie aber lassen sich diese Sireneninseln passieren? Was kann man diesem rauschenden, singenden Ruf erwidern? Kann man sich die Ohren vor ihnen verschließen? Schall setzt die Dinge in Bewegung, doch dafür muss er zunächst ihre Trägheit überwinden. Er muss eine gewisse Lautstärke haben, um etwas anzurühren, was immer in seiner Reichweite ist. Er muss laut sein, um zu schütteln, um hörig zu machen. Die Sirenen singen schwach und doch rühren sie die vorbeifahrenden Schiffe an, machen sie hörig, ja, ihnen zugehörig. Offenbar ist da etwas im Gesang dieser Sirenen, das selbst nicht hörbar ist, das dieses Hörbare jedoch an Kraft übersteigt: Sie setzen ganze Schiffe in Bewegung, mehr noch als es der lauteste, gewaltigste Schall vermag. Die Sirenen sind laut, sie toben und tosen, so laut, dass man sie nicht hören kann. Sie sind ohrenbetäubend, machen taub und stumm. Bevor sich Odysseus den Inseln nähert, gibt er seinen Seemännern den Befehl, sich die Ohren mit Wachs zu verschließen, um nicht dem lockenden Ruf der

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Sirenen zu verfallen und das Schiff gegen die Klippen zu lenken. Seine Ohren lässt er jedoch offen, um in den seltenen Genuss zu kommen, dem süßen Rauschen oder Gesang lauschen zu können. Damit er seine Männer im Sirenenrausch jedoch nicht von der Route abbringt, lässt er sich an den Mast binden. Es ist die Sturheit dieses Plans, aufgrund derer Odysseus und seine Männer die Inseln passieren und überleben (vgl. Homer 2012: XII, 37-54; 165-200). Auch Orpheus gelingt es, an den Inseln der Sirenen vorbeizusegeln. Er verschließt jedoch weder seinen Seemännern, noch sich selbst die Ohren mit Wachs. Orpheus, der Begründer der Musik, von dem behauptet wird, er hätte mit seinem Gesang selbst die Felsen zum Weinen bringen können, begegnet dem Gesang der Sirenen mit offenem Ohr und setzt ihnen den Klang seiner Leier oder Zither entgegen. Aus dem ohrenbetäubenden Lärm der Sirenen lässt Orpheus Musik entstehen und schlägt sie mit ihren eigenen Waffen. Seine Matrosen lauschen, sie können sich jedoch entscheiden, ob sie dem tödlichen Rauschen der Sirenen ihre Aufmerksamkeit schenken oder dem süßen Klang seiner Musik. Die Mannschaft gewinnt, sie passiert die Inseln (vgl. Apollonios von Rhodos 2010: IV, 903-920). In seinem Aufsatz »Passagen, Durchgänge, Übergänge« erinnert Michel Serres (1998: 155-185): Sowohl Orpheus als auch Odysseus setzen sich der Macht der Sirenen aus, diesem Ruf nach Weisheit und unermesslichem Vergnügen, doch es ist Odysseus, der das geringere Risiko trägt. Er macht sich bewegungs-, ja handlungsunfähig und nimmt damit laut Serres den Weg der exakten Wissenschaften: Er vertraut auf die Mathematik, die Geometrie und Astronomie, die ihm dabei hilft, die richtige Route seines Schiffes zu berechnen. Die Steuermänner folgen stur diesen Berechnungen – sie gewinnen und bleiben am Leben. Odysseus setzt sich zwar dem Rauschen der Sirenen aus, doch er macht sich taub gegenüber diesem Unhörbaren, das alles erfasst und in Bewegung versetzt. Er beugt ihre Macht, indem er sich selbst machtlos macht. Laut Michel Serres ist es Orpheus, der demgegenüber den Weg der Musik und der Künste wählt. Er zähmt den rauschenden Lärm der Sirenen, ihre Brutalität, ihr Chaos, indem er es neu komponiert, in eine Ordnung bringt, in Rhythmen und Melodien. Er bezwingt sie, doch er bezwingt sie nach Michel Serres nur einmal. Als er es noch einmal versucht, scheitert er kläglich: »Odysseus, klug und berechnend, gewinnt immer; Orpheus, heldenhaft, gewinnt nicht immer, ein Komponist.« (Ebd.: 166) Die Sirenen sind drängend, auch wenn sie in der Ferne liegen. Sie sind kaum hörbar und gleichzeitig toben sie im Ohr. Es ist nicht leicht, sie zu bezwingen, auf Distanz zu halten. Doch gibt es nur diese beiden von Serres skizzierten Möglichkeiten? Taub auf die Berechnungen der exakten Wissenschaften zu

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vertrauen oder aber hörend, komponierend das Risiko des Scheiterns einzugehen? Serres trennt den Weg der exakten Wissenschaften deutlich von jenem der Kunst und weckt damit Rückfragen: Lässt dieses Rauschen der Sirenen nur ein Entweder-oder zu? Ist also kein Sowohl-als-auch, kein orphisch-odysseischer Weg möglich? Ist es nicht möglich, diesem Rauschen berechnend zu begegnen, ohne sich handlungsunfähig zu machen? Gibt es vielleicht eine Musik aus dem Geiste der allgemeinen Gesetze, der Mathematik, Geometrie und Astronomie, die man diesen beiden Mythen entgegensetzen kann?

1. Es ist still, wenn man nach oben sieht. Nicht, dass nichts zu hören ist, wenn man den Himmel bei Tag oder bei Nacht betrachtet. Es ist still in dem Sinne, als sich nichts Hörbares mit dem Sichtbaren da oben zu verbinden scheint. Wir hören vielleicht die Zikaden in einer nächtlichen Wiese, die nicht aufhören zu zirpen, vielleicht rollt ein Lastwagen mit 80 Km/h in der Nähe über eine Landstraße, so dass sich sein Klang mit dem Wind zu einem steten Rauschen mischt – ein Rauschen, das wie eine Summe dieser unzählbaren kleinen Bewegungen scheint. Der Himmel selbst steuert hierzu jedoch keinen Laut bei. Er bleibt stumm und verschwiegen. Eine Verschwiegenheit, die umso mehr verwundert, als doch »jedes Ding«, wie man es mit Jakob Böhme sagen kann, »seinen Mund zur Offenbarung« (1997: 519) hat. Es scheint, als sei die Stille des Alls eine Ausnahme zwischen den zahllosen sinnlichen Welten-Dingen, die stets darauf warten, lauthals Auskunft über sich zu geben; zu Lautereignissen (vgl. Schafer 2012: 436) zu werden. Diese Ausnahme wächst an, drängt sich auf, und dabei scheint sie nun doch ihren Mund zu öffnen und zu fragen: Ist da nicht noch etwas jenseits dieser Stille, das wir nur noch nicht vernommen haben? Etwas, das ein anderes Hören einfordert? Etwas wertvolles, ein Geheimnis, das verborgen bleiben muss? Ein sirenischer Gesang, dem wir wie taube Seemänner entgegenstehen?

2. Pythagoras von Samos (* ca. 570 v. Chr.; † ca. 500 v. Chr.) soll der erste gewesen sein, der annahm, das Weltall sei nicht still, sondern angefüllt mit einer himmlischen Musik, die wir heute unter dem Namen Sphärenharmonie kennen (vgl. Zhmud 1997: 218). Jedem Gestirn am Himmel – zu denen Pythagoras nicht nur die sieben damals bekannten Planeten zählte, sondern auch die Fixsterne und eine sogenannte Gegenerde (vgl. Aristoteles 1990: 985b 23; vgl. Porphyrios 1920: 31) – war dabei ein eigener Ton zugeordnet, der durch die

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Bewegung auf ihren Kreisbahnen entstehen sollte. Diese einzelnen Töne erklingen nach pythagoreischer Vorstellung jedoch nicht wie ein Orchester beim Stimmen vor dem Konzert in ungeordneter Entropie, vielmehr tönen sie alle gemeinsam in einem harmonischen Zusammenklang. Harmonie bedeutet bei den Pythagoreern, so der Philologe Gregor Staab, »die passende Fügung verschiedener Elemente« (2010: 111). Harmonie bedeutet hier nicht nur konsonanter Zusammenklang von Tönen, sondern auch das Passen von verschiedenen Zahlenverhältnissen zueinander. »Der ganze Himmel«, so Aristoteles über die Pythagoreer, sei »Harmonie und Zahl« (1990: 986a 3).

3. Die pythagoreische Musik aus dem All ist auf der Erde nicht zu hören, das Prinzip, nach dem sie tönt – die Harmonie –, kann hingegen jedes Kind vernehmen. Man muss nur eine gespannte Saite anschlagen und nach dem Ton lauschen. Legt man den Finger dann auf die Mitte der Saite, hört man einen zweiten Ton, der genau eine Oktave höher ist. Beide Töne stehen im Verhältnis 2:1 zueinander. Ebenso kann man mit der Quarte (dem Verhältnis 4:3) und der Quinte (3:2) verfahren. Diese Relationen bilden die Grundlage der harmonischen Verhältnisse und basieren auf ganzen Zahlen. Nikomachos von Geresa berichtet, Pythagoras sei einmal beim Vorbeilaufen an einer Schmiedewerkstatt aufgefallen, dass einige der Hämmer eine gemeinsame Harmonie ergeben. In Experimenten mit den Hämmern habe er schließlich festgestellt, dass deren Gewichte je nach akustischem Schwingungsverhältnis auch in einer bestimmten ganzzahligen Relation zueinander stehen (Nikomachos in Iamblichus 2002: 115-121). Auf diese Weise soll Pythagoras die Intervalle entdeckt und damit die Musiktheorie begründet haben: mit dem Ohr am Instrument, auf der Suche nach den Relationen zwischen den Tönen. Dabei sind Musik und Mathematik kein Gegensatz mehr, sie verschmelzen; der Klang geht buchstäblich in das Imaginäre über, er wird zum Bild des Ineinanderpassens aller wahrnehmbaren Dinge, mögen diese hörbar sein oder nicht. Dieses Bild bleibt bestehen, auch wenn der Ton schon lange verklungen ist. Man schlägt ihn nur deswegen wieder an, um sich erneut daran zu erinnern, an diese Harmonie der Welt, diese »Musica mundana«, wie sie etwa Boethius später nannte (Boethius 1876: 206; vgl. Heilmann 2010: 311-327). Wenn man sich nach oben wendet, ist da zunächst kein Geschehen zu beobachten. Man muss eine Weile warten und schweigend zum Himmel sehen; dann erst erkennt man, dass sich die Planeten auf Kreisbahnen bewegen, dass sich der Lauf der Dinge wiederholt. Es ist still, wenn man sich nach oben wendet, doch

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wenn man wartet und schweigt, lässt sich dabei ein Gesetz vernehmen – jenes Gesetz, dem die Gestirne gehorchen, wenn sie sich in ihren ewig scheinenden Bahnen drehen. Es ist das Bild einer klingenden Mathematik am Himmel, die das sirenische Drängen eindämmt. Kannten Orpheus und Odysseus nur die Wahl zwischen den geschlossenen und den offenen Ohren, so deutet sich hier eine Wahrnehmungsform an, die dazwischen liegt: zwischen Taubheit und Hören, zwischen der Stille und dem Klang der Welt. Denn da ist etwas im Hören, das selbst unhörbar ist, das diesem Hören vorausgeht, das es überdauert.

4. Der Blick nach oben bringt noch nichts zu Gehör, er lässt jedoch erzählen, von den Musen, die aus dem Klang der Planeten entstehen, von der Mnemosyne, der Mutter dieser Musen (Porphyrios 1920: 31). Ist das Rauschen hier also bereits zur Musik geworden? Anders gesagt: Haben die Musen hier die Sirenen geschlagen? Es wirkt wie die Wiederholung eines Mythos, von dem Pausanias berichtet: Hera habe einen Wettstreit zwischen den Sirenen und Musen angezettelt, in der sicheren Erwartung, die Musen würden dabei unterliegen. Doch es waren die Sirenen, die verloren, so dass sie sich vor Scham ins Meer stürzten und in Felsen verwandelten (jene Felsen, die Orpheus zum Weinen brachte?) (Pausanias in Wunderlich 2007: 58f. u. 187). Der Klang der Sirenenstimmen ist dabei wohl der ordnenden Kraft des musischen Gesanges unterlegen gewesen. Sie selbst wurden dabei bewegungslos. Doch lässt auch Pythagoras die Musen im Wettstreit mit den Sirenen gewinnen? Nach einer Überlieferung von Iamblichus bezeichnete Pythagoras Harmonie auch als den gemeinsamen Gesang der Sirenen. Die Musen erwähnt er dabei nicht (Iamblichus 2002: 82 = DK 58 C 4). Es scheint also nicht der von Hera herauf beschworene Streit zwischen Musen und Sirenen zu sein. Dennoch ist es der orphische Kampf gegen das Rauschen, der Pythagoras hier beschäftigt. Ein Kampf gegen das Rauschen, das sich nie ganz bändigen lässt: Man lauscht den Schlussakkorden eines Stückes auf einer alten Schallplatte; sie sind machtvoll in ihrem Auftreten, sie beenden diesen Fluss der Akkorde mit viel Kraft, doch sie beenden nicht dieses Knistern und Rauschen, das nun, in endloser Wiederholung, in den Mittelpunkt der Wahrnehmung rückt. Hören wir hier noch eine Verlängerung, einen Wiederhall des letzten Stückes oder halluzinieren wir bereits angesichts des drängenden Rauschens? Wir blicken hoch und erahnen eine Musik, die bereits verklungen sein muss, die kurz davor ist, zu erklingen. Eine Musik, die nicht mehr oder noch nicht zu hören ist. Wir erahnen vielleicht die Harmonie der Musen, vielleicht einen musisch gewordenen Gesang der Sirenen. Wir hören nichts.

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Man fühlt sich an eine Anekdote des Komponisten John Cage erinnert: In der Erwartung, die absolute Stille zu hören, habe er sich in einen gänzlich schalltoten Raum der Universität Harvard gesetzt. Doch statt Stille, habe er nur die Geräusche seines eigenen Körpers, seinen Atem, die Blutzirkulation gehört (vgl. 1961: 8). Cages Geschichte ist jedoch irreführend, wie David Toop bemerkt, denn wahrscheinlich hat dieser v.a. die Geräusche seines Ohrs, also eine Form des Tinnitus gehört, wie er bei den meisten Personen einsetzt, wenn sie sich wenige Minuten in einem schallisolierten Raum aufhalten (vgl. 2010: 208; vgl. Moller et al. 2007: 10). Es ist unmöglich, absolute Stille zu hören. Die Stille scheint in einem Zustand des ständigen Rückzugs zu sein. Sobald wir ihr näher kommen, legt sich das Rauschen der eigenen Existenz darüber, die Klänge des hörenden In-der-Welt-Seins, die Versicherung, dass man da ist. Ein akustisches Cogito (vgl. Sloterdijk 1993: 311f.). Die Stille ist kaum zu hören, sie entzieht sich dem Gehör, dennoch ist da etwas Drängendes an ihr, etwas, dem man sich kaum entziehen kann, etwas, vor dem man Acht geben muss. So lässt sich auch die Stille des Alls nicht mit Worten und Bildern allein eindämmen, sie lässt sich nicht auf ewig mit dem harmonischen Klang der Sphärenharmonie übertönen, die sich dem Gehör stets entzieht. Sie nagt an der (Theorie der) Harmonie der Welt, droht immer wieder von neuem, dieses Ineinanderpassen, diese erhabene Schönheit zu zerreißen. Denn die Stille ist kein Teil des Ganzen, sie ist nichts, mehr noch: Sie ist das Nichts selbst; das Nichts, das auch zu nichts passt, das sich in nichts einfügen lässt; nicht in die stetigen Bewegungen der Gestirne, nicht in die ewigen Wiederholungen und Gesetze, die alles beherrschen. Wie nun aber diese Stille abdrängen? Wie ihr begegnen? Indem man sich die Ohren versperrt? Wie Aristoteles berichtet, nahmen die Pythagoreer an, man könne die Harmonie des Himmels bereits von Geburt an hören. Da die Menschen jedoch schon immer mit diesem Geräusch lebten, könnten sie dieses gar nicht mehr wahrnehmen. Einen Unterschied zwischen Stille und Klang könne man schließlich nur dann feststellen, wenn man beides kenne. Der Mensch sei darin wie ein Schmied in seiner Werkstatt: Er sei durch die Gewöhnung an den dauernden Lärm unfähig, die einzelnen Schläge der Hämmer zu vernehmen (vgl. Aristoteles 2009: Zweiter Teil, 290b 12-29). Sphärenharmonie ist hier keine bloße Imagination mehr; sie ist ein Lautereignis oder zumindest ein mögliches Lautereignis: Ein reales akustisches Geräusch, das an sich hörbar sein müsste, das sich jedoch der Wahrnehmung entzieht. Man kann sagen: Man ist taub, wenn man nach oben sieht. Man kann sagen: Der Blick nach oben offenbart die menschliche Unvollkommenheit, die Unzulänglichkeit seiner Sinne. Doch da ist auch Trost in diesem Gedanken: Denn die Sphärenharmonie steht zu-

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gleich für das Grundrauschen unserer Existenz, für das harmonische In-derWelt-Sein, das man als solches nicht vernehmen kann. Es scheint etwas im Hören zu geben, das selbst nicht hörbar ist, eine Bewegung, die jenseits des Gehörs liegt – die man dennoch vernehmen kann: Im Klang der Schmiedehämmer, in der Musik, im harmonischen Zusammenspiel der Dinge. Da ist eine rauschende Stille, die aus der Ferne von den Inseln ertönt. Im Kampf mit den Sirenen geht Pythagoras den Weg des Odysseus, indem er die Menschen taub macht, er folgt Orpheus, indem er der Stille des Alls eine Musik entgegensetzt, die schöner ist, als alles, was man sich vorstellen kann. Anders als Orpheus ist sein Instrument dabei jedoch nicht eine einfache Lyra, sondern das ganze Universum. Er scheint zu sagen: Man gewinnt, wenn man die Ohren öffnet und versucht, zu hören, was unhörbar ist.

5. Pythagoras soll der einzige gewesen sein, der die Sphärenharmonie wirklich hören konnte: »Er selbst pflegte der harmonischen Musik des Alls zu lauschen, da er die umfassende Harmonie der Sphären und der in ihnen umlaufenden Gestirne vernahm, die wir wegen der Beschränktheit unserer Natur nicht hören.« (Porphyrios/Nikomachos in Riedweg 2007: 47) Darüber hinaus wurde berichtet – oder auch der schillernden Figur Pythagoras angedichtet –, er habe so gut wie möglich versucht, »die überaus wohltuende Wirkung […], welche diese kosmische Musik auf ihn entfaltete, […] an seine Schüler weiterzugeben, indem er sie mit Instrumenten und der bloßen Stimme nachahmte« (Riedweg 2007: 47; vgl. Iamblichus 2002: 65). Wie Orpheus reagiert auch Pythagoras, indem er zunächst lauscht und schließlich mit Musik antwortet. Pythagoras lässt dabei einen sphärischen Himmelsgesang entstehen und begleitet diesen dann mit der eigenen Stimme. Er erzeugt Homophonie, einen chorischen Gesang, der sich ausbreitet, der nicht abreißt. Man kann sagen: Die Weisheit des Pythagoras breitete sich in ebensolchen konzentrischen Kreisen aus wie jene homophone Himmelsmusik, ja, wie der Schall selbst. Anders als die meisten Gelehrten zuvor soll Pythagoras sein Wissen nicht nur einzelnen Schülern weitergegeben haben, sondern einem Kreis von Jünglingen (Kittler 2006: 230f.). Die Neulinge in seiner Schule hätten ihren Lehrer dabei jahrelang nicht zu Gesicht bekommen. Hinter einem Vorhang, mit Blick auf eine Silhouette lauschten sie seinen Gedanken, die er häufig in so genannten Hörsprüchen (akousmata) zusammenfasste und weitergab. Einer jener Sätze lautet etwa: »Schall, der vielmals in die Ohren fällt, ist die Stimme der Mächtigeren« (Claudius Aelianus, varia historia, IV 17 in Kittler 2006: 236) und deutet zugleich auf sein eigenes Wirkungsprinzip hin; das Prinzip der Wiederholung: Dieser

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sich ausdehnende Schall, von einem Mund zum nächsten, sich selbst wiederholend, um nicht vergessen zu werden, der verspricht, ewig zu währen, der sein Verklingen und Vergehen durch die ewige Weitergabe und Wiederholung stets von neuem überwindet – dieser sich verbreitende Schall spiegelt doch zugleich nur jene ewigen Kreisbewegungen der Planeten, die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Wissenschaften wider. Pythagoras lässt den Klang der himmlischen Sphären damit zu einer Frage der Lebensweise werden. Er begründet eine Schule oder wie Friedrich Kittler erinnert, eine »Hörerschaft«, deren Tagesablauf wiederum wie ein Bild der Sphärenharmonie selbst anmutet: Tagsüber – im Zentrum des Tages – war Zeit für das Studium und die Lehre, für die wiederholende Einübung des Wissens; morgens und abends – einem Widerhall gleich – war jedoch Musik vorgesehen, um sich vom verwirrenden Nachhall des Tages oder der Nacht zu lösen (vgl. Kittler 2006: 232f.). Zugleich galt für die Mitglieder dieser Gruppe nach außen, gegenüber Nichtmitgliedern, das Gebot des Stillschweigens. Dies ist wohl ein Grund dafür, weshalb es von Pythagoras selbst keine Texte und darüber hinaus auch nur wenige verlässliche Sekundärquellen gibt (vgl. Riedweg 2007: 61f.). Die Sphärenharmonie ist ein Klang der Wissenden; wer von ihren Vibrationen und Bewegungen erfasst werden möchte, muss sein Leben ändern, er muss hörend selbst zum Resonanzkörper werden und er muss sich in Stille üben. Die ausgesprochen körperliche Wirkung dieser Lehrmethoden findet auch bei dem Pythagoreer Archytas (* 435-410 v. Chr.; † 355-350 v. Chr.) seinen Widerhall, in seiner Erklärung für die unmögliche Tatsache, dass die Menschen die Klänge der Planeten nicht hören können. Seiner Ansicht nach seien die menschlichen Ohren schlicht zu klein, um diese himmlische Harmonie zu vernehmen; vergleichbar mit einem Flaschenhals, durch den nur kleine Objekte hindurchpassen (vgl. Archytas, DK 47 B 1). Der Klang des Weltalls ist hier also nicht zu leise, sondern zu laut, zu gewaltig und groß für das irdische Gehör. Die Menschen hören die tobende und tosende Sphärenharmonie nicht, dennoch, so legt es Archytas nahe, sind sie angerührt von diesen Geräuschen der Planeten, die doch so laut sind, dass alles durch sie erzittert. Unmöglich, diesen akustischen Lauf der Dinge nicht zu vernehmen, unmöglich, sich ihm zu entziehen, mögen unsere Ohren noch so klein sein im Verhältnis zu diesem übergroßen All. Es ist still, wenn man nach oben sieht. Doch es scheint da etwas Ungehörtes zu geben, das zu uns gelangt, das uns an- und berührt, auch wenn es nicht in das Ohr dringen kann. Wir sind durchzittert von diesem gewaltigen Raunen des Himmels, von diesem Tosen und Dröhnen.

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6. Ganz am Ende des Dialogs Politeia, im »Mythos vom Er« entwirft auch Platon ein Bild der Sphärenharmonie. Er beschreibt darin eine große Spindel, die sich im »Schoße der Notwendigkeit dreht.« (Platon 1989: 616c) Sie ist umgeben von acht ineinander liegenden, hohlen, wulstförmigen Gebilden, ähnlich Halbkugeln. Platon führt genau aus, in welcher Geschwindigkeit jeder Wulst auf seiner Kreisbahn rotiert: Der Achte ist am schnellsten, am »zweitschnellsten und zugleich miteinander« der Siebte, Sechste und Fünfte, am drittschnellsten der Vierte, danach der Dritte und Zweite. Auf jedem dieser Kreise befindet sich eine Sirene, die einen Ton von sich gibt. Alle acht ergeben zusammen einen harmonischen Klang. Um die Spindel herum sitzen die drei Töchter der Notwendigkeit; Klotho, Lachesis und Atropos. Immer wieder greifen sie an die Spindel, helfen bei der äußeren und inneren Bewegung nach. Zum Gesang der Sirenen stimmt jede von ihnen ein Lied an: Lachesis singt über die Vergangenheit, Klotho über die Gegenwart, Atropos über die Zukunft (vgl. Platon 1989: 617a-d). Kaum auszumalen, wie schön diese Musik in ihrer Zeitlosigkeit wohl klingen mag, wie sich die einzelnen Töne zu einem Ganzen fügen mögen und dabei doch zugleich der strenge Ausdruck der allgemeingültigen Gesetze der Welt sind. Jene Gesetze, die es als Philosoph zu erforschen gilt, um zu den wahren und ewigen Ideen zu gelangen. Diese platonische Sphärenharmonie ist jedoch weit weg von der irdischen Welt; sie ist unhörbar, weil der Tod uns von ihr trennt. Sie erwartet keine Begründung dafür, weshalb man sie nicht vernehmen kann. Ihre Gefahr ist gebannt. Als Musik für die Seelen liegt es ihr fern, einen Körper in Schwingung zu versetzen, die Materie mitzureißen, eine Lebensweise zu begründen. Und so ist an diesem Klang auch nichts Bedrohliches festzustellen; nichts, vor dem wir uns schützen müssen. Durch den Tod bleibt die Gewalt der Sphärenharmonie auf sicherer Distanz, sie kommt uns nicht zu nahe. Dennoch beschreibt Platon diesen Weltenklang als ein Hörbares, das eine Sogwirkung entfaltet und ein Begehren weckt. Die Sphärenharmonie bedrängt den Leser und Hörer jedoch nicht durch eine imposante Klangkulisse, sondern durch das Versprechen absoluter und allgemeingültiger Weisheit. Sie bleibt dabei leise, scheint eher zu flüstern als zu toben. Platon berichtet von einem Hören, doch er unternimmt keinen Versuch mehr, dieses Hören selbst zu überschreiten, aufzuhorchen, auf dasjenige, das sich uns entzieht. Das dröhnende Rauschen der archytanischen Sphärenharmonie scheint verklungen und ist nur noch als entferntes Echo zu erahnen. Ohnehin mahnt Platon im siebten Buch der Politeia, man solle »das Ohr nicht höher als die Vernunft« (Platon 1989: 531a-b) halten und spielt dabei auch auf einige Musiktheoretiker seiner Zeit an, die in Experimenten versuchten, einzelne Intervalle mit dem

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Ohr abzumessen und sich dabei bloß auf ihre Sinne, nicht aber auf ihren Verstand verließen. Die hörbare Harmonie, der reale, sinnlich erfahrbare Klang sei letztlich nur ein Mittel zum Zweck, um zu den universellen Gesetzen der Harmonie zu gelangen (vgl. Espinet 2009: 21f.). Da ist ohnehin eine klare Linie zwischen einer bloßen Lehre von den akustischen Gegebenheiten und der Wissenschaft der Harmonie, welche nach Zusammenhängen sucht, die ewig gültig sind, die nicht nur den Moment bestimmen. Wenn man also hinauf gelangen möchte, aus der Höhle zu den Ideen, so scheint es Platon hier zu sagen, dann darf man sich nicht auf das Gehör verlassen. Platon, dieser Begründer der ersten Akademie, gewinnt, indem er die Sirenen in die Ferne rücken lässt und ihre Klanggewalt mit einer Sage zähmt. Er dichtet, horcht in Gedanken – und gewinnt.

7. Es ist verwandelt worden, dieses bedrohliche Rauschen der Sirenen; transformiert in den harmonischen Gesang der Musen, in eine pythagoreische Weltmusik, einen Klang des orphischen In-der-Welt-/Auf-der-Welt-Seins und des odysseischen Wissens-von-Welt zugleich; es ist mit Archytas ins Unermessliche angewachsen, wurde damit ein unhörbar Hörbares, es ist von Platon, diesem dichtenden Philosophen, der die Dichtung zugleich verschmähte, schließlich als Mythos in die Ferne gerückt, kaum noch zu vernehmen. Aristoteles lässt diese Klänge schließlich ganz verklingen. Er äußert Zweifel an der Idee, dass Planetenbewegungen überhaupt Geräusche verursachen: Es gäbe seiner Auffassung nach schlicht keine Reibungsfläche auf der solche Geräusche entstehen könnten. Es verhalte sich mit den Planeten wie mit Schiffen, die mit der Strömung geräuschlos dahin gleiten. Sie seien von Äther umgeben, einem nichtstofflichen Medium, das keine Reibung erzeuge. Außerdem wisse man doch, erinnert Aristoteles, dass bereits irdische Töne Felsen zum Bersten bringen können; müsste dieser Klang des Himmels demnach nicht noch heftigere Wirkungen haben? Diese Wirkungen aber könne man nicht wahrnehmen (vgl. Aristoteles 2009: Zweiter Teil, 290b14-291a7). Schließlich folgert Aristoteles, streng nach dem selbst formulierten Kausalitätsprinzip (vgl. Aristoteles 1990: Siebter Teil, 1032a 20-26): Es gebe die Sphärenharmonie nicht, weil man sie nicht hören kann (vgl. Aristoteles 2009: Zweiter Teil, 290b 14-291a 7). Hier gibt es kein unhörbar Hörbares, kein Sinnliches jenseits des Hörens. Die Dinge sind erst da, sie kommen erst zu ihrer Existenz, wenn sie wahrgenommen werden (vgl. Aristoteles 1986: Sechster Teil, 418a 11-18). Und so verliert auch dieses Ungehörte seine Existenz, wird unmöglich. Die Bewegungen am Himmel, die harmonisch singenden Musen und die keifenden Sirenen verstummen vor dem Gesetz der Kausalität, das selbst keinen Nachhall hat. Aristoteles ist klug,

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wie Odysseus wählt er den Weg der Wissenschaft, er teilt auf, wiederholt, korrigiert. Er prüft genau und hört doch nicht hin, auf das nicht mehr Hörbare oder noch nicht Angestoßene. Aristoteles gewinnt immer, sein Einsatz jedoch ist gering.

N achwort Kann man in diesem Versuch, zu Hören, was unhörbar ist, in diesem pythagoreischen Auf horchen, einen dritten Weg zwischen Mathematik und Musik, zwischen Wissenschaft und Kunst erkennen? Ist dieser Versuch, die Leerstelle des Hörens durch Mathematik auszufüllen und mit dem eigenen Gesang zu begleiten vielleicht sogar eine aus heutiger Sicht künstlerisch-wissenschaftliche Strategie? Man muss sich bremsen – davor, diesem pythagoreischen Hören überhaupt eine deutliche Philosophie oder Lehre zuzuschreiben, ihr einen Namen zu geben, eine Materie. Dies gilt nicht nur aufgrund der dürftigen Quellen, die zu seiner Person überliefert sind – denn es ist ohnehin der Diskurs über Pythagoras, der eine größere Wirkung hatte als diese über viele Stellen weitergegebenen, in Teilen wohl gänzlich verzerrten Lehren. Pythagoras, so könnte man sagen, ist ohnehin zu einer Form mit wechselndem Medium geworden. Gerade weil dieses pythagoreische Hören versucht, auf das zu lauschen, was jenseits der Wahrnehmung liegt, widersetzt es sich dem möglichen Wunsch, nun endlich Klarheit zu gewinnen, wo sich Momente künstlerischer Forschung finden und festlegen lassen – ein Wunsch, der auch von den Herausgebern dieses Bandes an mich herangetragen wurde, verbunden mit der Bitte, diese Klärung doch in einem Vor- oder Nachwort vorzunehmen. Dieser Bitte möchte ich hiermit gerne nachkommen und dennoch zugleich einwenden: Ist diese Reaktion auf den Text nicht selbst wiederum odysseeisch? Ist das nicht der Wunsch, Vorkehrungen zu treffen, noch bevor man lauscht? Also so, wie Odysseus die berechnete Route entlang der Sireneninseln im Vorhinein festlegt? So, wie er sich an den Mast binden lässt und dadurch verhindert, dass ihn das Sinnliche, das Hörbare überhaupt bewegen kann, genauer: vom Weg abbringen kann? Aber müssen wir nicht zugleich auch Pythagoras vor einer rein orphischen (also einer der Strategie des seefahrenden Orpheus verpflichteten) Interpretation vehement verteidigen? Schließlich ist dieses pythagoreische Unhörbare doch nicht das Musikstück eines Einzelnen, keine subjektive Empfindung und Erfahrung, sondern vielmehr der Klang eines Gesetzes, eines universellen, wiederholbaren Wirkungsprinzips. Auch lauscht Pythagoras nicht direkt auf das sirenenhafte Rauschen in der Ferne, er horcht nach dessen Logos. Es ist also ein denkendes Hören, dem sich Pythagoras verpflichtet fühlt, das Gesetze festlegt und doch zugleich auch Gesang werden kann. Und dieses denkende Hören entgleitet, wenn man als Schreibender versucht, Vorkehrungen zu treffen; es verschwindet, wenn man seinen Logos überhört.

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»Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?« Performativ-reflexive Kunstvermittlung Pamela Goroncy und Jessica Petraccaro-Goertsches

»Leichtfüßig miteinander, sprich liebevoll? Tänzelnd umeinander herum? Rigide aneinander vorbei? Oder bewegend kooperativ auf Augenhöhe und in ständigem Austausch?«, so lauteten die Impulsfragen des Workshops »Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?«, den die Autorinnen im Panel ›Performanz‹ auf dem interdisziplinären Symposium zur künstlerischen Forschung LaborARTorium im Dezember 2013 an der LMU München darboten. In einer fiktiven Ausstellung zum Thema Totentanz wurde ein bewegungspraktischer und verbaler Dialog zwischen Teilnehmenden, Raum und Kunstwerken inszeniert. Der Impetus für eine performativ-reflexive Kunstvermittlung im engeren Sinn und eine künstlerische Forschung als performative Praxis im weiteren Sinn liegt in der Frage nach der Entstehung, Verbindung und Kontingenz von Wissen: Ein implizites Wissen über den performativ-sinnlich agierenden Körper einerseits und andererseits ein explizites Wissen auf Informationen basierend und via verbal und intersubjektiv geführten Diskurs. Zurückgehend auf den Soziologen und Philosoph Michael Polanyi spricht man im ersten Fall »von einem in Praxisvollzügen gelebten, impliziten Wissen oder prozeduralen Können (›knowing how‹) und einem über Begründungen theoretisch eingebetteten Wissen (›knowing that‹)« (Huschka 2009: 19) im zweiten Fall. Für die Frage, wie sich Kunst und Wissenschaft zueinander verhalten, wird von einem Modell der Wissenserzeugung ausgegangen, bei dem sich eine kontinuierliche Transformation zwischen implizitem und explizitem Wissen ereignet.1 Der vorliegende Aufsatz versucht anhand der Dokumentation des Workshops »Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?« einige skizzenhafte Antworten zur Kontinuität von Wissen zu geben: Was ereignet sich, wenn beide Wissens1 | Mit dem SECI-Modell (Socialization, Externalization, Combination, Internalization) legten Nonaka und Takeuchi mit The Knowledge Creating Company (1995), anknüpfend an die Theorie Polanyis, ein Modell zur Wissenserzeugung vor, bei dem Wissen in einer Kontinuität zwischen implizitem und explizitem Wissen entsteht.

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formen – implizites und explizites Wissen – sich innerhalb einer kulturellen Praxis verbinden? Im ersten Teil werden die Phänomene Tanz und körperliche Bewegung genauer betrachtet. Tanz offenbart sich als Wissenskultur des Impliziten, die innerhalb künstlerischer Forschung wie innerhalb von Kunstvermittlung einem traditionellen Diskurswissen zur Seite gestellt wird. Im zweiten Teil wird künstlerische Feldforschung mit Andreas Brenne (2008: 4-17) als Methode einer partizipativen Kunstvermittlung skizziert und um die Verzahnung einer performativ-reflexiven Vermittlungspraxis erweitert. Mit einem Verständnis, welches das gleichberechtigte Wechselspiel zwischen kognitiven Prozessen und der Leiblichkeit der Erfahrung hervorhebt, wird Forschung als offener, konstruktivistischer Prozess verstanden (vgl. Pfeiffer 2012: 214). Im dritten Teil wird der Workshop »Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?« entlang der Module Prägnanter Einstieg, Performative Recherche und Intersubjektive Wissenseinbettung dokumentiert. Das Einflechten der konkreten bewegungspraktischen Handlungsanweisungen in den Text, die zu einem großen Teil auf Methoden der Laban-Bewegungsstudien (vgl. Laban 1981 u. 1988; labaneurolab.org [28.05.2015]) basieren, macht die atmosphärische Situation des Workshops für den Leser nachempfindbar. Mit einem verbindenden Blick, der anschließend kunsthistorische Recherchen zu (Toten-)Tanzmotiven (Abb. 1 und 2) in einen intersubjektiven Dialog einbezieht, werden im letzten Modul lyrische Notizen dokumentiert. Abschließend sind mögliche Wissensergebnisse in Form von assoziativen, zugespitzten Thesen fixiert, die Annäherungen an die Frage »Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?« vorschlagen.

1. Tanz als W issenskultur des I mpliziten Tanz ist (noch) kein etabliertes Medium, keine gängige Methode innerhalb des Kanons künstlerischer Forschung oder innerhalb einer ästhetischen, kulturellen Praxis, die beabsichtigt Wissen über und gegenüber einem spezifischen Kunstobjekt zu vermitteln. Was überhaupt ist Tanz? Wie lässt sich sein Potential in Bezug auf die Entstehung und Vermittlung von Wissen in der künstlerischen Forschung wie in der Kunstvermittlung aufzeigen? »Tanz ist Kunst und Leben, ist kreative Praxis und kulturelles Produkt zugleich.« (Schmitz 2013: 13) Als spezifische Form kulturellen Bewegens spiegeln sich im Tanzen individuelle und kollektive Bilder des Menschen: Kulturelle Ordnungen, Symbole, Rituale und Wahrnehmungen werden in der Praxis des Tanzens sinnlich, kinästhetisch und emotional über die körperliche Präsenz aktualisiert, materialisiert und kommuniziert. Tanz ist eine der ältesten, global verbreiteten Kulturpraxen, die sich als flüchtige Ausdrucksform über körperliche Bewegung realisiert. Umgekehrt besteht im Tanzen eine spezifische Ausformung eines grundlegend anthropologischen Bewegens. Tanz lässt

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sich als »›Wissenskultur‹ eines sinnlich-dynamischen Wissens« (Brandstetter 2007: 41) beschreiben. Er zeigt in seiner Flüchtigkeit, dass »das traditionelle Bild vom Gedächtnis der Kultur statisch, architektonisch, quantitativ und enzyklopädisch angelegt ist; das Performative, die Bewegung einer jeden Gedächtnis-Praxis, wird dabei häufig gekappt« (ebd.: 39). In Bezug auf die Bedeutung von Tanz und Bewegung für ästhetisch-kulturelle Praktiken erweitert Martin Seel (2003: 46f.) den ästhetischen Gegenstand als solchen, indem er nicht nur ruhende Objekte, sondern Situationen und Konstellationen von Dingen, Ereignissen sowie Personen darunter fasst. Eine ästhetische Situation ist davon gekennzeichnet, dass ein Mensch sich in dynamischer Weise inmitten derselben befindet. Die erweiterte Sichtweise ästhetischer Objekte und Situationen macht es unabdingbar, Tanz und Bewegung in ästhetische Betrachtungen einzubeziehen. Worin besteht das spezifische Wissen von Tanz und Bewegung? Es handelt sich um »ein anderes Wissen, als das rational oder diskursive Wissen«, wie Gabriele Brandstetter (2013: 226) festhält. »Es ist körperlich-sinnlich, und es ist an bestimmte Gedächtnisstrukturen und emotionale Reaktionen gekoppelt: ein implizites Wissen.« (Ebd.) Tanz- und Bewegungswissenschaftler, Phänomenologen, Anthropologen (vgl. u.a. Polanyi 1966 u. 1985; Gehm/Husemann/von Wilcke 2007; Huschka 2009) ebenso wie Neurowissenschaftler und -biologen widmen sich diesem Feld, bei dem es um die Untersuchung einer Spielart geht, die nicht in Worte zu fassendes Wissen darstellt. Dieses implizite Wissens ist zwar weitestgehend anerkannt, stößt aber aufgrund der Unmöglichkeit der Versprachlichung immer wieder an die Grenzen traditioneller Wissenschaftstheorien. Aber »wenn Tanz als Wissenskultur, d.h. als Schauplatz eines anderen, sinnlich-dynamischen Wissens auftritt und akzeptiert wird, so kann dies nicht ohne Einfluss auf unser generelles Verständnis von Wissen und Wissenschaft bleiben. Tanz würde dann die Grenzen dessen, was wir für Wissen und Wissenschaft halten, verschieben und damit unser Verständnis von Wissen selbst in Bewegung setzen; beispielsweise wenn wir [...] feststellen, dass die Objekt-Unschärfe und eine temporale Struktur auch die vermeintlich sicheren Artefakte, Monumente oder Experimentanordnungen des Wissens betreffen« (Brandstetter 2007: 41).

Die Bedeutung dieses Zitats erlaubt seine Ausführlichkeit für den vorliegenden Zusammenhang: Denn sowohl für künstlerische Forschung, als auch für künstlerische Praxis und Kunstvermittlung leuchtet ein, dass die Frage nach der Entstehung, Verbindung und Kontingenz von Wissen weder ohne den Körper, noch ohne körperliche Bewegung beantwortet werden können. Vermeintlich sichere, objektive Tatsachen geraten mit der Bedeutung eines sinnlich-dynamischen Wissens ins Wanken. Auf ästhetische und kulturelle Praxis

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bezogen lässt sich sagen, dass die »Ästhetische Erfahrung – die Evidenz von Kunst – jenseits von Informationswissen über Kunst stattfindet – wenn auch vielleicht nicht ganz unabhängig davon, da die Komplexität der Erfahrung ja in einem individuellen Gemisch von Erinnerung, Wissen, Wahrnehmung, Erwartung und Begehren besteht« (Brandstetter 2007: 43).

2. K ünstlerische F eldforschung als partizipative K unst vermit tlung Gestützt auf Erkenntnisse der Phänomenologie, der ästhetischen Theorie sowie der konstruktivistischen Lerntheorie arbeiten die beiden Autorinnen seit März 2013 – aus der Bewegungswissenschaft und aus der Kunsthistorik heraus – an einer Methode, die interdisziplinär Kunst und Kultur vermittelt. Ein Ausgangsmotiv der Methodenentwicklung besteht darin, eine mögliche Schwellenangst vor der Begegnung (und Interpretation) von Kunst beim Betrachter zu bezwingen. Der Zugang und die Präsenz faktischen Wissens darf kein Zugangskriterium für Kunstauseinandersetzung sein. Die Begegnung mit Kunst vollzieht sich hingegen subjektiv, interessengeleitet und körperlich präsent. Für die Autorinnen besteht ein Ziel zukünftiger Kulturarbeit und Kunstvermittlung darin, körperlich präsente Begegnungen mit Kunst zu ermöglichen und so über eine rational dominierte Interpretation hinaus die Entstehung impliziten Wissens zuzulassen. Wie lässt sich eine partizipative Vermittlungsmethode, wie im Fall des Workshops »Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?« angelegt, für eine Betrachtung künstlerischer Forschungsstrategien fruchtbar machen? Mit dem Kunstpädagogen Andreas Brenne (2008) bewegen sich Kunst und Wissenschaft im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Forschung einerseits und künstlerischen Strategien der Weltaneignung andererseits. Auf Basis eines weiten Forschungsbegriffs, der Forschung generell als Untersuchung und Aneignung menschlicher Lebenswelt fasst, werden die Trennschärfen zwischen Wissenschaft und Kunst fließend: In beiden wird geforscht. Erkundende Verfahren des Menschen sowie seiner Welt rücken in den Fokus. Künstlerische Feldforschung interpretiert traditionelle Kunstproduktion neu und versucht mit einem erweiterten Kunstverständnis »grenzüberschreitend und intermedial – Felder der Lebenswelt auszuloten und subjektiv/intersubjektiv zu kommentieren« (ebd.: 6). Brenne bezieht sich in seinen theoretischen Ausführungen auf die Aktionskünstlerin Lili Fischer. Diese entwickelt seit den 1970er Jahren ein Konzept, das Kunst, wissenschaftliche Forschungsverfahren und Vermittlung differenziert und inszeniert. Brenne unterteilt in seiner Untersuchung die Strategie Fischers methodisch in drei Handlungsebenen: In der (1) »Feldbegegnung« (ebd.: 7) erhalten die Teilnehmenden im Interaktionspro-

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zess die Möglichkeit zur Initiation ästhetischer Erfahrungen, indem sie sich über unterschiedliche ästhetische Dimensionen individuell mit einem Thema auseinandersetzen. Dies können Spielen, Bildnerisches Gestalten, Bewegen, musikalisches Handeln sowie weitere Formen ästhetischer Praxis sein. In der (2) »Aufarbeitung« (ebd.) des im Feld erhobenen Materials entstehen ästhetische Produkte, die den Erfahrungsprozess und die entstandenen Erkenntnisse spiegeln. Dabei handelt es sich um die Konstruktion einer erweiterten Vorstellung von Wirklichkeit und nicht um faktische, re-konstruierte Wahrheit. In der (3) »Präsentation« (ebd.) der künstlerischen Feldforschungsergebnisse entsteht ein Überblick über den Verlauf des individuellen sowie kollektiven ästhetischen Prozesses, der hierdurch kommunizierbar wird. Für eine performativ2-reflexive Kunstvermittlung, welche implizites (tänzerisch-bewegtes) Erfahrungswissen mit explizitem, tradiertem (kunsthistorischem) Wissen verzahnt, wird die künstlerische Strategie von Fischer (und ihre bildungstheoretische Ausarbeitung durch Brenne) von den Autorinnen um eine Ebene erweitert3: In der (4) ›Abstimmung‹ wird die Erfahrungsbildung im Dialog mit kunsthistorischen Fakten auf sprachlich-reflexiver Ebene in eine weitere Ausdifferenzierung der Inhalte gesteigert. Von hier aus wird von einem zyklischen Fortgang des Bildungsprozesses ausgegangen, bei dem in einer neuerlichen Auseinandersetzung sowohl eine performativ als auch reflexiv veränderte Feldbegegnung entsteht: Die Verknüpfung von bereits erlebtem und vorhandenem Wissen mit ›neuen‹ impliziten wie expliziten Erfahrungen und Erkenntnissen führt zu einer Kunstbetrachtung, die damit eine Kontinuität des Wissensprozesses darstellt.

3. »W ie tanzen K unst und W issenschaf t ?« – D okumentation eines W orkshops Im Rahmen des interdisziplinären Symposiums LaborARTorium boten die Autorinnen einem Dutzend Teilnehmenden am 7. Dezember 2013 einen schnellen Einblick in ihren Kunstvermittlungsansatz. Der Workshop »Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?« stellte einen Ausschnitt aus einem Format dar, das beispielsweise im Zuge einer Vermittlungssituation in Kultur- oder Bildungseinrichtungen, aber auch im künstlerischen Arbeitsfeld als ästhetische Forschungsstrategie eine kreative Arbeits- und Experimentierweise zulässt. Die performativ-reflexive Vermittlungsmethode ist eine an der Biografie, dem Interesse und der Wahrnehmung der Teilnehmenden ansetzende Praxis. Das 2  |  Für die Entstehung von Wissen kann hier keine Abgrenzung der Begriffe performativ, implizit und ästhetisch erfolgen. 3 | Im weiteren Verlauf des Textes wird von der Methode Brenne/Fischer gesprochen.

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ästhetische Phänomen ›Kunstwerk‹ weckt im Körper individuelle Impulse, die im Medium Tanz aus der eigenen körperlichen Bewegung heraus verarbeitet werden. Abschließend stellt dieser Zugang eine Verknüpfung zwischen den subjektiven Erfahrungen mit kunsthistorischen Fakten her und ermöglicht einen Dialog auf körperlich-performativer sowie rational-reflexiver Ebene. In einem Seminarraum im Kellergeschoss des Tagungsgebäudes wurde eine künstliche Ausstellungssituation zum Thema Totentanz geschaffen. Strukturell orientierte sich der Workshop an drei Modulen, deren erste Stufe einen thematischen und atmosphärischen Zugang zu den präsentierten Bildern und der Ausgangsfrage eröffnet, deren zweite Stufe individuelle, performative und über den Körper und tänzerische Bewegung evozierte Erlebnisse und Erfahrungen verfolgt und deren dritte Stufe intersubjektiv entstandenes – implizites und explizites – Wissen der Teilnehmenden verhandelt und kunsthistorisch tradierte Positionen mit einbezieht: • Prägnanter Einstieg ins Thema (Roter Faden, Thesen) • Performative Recherche: Drei-Phasen, frei nach Laban • Intersubjektive Wissenseinbettung via Tradierung (körperlich-erlebter und historisch-tradierter Wissensabgleich) Nachfolgend werden die drei Module dokumentarisch beschrieben und diskursiv eingebettet.

3.1 Prägnanter Einstieg ins Thema Bezug nehmend auf das Tagungsthema wurde zu Beginn des Workshops den Teilnehmenden mit der Auswahl der Motive und der dadurch erzeugten Atmosphäre ein prägnanter Einstieg geboten. Es entstand eine erste reflexive ›Feldbegegnung‹ (nach Brenne/Fischer). Gleich zu Beginn wurden folgende assoziative Fragen aufgeworfen: »Wie tanzen Kunst und Wissenschaft? Leichtfüßig miteinander, sprich liebevoll? Tänzelnd umeinander herum? Rigide aneinander vorbei? Oder gar bewegend kooperativ auf Augenhöhe und in ständigem Austausch?« In verschiedenen Höhen und an unterschiedlichen Einrichtungsgegenständen waren im Raum fünf Farbkopien der folgenden Werke angebracht, in der Mehrzahl Totentanzszenen: • Hans Baldung (1517): Der Tod und das Mädchen (Der Tod und die Wollust). Mischtechnik auf Lindenholz, 30,3 x 14,7 cm; Basel, Kunstmuseum (Abb. 1). • Honoré Daumier (1843): La mort de Sapho (49., Histoire ancienne). Lithograph, 23,8 x 18,8 cm (image), 33,5 x 26,1 cm (sheet); San Francisco, California, USA.

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• Edvard Munch (1894): Das Mädchen und der Tod. Kaltnadelradierung, 30,5 x 22 cm (Platte); Graphiksammlung Mensch und Tod der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf (Abb. 2). • Ernst Barlach (1916): Aus einem neuzeitlichen Totentanz. Tusche, Bleistift, Kohle auf Papier, 32,70 x 24,50 cm; Museum Ludwig, Köln. • Oskar Schlemmer (1922): Das Triadische Ballett. (Fotografie; Kostüme: Staatsgalerie Stuttgart).

3.2 Performative Recherche: Drei-Phasen, frei nach Laban Mit einer ästhetisch-tänzerischen Herangehensweise wurde im zweiten Modul der performativen Recherche die Auseinandersetzung mit sinnlichen Qualitäten und emotionalen Erscheinungen sowie assoziativen Vorstellungen zu den Motiven unterstützt. In einer Drei-Phasen-Bewegungssequenz – (1) Mein Körper und Raumwege, (2) Dialoge und Reduktion, (3) Kollektive Performance – von je circa fünf Minuten wurde eine bewegungspraktische Annäherung an den eigenen augenblicklichen Zustand und die Atmosphäre des Raumes, die phänomenale und elementare Erscheinung der selektierten Motive (s. Kap. 3.1.) sowie die soziale Konstellation innerhalb des Workshops hergestellt. Im Vordergrund standen Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen, welche gängige Rezeptionspraxen der visuellen oder rational-kognitiven Betrachtung Bildender Kunst sowie deren Vermittlungspraktiken überschreiten. Hierbei wurde von sich selbst ausgehend, über erkundende Raumwege, körperliche Haltungen, Bewegungen und assoziierte Gesten, zu in den Raum gesprochenen Begriffen gearbeitet. Die einzelnen Phasen folgten ohne Zeit für sprachlichen Austausch oder vertiefende Reflexion direkt aufeinander. Der Ablauf der Sequenz war in Anlehnung an die Bewegungslehre Rudolf von Labans konzipiert, dessen Werk bis in die zeitgenössische Tanztheorie ein Fundament in der Erforschung menschlicher Bewegung und ihrer Verbindung zu emotionalen wie kognitiven Erfahrungsstrukturen darstellt. Im Anschluss daran ist der Mensch als psycho-physische Einheit zu begreifen, was im Kontext kultureller Praxis eine ganzheitliche Betrachtungsweise unabdingbar macht. Die zentralen Kategorien Labans sind der Körper, der Raum, der Bewegungsantrieb und die Bewegungsform (vgl. Laban 1988). In (1) Mein Körper und Raumwege erfolgte ein Warm-Up, durch das die Teilnehmenden in einen Zustand der Ruhe und phänomenalen Aufmerksamkeit gebracht wurden. Ziel dieser, an den Prägnanten Einstieg anschließenden, performativen ›Feldbegegnung‹ war es, eine hohe Aktivität und Sensibilität auf phänomenale Erscheinungen in Bezug auf den eigenen Körper und den Raum herzustellen sowie bereits ästhetische Wahrnehmungen und Erfahrungen zu initiieren.

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Mit der Anbindung an phänomenologische Theorien (vgl. Merleau-Ponty 1974; Waldenfels 2002; Schmitz 2001 u. 2011) geschieht jedes Wahrnehmen und Interagieren des Menschen in einem unaufhebbaren Zur-Welt-Sein. Eine phänomenologische Prämisse einer ästhetischen Situation besteht demnach in der Begegnung von Subjekt und Welt/Objekt, die sich durch die Interdependenz ihrer Pole auszeichnet. Dies zeigt sich darin, dass der Mensch in dieser Situation affektiv von den Phänomenen der Wahrnehmung und dieser selbst betroffen ist und sich in der Erfahrungssituation selbst spürt. Hauptschauplatz innerhalb dessen ist der Körper bzw. Leib. Gernot Böhme (2001) bezeichnet diese phänomenale Gegebenheit in Anlehnung an Hermann Schmitz als »leibliches Spüren subjektiver Tatsachen« bzw. »affektives Betroffensein« (ebd.: 39). Hierdurch wird der Mensch in seiner subjektiven und körperlichsinnlichen Präsenz und Reflexivität unabkömmlich. »Schließ die Augen. Steh einfach da und spüre dieses aufrechte Dasein im Raum. Vergewissere Dich Deines Körpers, indem Du ihn von oben nach unten abtastest, -klopfst oder -streichst: angefangen beim Kopf [...] bis zu den Füßen. Vergewissere Dich jetzt Deines inneren Raumes. Stell Dir vor Du konstruierst mit den Händen eine Kugel. Forme diese! Du kannst sie in ihrer Größe und Beschaffenheit verändern. Stelle Dir vor, Du lässt sie durch eine Hand in Deinen Körper hinein. Von der Hand aus bewegt sie sich durch den Körper hindurch. Beeinflusse den Weg der Kugel durch Bewegungen. Was geschieht mit ihr, wenn Du den Arm hebst? Wohin im Körper rollt sie? Oder wenn Du Dich drehst? [...] Schließlich wird die Kugel immer kleiner, bis sie sich fast unmerklich auflöst. Öffne die Augen! Komme allmählich zurück in den Ausstellungsraum. Nimm diesen als solchen mit seinen Ausmaßen und seiner Ausstattung wahr. Geh kreuz und quer durch den Raum. Erforsche den Raum im Gehen. Spiele mit der Geschwindigkeit: Geh langsam, schneller, bleib stehen, renne. Spiele mit den Richtungen und Positionen [...] mit dem Krafteinsatz. Öffne Dich für die Details des Raumes [...] Hinterlasse Spuren im Gehen. Öffne Dich für die Atmosphäre des Raumes.« (Handlungsanweisungen im O-Ton, München, 7. Dezember 2013)

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Abb. 1: Hans Baldung (1517): »Der Tod und das Mädchen«



© Kunstmuseum Basel.

In (2) Dialoge und Reduktion entstand eine ästhetische Recherche zu den ausgestellten Totentanzmotiven, bei der sich die Teilnehmenden konkret den Bildern sowie den phänomenalen Bestandteilen der Motive annäherten. Aufgabe war es, die präsentierten Motive in der Bewegung zu erforschen, zu imitieren, zu inszenieren sowie Form, Farbe und Ästhetik Ausdruck zu verleihen. Wiederholt kam es zu performativen Begegnungen mit den Kunstwerken. Mit der Aufgabe, die körperlich-tänzerische Recherche zu memorieren und daraus eine Reduktion auf einen persönlich prägnanten Ausdruck zu finden, erfolgte ein Übergang zur der von Brenne/Fischer als ›Aufarbeitung‹ betitelten Ebene. Die Teilnehmenden kreierten ästhetische Produkte, die den Erfahrungsprozess und die entstandenen Erkenntnisse spiegelten und im Raum bereits materialisiert wurden. Vorgegebene Wissensverknüpfungen und Sehvorgaben wurden zwar wahrgenommen, ein Identifikationszugang wurde aber durch einen unkonventionellen Zugang, vom Betrachter ausgehend, gewonnen. Das

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erkenntnisleitende und kommunizierende Instrument war der sich bewegende, sinnliche Körper. Die ästhetische Wahrnehmung öffnet sich im Unterschied zur rein sinnlichen Wahrnehmung für das simultane und momentane Erscheinen des Wahrgenommenen: Es entsteht ein umfassendes Spüren phänomenaler Aspekte, wodurch der Wahrnehmende in einen besonderen Zustand der Aufmerksamkeit kommt. Das Wahrgenommene erhebt sich aus dem Fluss des Alltäglichen und wird zum ästhetischen Gegenstand. Eine ästhetische Erfahrung lässt sich ausmachen, wenn aus der sinnlichen Aufmerksamkeit für das Gegenwärtige ein Ereignis wird, das den subjektiven Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont überschreitet (vgl. Seel 2003: 100). Der Fluss des sinnlichen Wahrnehmens wird durch ein augenblickliches Dazwischen unterbrochen, welches Bernhard Waldenfels als »Diastase« bezeichnet (2002: 173f.). In die Kontinuität des Wahrnehmens drängt sich ein Moment der Diskontinuität. Hierin zeigt sich die erkenntnistheoretische Dimension: Es entsteht ein »diskontinuierliches Ereignis«, dass »als ästhetische Erfahrung« eine Form impliziten Wissens »im Bewegen« darstellt (Goroncy 2011: 88). Das Erkennen ereignet sich nicht über ein zweites Gleis in Form einer kognitiven Distanzleitung, sondern manifestiert sich im Körperlichen. »Widme Deine Aufmerksamkeit den im Raum verteilten Bildern. […] Geh durch den Raum zu einem Bild. Schau Dir das Motiv an. Lass Dich visuell auf das Bild ein. Nimm die ästhetische Fülle wahr. Welche Assoziationen hast Du beim Betrachten? Welches Element, welche Form oder Farbe springt Dir ins Auge? Nimm imaginär ein Element aus dem Bild heraus. Transportiere es mit Deinem Körper in den Raum hinein. Welche Bewegung oder körperlichen Ausdruck löst das Motiv spontan in Dir aus? Experimentiere damit! Gehe zu einem anderen Bild. Wiederhole den Vorgang: Nimm das Motiv wahr – transportiere ein Detail körperlich in den Raum – finde eine spontane Bewegung. Gehe erneut zu einem Bild. […] Nimm als weitere Ausdrucksebene Sprache hinzu: Wenn Dir ein Wort in den Sinn kommt, sprich es in den Raum hinein. Experimentiere damit! […] Suche Dir nun einen freien Platz im Raum. Erinnere noch einmal deine Recherche. Was nimmst Du aus dem Raum und den Motiven mit? Was war ein intensiver Moment? Was erinnerst Du? Was hat sich körperlich manifestiert? […] Reduziere von hier aus Deine Ausdrücke auf eine Bewegung oder sprachliche Äußerung. Wiederhole die Bewegung oder das Wort ein paar Mal, bis eine klare Form für Dich entsteht.« (Handlungsanweisungen im O-Ton, München, 7. Dezember 2013)

»Wie tanzen Kunst und Wissenschaf t?« Abb. 2: Edvard Munch (1894): »Das Mädchen und der Tod«



© Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin.

Das Ende der Bewegungssequenz bildete die (3) Kollektive Performance, in der das zuvor individuell recherchierte Material als Gruppeninszenierung im Raum eine körperliche Darstellung und Aufzeichnung erfuhr. Mit Brenne/Fischer betrachtet, handelte es sich hierbei um die ›Präsentation‹ des im Feld erhobenen Materials, das nun durch den kommunikativen und kollektivleiblichen Austausch die individuellen Erfahrungen in einen Gruppenprozess steigerte. Die Akteure blieben in ihrem Tun nicht isoliert, sondern stellten das recherchierte Material der gesamten Gruppe räumlich und performativ zur Disposition. Aktiv wurden sie zu Betrachtern der anderen. Die Performance zeichnete gewissermaßen die Ergebnisse der Beobachtung im Feld körperlich in den Raum. »Jetzt geht es darum, auf Basis der ästhetischen Recherche und der Reduktion auf einen bewegten, körperlichen oder verbalen Ausdruck eine kollektive Performance zu machen. […] Wenn die Musik beginnt, steigt sofort ein: Geht zehn Schritte in eine beliebige Richtung, bleibt an dieser Stelle stehen und führt unvermittelt Euren recherchierten

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Pamela Goroncy und Jessica Petraccaro-Goer tsches Ausdruck – Bewegung, Haltung oder verbale Äußerung – aus. Geht anschließend wieder zehn Schritte usw. Endet, wenn die Musik stoppt. Das Stück dauert etwa drei Minuten. Während der Performance könnt Ihr das Gehen und den Ausdruck verfremden, z.B. intensivieren, beschleunigen, fragmentieren, ausdehnen, vergrößern. Nehmt Bezug zu den anderen Teilnehmern, tretet in (bewegte) Dialoge und lasst Euch von ihrem Tun inspirieren. […] Eure persönliche Annäherung an den Raum, die Bilder und das Thema der Ausstellung sowie die körperlich-sinnlichen Erfahrungen und die Begegnungen mit den anderen Teilnehmern werden in der Performance zusammengeführt. Sucht Euch eine beliebige Ausgangsposition. [Musik an.]« (Handlungsanweisungen im O-Ton, München, 7. Dezember 2013)

Am Ausklang der performativen Recherche entsteht ein gemeinsames ästhetisches Wissen über die Situation. Das absichtliche Übersehen der kunsthistorischen Fakten und die Konzentration auf das Phänomenale ermöglichen über die Transformation des Bewegens unmittelbare Dialoge zwischen den Individuen und den (Kunst-)Objekten.

3.3.1 Intersubjektive Wissenseinbettung via Tradierung Als Wissenseinbettung und inhaltliche Rückkopplung rundet ein Gesprächskreis den performativ-reflexiven Prozess ab, in dem das implizit und individuell erfahrene Körperwissen thematisiert wird. Diese Ebene der ›Abstimmung‹ versucht nicht einen gemeinsamen Nenner für die Erfahrungen zu konstruieren, sondern sucht den Dialog von individuellen Erfahrungen und vorhandenem Hintergrundwissen. Im Anschluss an die Bewegungspraxis wurden die Teilnehmenden befragt, welche Disziplin für sie in den Kunstwerken welche Vorurteile verkörperte und ferner, wie sich die Disziplinen zueinander für sie verhielten, ob Wissenschaft und Kunst damals tatsächlich, wie die Werkauswahl suggerierte, ein Pas de deux tanzte, sowie was für ein Wissen generiert und welche Erfahrungen und Erkenntnisse verknüpft wurden. Wertfrei werden die auf blitzenden Erinnerungen der Gruppe gesammelt und mit Hilfe des kunsthistorischen Blickes zu möglichen Themenausrichtungen gebündelt. Jedoch sind es vor allem die körperlich memorierten Motive der Kunst aus den drei Bewegungsphasen, die nachhaltiges Wissensinteresse schüren. So führte im Workshop der gemeinsame Wissensabgleich, der Tradierungsstrich, zur Diskussion, wie Totentanz-Darstellungen aussahen. (Seit wann gab es welche?) Welche Versprechen gingen von ihnen aus und inwiefern waren diese historisch, inwiefern künstlerisch bedingt? Der Einblick in aktuelle Forschungsergebnisse wird somit erst in dieser Ebene angeboten; dies können Schlagwörter, Lexika-Auszüge, sonstige Text-

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auszüge, Vergleichskunstwerke oder verbal erklärte Thesen sein. Wenige Themenschwerpunkte helfen der Gruppe das neu gewonnene Wissen zu strukturieren und damit zu verknüpfen, eine Kontextualisierung zu den Kunstwerken und den Künstlern entsteht. Dabei konnten im Workshop »Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?« beispielsweise Tod, Krankheit, Vernichtung, Klage, Alter, Schönheit, Starrsinn, Freiheit, Fremdbestimmung, Schicksal, Sehnsucht oder Tanz als immanente Themen aller Werke aufgegriffen werden. Daneben standen unzählige andere Themen, die bereits eine Deutung des Gesamtmotivs provozierten. Denkbar waren etwa Syphilisgelb, Liebestod, Materialkorsett oder Befruchtung. Ferner konnten zeitgenössische Bezüge zu den Künstlern hergestellt werden, etwa der sich jährende 75. Todestag Barlachs. Zur weiteren Themenvertiefung bot es sich an, thematisch relevante Ausstellungen und Tagungen für weitere Auseinandersetzungen aufzuzeigen, weshalb im Workshop auf vor kurzem stattgefundene oder zeitnah erfolgende Tagungstreffen und deren etwaige schriftliche Dokumentation hingewiesen wurde (so u.a. auf »Tanz über Gräbern: 100 Jahre Le Sacre du Printemps« der Kulturstiftung des Bundes und dem Zentrum für Bewegungsforschung der Freien Universität Berlin). Im Dialog mit den Erfahrungen der Einzelnen sowie der Gruppe wird in der ›Abstimmung‹ kein vorgefertigtes Konzept erörtert, sondern ein neues entworfen. Hierbei stellen vermeintlich ›falsche‹ Assoziationen zu einem Werk und der anschließenden gemeinsamen Befragung nach der historischen Korrektheit einen Gewinn dar. Denn rhetorischen Fragen ähnlich, ist der Charakter dieser individuellen Betrachtungsweise ein möglicher Aspekt, den es selbst nachzuvollziehen und (körperlich wie geistig) zu verifizieren (oder falsifizieren) gilt. Die erfolgte Sensibilisierung für dieses eine Thema überwiegt die vorherrschende Angst vor ›falschen‹ Zugängen. Dabei wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass unwahres Faktenwissen auf Augenhöhe ausdiskutiert und gegebenenfalls zur Schließung der Lücken mögliche Wissensexkurse vorgeschlagen werden. Neben dem Vertiefungsverweis auf kunsthistorische Überblickswerke oder dem Hinweis auf Online-Wissensportale, können für die Teilnehmenden ferner Ausstellungsrechercheleistungen hilfreich sein. Letztere können leicht zugänglich in Ausstellungskatalogen nachvollzogen werden; zu nennen war im Workshop v.a. das vollständig online zugängliche Begleitheft zur Ausstellung »Zum Sterben schön? Der Tod in der Kunst des 20. Jahrhunderts« der Kunsthalle Recklinghausen (siehe hierzu: http://www. kunst-in-recklinghausen.de/14%20Archiv/zumsterbenschon2.html [17.05.15]).

3.3.2 Erfahrungsreflexion der Teilnehmenden Eine anwesende Bildhauerin (zugleich Tänzerin) war von den Bewegungseinblicken der Werke fasziniert; kleine einfache Gesten, die frei nachvollzo-

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gen ganze Abläufe provozierten. Ein Chirurg wunderte sich über Munchs ­(Sperma-)Embryonen und nahm sich für seine beruflich-ethischen Auseinandersetzungen weitere Bildsichtungen vor. Eine Kunsthistorikerin zweifelte an der Dehnbarkeit der Methode für eigene, kreative Recherchezwecke: »Kann das Hintergrundwissen über das Werk tatsächlich mittels Bewegung ausgeblendet werden? Und ist das freie Assoziieren dieser Kunstvermittlung überhaupt legitim?« Der Vorwurf der unnötigen Beliebigkeit des Assoziierens ist innerhalb der performativ-reflexiven Vermittlungsmethode nicht tragbar. Gerade die gemeinsame Verortung der verschiedenen Zugänge im Zuge der ›Abstimmung‹ mit Tradierungsleistung und die daran anknüpfende Möglichkeit, dass jeder nach dem Workshop über berichtete Sichtweisen anderer nachdenken kann, bietet zukünftig weitere Möglichkeiten der Verknüpfung (s. Kap. 2.). Die individuelle Selektion kann hierin zwar einseitig erfolgen, verhilft dem Einzelnen längerfristig jedoch durch ständige Justierung der Erfahrungen zu einer reflektierten Stellungsbeziehung – eine Nachhaltigkeit, die in dauerhaftes Themeninteresse resultieren kann.

3.3.3 Greifbare Ergebnisse – mögliche Wissensprodukte Eine neuerliche Betrachtung der Kunstwerke kann bereits in der gemeinsamen Tradierungsebene (wie ebenso später im Zuge einer neuerlichen Auseinandersetzung mit dem Thema) einen zyklischen und performativen Vermittlungsprozess provozieren. Aus der Vielzahl möglicher Impulse zeigt nachfolgendes lyrisches Gedankenspiel einige Deutungen der Ausgangsfrage »Wie tanzen Kunst und Wissenschaft?« auf: Abhängigkeit-Einschränkung-Annäherung-Befreiung-Loslösung Abhängigkeit Die Kunst lebt – lebt die Wissenschaft? Die Kunst erblüht – erblüht die Wissenschaft? Die Kunst welkt – welkt die Wissenschaft? Die Kunst stirbt – stirbt die Wissenschaft? Die Wissenschaft stirbt – stirbt die Kunst? Die Wissenschaft welkt – welkt die Kunst? Die Wissenschaft erblüht – erblüht die Kunst? Die Wissenschaft lebt – lebt die Kunst? Einschränkung Zu frei? Zu eng? Zu weit weg? Zu erklärend? Zu zu? Zu?

»Wie tanzen Kunst und Wissenschaf t?« Annäherung Wie steht die Kunst zur Wissenschaft? Wie steht die Wissenschaft zur Kunst? Stützen und beflügeln sich beide? Verhilft Kunst der Wissenschaft zur Existenzberechtigung? Überfordert die Kunst die Wissenschaft? Können wissenschaftliche Zugänge Kunst be- und antreiben? Hilft die Wissenschaft Kunst zu positionieren? Verklärt die Wissenschaft den künstlerischen Blick? Wird die Wissenschaft der Kunst zum Verhängnis? Erdrückt die Wissenschaft die Kunst? Welche Disziplin ist ausbeutend? Welche ist lebensbejahend, lebendig? Befreiung Auf, ab, vorwärts, zurück, mitten hindurch, daran vorbei, vorbei, vorbei, überwunden, besiegt, vergessen, gequält, bereut, angenähert, geküsst, bereut, voneinander entfernt, Da Capo al fine. Ist es ein ungleiches Ringen oder ein Befreiungstanz? Ist es eine amouröse oder verhasste Liebschaft, ein Machtkampf? Loslösung Muss heutzutage ideell getötet werden, damit Neues erwachen kann?

Aus den im Workshop gesammelten und geteilten Erfahrungen der Bewegungsrecherche konnten die Teilnehmenden in diesem letzten Vermittlungsmodul im Rückgriff auf eine kunsthistorische Recherche z.B. folgende zugespitzte Polarisierungen verknüpfen: • Die Fotografie zweier Triadischer Balletttänzer Oskar Schlemmers dokumentierte einen für die Linse inszenierten Moment der Autonomie: Zwei Individuen (be)-standen nebeneinander, ihre Berührungspunkte markierten gleichzeitig die Bewegungspunkte; zwei starre Tolerante, die ihre Kräfte aus sich schöpften. • In Barlachs Zeichnung Aus einem neuzeitlichen Totentanz bezwang ein kräftiger, energiegeladener Mensch die trockene, knöcherne Endlichkeit: Die vitale Raserei siegte über das sterbliche Vergessen, ein schwungvoller Bezwinger. Doch in welcher Relation stand der Tod zum Leben? Welche moralische, welche tatsächliche Größe trennte den Menschen vom Tod? • Ganz anders war der Umgang mit dem Tod in Baldungs Gemälde Der Tod und das Mädchen (Abb. 1), die junge hübsche Vitalität haderte mit der hässlichen Sterblichkeit: Die aus Amerika importierte Syphilis forderte von den

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Umtriebigen ihren würdelosen Preis: Die Krankheit wurde zum Seitenhieb, war es wirklich eine gleichgültig Entrückte? Bezeugte doch die Inschrift »Hier mußt Du hin«, dass Gevatter Tod bereits am Grabe wartete. • Ähnlich widrige Umstände führten in Daumiers Druck La mort de Sapho zum bewussten Sturz der Lebendigkeit: Der Abgrund und das Vergessen warteten auf das ausgelieferte Opfer. • Anders Munchs forsche Kaltnadelradierung Das Mädchen und der Tod (Abb. 2): Nackt und eng umschlungen gaben sich zwei Liebende zärtlich einander hin. Überwand das schutzlose Mädchen mittels weiblicher Lebenskraft den Tod? Oder wurde vielmehr ein sexuelles Verhängnis thematisiert – denn welcher Tod wurde überwunden der eigene oder der der entstandenen Frucht? Ein hemmungsloses Miteinander mit gefährlicher Grenzauflösung der bedingungslos Liebenden. In dieser performativ-reflexiven Kunstvermittlungsmethode ist das Kunstwerk ein ästhetischer Katalysator, dessen Werkerfahrung der Betrachter, eingebettet in einen Themenrahmen, zunächst auf der körperlichen Ebene performativ recherchierend erfährt. Erst nach dieser Erfahrung wird der kunsthistorische Hintergrund partizipativ reflektierend hinzugezogen. Für diese intersubjektive Wissensvermittlung des expliziten Wissens wird auf das implizite aufgebaut. Diese bewusst inszenierte Wissensteilhabe hat im Idealfall zur Folge, dass sich in ähnlichen thematischen Kontexten zukünftige Erfahrungen nachhaltig mit diesen Erfahrungswerten verknüpfen und damit festigen. Dabei können die Teilnehmenden ihre körperlichen wie geistigen Zugänge in kreativen Wissenszeugnissen bündeln (wie beispielsweise in der Reduktion des Bewegungsmaterials, dem betrachteten lyrischen Exkurs, oder, wie in den vorangestellten polarisierenden Auslegungsthesen). Der Ausklang des Vermittlungsworkshops steht somit gleichzeitig für die Neubetrachtung von Kunst. Das Ergebnis: An diesen persönlichen Erfahrungsschnittstellen ist dank Tanz und Sprache vermeintlich unzugängliche Kunst mit angeblich nicht zu belebender Wissenschaft symbiotisch miteinander verschmolzen.

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»Wie tanzen Kunst und Wissenschaf t?«

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B ildnachweise Abb. 1, Hans Baldung (1517): Der Tod und das Mädchen (Inv. Nr. 18), Mischtechnik auf Lindenholz, 30,3 x 14,7 cm; Basel, Kunstmuseum © Kunstmuseum Basel. Abb. 2, Edvard Munch (1894): Das Mädchen und der Tod Kaltnadelradierung, 30,5 x 22 cm (Platte); Bildrecht: Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin/Graphiksammlung »Mensch und Tod« der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Sichtbarmachung als Wissensproduktion Zur künstlerischen Methode der Enzyklopädie der Handhabungen 1 Anette Rose

In Handgriffen, im Umgang mit Dingen und Geräten und in Maschinen selbst ist ein Wissen verkörpert, das wie jedes implizite Wissen meist unbewusst bleibt. In meinem künstlerischen Langzeitprojekt Enzyklopädie der Handhabungen habe ich unterschiedliche Formen entwickelt, um dieses Wissen sichtbar zu machen. Gegenstand meiner künstlerischen Beobachtung sind handwerkliche Prozesse und wissenschaftliche Praktiken. Insbesondere verfolge ich das Zusammenspiel von haptischer Erfahrung und Denken, Greifen und Begreifen. Im Rahmen des Projekts beschäftige ich mich sowohl mit alten Kulturtechniken als auch mit Hightech-Verfahren. Mit audiovisuellen Strategien veranschauliche ich die Verbindungslinien zwischen Körper, Werkzeug und Gegenstand. Ich untersuche, wie sich das manuelle Wissen im Umgang mit Materialien in den Körper einschreibt und Handhabungen in Maschinenbewegungen übersetzt werden. Dazu recherchiere ich in Archiven und Museen und arbeite mit Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen zusammen. Ich filme in Fabriken, Handwerksbetrieben und wissenschaftlichen Laboren. Ziel meiner Arbeit ist es, die komplexen Zusammenhänge filmisch zu verdichten und durch die Montage von Videos, Objekten und Bildern im Ausstellungsraum zur Darstellung zu bringen. Dabei geht es mir darum, Arbeits- und Produktionsprozesse im Kunstkontext zu reflektieren. Ich greife Formen des Minimalismus auf, verbinde sie aber mit einer gesellschaftlichen Realität, die ansonsten oft unsichtbar bleibt.

1 | Der hier abgedruckte Text ist eine überarbeitete Fassung des Aufsatzes »Zwischen, unter, entlang und ringsherum. Zur Enzyklopädie der Handhabungen«, in: Thomas Pöpper (Hg.) (2015): Dinge im Kontext. Artefakt, Handhabung und Handlungsästhetik zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin: De Gruyter, S. 98-104.

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Z wischen H andwerk , K unst und W issenschaf t Manuelle Fertigkeiten haben sich über einen langen Zeitraum entwickelt. Im Umgang mit Materialien und Dingen wird Wissen verkörpert. Handhabungen, Werkstoffe und Werkzeuge modifizieren sich dabei wechselseitig, denn die Materialität der entstehenden Gegenstände beeinflusst die Methoden der Bearbeitung und Dinge können als vergegenständlichte Handlungen verstanden werden. Ingenieure experimentieren, indem sie gezielt Rohstoffe und Maschinenkonfigurationen verändern, um zukünftig effizientere Bearbeitungsmethoden und Produktionsverhältnisse etablieren zu können. Ihre forschende Tätigkeit ist am Ergebnis orientiert. Bei standardisierten Gewerken sind die Arbeitsmethode und das Endprodukt im Voraus bekannt. Der künstlerische Prozess ist dagegen ergebnisoffen, der Zufall spielt in der Recherche und der sich herausbildenden Struktur eine wesentliche Rolle. Das methodische Vorgehen in den Wissenschaften versucht den Zufall auszuschließen, um Überprüf barkeit und Nachvollziehbarkeit zu garantieren. Versuchsanordnung, Verfahren und Ergebnis werden dabei dokumentiert. Der künstlerische Prozess bleibt dagegen ein Experiment, das darauf zielt, intuitives Wissen durch einen Prozess der Klärung und Verdichtung visuell, akustisch und sinnlich erfahrbar zu machen. Die Verschriftlichung und Kommunikation der Ergebnisse unterliegt je nach Disziplin bestimmten Normen (vgl. Tröndle 2012). Für die Vermittlung meiner künstlerischen Forschung erprobe ich unterschiedliche Präsentationsformen. In Vorträgen kommentiere ich ausgewählte Installationsansichten und Bewegungssequenzen. Beim Schreiben von Texten kreise ich meine Arbeit aus verschiedenen Blickwinkeln ein. Ich führe sie vor und veranschauliche Beobachtungen, übersetze Bewegungssequenzen, haptische und visuelle Erfahrungen in textliche Beschreibungen. Ich greife Aspekte auf, wiederhole und kombiniere sie, um ein Zirkulieren der visuellen Bewegungsspuren entlang vom Körper, Werkzeug und Ding lesbar und vorstellbar zu machen. Das, was ich synchron in Installationen anordne, um Erkenntnis zu generieren und eine inhaltliche Schließung zu verhindern, bringe ich im Text in eine inhaltlich lineare Abfolge. Das Nebeneinander, das sich mit allen Sinnen im eigenen zeitlichen Rhythmus in Installationen erschließt, zerlege ich im Text und Vortrag in ein Nacheinander. Für meine künstlerische Forschung ist das implizite Wissen entscheidend, das bei manuellen Fertigkeiten und simplen Handgriffen selbstverständlich erscheint. Da dieses Wissen sich leicht der bewussten Wahrnehmung entzieht, lenke ich den Blick auf das Zusammenspiel der Sinne, auf denen die Körpertechniken basieren (vgl. Mauss 1935 u. Schüttpelz 2010).

Sichtbarmachung als Wissensproduktion

Z wischen den S innen Der Sehsinn bündelt die Aufmerksamkeit, leitet zielgerichtet durch den dreidimensionalen Raum und orientiert die Hände und Finger beim (Zu-)Greifen. Sie bewegen sich zum Gegenstand, sie erfassen und umschließen ihn. Die Fingerkuppen ertasten die Oberfläche, die Handflächen erkunden Plastizität, Volumen und Gewicht. Sie greifen ein, sie bewegen, verschieben und verändern die Lage und Form. Erst durch das Eingreifen der Hände präzisiert sich das Erkennen. Es basiert auf den verkörperten Sinnen: zwei Augen, zwei Ohren und zwei Hände, Beine und Füße, die sich untereinander koordinieren und im Raum verorten. Rechte und linke Körperhälfte, rechte und linke Hand sind nicht identisch, sie sind spiegelsymmetrisch. Die Position der Augen zueinander, rechtes und linkes Ohr, ermöglichen uns, räumlich zu sehen und zu hören. Augen, Ohren, Nase und Mund sind im Gesichtsfeld lokalisiert: Die Hände können hingegen zu den Dingen geführt werden, ihre Materialität ertasten und sie erfassen. Es sind Wahrnehmungsprozesse, die in unterschiedlichem Maß in Bewegung sind und im Fluss der Bewegung und Erkundung vielfältige Positionen einnehmen. Die Koordination zwischen Körperhaltung, Hand und Auge entscheidet über den Anblick. Der Standort, die Dauer und die Perspektive formen den Blick. Das Gehör, der Gleichgewichts- und Tastsinn, der Geschmacks- und Geruchssinn sammeln Eindrücke, die über die sichtbaren Eindrücke hinausgehen. Sie sind multidimensional und verlaufen parallel. Sie synthetisieren den Erfahrungsprozess und vermitteln zwischen dem Greifen und Begreifen von Zusammenhängen, zwischen Dingen und Ereignissen.

O rdnungssystem und M e thode der E nzyklopädie der H andhabungen Die sinnlichen Erfahrungen und das ›leiblich gebundene Erfahrungswissen‹ (Peterson 2011) sind Gegenstand der Beobachtungen meiner Enzyklopädie der Handhabungen. Als künstlerische Forschung ist die Enzyklopädie ein ›work in progress‹. Sie basiert auf einem erweiterbaren System von Modulen, das ich in unterschiedlichen Kontexten und Installationen re-konfiguriere. Die einzelnen (Video-)Module entwickle ich aus der beobachtenden Perspektive zwischen parallel stattfindenden Aktivitäten verschiedener Körper- und Arbeitsbereiche. Ich beobachte die rechte und linke Hand, Hand und Auge, Mimik und Gestik, Hand und Maschine, Einzel- und Teamarbeit. Es sind Abstimmungsprozesse zwischen den Sinnen, zwischen Körper und Werkzeug, zwischen manuellen und automatisierten Verfahren. Aus den Fragestellungen, die meine Aufmerksamkeit leiten, entwickeln sich die einzelnen Module: Wie wirken Hand und Auge zusammen? (Modul #5, #15-16) Wie koordinieren sich rechte und linke

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Hand? (Modul #6) Wie greifen die Hände bei der Arbeit im Team ineinander? (Modul #1) Welche Kontrollaufgaben übernehmen die Sinne während des Produktionsprozesses? (Modul #7) Und auf welche Weise ersetzen Maschinen die Handarbeit? (Modul #4, #8-10, #14, #17-23).2 Jedes Aufzeichnungssystem verfolgt andere Strategien der Visualisierung. Mit der Videokamera kann ich Bewegungsabläufe nicht nur dokumentieren, sondern überhaupt erst sichtbar machen – sei es durch Verlangsamung, Schwenks, Fahrten, Kadrierung oder konzentrierte Langzeitbeobachtungen. Die Kamera wird zum Instrument der Recherche. Die teilnehmende Beobachtung (vgl. Rouch Cine-trance 1978) fokussiert und hält meine Wahrnehmung aktiv. Involviert in den Prozess verfolge ich den Arbeitsverlauf. Handlungsgesten und mechanisierte Bewegungsabläufe lenken meine Aufmerksamkeit. Ein Standort führt mich zum nächsten, von dem aus ich den Ablauf aus einer anderen Perspektive erkunde und filme. Es ist ein offener Entscheidungsprozess, der Bestimmtes destilliert und sichtbar werden lässt. Für die Dreharbeiten3 zerlege und rahme ich gezielt das Sehfeld, indem ich die Größe und Form des Bildausschnittes definiere. Ich lege die Distanz, den Winkel und die Höhe der Aufnahme zum Gesehenen fest, begrenze und fokussiere die Anordnung und Relation der Elemente zueinander im Bildraum. Ich entscheide über die Wahl der Objektive, die Beleuchtung und die Dauer der Aufzeichnung. Einmal gespeichert ist die Bewegungssequenz jederzeit abrufbar und kann technisch reproduziert, abgebildet und vervielfältigt werden. Das Datenmaterial lässt sich als Ganzes, 2 | Die ausführliche Titelliste der Module der Enzyklopädie der Handhabungen (bis 2010) befindet sich im Künstlerbuch (Rose 2011: 120-123). Der Titel eines Videomoduls der Enzyklopädie setzt sich aus dem Haupttitel, dem nummerierten Modul und den Tätigkeitsverben zusammen, z.B. Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #15. verputzen, beischleifen, stanzen…. Die Videomodule sind chronologisch durchnummeriert. Die Reihenfolge der Verben, die den Tätigkeiten zugeordnet sind, entspricht der filmischen Montage des Videoloops. Die Montage der Videosequenz eines Moduls folgt der audiovisuellen Evidenz und bezieht inhaltliche und zeitliche Faktoren ein. Sie schließt eine alphabetische Reihenfolge der Tätigkeitsverben aus. Module, die automatisierte Prozesse zeigen, sind mit dem Zusatz – automatisiert gekennzeichnet, z.B. Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #4. entgraten, schleifen, verputzen – automatisiert. Module, die mit Aufzeichnungsverfahren aus industriellen und wissenschaftlichen Laboren hergestellt wurden, enthalten beispielsweise den entsprechenden Zusatz – high speed und – captured motion. Interviews sind nummeriert, z.B. Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #10. Interview #1. Darüber hinaus sind Fotoserien der Enzyklopädie gekennzeichnet, z.B. Enzyklopädie der Handhabungen. Setfoto #1. Auch Objekte, die in Installationen eingebunden sind, sind Teil des Modulsystems, z.B. Enzyklopädie der Handhabungen. Furansandkerne # 1-4. 3 | Filmteam der Enzyklopädie der Handhabungen: siehe Abbildungsverzeichnis.

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in Teilen und in unterschiedlicher Geschwindigkeit beliebig oft betrachten. Die Wahrnehmung und die Aufmerksamkeit verändern und verschieben sich beim modifizierten, wiederholten Betrachten. Dadurch können flüchtige Bewegungen erfasst werden. Die wiederholte Betrachtung im Loop hebt die zeitliche Linearität der Videoaufzeichnungen scheinbar auf und prädestiniert sie für die synchrone räumliche Wahrnehmung in Installationen. Dabei entspricht der Loop der endlosen Wiederholung der maschinellen Produktion. Für meine künstlerische Arbeitsweise und Ausstellungspraxis sind Synchronisierung, Kadrierung und Montage von zentraler Bedeutung (vgl. Lindner 2011, 2012). Um das komplexe Zusammenspiel von Körper und Materialien sowie die Abstimmung und Verwendung von Werkzeugen sichtbar zu machen, filme ich synchron Hand und Auge, das Ineinandergreifen der Hände und maschinelle Prozesse, die Handhabungen ersetzen. Ich zerlege die gleichzeitig gefilmten Abläufe und verknüpfe sie in der Montage als neu zusammengehörige Einheiten. Einzelne Module mit zwei synchronen Videospuren bilden Bewegungsdiptychen. Das Scharnier dazwischen ist der Raum. Auf getrennten Bildflächen re-synchronisiere ich die Videosequenzen der einzelnen Module im Ausstellungsraum. Durch die serielle – sukzessive und synchrone – Anordnung werden unterschiedliche Arbeitsabläufe, Sprechen und Handeln, Arbeits- und Ausdrucksgesten, manuelles und automatisiertes Prozessieren vergleichbar. Je nach Fragestellung und Ausstellungskontext ordne und kuratiere ich für den spezifischen Ort der Installation die Module der Enzyklopädie der Handhabungen (Abb. 2).

I mplizites W issen z wischen G este , H andhabung und M aschine Die Methode der Synchronisierung, Kadrierung und Montage ermöglicht es, die visuelle, akustische und zeitliche Abstimmung der Sinne wie beispielsweise die Beidhändigkeit oder die Koordination von Tastsinn und Sehsinn zu erfassen. Aus zwei Perspektiven filme ich, wie sich rechte und linke Hand bei verschiedenen Tätigkeiten untereinander abstimmen (Modul #6), wie die Hände von mehreren Personen ineinandergreifen, wie sie sich portionierten Brotteig zuwerfen, ihn wirken und in Saaten wälzen (Modul #1). Unwillkürliche Mitbewegungen der Augenbrauen, Lippen und Mundwinkel sind beim Verputzen, Schleifen, Stanzen, Stempeln, Ziehen, Pressen unterschiedlicher Materialien zu beobachten. Beim kräftigen Einziehen von Borsten spannen sich gleichzeitig die Gesichtsmuskeln an. Die Konzentration und Kraftanstrengung der Tätigkeiten lassen sich im Ausdruck des Gesichts ablesen (Modul #5, #7, #1516). Bei kontrollierenden Tätigkeiten und dem Prüfen von verschiedenartigen Dingen in der Fertigung verschiebt sich die Konzentration von den Händen auf die Augen (Modul #7).

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Abb. 1: Enzyklopädie der Handhabungen. Setfoto #2, 2009

Foto: Jörg Wagner.

Die Koordination der rechten und linken Hand, von Hand und Auge wird eingeübt. Wir greifen mit der Hand nach dem Gegenstand und im Umgang mit dem Material begreifen wir, wie es zu verändern ist. Ich zeige wie Metall, Porzellan, Haare, Teig oder Zigarrenblätter gewickelt, gewirkt, gewälzt, gebunden, gestempelt, getaucht, gewalzt, gestanzt, verputzt, kontrolliert und sortiert werden. Im Gegensatz zur manuellen Geschicklichkeit, die eingeübt wird und flexibel auf Störungen reagieren kann, wiederholt sich die maschinell koordinierte Bewegungsabfolge immer wieder exakt – ohne Abweichung und wie geplant bzw. zuvor einprogrammiert. Unregelmäßigkeiten von Materialien und ihrer Lage stören und stoppen gelegentlich den reibungslosen maschinellen Ablauf. Um manuelle Arbeitsbewegungen zu mechanisieren, werden sie (beispielsweise für eine Rasierpinselmaschine) in einzelne Schritte zerlegt und nacheinander gereiht. Pinselhaare werden – analog zur Handarbeit – abgeteilt, mit Zangen gegriffen, gekämmt, in eine Form umgestülpt, geklopft und gebunden. In Modul #10 greift der Knickarmroboter jeweils zwei Klobürstenrohlinge vom Band und führt sie in das Fertigungskarussell ein, wo sie gleichzeitig gebohrt und mit Borsten gestopft werden. Dementsprechend montiere ich die Einstellungen der Rasierpinselmaschine nacheinander als Einkanalvideo (Modul #8) und die des Klobürstenroboters synchron nebeneinander als Zwei-

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Abb. 2: Installationsansicht Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #4, #15 und #24. Ausstellung Industrie & Poesie, Bauhaus-Archiv, Berlin 2013

Foto: Thomas Bruns.

kanalvideo (Modul #10). In der Installation im Deutschen Technikmuseum in Berlin (2010) sind die Monitore, in denen ich die Maschinenabläufe zeige, im Karree angeordnet. Gesichter und Hände sind auf die Wände über Eck projiziert. Verschiedenen Stadien der Mechanisierung stelle ich Arbeits- und Ausdrucksgesten gegenüber (vgl. Rose 2011: 18-21).

Z wischen H and und W ort Komplementär zu den Produktionsabläufen beschäftige ich mich mit Gestik und Mimik von Personen, die aus ihrem Fachwissen heraus Fertigungsprozesse erläutern und reflektieren, um disziplinenübergreifende Fragestellungen zwischen dem Greifen und Begreifen, theoretischen Erkenntnissen und Erfahrungswissen miteinander in Beziehung zu setzen (vgl. Flusser 1995 u. LeroiGourhan 1984). Ich filme Gestik und Mimik von DesignerInnen und ForscherInnen. Ich beleuchte das, was wir halb bewusst wahrnehmen, indem ich die Gesten mit mehreren Kameras beobachte und isoliere/fixiere. Die allmähliche Verfertigung der Gedanken wird im Vorgang des Erzählens sichtbar. Die synchronen Kameraaufzeichnungen der Körpersprache, die das Erzählen begleitet,

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unterstreicht und interpretiert, ermöglichen es, im linearen Schnitt die Gestik und Mimik synchron zum Gesprochenen zu montieren und hervorzuheben. In einem Interview mit der Designerin Barbara Schmidt wird deutlich, wie die Sinne und Körperform auf die Dinge einwirken. Das Design formt und beeinflusst das Verhältnis zwischen Mensch und Gegenstand. Das Zugreifen wird auf eine bestimmte Art und Weise gestaltet. Griff und Henkel beispielsweise bringen etwas in Verwendung, bieten an, etwas zu greifen, vermitteln den Zugang zum Ding, ermöglichen das Zugreifen und den Gebrauch. Beim Greifen eignen wir uns etwas an, ein Ding und eine Fähigkeit, die Geschick verleiht (vgl. Mersmann 2015). Für Barbara Schmidt war das Greifen das zentrale Gestaltungsthema der Porzellanserie Elixyr.4 In dem folgenden Zitat aus dem Videointerview, das ein Modul der Enzyklopädie bildet, erläutert sie die Handlungsaufforderung, die von einem Griff ausgeht: »Man sieht hier eine Unregelmäßigkeit: Da wächst etwas aus der Schale heraus, das lässt an Anfassen denken. Ich muss sofort daran denken, beziehungsweise fühle mich sofort aufgefordert, mit der Hand hier hinzugreifen. Man sieht, dass das die Stelle zum Anfassen ist, dass es ein Griff ist, wie ihn Werkzeuge haben, wie zum Beispiel jeder Löffel. Es gibt zwei charakteristische Merkmale an einem Löffel: Er hat diese sogenannte Laffe, dieses kleine Gefäß da vorne, und einen Griff an der anderen Seite. Und dann gibt es noch die Schale. Sie ist das Urgefäß, das Gefäß schlechthin. Eine Schale braucht den Griff eigentlich nicht, eine Schale umfasst man. So ist sie auch entstanden. Sie ist praktisch die Verkörperung der geöffneten Hände, die sicher als erste dazu gedient haben, Flüssigkeit aufzufangen und zu trinken. Und der Löffel ist sicher eins unserer ersten vom Menschen geschaffenen Werkzeuge.« (Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #24. Interview #4)

In dem gefilmten Interview #5 nimmt die Gestenforscherin Ellen Fricke Bezug auf das Interview #4 der Designerin und verdeutlicht, wie ihre redebegleitenden Gesten das Greifen und Begreifen differenzieren: »Barbara Schmidt sagt, dass die Schale im Grunde genommen aus dem Urbild des Schöpfens von Flüssigkeit mit beiden Händen abgeleitet ist, um die Flüssigkeit mit beiden Händen zum Mund zu führen. Ihre Hände sind dabei jedoch viel enger zusammengeführt, sie repräsentieren tatsächlich zwei Hände, die Wasser schöpfen und es zum Mund führen. Sie sind in einer Stellung, in der kein Wasser durchfließen könnte. Bei der Greif- oder Modellierungsbewegung hingegen sind ihre Hände in einer Position, in der Wasserschöpfen unmöglich wäre. Die Hand repräsentiert hier die Laffe, modelliert den Stiel und agiert. Sie tut so, als würde sie den Löffel greifen.« (Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #25. Interview #5. Vgl. Rose 2011: 66-69)

4 | Kahla/Thüringen Porzellan GmbH.

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Beim Einüben einer Tätigkeit und dem Umgang mit Dingen schreibt sich die Bewegung in den Körper ein. Beim Sprechen zeichnen unsere Finger Umrisse in die Luft. Hände modellieren temporäre Skulpturen oder repräsentieren stellvertretend Dinge, mit denen sie agieren. Ihre Bewegungen rhythmisieren und strukturieren die Rede, sie bilden zeitliche Abläufe ab und verorten sie im Raum. Kurze Unterbrechungen bilden Zäsuren. Wiederholungen, Bewegungsimpulse und ihre Dynamik akzentuieren das Gesprochene. Sie vergegenwärtigen Prozesse, verkörpern Relationen und zeigen abstrakte Beziehungen an. Sie begleiten und motivieren den Fluss der Rede. Entlang und inmitten der akustischen und inhaltlichen Rede verkörpern sie die Textur flüchtiger Bewegungsspuren (vgl. die Gestenkategorien bei Müller 1998).

Z wischen V erkörperung und S ichtbarmachung Beim Filmen und in der Montage wird zerlegt, reduziert und neu verknüpft. Wie bei jedem anderen Formgebungsprozess werden viele Entscheidungen getroffen. Während der Aufzeichnung bestimme ich die Perspektive und die Dauer bestimmter Bild- und Zeitausschnitte, die ich in der linearen Montage des Materials nacheinander reihe. Die bildnerischen Entscheidungen dienen der visuellen Erkenntnis. Nicht das, was zu sehen ist, wird dokumentiert, sondern wie ich es zu sehen gebe, beleuchte und in Szene setze, wird sichtbar. In die Konzeption der Enzyklopädie beziehe ich Setfotos ein (Abb.1). Sie zeigen den Arbeitsraum und unsere Dreharbeiten vor Ort. Sie reflektieren den filmischen Auf bau und das methodische Vorgehen. In der räumlichen Montage re-synchronisiere ich die Videomodule am Ausstellungsort. Die Blickwinkel der Aufzeichnungen bilden dabei die Orientierung für die räumliche Anordnung der Videosequenzen. In Installationen projiziere ich sie nebeneinander, schichte und verflechte sie untereinander mit Dingen und Materialien aus der Fertigung und aus wissenschaftlichen Laboren. Die Normierung der Einstellungen eigener Filmaufnahmen schafft eine serielle Struktur, die Differenzen hervortreten lässt. Aus dem Material und der Beobachtung entwickle ich die Form der Aufzeichnung und Präsentation. Die audiovisuellen Eingriffe und Entscheidungen sind explizit Teil meiner künstlerischen Forschung. Die minimalistische Formsprache, die Auswahl und Montage bieten Muster zum Vergleich an. Das unterscheidet meine Arbeit von wissenschaftlichen Untersuchungen, die den formalen Standards des Forschungskontextes entsprechen müssen. Ich beziehe wissenschaftliche Verfahren und Darstellungsformen als Material in meine Konzeption und Archivstruktur der Installationen mit ein und binde historische Aufzeichnungen aus Wissenschaft, Handwerk und Industrie ein. Recherchen in diesem Feld habe ich auch in meinem Künstlerbuch Enzyklopädie der Handhabungen. 2006-

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Abb. 3: Detailansicht der Installation links: Lichtmikroskop, rechts: Enzyklopädie der Handhabungen. 2006 - 2010. Bildmontage S. 92-93, Bielefeld (Kerber Verlag) 2011

Foto: Anette Rose.

2010 verwendet. Es zeigt meine künstlerische Forschung als Bildmontage und Teil des Werkprozesses. Ich montiere verschiedenartige wissenschaftliche Darstellungen auf 17 Doppelseiten nebeneinander: Mikroskopische Zeichnungen, Langzeitbelichtungen, Filmstills, Gemälde, fotografierte Präparate, anatomische Modelle, Diagramme und schematische Skizzen, die für mein Thema wichtig sind. Im dazugehörigen Bildindex sind Quellen, Zitate und Beschreibungen aufgeführt (vgl. Rose 2011: 77-119). Ortspezifische Installationen bieten andere Verknüpfungen als Ausstellungen im White Cube. Je nach inhaltlicher Perspektive und Kontext tritt ein anderer Aspekt der Arbeit hervor. Die 2013 gezeigte Ausstellung »Beautiful Minds« (vgl. Sisek 2013: 26-27) konfrontierte auf dem Campus Nord der HumboldtUniversität zu Berlin Arbeiten künstlerischer Forschung mit Räumen und Verfahren der naturwissenschaftlichen Forschungspraxis. In der für den Mikroskopiersaal entwickelten Installation habe ich ein Videodiptychon (Modul #15) und Doppelseiten der Bildmontage aus meinem Künstlerbuch mit mikroskopischen Arbeitsplätzen und einer Unterrichtseinheit kombiniert, die den histologischen Längsschnitt einer Fingerspitze auf vier Monitore überträgt (Abb. 4). Das konzeptionell verbindende Thema zwischen der Mikroskopie und meiner Enzyklopädie der Handhabungen ist der Umgang mit Instrumenten des Sehens und die Form der Sichtbarmachung. Während die Mikroskopie das, was wir

Sichtbarmachung als Wissensproduktion

Abb. 4: Installationsansicht Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #15 Ausstellung Beautiful Minds, Kunst – Parcours, Campus Nord, HumboldtUniversität zu Berlin 2013

Foto: Alexander Bunk.

nicht mehr mit dem Auge erkennen können, vergrößert, verdichte ich anatomische und anthropologische Zusammenhänge in der Bildmontage und mache mit synchronen Videoprojektionen die Koordination von Hand und Auge sichtbar. Die serielle und synchrone Anordnung von Instrumenten des Sehens, projizierten Lichtbildern und wissenschaftlichen Abbildungen fordert zum vergleichenden Sehen auf. Die Mikroskopansicht der dünnen Gewebeschnitte, die auf bestimmte Weise geformt und farblich präpariert werden, unterscheidet sich von deren Zeichnungen. Anatomische Details werden beispielsweise hervorgehoben und perspektivisch dargestellt (Abb. 3).5 Die wissenschaftliche Zeichnung stützt sich auf die Arbeit mit Instrumenten des Sehens und greift mit dem geschulten Urteil in die Sichtbarmachung und Darstellung des Gesehenen ein, um Erkenntnis zu generieren. Jede Methode der Aufzeichnung und Wiedergabe zeigt und verschiebt auf besondere Art und Weise die Wahrnehmung. Sie visualisieren und isolieren zeitliche, räumliche, akustische und haptische Prozesse. 5 | Die Abbildung der wissenschaftlichen Zeichnung nach der rasterelektromikroskopischen Vorlage eines Gewebewürfels der Fingerspitze (von Radivoj V. Krsti) zeigt Fingerrillen, Schweißdrüsen und Vater-Pacini’sche Tastkörperchen in der Schichtenbildung der Haut.

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In der neuen Arbeit Captured Motion 6 handelt es sich einerseits um Aufzeichnungen der Bewegungsabläufe komplexer Textilmaschinen mit Hochgeschwindigkeitskameras, andererseits um Motion Capture Aufnahmen von Ingenieuren, die diese Maschinenprozesse mit Gesten beschreiben. Dabei greife ich auf die in den 1910er Jahren von Lillian und Frank B. Gilbreth entwickelten Strategien zur Visualisierung von Bewegung zurück, die dem Motion Capture Verfahren zugrunde liegen (vgl. Gilbreth 1919, Rose 2011: 95-101 u. Rose 2012: 242-245). Meine Arbeit besteht darin, aktuelle und historische Zusammenhänge unterschiedlicher Denk- und Handlungsräume konzeptionell und formal miteinander zu verschränken. Im Rahmen meines Langzeitprojektes lege ich so eine archivarische Sammlung an, um gegenwärtige und zukünftige Forschungsmethoden und Produktionsverhältnisse sichtbar zu machen, die gesellschaftliche Praktiken bestimmen. Wie sich die Dinge zeitweilig in Ausstellungen vergegenständlichen, bestimme ich durch die Form ihrer Sichtbarmachung. Welche Beziehungen sie stiften, spiegelt die Erwartungshaltung, auf die sie treffen. Vorstellungen zirkulieren um die Form ihrer Verkörperung. Die Form stabilisiert die Dinge vorübergehend, in ihrer Handhabung gerät sie wieder in Bewegung. Die Enzy­ klopädie der Handhabungen ist eine Sammlung von Bildsequenzen und Dingen, die sich an jedem Ort wandelt und neu formiert.

6 | Captured Motion Gefilmt im Institut für Textiltechnik und im Motion-Capture Labor (Natural Media Lab), mein besonderer Dank für die konstruktive Zusammenarbeit gilt Prof. Dr. Irene Mittelberg (Human Technology Centre) und der Szenografin und wissenschaftlichen Mitarbeiterin Hannah Groninger, unterstützt von Prof. Thomas H. Schmitz (Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung, Fakultät Architektur) und von Dr.-Ing. Yves-Simon Gloy (Textilmaschinenbau, ITA), gefördert vom Exzellenzcluster »Integrative Produktionstechnik für Hochlohnländer«, RWTH Aachen. Siehe hierzu: Artist Talk »Techno-textiles between hand gestures and machine operations« mit Anette Rose über ihr Werk Captured Motion mit Carmen Alfaro Giner, Birgit Schneider und Iris Tzachili zum Jahresthema »Rahmen/Nähen«, Internationales Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie, IKKM, Weimar. Online unter: http://ikkm-weimar.de/veranstaltungen/alle/artist-talk/ vom 26.11.2014.

Sichtbarmachung als Wissensproduktion

L iter atur Flusser, Vilém (1995): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a.M.: Fischer. Gilbreth, Frank Bunker/Gilbreth, Lillian Moller (1919): Applied Motion Study. A Collection of Papers on the Efficient Method to Industrial Preparedness, New York: Macillan. Leroi-Gourhan, André (1984): Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lindner, Ines (2011): »Minimalismus Reloaded. Zur Typologie sozialer Tatsachen in Anette Roses Enzyklopädie der Handhabungen«, in: Anette Rose (Hg.), Enzyklopädie der Handhabungen 2006-2010, Bielefeld: Kerber Verlag, S. 6-9. Lindner, Ines (2012): »Synchronizations at Work. Anette Rose’s Encyclopaedia of Manual Operations«, in: Intermédialités. Histoire et théorie des arts 19, S. 157-159. Mauss, Marcel (1935): »Die Techniken des Körpers«, in: Ders. (1989), Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 199-217. Mersmann, Jasmin (2015): »Henkel, oder: Fünf Versuche, die Dinge in den Griff zu bekommen«, in: Thomas Pöpper (Hg.), Dinge im Kontext. Artefakt, Handhabung und Handlungsästhetik zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin: De Gruyter, S. 85-97. Müller, Cornelia (Hg.) (1998): Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte – Theorie – Sprachvergleich, Berlin: Berlin Verlag. Petersen, Sonja (2011): »Vom ›Schwachstarktastenkasten‹ und seinen Fabrikanten. Wissensräume im Klavierbau 1830-1930«, in: Cottbuser Studien zur Geschichte von Arbeit, Technik und Umwelt 37. Rose, Anette (Hg.) (2011): Enzyklopädie der Handhabungen 2006-2010, Bielefeld: Kerber Verlag. (Siehe hierzu auch www.anetterose.de [01.03.2015]) Rose, Anette (2012): »Greifen, betrachten und begreifen«, in: Thomas H. Schmitz/Hannah Groninger (Hg.), Werkzeug – Denkzeug. Manuelle Intelligenz und Transmedialität kreativer Prozesse, Bielefeld: transcript, S. 223-245. Rouch, Jean (1978): »Jean Rouch erzählt«, in: Filmkritik 22/253, S. 5-31. Schüttpelz, Erhard (2010): »Körpertechniken«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert (Hg.), Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, S. 101-120. Sisek, Vanja (2013): »Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #15«, in: Kleine Humboldt Galerie (Hg.), Beautiful Minds, Berlin, S. 26-27. Tröndle, Martin (2012): »Methods of Research – Kunstforschung im Spiegel künstlerischer Arbeitsprozesse«, in: Martin Tröndle/Julia Warmers (Hg.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst, Bielefeld: transcript, S. 169-198.

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A bbildungsverzeichnis Abb. 1, Enzyklopädie der Handhabungen. Setfoto #2, Pigment Piezo Print, variables Format, 2009. Fotografie: Jörg Wagner © VG Bild-Kunst, Bonn. Abb. 2, Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #15. verputzen, beischleifen, stanzen, stempeln, ketteln, einziehen, tauchen, ringen, walzen, eindrehen, schleifen. Zweikanalvideo, 2 Projektionen, 2 x 13’14’’, DVCAM, Loop, 2008/2013; Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #4. entgraten, schleifen, verputzen – automatisiert. Einkanalvideo, Barco Monitor, 1’15’’, DVCAM, Loop, 2006/2013; Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #24. Interview # 4. Einkanalvideo, Flatscreen, 6’57’’, DVCAM, Loop, 2013. Fotografie: Thomas Bruns. Abb. 3, Lichtmikroskop, monocular: Fingerspitze, Vater-Pacini’sche Tastkörperchen, Hämatoxylin-Eosin Färbung; Enzyklopädie der Handhabungen. 2006-2010. Bildmontage S. 92-93. Fotografie: Anette Rose © VG Bild-Kunst, Bonn. Abb. 4, Enzyklopädie der Handhabungen. Modul #15. verputzen, beischleifen, stanzen, stempeln, ketteln, einziehen, tauchen, ringen, walzen, eindrehen, schleifen. Zweikanalvideo, 2 Projektionen, 2 x 13’14’’, DVCAM, Loop, 2008/2013; Bildmontage, Insert der Publikation: Enzyklopädie der Handhabungen. 20062010. Bielefeld (Kerber Verlag) 2011, fünf Doppelseiten, 33,6 x 24,0 cm; Mikroskopiersaal der Vergleichenden Zoologie der Humboldt-Universität zu Berlin, Unterrichtseinheit: Lichtmikroskop, Stereomikroskop, 4 Flatscreens; Histologischer Längsschnitt der Zoologischen Lehrsammlung der Humboldt-Universität zu Berlin: Mensch, neugeboren, Fingerspitze, Sammlung Hesse 1899, H-Orange G Färbung; Fünf Lichtmikroskope mit histologischen Schnitten der Anatomischen Präparatesammlung der Charité Universitätsmedizin Berlin: Tastkörperchen der Finger, Muskel-Sehnen-Übergang, Auge, Kleinhirn, Fotografie: Alexander Bunk. Filmteam der Enzyklopädie der Handhabungen: Konzept, Kamera, Montage: Anette Rose//Kamera: Alexander Gheorghiu, István Imreh//Ton: Gerrit Lucas, Johannes Schmelzer-Ziringer, Andreas Turnwald, Johannes Varga, Arno Wilms//Schnittberatung: Sala Deinema, Christoph Krüger//Motion Capture Technik: Marlon Meuters.

The Seduction of Understanding Notes on the Realities of Poetry, Science and Floriography Michael Rodegang Drescher

My flowers can’t recite poetry They cannot state facts The daisy 1 may sigh and the snapdragon 2 roar its perfumed lungs out, and yet they’ll never be able to make one single sound But you should see that snapdragon! It’s a lion on Germany’s pastures And the daisy, in England, what sweet songs! Fit for a daughter of fairies They say a wolf hides beneath the orchid’s 3 petals I’ve known that wolf: its gorgeous, capricious siren-songs It made me love-sick – Made me a wolf a long time ago We all know the rose, 4 the red one We know it hums I love you like rhyming dove and love (The mark of the brave in the battle of lines)

1 | Daisy (innocence). 2  |  Snapdragon (seduction). The snapdragon’s German name is Löwenmäulchen, which loosely translates to ›little mouth of a lion.‹ 3 | Orchid (passion). 4 | Rose (red: romantic love; white: marriage; yellow: betrayal; blue: impossible love).

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What is poetry? What is science? What is it that we – scholars, poets, scientists – do? The answers we acquire will be different, and I will in the following discuss questions (and answers) that may put the poetic and the scientific onto common ground. For many things that separate poetry and science are justifiably different. Others are incidental. Their nature, however, is shared: they seek to explain. And in their explanations, they shape and create realities. Generally, poetry is regarded to belong to the aesthetic realm, far removed from the crude realities of the world. Yet poetry deserves attention beyond aesthetic concerns; it can not only engage with reality as a mode of writing, but has other, more fundamental qualities. I argue that poetry can work towards the refinement and construction of knowledge. It presents a poetic method akin to scientific approaches that help make sense of our surroundings. Poetry offers the means to know, and to refine pre-existing concepts and knowledge. It is just as much part of the rational approach towards reality as is science. This essay aims to further the understanding of poetry and science as complementary. Poetry and science present related endeavors to better understand the world. They are fundamental approaches to appease and conquer what Hans Blumenberg calls reality’s absolutism. This notion describes the fact that reality holds sovereign sway over human existence (cf. Blumenberg 1979: 9). While Blumenberg postulates that myth, as an intricate part of the human drive for knowledge, is equivalent to logos (ibid.: 37), I view poetry and science as attempts to understand and give nominal shape to reality. Both are aetiological entities: they attempt to explain reality through language. Importantly, they both further human sovereignty in enabling empowerment in the face of an unknown (and in some ways unknowable) universe. They do not only describe, they create. Regardless of whether they create systems or sonnets, they are united in their objective: to understand, describe and influence reality. It is time to refute presumptuous hierarchies and the draperies of pretentiousness, and encourage the ability to tackle the world poetically and scientifically. Let me begin with the nexus of scientific and poetic approaches to do so: language.

L anguage as G ate way to R e alit y In Ferdinand Saussure’s linguistic theory, language (in distinction to speech, or parole) is an independent system of classification, a structure of conventional signs which correspond with distinct ideas (cf. Saussure 1959: 9f.). The nature of the linguistic sign is twofold. It comprises the concept, a cognitive phenomenon, and the sound-image, a physiological process (ibid.: 11). The sign’s nature is not abstract, but a social and collective reality in the human mind (ibid.: 15).

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Thus, language is not simply Adamic – a »naming process only« – but a system of signs that allows for the interaction between humans and reality (Saussure 1959: 65). Regarding terminology, Saussure postulated the distinction between the signifier (the sound-image, e.g. the phonetical combination /dɛsk/) and the signified (the concept of the material object, e.g. desk), both of which constitute the linguistic unit, the sign (ibid.: 67). Two of the sign’s aspects will be important here: arbitrariness and naturalization. The bond between signifier and signified is arbitrary; it knows no »inner relationship« (ibid.). There is no natural connection between the soundimage /desk/ and the material object upon which I am writing this essay. Their relationship is, like »every means of expression used in society«, based upon collective behavior and convention (ibid.). But what is often overlooked is the fact, that the sign’s conventionality not only sets the terms of perception but simultaneously restricts them. Only these »sanctioned« associations »appear to us to conform to reality«, thereby making us »disregard whatever others might be imagined« (ibid.). Language confines our perception of the world in the very moment it allows us to perceive it. The sign encourages a naturalized perspective, i.e. the fallacy that cognitive concepts objectively represent material objects and thereby render an immediate perception of reality. This is problematic, for it reveals language as a »system of pure value« (ibid.: 111). No language is a truly objective description of reality. At the same time, there is little to be done about the dilemma. Ideas and sounds are the fundamental principles of language, and without »the help of signs we would be unable to make a clear-cut, consistent distinction between two ideas« (ibid.: 111f.). Why is the above of importance for the poetic and scientific endeavors to know reality? Poetry and science are based upon the idea that human beings can perceive and explain their surroundings. However, it is crucial to understand that language is the gate to and gatekeeper of reality for both. The investigation of reality is not only dependent upon language as a means of expression – language is the primary cognitive means of communication with reality itself. It serves not only for inter-human communication, but is foundational to the communication between (social) subject and objective reality. The poetic function put forward by Roman Jakobson can further the issue. The poetic is the ever-present force behind communication – whether it occurs between subjects or between word and world. Jakobson’s communication model offers an elegant system to analyze language and its multiple functions, and I will focus on the poetic, as it illuminates the larger argument. Poetics itself deals primarily with verbal structure and the question, »What makes a verbal message a work of art« (Jakobson 1994: 32). Yet aesthetics does not exhaust the significance of the poetic. The relationship between world and word concerns literature as well as science: »what of this universe is verbalized by a given discourse and how is it verbalized«? Thus, the poetic is not restricted to

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the literary, but is paramount to all discourses that endeavor to investigate reality. It elucidates on the »palpability of signs« and thereby »deepens the fundamental dichotomy of signs and objects« (ibid.: 37f.). The sign makes the world graspable, but its arbitrariness and conventional nature must evoke questions that are important to all scholarly sectors. Positivist and empirical approaches towards reality-perception are challenged just as much as expressive and subjective poetry. Thus, we necessarily stumble upon the problem of ambiguity. The latter is, indeed, a fundamental feature of any linguistic message and of poetry itself (cf. Jakobson 1994: 49). Even in the positivist language of science, the poetic’s insistence on the chasm between signifier and signified has its effects. It will not obliterate the referential function of scientific discourse, but it will echo in the background and must leave any kind of claim ambiguous. The poetic and its omnipresence in acts of communication complicate all scholarly discourse by reminding us that the message – its origin and meaning – is based upon construction.

P oe tic and S cientific E pistemologies At this point, it is necessary to specify what I mean when I refer to poetry and science. I have stated that I view both as endeavors to explain and express reality. In this endeavor, they shape and (re)construct the same. Yet poetry and science themselves are not easily defined – neither are their dominant epistemologies. However, the following definitions shall serve to carry the argument. I understand poetry as a literary genre and mode of writing, which generally employs a highly structured language and form, tropic and phonetic figures, and insists on musicality, imagery and rhythm. Traditionally, poetry knows a highly subjective mode of narration and prefers shorter forms. When I speak of science, I refer to the intellectual, practical, systematic study of the structure and behavior of the physical, natural and social world, usually through observation, theorization and experiment. Poetry is an aesthetic and creative occupation; science is primarily analytical and investigative. However, their epistemologies distinguish them further, i.e. their positions regarding nature and scope of knowledge, and the way they acquire and ascertain the same. I shall give a short description of their respective epistemologies – general and lacking as such a description must be – before moving on. Poetry’s approach towards knowledge of reality is informed by its celebration of ambiguity. Its general philosophy of knowledge is based on constructivism, i.e. the notion that knowledge pertaining to reality is always humanly constructed. Constructivism takes objective reality seriously – it is not a merely

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subjective perspective, but acknowledges reality as it is. But it refutes the possibility of reality’s unmediated comprehension. In order to know reality, humans need to construct it, e.g. through language (cf. Crotty 1998: 48). Adorno described this construction as exact fantasy: the exercise of exact imagination and precise creativity in the investigative interplay with reality (cf. Buck-Morss 1977: 90). For constructivism, »[a]ll reality, as meaningful reality, is constructed. There is no exception« (Crotty 1998: 54). But did you know that the blue rose is the poet’s flower? Its kiss burns on our forehead: You are far, unattainable (For if it’s not that, if we don’t seek that we are not baptized: We blue, blue, blue-petal poets)

Poetry does not deny the existence of objective reality, but rejects the possibility of direct, positivistic knowledge. That is not to say, however, that it does not attempt to ascertain and express knowledge. Granted, in the aftermath of the world’s utter fragmentation by modernism and postmodernism, epistemological relativism is a disease that afflicts many modern poets. But the constructivist stance is more traditional and fundamental to poetry than the aforementioned movements, and is further based upon the nature of the poetic fodder – language itself. So as to deepen the issue, I shall turn to the notion of the fictional. Poetry’s perspective on the world is based upon the arbitrary nature of the sign. The realities it constructs, however, are not arbitrary. The fictional in poetry is neither vague nor completely imaginative. It rather constructs a reality that guarantees a rational framework – it construes, opposed to the purely imaginative, an exact logical context. This fiction is functional. It is designed to serve a purpose: in the present case, the investigation and expression of reality. Thus, the fictional refers towards reality, although transcending it, in a way that repeats reality’s determinism (cf. Heinrich/Iser 1983: 9). Knowledge thus obtained certainly needs interpretation, translation and contextualization – its ambiguity needs to be voluntarily ignored or ideologically resolved in order to attain practical applicability – but it offers the means to better understand reality. For poetry, knowledge is not found in the reproduction of reality, but in a productive, creative process (cf. Gadamer 2010: 301). I hold this creativeconstructivist act as a rationalization of the unknown, a Vergegenständlichung der Realität [materialization of reality] based upon the a priori restrictions of human perception in language. Science, however, espouses are very different epistemology. »[T]he work of the scientist«, Karl Popper writes, »consist in putting forward and testing theories« (Popper 1991: 99). Scientific knowledge asks for rational and empirical justification. Thus, Popper elevates the principle of deduction to the truly

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scientific method, and experimentation for the sake of theory-verification will become paramount to his »logic of knowledge« (ibid.). Importantly, Popper’s critical rationalism revolves around hypotheses based on the observation of objective reality. Today’s dominant scientific epistemological stance evolved from these early positivist standards, and is called logical empiricism. This theory of knowledge rejects metaphysical thought, and in an attempt to marry philosophy and empiricism seeks to do away with ambiguity in science generally. The vast amount of work produced in the contemporary English-speaking philosophy of science is devoted to logical empiricism (cf. Boyd 1991: 3). Akin to Popper’s rationalism, it revolves around two main components: verificability and knowledge empiricism. The first is concerned with the procedures by which a theory can be tested. The second is the doctrine that all synthetic knowledge is empirical knowledge and must be grounded in sensory evidence. Logical empiricism’s main motivation is the »elimination of all metaphysics«, e.g. »doctrines about the fundamental nature of substances, […] or about theological matters, […] or about our relation to external objects« (ibid.: 6). This epistemology highlights the observable and empirical, and postulates that »no knowledge of unobservable phenomena is possible« (ibid.). Reality here is not only directly graspable, but knowledge about reality is unmediated by any kind of meta-reality which might interfere with its investigation. It goes without saying that constructivism is one of logical empiricism’s main philosophical competitors. It has been paramount in critiquing logical empiricism’s theory-dependence and the failure of operationalism. Logical empiricism, in turn, criticizes constructivist ambiguity and relativity. It also refutes the rejection of objective reality postulated by more radical constructivists (ibid.: 12). If we aim at describing the epistemology of science, logical empiricism offers the best answers. Here, scientific knowledge is achieved by observation, rational deduction and verification by means of standardized experimentation. In contrast to constructivism, logical empiricism insists on the physical and rejects any outside reality – may that reality be socially constructed, spiritually transcendental, or in any other way meta-physical. A physicist told me that Science talks about things no one knows in a language that all can understand; and that Poetry talks about things everyone knows, but in a language that no one understands I gave him a hundred black carnations 5 5 | Carnation (black: hatred; red: courage).

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If science follows logical empiricism and poetry a constructivist approach, how can both explain reality through the (re)production and refinement of knowledge? First, the knowledge produced is certainly different, both in quality and nature. From a constructivist viewpoint, that is certainly not an issue. Second, the fact that poetic and scientific epistemologies and methodologies differ and that they produce different kinds of knowledge does not automatically imply a normative hierarchy regarding truth-value. Third, diverging epistemologies do not and must not close the door on poetic-scientific collaborations. The last three points offer vast material for reflection and debate, which would go beyond the scope of this essay. Still, the ability to acknowledge (not necessarily adopt) each other’s epistemologies would be a first step towards a more wholesome, more efficient collaboration between arts and sciences. Returning to the main argument, I will in the following contrast poetic and scientific language, and elaborate on poetry’s ability to further and refine knowledge. But he made me wonder So I became a scientist and I began analyzing, grew to see objectively kept records and experimented and lived the world statistically

›C l arit y‹ of L anguage In Lectures on Physics (1963), Richard Feynman writes, »poets don’t write to be understood« (Feynman 1963: 3-10). Indeed, poetic language can be chaotic, and readers may have issues with a poem’s grammar, syntax and its metaphoric or chronological modulations. Texts can appear hermetic, completely closed to the understanding even of educated and professional readers. Some poems, like those of Imagist Ezra Pound, actually aim at that. For Pound and his Imagist colleagues, image trumped meaning. A reader unaware of that fact will struggle with the following, a poem entitled In a Station of the Metro: »The apparition of these faces in the crowd; petals on a wet, black bough.« (Pound 2005: 1297)

In order to understand this poem, a certain amount of research will be necessary. Indeed, this holds also for scientific texts. I will not pretend to understand a paper on pseudo-hyperparathyroidism without extensive preparation, or claim that the following excerpt from a medical article is immediately accessible to someone who has never dealt with cancer research:

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Michael Rodegang Drescher »The samples were analyzed with ambient desorption/ionization mass spectrometry and validated against standard histopathology.« (Agar/Golby/Ligon 2011: 280)

These examples may illustrate that neither poetry nor science recur to ›direct‹ language generally. Consequently, I was amused when I stumbled over the following claim by yet another physicist. It is this sort of cliché dichotomy which I wish to refute: »In der Wissenschaft versucht man etwas, das niemand zuvor wusste, auf eine Art zu sagen, die jeder versteht. In der Dichtung verhält es sich gerade umgekehrt.« »In science, one tries to tell people, in such a way as to be understood by everyone, something that no one knew before. In the case of poetry, it‘s the opposite.« (Dirac in Pfeifer/Schmiedel/Stannarius 2004: 258)

According to Dirac, science (a) uses an accessible language and (b) deals with the theretofore unknown, whereas poetry (c) only talks about things that are already known (d) in an inaccessible language. My issue with this is threefold: First, scientific language is not immediately accessible to everyone. Its accessibility depends largely on education. Second, there is accessible poetry, even if poetic and tropic language present complex approaches towards communication. Third, poetry does not exclusively talk about the known. It is crucial to understand in which areas of reality poetry refines and (re)produces knowledge. Some of these sectors are constructed, indeed, but the crux is: just because a reality discourse is constructed, it does not mean that it is not real. Social realities are consequential and lived realities of a society. To ignore or refute them on the grounds of their constructedness is to be utterly ignorant of actual reality. Now, there are areas of reality – i.e. cultural and social aspects of life, emotions, the spiritual, the transcendental – which poetry is able to illuminate. Whether these areas are part of objective reality or not is not important here – they are part of the lived reality of human beings. Here, poetry attains the same function as physics: it tries to explain what is not yet explained. Further, Dirac presupposes that (e) only science can add towards knowledge. This is of course ridiculous. Poetry and literature are able to produce new knowledge in the dynamic realm of culture – i.e. new ways to think about gender relations, new perspectives on natural resources, new ways to express and define identities. Just as new scientific discoveries fuel the progress of science, ongoing changes in culture further the scope of literature. Further, literature in general is paramount in the imparting of knowledge. We were not born with a working knowledge of quantum physics or the theory of evolution. Everyone needs to acquire knowledge, and while Feynman’s Lectures will further a per-

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son’s comprehension of physics, Shakespeare’s Hamlet and Goethe’s Faust will be instructive in other areas of reality.6 I started handing out flowers, a single flower every time Different ones, in varying shades, in various combinations and contexts All very silently – not a single word from me

Let me turn to poetic and scientific language clarity. Why is poetic language received as more complex when compared to scientific language? Is poetic language really so much more unclear? I wish to offer a differentiation to describe the diverging cultures of language clarity in science and poetry. The first, and here I will give Dirac his due, aims at a clarity of words, i.e. a direct, comprehensible and universal word-usage. Clarity of words reflects scientific epistemology in that it wishes to do away with ambiguity. When I as a literary scholar claim something to be ›significant‹, I may simply mean ›important‹. A microbiologist, however, will regard that term as connected to statistics. This wish for clarity of words, which spills over to a wish for clarity of syntax and grammatical structures, is by no means restricted to the natural sciences. The same holds for law, philosophy, literature, economy – in short, any field that relies on the precise definition of terms. Poetry, on the other hand, relies on the play with words, syntax and grammar. Instead of presupposing a fixed, objective meaning, poets engage with meaning. They follow a constructivist approach, and are able to do so because to them a word’s meaning is everything but clear. Poets espouse the fact that language constructs its own realities – they are therefore freer with its possibilities. Metaphor, metonymy, symbol: they all stretch the possibilities of meaning, defy definitions, reach out and yank together what ›naturally‹ seems separated. In fact, they do nothing more than what we do in language every day: use words to describe things that have nothing to do with the words. Poets know the word’s nature, how it describes and shapes reality. Their words of clarity are based on a creative-constructivist perspective, on the knowledge that words are permeable and, to a specific degree, formable. Poetry plays with clarity by showing that, after all, things are not as clear as they may seem. Thus, poetry entails a very specific function. This function is hermeneutic and cognitive, and it furthers knowledge. Poetry’s complex communication does something to the reader: it aids in the overcoming of preconceptions.

6 | For a related argument, see Perry 2014.

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The P rocess of C omprehension and the O vercoming of Vor -U rteile Comprehension is not a reproductive, but a productive phenomenon (cf. ­Gadamer 2010: 301). To know means to understand, and new knowledge can only be produced by means of a process of understanding. I shall rely on Hans-Georg Gadamer’s general theory of hermeneutics and his concept of Vor-Urteil [pre-conception] for the following. A preconception is a notion that the individual holds to be factual without realizing its conceptual nature. It aims at describing (and shaping) our comprehension of reality, and if erroneous, presents the source of all subsequent error (cf. ibid.: 283). In this constructivist perspective, our Weltbild is conditioned by multiple preconceptions, and the overcoming of erroneous concepts becomes the core mission of all critical reasoning (ibid.: 282). But to better understand reality, one must be aware of said preconceptions. As long as we do not realize a preconception as what it is, we are ignorant to its hindering verdict on our comprehension (ibid.: 304). Comprehension not only pertains to all brands of science, but universally informs the human experience. It entails the acquisition of insights and the realization of truth. Yet there are experiences and truths that lie outside the reach of scientific methodologies, and these truths are made accessible through art (cf. ibid.: 1f.). Yet how do we attain these insights and overcome preconceptions? We must learn to understand. This is where poetry comes in, for language complexity seduces us towards understanding. Gadamer writes: »Denn was zum Verstehen verlockt, muss sich selber schon in seinem Anderssein zur Geltung gebracht haben. Das erste, womit Verstehen beginnt, ist, […], daß etwas uns anspricht.« (Gadamer 2010: 304) »For what leads to understanding must be something that has already asserted itself in its own separate validity. Understanding begins, […], when something addresses us.« (Gadamer 2004: 298)

A preconception has to be ›provoked‹ in order to reveal itself. Poets provoke by crafting stumbling blocks over which a reader can fall – they create complexity that encourages reflection and understanding. Poetry can be beautiful, subversive, therapeutic, political, escapist and many things more. But it can also be hermeneutically revolutionary: a vehicle to shatter preconceptions and pave the way for a better understanding of reality. The creation of texts that are not immediately accessible to the reader furthers knowledge by means of complexity. Poems are didactic in this instance, in that their lines and stanzas offer stumbling blocks over which the reader

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may fall. That fall, however, can reveal preconceptions, encourage new perspectives, further critical reflection and result in the attainment of understanding and the acquisition of knowledge. In this context, Bourdieu talks of an instrumentalist value of literature, which fosters linguistic competence and a creative disposition (cf. Bourdieu in Speller 2011: 160). Here, poetry attains a cultural, social and political import: its complexity aids us in becoming more knowledgeable, more sovereign human beings. Complex texts are able to push the reader to realize erroneous concepts and acquire a better understanding of the world. But the hermeneutic cycle requires a trigger that fuels the movement towards better knowledge – that trigger can be complexity. Words used out of the ordinary, weird grammar, chaotic syntax, violent metaphors and conceits: they offend the status quo, they irritate the reader, who then may be seduced to understand what seems beyond understanding, and gain new insights in the meantime.

E xpressing the C osmos with P e tals It is time to exemplify how poetry can construct and refine knowledge. I will devote this last section to a short analysis of floriography. It will show how the poetic can create a separate language, an independent sign system which overreaches objective reality and makes flowers talk. Throughout this essay, my poem The Science of Flowers has been woven into the discourse, discussing poetry and science in poetic form. Floriography offers a fascinating instance of how the poetic can create its own language, design its own rituals, and express reality through construction. Naturally, I do not claim that plant-units responsible for pollination are able to utter phonetic units of meaning comparable to human language. But in floriography, we circumvent a flower’s physio-biological inability to communicate verbally by assigning meaning to the organisms themselves.7 These flowery signs are arbitrary and constructed. But they exist and offer the possibility to express and describe. Thus, the objective fact ›flowers cannot talk‹ is complicated by their humanly-constructed ability to signify. Floriography works at a very basic symbolical level. Flowers function as signifiers for e.g. feelings. The orchid may stand for passion, the snapdragon for seduction. Further, the flower’s color renders different meanings: the carnation in red symbolizes courage, in black it stands for hatred. It becomes clear how arbitrary the bond between flower-signifier and signified concept is; a bond akin to the signifier-signified relationship of the linguistic sign. Also, floriography is largely restricted to the expressive function. The addressee’s compre7 |  For more on floriography see Verborgen 1990, Seaton 1995, Heilmeyer 2001.

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hension is reliant on their familiarity with the code. If I give a person a rose and that person is ignorant to its meaning (romantic love), said recipient will not understand my floriographical communication. It is as if I were to speak French to a person who does not understand French. The language of flowers is highly performative. The communicative act lies within the giving of the flower. Unlike human language, which knows multiple mediums (speech and writing), the flower is its own medium. Thus, social construction makes these flowers signify. The poetic can go further: it may let the daisy sigh and the snapdragon roar. Linguistic coding and creativity enables them to signify visually – yet poetry can make them speak. Let us remember the idea of the fictional: if poetry makes flowers talk, it does so for a reason. It repeats (social) reality’s determinism (the very real significations attached to the flowers) and employs fantasy to describe and express a reality in poetic language. Logical empiricism would critique floriography for constructing an unreal meta-physical universe. The social sciences would be able to offer catalogues of meaning to understand the flower’s cultural signification. Poetry, however, can make the flowers talk for themselves, tell us what they mean, and make us reflect on the meaning they carry. My results are the following: The rose in white the liar solemnly swears to be true I promise to love and be with you always The honest rose is yellow and of a straighter hue: I love you, all right, but another I do The orchid loves the superficially minded: (No wonder my wolf-girl reeked of it) It cares only for appearances You’re sexy and I will appreciate that The carnation posed a paradox In red it’s the people The passion and strength of us all Wir sind das Volk In yellow and black it says Go to hell Or, if more delicately shaded, I dislike you I didn’t get it at first Then I remembered the physicist

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One does not need to be an expert floriograph to understand. Constructed or not, floriography infuses our society to such an extent, that the idea ›A red rose means love‹ is so ingrained in our culture that it approaches cliché. Again, there is no natural connection between the rose and the concept of love. But even if the connection appears outworn, we will understand what the rose means when the language of flowers is spoken. Allow me to focus on the blue rose for a moment. This rose as a material object does not exist in nature. Still, human beings have found ways to produce such flowers. In floriography, the blue rose stands for something unattainable, for impossible love. But the flower, paradoxically, has no other raison d’être but to express and materialize that which is impossible. This is why I hold the blue rose to be the poet’s flower. It is this stance, the attempt of approaching and assessing truth, which lies at the core of all poetic (and I daresay scientific) endeavors: trying to explain and approximate the unreachable. Just as many other constructions, the blue rose is a reality. Poetry has no problem with admitting the fact that although something is made it does not mean that it is not real or true. The creation, attainment and approximation of such truths, and the simultaneous knowledge that certain truths are unreachable, present not only the poet’s, but also the scientist’s baptism. Their methods may differ, their perspectives diverge, but their goal is the same. Indeed, flowers cannot recite poetry – but they can transport meaning. Let us stick to the roses and take a closer look. The white rose, for instance, stands for marriage, creating an interesting dichotomy between love (red rose) and the social institution. Whether or not romance has a place in marriage seems to be dependent on the continued presence of red roses after the martial vow. But vows of constancy are tricky – sexual desire, on the other hand, seems to constitute a more honest, albeit fleeting notion. Interestingly, betrayal is also embodied by a rose, but in a different color (yellow). One may be deceived into perceiving a natural family connection between the red, white and yellow roses, given their shared applicability on eros and marriage. The carnation, however, again reveals the arbitrary relationship between signifier and signified: the red carnation is courage, the black stands for hatred. No family connection here. This arbitrariness, however, should not force us into a position of rejection, despair or relativity. On the contrary, although arbitrary, language (and the universe it aims at describing) are highly structured, rational but chaotic, vast and immensely complex. Reality remains, however, approachable and graspable. This is what blue-petal poets and blue-petal scientist stand against: a universe of possibility, a cosmos of complexity that by its chaos seduces us towards understanding. The world around us is complex, yet scientists and poets should not be deceived in thinking their goal to be simplification. They should rather strife to illuminate complexity. They may do so if they shun the seductiveness of

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simplicity and the trappings of relativity. Complexity can be frustrating, but it ultimately enriches our perspective on the world and ourselves. Paradoxes are part of that complexity, just as the realization that we may never attain the holy grail of absolute knowledge. That we nevertheless try makes us human – and the ongoing unraveling of the bouquet may lead to the realization that, in their essence, science is poetic and poetry scientific. And finally, my tour de force the bouquet the choir the carmina: A thousand voices pregnant humming signifying: Smell, touch, juices, birds crashing against windows And I found Poetry Art of the arts and Science of sciences Finally, this is what I’ve found: My flowers can’t talk – I give them away and truth blossoms and blushes is naked by grace of a magic that’s older than sound.

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Grenzen der Objektivität Ein Wahrnehmungsexperiment am Bauhaus Dessau Emanuel Mathias

R ekonstruk tion eines künstlerischen A rbeitsprozesses Ort: Stiftung Bauhaus in Dessau, Werkstattflügel, ehemalige Metallwerkstatt Experimentteilnehmer: Prof. Phillip Oswalt, Architekt und Publizist; Dr. Barbara Fruth, Primatologin; Dr. Frank D. Steinheimer, Ornithologe und Leiter einer zoologischen Sammlung; Alexej Meschtschanow, Künstler Moderation: Dr. Barbara Steiner, Kunsthistorikerin, Kuratorin und Autorin Experimentleitung – Emanuel Mathias, Künstler Aktive Beobachter: Acht Studierende eines Videokurses und ihr Kursleiter, eine Gerichtszeichnerin, ein Journalist, fünf teilnehmende Beobachter Abb. 1: Filmstill, Grenzen der Objektivität, Dauer: 55:34 min (Original in Farbe)

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Die künstlerische Arbeit mit dem Titel Grenzen der Objektivität entstand 2013 während eines dreimonatigen Arbeitsaufenthalts im Bauhaus in Dessau und wurde von der SYN Stiftung Kunst Design und Wissenschaft gefördert, die mit einer Ausschreibung Künstler und Wissenschaftler aufgerufen hatte, sich in kreativer Form mit dem Thema »Neue Modelle der Zusammenarbeit zwischen Kunst, Design und Wissenschaft« auseinanderzusetzen (vgl. http://www.synstiftung.org [06.01.2015]). Ausgangspunkt für Grenzen der Objektivität war die Frage nach den sprachlichen und prozessualen Diskrepanzen zwischen den unterschiedlichen Disziplinen von Kunst und Wissenschaft und die Frage, inwieweit Klischees, Tabus und Konventionen für das Selbstverständnis der eigenen sowie das Verständnis der jeweils anderen Disziplin eine Rolle spielen. Hieraus entstand die Idee für die Durchführung eines Wahrnehmungsexperiments, in dem die Kommunikation und Interaktion zwischen vier exemplarisch ausgewählten Akteuren aus Kunst und Wissenschaft untersucht und sichtbar gemacht werden sollte. Der Titel der Arbeit Grenzen der Objektivität war gleichzeitig auch die Hauptfragestellung, mit der sich die Teilnehmer während des Experiments in verschiedener Form auseinandersetzten. Methoden aus der Primatologie, der Soziologie und Psychologie kamen bei der Erarbeitung des Experimentdesigns und der Durchführung zur Anwendung. Ein wichtiger Aspekt für die gestalterische und künstlerische Weiterverarbeitung war, das Experiment von so genannten aktiven Beobachtern1 aus unterschiedlichen Perspektiven beobachten zu lassen, die mit unterschiedlichen Medien – wie Zeichnungen, Filmen und Notizen – das Geschehen aufzeichneten. Das gesamte Material, welches während der Vorgespräche und des dreistündigen Experiments entstand, wurde zur Ausgangsbasis für eine multimediale Installation im Ausstellungsraum, die 2014 erstmalig im Zusammenhang mit der Tagung Abweichungen und Fehler – Befunde in Kunst, Design und Wissenschaft in den Naturwissenschaftlichen Sammlungen Halle gezeigt wurde,2 die dem Betrachter die Möglichkeit gab, die unterschiedlichen Perspektiven innerhalb des Experiments zeitgleich und räumlich zu erfahren. Den Hauptteil dieser Installation bildet ein Film, der alle Blickwinkel der vier anwesenden Kamerateams auf das Experiment synchronisiert und in Form eines Split Screen3 wiedergibt. Zeitgleich werden die Notizen, die während des 1 | Aktive Beobachter sind Personen, die eingeladen wurden, das Experiment mit Hilfe von verschiedenen Aufzeichnungsmedien in ihrer subjektiven Wahrnehmung zu dokumentieren. Für alle gab es eine kurze Einweisung, die aber keinerlei Einschränkungen beinhaltete. 2 | Die Konferenz fand vom 13.-14. März 2014 statt, Veranstaltungsort: Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, Jägerberg 1, 06108 Halle (Saale). 3 | Split Screen ist ein geteilter Bildschirm, der das Bild in mehrere Bereiche aufteilt, um mehrere Handlungen oder Bilder gleichzeitig zu zeigen.

Grenzen der Objektivität

Experiments von verschiedenen Beobachtern notiert wurden, als eine Kommentarfunktion synchron zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift eingeblendet. Unvorhergesehene Momente im Verlauf des Experiments, wie das Eingreifen des Experimentleiters, Reaktionen der Teilnehmer, die sich der vorgegebenen Dramaturgie des Experimentes widersetzen, aber auch interne Diskussionen zwischen dem Experimentleiter und der Moderatorin über die Auslegung der selbst gestellten Experimentregeln werden durch das filmische und auditive All-Over4 der Aufzeichnung sichtbar bzw. hörbar gemacht und scheinbar objektiviert.5 Der Begriff der scheinbaren Objektivität steht hier für die These, dass je höher die Anzahl der Beobachter ist, die das Geschehen dokumentierend begleiten, umso vielseitiger die Möglichkeit der Rezeption des Materials wird. Viele individuelle Blicke von Beobachtern übernehmen den sonst singulären Standpunkt des Beobachters. In der Wiederherstellung der beobachteten Situation in Form einer synchronisierten, zeitgleichen Darstellung dieser Blickwinkel entsteht eine neue Form der Wahrnehmung. Weitere Teile der Installation sind: die Aufzeichnungen der Vorgespräche und Auswertungsgespräche; während des Experiments von den Teilnehmern erstelltes Material und verwendetes Anschauungsmaterial wie z.B. die gemalten Originalbilder eines Orang-Utans.6 Die hier skizzierten Auszüge der Arbeit Grenzen der Objektivität bilden den Ausgangspunkt für eine weiterführende Beschäftigung mit der Arbeit Entscheidung für eine angemessene Entfernung, für die ich im Januar 2015 ein Forscherteam von Primatologen, Ethnologen und Literaturwissenschaftlern nach Borneo, Indonesien bei ihrer Forschungsarbeit im Feld begleiten werde (vgl. http://www.loe.fu-berlin.de/affekte-der-forscher/index.html [06.01.2015]). Die Forscher sind hier selbst das Untersuchungsobjekt, anhand dessen der Frage nachgegangen werden soll, inwieweit ein komplexer Forschungsprozess im Feld mit künstlerischen Mitteln sichtbar gemacht werden kann, ohne dass der Beobachter, hier der Künstler, aus dem Blick der Wahrnehmung verschwindet. Dabei wird die synchrone, multiperspektivische Aufzeichnung des Ge4 | All-Over: Ein in Anlehnung an die Maltechnik des All-Over-Painting verwendeter Begriff, der auf das gesamte Ausfüllen eines Rahmens verweist. Hier ist die ganzheitliche Aufzeichnungsmethode von Ton und Bild einer klar umrissenen Situation gemeint. So wurden neben der permanenten Präsenz von verschiedenen Kamerateams zum Beispiel alle Teilnehmer des Experimentes einzeln mit Ansteckmikros aufgenommen, um auch Gespräche, die während der Pause oder in einer beiläufigen, scheinbar unbeobachteten Situation stattfanden, zu dokumentieren. 5 | Eine Online Version des Films Grenzen der Objektivität ist einsehbar unter: http:// vimeo.com/92019680, Kennwort: bauhaus [29.05.2015]. 6  |  Beim Experiment gezeigte, mehrfarbige durch einen Orang Utan mit Fingermalfarbe bemalte Leinwände, die als Dauerleihgabe vom Zoo Osnabrück bereitgestellt wurden.

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schehens durch mehrere Beobachter 7 wiederholt als Methode angewendet, die eine Vergleichbarkeit der Beobachterperspektiven und die damit verbundene Aufmerksamkeitsrichtung von Beobachter und Beobachteten visuell erfahrbar machen soll. Sind es hier die Forscher, die während ihrer Arbeit im Feld 8 beobachtet werden, so geht es bei Grenzen der Objektivität um die Beobachtung in einem geschlossenen Experimentierfeld. Beide Arbeiten stehen sinnbildhaft für die zwei Prinzipien, die in der Primatologie angewendet werden, um Verhalten von Menschenaffen zu erforschen und sollen in ihrer Gesamtheit diesen Forschungsbereich in seiner Systematik exemplarisch abbilden. Dabei geht es immer auch um die Frage, inwieweit sich das Nähe-Distanzverhältnis von Beobachter und Beobachteten im Arbeitsprozess und den damit verbundenen gewählten Methoden ablesen lässt. Der nun folgende Text rekonstruiert in chronologischer Abfolge Teile des Arbeitsprozesses von Grenzen der Objektivität und gibt einen Einblick in die verschiedenen Aspekte der Arbeit anhand ausgewählter Bild- und Textpassagen. Es geht hier nicht darum, ein Gesamtbild der Arbeit herzustellen, die für den Ausstellungskontext konzipiert ist, in dem der Betrachter und seine Form der Wahrnehmung eine wichtige Rolle spielt, sondern darum, meine Vorgehensweise zu dokumentieren, die ein Versuch ist, künstlerische Forschung zu betreiben, mit dem Ziel der ästhetischen Formulierung einer inhaltlich komplexen Thematik, in der die subjektive Einzelwahrnehmung in ihrer Multiplexität eine scheinbare Objektivität erreicht. Die hier verwendeten Textpassagen werden größtenteils unkommentiert abgedruckt und dienen dazu, einen Einblick in die Art der Kommunikation zu gewinnen, die zwischen den Teilnehmern herrschte. Dem gesprochenen Wort wird eine übermäßige Bedeutung gegeben, welche den individuellen Blickwinkel des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt. Daneben verweist die Wiedergabe von generierten Daten in Form eines fragmentarischen Umgangs auf die Unmöglichkeit, eine vergangene Situation vollständig wiederzugeben. Strukturiert sind die folgenden Absätze in Anlehnung an eine genau vorher festgelegte Handlungsanweisung und Dramaturgie des Experiments, zu dem auch die Vor- und Nachbereitungen zählten.

7 | Der Beobachterkreis setzt sich zusammen aus zwei indonesischen und zwei deutschen Künstlern, die die Forschungsarbeit des Affekte der Forscher-Teams in Indonesien im Januar und Februar 2015 begleiten werden. Die Arbeitsreise wird unterstützt vom Institut für Auslandsbeziehungen, dem Goethe Institut Jakarta sowie dem Kunci Cultural Studies Center. 8 | Die Forscher beobachten in einem Rotationsprinzip, in dem die unterschiedlichen Disziplinen Erfahrungen bei der Beobachtungsarbeit im Feld sammeln, einerseits Einheimische in Yog jakarta, Indonesien auf der Insel Java sowie freilebende Orang Utans auf der Insel Borneo, Indonesien.

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V or dem E xperiment Die im Vorfeld durchgeführten Vorgespräche mit den Teilnehmern sowie die Aufgaben Lexikon der Begriffe, Persönlicher Gegenstand und Projektvorstellung halfen dem Experimentleiter einen selektiven Einblick in die unterschiedlichen Sichtweisen der einzelnen Personen zu gewinnen und auf dieser Grundlage ein individualisiertes Experimentdesign zu erarbeiten. Vorgespräche – Es folgen vier Zitate aus den vorab geführten und aufgezeichneten Gesprächen mit den einzelnen Teilnehmern, welche die unterschiedlichen Selbstwahrnehmungen von Künstler, Architekt und Naturwissenschaftler exemplarisch vorstellen. Eine wichtige Voraussetzung bei der Auswahl der Teilnehmer für das Experiment waren bereits vorhandene Erfahrungen in interdisziplinären Arbeitsprozessen, ein Interesse an der Beschäftigung mit Fragen der Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung sowie der Reflexion des eigenen Arbeitsprozesses. Ein besonderes Interesse gab es an der Teilnahme der Primatologin, da sich in ihrer Arbeit in besonderer Weise, die Frage von Nähe/Distanz zwischen Untersuchungsobjekt und Beobachter stellt. Sie bildet darüber hinaus die Verbindung zur Folgearbeit Entscheidung für eine angemessene Entfernung, welche sich explizit mit der Arbeitsweise von Primatologen auseinandersetzt. Alexej Meschtschanow (Künstler): »Du sagst zwar Ich, aber dadurch wirst du zu einem Vertreter deiner Gattung.« Barbara Fruth (Primatologin): »Ich kann durch denselben Wald, denselben Pfad mit völlig anderen Blickwinkeln gehen, in Abhängigkeit davon, mit was ich mich gerade beschäftige, welche Daten ich brauche oder ob ich durchgehe, weil ich vielleicht irgendwelche Vogelstimmen hören will.« Phillip Oswalt (Architekt): »Es ist fast das umgekehrte Problem bei mir, dass ich ständig, ich habe selten die Ruhe zu meiner Disziplin zurückzukommen. Ich stecke ständig in irgendwelchen verqueren anderen Situationen drin.« Frank Steinheimer (Ornithologe): »Wir kennen diese Schnittstellen, aber wir wundern uns trotzdem immer wieder, wenn wir eine andere Disziplin treffen, wie da gedacht und auch geschrieben und vorgetragen, v.a. vorgetragen wird.«

Lexikon der Begriffe – In der Aufgabe Lexikon der Begriffe wurden die Teilnehmer aufgefordert in Form von Assoziationen auf ausgewählte Begriffe mit einem eigenen Begriff zu antworten. Dabei spiegeln die Antworten zum einen ihre individuelle Sichtweise wieder. Aber ebenso zeigt sich, wie sehr ihre Antworten durch ihr berufliches Tun geprägt sind. Ein weiterer Aspekt, der beleuchtet werden sollte, war die Frage, inwieweit eine Assoziation über das berufliche oder private Selbstverständnis generiert wurde und der damit verbundenen Fragestellung: Gibt es in den verschiedenen Disziplinen überhaupt eine Trennung von privat und beruflich? In nur einem Fall bei insgesamt 15

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vorgegebenen Begriffen kam es zu einer identischen Antwort der jeweils verwandten Disziplinen: Den Begriff Zufall entgegneten die beiden Wissenschaftler mit »Evolution«, die beiden Kulturschaffenden hielten Glück dagegen (siehe Abb. 2). Genau dieser Zufall, bei dem sich die Unterschiede in den Herangehensweisen und Vorstellungen widerspiegelt, ist es, der in der Erarbeitung der verschiedenen Aufgaben und Handlungsanweisungen provoziert werden soll. Abb. 2: Lexikon der Begriffe, v.l.n.r.: vorgegebene Begriffe, Antworten A. Meschtschanow, P. Oswalt, B. Fruth, F. Steinheimer, Marker auf Tintenstrahldruck 180 cm x 120 cm (Original in Farbe) Abb. 2: Lexikon der Begriffe, v.l.n.r.: vorgegebene Begriffe, Antworten A. Meschtschanow, P. Oswalt, B. Fruth, F. Steinheimer, Marker auf Tintenstrahldruck 180 cm x 120 cm (Original in Farbe)

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Persönlicher Gegenstand – Die Aufgabe einen persönlichen Gegenstand mitzubringen, basiert auf einer Methode, die während eines Symposiums im Haus der Kulturen der Welt angewendet wurde, bei der die Vortragenden aufgefordert wurden, einen Gegenstand mitzubringen, der Ausgangspunkt für ihren Vortrag sein sollte.9 Für das Experiment im Bauhaus sollten die Teilnehmer zur Vorstellung ihrer Person einen Gegenstand mitbringen, der sie und ihre Arbeit repräsentiert. Dieser Gegenstand konnte zum Beispiel ein Werkzeug sein, welches sie nutzen oder etwas, was sie mit ihrer Arbeit in Verbindung bringen. Hier ein Auszug aus dem Originalton des Experiments der Primatologin Barbara Fruth bei der Präsentation ihres persönlichen Gegenstandes (00:18:15):10 »Ich hab’ ein Fernglas mitgebracht. Es ist ein sehr großes und schweres Fernglas, mit dem ich in der Anfangszeit meiner Beobachtungen gearbeitet habe, wo ich im Halbdunkel versucht habe Individuen zu identifizieren und zu schauen, wie sie Nester bauen. Es handelt sich um Menschenaffen. Eigentlich sehr große Tiere, aber wenn diese in 40 m Höhe Nester bauen, dann ist das vom Boden bei fast Dunkelheit kaum zu erkennen. Zumindest nicht mit bloßem Auge. Das ist ein Gegenstand, der doch die letzten zwanzig Jahre irgendwo mit mir verbunden ist, weil ich Verhaltensforschung mache an frei lebenden Bonobos.«

Abb. 3: Persönlicher Gegenstand, B. Fruth (Primatologin), C-Print, (Original in Farbe), 40 x 30 cm gerahmt

9 | Das Anthropozän-Projekt. Eine Eröffnung. Symposium 10.1.-13.1.2013 im Haus der Kulturen der Welt, Berlin. 10 | (00:18:15) = (HH:MM:SS) = Realzeit Experiment Grenzen der Objektivität.

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Die Gegenstände, die während des Experiments im Original zu sehen waren, wurden für die Ausstellungsinstallation in ihrer ursprünglichen Umgebung (Büro, Atelier, zu Hause) fotografiert. Projektvorstellung – Eine weitere Aufgabe für die Teilnehmer bestand darin, den typischen Ablauf eines persönlichen Projektes mit Fokus auf die jeweilige Arbeitsweise und den damit verbundenen Arbeitsprozess vorzubereiten, um dieses Projekt während des Experiments den anderen Teilnehmern vorzustellen. Fragen wie: »Welche pragmatischen und inhaltlichen Schwierigkeiten ergeben sich im Laufe des Arbeitsprozesses?« oder »Inwieweit haben ökonomische, systemische oder psychologische Bedingungen Einfluss auf das Projekt?« bildeten den Ausgangspunkt für die darauf folgende Diskussion, die zum Ziel hatte, die Haltungen der einzelnen Teilnehmer sichtbar werden zu lassen.

D as E xperiment Versuchsauf bau – Das Experiment in seiner dramaturgisch festgelegten Abfolge fand in einer Art dezentralen Bühnensituation statt, in der sich die Teilnehmer zwischen unterschiedlichen Inseln des Vortragens, Diskutierens und Experimentierens bewegten und wurde zeitgleich von verschiedenen Blickwinkeln filmisch, zeichnerisch und mittels Beobachtungsprotokollen systematisch dokumentiert sowie in Form von Fragebögen und Interviews ausgewertet. Der gesamte Verlauf des dreistündigen Experiments war minutiös geplant. Alle Beteiligten wurden genau über den Ablauf informiert; Zeiträume für Aufgaben, Experimente und Diskussionen exakt festgelegt. Die Moderatorin hatte die Aufgabe, diesen Ablauf strikt einzuhalten, was nur zum Teil gelang.11 Das Experimentdesign war auf die Dramaturgie des Experiments hin abgestimmt. Das Ziel bestand darin, einen experimentellen Raum zu schaffen, in dessen Aktionsrahmen die Teilnehmer anhand bestimmter Handlungsanweisungen dazu gezwungen wurden, ihre Haltungen und Vorstellungen aneinander zu reiben und zu einem produktiven Diskurs zu gelangen.

11 | So wurden bestimmte Abläufe während des Experiments vom Experimentleiter in Absprache mit der Moderatorin umgestellt, um kurzfristig die Dramaturgie des Experimentes zu beeinflussen.

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Links Abb. 4: Grundriss Experimentfeld mit Laufwegen, Beobachter und Standpunkten; Teilnehmer (Original in Farbe) Rechts Abb. 5: Skizze zu Nähe-Distanzverhältnis; Teilnehmer, Publikum, Beobachter, Experimentleiter (Original in Farbe)

Handlungsanweisung – Der Experimentleiter verkündete zu Beginn des Experiments eine allgemeine Handlungsanweisung für die Teilnehmer, die Moderation, die aktiven Beobachter, das Publikum sowie für den Experimentleiter. Diese Anweisung beinhaltete u.a. einige Maßgaben, wie die gegenseitige Nichtbeeinflussung von Beobachter und Beobachteten und diente dazu, allen Beteiligten die Rolle und die damit verbundenen geforderten Verhaltensweisen vor allen Anwesenden zu erläutern. Mit den Verhaltensweisen wurden den Beteiligten bestimmte Grenzen gesetzt, in der Absicht diese zu einer Gegenreaktion zu provozieren. Es folgt ein Auszug aus der Handlungsanweisung von E. Mathias (00:02:30): »Für die Teilnehmer: Ich möchte Sie bitten, sich sofort aktiv am Verlauf zu beteiligen. Wenn Sie Fragen, Anmerkungen oder Unklarheiten haben, bitte haken Sie sofort nach. Außerdem möchte ich Sie bitten, Ihre Wortmeldungen nur an die anderen Referenten und die Moderatorin zu adressieren, nicht an die anwesenden Beobachter. Für die schon instruierten Beobachter im Raum: Sie dürfen sich ohne Weiteres frei im Raum bewegen, um Ihre Aufnahmen, Zeichnungen oder Notizen zu machen. Allerdings bitte ich darum, so wenig wie möglich damit den Ablauf des Experimentes zu stören.«

Vorstellungsrunde und Diskussion – Es folgte die Vorstellung der einzelnen Teilnehmer durch ihre persönlichen Gegenstände, indem jeder einzeln und nacheinander seinen Gegenstand den anderen präsentierte. Neben den Teilnehmer stellten sich auch der Experimentleiter und die Moderatorin anhand eines mitgebrachten Gegenstandes vor. Ziel war es, den Experimentleiter und die Moderatorin einzuführen und somit als zwei Protagonisten, die wichtige Einflussgrößen in dieser Konstellation bilden würden, in den Fokus zu rücken.

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Im Anschluss folgte die Vorstellung der individuellen Projekte, die im Vorfeld von den einzelnen Teilnehmern vorbereitet werden sollten. In der anschließenden Gesprächsrunde wurden über die verschiedenen Arbeitsweisen und deren Bedingungen diskutiert. Während der Vorstellung des Projektes der Primatologin Barbara Fruth kam es zu folgendem Dialog, in dem die Widersprüchlichkeit zwischen dem Anspruch und dem Selbstverständnis der Wissenschaftlerin erkennbar wurde. P. Oswalt (01:16:16): »Wenn Sie Verhaltensforschung machen, machen Sie dann auch Schlussfolgerungen auf das menschliche Sein, oder? Das wäre die Frage. Welche Rolle spielt das und was ist da dann die Erkenntnis, die Sie dann generieren?« B. Fruth (01:16:41): »Als Verhaltensökologen schauen wir ja, welche Umweltzwänge formen welches Verhalten. Können wir bestimmte Verhaltensmuster mit der Umwelt erklären? Da versuchen wir natürlich auch Brücken zu Menschen zu schlagen. Aber ich glaube, dass da trotzdem ein starker kultureller Aspekt mit reinspielt, weil man ja über Jahrzehnte Schimpansen als das ideale Modell für den gemeinsamen Vorfahren gesehen hat, weil man gesagt hat, aha, die Männerbünde und das Jagen und die Männerdominanz und die Frauen, die Sammlerinnen usw. und auch durch unseren Gesellschaftswandel, der letztlich ja dann Frauen auch einen anderen Rolle zugestanden hat, ist sozusagen der Bonobo in das Blickfeld gerückt, und man hat gesagt, das ist ja das viel bessere Modell.« B. Steiner (01:17:57): »Aber das heißt ja, dass man entlang gesellschaftlicher Entwicklungen natürlich auch auf das guckt, worüber man forscht und dass das wesentlich einen Einfluss hat, das heißt auch Wertvorstellungen, die in der Gesellschaft herrschen. Man ist dafür oder dagegen, aber genau durch diese Filter guckt man dann auch auf den Untersuchungsgegenstand und dass wäre ja jetzt sehr deutlich.« B. Fruth (01:08:17): »Also das würde ich jetzt nicht so sehen, ich halte mich natürlich für objektiv. Ich geh jetzt nicht hin. Ich komm jetzt nicht aus der Frauenbewegung und sage jetzt will ich Bonobos erforschen, um das zu beweisen, was ich eh schon weiß. Nein, ich bin ja ergebnisoffen.«

Wahrnehmungsexperiment 1 – Im ersten praktischen Teil des Experiments bekamen die Teilnehmer die Aufgabe, eine akustisch eingespielte Beschreibung einer Beobachtungssituation der Primatologin Dian Fossey mit Hilfe einer eigenen Zeichnung zu erfassen. Die Tische, auf denen Zeichnungen gemacht werden sollten, standen so angeordnet, dass sich alle vier Teilnehmer gegenüberstanden und den Anderen dabei genau sehen konnten. Das Publikum und die »aktiven Beobachter« bildeten einen Kreis um die Szene. Bei dieser Aufgabe ging es um die Frage, welche Visualisierungsformen die Teilnehmer für die Aufgabe zu wählen gedenken und ob diese etwas über ihre Art des Sehens verraten würden. Es folgt ein Auszug aus der akustisch eingespielten Beobachtungsstudie, die den Teilnehmern als Vorlage diente:

Grenzen der Objektivität »Die beiden Angreifer näherten sich einander bis auf reichlich einen Meter, blieben parallel zueinander stehen und erstarrten mit abgewandten Blicken in der Bewegung. Die angespannte Erregung der beiden Silberrücken übertrug sich auf alle übrigen Tiere, die gleichfalls bewegungslos verharrten. Schließlich hielt Hatari es nicht mehr aus. Auf den Hinterbeinen stehend trommelte er auf seinen Brustkorb und klatschte laut auf die Pflanzen zwischen sich und Beethoven« (Fossey 1989: 101).

Abb. 6: Vorlage für Zeichnung der Teilnehmer, Wahrnehmungsexperiment 1, 50 x 60 cm

Wahrnehmungsexperiment 2 – Es folgte ein zweites Experiment, bei dem die Teilnehmer zwei Gemälde beschreiben und interpretieren sollten, die von einem Orang-Utan gemalt waren, worüber die Teilnehmer nicht informiert wurden. Eingeteilt in Zweiergruppen (je ein Wissenschaftler, ein Künstler) mussten diese eine Interpretation in schriftlicher Form erarbeiten und anschließend vortragen. Es folgt der Originalton aus der Präsentation der Ergebnisse des Ornithologen F. Steinheimer aus der Interpretation, die er zusammen mit dem Architekten Phillip Oswalt erarbeitet hatte (02:05:00): »Erst einmal die Ausgangssituation: Es sind zweimal zwei Bildbetrachter vor 25 Betrachtern der Bildbetrachter. Künstlerisches Werk wird in einem Haus präsentiert, in dem künstlerische Produktion gelehrt wurde. Das Bild ist ungerahmt, auf ungrundierter Leinwand, leicht verschmutzt, vermutlich in Acrylfarbe gemalt; Farbauftrag, mit Pinsel, nicht gegenständlich, in den Farbtönen gelb, orange, violett, altrosé und rosa. Die Kom-

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Emanuel Mathias position besteht in einer aufsteigenden Diagonale aus einer Spiralbewegung heraus. Das Bild assoziiert eine positiv freundliche Stimmung. Es ist keine Signatur vorhanden.«

Links Abb. 7: Orang-Utan Buschi, Zoo Osnabrück, Filmstill (Original in Farbe) Rechts Abb. 8: gemaltes Bild von Orang-Utan Buschi, 70 x 50 cm, Dispersion auf Leinwand, Tierhaare (Original in Farbe)

Abschlussaufgabe und Auswertung – Bei der anschließenden Abschlussaufgabe erarbeiteten die Teilnehmer eine gemeinsame Übersicht, die sich den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Arbeitsweisen widmete. Dabei wurde erkannt, dass sich die bislang vorherrschenden Vorstellungen und Stereotypen durchaus als entgegengesetzt zu den Vorannahmen herausstellten. So arbeiteten die Künstler strukturierter und die Wissenschaftler waren stärker mit intuitiven Vorgängen involviert als die jeweils andere Disziplin angenommen hatte. In bestimmten Bereichen, wie den finanziellen und systemimmanenten Abhängigkeiten, die v.a. in der Abschlussdiskussion, aber auch schon zur Projekt Vorstellungsrunde thematisiert wurden, gab es dagegen Gemeinsamkeiten. So herrschte z.B. Einigkeit darüber, dass eine Forschungsfrage sich immer auch nach einer finanziellen Rückversicherung ergibt und dass tagespolitische aktuelle Fragestellungen mögliche Fördergeldertöpfe beeinflussen. Folgende Begriffe wurden von den Teilnehmern zusammengetragen und unter Gemeinsamkeiten oder Unterschieden zugeordnet: Motivation genieren, Systematik, Neugierde, Visionen, Idee, Umsetzung, Finanzierung, der Kampf um die Öffentlichkeit, Hobby als Beruf, Administration, Politik, Umsetzungsprozess. Im Anschluss wurde das Experiment vom Experimentleiter offiziell beendet. Die Beobachtungsprotokolle der Zuschauer und Beobachter, die Notizen der Teilnehmer sowie die Zeichnungen der Gerichtszeichnerin wurden eingesammelt. In direktem Anschluss an das Experiment folgten die Auswertungsinterviews der Teilnehmer, der aktiven Beobachter, der Moderatorin und des Experimentleiters durch einen Journalisten (02:49:00): »Wie fühlten Sie sich unter Beobachtung?« B. Fruth: »Dadurch, dass das so unheimlich viele waren, habe ich dass nicht gemerkt. Wir Biologen haben da den Begriff ›safety‹ in

Grenzen der Objektivität numbers, ein Fischschwarm tarnt sich sozusagen dadurch, dass es ganz viele Fische sind und so habe ich das auch empfunden.«

Bei dem Versuch ein zeitlich und räumlich begrenztes Ereignis durch verschiedene Blickwinkel (filmisch, zeichnerisch, anhand von Notizen) zu dokumentieren und in einer anschließenden synchronisierten Form zu präsentieren, zeigte sich, dass die Zufälligkeit von Ereignissen, eine Evidenz durch die Gleichzeitigkeit vieler Blicke auf das selbe Geschehen erhält und damit eine Form der Objektivität suggeriert. In der Wiederherstellung der beobachteten Situation in Form einer synchronisierten, zeitgleichen Darstellung dieser Blickwinkel entsteht eine neue Form der Wahrnehmung. Die Frage, die sich mit der nun folgenden Arbeit Entscheidung für eine angemessene Entfernung anschließt, ist diese: Kann diese mehrperspektivische Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung auch in einem offenen Feld (indonesischer Dschungel, Stadt) hergestellt werden, wenn nicht nur der Forscher und sein Forschungsobjekt, sondern auch die Beobachter des Beobachters ins Blickfeld rücken? Donna Harraway schreibt in ihrem Buch Die Neuerfindung der Natur hierzu passend: »Es gibt eine Perspektivität und Parteilichkeit von Wissen. Verbindungsnetze von verschiedenen Standpunkten aus sind dem zentralem Standpunkt oder der Zentralperspektive vorzuziehen [...] Man muss weg von einer Universalsprache oder auch einen zentral-perspektivischen Standpunkt, hin zu einem Standpunktgeflecht, welches unterschiedliche Arten der Übersetzung beinhaltet. Objektivität bedeutet Dekonstruktion der Abgeschlossenheit und Homogenität von Standpunkten.« (Harraway 1995: 95)

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Emanuel Mathias

A bbildungsverzeichnis Grenzen der Objektivität (2014) (Deutschland, R: Emanuel Mathias)Copyright: Für alle abgebildeten Werke von Emanuel Mathias: © Emanuel Mathias/ VG-Bildkunst, 2015. Online unter: http://vimeo.com/92019680, Kennwort: bauhaus [29.05.2015].

Freiheit von der Zeit Ästhetisches Anschauen als Verweilen Jörg Weinöhl und Ulrike Wörner

Michael Theunissen thematisiert in Negative Theologie der Zeit (1991) Möglichkeiten der Kunstwahrnehmung im Bezug auf das subjektive Verhältnis zu Zeitstrukturen. Wie steht es um unser Verhältnis zur Zeit? Meist an Nutzen gebunden, ist das Thema der Beschleunigung sowie die komplementäre Entwicklung der Entschleunigung in vielen Lebensbereichen aktuell. In diesem Zusammenhang wird der Mensch häufig passiv, als ›Opfer‹ von Schnelllebigkeit und Überangebot dargestellt. Selten wird ihm Mündigkeit im Sinne von Gestaltung der Zeit zugesprochen. Das durch Aufweichen gesellschaftlicher Normen empfundene Zurückgeworfensein auf das Selbst einerseits und die vermehrt gelebte Unmündigkeit andererseits stellt ein Dilemma der heutigen Gesellschaft dar. Der Zusammenhang zwischen den sich dem Subjekt bietenden Möglichkeiten und der Übernahme von Verantwortung, sich darin einen Weg zu bahnen, scheint abgerissen. Der Anpassung und Unterordnung stellt Theunissen die in der Überschrift zitierte »Freiheit von der Zeit« (Theunissen 1991: 285) gegenüber, zu welcher ihm zufolge durch verweilendes Betrachten gelangt werden kann. Die Frage lautet nun, ob in der Kunstwahrnehmung Praktiken erprobt werden können, die an diesen Mündigkeitsstatus anknüpfen. Auf wissenschaftlicher Seite ergibt sich daraus die Überlegung, wie das in der Erfahrung Verhandelte greifbar gemacht werden kann. Die Verbindung dieses Ansatzes zur Überlegung, inwiefern Künstlerische Forschung der Methodenerweiterung in den Kunstwissenschaften dienen kann, lässt sich über Gilles Deleuze herstellen. Dieser formuliert in seiner Logik des Sinns eine methodische Lücke, indem er die dualistische Einteilung der Ästhetik in »Theorie des Empfindungsvermögens als Form der möglichen Erfahrung« einerseits und »Theorie der Kunst als Reflexion der wirklichen Erfahrung« (Deleuze 1993: 318) andererseits kritisiert: »Damit die beiden Sinngehalte zusammenfinden, müssen die Bedingungen der Erfahrung überhaupt zu Bedingungen der wirklichen Erfahrung werden; dann erscheint das Kunstwerk wirklich als Experimentieren.« (Ebd.) Im Um-

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kehrschluss gedacht, kann dies als mögliche Lösung gelesen werden: Wenn das Kunstwerk als Experiment fungiert, können die Sinnengehalte von wirklicher und möglicher Erfahrung zusammenfinden. Als Versuch, das Kunstwerk als Experimentieren zu begreifen und die Freiheit im Umgang mit der Zeit erfahrbar zu machen, wird dieser Ansatz im vorliegenden Beitrag anhand einer künstlerischen Auseinandersetzung mit den Bedingungen von Erfahrung im Zusammenspiel zwischen Bildender und Darstellender Kunst reflektiert. Gestaltete Zeit des Verweilens lautet der Titel einer interaktiven Tanzinstallation, die der Choreograph Jörg Weinöhl 2011 für die Kunsthalle Düsseldorf im Rahmen der Ausstellung Staring into the Sun des amerikanischen Künstlers Chris Martin (geb. 1954) entwickelt und interpretiert hat. Die Installation erstreckt sich über zwei Ausstellungsräume auf unterschiedlichen Stockwerken, von denen der untere vom oberen aus einzusehen ist. Der Tänzer bewegt sich ausschließlich im unteren Raum und agiert zunächst als Betrachter der Bilder. Per Kopfhörer mit einer Musikanlage auf der Galerie verbunden, löst sich der Tänzer aus den Bewegungskonstellationen der Ausstellungsbesucher heraus, sobald jemand auf der Galerie die Playtaste drückt und somit die Choreographie initiiert. Die Menschen im unteren Raum erleben die Choreographie in Stille. Nur die Person auf der Galerie hört per Kopfhörer die gleiche Einspielung wie der Tänzer und nimmt das Gezeigte somit anders wahr. Die Einspielung beginnt mit einer Klangcollage aus Gesprächsfetzen, Schritten und Verkehrsgeräuschen. Am Ende dieser Collage hört man Schritte, das Aufschließen einer Tür und zerbrechendes Glas, bevor das frühbarocke Chanson Depuis le Jour von Jan Pieterszoon Sweelinck (1562-1621), gesungen vom Gesualdo Consort Amsterdam, einsetzt. Die Auseinandersetzung mit einem Youtube-Clip dieser Interpretation (vgl. http://www.youtube.com/watch?v=FvlIkNiW-yk [14.08.2014]) war für die Konzeption von Gestaltete Zeit des Verweilens ausschlaggebend. Das fünfstimmige Vokalensemble wird darin vor einer Fensterfront gezeigt, hinter der vorbeifahrende Autos und Züge zu sehen sind. Durch den Kontrast zwischen geschäftigem Alltagsverkehr im Bildhintergrund und der Versunkenheit der musikalischen Interpretation lagern sich nicht nur zwei Epochen, sondern auch unterschiedliche Zeitstrukturen in diesem Video übereinander. Eine Überlagerung, die in der choreographischen Installation auf verschiedenen Ebenen reflektiert und hier im Folgenden aus künstlerisch-produktionsorientierter (in diesem Aufsatz kursiv gekennzeichnet: Jörg Weinöhl) und wissenschaftlich-rezeptionsorientierter (Ulrike Wörner) Perspektive zu greifen versucht wird, um sich dem Dazwischen der Erfahrung anzunähern. Die Blöcke werden jeweils mit Auszügen aus Theunissens Negative Theologie der Zeit und Beiträgen aus dem Gästebuch der Ausstellungsbesucher über die choreographische Installation eingerahmt.

Freiheit von der Zeit

N icht-M itgehen mit der Z eit und A ufgehen in der S ache »Nicht-Mitgehen mit der Zeit und Aufgehen in der Sache. In der Zeit und selbst zeitlich zu sein, gehört zum Dasein der Menschen wesentlich und unaufhebbar. Um so tiefer ist in der menschlichen Natur die Sehnsucht nach Freiheit von der Zeit verwurzelt. Wenn wir aber, solange wir in dieser Welt leben, an Zeit gebunden sind und bleiben, müssen wir uns fragen, ob Freiheit von der Zeit nur ein leerer Gedanke ist. [...] Verweilend gehen wir gleichsam nicht mit der Zeit mit. Wir befreien uns von ihr, indem wir aus dem Fluß heraustreten.« (Theunissen 1991: 285)

Unterschiedliche Möglichkeiten von Zeitwahrnehmung werden für den Zuschauer in dieser Tanzinstallation erlebbar: Zeit als linearer Verlauf für eine bestimmte Dauer, Zeit als zugespitzter Erfahrungsmoment eines scheinbar unwiederholbaren Jetzt und Zeit als Wahrnehmung eines Raumes, in dem die Dinge auf eigene Art in Beziehung zueinander stehen. Ein Sich-Öffnen für die eigene Wahrnehmung des Körpers im Raum im Dialog mit der Kunst bedarf ausreichender Zeit und eines geschützten Raumes. Im Vorfeld meiner Überlegungen stand die Frage, welche Erfahrungsmöglichkeiten eine tänzerische Arbeit im Ausstellungskontext für den Betrachter eröffnen kann, indem sie auf die Möglichkeiten des Betrachtens eingeht. Für eine bestimmte Dauer, ausgelöst durch das Drücken der Playtaste, kann ein vorab nicht angekündigtes Tanzsolo im Ausstellungsraum erlebt werden. Der festgelegte choreographische Ablauf ist die Ausgangsebene für die möglichen Erfahrungen des Betrachters. Ähnlich wie beim Betrachten von Kunstwerken besteht die Möglichkeit zum Schweifenlassen des Blicks im Raum oder zum Fokussieren eines einzelnen Kunstwerks. Lasse ich mich darauf ein, den Tanz zu betrachten, oder schweift und wechselt mein Blick zwischen den Kunstwerken und dem Tanz hin und her? In dieser Arbeit kreise ich darüber hinaus um die Frage der Gleichzeitigkeit. Wie können die Zuschauer aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Informationen den Ablauf der Choreographie verfolgen und welche Erfahrungen machen sie dabei für sich selbst? Jedem Zuschauer bleibt die Gestaltung seines Verweilens im Betrachten der Choreographie und der Kunstwerke freigestellt. Durch die Wiederholung der Choreographie besteht die Möglichkeit, sich immer wieder erneut auf diese ganz einzulassen. Gestaltete Zeit des Verweilens – bereits dieser Titel lädt ein, gedanklich anzuknüpfen. Der Begriff des Gestaltens beschreibt eine Art Mündigkeit im Umgang mit der Zeit, welche einen Gegenentwurf zur passiven Haltung darstellt, die häufig im Zusammenhang mit Beschleunigung und Überangebot unserer Lebensrealität formuliert wird. Statt sich vom Rhythmus des Zeitgeistes überformen zu lassen, geht es hier um einen gestalteten Umgang mit Zeit, wofür das Verweilen als Methode eingeführt wird. Das von Michael Theunissen formulierte »Aufgehen in etwas« (ebd.: 287) findet eine künstlerische Entspre-

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chung in Jörg Weinöhls Stück, welches das Verweilen auf mehreren Ebenen reflektiert: Die Rahmenbedingungen legen eine zeitliche Begrenzung der zu gestaltenden Zeit fest, indem innerhalb der Öffnungszeiten des Museums Zeitfenster für die Installation ausgewiesen werden. Innerhalb dieser Zeitfenster ist es jedoch völlig offen, ob und wie oft die Choreographie ablaufen wird bzw. die verweilende Zeit zu gestalten ist. Die Schwelle zwischen dem performativen Betrachten und der Choreographie erstreckt sich über den Zeitraum der Klangcollage, während der das Betrachten – nun auf den Tanz hinführend und unter Betrachtung des Besuchers am Abspielgerät – unter anderen Vorzeichen fortgesetzt wird. Der Unterschied zwischen Vorhandensein und Nichtvorhandensein einer zeitlichen Begrenzung spielt dabei eine zentrale Rolle. Für die Betrachter im unteren Raum erschließt sich nicht, ob die Choreographie von begrenzter Dauer ist. Da für diese Ausstellungsbesucher kein akustisches Signal mit der Choreographie verbunden ist und die Aufmerksamkeit z.T. auch nicht durch die Ausrichtung anderer, die ihre Aufmerksamkeit auf die Choreographie gerichtet haben, gelenkt ist, findet die Vorführung statt, ohne dass sie es zunächst wahrnehmen. Im oberen Raum hingegen erschließt sich die zeitliche Begrenzung durch die Aktivierung des Musikgeräts. Außerdem bewirkt die Ausrichtung des Zuschauers am Kopfhörer jene der anderen Besucher. Die Unterschiedlichkeit dieser Wahrnehmungsumstände lässt sich an Hand der Person im karierten Hemd in Abb. 1 (ungelenkte Aufmerksamkeit) und Abb. 2 (gelenkte Aufmerksamkeit) nachvollziehen. Abb. 1: Beispiel für ungelenkte Aufmerksamkeit

Foto: Martina Pipprich.

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Abb. 2: Beispiel für gelenkte Aufmerksamkeit

Foto: Martina Pipprich.

Durch die Unterschiedlichkeit der beiden Erfahrungsmodi im unteren und oberen Raum wird die Relevanz eines vorhandenen Betrachters in Frage gestellt und die Abhängigkeit der individuellen Ausprägung eines Werkes von äußeren Umständen vergegenwärtigt, was wiederum die Relevanz des Betrachters als wahrnehmendes Subjekt bestätigt. Im ersten Erfahrungsmodus zeigt sich, dass das Werk existiert, präsent ist – ungeachtet dessen, ob es wahrgenommen wird oder nicht. Einerseits wird damit Peter Brooks Grunddefinition einer Theateraufführung in Frage gestellt, andererseits jedoch wird die Relevanz des Zuschauers dadurch erfahrbar gemacht, dass er zwei Formen des ›subjektiven Mosaiks‹ (Wertheimer in Stölzel 2012: 134) erstellt und dadurch erfährt, wie maßgebend das eigene Wahrnehmungsurteil in Bezug auf eine Werkkonstitution ist. Ersteres ist wichtig, um Tanzrezeption von der präsentations- und virtuositätsorientierten Seherwartung zu befreien, zweiteres ist wichtig, um die Relativität von Wahrnehmung herzustellen und somit nicht mehr in gelungene und gescheiterte Rezeption zu trennen, sondern Zuschauerschaft als »normale Situation« (Rancière 2009: 28) zu erleben. »Die Zeit gleitet in uns hinein. Schöne Erfahrung.« (Anonym in Gästebuch 2011: o.P.)

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B e tr achtend be tr achte t werden – der K onte x t des M useums »Zur bildenden Kunst gehört der negative Zeitbezug so wesentlich wie zur Musik der positive. Dies gilt nicht für die Rezeption, sondern auch für die Produktion.« (Theunissen 1991: 287) Wer betrachtet wen? Betrachten wir als Besucher nicht auch immer wieder die anderen Menschen im Raum, wie sie die Kunstwerke betrachten? Nehmen wir dann die Kunstwerke anders wahr? In meiner Arbeit ging es mir nicht darum, meinen Tanz in die Ausstellungsräume ›einzupflanzen‹, sondern einen Bezug zwischen meiner Arbeit und diesem Ort zu entwickeln. Das Zusammenspiel von betrachten und betrachtet werden kann der Zuschauer erst dann bewusst verfolgen, wenn er den Ablauf der Installation erkannt hat. Dann weiß er, dass der Tänzer auch wieder zum Betrachter wird, um sich erneut als Tänzer herauszulösen. Die Phase des Betrachtens der Bilder durch den Tänzer ist insofern ein wesentlicher Bestandteil dieser Arbeit, da erst dadurch der Moment des Übergangs und des allmählichen Hineinfindens in die Choreographie stattfinden kann. Wann wird der Tänzer von den übrigen Besuchern überhaupt als Tänzer wahrgenommen? Zum anderen stellt sich die Frage, ob der Tänzer beim Betrachten der Bilder immer noch Kunstwerk bleibt oder wie alle anderen im Raum wieder zum Besucher wird. Das Verweilen als Wahrnehmungsmodus wird meist in Verbindung mit der Bildenden Kunst gebracht, die nach Lessing keiner Zeitstruktur unterlegen ist (Lessing 2010: 114). Löst man aber die Unterscheidung zwischen Raumkunst und Zeitkunst auf, indem man wie Christian Grüny Bilder als aufgespeicherte Zeit begreift (Grüny 2013: 41), und darüber hinaus den Tanz um den Aspekt des Ortsbezugs ergänzt, kann das Verweilen sowohl auf bildende als auch auf bewegte Kunst angewendet werden. Bild und Tanz sind jeweils ungeachtet der Aufmerksamkeit der Betrachter im Raum präsent. Der Tanz jedoch hat eine gesetzte zeitliche Rahmung. Kann ich verweilend sehen, wenn das Gesehene ein gewisses Tempo und eine zeitliche Begrenztheit festsetzt? Kann ich mich etwas in Ruhe hingeben, wissend, dass es womöglich bald ein Ende hat? Wird die Auseinandersetzung mit den Bildern durch die Wahrnehmung der Choreographie unterbrochen oder auf anderer Ebene fortgesetzt? Diese Auseinandersetzung wird erfahrbar gemacht, indem der Ausstellungs- zum Vorstellungsbesucher wird. Zuschauer und Performer teilen sich eine Bühne, was einen Gegenentwurf zum hierarchiegeprägten Apparat des Theaters (vgl. Lepecki 2008: 114) darstellt. Zur Begegnung mit dem unbewegten Bild kommt eine Begegnung mit einem bewegten Körper hinzu, was zu einer ›doppelten Rezeption‹ führt. Der verweilenden Betrachtung ist somit qua Ephemeralität des Tanzes eine feste Rahmung gesetzt, wodurch eine bewusste Auseinander-

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setzung damit stattfindet. Der Betrachter ist gewohnt, Bilder zu betrachten, indem er durch den Raum schreitet, verweilt, weiterzieht. Er ist es jedoch weniger gewohnt, Darstellende Kunst in dieser ›Seherwartung‹ wahrzunehmen. Er muss nicht nur den Fokus, sondern auch Anfang und Ende selbst bestimmen, wodurch Unsicherheit generiert wird, wie die Reaktionen der Zuschauer zeigen. Die Angst, etwas zu verpassen, scheint ein Grund zu sein, warum dieser Moment sich in unbewegten Bildern nicht einstellt. Das Wissen, immer zurückkommen zu können, um die Erfahrung des Bildes fortzusetzen, erleichtert offensichtlich die Loslösung von einem Werk. Warum ist dem so? Geht man davon aus, dass der Choreograph nicht anstrebt, von einem Kunstwerk als Ganzem auszugehen, sondern einen Zustand zu vermitteln, aus dem sich mannigfaltige Wahrnehmungsmosaike und individuelle Werkausprägungen ergeben, scheint dies verwunderlich. »My experience is what I agree to attend to« – William James Erkenntnis (James 1890: 402) wird hier konkret erfahrbar gemacht und somit theoretisches in erlebtes Wissen umgeformt. »Surprise! Come in here and do things which are not painting. No language!« (Anonym in Gästebuch 2011: o.P.)

Ü berl agerung verschiedener W ahrnehmungsebenen »Da [...] ästhetische Anschauung früher beginnt als alle Kunstanschauung, in der sie sich freilich vollendet, ist sie in das alltägliche Leben durchaus schon eingesprengt.« (Theunissen 1991: 28) Durch die Verlagerung eines Tanzsolos in den Ausstellungskontext wollte ich bewusst andere Möglichkeiten der Wahrnehmung der Choreographie eröffnen. Der Zuschauer ist aufgefordert, mündig zu entscheiden: Was möchte er verfolgen? Was möchte er vielleicht ignorieren oder nicht näher darauf eingehen? Der youtubeClip mit dem Studioauftritt des Gesualdo Consorts Amsterdam im Niederländischen Fernsehen war für mich von großer Bedeutung im Zusammenhang meiner Konzeption der choreographischen Installation. In der musikalischen Struktur des Chansons überlagern sich die einzelnen Stimmen durch verschiedene Einsätze und unterschiedliche Weiterführungen der einzelnen Motive. Die sich überschneidenden Klangflächen bewirken gleichermaßen das Verwischen und Herauslösen einzelner Phrasen. Tief berührt und fasziniert hat mich, dass fünf Menschen in großer Konzentration und Präzision ein Musikstück darbieten, während man im Hintergrund den alltäglichen Verkehr auf den Straßen beobachten kann. Verschiedene Blickachsen eröffnen Ausblicke unterschiedlicher Art, welche sich wiederum überlagern. Aus diesem Eindruck und meinen Beobachtungen des Verhaltens von Menschen in Ausstellungen kristallisierten sich allmählich unterschiedliche Themenbereiche heraus.

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Nach und nach habe ich diese wie Folien übereinandergelegt. Ein weiterer Aspekt für meine Wahl des Chansons war das Sehen als zentrales Thema des Texts: »Depuis le jour que je vous vei, Maitresse, vostre grand beauté Contraignit mon coeur asservi Au jong de vostre cruauté: Si bien qu‘un autre amour vainqueur N‘a fait playe dedans mon coeur.« »Seit dem Tag, an dem ich Euch sah, Herrin, zwang Eure große Schönheit mein dienstbeflissenes Herz unter das Joch Eurer Grausamkeit: so sehr, dass nie ein anderer Liebessieg meinem Herzen eine Wunde geschlagen hat.« (Anonym in Seiffert 1901: 55-58)

Zu diesem Text nehme ich in meinen Bewegungen konkret Bezug. Zuerst stehe ich in aufrechter Haltung vor einem Bild und betrachte es, während ich meine Arme hinter meinem Rücken verschränkt halte. Die rechte Hand umfasst den linken Ellebogen. In dieser Position beschreibe ich einen Menschen im Ausstellungskontext. Beim ersten ›depuis‹ beginnt die rechte Hand unmerklich vom Ellenbogen den linken Arm entlang hinunter zu gleiten bis zur linken Hand, die sich dabei öffnet. ›Depuis‹ steht für mich als Bezeichnung einer zeitlichen Ebene, der Verlauf der Zeit wird dargestellt durch den Weg, den die Hand im Hinuntergleiten nimmt. Beim ersten ›vei‹ gleitet die Hand mit geöffneter Handfläche vom Arm weg, seitlich neben den Körper. Die offene rechte Handfläche steht für die visuelle Wahrnehmung, das in den Raum blickende Auge. Beim dritten ›vei‹ dreht sich die rechte Handfläche mit der Innenseite nach vorne (Abb. 3). Die Wahrnehmung oder ›das Auge‹ ändert die Blickrichtung. Der Begriff der Wahrnehmungsebene wird im Sinne des Wortes bewusst gemacht. Zwischen den Ausstellungsbesucher und das Bild schiebt sich eine betrachtende Instanz in der Figur des Tänzers. Das ungeregelte Ein- und Austreten der Ausstellungsbesucher verhindert, dass die Choreographie in ihrer Vollständigkeit bzw. überhaupt wahrgenommen wird. Der Choreograph spielt in dieser Installation mit der Abhängigkeit der Ausprägung seines Werks vom Wahrnehmungskontext des Rezipienten. Je nach Position der Besucher im Raum und der damit verbundenen Information wird das Stück anders erlebt, vermitteln sich andere Sinnzusammenhänge und unterschiedliche Möglichkeiten der Zeitwahrnehmung. Die Verschiebung zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis wird durch die nachgeschaltete Interaktion per Musikgerät

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Abb. 3: Bewegungssprachliche Umsetzung von Blickachsen

Foto: Martina Pipprich.

spielerisch verschoben. So kann es z.B. sein, dass ein Ausstellungsbesucher sich allein mit Jörg Weinöhl im Raum befindet und ihn ebenfalls als Besucher vermutet, da sich niemand zeitgleich auf der Galerie befindet, um die Musik auszulösen. Erst auf der Galerie erklärt sich schließlich die Situation. Die einzelnen Ebenen der Installation werden in ihrer Gesamtheit folglich erst dann in ihrer Überlagerung wahrgenommen, wenn man die Position an der Musikanlage eingenommen und die Musik aktiviert hat. Einerseits wird damit ein idealer Blickpunkt formuliert, der am Ende des Solos durch einen Verweis des Tänzers auf diese Position auch explizit hervorgehoben wird. Im Gegensatz zur Aufwertung des Fluchtpunkts in zentralperspektivischen Anordnungen jedoch wird dieser als einer von vielen möglichen formuliert. Die Erfahrungen aus beiden Wahrnehmungsmodi treten in Austausch miteinander und bewirken die Auseinandersetzung mit dem Einfluss inszenierter Rahmung, welche sich nur im oberen Raum erschließt. »Wann passiert etwas? Schnell – ich will auch – wo ist der Kopfhörer – ich will weiter – was passiert? Mensch, entspann’ dich doch mal, genieße es. Wunderbare Symbiose aus Tanz und Bild!« (Anonym in Gästebuch 2011: o.P.)

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D ie U mgebung peripate tisch wahrnehmend denken – körperliche W ahrnehmung unter dem A spek t der P erspek tive In diesem Projekt sollte es nicht um das kunsthistorische Verstehen der Kunstwerke gehen, sondern um die eigene Körpererfahrung und Wahrnehmung im Bezug zum Bild und Raum. Daher wurde begleitend zur Installation ein Workshop angeboten. Dem gewohnten Modus, Bilder zu betrachten, sollte eine andere Art, sich der Kunst zu nähern, zur Seite gestellt werden. Eine Art, den Fokus auf die Wahrnehmung auszurichten und in ihr die Vielfalt ihrer Möglichkeiten angesichts des Verhältnisses von Körper, Raum und Bild zu erkennen. Folgende Fragen ergeben sich dabei: Wie nehme ich meinen Körper im Raum wahr? Wie nehme ich meinen Körper wahr, wenn ich vor einem sehr großen oder sehr kleinen Bild stehe? Was geschieht mit mir, wenn ich mich alleine in einem Ausstellungsraum befinde und andere Menschen diesen betreten? Wie verändert sich meine Betrachtungsweise der Kunstwerke dadurch, dass sich meine Körperhaltung verändert? Wenn wir versuchen, die Körperund Raumwahrnehmung in den Prozess einer Annäherung an Kunst einzubeziehen, lassen sich vielleicht neue Möglichkeiten der Begegnung mit ihr aufdecken. Das Jetzt der Wahrnehmung wird als maßgeblicher Referenzpunkt hervorgehoben. In ihm überlagern sich wesentliche Achsen von Erfahrungs- und Erinnerungsräumen ebenso wie die momenthafte Wahrnehmung des Körpers, der Wahrnehmung und der Kunst. Nach dem Psychologen Marc Wittman hat »Zeitempfinden sehr grundlegend mit Körperwahrnehmung zu tun« (Wittman in Specht 2014: 7). Neben dem Betrachterstandpunkt und den daraus resultierenden Blickachsen wird in der choreographischen Installation auch die körperliche Erfahrung reflektiert. Als »ästhetische Kontemplation« formuliert Martin Seel diese Form der den Körper einbeziehenden Auseinandersetzung: »Die ästhetische Kontemplation verweilt bei den Phänomenen – ohne Imagination und ohne Reflexion. Sie geht in keiner Weise über die Gegenwart hinaus, [...] sie sucht und findet keinen Sinn; sie bleibt in einem leiblichen Vernehmen der sinnlichen Präsenz ihrer Gegenstände stehen. Dies schließt ein intensives sinnliches Sich-selbst-Verspüren der Subjekte dieser Wahrnehmung ein.« (Seel 2000: 151)

Das »leibliche Vernehmen« betont dabei die Rolle der Körperlichkeit im Hinblick auf die Erfahrung momenthafter Gegenwärtigkeit von Kunstrezeption einerseits und auf den Rückbezug des Individuums in Form eines »Sichselbst-Verspürens« andererseits. Der Theaterwissenschaftler Andrej Mirčev führt den bislang wenig berücksichtigten Aspekt der Körperlichkeit im Bewusstsein der Zuschauer auf die langjährige Prägung durch zentralperspekti-

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vische Anordnungen zurück: »Der gleichzeitig geometrisierte, rationalisierte und homogenisierte Raum der Perspektive kann daher auch als Geburtsort des ›entkörperten Betrachters‹, der lediglich auf das Auge reduziert wird, gewertet werden.« (Mirčev 2011: 57) Wenn, wie in Gestaltete Zeit des Verweilens, nicht nur die Vielzahl an äußeren Perspektiven unter dem Aspekt der Positionierung im Raum thematisiert wird, sondern auch die innere Perspektive im Bezug auf das Körperempfinden, wird Sehen über die optische Dimension hinausgedacht. Der McLuhan-Schüler Derrick de Kerckhove begegnet diesem Aspekt mit der Etablierung eines ›point of being‹, welchen Peter M. Boenisch in Bezug zur Zentralperspektive setzt: »An die Stelle des perspektivischen, frontalen und distanzierten point of view rückt [...] der prosumer-Blick eines involvierten point of being.« (Boenisch 2002: 176) »Wahrnehmung! Du selbst! Bewegen. Fühlen. Sein.« (Anonym in Gästebuch 2011: o.P.) Die Unterscheidung zwischen produktions- und rezeptionsästhetischen Untersuchungen ist ein etabliertes Vorgehen der Geisteswissenschaft. Bei Produktionen, in denen der Zuschauer jedoch »wahrnehmend über die Bedingungen seiner Wahrnehmung« reflektiert, wie Erika Fischer-Lichte (2002: 284) schreibt, stellt sich diese Unterscheidung gewissermaßen als hinfällig dar. Untersuchungsgegenstand ist stattdessen die zwischen Kunstwerk und Rezipient hergestellte Erfahrung, welche die Frage nach dem Ursprung jener selben verhandelt. Mit dieser Fokussierung ist eine der Voraussetzungen geschaffen, um Deleuzes eingangs formulierte Forderung einer Annäherung von möglicher und wirklicher Erfahrung nachzukommen. Als Ursache dafür, dass die methodische Grundlage dafür noch nicht geschaffen ist, formuliert Christopher Balme den notwendigen aber noch nicht vollzogenen Wechsel von der bisherigen Praxis der Interpretation eines ästhetischen Objekts zur Untersuchung kognitiver und emotionaler Reaktionen (vgl. Balme 2008: 34). Auf rein theoretischer Basis scheint eine Annäherung an das in der Erfahrung Verhandelte schwierig. Hier kann Künstlerische Forschung ansetzen wie Alan Lawrence vorschlägt: »I perceive art as a model of thought process – not as a representation of specific thoughts or ideas but simply as an abstract rendition of the structure of thought. [...] Because art, when considered as the model to which I refer, relates only to process, rather to ideas, it will resonate with the thoughts of responsive recipients no matter what those thoughts may be about.« (Lawrence 2014: 37f.)

Die Kunst als Denkmodell zu betrachten entspricht einer Loslösung vom ästhetischen Objekt und eröffnet die Möglichkeit, Kunst als gedankliche Versuchs-

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anordnung anzunehmen. Eine Versuchsanordnung, in welche ein Gedanke ungeachtet der dadurch entstehenden Reaktionen eingespeist und durch die anderen Beteiligten überformt wird. Reaktion, Austausch und Erfahrung des situativ Wahrgenommenen stehen dabei im Vordergrund. Jörg Weinöhls Auseinandersetzung mit dem Verhalten der Ausstellungsbesucher hat sich zusammen mit der Inspiration der musikalischen Grundlage in die Choreographie eingeschrieben. Durch seine Auseinandersetzung mit dem Zeitempfinden und dem Bewusstsein gegenüber Wahrnehmung vermittelt sich in der choreographischen Installation eine Sensibilität für das eigene Verhältnis zu Zeit, Körper und Raum. Mit dem Konzept des ›point of being‹ kann versucht werden, diese in der Erfahrung verhandelten Themen greif bar zu machen. Das Diktat der Gegenwart kann mit Rückgriff auf Hartmut Rosa auch auf das Diktat der Zeit bezogen und als solches in der Kunstwahrnehmung bewusst gemacht werden. Als ein Kennzeichen der Zeitstrukturen der Spätmoderne formuliert dieser das »Zerlegen von Handlungs- und Erlebnisfolgen in immer kleinere Sequenzen mit schrumpfenden Aufmerksamkeitsfenstern« (Rosa 2005: 203). Auch das Kunstwerk wird bisweilen unter das Diktat der Gegenwart gestellt, indem die Erwartung des Zuschauers fordert, das Gesehene umgehend zu erfassen und zu begreifen. Wenn jedoch ein Resonanzverhältnis stattfinden soll, ist ein Sich-Hinwegsetzen über das Diktat der Zeit notwendig. Thomas Hahn erachtet den Aspekt der Zeit vor allem im Bezug auf Tanzrezeption als relevant, da »der Körper mit seinen Übergängen von starr zu bewegt, von schnell zu langsam, von geerdet zu schwebend [...] sein Verhältnis zur Zeit« kreiert, wodurch nach Hahns Ansicht »aller Sinn, alle Bedeutung entsteht« (Hahn 2007: 22). Diese Auffassung von Sinn und Bedeutung als eine auf das subjektive ›wie‹ des Erlebens zurückzuführende Instanz in Form eines gestalteten Umgangs mit Zeit verweist auf ein Erfahrungswissen, für dessen Entwicklung sich der Tanz als besonders geeignet erweist. Daher bietet sich die Integration getanzter Sequenzen bzw. demonstrierter Bewegungsreflexionen im Rahmen von tanzwissenschaftlichen Vorträgen an, um die Methodik dahingehend zu erweitern, dieses Erfahrungswissen in situ zu generieren.

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Beutezüge an den Rändern des Gegenstandes I Take Part and the Part Takes Me Juliane Laitzsch

Frage und Antwort entwickeln und verändern sich gleichermaßen, deshalb hat dieser Text zwei Titel.1 Damit möchte ich auch schon einen Hinweis darauf geben, dass sich weder meine künstlerische Arbeit noch dieser Text linear entwickeln. Ich bin Zeichnerin. Eine neue Zeichnung mag über die vorhergehende hinausgehen, ungültig wird die erste Zeichnung dadurch nicht. Die Frage, inwieweit sich meine künstlerische Arbeit als Forschung beschreiben lässt, werde ich entlang des Projekts Unendlichkeit in kleinen Fetzen versuchen zu beantworten: Einem zeichnerischen Forschungsprojekt, das sich ausgehend von mittelalterlichen Stoffen mit Veränderungen und Auflösungsprozessen beschäftigt. Es befasst sich mit der Möglichkeit einer Annäherung an einen 700 Jahre alten Gegenstand. Ich hatte 2001 – eher im Vorbeigehen als motiviert von Absicht und Plan – den Bestandskatalog mittelalterlicher Seidenstoffe des Kunstgewerbemuseums Berlin gekauft. Schon beim ersten Durchblättern hat mich der Katalog fasziniert. Denn die abgebildeten mittelalterlichen Seidenstoffe haben mich bewegt und ergriffen, infiziert und affiziert – und seitdem nicht mehr losgelassen. Die Stoffe werden als abgerieben und verschlissen beschrieben, häufig gibt es den Verweis auf ein weiteres Fragment an einem anderen Ort, die vorherige Verwendung des Stoffes ist in der Regel unbekannt. Bevor ich die Stoffe vorstelle, die Ausgangspunkt für das Projekt Unendlichkeit in kleinen Fetzen sind, möchte ich meine Haltung benennen, die der Arbeit zugrunde liegt. Ich verstehe meine Arbeit als Künstlerische Forschung, de1  |  »Beutezüge an den Rändern des Gegenstandes« war der Titel eines Vortrags im Rahmen von LaborARTorium an der Ludwig-Maximilians-Universität München 2013. »I Take Part and the Part Takes Me« war der Titel eines Vortrags im Rahmen der Graduale, im Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2014.

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ren Ziel sich eher als gesteigerte Lebendigkeit, denn als Zuwachs an Wissen beschreiben lässt. Wissen geht in der Regel einher mit der Abstraktion und Reduktion von Gegenstand und Umfeld. Mit meiner Arbeit strebe ich danach, Komplexität zu erhöhen und nicht zu reduzieren. Der Erkenntnisgewinn und die Wissensproduktion meiner Arbeit entsprechen somit eher den Erkenntnissen wie sie in einer Liebesbeziehung erfahrbar sind – je näher ich dem Anderen bzw. dem Gegenstand komme, umso vieldeutiger wird er. Während meines Studiums wurde es sehr befürwortet, Dinge auf den Punkt zu bringen und zu reduzieren. Heute strebe ich mit meiner Arbeit das Gegenteil an und will Fülle und Reichtum schaffen. Durch den Kurator der Schweizer Abegg-Stiftung, Michel Peter, habe ich 2011 von dem Ornat des heiligen Valerius von Saragossa erfahren. Dieses Ornat ist ungewöhnlich gut erforscht und ich wusste sofort, dass ich mit diesem Material arbeiten möchte. Fragen der Ästhetik oder die Form der Ornamente haben bei dieser Entscheidung keine Rolle gespielt. Bei diesem Ornat handelt es sich um eine Gruppe liturgischer Gewänder aus dem 13. Jahrhundert. Es umfasst vier Gewänder: ein Pluviale, eine Kasel und zwei Dalmatiken. Bei dem Pluviale handelt es sich um einen halbkreisförmigen offenen Schultermantel, der von einem Priester bei Prozessionen und kirchlichen Festen getragen wird. Die Kasel ist das Obergewand des Priesters während der Messfeier. Als Dalmatiken bezeichnet man hemdartige Gewänder, die unter den Mänteln getragen wurden. Pluviale, Kasel und Dalmatiken bestehen aus jeweils verschiedenen Grundstoffen, die sich in ihrer Geometrie, Kleinteiligkeit und dem hohen Goldanteil ähneln. In einer Zeit ohne synthetische Farben, ohne künstliches Licht und eingebunden in den religiösen Ritus bei Kerzenlicht muss dieses Ornat, für uns heute unvorstellbar, überirdisch gewirkt haben. Die Komplexität der Webstruktur, die Form der Ornamente und arabische Schriftzeichen in den Zierelementen lassen muslimische Weber als Urheber vermuten. Das Ornat war eine Auftragsarbeit der spanischen Kirche; es wurde im 13. Jahrhundert dem im 4. Jahrhundert verstorbenen Heiligen Valerius gewidmet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden von diesen Gewändern zahlreiche Fragmente – mehr als 200 – abgetrennt und auf den Kunstmarkt gebracht. Die einzelnen Stücke unterscheiden sich stark in Form, Größe und Erhaltungszustand. Die kleinsten Teile besitzen nicht einmal die Größe eines Fingernagels. Bei vielen Fragmenten erschließt sich das kleinteilige Ornament des Stoffes nicht mehr. Andere besitzen irrwitzige Formen – und es ist kaum vorstellbar, dass sie mit einer Schere ausgeschnitten wurden. Die erhaltenen Reste der Gewänder weisen entsprechende Fehlstellen auf; sie befinden sich heute in Barcelona im Museu Textil i d’Indumentaria. Die vielen Stofffragmente sind heute auf 21 Sammlungen und Museen in aller Welt verteilt. Allein in Madrid gibt es drei Sammlungen, die Fragmente des Ornats beherbergen. Aber auch

Beutezüge an den Rändern des Gegenstandes

das Kunstgewerbemuseum Berlin, das Victoria und Albert Museum in London, das Metropolitan Museum und das Cooper Hewitt Museum in New York besitzen jeweils zumeist mehrere Fragmente. Die Geschichte dieses Ornats und der Zusammenhang seiner Fragmente sind dank der von Historikern, Kunsthistorikern und Restauratoren geleisteten Forschungsarbeit ungewöhnlich gut bekannt. Als herausragend zu benennen ist die Untersuchung von Mechthild Flury-Lemberg, die von 1963 bis 1994 die Textilkonservierungswerkstatt der Abegg-Stiftung in Riggisberg (Schweiz) leitete. Sie hat die Gewänder restauriert und konnte nachweisen, dass die Stoffstücke, mit denen die Dalmatiken im 15. Jahrhundert ein erstes Mal restauriert worden waren, ehemals zum Innenfutter der Kasel gehörten. So konnte die Form der Kasel rekonstruiert werden. Es handelt sich um eine beeindruckende und geradezu kriminalistische Arbeit (vgl. Flury-Lemberg 1995: 56-117).

B eutezüge an den R ändern des G egenstandes Diese Forschungen bilden die Grundlage für meine Zeichenserie Unendlichkeit in kleinen Fetzen. Ohne diese Forschungen wäre meine Arbeit nicht möglich, denn die Stofffragmente sind keine Alltagsgegenstände, sondern nur in den Vermittlungsformen der Forschung zugänglich: in Archiven, Publikationen und Ausstellungsdisplays. Nach der Lektüre des Restaurierungsberichts von Mechthild Flury-Lemberg bestand meine erste Konzeption und Planung darin, mich zeichnerisch mit den irrwitzigen Umrisslinien der einzelnen Fragmente zu befassen. Zudem wollte ich ihre jeweils aktuelle museale Umgebung betrachten. Das Projekt sollte eine Erkundung der Zeit und korrespondierender Zeitebenen sein. Ausgehend von dieser Konzeption habe ich mich zunächst auf das Pluviale, den halbkreisförmigen Mantel beschränkt. Zuerst ist eine Serie von 124 Zeichnungen entstanden. Um die Individualität der einzelnen Stoffstücke herauszustellen, habe ich ihre jeweiligen Umrisslinien ins Verhältnis gesetzt zum abstrakten Muster der Binnenzeichnung des Stoffes. Zu dem Pluviale gehört auch eine in zwei Fragmenten erhaltene Borte. Diese Borte zeigt, anders als das geometrische Muster des Grundstoffes, Vögel und Bäume. Vielleicht war es die Figürlichkeit des Motivs, die mich veranlasst hat, mir mein Ausgangsmaterial genauer, ernsthafter, konkreter anzuschauen. Dadurch gewann etwas Selbstverständliches immer mehr an Bedeutung: Ich arbeite gar nicht mit Stoffen, stattdessen hantiere ich mit ziemlich schlechten Kopien von Schwarz-WeißFotografien. Die schlechte Kopie der Fotografie vermittelt genauso wie der hinter Glas zu sehende Stoff im Museum und die Geschichten der Historiker eine Vorstellung des Stoffes. Die Erkenntnis, dass es sich jeweils um vermittelte Vorstellungen handelt, ist zunächst banal, sie hat aber in dem Moment das

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Projekt vom Kopf auf die Füße gestellt und dazu geführt, dass ich die Fernbeziehung zu dem Stoff aufgegeben habe und eine Nahbeziehung zu der Kopie eingegangen bin. In der schlechten Kopie einer alten Schwarz-Weiß-Fotografie, die eine nicht mehr datierbare Ausstellungssituation des Pluviale zeigt, ist nur noch ein sehr vager Nachhall des Stoffes zu sehen. Diesen zeichne ich, so präzise wie möglich, genauso wie den Lichtreflex im Glas oder die Rasterpunkte, die der Offsetdruck in der Buchpublikation verursacht (s. Abb. 1, 2, 3). Mit diesen Formen der Vermittlung wurde eine unüberschaubare Menge an Material zum potentiellen Ausgangspunkt für mögliche Zeichnungen: Kopien von Abbildungen, Inventarisierungskarten oder Rechnungen, die ihrer Qualität nach schon Kopien von Kopien sein müssen, Dokumentationsmaterial mit zum Teil handschriftlichen Anmerkungen der Wissenschaftler, Publikationen, Museumsführer, Vitrinen und Museumsarchitektur. All dies wurde, soweit wie möglich, ergänzt durch eigene Anschauung und Beobachtungen, Fotos und Filme, die ich bei Besuchen in Museen und Archiven machen durfte. Bei jeder Vermittlung, Übertragung, Übersetzung geht Substanz verloren und andere wird hinzugewonnen. Mit meinen Zeichnungen setze ich diesen Prozess fort und führe die vielen verschiedenen Ebenen wieder auf einer Ebene zusammen (s. Abb. 4). Die Zeichnungen entstehen in einem zeitaufwendigen, langwierigen Prozess; dieser ist für mich von großer Bedeutung. Ähnlich wie das Gewebe strukturiert und ornamentiert ist, erlebe ich auch mein Tun über weite Strecken als ornamental, d.h. von Wiederholungen getragen. Wiederholung ist ein wesentlicher Aspekt meiner Arbeit. Wiederholungen bilden das Gegenprogramm zu den vielen Auflösungsprozessen, mit denen ich mich befasse; das Gegenprogramm zu den Auflösungsprozessen, die materiell in den Stoff eingeschrieben sind und jenen, die durch ihre Medialisierung verursacht werden. So wird das oben benannte Paradoxon erst möglich: das Gefühl für den Verlust wach zu halten und gleichzeitig der Lust am Neuen nachzugehen. Wiederholung heißt für mich, im Nachvollzug, immer wieder neu, dieselbe Bewegung auszuführen. Beim stundenlangen, tagelangen, manchmal wochenlangen Zeichnen pendele ich dabei zwischen konzentrierter Aufmerksamkeit und fehlerhaftem Träumen hin und her. Dieser Prozess und Zustand lässt sich auch als eine Form des Wartens beschreiben: »Warten können ist die Grundbedingung jeden Verstehens, weil im Warten die Bedeutungsanteile sich problemlos mischen und kombinieren«, so Wilhelm Genazino (Genazino 2007: 59). In diesem Sinne forsche ich als Künstlerin. Künstlerische Forschung meint in meinem Fall einen ganz langen, verlangsamten und wiederholten Blick auf die Objekte; in etwa so wie bei einem Kinderspiel, bei dem man ein Wort so lange wiederholt bis alle Bedeutung verschwunden ist und der reine Klang übrig bleibt. Die vielen verschiedenen Museen haben Fragmente des Ornats des heiligen Valerius aus sehr unterschiedlichen Motiven in ihre Sammlung aufge-

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nommen. Die Stoffe dienen als Beleg für katalanische Kultur, gelten als Überreste islamischer Kultur in Spanien, erfreuen sich ernsthafter Liebhaberei, unterstützen eine intellektuelle Kultur oder dienen – wie in Berlin – der Weiterentwicklung der Handwerkskunst. Diesen unterschiedlichen Motivationen liegen entsprechende ethisch-moralische Systeme zugrunde. Gemeinsam ist allen Sammlungsmotiven, dass sie Aspekte der Vergangenheit beschwören, um Türen in die Zukunft zu öffnen. Demgegenüber möchte ich mit meinem Tun/meinen Arbeiten Gegenwart herstellen. Diese Gegenwart vermag ich mit meinem verzögerten, mäandernden Arbeitsprozess zu erreichen. Sie erlaubt mir, zugleich romantisch, nüchtern, alt, neu, phantastisch, real, subjektiv und objektiv zu sein. Der Dialog von Kunst und Wissenschaft gestaltet sich in diesem Projekt – ähnlich wie in einem anderen Projekt, das ich in Kooperation mit Naturwissenschaftlern durchführe2 – auf den ersten Blick insofern asymmetrisch, als dass meine Arbeit für die Wissenschaft nicht unmittelbar relevant ist. Ich möchte die Korrespondenz von Kunst und Wissenschaft im Rahmen meiner Arbeiten grundlegend anders beschreiben. Mich hat beeindruckt, dass die Künstlerin Ulrike Grossarth über ihre Arbeit sagt, sie untersuche den Zwischenraum von Tapete und Wand.3 Ich untersuche in diesem Sinne den Zwischenraum von Forschung und Gegenstand. Dieser Zwischenraum, der sich aus den Abständen zwischen der Forschung, ihren Erzählformen und dem Gegenstand ergibt, ist mein Arbeitsfeld. In diesen Raum bewegen sich meine Zeichnungen und dehnen ihn aus. Sie besiedeln diesen Raum und benutzen meine Zeit.

2 | Paralleles Labor eine Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für molekulare Genetik (Berlin) gemeinsam mit den Künstlerinnen Katrin von Lehmann und Eva Maria Schön. In vielen Gesprächen mit Naturwissenschaftlern entstand der Eindruck, dass Kunst für Menschen mit viel Freizeit von Belang ist. Ich habe aber auch Sternstunden der gemeinsamen Auseinandersetzung erlebt. Da ich die angebotenen Modelle zum Verständnis der Entwicklung der Rückenwirbel beim Embryo nicht verstanden habe, schlug ich ein Mustersticktuch von 1811, das Rosetten und Lebensräume zeigt, als Modell vor. Der Wechsel vom mathematischen Modell zum Mustersticktuch ließ sich im Gespräch nahtlos bewältigen. Unter dem Titel Paralleles Labor, Zellteilung, Lebensbäume wurden die Ergebnisse des Projekts 2012 in der Galerie Kit Schulte (Berlin) gezeigt. 3 | Als ich noch Studentin an der Universität der Künste in Berlin war, konnte ich an Workshops von Ulrike Grossarth teilnehmen. Heute ist Ulrike Grossarth Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden.

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I Take Part and the Part Takes M e Wenn ich mir die Fragmente anschaue, wie sie sich z.B. im Besitz des Metropolitan Museum in New York befinden, kann ich mir kaum vorstellen, wie jemand mit der Schere in der Hand diese seltsamen Formen aus dem Jahrhunderte alten Gewand herausgeschnitten hat. Es wurden nicht einfach nur viereckige Stücke aus dem Stoff geschnitten. Es gibt Fragmente mit sieben Ecken, aber auch Fragmente mit 12 oder 17 Ecken. So entstehen seltsame Formen. In Anbetracht dessen, dass die Fragmente häufig sehr klein sind und ihre Farbigkeit inzwischen unspektakulär ist, scheinen mir die seltsamen Umrisslinien das wesentlichste Merkmal dieser Objekte zu sein. Diese Umrisslinien sind durch die Zerstückelung, den Zuschnitt der Stofffragmente Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. Darum irritiert mich die Behauptung, dass es sich um Objekte aus dem 13. Jahrhundert handelt. Was sehe ich eigentlich, wenn ich diese historischen Objekte anschaue: Gegenstände aus dem 13. Jahrhundert oder Gegenstände aus dem 20. Jahrhundert? Wie bewegen sich diese Gegenstände durch die Zeit? Bei meinen eigenen Recherchen habe ich viel gefilmt, um dann aus diesem Material Zeichnungen zu entwickeln. Wie gestaltet sich die Beziehung von mittelalterlichen Seidenstoffe und meinen Zeichnungen und wie lässt sich diese Beziehung beschreiben? Die Seidenstoffe sind nicht einfach Objekte, die ich erforsche. Eine so formulierte passiv-aktive Beziehung entspricht keineswegs meinem Arbeitsprozess. Für mich als Künstlerin ist nicht allein der Untersuchungsgegenstand wichtig, sondern auch, dass die Zeichnungen in ihrer Qualität als Zeichnungen bestehen. Das heißt, dass sie unabhängig von dem Projekt Unendlichkeit in kleinen Fetzen in gänzlich anderen Kontexten ihre Wirkung entfalten. So gesehen lassen sich die Stofffragmente als Motiv für die Zeichnungen marginalisieren. Aber auch das entspricht nicht meinem Arbeitsprozess. Mein Anliegen in der Zeichnung ist eine treue Übertragung. Ich folge dem Stoff durch seine vielen Transformationen, medialen Vermittlungen und spüre den Verzweigungen nach. So mache ich mir den Gegenstand vertraut. Ich möchte dabei das Gefühl für den Verlust, der in all diesen Prozessen liegt, wach halten und trotzdem der Lust am Neuen nachgehen. Die Auseinandersetzung mit der Transformation der Stoffe hat sich in einer fortlaufenden Veränderung der verwendeten Zeichentechniken niedergeschlagen. Die Zeichnung ist gleichermaßen Methode als auch Ergebnis meiner künstlerischen Forschung. Die Praxis meiner Forschung besteht darin, Zeichnungen herzustellen. Zeichnungen sind Gegenstände, die nun ihrerseits den Fragen nach ihrer Ma-

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terialität und Produktion, ihrer Zeitlichkeit und Bedeutung ausgesetzt sind – genau so wie die Gegenstände die im Fokus der Untersuchung stehen (s. Abb. 5, 6). Ich habe lange nach einer Formulierung gesucht, die das Verhältnis von Zeichnung und Stoff angemessen beschreibt. Letztendlich habe ich eine Formulierung gefunden: »I Take Part and the Part Takes Me« ist der Titel einer Ausstellung, die von Abigail Christenson kuratiert und in der Galerie Tanja Wagner 2014 gezeigt wurde. Thema dieser Ausstellung war die Partizipation des Betrachters. Im Pressetext der Galerie zur Ausstellung steht Folgendes: »Die zusammengestellten Arbeiten erforschen das Prinzip der Partizipation hinsichtlich seiner Flüchtigkeit, Poesie und Kontroversität. Sie stellen die Frage, was eigentlich wirklich zwischen Künstler, Kunstwerk und Zuschauer hin und her bewegt wird, wenn Kunstwerke die Teilhabe des Publikums einfordern?« (Christenson 2014: o.P.) Mein Thema ist nicht die Partizipation des Publikums, zumindest nicht im engeren Sinne. Der entscheidendere Begriff ist für mich die Teilhabe. Der Begriff Teilhabe ermöglicht mir, den Zusammenhang von mittelalterlichen Seidenstoffen und  meinen Zeichnungen zu beschreiben. Die Subjekt-ObjektBeziehung ist hier keine Einbahnstraße. Es handelt sich tatsächlich um eine Beziehung; eine echte Beziehung, auch in sofern, als dass sie weder planbar noch kalkulierbar ist. Es werden sich immer weitere Irritationen, Fragen, Gründe und Anlässe für eine weitere Zeichnung ergeben. Deutlich wird mir dabei auch, wie fragwürdig der Begriff »Projekt« ist. Projekte sind wichtig im Kultur- und im Wissenschaftsbetrieb, insbesondere wenn es um die Beantragung von Fördermitteln geht. Projekte sind begrenzt, sie haben einen Anfang und ein Ende, klar formulierte Ziele. Meine Beziehung zu den Gegenständen, mit denen ich in Dialog trete ist offen. Es gibt weniger Antworten und Festschreibungen, sondern die Qualität der Arbeit besteht darin, dass sich die Fragestellungen laufend verändern. Wie schon gesagt, Wiederholung ist ein wichtiges Instrument in meiner Arbeit, deshalb möchte ich diesen Text mit dem schon eingangs gemachten Statement abschließen. Ich verstehe meine Arbeit als Künstlerische Forschung, deren Ziel sich eher als gesteigerte Lebendigkeit, denn als Zuwachs an Wissen beschreiben lässt. Wissen geht in der Regel einher mit der Abstraktion und Reduktion von Gegenstand und Umfeld. Mit meiner Arbeit strebe ich danach, Komplexität zu erhöhen und nicht zu reduzieren. Der Erkenntnisgewinn und die Wissensproduktion meiner Arbeit entsprechen somit eher den Erkenntnissen wie sie in einer Liebesbeziehung erfahrbar sind – je näher ich dem Anderen bzw. dem Gegenstand komme, umso vieldeutiger wird er.

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L iter atur Christenson, Abigail (2014): I Take Part and the Part Takes Me. Online unter: http://www.tanjawagner.com/de/exhibitions/details/2014-i-take-part/pr-dei-take-part.html [15.02.2015]. Flury-Lemberg, Mechthild (1995): »Der sogenannte Ornat des heiligen Valerius von Saragossa aus der Kathedrale von Lérida« in: Flury-Lemberg, Mechthild, Spuren kostbarer Gewebe (=Riggisberger Berichte 3), Riggisberg: Abegg-Stiftung, S. 56-117. Genazino, Wilhelm (2007): Der Gedehnte Blick, München: dtv. Wilkens, Leonie von (1992): Mittelalterliche Seidenstoffe, Bestandskataloge des Kunstgewerbemuseums 18, Berlin: Staatliche Museen zu Berlin.

A bbildungen Abb. 1: Nicht mehr datierbares Foto Bleistift, Buntstift auf Papier, 70 cm x 100 cm, 2013

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Abb. 2: Lichtreflex im Glas Bleistift und Buntstift auf Papier, 100 cm × 70 cm, 2013

Abb. 3: Zur Lupe gegriffen Buntstift und Bleistift auf Papier, 42 cm × 59,7 cm, 2013

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Abb. 4: Kopie einer alten Buchseite  Bleistift auf Papier, 100 cm × 70 cm, 2013

Abb. 5: Detail einer Buchseite in Madrid fotografiert  Buntstift, Bleistift auf Papier, 70 cm × 100 cm, 2014

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Abb. 6: Detail einer Buchseite in Madrid fotografiert  Aquarell und Bleistift auf Papier, 59,7 cm × 42 cm, 2014

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Blush Drei Versuche zum Erröten Anna Romanenko und Björn Kühn

1. ›V on der G enesis der R öte ‹ »In den ersten Wochen meiner Schullaufbahn gab es eine Episode, die mir lange Zeit im Gedächtnis geblieben ist. In einer der ersten Schulstunden passierte es, dass während die Lehrerin von der Klasse abgewandt etwas an die Tafel schrieb, ich plötzlich sehr laut pfiff. Ich hatte die Tage zuvor wiederholt in Pausen und auf den Toiletten geübt und nun, zum ersten Mal gelang mir ein sehr lauter und wohlklingender Pfiff. In einem Anflug von Freude hörte ich die sich plötzlich umdrehende Lehrerin im strengen Ton fragen: ›Wer war das?‹ Im Handumdrehen zeigten dreißig kleine Finger in meine Richtung. Ich kann mich nicht erinnern, ob es mir peinlich gewesen ist, eher fühlte ich immer noch Stolz über die neue Fähigkeit, dennoch lief ich rot an. Es war als würde sich die ganze Welt den Fingerchen folgend auf mich richten und die Röte markiere dieses neue Zentrum der kollektiven Aufmerksamkeit. Ich überlegte, in welche Richtung ich zeigen könnte, um diesen Strudel von Blicken umzulenken, sah aber gleichzeitig, dass es erst möglich werden würde, wenn der Sog von selber abnähme. Das tat er auch, die Lehrerin erklärte, dass man nicht pfeifen dürfe und setzte den Unterricht fort. Dennoch saß ich noch eine Weile benommen da.« ein F reund

Diese kleinen Begebenheiten des Errötens passieren immer wieder, es zeigt sich in ihrer ephemeren Intensität etwas, das einer näheren Betrachtung wert ist. Sie sind gekennzeichnet von einer wie aus dem Nichts kommenden Gewalt

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und fügen eine Zäsur der Zeitlosigkeit in das Nacheinander alltäglicher Ereignisse ein. Als Grenzbegriff zwischen Physischem und Psychischem stellt sich das Erröten außerhalb der Körperlichkeit. Im Falle der Bloßstellung verlässt die eigene Psyche scheinbar für einen Moment ihren angestammten Sitz innerhalb des Körpers, um sich in einem vorgestellten fremden Blick einzufinden. Der Körper, zum Objekt geworden, gerät außer Kontrolle und gebärdet sich auf diesen Blick hin durch die Bildung der Röte. Das vordringlichste Bedürfnis, das im Moment des Errötens instinktgleich auftaucht, ist dasjenige des Verbergens oder Verschwindens. Der Körper – nicht mehr der Mittelpunkt und Agent, von dem aus Handlungen, Urteile und Wahrnehmungen ausgehen – soll sein Dasein verlieren. Als bloßes Objekt, als ein Haufen Fleisch, dem Blick der Umwelt ausgesetzt, muss er im Erdboden verschwinden oder wenigstens verborgen werden: hinter der Hand, einem Feigenblatt, einem Kleidungsstück, oder auch nur durch das Schließen der Augen. Das Rot taucht auf und verschwindet; eine temporäre Oberfläche, auf die Blicke fallen. An der Grenze eines Körpers zu seiner Umwelt, inmitten einer vor sich hin dümpelnden Sozialität wird das Erröten zu einem Ereignis der Deutung einer Berührung mit dem Außen. Dieses Außen markiert seine eigene Eintrittsstelle in ein sich nicht als von diesem Außen abgesondert denkendes Fleisch. Es ist zunächst eine bloße Markierung, ohne Bedeutung, eher ein Hindeuten, die Potenz eines möglicherweise Bedeutsamen; ein QuasiSignifikant, da es nur den Verdacht eines Signifikats nährt. Dieser Verdacht wirft die Maschinerie der Wissensproduktion an. Wobei die Röte als Hindernis und gleichzeitig als Quelle fungiert. Das Erröten erweckt einen Verdacht und deutet auf ein Dahinter; es zeigt sich aber gleichzeitig in der Vehemenz seiner Präsenz als etwas Eigenständiges, das sich gegen Verweisstrukturen zur Wehr setzt. Darin äußert sich weniger der Wunsch nach Erkenntnis, denn die Scheu davor und das Genießen eines Verharrens im Verdacht. Die Röte taucht auf als Nexus eines Gefüges, in dem Erkenntnis, Körper, dessen (imaginierte) Wahrnehmung und Emergenz sich im Ereignis einer Farbe manifestieren. Jenseits der Maschinerie der Wissensproduktion äußert sich jedoch noch ein anderer Verdacht im Errötenden selbst, und zwar der schlimmste: Was, wenn der Körper nicht der eigene ist, im Grunde überhaupt nicht ist, noch nicht einmal körperlich? Die Röte, teils zum eigenen Fleisch und teils zum fremden Blick gehörend, übernimmt im Vorgang des Verbergens die Funktion, den Körper als Körper zu schützen, ihn zu verschleiern und zu beherbergen, sie verankert den eigenen Körper letztendlich als einen wirklichen. Die abendländische Urszene des Errötens findet sich im ersten Buch Mose. Dieses erste Erröten ist die Ursache für die Vertreibung aus dem Paradies. Die biblische Beschreibung zeichnet mit dem ersten Erröten gleichzeitig die erste

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menschliche Erkenntnis; es ist das erste Gewahrwerden eines Körpers als Objekt und der Beginn seiner Endlichkeit. Dabei bedingt die Röte nicht nur die Möglichkeit von Erkenntnis, sondern ebenfalls die Möglichkeit eines Körpers, der abgetrennt von seiner Umwelt wahrgenommen werden kann. Die gerötete Haut ist die Urdifferenz. Die Körper sind abgesondert, begreif bar, wissensförmig. Die Welt wird fragmentiert, die Gewissheit des Daseins verschwindet. Der erste Körper ist ein errötender.

2. ›C an You B lush ?‹ Ein Inter view in einem Akt Ein unterirdischer Raum, ein Keller oder Bunker. Die Decke ist gewölbt, die Wände geweißt. Aus dem Boden wächst ein Zitronenbaum. Einige Möbel. Eine Calla Lilie in einer Vase. Der Raum ist leicht dunstig von Rauch oder von Feuchtigkeit. In einer Ecke steht ein Raumentfeuchter der ein ständiges Rauschen produziert. Eine Kamera nimmt Bild und Ton auf. Das Objektiv ist verhängt. A und B haben sich zu einem Interview unter dem Baum platziert. Das Interview trägt den Titel: ›Can You Blush?‹ B packt seine Notizen aus. B: ›Can You Blush?‹ verhandelt den Begriff des Errötens als Funktion von Wissensbildung. Das Erröten beschreibt dabei eine Form von implizitem Wissen, das sich in einer plötzlichen Form äußern kann und auf diese Weise produktiv wird. Wir sagen ebenfalls, dass das Erröten als Funktion strukturgebend für unsere eigene Arbeit und für Produktion als solche sei. Eine Frage wäre, was der Anstoß oder der Ausgangspunkt für diese These gewesen ist. A: Da gibt es doch diese Szene. Wir machen einen Spaziergang auf einem Hügel in der Nähe eines Schlosses. Wir beide und zwei andere Freunde laufen hin zu einem Ziel, an das ich mich nicht mehr erinnern kann, als plötzlich einer der beiden uns nach den Prinzipien unserer Zusammenarbeit fragt und die Antwort eine leichte Rötung deines Gesichtes ist. Dieses Ereignis führt kurzzeitig zur allgemeinen Belustigung. Du fängst dich schnell wieder und erzählst etwas sehr Plausibles, was ich allerdings auch wieder vergessen habe. Irgendwie sind wir scheinbar an diesem Vorfall hängen geblieben, denn auf eine bestimmte Weise war uns klar, dass es nicht die nachgeschobene Erklärung, sondern eben diese Röte war, die die eigentliche Antwort gewesen ist. Auch klar war uns, dass eine Antwort nicht zwangsläufig verbal erfolgen muss, dass beispielsweise auch eine Handlung eine adäquate Äußerung darstellen könn-

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te. Dennoch fragten wir uns, in welches semantische Register sich das Erröten einschreiben könnte und wir haben angefangen, uns näher mit dem ›Blush‹ zu beschäftigen. Dieser Spaziergang ist doch das Initial für unsere Fragen nach den strukturellen Effekten und Ursachen des körperlichen Errötens und seine Funktionen in Bezug auf unsere Arbeit geworden, oder nicht? Baum: Can You Blush? B: ...ist ein Zitat aus Blade II. A: Kenn ich nicht. B: Die Frage wird gestellt von Reinhardt, einem Vollblutvampir, der einer Truppe angehört, die nur gegründet wurde, um Blade zu jagen. Blade ist das Erzeugnis eines Vampirs und eines Menschen, als einziger Vampir hat er die Fähigkeit, sich während des Tages in der Sonne aufzuhalten. Er unterdrückt seinen Blutdurst durch Medikamentierung und macht nachts Jagd auf Vampire. Im Angesicht einer noch größeren Gefahr müssen sich die beiden eigentlichen Gegner letztlich zusammenschließen. Es ist schließlich Blade II. Das ist die Szene, an die sich jeder erinnern kann, der diesen Film gesehen hat, wenn auch sonst an nicht viel. »Kannst du rot werden?«, ist dabei so kryptisch wie eindrucksvoll. Es ist Spott über Blade, das Halbblut, und der Rest von Reinhardts Truppe hat Spaß an der Frage. Ich denke, es geht dabei um die Frage nach der Menschlichkeit. Bist du ein Vampir? Dann saugst du das Blut. Oder du hast das Blut, du kannst selbst welches generieren, dann bist du ein Opfer, Vieh für Vampire. A: Denkst du, wir könnten die Röte als etwas Menschliches definieren, etwas außerhalb der Reichweite des Tierischen? B: Ja, dort, wo gewöhnlich Dinge wie Sprache oder eben auch das Wissen auftauchen. Wissen ist ja etwas, das von sich behauptet, übertragbar zu sein. Jedenfalls meistens. In dieser Übertragbarkeit drückt sich der ›Blush‹ als das aus, was nicht gewusst werden soll. Die Grenze der Übertragbarkeit wird angezeigt und die Einsamkeit eines Subjektes in seinen Körpergrenzen offenbar. Was aber, wenn nicht nur der ›Blush‹ sich ausdrückt als das, was nicht gewusst werden soll? Wenn er quasi immer nur auf sich selbst als Inhalt verweist? A: Dann ist es doch einfach, dann ist die Röte ein Symptom im klassischen Sinne, oder nicht? Da gibt es etwas, was etwas anderes auslöst, in dem Fall die Röte, man weiß nicht, was der tatsächliche Grund ist und man kann das Erröten aber auch nicht kontrollieren, es taucht einfach auf.

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B: Ja, es produziert aber einen Verdacht. Ich vermute dann eben doch eine Ursache, auch wenn sich diese nicht direkt überträgt. A: Wen verdächtigst du? B: Vielleicht ein Subjekt. Vielleicht ist die Physis die letzte Bastion des Subjektes als Menschliches und das Erröten das letzte Überlebende, das noch einen Organismus anzeigt. Es hat noch Blut, ist kein Vampir, weder untot noch virtuell. Baum: ›Can You Blush?‹ verhandelt den Begriff des Errötens als ästhetische Funktion von Wissensbildung. Das Erröten beschreibt dabei eine Form von implizitem Wissen, das sich in einer plötzlichen Form äußern kann und auf diese Weise produktiv wird. Ihr sagt ebenfalls, dass das Erröten als Funktion strukturgebend für eure eigene Arbeit sei. Meine Frage wäre, wie ihr mit dem ›Blush‹ innerhalb eurer Arbeit umgeht, insbesondere, wenn es nicht um die gleichnamige Arbeit geht. Abb. 1: Ausstellungsansicht, Illicit Physics, 2014

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A: Es ging eigentlich auch darum, von diesem menschlichen Subjektbegriff, das B gerade angeführt hat, wegzukommen, oder diesen vielleicht zu erweitern. Physiologisch geht es beim Erröten ja erstmal primär um Blutströme. Es geht also um Materie, die in einem intersubjektiven Prozess ihre Erscheinung ändert. Wir sind dann so herangegangen, dass wir dem Werk als Material diesen internen Blutstrom unterstellt haben, der dann irgendwie in Erscheinung treten kann oder in Erscheinung tritt. Mit dieser Voraussetzung, oder Unterstellung, von einer möglichen Affizierbarkeit und Veränderung des Blutstromes hat man bisschen ’n anderen Zugang. Also primär geht es da um Veränderungen am organischen Material und um die Beziehung, die man dadurch zu diesem Material auf baut. B: Eigentlich ging es da zunächst um Obst. Wir haben vor einiger Zeit ein Projekt begonnen, das Blut einer pflanzlichen Struktur annimmt, also einen Zustand vermutet, der gewissermaßen vor der Absonderung des Menschlichen als derjenigen Entität, die die Fähigkeit zu erröten besitzt, läge. Baum: Also vor dem Sündenfall? B: Genau, da ist ja theoretisch alle Materie gleich bzw. eins. Alles könnte potenziell abgesondert und in diesen errötenden Zustand kommen. Im Grunde ist es ein Zufall, dass das ausgerechnet Adam passiert und nicht dem Löwen oder dem Stein. Die Arbeit heißt The Unfailing Table und besteht zu einem Teil daraus, Obst diese Subjektfähigkeit zu verleihen. A: Zu unterstellen. B: Es ist keine reine Unterstellung und hat auch ganz konkrete Auswirkungen auf die Methoden. Beispielsweise spielt eine bestimmte Art von Obstgeistherstellung eine Rolle, bei der man Früchte in Flaschen wachsen lässt, um sie später mit Alkohol aufzufüllen und zu fermentieren. Dabei entsteht Obstgeist. Da ist sprachlich bereits ein Geist im Obst vermutet worden, der auch an die Oberfläche und über diese hinaus treten kann. A: Hier liegt also ein Stück weit der Fokus auf der Interaktion mit dem Material während des Herstellungsprozesses. Es ist z.B. wichtig, dass die Flaschen mundgeblasen sind, weil das einen gewissen Kontakt voraussetzt von Atem oder von erogenen Zonen, von Körpern, die in Berührung kommen und sich durchdringen. Dann ist da das Moment, dass der Alkohol auch getrunken wird und dazu machen wir Workshops mit den Tischgesellschaften, um diese Subjektivierung der Flüssigkeit aufzubauen, aufzubrechen und zu verteilen.

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B: Andererseits steht natürlich der Prozess im Fokus, den die Frucht durchmacht, wie sie in die Flasche wächst. Die Flasche gibt eine Art klimatische Hülle dafür, ein Minitreibhaus vielleicht, wo sie reift. Dadurch beeinflusst sie ihre Form und verändert ihre Farbe. Im nächsten Schritt kommt der Alkohol drauf, der wieder materiell mit der Frucht interagiert; es geht von der Frucht etwas in die Flüssigkeit über, was dann gemeinsam getrunken werden kann, sich also wieder in einer Art neuer Sozialität auflöst. Ich denke, es geht hier um dieses Spiel von Material und Sozialität für das das Erröten produktionsästhetisch steht. Das wurde danach ein bisschen zu einem roten Faden in unserer Arbeit. Baum: Es sollte heißen: Das Verderben des Obstes nach dem Modell von Adam. A lacht. Baum: Wenn du jetzt einen Apfel isst, ist es Kannibalismus. A: Es hat noch weiter reichende Folgen. Man könnte alle Kunst als eine Form des Errötens verstehen, als aufgehäufte, affizierte Materie mit ungeklärtem Ursprung. Eigentlich ist ›Can You Blush?‹ auch eine neue Form der Kunstbetrachtung, die primär nichts mit der Entstehung unserer eigenen Arbeit zu tun hat. Es ist eher ein allgemein rezeptionsästhetischer Zugriff. Ich skizziere mal kurz, was die Eckpunkte sind: Was das Erröten als Funktion für die Kunstbetrachtung zunächst interessant macht, ist, dass es strukturelle Elemente gibt, die in beiden zueinander analog funktionieren. Die Hauptkoordinaten des Errötens sind auf der einen Seite ein fremder Blick, dem ich ausgeliefert bin, ein bestimmter vorgestellter Erkenntnisgewinn und eben die Farbe, die auftaucht und diesen möglichen Erkenntnisgewinn signifiziert, ohne ihn zu benennen. B sucht nochmals in seinen Notizen, findet einen kleineren Zettel und liest vor. B: ›Natural philosophers assert that nature being moved by shame spreads the blood before herself as a veil.‹ Das hab ich mir aus Darwins The Expression of the Emotions in Man and Animals rausgeschrieben, er zitiert an dieser Stelle Macrobius. Was hier interessant ist, ist, dass die Scham nicht als etwas begriffen wird, das offenbart, etwas bloßlegt, sondern auch ein Schleier ist, der sich vor die Natur legt und eine verbergende Funktion hat. Wenn man dies wiederum auf die Kunst rückbezieht, gibt es eine Akzentverschiebung vom Ausstellen, Zeigen, Zu-Sehen-Geben hin zum Verbergen und Verstecken; es gibt dann eine Unschuldsvermutung, die sich jenseits des ästhetischen Phänomens denken lässt und der Erscheinung als solcher eine Art Schüchternheit verleiht. Die Frage, die sich eine solche Werkbetrachtung stellt, ist weniger ›Was ist zu sehen?‹, sondern vielmehr ›Wie ist hier etwas verborgen worden?‹

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und ›Nach welchem Protokoll funktioniert diese Verbergung?‹ Auch bei unseren Arbeiten kommt man auf diese Weise sehr viel weiter, aber ich denke es ist allgemein so, nur dass ich das bei uns natürlich etwas klarer sehen kann. A: Jetzt haben wir doch so lange vermieden von der Scham zu sprechen. Wichtig an dieser Szene ist, dass es einen zweiten Schritt gibt – und das unterscheidet sie von der Scham, die ein Affekt ist und in enger Verbindung zum ›Blush‹ steht, allerdings nicht zwingend eine physiologische, geschweige denn ästhetische Erscheinungsform hat oder ist. Der zweite Schritt ist die notwendige ästhetische Produktion. Durch dieses Produkt, durch die Röte, erhält der eindringende Blick das Feedback auch eingedrungen zu sein, gleichzeitig wird er allerdings gefiltert, also vom Objekt der Betrachtung konkret beeinflusst. Gerade Unterstellungen können hier produktiv werden. Es existiert eine Methode der experimentellen Psychologie, die sich über viele Jahre bewährt hat. Um ein Erröten auszulösen und etwaige Messungen von Blutströmen, Wärme etc. ausführen zu können, wird dem Probanden gesagt, dass er erröte, obwohl dies nicht der Objektivität des Körpers entspricht. Das Ergebnis der Unterstellung ist ein starkes Erröten im Probanden. Hier haben wir das erste Eindringen in den Anderen, das sprachliche Pendant zum Erröten innerhalb eines medizinisch-psychologischen Sets. Baum: Bedeutet das, dass wenn ich ein beliebiges Werk anschaue und sage, dass an dessen Oberfläche ein Baum abgebildet sei, diese meine Aussage das Werk veranlassen würde tatsächlich einem Baum zu gleichen? A: Das kommt auf das Werk und dessen Verhältnis zu Bäumen an. Aber auf jeden Fall wäre das Werk gezwungen, sich zu dieser Annahme zu verhalten und diese Annahme würde vielleicht auch den nächsten Blick in dieser Hinsicht beeinflussen. Es gibt so ein Komplott zwischen dem Sehen und dem sich zu sehen Gebenden. B: Irgendwann ist mir aufgefallen, dass die Bildlichkeit des Errötens als ein Oberflächenphänomen analogisiert werden kann mit allen möglichen Formen von Kunst, die ebenfalls Oberflächen bereitstellt oder Interfaces, wenn man möchte. Angenommen jedes Werk, als von seiner Umgebung abgesondertes, hielte strukturell Oberflächen bereit in dem Sinne, dass es unterschiedlich zu etwas oder jemandem ist, das/der sich mit dem Ding auseinandersetzt, in eine Beziehung tritt, möglicherweise durch Sehen oder andere Formen der Wahrnehmung… A: Es herrscht also irgendwo eine Grenze, auch eine Körpergrenze.

Blush

B: …ja, dann könnte jedes dieser Dinge in der Urszene des Errötens verankert werden; in einer Szene subtiler Verletzung, in der etwas, eine vorläufige Ahnung von etwas anderem, in die Oberfläche eines Werks eindringt. Diese Verletzung schafft dann diese Oberfläche, diese Grenze zum Werk hin, macht es sichtbar, greif bar, angreif bar; schafft vielleicht sogar die Möglichkeitsbedingung eines Werks. A: Jedenfalls, nähmen wir diese ›Urszene des Errötens‹ als Dispositiv für eine Gegenüberstellung mit einem Kunstwerk, verändert sich natürlich die Haltung gegenüber solch einem Objekt. Ein solcher Blick ist automatisch gewaltbehaftet. Zudem findet eine Vermischung statt: Subjekt und Objekt, Körper und Psyche, das Persönliche und das Gesellschaftliche treten in ein Verhältnis zueinander, so dass eine Durchdringung und ein Sein im Anderen plötzlich in Haut, Konversation und Arbeit auftaucht. Baum: Mehr Licht. A: Wir sind im Bunker, es gibt nicht mehr Licht. Die von den Leuchten weiter entfernteren Blätter beginnen ihre grüne Farbe zu verlieren. B: Es ist eine Laborsituation. Baum: Kannst du aufhören Gott zu spielen? B: Ich spiele nur Adam. Dazu gibt mir die Erbsünde jedes Recht. Kamera: Wie war das: Das Erröten ist eine Form von implizitem Wissen? Könnten wir nochmals den etwas authentischeren Anfang haben, wo es um die Szene mit den zwei Freunden auf dem Hügel ging? B kniet sich ganz nah vor die Kamera hin. B: Im Grunde bedeutet das, dass man Acht geben sollte, wenn man selbst errötet oder jemanden beim Erröten erwischt. Denn das bedeutet, dass das, was zum Erröten geführt hat – z.B. Äußerungen, Mitteilungen in bestimmten sozialen Konstellationen auf die letzte Schicht – an das, was unter dem ›Blush‹ liegt, heranreicht und ein schneller Schleier darüber gelegt werden muss. Da wird’s interessant. Kamera: Und was lag dahinter, hinter dem Hügel während des Spaziergangs?

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B errötet. Einige Menschen betreten den Raum, Zunächst zehn oder zwölf, dann werden es mehr. Der Raum dehnt sich aus. Alle starren auf A. A blickt zu B, B auf die Kamera. Die Kamera verschwindet. Die Röte breitet sich aus über den Dunst in der Luft: Erst werden die Partikel direkt um das Gesicht von B affiziert, dann springt die Röte über auf A und den Baum. Ihre Oberflächen fangen an rötlich zu flimmern. Ein Alarm springt an. Der Raum taucht in flackerndes Rotlicht und lautes periodisches Tröten. Bewegung durchzieht die Körper. Die Kontraste innerhalb der rötlichen Erscheinungen schwinden, Ränder lösen sich auf. Abb. 2: Blush, Fineliner auf Papier, 2014, 20 cm x 27 cm

Blush

3. ›P le thysmogr aphie ‹ Entwurf einer qualitativen Photoplethysmographie im Anschluss an gängige psychophysiologische Betrachtungsweisen des Errötens 1. Die Apparatur der Messung Der Photoplethysmograph spielt oftmals eine tragende Rolle in Experimenten der aktuellen psychophysiologischen Forschung um das Erröten. Der Photoplethysmograph ist ein Gerät zur Messung von Blutströmen. Eine Stelle der Haut wird beleuchtet und die Veränderungen in der Absorption dieses Lichtes, ausgelöst durch variierende Durchblutung, werden gemessen. Als Ergebnis erhält man ein Photoplethysmogramm, das ein Mehr oder Weniger von Blut in der Haut mittels einer Kurve lesbar werden lässt.

2. Die Produktion des zu messenden Effekts Ein Problem der Forschung stellt die Produktion des Errötens unter Laborbedingungen dar, da dieses schwer herbeigeführt und kontrolliert werden kann. Seit den 1990er Jahren hat sich jedoch eine Methode etabliert, die relativ zuverlässig zum gewünschten Ergebnis führt. Dabei führt der Proband (meist weiblich) vor einer laufenden Kamera ein Kinderlied auf. Einige Tage später wird der Probandin das mitgeschnittene Material vorgeführt in Anwesenheit ihrer Freunde. In diesem Moment kommt der Photoplethysmograph zum Einsatz und der entstehende, gesteigerte Blutfluss unter der Haut kann gemessen werden.

3. Zugriff Die qualitative Photoplethysmographie, die hier angewendet werden soll, ersetzt das Messgerät durch ein bildliches Aufzeichnungsgerät. Statt eines Photoplethysmographen kommt eine Videokamera zum Einsatz. Der Rest des Aufbaus wird beibehalten. Die Quantifizierung der Blutströme einer Hautstelle wird durch eine qualitative Aufzeichnung aller am Erröten beteiligten Faktoren, also auch der Freunde, ersetzt. Die Kamera, die Videoaufnahme des Versuches selbst und insbesondere die errötenden Stellen, die dabei auftauchen, sollen den schlimmsten Verdacht sichtbar werden lassen sowie dessen sozial-psychische und institutionell-wissenschaftliche Koordinaten: Probandin, Freundschaft, Liedgut, Infantilität, Kamera, Projektion, Psychologie, Vorführraum, zeitliche Abfolge der einzelnen Schritte, erneutes Filmen etc. Der schlimmste Verdacht, nämlich der, dass es noch nicht einmal die Körper gäbe, projiziert die physiologische Komponente und Körperlichkeit als solche

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in die Variablen des Versuchsauf baues und muss dabei einer besonderen Betrachtung unterzogen werden. Die Beibehaltung des restlichen Settings und das Auftreten des Errötens innerhalb des resultierenden Videos erlauben diese Mechanismen der sozial-psychischen und institutionell-wissenschaftlichen Komponente des Errötens und damit eine zeitgenössische Produktionsmaschinerie von Objekthaftigkeit, Körpern und Körperlichkeit abzubilden.

Phase I Ort: ein geschlossener Museumsraum Material: Eine Videokamera, eine Kamera, eine Gruppe befreundeter Künstler, im Folgenden als die Probanden bezeichnet Vorgang: Die Probanden machen jeweils einzeln mit der Kamera eine Close-Up Aufnahme eines beliebigen Kinderliedes

Phase II Ort: ein Vorführraum im selben Museum Material: Ein Projektor, eine Videokamera, ein Kameramann, die Probanden Vorgang: Die Probanden schauen sich die Aufnahmen der Lieder nacheinander an. Gleichzeitig wird ihre Reaktion aufgezeichnet

Phase III Auswertung durch die Probanden

The Poetics of Anamorphosis and the Art of Entropy Cosmoscreator Omnipotens – Scientific Fairy Tale and Artistic Science Fiction Anna-Sophie Jürgens and Markus Wierschem Abb. 1: Entropic Demon

© Anna-Sophie Jürgens. »Weiß und steril und kuppelförmig war der Raum, der ihn umgab. Auf den metamorphen Datenangströmen reitend, die ihn ins Sein zurücktragen sollten, hatte er für einen Wimpernschlag geglaubt, wie aus einer mythischen Argosbarke den himmlischen Salitter selbst zu schauen, den quallende Grundsamen, der aller Kräfte transkarnierend sie-

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Anna-Sophie Jürgens and Markus Wierschem bengeistig Früchte trieb. And for a second there, it was that one was all. Auf der anderen Seite des Kanals aber starrte ihm nur vielverschraubt, stahlhäutig, vakuos und kalt, ein hoher, szientifischer Phallus entgegen. Einer Kanone gleich waren die sezierenden Elektronaugen dieses Apparatullus nach innen gerichtet, wo sie kleine Schälchen mit allerlei Proben symbiontisch-balancierter Welt kartographierten. »Von dort muss ich gekommen sein«, murmelte Ilya, […]. Auf der anderen Seite des Raumes aber war ein zweites, dem ersten ähnliches und doch ganz anderes Auge, dessen Blicke in den Himmel schweiften. Als Ilya zum einen Ende hineinschaute, da sah er im fernen Dunkel Sterne, Monde, Sonnen in bunten Nebeln wirbeln, tanzen und sich drehen, als folgten sie den Sphären kristalliner Uhrwerksräder. Manchmal erlosch ein Lichtlein und verließ den Tanz, doch alsbald glühte andernorts ein neuer auf und schloss sich dem kosmischen Reigen an. And for a second there, it was that all was one.« (Chaoscre(m)ator 2013, o.P.)

As precursors to the first museums, Kunst- or Wunderkammern and cabinets of curiosities presented selected rarities, technical innovations, and extraordinary exhibits. From taxidermied animals, tusks, and horns to minerals, sculptures and automatons – these cabinets could surprise even connoisseurs. A particularly interesting class of curiosity at the threshold between what modern terminology calls art and science included paintings investigating optical phenomena. These paintings did so especially by distorting perspective in ways that required the viewer to occupy a specific vantage point or to use special devices, such as mirrors or prisms, in order to re-create or ›correctly‹ view the image. This phenomenon is called anamorphosis. »Its etymology is drawn from the Greek for ›back‹ and ›form‹, imitating something which is behind, or hidden from view. ›Morphosis‹ proposes movement and transformation. Anamorphosis becomes an act of unveiling what is concealed.« (Spurr 2008: 43) Anamorphic pictures or picture elements demonstrate controlled distortions and irritating prolongations of reality as a spectaculum of dynamic illusion, or in-lusio (cf. Cha/Rautzenberg 2008b: 7f.; Mersmann 2008: 25, 40; Spurr 2008: 43; for cabinets of curiosities, see Baltrušaitis 1955: 17; Ndalianis 2004: 62; Macho 2005: 170).1 The icon of anamorphosis is Holbein’s The Ambassadors (1533), which presents a hermeneutically confusing, indefinable mass hovering above the floor that turns into a skull when viewed from a specific angle. Anamorphosis provokes the detachment of an imaginative image plane from the canvas and thus the dramatization of knowledge. It is an experiment of perception involving a kinetic element, as it requires its observer to move. Here, the deformed sight unfolds between two points of view as the anamorphosis is sub1 |  Anamorphosis and anamorphic methods were used as a way to divide, map, and organize in the fields of geometry, navigation, and cartography in 16th and 17th centuries (see Schäffner 2003).

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jectivist and objectivist, rational (in its geometrical construction) and irrational (in its appearance). It can be understood as a confluence of art and science.

I. A namorphosis as M e thod : C osmoscreator O mnipotens The series Cosmoscreator Omnipotens is a ›scientific fairy tale‹ in several volumes. Each volume is composed of approximately fifty pages, and half of them are full-spread ink drawings. Cosmoscreator seeks to provide suggestions for approaching anamorphosis from a ›feasibility‹ point of view, asking how it can be transformed into a method of composition for books. Whilst anamorphosis depicts the visualization of two different levels of reality in one picture by means of superposition of two perspectives with separate points of view (Wolfsteiner 2008: 68), the volumes of Cosmoscreator present four layers to be read simultaneously. Thus, it is at once • • • •

a thrilling fairy tale, a pattern-challenge of explosive whirl drawings and concealed images, a verbal stimulus, as well as a scientific study.

According to its anamorphic structure, each Cosmoscreator oscillates differently between transparency and opacity, contrast and symbiosis; they cross borders between genres and jeopardize any centralized perspective. Thus, the volumes of Cosmoscreator provide the co-existence of contrary, or simply different, readings in a single book. It is performative in so far as it does not depict contents but creates them in each production. It wants to explore the polysemous and epistemological potential of anamorphosis. Anamorphosis as a discursive stage of reflection and critique allows a ›wry‹ perception, as Cha and Rautzenberg point out, and provokes a de- and reformation in the act of reception (cf. Cha/ Rautzenberg 2008b: 19; Mersmann 2008: 24, 25). A counterpart of this kinetic dimension can be recognized in the reader-spectator’s movement through the Cosmos. Anamorphosis as a method of transitory and controlled juxtaposition of proportionality and distortion leads to an ars deformandi (cf. Mersmann 2008: 40) that challenges the convention of reading and how we intuitively understand books. In this sense, Cosmoscreator is not only an anti-mimetic excess leading to the genre of ›artistic science fiction‹ and thinking afresh about the book as a medium, but also an appeal for a four-dimensional, anti-cyclopean vision. Considering a whole book in anamorphic terms means breaking from accepted modes of representation and embracing the possibilities opened by multi-perspectivity.

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Abb. 2: Ilya’s Wallpaper

© Anna-Sophie Jürgens.

II. E xperiments in A namorphic L ogic : N arr ative and E ntropy in C haoscre (m) ator – C osmoscreator O mnipotens IV Examining our own work in the manner of literary criticism as the writer and artist of Chaoscre(m)ator. Eine Bildungsromär,2 forces us to take on a somewhat schizophrenic, or perhaps dissociative, perspective. While certainly able to yield valuable insights, the special double-position of author/artist and critic is characterized by an inherent bias that occludes the scholarly ideals of objectivity and neutrality, e/illusive though they may be. More fundamentally, there is no telling what insights could have been gained had the object been approached 2 | Chaoscre(m)ator (2013) is the fourth installation of the Cosmoscreator series. It contains 64 pages, 26 full-spread drawings, an appendix of eleven pages with a short history of entropy, a glossary, and a bibliography. Text by Markus Wierschem; Scénario (drawings, concept, and development of cosmo typeface): Anna-Sophie Jürgens; Mise en scène (layout, typography): Alexander Rapp; www.cosmoscreator.de [29.05.2015]. In the following, citations (transl. by M. Wierschem) are given without reference as the volume contains no page numbers.

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›innocently.‹ Although this heteroscopic point of view is itself not uninteresting as an example of anamorphosis, access to this particular ›third space‹ of the work to readers will be limited, nor may it be of interest. On the other hand, offering access to new information, facilitating the opportunity of insight, and providing different ways of seeing the world is arguably not only the very essence of literature, but the linchpin of literary criticism. In the following, we will try to factor out the authorial perspective to understand Chaoscre(m)ator as it presents itself to the reader. Therefore, the focus is primarily on the interfaces between the singular ›semiotic subsystems‹ the analysis of which yields the procedures and effects of the anamorphic poetics which identify it as a part of the Cosmoscreator series. Put differently, our interest here is in the border crossings between the realms of fairy tale narration, visual and poetic experimentation, and scientific exploration. Chaoscre(m)ator partakes in a variety of literary genres and conventions. At base, however, it relates the fairly straightforward story of Ilya P. Waxmell and his journey into his wallpaper. A young boy growing up in the oxymoronically dubbed »pastoralindustrial« city of Apocapulco, Ilya is introduced as the child companion of Nimouaeunomia von Lilyanov, a young girl with whom he is inseparably united by having »exchanged part of their hearts«. Disaster strikes when Nimouae falls ill and dies of a fever. She dissipates as a »tiny cremated cloud«, leaving Ilya devastated and uncomprehending. A ›wise uncle‹ blames her loss on the agency of entropy, and Ilya consequently devotes his life to learning as much as he can about this strange force, his ultimate goal being to find a way to be reunited with Nimouae. One day, while conducting experiments in his laboratory, he is sucked into his wallpaper and a miraculous Ilya in Wonderland kind of journey begins. While the narrative, which follows the stations of Ilya’s journey, is thus thematically propelled by the ›human universals‹ of love, loss, and (dealing with) death, its subject matter is expounded upon in the book’s non-diegetic text-types – ›prechaoscre(m)atoric‹ epigraphs, the brief introduction »What is Entropy?«, as well as the appendix, »A Short History of Entropy«. Ironically, the conceptually and aesthetically form-giving element on the visual, linguistic, and narrative level is the evolution of entropy. Originally a unit of measurement in physics, entropy pertains to the degradation of energy; in everyday parlance, however, the term usually amounts to a vague synonym for ›disorder‹. Artistically, the book constitutes an exploration with images and words of the questions: How can entropy be approached from outside of science? What forms does it take in the natural and communicative processes that surround and guide us, and how does it affect human beings and their need for meaning? In diagnosing the profound tendency of all things toward a state of disorder, what exactly is the status of the observer who formulates this diagnosis? Finally,

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how can these questions become more than just a topic to be ›talked about‹, but made palpable and productive in aesthetic, poetic, and narrative processes? In order to sharpen these questions and understand Chaoscre(m)ator’s anamorphic approach to answering them, it is necessary to establish the phenomena involved. As a starting point, this is only fitting since Ilya’s quest to be reunited with his lost love and find a ›cure for entropy‹ is structured to no small degree by its scientific history, which the book presents in part allegorically. The protagonist’s journey leads through steampunk-inspired clockwork cities, icy deserts, and worlds governed by statistics, to cybernetic harbor taverns from which he sets sail for microscopic primordial soup oceans, and to galactic observatories that allow him to gaze into the endless reaches of space. On his journey Ilya is joined by an animate steam-engine and a mathematically minded lizard and encounters a variety of eccentric characters who teach him about entropy.

II.1. Thematic Patterns of Chaoscre(m)ator: A Short Histor y of Entropy 19th Centur y: The Beginnings of Thermodynamics For our purposes, the history of entropy and by extension Ilya’s journey begins in the first half of the 19th century, at the height of the industrial revolution.3 Driven by a fascination with steam engines, the individual efforts of scientists and engineers across Europe brought about the birth of thermodynamics, the branch of physics dealing with the properties of energy and its transformations into electricity, work, and heat. The First Law of Thermodynamics holds that energy can neither be created nor destroyed, and thus remains constant. This promise of conservation, though, was dampened through the research of French engineer Nicolas Sadi Carnot and William Thomson, the later baron of Kelvin, who eventually established that in any transformation, a certain amount of energy is inevitably and irreversibly ›lost‹ to the environment in the form of low-energy heat. Looking for a fitting term for the measure of this loss and erroneously interpreting ›energy‹ as meaning ›work content‹, Rudolf Emmanuel Clausius in 1850 coined the pseudo-Greek neologism entropy to refer to the ›transformational content‹. Clausius translated this loss into the mathematical formula of what would become known as the Second Law of Thermodynamics: dS = δQ/T. That is, the change of the entropy of a system (dS) is equal to the energy transferred as heat (δQ) divided by the absolute temperature (T) at which the transfer takes place (cf. Atkins 2010: 47). From a human perspective, the consequence derived from these two laws is rather bleak. The quantity of energy in the universe is constant; however, in 3  |  For a comprehensive discussion of the evolution of the Second Law across disciplines, see Freese 1997; for a scientific introduction, see Atkins 2010.

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every natural process, in every exchange, free energy is qualitatively ›degraded‹ by being transformed into bound energy, into heat dissipating in space. Consequently, at some point all free energy in the universe will have been transformed into bound energy, and all heat differentials will erode. Everything is thus tending toward a state of maximum entropy and relative coldness – a state that Hermann von Helmholtz called the heat-death of the universe. Rather than the Judeo-Christian Apocalypse, it was now entropy that, in Arthur Eddington’s memorable phrase, provides the »arrow of time«. Slowly but inexorably, Newton’s clockwork universe is running ever down and down ’til all processes of nature cease and life ends – a state that, by the assertion of the Old Ilya of the narrative frame, seems to have been reached as »the tick has stopped a-tocking, time running out«. With von Helmholtz’ projection, the Second Law thus became a »cosmic memento mori« (Arnheim 1971: 9), the original source of all corporeal and mental decay. Its implications put the Second Law at odds with the predominant zeitgeist; after all, Darwin’s theory of evolution and the rapid innovation of the industrial revolution seemed to promise the opposite of continuous decline. In the few instances where the Second Law found its way into other disciplines, it was often interpreted as a way to rationalize a generally pessimistic image of history in works such as Oswald Spengler’s Der Untergang des Abendlandes and Henry Adam’s The Degradation of the Democratic Dogma (cf. Freese 1997: 164-171). On his Cosmo-journey, Ilya attempts to find a compelling argument against the Second Law’s universality. Voices of opposition, for one, were heard from the humanities and social sciences, including such notable thinkers as Herbert Spencer, Henri Bergson, and Friedrich Nietzsche. Initially led as he is by principles of natural science, Ilya remains skeptical of the philosophical arguments he encounters. In physics, the most influential attempt at refuting the Second Law came in a thought experiment by James Clerk Maxwell. Maxwell imagined a container filled with a hypothetical gas and divided into two compartments. Based on the varying internal energies and speeds of molecules within the gas, he posited a kind of ›trapdoor‹ between the compartments and appointed a ›doorkeeper‹, whose job it was to admit through only the molecules moving at faster speeds. Thus it would separate the slow-moving, low-energy gas molecules from the fast-moving, high-energy molecules. The effect would be that of a perpetual motion machine of the second degree; whereas the temperature in the first chamber is lowered, the temperature in the second chamber is raised. Hence, without performing any work, it should be theoretically possible to create the thermal disequilibrium necessary to fuel an engine. While Maxwell later conceptualized his doorkeeper more in the form of a valve, much to his chagrin, his anthropomorphized, anti-entropic entity achieved notoriety after a remark by Kelvin as »Maxwell’s Demon«, becoming a scientific myth much like the

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philosopher’s stone had been to alchemy. »Like guardians of portals to other realms in ancient myths, the Demon is a liminal figure who stands at a threshold that separates not just slow molecules from fast but an ordered world of will from the disordered world of chaos.« (Hayles 1994: 43) Abb. 3: Steampunkesque departure

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20th Century: Disorder, Information, and Other Metamorphoses The demon would occupy the world of physics and information theory well into the late 20th century to be exorcized time and again, more or less decisively. In Chaoscre(m)ator, Ilya and the living steam-engine Carnot seek out this rumored creature not bound by the Second Law, which here is presented as a quasi-Lovecraftian entity called Shub Krelcsemaj guarding the ravine between two distinct realms. This ›unlikely passage‹ reflects the way Maxwell’s thought experiment paved the way for a shift from the level of classical to statistical thermodynamics. Following the path Maxwell had prepared, the Viennese physicist Ludwig Boltzmann reconceptualized the entropy of an isolated system as proportional to the logarithm of the probability of certain microstates within the macrostate of that system. Depending on individual variables such as the size and temperature of the system, say a container holding a gas, there is a limited number of possible microstates, and the higher this number is, the less likely one is to randomly predict a microstate. »This increased uncer-

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tainty of the precise energy level a molecule occupies is what we really mean by the ›disorder‹ of the system, and corresponds to an increased entropy« (Atkins 2010: 53). While the organization of molecules in a more ordered state is theoretically not impossible, it is statistically virtually infinitely improbable. Harry A. Bent expressed as much in a wonderfully graphic analogy, which finds its reflection in the alternately statistics-obsessed and poetically minded simians Ilya and Carnot encounter after escaping the demon. »At room temperature [...] conversion of a single calorie of thermal energy completely into potential energy is a less likely event than the production of Shakespeare’s complete works fifteen quadrillion times in succession without error by a tribe of wild monkeys punching randomly on a set of typewriters« (Bent 1965: 29). Another famous analogy is that of a child’s playroom, which, as time progresses will tend towards a state of maximum disorder simply because there are infinitely more arrangements of toys, books, clothes, etc. that would be called disorderly than arrangements we would call orderly (cf. Bateson 2000a: 3-8). While the latter example raises the question whether order is something found or invented, an attribute of the objects themselves or an attribution of the human mind, it should not be forgotten that such terms as ›order‹, ›disorder‹, ›chaos‹, ›structure‹, or ›complexity‹ in physics and chemistry often mean something else than in everyday speech. As Rudolf Arnheim argues, this is only natural: »Order is a prerequisite of survival; therefore the impulse to produce orderly arrangements is inbred by evolution« (Arnheim 1971: 3). Conversely, in statistical thermodynamics, the term ›order‹ simply applies to the probability of the microstates of a system. In the words of Max Planck, Boltzman’s work made »the hypothesis of elementary disorder [...] the real kernel of the principle of increase of entropy« (Planck 1915: 50). He also extended Helmholtz’s vision of the heat-death of the universe by the dimension of complete chaos. Following the shift from bulk mechanics to statistical mechanics, a second momentous transformation of the Second Law took shape in a kind of »linguistic turn« (Freese 2006: 30) from energy to information. In 1949, Claude E. Shannon published »A Mathematical Theory of Communication« (cf. Shannon 1998). In this treatise dealing with problems of encoding and transmitting data, Shannon linked the measure of information to Boltzmann’s conception of statistical entropy. This connection had had its subtle precursors in the thought of Maxwell and Boltzmann himself, and was made explicit by Leó Szilárd, who reinterpreted Maxwell’s Demon as a sort of information processor. Szilárd found that the demon had to conduct some kind of observational measurements and remember which molecules had to be admitted through and which held back. Such measurements, he argued, would necessarily generate more entropy than could be saved by the demon’s sorting operations (see ­Hayles 1994: 44-5). Later contributions showed that, indeed, the calculations

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and information storage would finally consume energy at the latest stage with the irreversible erasure of the stored data. »So the demon will need energy to erase its memory and this energy is what pays the entropy bill of the system under the counter, so to speak. The conclusion is that information is a physical phenomenon, subject to the laws of thermodynamics« (Floridi 2010: 65-66). Shannon provided a mathematical basis for the connection of information and entropy. Aiming to measure »how much information is ›produced‹ by such a process [of data communication], or better, at what rate information is produced«, he suggested »quantities of the form H = – Σpi log pi [...] as measures of information, choice and uncertainty«, and pointed out that the form H could be identified with »entropy as defined in certain [namely Boltzmann’s] formulations of statistical mechanics« (Shannon/Weaver 1998: 48, 50). In Shannon’s equations, which are isomorphic to Boltzmann’s, the measure of information is simultaneously the measure of entropy. From a cultural perspective, Shannon’s conjunction of entropy and information is complicated by the fact that it seems counterintuitive, as information would appear to be the opposite of disorder [Lat. informare – to (give) form, organize]. Gregory Bateson famously described information as »a difference which makes a difference« (Bateson 2000b: 459), yet while in fact today information is generally defined as an amount of wellformed data that is meaningful within the semantics of its system (cf. Floridi 2010: 20-21), information in MTC neither has to be ordered nor is its meaning of any concern. In contrast to the thermodynamic view of Léon Brillouin in his discussion of Maxwell’s Demon, Shannon’s concept applies to potential, rather than actual information (see Hayles 1994: 58-9). From Brillouin’s perspective, the information of a system is antiproportional to its entropy; conversely, Shannon does not care about what is actually said, but about what could be said, treating information as »a measure of one’s freedom of choice when one selects a message« (Shannon/Weaver 1998: 9). The difference between Brillouin’s and Shannon’s views mathematically can be resolved by the simple change of a sign. Sometimes, they are even conjoined as in the work of Norbert Wiener, the father of cybernetics (Gk. kybernétes – steersman, navigator), who posited that »Messages are themselves a form of pattern and organization. [...] Just as entropy is a measure of disorganization, the information carried by a set of messages is a measure of organization. In fact, it is possible to interpret the information carried by a message as essentially the negative of its entropy, and the negative logarithm of its probability. That is, the more probable the message, the less information it gives. Clichés, for example, are less illuminating than great poems.« (Wiener 1988: 21) That messages may lose order and information in transmission is an analogue to the loss involved in the thermodynamic transformation and exchange of energy. Wiener thus calls it »the cybernetic form of the second law« (ibid.: 78).

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In Chaoscre(m)ator, these arguments are recounted and debated, more or less cryptically, by Brillo Hannson and Viennar, the two inhabitants of the harbor tavern, »Mrs. Navigator«. Through the gates opened by Boltzmann and Shannon, entropy made its way into such various disciplines as genetics, economics, geoscience, systems theory, and the science of complex adaptive systems. Given the dramatic metamorphoses it underwent in a mere 150 years – the emotional reactions, far-reaching hypotheses, and bold thought experiments it inspired in artists, historians, philosophers, and of scientists of all shades and disciplines, and the momentous implications it has on »why anything – anything from the cooling of hot matter to the formulation of a thought – happens at all« (Atkins 2010: xii) – it is not hard to grasp the attraction the Second Law and its central notion of entropy exert. To the anamorphically minded artist, it provides both a rich history and potentially high stakes, the opportunity to deal with matters of life and death, as well as the gateway to engage questions ontological, epistemological, spiritual, and ethical.

II.2. Narrative and Poetic Layers: Forms, Genres, and (Re-)Arrangements Taking seriously the implications of the Second Law, the project of Chaos­ cre(m)ator must appear paradoxical, even foolish; for an accurate rendering of the effects of entropy in terms of language and story, the whole should appear as either wholly, or gradually intensifying linguistic gibberish from the single morpheme to the sentence level and upwards to the entirety of the tale; visually, it should progress from distinct forms to undifferentiated gray blots. To do so, while conceivable, would ultimately defeat both the telling of an engaging story and the rendering intelligible (consciously rather than just affectively) the workings of the Second Law. Visually, the Cosmoscreator series has reflected this difficulty since its inception. In its characteristic wild play of dazzling, overwhelming, wimmelbook-like black and white shapes that upon close inspection yield unsuspected details and concrete figures, it owes more than a little to the science of chaos and the sets of Benoît Mandelbrot’s fractal geometry.The fractals are simultaneously image and metamorphosis, existing between the poles of irrepresentable chaos and structuring order. In them, anamorphosis is effective as ›structure exemplaire‹ (cf. Neumann 1998: 417). When it comes to language and narrative, however, these problems are more fundamental. Whether we articulate our thoughts orally or literally, whether they unfold as sound waves or black letters on white paper, to be understood as ›meaningful‹, our speech depends on a more or less correct syntagmatic sequence and combination of individually meaningless letters to phonemes to words and sentences. Essentially, the very nature of language is antithetical to

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disorder. To do their work, language and narrative rely on a certain degree of order. It may be challenged, disrupted – but never abolished. Echoing Maxwell’s assertion that »confusion, like the correlative term order, is not a property of material things in themselves, but only in relation to the mind which perceives them« (Maxwell 1878: 220), Heinz von Foerster argues that order is not found, but invented and points out that »the amount of order, or of complexity, is unavoidably tied to the language in which we talk about these phenomena« and that »in changing language, different orders and complexities are created« ­(Foerster 1984: 179). In addition to its thematic treatment of entropy, Chaoscre(m)ator thus ›disorders‹ the flow of its own narrative by changing, from time to time, the parameters of its articulation, its language. In doing so, it creates new complexities. To at least cursorily discuss some of these spheres is the objective of the remainder of this subchapter. Linguistically, one of Chaoscre(m)ator’s text’s prominent features is its heteroglossia. Not only do characters adopt different varieties and styles of one linguistic code, the language frequently changes entirely, sometimes mid-sentence. Apart from the predominant German, the text heavily features English, as well as a sprinkling of words and sentences in French, Spanish, Finnish, Swedish, Japanese, Thai, and binary code. To readers unfamiliar with these semiotic subsystems, such heteroglossic moments will present ›noisy‹ disruptions in the flow of the language. Only by doing some research do sentences such as the Thai »Kid teung mak mak kab« (»I miss you very much«) or the Japanese »Sumimasen, ima nan-ji desu ka?« (»Excuse me, what time is it?«) become interpretable as relating to the emotional state of the protagonist or the overall theme of ›time running out‹, respectively. Only when energy is invested into work does the apparent chaos become meaningful. These exemplary moments intensify the processes of reception involving any text in any language, as well as the dynamics between writer, text, and reader. Depending on what perspective is assumed, the reader both discovers and (re-)invents the order and meaning of the text. Another element bearing meaning would be the names of the characters, some of which – like Carnot the steam engine or Szilard the lizard – are straightforward tips of the hat to the influential thinkers in the history of the Second Law, while other names have been fused into portmanteaus, are presented as anagrams, or partial translations. As indicated above, a certain degree of order is necessary for language to work its charm while the aesthetic representation of disorder demands that the order inscribed in syntax and down to the grapheme be violated. Apart from the occasional involuntary typo or misplaced hyphen, the text of Chaoscre(m)ator is thus riddled with many deliberate mistakes, such as letter transposition, metatheses and spoonerisms, or analocuthic sentences. Such formal mistakes and errors are by design, a reflection of the text’s content. Other stylistic devices used prominently are a variety of tropes – similes, metaphors, synaesthesia, personification

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– as well as frequent use of portmanteaus, onomatopoeia, and the kind of playful neologisms that are part of the Cosmoscreator tradition (cf. www.cosmoscreator.de [29.05.2015]). Examples would be »spekuflanieren«, combining »to speculate« and the French loanword in German for »to stroll«, or »illusplodieren«, combining »to illustrate« or »illuminate« with »to explode«, or Ilya’s exclamation »Schnorfmuck und Puseblitz!« which formally and contextually can be equated to the German »Potzblitz und Donnerwetter« or the English »Zounds!« Where they work, the effect of these morphological deviations is to be alien enough to unsettle and create a sense of a world different from our own, while yet being familiar enough to yield their meaning. The overall narrative partakes in a variety of genres that constitute parts of the overlapping perspectives of the text; its subject matter identifies it as science fiction, but it also contains humorous, satirical, and grotesque elements. Its array of eccentric characters, talking animals, machines, and fabulous creatures – many of them inspired by the scientists that shaped the history sketched above – its wondrous locales, as well as the fantastic nature of some of the events portrayed are evocative of the conventions of the fairy tale. So, too, is the »once upon a time«-formula of the embedded narrative, even as the footnote reflecting on the opening line self-consciously suggests altering it to »n-times at time t in place a«. Yet the most important story template is that of the journey. Formally the movement of the text and the movement of the characters are one; but what type of journey is this? On the one hand, the twofold motivation for Ilya’s search for his lost love and a cure for entropy clearly identifies it as a quest, by which it can be intertextually connected to Kundrycreator (Cosmoscreator III), and its Parsifal analogue. Concurrently, a mythical hero’s journey pattern is at work, complete with an implied call to adventure, magical helpers, wise mentors, threshold guardians, and temptations of giving up as signified by Ilya’s own, slowly cooling heart. On a more personal level, it resembles a story of initiation, set off by the profound experience of death and characterized by a gradual loss of innocence for experience in which the three parts of the story roughly correspond to Arnold Van Gennep’s (1960) tripartite ritual pattern of separation, transition, and reincorporation. As Ilya seems to end up a lonely old man whose boon of knowledge is rejected by his people, the Apocapulkopians, both his initiation and the hero’s journey apparently end in defeat: »Waxmell had failed«. Finally, since Ilya is educating himself on his journey, on which he ages from a child to an old man, and since he is collecting and arranging his knowledge in a book called the Entropologia Poetica, one could even identify in the tale the rough scaffold of a Bildungs- or Künstlerroman. The text is divided into three parts. Each part begins with a narrative frame set in a distinct arabesque font and told in first person and present tense as opposed to the predominant authorial perspective and past tense of the embedded narrative proper. Genre conventions continue to be mixed, expectations of

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order thwarted. The first part »1. Act: Afterglow« hints at a drama, yet the text is in prose, while the image of an ›afterglow‹ as opposed to a burning fire or the coming dawn suggests not beginnings but imminent endings. The second part’s title, »2. Canto: Approaching Equilibrium«, suggests the poetic mode of Dante’s Divina Comedia or Byron’s Don Juan. The text at least moves in this direction as the pair of Ilya and Carnot encounter Boltzenius Bartwig, who will introduce them to the notions of statistical mechanics. Bartwig speaks in crude rhymes, broken sonnets, and haikus, which infects the language not only of Ilya and Carnot, but also of the narrator, whose prose, while visually retaining its prosaic appearance, temporarily switches to rhymes and meters reminiscent less of Byron or Dante than of Dr. Seuss or Wilhelm Busch. Partially set in a harbor tavern, the following scene then ironically delivers the drama promised by the title of the first part, complete with stage directions. Noise from the munching of food and backroom shanties distorts or drowns out the characters’ words to emphasize the degradation of information in communication, or informational entropy. Finally, »3. Präludium, Or Total #?@!ing Chaos, Mon Amour«, emphasizes the idea of chaos not only in its mixture of Latin, English, and French, but also in containing a kind of personal address to an implied beloved alongside an act of (anonymous) censorship. In contrast to the first part’s »afterglow«, the text now promises something set before the beginning of something else, even as Ilya’s life and journey seem to be drawing to a close. Stylistically, the narration shifts between scenic and panoramic presentation and makes use of a variety of techniques ranging from internal monologue and free indirect discourse to occasional shifts in the tenses used, often switching from past to present tense when the action becomes more chaotic. The frame narrative sections are invested with stream-of-consciousness narration that noticeably intensifies with each section, switching languages and codes more frequently and progressively eroding the rules of grammar. As narrator, the first frame casts an experiencing-I meditating upon »last thoughts in the inkwell, last drafts, last lines, last glances of my picturework«, and thus hints at the possibility that that which follows may be the narrative of an implied author/ reader. The second frame then provides reason to identify the consciousness of the frame with that of »old Ilya« himself, which potentially makes the narrative the Entropologia Poetica of Ilya’s latter days, himself the failed author of his own tale. Though Ilya is as much a scientist as an artist, this is in keeping with the Künstlerroman dimension of the story. Read this way, the three frame sections chronicle the progressing disintegration of Ilya’s mind as he is desperately rummaging his work for any last-ditch effort at cheating death, or respectively entropy. As the final part of the embedded narrative begins likewise with present tense, first-person narration similarly ›chaotic‹ as the stream of consciousness of the frame, it would then seem that the frame narrative has collapsed into the embedded story, that the narrated time has caught up with the time of narration.

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Lines between author, reader, and creation, diegetic and non-diegetic elements are thus consistently blurred, the text achieving a self-reflective dimension. One part of it is the narrative’s candid intertextuality. Naturally, Chaoscre(m)ator openly draws on the work not only of the thinkers discussed above; it also references or directly quotes amongst others writers such as Oscar Wilde, Cormac McCarthy, Herman Melville, H.P. Lovecraft, T.S. Eliot, Marcel Proust, Jakob Böhme, and Lewis Carroll, musical artists like Tom Waits, Daniel Gildenlöw, and King Crimson, and contains pop-cultural references to Pokémon, Twilight, and video games like The Secret of Monkey Island. Elements such as the extradimensional bag of dei ex machina that Ilya receives are as much a part of this dimension as are the text’s footnotes. The latter not only serve as a superficial signifier of scholarliness, but are not as completely heterodiegetic in nature as one would assume; partly educational, partly humoresque, they provide further information or comment on certain ideas or concepts as well as events of the action, some of which lie in the future or past of the text, or even entirely outside of it. In addition, Chaoscre(m)ator features a number of apparently heterodiegetic text types, such as epigrams, a prologue, and an appendix containing a short essay on the history of entropy, a glossary, and a bibliography. Upon further examination, though, even these texts cannot be said to be entirely separate from the narrative proper, as the prologue is dedicated to some of the story’s themes, primarily the dressing in warm clothes and the consumption of pastries, and the glossary, apart from defining real-world terms such as ›cybernetics‹ or ›system‹, also contains the diegetic neologism ›philosmatic‹.

III. C osmo -C onclusion As we have attempted to demonstrate, many conceptualizations of entropy and varying perspectives on the matter have influenced the tale of Chaoscre(m)ator. From an artistic point of view, though, few have been as influential as the work of Norbert Wiener. By opening up the »intriguing possibility of relating a given state of language to the concomitant state of the world« (Freese 1997: 194), he directed the attention of his readers towards potential social, artistic, and ecological implications of the Second Law; thus, the act of writing, of telling stories becomes an anti-entropic act. As long as Scheherazade can yet invent new fairytales to tell, the 1002nd night and the cold dawn of entropy have not yet come. At the same time, one should be aware that the relationship between order and disorder is not a dichotomous one, but rather asymmetrical, as the attribution of disorder can only be made with the imperfect knowledge of an observer speaking from a perspective of (relative) order. As Edgar Morin argues in The Fourth Vision – On the Place of the Observer:

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Abb. 4: Wallpaper’s world XIV

© Anna-Sophie Jürgens. »We have to look at the way we understand order, the way we understand disorder, and envisage ourselves looking at the world, that is, include ourselves in our vision of the world. […] We do not know if randomness is an objective disorder or simply the product of our ignorance. […] The object of knowledge is not the world, but the community Us/ World, since this world is part of our vision of the world, which is itself part of the world. […] Our real world is that of a universe in which the observer will never be able to eliminate disorder and for which he shall never be able to eliminate himself.« (Morin 1984: 100-106)

To be successful, Chaoscre(m)ator finally relies on the readers’ conscious reception. This discussion has taken the shape of directing the anamorphic gaze at the world/object that is Chaoscre(m)ator and thus open up some of its dimensions. Needless to say, it contains – like a Kunstkammer – more than we can address here, and even those extended spheres of meaning are dwarfed by the plethora of potential meanings and new orders that the worlds contained in each reader may bring to it. If there is one central thought driving it, it must surely be this. Thus, the Cosmos defies the normal privileging of the ›one dimensional‹ book. By means of its anamorphic structure, this volume asks like all Cosmoscreator volumes what a picture is and finds that the answer would be unthink-

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able without extended reflections on texts, without an interaction of visual and verbal representation.4 Each Cosmoscreator constructs image-text combinations that range from the absolutely disjunctive to the absolutely synthetic identification of verbal and visual codes. In order to perceive the image, one must relinquish any attachment to a centralized viewpoint and ›physically‹ move through the book. In this way the Cosmoscreators challenges the same techniques as anamorphosis, which challenge perception, cognition, and interpretation, and draws the attention to a play of perspectives and a diversification of the real. It is a model of perception obviously ensconced between realism and the fantastic. By both celebrating and transforming anamorphosis into a method, the Cosmoscreator makes an invitation to trust both curiosity and doubt. Thus, it counteracts the reader’s absorption in the spectacle before his eyes. And thus the Chaoscre(m)ator’s narrative closes, not with Ilya’s death or apotheosis, but with the opening of the new worlds contained in the reading observer. »You never know who’s watching«. Abb. 5: Wallpaper is watching

© Anna-Sophie Jürgens.

4 | Cf. »[a]vec l’anamorphose, le signifiant lui-même est attaqué, il se renverse sous nos yeux« (Lyotard 1971: 378f.) [in the case of anamorphosis, the significant itself is attacked, it turns over right in front of us; transl. ASJ].

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»In einer ganz besonderen Weise sind performative Äußerungen unernst oder nichtig, wenn ein Schauspieler sie auf der Bühne tut [...] oder wenn jemand sie zu sich selbst sagt.« (A ustin 2002: 43)

Dieses Zitat von John L. Austin erscheint als Projektion auf der frontalen Leinwand zu Beginn der Schlusssequenz der Lecture Performance How to do things with Words 2013, die als Gemeinschaftsarbeit der Verfasser sowie Cyrill Lims und Dana Pedemontes im Rahmen der Tagung LaborARTorium präsentiert wurde.1 Auf der ›Bühne‹ eines ganz gewöhnlichen Seminarraums der LMU München operiert der Sänger und Sprachperformer Javier Hagen währenddessen mit einer Live-Kamera: Er fängt ein klassisches akademisches Vortragssetting aus der Perspektive des Referierenden ein, inklusive Rednerpult mit aufgeklapptem Laptop und zusätzlich beigestelltem Notenpult. Seine Aufnahme wird live auf die Leinwand übertragen und überlagert die Schriftprojektion, die dadurch zur Untertitelung mutiert. Wie zufällig schweift der Blick der Kamera 1 | Die Lecture Performance wurde darüber hinaus am 28.11.2013 bei der Tagung digital stage an der ZHdK Zürich präsentiert. Die Abbildungen in diesem Beitrag sind Videostills aus Dana Pedemontes Videodokumentation dieser Präsentation in Zürich.

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ins Publikum, einzelne Zuschauer erscheinen auf der Projektionsfläche und werden dadurch für einen kurzen Moment unfreiwillig selbst zu Darstellern (Abb. 1). Hagen schwenkt die Kamera zurück und filmt die Leinwand ab, das Wort ›sagt‹ wird zu einem endlosen Feedback aufgefächert. Während er das Flimmern der Projektion ablichtet, wird die Live-Übertragung unmerklich in eine im Vorfeld erstellte Aufnahme überblendet. Hagen dreht die Kamera langsam wieder in Richtung der vollbesetzten Publikumsreihen, die vorproduzierte Videosequenz vollzieht den Schwenk im selben Tempo nach – auf der Leinwand erscheint der leere Lesesaal (Abb. 2). Abb. 1 und 2: Perspektivwechsel und zeitliche Entkoppelung

Videostills: Dana Pedemonte.

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Diese durchaus ›unernste‹ Schlusspointe thematisiert auf spielerische Weise verfremdende trompe l’oeil-Momente von Perspektivwechsel und zeitlicher Entkoppelung, die für den Einsatz von Videotechnik auf der Bühne des zeitgenössischen Theaters charakteristisch und mithilfe des Computers leicht zu erzeugen sind. In einem Reigen von sieben videotechnischen und elektroakustischen Versuchsanordnungen stellen wir mit unserer Lecture Performance Fragen nach den möglichen Rezeptionsverschiebungen im Theaterkontext, die auf den Einsatz des Computers im Feld zwischen Unmittelbarkeit und medialer Vermitteltheit zurückgehen: Wie beeinflussen unsere Medienerfahrung und -kompetenz heutzutage die Wahrnehmung theatraler Ereignisse? Gelten hier noch dieselben Gesetzmäßigkeiten wie zehn, zwanzig Jahre zuvor? Angesicht der explosionsartigen technischen Fortschritte der jüngsten Zeit im Bereich neuer Medien vermuten wir einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel bei der Perzeption von Live-Ereignissen allgemein und von Theater im Besonderen.

D enkhorizont Der Titel unserer Lecture Performance verweist auf Austins gleichnamige Vorlesungsreihe How to do things with Words (Harvard University, 1955), in der er darlegt, dass eine sprachliche Äußerung immer eine Handlung darstellt und Zustände in der sozialen Welt verändert. Austin belegt seine These zu Beginn seiner Vorlesung an Beispielen formal gebundener Sprachvollzüge wie in Taufe, Eheschließung und Testamentsvollstreckung. Im Unterschied zu konstativischen Äußerungen, die Dinge in der Welt beschreiben sollen, verändern sie als performative Äußerungen im sprachlichen Vollzug gesellschaftliche Verhältnisse. Entsprechend werden performative Äußerungen nicht mit den Kategorien von »wahr« oder »falsch« gemessen, sie können nur »glücken« oder »misslingen« (Austin 2002: 35-36). Austin schließt in dem eingangs angeführten Zitat vergleichbare Performativa auf dem Theater bewusst aus seiner Theorie aus, da das Gelingen von sprachlichen Handlungen von sozialen Regeln abhängig ist, die im Theaterkontext suspendiert werden. Die Entscheidung für unsere Performance, die in den sechziger Jahren erstellte Transkription seiner zweiten Vorlesung als Textmaterial zu nutzen, reagiert darauf, dass Austins Theoreme den Nukleus einer kritischen Auseinandersetzung bilden, die bis heute anhält. Gegen die »von Austin inspirierte sprachphilosophische Reflexion des Performativen« setzt etwa Sybille Krämer eine kultur- und kunsttheoretische Reflexion des Performativen (Krämer 2004: 19), die in einer »Theorie des Erscheinens« die Korporalität des Performers in den Mittelpunkt rückt: »[N]icht mehr auf dem Sagen, sondern auf dem Zeigen liegt jetzt das Gewicht« (ebd.: 20). Jenseits von Austins »universalisierender

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Performativität«, in der die »Frage, ob die Kommunikation im Medium von Stimme, Schrift, Telefon oder Internet vollzogen wird, gar nicht erst berührt wird« (ebd.: 25), fokussiert die aktuelle medienphilosophische Debatte Parallelen zwischen Performativität und Medialität. Medien symbolisieren nicht nur etwas als Zeichen, sie verkörpern es auch gleichzeitig – und dies egal, ob es sich um »körperliche Ausdrucksmittel« handelt, um »die Darstellungsmodalitäten von Sprache, Schrift, Bild« oder um künstlerische Gattungen »wie Theater, Oper, Film bis schließlich hin zu Computer und Internet« (ebd.: 24). Diese Einsicht greift letztlich auf Marshall McLuhans berühmtes Diktum von der Ineinssetzung von medium und message zurück. Für die Verortung unseres Tuns rund um unsere Lecture Performance bemühen wir mit dem Denkmodell der »Unmittelbarkeit« allerdings einen Begriff, der bereits für die Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt hat. Er bietet sich für einen praxisorientierten Theaterdiskurs insofern an, als er das Verhältnis von Performativität und Medialität in den Kontext einer historischen Rezeptionsdebatte stellt.

U nmit telbarkeit Nach Andreas Arndt meinen wir im alltäglichen Sprachgebrauch heute mit Unmittelbarkeit »eine direkte Beziehung auf etwas oder jemanden, eine zeitliche oder räumliche Nähe. Unmittelbarkeit in diesem Sinne ist Gegenwärtigkeit und Präsenz, die nicht durch etwas Anderes verstellt ist.« (Arndt 2013: 7) Mit dieser grundlegenden Definition lässt sich im Hinblick auf die Darstellenden Künste an zwei Überlegungen anknüpfen. Zum einen wird die Unmittelbarkeit als Betroffen- oder Ergriffensein in der Rezeption erlebt. Die Wahrnehmung findet in der subjektiven Erfahrung des einzelnen Rezipienten statt. Zum anderen schreibt sich die »Unmittelbarkeit lebendiger Darstellung« (von Eichendorff in ebd.: 8) in die Darstellungsweisen ein und ist als künstlerisches Material einem steten Wandel unterworfen. Das Erleben der Unmittelbarkeit bleibt nicht nur subjektiv, sondern darüber hinaus letztlich der Erfahrung von Kunst immanent und kann daher in einer Befragung der Rezeption (z.B. im Sinne einer Publikumsbefragung) auch nur unzureichend eingefangen werden. Deshalb haben wir uns an Stelle z.B. einer empirischen Datenerhebung auf einen kunstimmanenten Forschungsprozess konzentriert, einer Überprüfung und Weiterentwicklung der eigenen künstlerischen Mittel. Eine wichtige Rolle in der bisherigen Zusammenarbeit der Verfasser spielen szenische Verfahrensweisen, die auf Mauricio Kagels instrumentales Theater der 1960er Jahre zurückgehen: Kagel stellt in Arbeiten wie Sur scène (1962), Match (1964), Phonophonie (1965) oder später auch in Staatstheater (1967/70) Vorgänge des Musizierens und der Klangerzeugung als performative Akte aus und wirkt darin bis heute stilbildend. Nach wie vor nutzt das experimentelle

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Musiktheater die scheinbare Unmittelbarkeit der Musiziergeste als theatrales Mittel. Mithilfe des Computers als intermedialer  Schnittstelle zwischen Sprache, Musik, Video, Licht und Bewegung werden allerdings vermehrt Momente produktiver Irritation erzeugt: Die digitale Erweiterung des analogen Instrumentes auf der Bühne suspendiert nicht nur die zeitliche und räumliche Koppelung von Klang und Geste. In der live-elektronischen Praxis kann ein Sprachlaut auch einen beliebigen anderen medialen Impuls steuern. So kann z.B. eine bestimmte akustische Sequenz eingefangen werden, um einen Lichtkey zu triggern oder die Verfremdung eines Videos zu steuern. Durch realtime processing wird die Kohärenz zwischen Erzeugung und Ergebnis gänzlich aufgebrochen: Wir können unseren Augen und Ohren buchstäblich nicht mehr trauen. Vor diesem Erfahrungshorizont drängen sich uns folgende Fragen auf: Welche Darstellungsmittel konstruieren/dekonstruieren die unmittelbare Präsenz des Vortragenden in einem performativen Setting? Und wie bildet sich der aktuelle Stand der künstlerischen Medien in diesem Setting ab? Als Forschungsabsicht konnten wir ferner schon im Vorfeld eine Hoffnungshaltung formulieren: Die in der Versuchsanordnung angelegte Feedbackschleife aus Probe, Diskussion, Präsentation, Probe usf. sollte dazu führen, vermeintlich feststehende Begriffe für uns ins Wanken zu bringen, denn Unmittelbarkeit ist keine wohl definierte Terminologie, sondern beschreibt »Konzeptionen, die Annahmen über Relationen enthalten« (ebd.: 10).

The ater als L abor ? Ausgehend von Heiner Goebbels’ Unterscheidung der Funktionen des Theaters als ›Museum‹ einerseits und als ›Labor‹ andererseits beschreibt David Roesner den Arbeitsprozess im ersten gemeinsamen Musiktheaterprojekt der beiden Verfasser dieses Aufsatzes2 als eine »Ausdehnung der musealen Konventionen ins Laborhafte« (Roesner 2010: 223). Das Labor wird hier als Ort des Experiments und des Neuen mit den Begriffen »vorausschauend, unvorhersehbar und ergebnisoffen« charakterisiert (ebd.: 221). Hinter konkreten Arbeitsstrategien sowohl auf der Ebene des Schreibprozesses als auch während der Probenarbeit sieht Roesner die Utopie eines enthierarchisierten Musiktheaters aufscheinen. In seiner Analyse bleibt allerdings »das freie Experimentieren und Laborieren im gegebenen Rahmen der institutionellen Förderungen und Forderungen [...] nützliche Fiktion« (ebd.: 231). Das hängt nicht zuletzt mit den Eigenarten dieses Rahmens zusammen. Die Institution des Stadttheaters, von 2 |  Die Produktion trug den Titel Kann Heidi brauchen, was es gelernt hat? (Ein Projekt von Dick/Tesche/Ammann im Rahmen des ›Fonds Experimentelles Musiktheater‹, Premiere 06.06.2008 am Theater Bielefeld).

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Goebbels – durchaus liebevoll – als »Museum« bezeichnet, sieht sich meist in zwei Rollen: Einerseits soll (zu Recht) das Repertoire gepflegt und als Fundus einer kulturellen Gemeinschaft immer wieder aktualisiert werden. Andererseits steht gleichzeitig das Haus in der Verantwortung als künstlerischer Begegnungsort einer ganzen Stadtgemeinschaft aktuelle gesellschaftliche Themen abzubilden. Enthierarchisierte Arbeitsprozesse, fluide Arbeitsteilungen und Rollenzuschreibungen widersprechen der funktionalen Pragmatik eines Betriebes, der diesem Anspruch durch einen erfolgreichen Output gerecht werden soll. Zwar sind Projekte, die konventionelle Produktionsverfahren ernsthaft in Frage stellen, als geplantes Risiko auch im standardisierten Betrieb durchaus vorgesehen, führen aber meist ein Nischendasein in kleinen Spielstätten. Die Absicht, einen Prozess auf die Bühne zu bringen, ist ferner auch dort nur allzu oft als Euphemismus für ›Risikominimierung‹ zu verstehen: Was nur als unfertiger Versuch auf die Bühne kommt, kann nicht als Werk missglücken! Bewährte Arbeitsweisen in Frage zu stellen, beinhaltet zwangsläufig ein erhöhtes Risiko des Scheiterns. Wenn die Premiere naht, soll der Prozess des Improvisierens (im Sinne der italienischen Wortbedeutung von improvviso, die Herstellung von Unvorhergesehenem) durch einen Prozess des Festschreibens (im Sinne der engl./franz. Begriffe für Probe: rehearsal/répétition, einer wiederholenden Einübung) abgelöst werden, der die künstlerischen Entscheidungen einer Wirkungslogik unterordnet. Aus diesen Spannungen heraus erklärt sich, warum ein Theater als Labor verstärkt in alternativen Produktionsformen erprobt wird, in der freien Szene oder durch die Angliederung an akademische Kontexte. Abb. 3: Laborsituation Bern, Blackbox HKB

Foto: Dana Pedemonte.

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Forschendes Tun auf der Probe und eine die Praxis begleitende Reflexion theaterinterner Diskurse sind zweifellos wichtige Aspekte vieler Theaterarbeiten, zumal im Kontext des experimentellen Musiktheaters mit seinem ausgeprägten Hang zur Selbstbezüglichkeit.3 Die Erfahrung im Umgang mit Mechanismen und Bedingungen konventioneller Theaterinstitutionen lässt uns aber vermuten, dass der Unterschied zwischen einem Theater, das sich als Versuchslabor begreift, und einem Theater, das tatsächlich im LaborARTorium stattfindet, spezifisch genug sein könnte, um Erkenntnisse über die Frage zu gewinnen, wie für uns aus Kunst Forschung wird. Die Einordnung der eigenen Versuchsreihe setzt ein Bewusstsein für die Verschiebung von Arbeitsbedingungen voraus, die sich aus der jeweils gewählten Rahmensetzung ergeben. Der akademische Kontext im vorliegenden Fall führte zu einigen Abweichungen gegenüber Produktionsmodellen, die sich in der (Stadt-)Theaterpraxis für uns bewährt hatten. Insbesondere folgende Punkte rückten unser Vorgehen weiter in den Bereich der künstlerischen Forschung: • Nicht nur die Aufweichung von, sondern ein klarer Bruch mit herkömmlichen hierarchischen Arbeitsstrukturen wird angestrebt: Jeder der vier am Forschungsprojekt beteiligten Player erhält die Gelegenheit, eigenverantwortlich ›seine‹ Versuchsanordnung durchzuspielen, die Zuständigkeit und Verantwortung wechselt in regelmäßigen Intervallen. • Die Zeitdauer der finalen Präsentation wird durch den vorgesehenen time slot der wissenschaftlichen Tagung definiert. • Die Materialauswahl zur Präsentation folgt nicht der subjektiven Entscheidung einer künstlerischen Gesamtleitung, vielmehr wird das zur Verfügung stehende Zeitgefäß annähernd paritätisch auf die Player aufgeteilt. • Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist nicht auf eine pragmatische Arbeitsteilung im Probenprozess ausgerichtet, sondern ergibt sich aus den übergeordneten Fragen des Forschungsprojektes.4 Sie folgt also nicht der Logik des reibungslos-effizienten ›Gelingens‹ eines Arbeitsprozesses, son3  |  Man könnte sogar behaupten, dass die Hinterfragung von Arbeitsprozessen und die Tatsache, dass theoretische Fragestellungen auf der Bühne verhandelt werden für das aktuelle experimentelle Musiktheater konstitutiv sind. So beschreibt David Roesner in Composed Theatre die Selbstreflexivität als historische Veränderung der auf der Bühne verhandelten Thematik: »Opera, for example, is often about human relationships and emotions, love stories, tragedies etc. whereas in Composed Theater, it seems to me, the topic often is the relationship between the two media itself, or the act of the composing, or the question about what constitutes music, composition, or performance.« (Roesner/ Rebstock 2012: 313) 4  |  Die Lecture Performance wurde im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekts Zwischen Konversation und Urlaut zum Sprechakt im

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dern zielt im Gegenteil bewusst auf eine Reibung zwischen Theatermachern und, nach eigener Aussage, ›theaterfernen‹ Aktanten ab. Durch den Blick gleichsam von außen können Dana Pedemonte und Cyrill Lim dem Verfallen in Muster der Theaterroutine entgegenwirken. • Die Wahl der Thematik und der personellen Aufstellung des Teams, inklusive Performer, wird nicht durch die Logik einer Theaterinstitution und ihres Spielplans bestimmt. Dieses partielle Abrücken von arbeitstechnischen Konventionen der Theaterwelt befördert die Fokusverschiebung weg vom künstlerischen Produkt hin zum künstlerischen Prozess im Sinne einer Auffassung von Theater als ›Labor‹. Im Folgenden möchten wir einen Einblick in die Lecture Performance geben, die aus einer Reihung von sieben Versuchsanordnungen besteht, einer Auswahl aus einer weit größeren Anzahl von Sequenzen, die wir zu diesen Fragestellungen im Probenprozess entwickelt haben. Die Darstellung der Performance zielt selbstverständlich nicht auf Vollständigkeit, sondern fokussiert zentrale, aufschlussreiche Momente. Unsere Beschreibung beruht auf Probenmitschriften sowie auf einem bestimmten (Zwischen-)Stand der Laborarbeit in der Retrospektive, nämlich auf dem Moment der Präsentation im Tagungsrahmen. Über die deskriptive Zusammenfassung einiger Fakten hinaus können wir in dieser Darstellung in erster Linie subjektive Erlebnisse einfangen, die hier zwangsläufig in einer Vermischung von künstlerisch-produktionsorientierter Perspektive und wissenschaftlicher Reflexion wiedergegeben werden.

W erkstat t-N otizen Die Szenographie der Lecture Performance ist bewusst anspruchslos gehalten: Rednerpult und Notenständer vor einer Projektionsfläche lassen einen akademischen Vortrag mit flankierender musikalischer Performance erwarten. Javier Hagen tritt auf, stellt sich hinter den Notenständer und beginnt ohne akademische Rituale direkt mit der Rezitation der (zweiten) Vorlesung von John L. Austin. Hagen wird während seines Vortrags gefilmt und die Aufnahme direkt auf die Leinwand hinter ihm übertragen – er spricht also vor seinem eigenen vergrößerten Live-Bild. Den Vortrag des Textes begleitet er mit Gesten, die dem Realismus der akademischen Szenerie entgegenstehen. Diese bedienen sich zwar eines recht weit gefassten Vokabulars rhetorischer Ausdrucksmittel, ihre Verteilung auf den Text folgt aber nicht einschlägigen Regeln. Sie wirken zufällig gesetzt und unterstreichen nicht, sondern konterkarieren. Nach einem Composed Theatre realisiert. Dick, Tesche, Lim und Pedemonte sind in diesem Projekt (Laufzeit 12/2012-11/2015) als künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiter engagiert.

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gespielten Texthänger wiederholt Hagen den gesamten ersten Absatz der Vorlesung. Die Gestenabfolge wiederholt sich exakt bei diesem scheinbaren Neubeginn. Die scheinbare Zufälligkeit ihrer Setzung erweist sich als inszenatorische Festlegung. Tatsächlich sind die Gesten nicht willkürlich, sondern nach einer den Primzahlen folgenden Systematik auf den Text verteilt. Die Verwendung mathematischer Strukturen – als wohlfeiler Topos in der Neuen Musik unter akutem Klischeeverdacht – sollte v.a. subjektive Entscheidungen unsererseits unterlaufen. Der Vortrag entpuppt sich durch die Wiederholung als Inszenierung, genauer gesagt wird eine Probensituation zitiert. Ein akademischer Vortrag wird in einer Vorlesungssituation nicht von vorne begonnen, sondern möglichst nach einer inhaltlichen Zusammenfassung des letzten, wesentlichen Gedankens fortgesetzt. Es geht hier nicht um den Inhalt des Textes, sondern um einen gestischen und sprachlichen Vollzug. Durch unsere Setzung wird das Textmaterial als Theatertext kenntlich gemacht. Die detailgenaue Konzertierung von Sprachlaut und Geste nach einer abstrakten Logik treibt den Darsteller immer wieder in Momente der Überforderung, die im vorliegenden Fall eine produktive Qualität entfalten: Die Gesten hindern den Redefluss, es entstehen zum einen rhetorisch sinnlose Pausen, zum anderen werden durch die Koppelung automatisch bestimmte Wörter stimmlich hervorgehoben, die inhaltlich keiner Hervorhebung bedürfen oder diese nahelegen. Diese antifunktionale Reibung zwischen Geste und Sprache nehmen wir als Intensivierung des Live-Erlebens war: Was könnte unmittelbarer wirken als eine Improvisation unter erschwerten Bedingungen, frontal und ungeschützt dem Publikum dargeboten? Hier kommen ferner die Medien ins Spiel: Die Stimme wird durchgehend live verstärkt, tritt klanglich somit zwar technisch vermittelt an unser Ohr, gleichwohl entsteht aber der Eindruck unvermittelter Intimität. Die Mikrofonierung mit einem Headset nahe am Mund des Performers erzeugt die Illusion unmittelbarer Nähe: Wir bekommen auch die kleinste Unebenheit in der Stimme inklusive der Nebengeräusche ihrer Erzeugung mit. Gleichzeitig wird durch die Live-Kamera das Bild des überforderten Darstellers projiziert und durch Größe und Positionierung überhöht. Der Blick des Zuschauers wechselt zwischen Performer und Projektionsfläche hin und her, es kommt zur Oszillation zwischen der semiotischen und performativen Funktion des Körpers (vgl. Mirčev 2011: 42). Obwohl hier keine verfremdenden Effekte per Computer eingesetzt werden, zeigt sich in dieser Eröffnungsszene der Performance das ambivalente Potential der Medien (Elektroakustik und Video): Wirkt der phänomenale Leib des Darstellers wirklich unmittelbarer als sein Konterfei? Wirkt live-verstärkt vermittelter als unplugged?

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Abb. 4: Ablauf mit handschriftlichen Ergänzungen, die während der Probenarbeit eingetragen wurden

Für die darauf folgende Sequenz (Sequenz N°2, s. Abb. 4) verlässt der Performer die Bühne, der verlassene Notenständer bleibt aber beleuchtet. Mit ruhiger Stimme, fast flüsternd reflektiert Hagen aus dem Off seine Performance in der ersten Sequenz. Der Beschreibungstext ist in der dritten Person verfasst, wird aber enggeführt mit einem inneren Ich-Monolog, der uns Einblicke in die Psyche des Performers gewährt. Obwohl die Qualität der Stimmverstärkung identisch zur ersten Sequenz bleibt, wird durch die Subjektivität der Erzählperspektive und die visuelle Abwesenheit des Performers das ›Ohrenmerk‹ verstärkt auf die Intimität der Stimme gerichtet. Im weiteren Verlauf wird die Nähe und persönliche Ansprache suggerierende Klanggestaltung mit einem Videobild gekoppelt, das die Abwesenheit des Körpers hervorhebt: Nach unge-

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fähr der Hälfte des Off-Textes erscheint auf der Projektionsfläche ein Schatten; in einer verlangsamten undeutlichen Überblendung wird eine Videoaufnahme des ersten Teiles projiziert. Obwohl in der ganzen Sequenz keine direkte Begegnung zwischen Darsteller und Publikum stattfindet – sogar die gemeinsame Verortung im Hier und Jetzt steht in Frage, da es sich bei dem Off-Text ebenso gut um eine vorproduzierte Aufnahme handeln könnte –, stellt sich für uns der Eindruck von Nähe her, den das Publikum, nach diversen Reaktionen zu schließen, offenbar teilt. Diese Erfahrung führt uns vor Augen, dass es im Theater anscheinend Möglichkeiten der unmittelbaren Identifikation jenseits eines face-to-face gibt: Hier führt die Fährte weg vom klassischen Denkmodell der obligaten Präsenz bzw. Ko-Präsenz im Theater hin zu einer Theaterrezeption, die sich vermehrt aus Wahrnehmungserfahrungen im Umgang mit den Neuen Medien speist.5 In einer weiteren Sequenz (Sequenz N°6) haben wir die Videoaufnahme der Eingangsszene genutzt, um in einer Art Vexierbild eine andere Form von Anund Abwesenheit in ihrem Verhältnis zur unmittelbaren Wirkung der Performance zu erproben. Der Darsteller wird mit der Video- und Soundaufnahme der ersten Sequenz konfrontiert und erhält die Aufgabe, die rhetorischen Gesten zu spiegeln und den Text der Vorlesung aus dem Gedächtnis möglichst wortgetreu und synchron zur aufgenommenen Rezitation zu rekapitulieren. Wir adaptieren hier eine praktische Übung aus dem Umkreis der Performance Studies,6 die den Unterschied zwischen ›Schauspielen‹ und ›Nicht-Schauspielen‹ erfahrbar machen soll: Zwei Performer stehen sich gegenüber, einer führt Bewegungen aus und der andere bemüht sich, diese akkurat zu spiegeln. Der Versuch des perfekten Nachahmens mit voller Konzentration auf den technischen Spiegelungsvorgang wird als ›Nicht-Schauspielen‹ wahrgenommen, durch eine Verschiebung der Intentionalität kann aber die Behauptung »ich mache jetzt etwas vor« oder »ich mache das jetzt nach« mit ins Spiel gebracht werden. Dadurch entsteht etwas, das der Zuschauer in der Regel als ›Schauspielen‹ wahrnimmt. Entsprechend würden wir das perfekte Nachahmen als bruchlos, direkt, unmittelbar beschreiben und das bewusste Abweichen oder sogar das Mitspielen der Intention »ich mache das nur nach« als vermittelt. Der Vorgang des Nachmachens wird im letzten Fall als Vermittlungsprozess sichtbar. In unserer Versuchsanordnung führt erbarmungslos die Aufnahme. Der Performer ist ihr ausgeliefert und hat eigentlich nur zwei Möglichkeiten 5  |  Ein Beispiel aus der Youtube-Kultur: Das Genre der ASMR Videos operiert mit einem ähnlichen Gebrauch der Stimme, um die Identifikation mit dem nur filmisch anwesenden Gegenüber zu erzeugen. 6 | Beispielsweise am gleichnamigen Studiengang an der New York University in den 1960er Jahre um Richard Schechner und Victor Turner.

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mit der Überforderung durch die Aufgabenstellung umzugehen: a) Er hinkt hinterher, nimmt Fehler, die ihm zwangsläufig durch den Konzentrationsfokus auf Gestik oder Stimme unterlaufen, passiv in Kauf. b) Er setzt der Aufnahme seine missglückte Spiegelung als eigenständige Form – selbstbewusst abweichend – aktiv entgegen und etabliert sie so als autonomen Spielvorgang. Hagen bei diesen zwei Formen des Scheiterns zuzusehen war mit Sicherheit einer der erhellendsten Momente der Arbeit: Obwohl er mit dem Rücken zum Publikum und vor seinem filmisch vergrößerten Alter Ego agiert, entfaltet sein Scheitern auf beide Arten eine frappierende Intensität. Abb. 5: Spiegelübung

Videostill: Dana Pedemonte.

Eine andere Versuchsanordnung (Sequenz N°3) weist Hagens Stimme eine Doppelfunktion als Klangkörper und Medien-Controller zu: Sie wird wiederum per Headset-Mikrofon abgenommen und verstärkt. Gleichzeitig triggert ihre Amplitude eine ebenfalls mit Hagen erstellte Audio-Aufnahme der Austin-Vorlesung. Diese wird für das Publikum stets dann hörbar, wenn Hagen gleichzeitig live seine Stimme erhebt. Er kann sie dabei nicht nur an- und ausschalten, sondern das Echtzeit-Processing der Aufnahme bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Wir zitieren das von Hagen selbst erstellte Script zu seiner Performance: »Durch das Volumen der Stimmeinlagen kontrolliert der Performer sowohl das Abspielvolumen der Sprachaufnahme als auch den damit verbundenen Pitch-Shifter (Tonhöhen­ä nderung), die Abspielgeschwindigkeit des Tonbands wird nicht verändert.

How to do things... Musikalische Aufgaben: a) pointillistische Töne (Funktionsüberprüfung, dass die Software funktioniert) b) allmählich in gehaltene Falsetttöne übergehen (dabei herausfinden, in welchem Textabschnitt sich die Tonbandaufnahme befindet) c) die gehaltenen Töne sukzessive in eine volksliedhafte Melodie übergehen lassen (JIP: Abschied vom Gantertal) d) Melodie etablieren e) den aktuell auf dem Tonband gesprochenen Text auf die Melodie setzen f) allmählich in einen Sprechgesang übergehen g) den Sprechgesang sukzessive auflösen und in ein Simultansprechen zum Tonband übergehen, dabei darauf achten, dass die Intonationen möglichst deckungsgleich sind und so nicht klar zu unterscheiden ist, was live, was eingespielt ist. h) Bei einer geeigneten inhaltlichen Zäsur stoppen.«

Zentral für die Sequenz ist der Prozess einer allmählichen Nivellierung der anfänglichen Gegensätzlichkeit der beiden Stimmen: Die zu Beginn textdeutlich rezitierende Tonbandstimme und die frei-improvisatorisch singende Live-Stimme gleichen sich schrittweise und systematisch einander an bis zur Ununterscheidbarkeit. Dadurch wird der Text schleichend desemantisiert, er mutiert in der wechselseitigen Verschlingung von live und vorproduziert zunehmend zur reinen phonetischen Trägerschicht eines vokalperformativen Geschehens. Die live-verstärkte Stimme, in anderen Versuchsanordnungen soeben noch als Trägerin einer unmittelbaren, linearen Ansprache erlebt, wird hier indirekt als vermittelt markiert. Die körperliche Anwesenheit des Performers wirkt dem zudem nicht entgegen: Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Hagens Mundbewegung und Körperduktus bei der Rezitation und den Klängen aus den Lautsprechern stellt sich in unserer Wahrnehmung am Schluss nicht mehr her – das Spiel von live und vorproduziert führt in diesem Fall zur Entkörperung der Bühnenstimme. Sequenz N°4 schließlich bringt musikalische Vortragsbezeichnungen als Grundlage interpretatorischer Vorgänge ins Spiel. Auf der Leinwand erscheint eine Benutzeroberfläche mit einem Aufnahme- und Wiedergabebutton, der Performer stellt sich hinter das Rednerpult, auf dem ein Laptop eingerichtet ist. Die Projektion entspricht offensichtlich dessen Bildschirmansicht, Hagen bewegt den Cursor und aktiviert die Aufnahme per Mausklick. Er liest musikalische Vortragsbezeichnungen ein, die er mit Bedacht aus einer bereitliegenden Liste auswählt. Der Sprachrhythmus ist stockend, Hagen streut unterschiedlich lange Pausen ein:

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Leo Dick und Tassilo Tesche klagend – oben mit Dämpfer – entschlossen – bebend – besonders kurz – verlöschend – Stimmung ändern – bewegt – antreibend – leise – sehnend – Takt in halben Noten – sprechend – zum Schluss drängend – gelassen – gelassen – gelassen.

Nach der dreimaligen Wiederholung des letzten Begriffes beendet Hagen die Aufnahme. Hagen blickt auf und fixiert das Publikum. Nach einer längeren Pause beginnt er zu tippen, Buchstabe für Buchstabe erscheint in einem Textfeld über dem nun wieder erloschenen Aufnahmebutton. Er nimmt Blickkontakt mit einzelnen Zuschauern auf, versucht, die Blicke zu deuten und in geschriebenen Text zu fassen: gelangweilt, schmunzelnd, neugierig, nachdenklich, durchschaut? geht’s hier wohl um mich? herausfordernd, ertappt, amüsiert, verschmitzt, nicht die Bohne, still beobachtend.

Abb. 6: Geht’s hier wohl um mich?

Videostill: Dana Pedemonte.

Der Performer interpretiert in diesem Fall das Publikum, in einem stillen, aber von allen Beteiligten als intensiv empfundenen kommunikativen Zwischengeschehen unterstellt er Affekte und reagiert auf Veränderungen in der Rezeption seines Textes. Er beendet diesen Vorgang, indem er auf den Wiedergabebutton klickt. Wir haben die Aufnahme zuvor erlebt, die musikalischen Vortragsbezeichnungen werden nun in der gleichen Lautstärke abgespielt, in der sie eingesprochen wurden. Die Stimme des Performers aus dem Lautsprecher, definiert nun gleichsam die musikalische Textinterpretation des Performers: Hagen liest einen weiteren Abschnitt von Austins How to do things with

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Words, beginnend bei der Kapitelüberschrift »Was kann alles verunglücken« (Austin 2002: 41). Er versucht dabei, seinen zuvor eingelesenen Anweisungen zu folgen, d.h. seine Lektüre hinsichtlich Tonhöhe, Klangfarbe und Rhythmus gemäß den Vortragsbezeichnungen zu gestalten. Er wird immer wieder von seiner eigenen Stimme unterbrochen und aufgefordert, seine Interpretation zu modifizieren.

W ie ver ändert sich die F orschungsfr age durch das Tun ? Aus den ausschnittweise geschilderten Erfahrungen und Erlebnissen im Zuge unserer szenischen Laborexperimente ergeben sich zwei überraschende Gedankengänge zur Konstruktion der »Unmittelbarkeit lebendiger Darstellung«: Der eine betrifft die unmittelbare Wirkung des abwesenden Körpers, der andere die Unmittelbarkeit als mediale Transparenz. Wie vermutet, stellen die Schlussfolgerungen aus der gemeinsamen Versuchsreihe keinen Endpunkt im Sinne eines gesicherten Resultats dar, sondern lediglich eine Zwischenetappe in der Logik der eingangs beschriebenen, prinzipiell endlosen Feedbackschleife zwischen Praxis und Reflexion. Bezeichnend hierfür ist, dass die Beschreibung der Wahrnehmung eigener Versuchsanordnungen unversehens modifizierend zurückwirkt auf die ursprüngliche Fragestellung.

1. Die phantasmatische Präsenz des Filmkörpers In der Schilderung der ersten Sequenz haben wir mit Mirčev die Oszillation zwischen phänomenalem Leib des Darstellers und semiotischem Körper des Videos zitiert, wie sie in der Diskussion um das Live-Video auf der Bühne des postdramatischen Theaters beschrieben wird. Diese Oszillation baut auf dem Konzept der Präsenz auf, der Blick wechselt zwischen der gewohnten Wahrnehmungsform der Präsenz und dem Körper als Bild. Die Erfahrungen aus unserer zweiten Sequenz legen nahe, dass der Darsteller nicht mehr körperlich auf der Bühne anwesend sein muss, um unmittelbar präsent zu wirken. Das Gefühl der Nähe hat sich auf den abwesenden Körper übertragen, die Intimität der verstärkten Off-Stimme und der vergrößerte Körper der Projektion erzeugen zusammen eine neue Form von Nähe, die sich nicht mehr auf die leibliche Präsenz rückbeziehen lässt. Patrice Pavis diagnostiziert eine Veränderung der Wahrnehmung des Körpers durch die audiovisuellen Medien auf der Bühne, es geht nicht mehr um Präsenz, sondern um einen unterschiedlichen Identifikationstyp, die Sehgewohnheiten des Kinos haben sich auf das Theater übertragen (vgl. Pavis 2009). Zur Erklärung von möglichen Ursachen für diese Rezeptionsübertragung zitiert Pavis den französischen Regisseur Jean Francois Peyret.

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Leo Dick und Tassilo Tesche »Nun sind jedoch [...] die Körper ›im Kino um so eindrucksvoller, als sie verloren sind, sich außer Reichweite, außerhalb der realen Präsenz befinden, und umso phantasmatischer präsent durch deren Abwesenheit. Die Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Lebendigen ist möglicherweise etwas, das unterbrochen ist. Dies stellt vermutlich für die Bühne die Herausforderung dar, welche von der Welt der Bilder (real, synthetisch und virtuell) ausgeht. Die Hauptidee aller Phänomenologie der Wahrnehmung war nach Merleau-Ponty, dass jedes Sehen irgendwo im taktilen Raum stattfindet. Doch können wir uns da heute noch sicher sein? Gibt es diesen taktilen Raum noch?‹ [...] Kann der Zuschauer seine körperlichen Empfindungen noch auf sich selbst beziehen und in sich vereinigen, wenn in den Medien doch gerade angestrebt wird, die Wahrnehmung zu dezentrieren und zu delokalisieren, sie eben nicht mehr an einen festen und taktilen Ort zurückzuführen?« (Ebd.: 120)

In Sequenz N° 6, haben wir das Scheitern des Performers bei der Spiegelübung mit seiner erbarmungslos führenden Ton- und Videoaufnahme aus Sequenz N° 1 als berührend empfunden. Vielleicht war dies der Fall, da hier sichtbar wurde, dass ein Performer in einer Videoaufnahme zwar überaus präsent wirkt, das Filmbild aber kein Risiko eingeht: Scheitern kann man nur im taktilen Raum.

2. Transparenz und Opazität von Medien Während der Arbeit an unserer Versuchsanordnung hat sich unser Fokus von der Frage nach der unmittelbaren Präsenz des Darstellers auf die unmittelbare Wirkung der Medien verschoben. Diese Unmittelbarkeit ist dann gegeben, wenn das Medium zurücktritt und vorgibt, Informationen zu transportieren, ohne dabei sichtbar zu werden. »[T]he logic of immediacy dictates that the medium itself should disappear and leave us in the presence of the thing represented« (Bolter/Grusin in Mirčev 2011: 24).

Im Theater tritt diese Situation in vollster Konsequenz zu Tage, wenn mittels der vierten Wand der Eindruck von Unmittelbarkeit erweckt werden soll und wir so tun, »als würde man ›wahrhafte‹ und ›authentische‹ Menschen und Situationen erleben, die nicht vorher eingeübt und (eigentlich) fiktiv sind« (ebd.). Im Unterschied zu dieser »transparent immediacy« entwickeln die Medienwissenschaftler David Bolter und Richard Grusin den Begriff der »Hypermediacy« als eine Opazität des Mediums (vgl. ebd.: 25). In Bezug auf die Medialität der Aufführung könnte man diesen Gedanken an einem Konventionsbruch festmachen, der im Sinne eines Brechtschen Verfremdungseffektes die Fiktion als solche markiert. Das Opakwerden der Medialität lässt sichtbar werden, wie etwas dargestellt wird. Ludwig Jäger bezeichnet diesen Zustand als Störung,

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»als das Relevantwerden des Mediums und den Zustand der Transparenz als seinen Wiedereintritt in den Modus der Vertrautheit« (Jäger 2004: 63). In Sequenz N° 3 haben wir zu Anfang den Gegensatz zwischen der liveverstärkten Gesangsstimme und der Tonbandstimme als Textvermittler erlebt. In beiden Fällen folgt die Verwendung der Stimme spezifischen Konventionen und erscheint uns aus diesen heraus vertraut. In der folgenden Angleichung zwischen Live- und Tonbandstimme kommt es zu einer Auslöschung der Zuordnungen: Wir können den Ursprung der Körperstimmen nicht mehr eindeutig lokalisieren. Die Akzentuierung vokaler Materialität stellt ferner die Funktion der Stimme als Trägerin eines sprachlichen Diskurses in Frage. Hier wird das Medium sichtbar und dadurch die Konvention, mit der zuvor Inhalte dargestellt wurden, erst kritisierbar.

P otentiale einer intermedialen The atr alität Sequenz N° 4 macht die Opazität der Medien, in diesem Falle Schrift und Stimme, weniger in der Störung erlebbar, sondern dadurch, dass der Herstellungsprozess des Dargestellten ausgestellt wird. Was als vorgängiges oder inneres Geschehen dem Publikum normalerweise verborgen bleibt, wird hier, schriftlich und mündlich verbalisiert, als Bühnenvorgang offen gelegt. Dadurch werden kommunikative Prozesse zwischen Autor und Interpret bzw. Performer und Publikum als solche reflektiert – Darstellendes und Dargestelltes fallen in eins. Dieses gleichzeitige Sichtbarwerden von Darstellendem und Dargestellten benennt Juliane Rebentisch als die aller Kunst innewohnende Theatralität. Rebentisch entwickelt diesen Gedanken »als eine Figur ästhetischer Selbstreflexion«. Der Betrachter wird hier durch die Theatralität zu einem Prozess des »fortwährenden Lesens« angeregt und gleichzeitig führt die »ästhetische Verunsicherung des Zugangs [...] im gleichen Zug zu einer Reflexion des Subjekts auf das eigene Herstellen von Beziehungen« (Rebentisch 2003: 71). Wir wollen diesen Gedanken aufgreifen, um uns dem Befund zu nähern, dass – wie eingangs dargestellt – das Verhältnis zwischen Klangerzeugung und Hörereignis durch den Computer entkoppelt werden kann. Der Computer mag dabei als Steuerung von medialen Ereignissen auf der Bühne unsichtbar bleiben, die Relevanz des Mediums wird aber in der Störung gleichwohl sichtbar. Im Modus der Opazität wird eine fundamentale Infragestellung der Beziehung zwischen Hervorbringung und Hervorgebrachtem erfahrbar. Obwohl wir nicht mehr wissen, wie Erzeugung und Ereignis zusammenhängen, nehmen wir beides wahr und versuchen, unser Erfahrungswissen als Zuschauer zu nutzen, um Beziehungen entlang einer linearen Leserichtung herzustellen. Diese Beziehungen sind nun aber von ihrer räumlichen und zeitlichen Zwangsläufigkeit befreit, können frei gestaltet werden und müssen immer

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wieder neu inszeniert sein. Dabei werden intermediale Wahrnehmungsfährten ausgelegt, die das Publikum zur Konstruktion von Bedeutungsstrukturen anregen. Die neuen technischen Möglichkeiten tragen offensichtlich zu einem shift im Erleben von Theater bei: Während im experimentellen Musiktheater der 1960er Jahre noch die Dimension der gemeinschaftlich und unmittelbar geteilten Erfahrung von Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Körperlichkeit im Vordergrund stand, verschiebt sich der Fokus durch den Einsatz des Computers zusehends in Richtung einer Reflexion der Vermittelheit von Aufführungssituationen. Im Zuge der Auswertung unserer Versuchsreihe drängt sich uns schließlich eine Inversion der oben formulierten Frage auf: Wie verändert sich unser Tun durch das Forschen? Der hier unternommene Versuch, Erkenntnisse aus einer eigenen praktischen Forschungsarbeit in eine verschriftlichte Reflexion münden zu lassen, die sich wissenschaftlicher Begrifflichkeiten bedient, soll nicht als Selbstermächtigung missverstanden werden: Der vorliegende Beitrag maßt sich nicht an, Forschungsergebnisse abschließend zu evaluieren, sondern will Suchbewegungen aufzeigen. Zu Beginn unserer Suche stand ein Unwohlsein hinsichtlich gewisser Begrifflichkeiten, die den Kommunikationsprozess auf der Probe bestimmen und dadurch unsere künstlerische Praxis prägen. Die Gelegenheit, in einem Forschungssetting unsere Arbeitsprozesse auf die Erkundung dieses Unwohlseins auszurichten, hat uns ermöglicht, den Begriff der Unmittelbarkeit als Konzeptualisierung zu enttarnen und unser künstlerisches sowie kognitives Vokabular zu erweitern. Diesen Erkenntnisgewinn als Ergebnis zu formulieren, kommt einer Übertragung wissenschaftlicher Anschauungen von Forschung gleich, wesentlicher erscheint uns allerdings die Einsicht, dass die künstlerische Überprüfung uns zu einer »Realisierung des Scheiterns gewohnten Begreifens« geführt hat, »aus der eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber der Kontingenz der eigenen Deutungsgewohnheiten folgen kann« (Badura 2012: 347). Bei der künstlerischen Arbeit werden im Moment des Vollzugs bestimmte Zusammenhänge evident, die sich in der nächsten Versuchsanordnung wiederum als ephemere Zwischenergebnisse herausstellen. In diesem Sinne teilen wir Jens Baduras Erfahrung einer ästhetischen Praxis als spezifische Erkundung mit unspezifischer Zielbestimmung, die »ihren je eigenen Potentialitätscharakter, der immer auch Möglichkeiten des Andersseins einschließt« (vgl. ebd.), beinhaltet.

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L iter atur Arndt, Andreas (2013): Unmittelbarkeit, Berlin: Eule der Minerva Verlag. Austin, John Langshaw (2002): Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam. Badura, Jens (2012): »Philosophie als Performance«, in: Martin Tröndle/Julia Warmers (Hg.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft, Bielefeld: transcript, S. 345-354. Jäger, Ludwig (2004): »Störung und Transparenz«, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München: Fink, S. 35-73. Krämer, Sybille (Hg.) (2004): Performativität und Medialität, München: Fink. Kurzenberger, Hajo (2009): Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper, Probengemeinschaften, theatrale Kreativität, Bielefeld: transcript. Mirčev, Andrej (2011): Intermediale Raumkonzepte, Dissertation, Berlin. Online unter: http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000 000023133 vom 25.8.2011 [29.05.2015]. Pavis, Patrice (2009): »Medien auf der Bühne«, in: Kati Röttger/Alexander Jackob (Hg.), Theater und Bild, Bielefeld: transcript, S. 115-130. Rebentisch, Juliane (2003): Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Roesner, David P. (2010): »Die Utopie ›Heidi‹. Arbeitsprozesse im experimentellen Musiktheater am Beispiel von Leo Dicks Kann Heidi brauchen, was es gelernt hat?«, in: Kati Röttger (Hg.), Welt – Bild – Theater, Band 1 (=Forum Modernes Theater, Band 37), Tübingen: Narr, S. 221-234. Roesner, David/Rebstock, Matthias (Hg.) (2012): ›Composed Theatre‹. Aesthetics, Practices, Processes, Bristol: Intellect.

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Nach(wort) dem LaborARTorium Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche

In seinem Vortrag Künstlerische Forschung, Kontexte einer Behauptung auf der Tagung LaborARTorium beschrieb Jens Badura die methodischen Vorgehensweisen der künstlerischen Forschung mit dem Wort »reflectere«, als Vorgang des Zurückbeugens. Er stellte die Frage in den Raum, ob die Praxis der künstlerischen Forschung eine Methodologie beinhalte, die ihre Wege im Vorfeld kennt und deshalb disziplinieren kann, oder ob sie vielmehr diese geht und hernach reflektieren muss. Die prinzipielle Offenheit der Methoden erweist sich hier als konstitutiv für eine ästhetische Praxis, die »auf dem Zusammenspiel von sinnlicher Erfahrung und einer Poiesis der konzeptuellen Weltgestaltung [beruht], aus der ein spezifisches, nicht in Allgemeinbegriffe der Theoria übersetzbares Wissen hervorgeht« (Badura 2012a: 348). Badura thematisierte in seinem Vortrag für die Tagung LaborARTorium drei Strategien künstlerischer Forschung, die im Hinblick und Rückgriff auf die vorliegenden Aufsätze gleichfalls zur Diskussion in den Raum gestellt werden sollen: • Ein erster Projekttypus, so Badura, nutzt die komplementären Perspektiven von Kunst und Wissenschaft, um in der projektorientierten Zusammenarbeit beider Bereiche spezifische Dimensionen von Wirklichkeit erfahrbar zu machen. Hierbei handelt es sich um Wirklichkeitszugänge, wie sie sonst aufgrund der Grenzen ihrer Aufschreibesysteme und Artikulationsformen den Wissenschaften verschlossen bleiben. • Eine weitere Projektform ist für Badura »künstlerische Entwicklungsforschung«, in der durch künstlerisch operierende Material und Methodenerkundung, Formexperimente etc. die Weiterentwicklung eines künstlerischen Möglichkeitsraumes erreicht werden kann. Projekte diesen Typs können zur Entstehung neuer künstlerischer Praxen beitragen und ggf. auch in Bereiche technologischer Material- und Methodenforschung oder z.B. in kreativwirtschaftliche Kontexte hineinwirken.

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Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche

• Der dritte Projekttypus betrifft die Reflexion im Medium der Kunst, er zielt auf eine spezifisch reflexive Erschließung der Künste, und zwar nicht aus der »Außenperspektive« der Kunstwissenschaften, sondern aus der Innenperspektive künstlerischer Arbeit (vgl. Badura 2012b). Noch 2010 konnten Yebooa Ofosu und Arne Scheuermann in ihrer Bestandsaufnahme Zur Situation der künstlerischen Forschung feststellen, dass die in ihrer Entwicklung durch Hochschulreformen befeuerte künstlerische Forschung Institutionalisierungsprozesse durchlebt »noch bevor der Diskurs selbst über eine kritische Masse von Forschenden, Konzepten, Debatten und Publikationen verfügt hat« (Ofosu/Scheuermann 2010: 223). Der vorliegende Band entgegnet diesem Befund heute mit einer Fülle ganz aktueller Beiträge, die elaborierte, konsistente Projekte abbilden. Im Hinblick auf das Buch LaborARTorium als Resultat einer von den Geisteswissenschaften ausgerichteten Tagung ließe sich im Rahmen der von Ofosu/Scheuermann thematisierten Disziplinwerdung der künstlerischen Forschung die Frage anschließen: Kann die Bezugnahme auf ihre Methoden in anderen Forschungsbereichen nicht als ein weiterer wichtiger Schritt dieser Disziplinwerdung gedacht werden – von der Impulse in beide Richtungen ausgehen?

L iter atur Badura, Jens (2012a): »Philosophie als Performance«, in: Martin Tröndle/Julia Warmers (Hg.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft, Bielefeld: transcript, S. 345-354. Badura, Jens (2012b): »Forschen mit Kunst«, Keynote an der Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft in Oldenburg. Online unter: http:// www.dramaturgische-gesellschaft.de/jahreskonferenz/oldenburg-2012/ [8.3.2015]. Ofosu, Yebooa/Scheuermann, Arne (2010): »Zur Situation der künstlerischen Forschung«, in: Corina Caduff/Fiona Siegenthaler/Tan Wälchli (Hg.), Kunst und Künstlerische Forschung, Zürich: Scheidegger und Spiess, S. 214-223.

Biografien

Dick, Leo studierte Komposition und Musiktheaterregie in Berlin und war Meisterschüler von Georges Aperghis im Studienbereich Théâtre Musical an der Hochschule der Künste Bern (HKB). Als Komponist und Regisseur arbeitet er schwerpunktmäßig im Bereich des experimentellen Musiktheaters. Seit 2010 ist er als Dozent für Geschichte und Analyse des Neuen Musiktheaters an der HKB beschäftigt. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt Interpretation der HKB arbeitet er an seiner Dissertation zum Sprechakt im Composed Theatre im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojektes »Zwischen Konversation und Urlaut«. Dombois, Florian ist Künstler und beschäftigt sich mit Zeit, Modellen, Landformen, Labilitäten, wissenschaftlichen und technischen Fiktionen in unterschiedlichen Medien und Formaten, insbesondere mit Klang. Er studierte Geophysik und Philosophie in Berlin, Kiel und Hawaii und schloss 1992 mit der Diplomarbeit »Über Eigenschwingungen Kompakter Objekte« ab. 2003-2011 gründete und leitete er das Institut Y an der Berner Hochschule der Künste. Seit 2011 ist er Professor an der Zürcher Hochschule der Künste. Florian Dombois hatte zahlreiche Lehraufträge und Gastprofessuren u.a. in Deutschland, Belgien, den Niederlanden, in der Schweiz und den USA. Letzte Buchpublikationen: Dombois, Florian (2014): »Angeschlagene Moderne. Struck Modernism«, hg. v. Museum Haus Konstruktiv, Berlin: The Green Box; Dombois, Florian (2014): »Zugabe«, hg. v. Josef Felix Müller, St.Gallen/Berlin: Vexer; Dombois, Florian/Fliescher, Mira/Mersch, Dieter/Rintz, Julia (2014) (Hg.): Ästhetisches Denken. Nichtpropositionalität, Episteme, Kunst, Berlin/Zürich: diaphanes. Drescher, Michael R. studierte Literaturwissenschaft sowie Politik- und Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg. Er schloss 2011 sein Studium mit Auszeichnung ab und ist seitdem als Dozent für amerikanische Literatur und Sprache eben dort tätig. Michael Drescher promoviert am Heidelberg Center

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for American Studies und erforscht im Zuge dessen politische Gründungsmythen in deutscher und amerikanischer Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. Im kreativen Bereich konzentriert er sich auf deutsche und englische Lyrik und Kurzprosa und beschäftigt sich ferner mit den Schnittstellen von Kunst, Politik und Akademie. Michael Drescher ist zur Zeit Gastwissenschaftler und Fellow am English Department der Harvard University. Goroncy, Pamela ist als Bewegungs- und Kulturvermittlerin und Produktions­ leiterin (stueckliesel.com [29.05.2015]) in Hamburg und Berlin tätig. Sie studierte Kommunikationswirtschaft an der AfAK Kassel sowie Bewegungswissenschaften, Soziologie und Performance Studies an der Universität Hamburg. In ihrer Forschungsarbeit beschäftigt sie sich mit der ästhetischen Erfahrung als körperlicher Moment der Irritation u.a. in künstlerischen Präsen­tationen: Ausstellung, Installation, Performance. Gemeinsam mit Jessica Petraccaro-Goertsches (Ko-Autorin des Beitrags in diesem Band) arbeitet sie an einer performativ-reflexiven Kunstvermittlungspraxis. 2009-2011 war sie Wissenschaftliche Projektleiterin von Lebensqualitätsstudien am UKE Hamburg und 2004-2006 Studentische Mitarbeiterin im DFG-Projekt ›Transnationale Identität und körperlich-sinnliche Erfahrung‹ an der Universität Hamburg. Jürgens, Anna-Sophie promoviert an der LMU München im Fach Komparatistik über die »Poetik des Zirkus«. Sie studierte Komparatistik, Slavistik und Romanistik in Bielefeld und München und setzt(e) sich intensiv mit Tibet-/ Indologie, Theaterwissenschaft und Osteuropäischer Geschichte auseinander. Ein Studienjahr verbrachte sie in St. Petersburg; arbeitete an den Goethe-Instituten Tbilissi und Taschkent sowie bei Artevent in Wien. Ihr Studium sowie die Promotion fördert/e die Studienstiftung des deutschen Volkes. Publikationen (Auswahl): Jürgens, Anna-Sophie (2014): »The Joker, a neo-modern clown of violence«, in: Journal of Graphic Novels and Comics 5/4, S. 441-454; Jürgens, Anna-Sophie (2011): »Hermetische Liebesakrobatik: Joris-Karl Huysmans’ Des Esseintes und Thomas Mann’s Felix Krull im Zirkus«, in: SprachKunst 2, S. 271-338. Seit 2009 entwickelt sie in ihrer Reihe Cosmoscreator Omnipotens Wissenschaftliche Märchen sowie das Genre der Artistic Science Fiction. www. cosmoscreator.de [29.05.2015]. Klein, Julian ist Komponist und Regisseur, Direktor des Instituts für künstlerische Forschung Berlin und künstlerischer Leiter der Gruppe a rose is. Er lehrte u.a.  Regie und Experimentelles Musiktheater an der Universität der Künste Berlin (seit 1997), Performance und künstlerische Projektentwicklung an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main (19952014) und war Gastwissenschaftler am Institut für Verhaltens- und Neurobiologie der Freien Universität Berlin (2008-2014). Außerdem war er Mit-

Biografien

glied der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (2003-2008). Er studierte Komposition u.a. bei Reinhard Febel, Nigel Osborne, Heiner Goebbels und Wolfgang Rihm sowie Musiktheorie, Mathematik und Physik und war während des Studiums Regieassistent und Bühnenkomponist u.a. am Niedersächsischen Staatstheater Hannover (Intendanz Ulrich Khuon). Seine künstlerische Forschung umfasst Gebiete der Neuroästhetik, Sonifikation, Rahmungstheorie und -praxis, der Kraft der Performativität und des emotionalen Erlebens. Seine Werke und Inszenierungen waren u.a. zu hören und zu sehen im Hessischen Rundfunk, DeutschlandRadio, Haus der Berliner Festspiele, Hebbel am Ufer Berlin, Sophiensæle Berlin, Theaterhaus Stuttgart, Ballhaus Ost  Berlin,  mousonturm Frankfurt am Main, Museum für Naturkunde Berlin, Schaubühne am  Lehniner Platz und dem Deutschen Theater Berlin.  Seine Inszenierung Hans Schleif am Deutschen Theater Berlin 2011 wurde für den Friedrich-Luft-Preis nominiert. Kühn, Björn studierte Neue Medien und Bildhauerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart sowie an der Goldsmiths University London. Seine Konzentration gilt den blinden Flecken der Dinge, die zwischen den Operationalitäten interobjektiver Verhältnisse Übergänge ermöglichen und somit die Dinge selbst zur Manipulation freigeben. Seit 2013 arbeitet er mit Anna Romanenko. Zusammen kümmern sie sich um die Universalität singulärer Maschinen. Er ist Mitbegründer des Verlages für Handbücher (www.verlagfürhandbücher.de [29.05.2015]), außerdem Ergonom und einer der Erbauer des Liminal Dome, einem flexiblen Unterwasserversteck (www.liminaldome. com [29.05.2015]). Zuletzt fand die Öffentlichkeit seine Arbeit u.a. im Garten der Utopiana Assoziation Genf, im Bunker der Nitrianska Galeria, Slowakei, am Parsons The New School for Design New York, bei Land of the Temporaray Eternity Stuttgart, im Rahmen des Alto Fest Neapel oder unter der Meeresoberfläche vor der Küste Litauens. www.bergenconvention.com [29.05.2015] Laitzsch, Juliane lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte Bildhauerei zuerst an der Hochschule für Künste in Bremen und später an der Hochschule der Künste in Berlin. Fragen nach dem Zusammenhang von Raum, Gegenstand und Subjekt haben sie zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Ornament geführt. Diese setzt sich fort in Projekten, die ihren Ausgangspunkt in historischen Textilien finden. Ihr Hauptmedium ist die Zeichnung. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen und Förderungen erhalten und war von 2012-14 Stipendiatin der Graduiertenschule für die Künste der UdK Berlin. Seit 2010 unterrichtet sie an der Universität der Künste. Ihre Arbeiten werden umfangreich gezeigt und befinden sich in Privatsammlungen sowie in öffentlichen Sammlungen: Sammlung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie,  Berlinische

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Galerie, Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst in Berlin, Fidelity Worldwide Investment London. www.julianelaitzsch.de [29.05.2015] Lang, Albert ist Professor für Dramaturgie und Szenischer Raum an der Technischen Universität Berlin. Er hat Medizin in Hannover, Pisa, München sowie an der Musikhochschule in München Theater- und Opernregie studiert. Arbeiten seit 1998 (Auswahl): Bayerisches Staatsschauspiel, Semperoper in Dresden, Städtische Bühnen Köln, Schauspiel Leipzig, German Theatre Abroad New York, Schauspielhaus Hamburg, Biennale Salzburg, Burgtheater in Wien. Übersetzungen und Bearbeitungen u.a. von Goldoni, Corneille, Angot, Babel, Nadolny, Morgan, Bernhard. Lehre (Auswahl): LMU München, Mozarteum Salzburg, AA – School of Architecture in London und TU Berlin, dort leitet er das Interdisziplinäre Raumlabor, einen Forschungsraum des Instituts für Bühnenbild_Szenischer Raum. Er ist Gründungsmitglied des Theater- und Performancekollektivs Parallelaktion. Lang, Norbert studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim. Seit 2010 ist er für die Redaktion Hörspiel und Medienkunst des Bayerischen Rundfunks tätig, u.a. als Moderator der Gesprächsreihe »artmix.galerie« auf Bayern2. Er ist Autor von Features, Radiobeiträgen, Essays und Musiksendungen, konzipiert und realisiert Klanginstallationen und Audiowalks; darüber hinaus produziert er Musik für Theaterproduktionen. 2013 begann er das künstlerisch-wissenschaftlichen Promotionsprojekt »Die Stille im All und ihr Klang auf der Welt« an der HFBK Hamburg. Ausgehend von diesem Forschungsvorhaben stellte er auf der Tagung LaborARTorium in München 2013 die Lecture Performance Die Stille im All und ihr Klang auf der Welt I: Zählung vor. Diese verarbeitet u.a. Beschreibungen der Apollo-11-Mission, mediale Fundstücke von Juri Gagarins erstem Flug ins All sowie theoretische Überlegungen zum Verhältnis von Mathematik und Weltall-Klang. Der vorgetragene Text wird dabei von live gespielten elektroakustischen Kompositionen begleitet. Musikalische Grundlage waren u.a. Samples, die aus populärwissenschaftlichen Fernsehdokumentationen oder Youtube-Videos über Raumfahrt und Astrophysik stammen – Soundfragmente oder auch Stimmen, die von vergangenen und gegenwärtigen akustischen Projektionen auf das Weltall berichten. Diese klanglich-atmosphärische und theoretische Auseinandersetzung mit der Stille im All war zugleich der Hintergrund und Echoraum für den Aufsatz in diesem Band. Liggieri, Kevin, Studium der Germanistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum (M.A.). Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. In seinem Forschungsprojekt der Mercator Research Group »Räume anthropologischen Wissens« beschäftigt er sich mit Optimierungen der Episteme ›Mensch‹ im

Biografien

Zeitraum des frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts. Leitgedanke hierbei ist die Begrifflichkeit der ›Anthropotechnik‹ in Kultur- sowie Arbeitswissenschaft. Publikationen (Auswahl): Liggieri, Kevin (2014): Zur Domestikation des Menschen. Anthropotechnische und anthropoetische Optimierungsdiskurse, Müns­ter/Wien; Liggieri, Kevin (Hg.) (2014): Bad Boys der Philosophie. Eine Kritik stereotypisierter Philosophenbilder von Heraklit bis Sartre, Würzburg: Königshausen & Neumann. Louwrier, David graduated in Life Science and Technology (biotechnology) at the Technical University of Delft, and started his interdisciplinary PhD project in 2011 within the BioSolar Cells consortium. His project aims to create an open space for public discussion about the implications of a biobased society. The project explores a new way of engaging the public in addressing questions raised by BioSolar Cells that concern society at large, beyond the realms of scientific research or industrial production, with bio-artistic probes for debate. One of David’s roles is to work in the lab with artists and analyze both the social and the molecular interactions. The art works and interactive artistic performances are presented and discussed in public events with the objective of shaping ethical guidelines, and provide input to the PhD thesis. David coorganized the second edition of the LUCAS graduate conference. Mathias, Emanuel ist Künstler und lebt in Leipzig. Er beschäftigt sich u.a. mit dem Nähe-Distanz-Verhältnis von Beobachter und Beobachteten in der anthropologischen Feldforschung und mit medialen Rekonstruktionen von Wahrnehmungsprozessen. Ein weiterer Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit kollektiven Erinnerungsprozessen anhand fotografisch-historischer Bildarchive. Nach einem Studium der Fotografie bei Timm Rautert und Christopher Muller in Leipzig beendete er im September 2011 sein Studium als Meisterschüler von Tina Bara. Seit 2003 nahm er an verschiedenen Aus­stellungen teil, aktuell in Kunst, Freiheit und Lebensfreude bei C/O Berlin (Einzelausstellung) und Compounded Memory im Goethe-Institut Mexiko City (beide 2015). Seit 2013 ist er assoziierter Projektpartner am interdisziplinären Forschungsprojekt Die Affekte der Forscher, das er Anfang 2015, unterstützt von IFA und Goethe Institut, nach Indonesien begleitete. Seit 2014 arbeitet er als künstlerischer Mitarbeiter an der Burg Giebichenstein Halle. Publikationen (Auswahl): Marion Ermer Stiftung (Hg.) (2011): Emanuel Mathias: Nebahats Schwestern, Berlin: The Greenbox. C/O Berlin (Hg.) (2015): Kunst, Freiheit und Lebensfreude, Talents 32, Emanuel Mathias/ Sabine Weier, Heidelberg: Kehrer Verlag.  www.emanuelmathias.com [29.05.2015] Petraccaro-Goertsches, Jessica,  M.A. Kunstgeschichte/B.A. Kunstgeschichte und Angewandte Kulturwissenschaft,  www.kukuma.eu [29.05.2015]. Jessica

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Petraccaro-Goertsches setzt sich in unterschiedlichen Formaten für eine partizipative Kunstvermittlung ein. Seit Oktober 2014 ist sie am Institut für Kunstgeschichte der LMU München tätig und forscht im Zuge ihrer Promotion an der Universität zu Köln zu Albert Schulze Vellinghausen u.a. zur gesellschaftlichen Rolle der Kunstvermittlung. Zusammen mit ihrer Kooperationspartnerin Pamela Goroncy realisierte sie 2013 die Lecture Performance Die Leiden der jungen Vermittlungsanwärter auf dem KulturCamp der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel. Im Rahmen ihrer performativ-reflexiven Kunstvermittlungspraxis  beteiligten sich beide darüber hinaus  im Oktober 2014 mit der Lecture Performance Getanzte Freiheit im Museum am Symposium ›Tanz Raum Urbanität‹ der Gesellschaft-für-Tanzforschung. Roesner, David ist Professor für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Musiktheater an der LMU München. Er forschte und lehrte bisher an den Universitäten Hildesheim, Exeter und Kent und arbeitet außerdem gelegentlich als Theatermusiker. Er studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Stiftung Universität Hildesheim und promovierte dort mit einer Arbeit zu Theater als Musik (2003). Forschungsschwerpunkte sind die Musikalisierung des Theaters und die Theatralisierung der Musik, Sound und Performance, Intermedialität sowie Performativität und Musikalität in Videospielen. 2007 wurde seine Aufsatz »The Politics of the Polyphony of Performance« (CTR 18/1, 2008) mit dem Thurnauer Preis für Musiktheaterwissenschaft ausgezeichnet. Zuletzt publizierte er die Monographie Musicality in Theatre: Music as Model, Method and Metaphor in Theatre-Making (Farnham: Ashgate 2014). Romanacci, Nicolas Constantin, Doktorand an der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen bei Prof. Klaus Sachs-Hombach, Institut für Medienwissenschaft; Forschungsschwerpunkt: ›Experimentieren in Kunst und Wissenschaft‹. Zur Thematik diverse Vorträge und Veröffentlichungen. Ausbildung in klassischer Gitarre und Komposition; Studium Philosophie an der LMU München; Schreinerlehre; Studium Gestaltung an der Akademie für Gestaltung im Handwerk, München; an der Fakultät für Gestaltung in Augsburg (Diplom 2005) und an der I.S.I.A. Urbino, Italien. Langjährige Tätigkeit als Art Director in München. 2010 Master of Arts in Bildwissenschaft, Studienschwerpunkte Philosophie und Medienkunst, Donau-Universität Krems. Seit 2010 Lehraufträge in ›freie Gestaltung‹, ›Bildwissenschaft‹ und ›Medientheorie‹ (Fokus auf Medienkunst und Medienphilosophie) an der Hochschule Augsburg, Fakultät für Gestaltung; Begleitung von Bachelorarbeiten. Nicolas Constantin Romanacci ist freischaffender Künstler; im Zentrum seiner Werkreihen stehen audio-visuelle Kompositionen und Lyrik.

Biografien

Romanenko, Anna studierte Theaterregie an der Theaterakademie Hamburg sowie Architektur, Neue Medien und Bildhauerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Sie ist Mitbegründerin des Performancekollektivs Punch and Judy und des Verlages für Handbücher (verlagfürhandbücher. de [29.05.2015]). Seit 2013 arbeitet sie mit Björn Kühn zusammen. Im Fokus ihrer Arbeit steht die Konstruktion unerwarteter Ereignisse. Sie gibt Workshops zum Toasten als Sprechakt zur Vorbereitung auf ein Ende der Welt, Tauchtouren zu Unterwasserbehausungen und Bauhausführungen anhand jedes anderen Baustils. Sie war Artist in Residence an der Nida Art Colony in Litauen, der Utopiana Association in Genf, am Sober and Lonely Institute for Contemporary Art in Johannesburg und in der Raumstation Waggons in Stuttgart. Ihre Arbeiten waren auf zahlreichen Straßen, Gewässern, Wohnungen, Institution und Festivals im In- und Ausland vertreten. www.bergenconvention.com [29.05.2015] Rose, Anette arbeitet als freie Künstlerin in Berlin. Studium der ›Experimentellen Medienkunst‹ an der UdK Berlin und dem Central Saint Martins University of the Arts London. Meisterschülerin bei Heinz Emigholz. Videoarbeiten zu Gesten des Narrativen (u.a. 16 Traumstücke, ZDF – Das kleine Fernsehspiel 2001) und ein Langzeitprojekt zu den Schnittstellen von Handarbeit und maschineller Fertigung sowie zum Verhältnis von Handbewegung und Intelligenz (siehe Publikationen u.a. Enzyklopädie der Handhabungen 2006 – 2010. Kerber ART 2011 und Installationen u.a. im MARTa Herford, im Deutschen Technikmuseum und im Bauhaus-Archiv, Berlin). Projektförderungen u.a. vom Medienboard Berlin Brandenburg, vom Hauptstadtkulturfonds, der Kunststiftung NRW und dem Berliner Senatsstipendium; Präsentationen und Workshops u.a. an den Hochschulen TU Dresden, HU Berlin, UT Austin und HDK Luzern. Ihr aktuelles Projekt, Captured Motion, begonnen als Artist-in-Residence am Exzellenzcluster ›Integrative Produktionstechnologien‹ der RWTH Aachen, stellte sie 2014 am Internationalen Kolleg für Kulturtechnik und Medientheorie in Weimar vor. Schmitt, Olaf A. ist seit 2014 Dramaturg der Bregenzer Festspiele. Ab 2016 ist er zudem Künstlerischer Leiter der Kasseler Musiktage. Am Londoner Royal Opera House betreute er 2014 Martin Kušejs Idomeneo-Inszenierung. Von 2008 bis 2013 war er Dramaturg an der Bayerischen Staatsoper. Für die Inszenierung von Le nozze di Figaro gastierte er 2012 an der Oper Köln. Von 2005 bis 2008 arbeitete er als Musikdramaturg am Theater Heidelberg. Er ist Dozent an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und unterrichtete an der Bayerischen Theaterakademie sowie der Universität Zürich. Während seines Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Musikwissenschaft in Frankfurt am Main sammelte er Erfahrungen an der

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Staatsoper Stuttgart, bei den Salzburger Festspielen und am Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen. Er war Mitarbeiter am Heiner Müller Handbuch sowie Mitherausgeber von AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation und ist Autor zahlreicher Texte. Vorträge führten ihn zuletzt an die Universitäten in Columbia, South Carolina, in Minnesota sowie nach Bayreuth. Tesche, Tassilo ist Architekt, Theatermacher und bildender Künstler. Bühnenbildstudium an der Accademia di Belle Arti in Venedig. Germanistik- und Philosophiestudium an der FU Berlin. 2001 Diplom in Architektur an der Universität der Künste Berlin. Zahlreiche Theaterarbeiten sowie Raum- und Videoinstallationen im In- und Ausland. Der Fokus seiner Theaterarbeit liegt auf der gemeinsamen Konzeption und Stückentwicklung mit Autoren, Komponisten und Regisseuren. Er lehrt Szenografie an der Hochschule der Künste in Bern (seit 2010). Weitere Lehraufträge und Vorträge u.a. an der Università iuav Venedig, der Zürcher Hochschule der Künste und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2012 Forschungsstelle im Rahmen des SNFForschungsprojektes Zwischen Konversation und Urlaut (HKB Bern) über den Sprechakt im Neuen Musiktheater. Sein Promotionsprojekt Musiziergesten im live-elektronischen Mediengefüge beschäftigt sich mit der medialen Entkoppelung von Geste und Klang im zeitgenössischen Musiktheater und ist das erste künstlerische Forschungsprojekt im Bereich Kunstwissenschaften der LMU. www.tassilotesche.de [29.05.2015] Vennemann, Nicole ist Promoventin an der Universität Köln. Ihr Forschungsschwerpunkt bildet das Experiment (wissenschaftsanaloge Pragmatiken) in der künstlerischen Forschung und damit zusammenhängend die Aktion als empirische Methode in der Kunst. Sie lehrt u.a. an der Universität Köln und der Mediadesign Hochschule in Düsseldorf Kunstgeschichte, Design und Visuelle Kommunikation und hält Gastvorträge u.a. am Institut für Neue Medien in Frankfurt. Sie studierte Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Heidelberg und schloss das Studium mit einer Arbeit über die Versuchsreihe des australischen Aktionskünstlers Stelarc sowie internetbasierte Aktionen im damaligen Web 1.0 ab. Waltenspül, Sarine studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Kulturanalyse an den Universitäten Basel, Zürich sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitet seit 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am SNF-Forschungsprojekt Size Matters: Zur Maßstäblichkeit von Modellen an der Zürcher Hochschule der Künste. In ihrer Dissertation mit dem Arbeitstitel ›Zur Interaktion von Modelltechniken und filmischen Ausdrucksformen‹ beschäftigt sie sich mit den Schnittstellen zwischen ästhetisch motiviertem und technisch bedingtem Einsatz von Praktiken im Film.

Biografien

Weihe, Richard, Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Scuola Teatro Dimitri, University of Applied Sciences and Arts of Southern Switzerland (SUPSI). Ausbildung an der Schauspiel-Akademie Zürich; Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in Zürich, Oxford und Bonn; Promotion an der Universität Zürich, Habilitation an der Universität Witten/ Herdecke bei dem Soziologen Dirk Baecker. Tätigkeit als Autor, Dramaturg, Moderator beim Schweizer Fernsehen DRS (»Sternstunde Philosophie«) sowie Lyrik-Übersetzer (u.a. Mark Strand). 2006 Fellow im Arts, Science & BusinessProgramm der Akademie Schloss Solitude, Stuttgart, 2007 Senior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK), Wien. Seit 2012 Leiter des Forschungsprojekts »Clown und Physical Theater« des Schweizerischen Nationalfonds an der Scuola Teatro Dimitri in Verscio. Weinöhl, Jörg ist Tänzer und Choreograph. Nach seiner Ausbildung an der John Cranko Schule Stuttgart tanzte Jörg Weinöhl im Stuttgarter Ballett unter der Direktion von Marcia Haydée. Seine Lauf bahn als Solotänzer führte ihn weiter nach Bern, Mainz und ans Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg. Gemeinsam mit Martin Schläpfer schuf und tanzte er in dessen Balletten zahlreiche Solorollen. Seit 2009 ist der Künstler zunehmend als Choreograf tätig. Hierbei entwickelt er Stücke verschiedenster Formate, die an unterschiedlichen Orten, vom Opernhaus bis hin zum Kunstmuseum, gezeigt werden. Die Kritikerumfrage der Zeitschrift »Tanz« zeichnete Jörg Weinöhl mehrfach in der Kategorie Tänzer des Jahres aus, 2011 war er für den renommierten Theaterpreis »Der Faust« nominiert. Mit Beginn der Spielzeit 2015/16 ist Jörg Weinöhl Ballettdirektor der Oper Graz. Wierschem, Markus studierte Anglistisch-Amerikanistische Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Germanistik, Medienwissenschaften und Philosophie an der Universität Paderborn und am St. Olaf College in Northfield, Minnesota. Er unterrichtet Amerikanistik in Paderborn und promoviert zur thematischen Trias von Gewalt, Mythos und Entropie im Romanwerk des amerikanischen Gegenwartsautors Cormac McCarthy. Neben Publikationen zu McCarthy und Peter Ustinov arbeitet er gelegentlich als freiberuflicher Übersetzer und schreibt Musikrezensionen sowie Gedichte, Kurzgeschichten und Hörspiele. Zuletzt entwickelte er das Wissenschaftliche Märchen Chaoscre(m)ator. Eine Bildungsromär zusammen mit Anna-Sophie Jürgens und veröffentlichte das Fantasie-Konzeptalbum Der gefallene Stern (2013) mit der Düsseldorfer Progrock-Band Flaming Bess. Wörner, Ulrike studierte Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie vier Jahre als Produktionsleiterin und Dramaturgieassistentin bei

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Martin Schläpfers Ballett am Rhein in Düsseldorf. Derzeit promoviert sie über Die Rezeption des Verpassens. Simultaneität im Tanz und forscht in diesem Zusammenhang über neue Formen der Dramaturgie.

Dank

Unser herzlicher Dank gilt zunächst den Autoren für die intensive Arbeit an den Beiträgen und ihre Bereitschaft, ihre Vorträge in Bezug auf die Themenstellungen dieser Publikation zu überarbeiten. Insbesondere Prof. David Roesner sei für sein Engagement für diesen Band gedankt. Des Weiteren bedanken wir uns nachdrücklich bei Katharina Diebel (Lektorat) sowie S. Sulamith Graefenstein und Laura Simon (Lektorat der englischsprachigen Texte). Auch möchten wir Simone Niehoff für ihre Mitarbeit am Call for Paper für die Tagung würdigen, aus dem einige Zeilen in die Einleitung dieser Publikation übernommen wurden. Schließlich sei den Organisatoren des Promotionsprogrammes ProArt um Dr. Miriam Drewes gedankt, die die Tagung zur künstlerischen Forschung an der LMU unterstützten, und den Doktoranden des Promotionsprogrammes, die an der Realisation mitwirkten. Anna-Sophie Jürgens und Tassilo Tesche München, Mai 2015

Science Studies Thomas Etzemüller Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt September 2015, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3183-8

Edgar Grande, Dorothea Jansen, Otfried Jarren, Arie Rip, Uwe Schimank, Peter Weingart (Hg.) Neue Governance der Wissenschaft Reorganisation – externe Anforderungen – Medialisierung 2013, 374 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2272-0

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