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German Pages 440 Year 2017
Melanie Gruß Synästhesie als Diskurs
Edition Kulturwissenschaft | Band 101
Melanie Gruß, geb. 1978, ist beim Musikverlag C. F. Peters in Leipzig tätig. Sie studierte Theaterwissenschaft, Psychologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Leipzig und Paris und promovierte am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig, unterstützt durch ein Stipendium des Freistaates Sachsen. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitete sie u.a. in dem Forschungsprojekt »Körpertechniken der Arbeit. Wissenskulturen und Lebensformen« an der Universität Leipzig und am Tanzarchiv Leipzig e.V., dessen Geschäftsführung sie zeitweise inne hatte. Darüber hinaus wirkte sie bei der Organisation verschiedener Festivals und Theaterproduktionen in der freien Szene Leipzigs mit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Theater-, Tanz- und Kulturgeschichte der Moderne, Verknüpfungen von Bewegungs- und Wissenskulturen sowie Schnittstellen zwischen den Künsten, Medien und Wissenschaften.
Melanie Gruß
Synästhesie als Diskurs Eine Sehnsuchts- und Denkfigur zwischen Kunst, Medien und Wissenschaft
Überarbeitete Fassung der Dissertation »PROJEKTionsfläche SYNÄSTHESIE. Sehnsuchts- und Denkfigur zwischen Kunst, Medien und Wissenschaft«, vorgelegt an der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaft der Universität Leipzig im Oktober 2014.
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Inhalt
Einleitung | 7 I. Das Synästhetische als Imagination und kulturelles Konstrukt | 17
I.1 Faszination und Entgrenzungen | 20 I.2 Ganzheitsutopien und Einheitsvisionen. Kompensation einer Verlust geschichte | 32 I.3 Sinneskulturen des Medialen. Synästhesie als Wissensform | 40 I.4 Das Synästhetische als Diskurs. Wissenskulturen zwischen Kunst, Medien und Wissenschaft | 48 II. Zwischen Genie und Wahnsinn – Die Entdeckung der Synästhesie als Wahrnehmungsmuster der Moderne | 57
II.1 Geisteskranke, Primitive und Künstler. Pathologie der Synästhesie | 68 II.2 Die Provokation des Subjekts. Psychologisierung der Synästhesie | 88 II.3 Emanationen des Unsichtbaren. Zwischen Mystik und Physik | 99 II.4 Ästhetisierung des Synästhetischen. Physiologisierung der Kunst | 110 II.5 Projektionen: Von der romantischen Einheitsvision zur Überwältigung der Sinne | 121 II.6 Transformationen zwischen Klang, Bewegung und Licht. Der Regisseur als Synästhetiker | 133 II.7 Tanz der neuen Technik(en). Avantgarde, Abstraktion und die Medialisierung der Sinne | 147 III. Syn(äs)thetische Visionen – Gemeinschaftsutopien und Entwürfe eines neuen Menschen | 169
III.1 „Die neue Synthese des Geistes“. Die Neubegründung der Kultur aus dem Geiste des Synästhetischen | 174 III.2 Ursprungsmythen: Die Erfindung einer Geschichte | 193 III.3 Die Einheit der Sinne in der Verleiblichung des Synästhetischen | 203 III.4 „Kulturalchemisten des 20. Jahrhunderts“. Bewegte Körper zwischen Naturalisierung und Technisierung | 214 III.5 Synästhetische Maschinen. Die Kunst der Synchronisierung von Lichteffekten und elektrischen Klängen | 221
III.6 Zwischen Kunst und Unterhaltungsindustrie. Der Film als Paradigma des Synästhetischen | 229 III.7 Synästhesie, Mensch, Gemeinschaft und die Erschließung medialer Räume am Bauhaus | 248 IV. Intermediale Effekte | 263
IV.1 Aus Mangel an Beweisen. Negierung und Esoterisierung des Synästhetischen | 267 IV.2 Antikunst und die „Verfransung“ der Künste | 274 IV.3 Die digitale Einheitsutopie | 281 IV.4 Happening der Sinne. Intermedia | 287 V. Die Eroberung der Kreativität – Synästhesie als Soft Skill der digitalen Kultur | 293
V.1 Von lebenden Fossilien und Lebensformen. Das Synästhetische als Modus des Wahrnehmens, Denkens und Fühlens | 306 V.2 Das Mysterium des (synästhetischen) Gehirns. Neurowissenschaftliche Konstrukte | 318 V.3 Trügerische Evidenzen und konstruierte Sichtbarkeiten | 328 V.4 Fenster zu Denken, Sprache, Kunst und Kultur. Vervielfältigung der Perspektiven und Wahrnehmungsdesign | 347 V.5 Der geborene Künstler. Das kreative Potenzial und seine Mystifizierung | 361 V.6 Von Simulation und Virtualisierung der Wahrnehmung zu Immersion, Implantation und augmented reality | 368 VI. Projektionen des Medialen | 389
VI.1 Das Synästhetische im Wandel | 394 VI.2 Überwindung der Differenzen | 399 Literaturverzeichnis | 403 Danksagung | 437
Einleitung
Ist bisher in kultur- und geisteswissenschaftlichen Kontexten von Synästhesie die Rede, so ist zugleich eine phänomenologische Einheit der Sinne assoziiert, in deren Lichte synästhetische Wahrnehmungen, so formulierte es Merleau-Ponty, nicht als Ausnahme, sondern als Regel erscheinen.1 „Wir erfahren intersensorielle Gegenstände auf dem Hintergrund einer intersensoriellen Welt“, so Bernhard Waldenfels im Anschluss an Merleau-Ponty, „weil die Sinne miteinander kommunizieren“2 und im Leib als ganzheitliches synergetisches System verankert sind.3 Die Neurowissenschaften dagegen betrachten Synästhesie als ausgesprochenes Spezialphänomen, das sich als Abweichung vom Normalfall der Wahrnehmung bis in die Gehirnanatomie der Synästhetiker4 zurückverfolgen lässt und zugleich allgemeine Prozesse des Wahrnehmens und Denkens beleuchten könnte. Beiden Positionen gemeinsam ist dabei, dem Phänomen etwas Überzeitliches und Unveränderliches zu verleihen, so dass der Eindruck entsteht, Synästhesie habe es schon immer gegeben. Das wiederum wirkt sich auf ihre Theoretisierung und Beschreibung aus. Dieser Mystifizierung der Synästhesie als (verlorene) Einheit der Sinne und „als Glücksversprechen, diese Einheit zu finden, wieder herzustellen oder solcherart durch die Gegenstände der Kunst hervorzubringen, […]“5, soll der in der Arbeit entwickelte Ansatz entge-
1
Merleau-Ponty (1966), S. 268.
2
Waldenfels (1999), S. 60.
3
Mit dem Leib als „synergetisches System“ bezieht sich Waldenfels auf Merleau-Ponty: „Das Sehen von Tönen, das Hören von Farben kommt zustande wie die Einheit des Blicks durch beide Augen: dadurch, dass der Leib nicht eine Summe nebeneinandergesetzter Organe, sondern ein synergisches System ist, dessen sämtliche Funktionen übernommen und verbunden sind in der umfassenden Bewegung des Zur-Welt-Seins, [...].“ Merleau-Ponty (1966), S. 273.
4
Mit Nennung der männlichen Form ist in diesem Buch immer auch die weibliche ge-
5
Koch (2010), S. 7.
meint.
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genwirken. Denn eine derartige Auslegung verstellt das Potenzial des Synästhetischen als Modell und Denkfigur. Werden die Wahrnehmung, die Sinne und der Körper mittlerweile selbstverständlich als historisch und kulturell determiniert vorgestellt, so haftet der Synästhesie nach wie vor der Nimbus einer ‚ursprünglichenʻ, präsemiotischen oder präsemantischen Erfahrung an, der in Theoretisierungsversuchen quer durch die Disziplinen immer wieder durchschlägt. Das führt zu einer erheblichen Verwirrung um den Begriff und einer permanenten Vermischung seiner phänomenalen und diskursiven Existenz.6 Synästhesie als Diskurs zu verstehen, der in spezifischen historischen und kulturellen Bedingungen verwurzelt und diese wiederum mitgestaltet, richtet dagegen den Blick auf einen Akt des Entwerfens. In den Fokus kommen auf diese Weise wandelbare Ausformulierungen des Synästhetischen seit dem 19. Jahrhundert, die als Ergebnisse medialer Wahrnehmungspraktiken und Verhandlungsraum für damit verbundene Wissens- und Erkenntnisstrategien deutbar sind. Sichtbar werden unter dieser Prämisse Schnittstellen von Kunst, Medien und Wissenschaft, aus denen Entwürfe der Sinne, des Körpers und des Subjekts ebenso hervorgehen wie kulturelle und künstlerische Praktiken. Der Synästhesiediskurs stimuliert dabei gleichermaßen Utopien und Praktiken ganzheitlicher, leiblich basierter Ausdrucks-, Wissens- und Lebensformen wie Visionen und Umsetzungen neuer Medientechnologien und verbindet sie miteinander nicht als Gegensätze sondern in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Diese Betrachtungsweise stellt ein Desiderat der Forschung dar und eröffnet eine neue Sicht auf das Synästhetische und seinen Wandel im komplexen Gefüge der Medienumbrüche seit der Moderne. Das Synästhetische tritt als kultureller Diskurs hervor, der den Zusammenhang von Medientechniken, Wahrnehmungs- und Wissenspraktiken erfasst und liefert damit zugleich eine Begründung für die bis heute andauernde Faszination des Phänomens Synästhesie. Insofern sucht die Arbeit zu klären, wie das Synästhetische kulturell hervorgebracht und gewertet wird und welche Zuschreibungen und Bedeutungszuweisungen an das Phänomen dabei erfolgen. Die Logik dieser Idee ergibt sich dabei aus der Begriffsgeschichte selbst, denn Synästhesie ist eine Wortschöpfung des 19. Jahrhunderts und besitzt keine bis in die Antike zurückreichende Tradition. Vor dem 19. Jahrhundert existiert das Synästhe6
So benennen z.B. Hans Adler und Ulrike Zeuch in ihrem Sammelband Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne die Begriffsdimensionen von Synästhesie mit so unterschiedlichen und sich zum Teil widersprechenden Begriffen wie Kooperation, Kollision, Interferenz und Parallelaktion der Sinneseindrücke und beschreiben sie als Infragestellung der Trennung der Sinne, eine Art von Wahrnehmung und sinnlicher Erkenntnis, eine Zusatzbegabung und als Begriff für produktive Verfahren in künstlerischer und literarischer Darstellung. Vgl. Adler/Zeuch (2002), S. 1. Vgl. auch Paetzold (2003), Lühe (1998).
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tische demnach weder im Denken, noch in künstlerischen Entwürfen und Praktiken. Als Urheber gilt der Physiologe Alfred Vulpian, der den Begriff 1863/64 in seiner Vorlesung Leçons sur la physiologie générale et comparée du système nerveux als Konstruktion aus der griechischen Vorsilbe ,syn‘ und ,aisthesis‘ einführte, um den Transfer von Reizen eines Sinnes auf Nerven, die nicht für die Weiterleitung der Reize jenes Sinnes spezifisch sind, zu bezeichnen. Dergestalt durch Medizin und Physiologie, den Leitwissenschaften des 19. Jahrhunderts, eingeführt, begann eine intensive Auseinandersetzung mit der Synästhesie, sowohl auf natur- als auch auf geisteswissenschaftlicher Ebene. Der Beginn eines Synästhesiediskurses ereignete sich damit in einem Moment der Kulturgeschichte, der durch weitreichende Umstrukturierungen der kulturellen Ordnung geprägt war. Als Sehnsuchtsfigur und Vorstellung einer Einheit der Sinne installierte sich das Synästhetische im kollektiven Bewusstsein in Reaktion auf deren mediale und wissenschaftliche Trennung und Fragmentierung. Denn erst aus der wissenschaftlich-physiologischen und technisch-medialen Hervorhebung und Isolierung einzelner Sinne konnte das Besondere ihrer Verbindung in der Erfahrung offenbar werden. Mit der Konstruktion einer Geschichte der Synästhesie, die ihr ,Schon-immer-Vorhandensein‘ suggerierte und u.a. Aristoteles, John Locke, Johann Gottfried Herder oder Johann Wolfgang von Goethe zu Ahnen erhob, wurde das Synästhetische in der Folge anthropologisch und kulturhistorisch verankert. Dieser nachträgliche Akt der Erfindung einer Traditionslinie wird bisher in der Forschung nicht berücksichtigt oder vielmehr verleugnet. So beginnen auch noch aktuelle Abhandlungen zur Synästhesie häufig mit Aristoteles und verstellen den konstruktiven Charakter des Synästhetischen als Denkfigur der Moderne.7 Hier gilt es klar zwischen einer phänomenalen Ebene der Synästhesien und einer diskursiven Ebene des Synästhetischen zu unterscheiden. Denn mögen Synästhetiker möglicherweise schon immer existiert haben oder zu einem früheren zivilisationsgeschichtlichen Zeitpunkt alle Menschen Synästhetiker gewesen sein, wobei der aus dieser Annahme erwachsende Erkenntnisgewinn fragwürdig wäre, so beginnt der Synästhesiediskurs erst mit der Begriffs7
So schreibt Mădălina Diaconu: „Trotz dieser relativ neuen Geschichte des Wortes gibt es keinen Grund anzunehmen, dass das damit bezeichnete psychologische Phänomen nicht immer schon in allen Kulturen bekannt ist. Dafür sprechen insbesondere die zahlreichen Beispiele von (kosmischen, symbolischen) Korrespondenzen in den prämodernen Kulturen (etwa im traditionellen chinesischen Denken oder zwischen Farben und den Weltreligionen bei den Zunis [...]). Außerdem gelten für Theorien der Synästhesie als Vorläufer Philosophen wie Aristoteles durch seine Theorie des Gemeinsinnes [...] oder Locke, der anscheinend erstmals einen Fall von Farbenhören erwähnt, und zwar eines Blinden, der die Farbe Scharlachrot wie ‚the sound of a trumpet’ beschreibt [...].“ Diaconu (2012), S. 42. Und auch Cretien van Campen beginnt in The Hidden Sense die Geschichte der Synästhesie mit Aristoteles Gemeinsinn. Vgl. van Campen (2009a), S. 2.
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bildung im 19. Jahrhundert. Daraus resultieren neue und andere Fragen: Warum und unter welchen Konstellationen und Bedingungen erschien eine Theoretisierung und Diskursivierung zu diesem Zeitpunkt möglich und sinnvoll erschien und setzt sich bis heute fort? Nimmt die Arbeit die Entwicklung technischer Medien in Verbindung mit einem physiologischen Neudenken der Wahrnehmung als entscheidenden Auslöser eines Synästhesiediskurses an, so ist zu klären, in welchem Verhältnis phänomenale und diskursive Ebene dabei zueinander stehen. An diesem Punkt setzt die Idee an, das Synästhetische als ein kollektives Imaginäres zu fassen, das Sehnsüchte und Utopien aufnehmen kann, die als Zuschreibungen an das Phänomen den Synästhesiediskurs bestimmen. Das impliziert zugleich historisch und kulturell wandelbare Konstrukte, in denen sich spezifische Problemstellungen materialisieren. Dabei behält die Synästhesie auf phänomenaler Ebene eine Offenheit und Flexibilität für neue Agenten, die das Synästhetische als Denkfigur im kulturellen Diskurs anschluss- und anpassungsfähig machen. Die persönlichen Erfahrungen und Beschreibungen der Synästhetiker, die seit den 1860er Jahren bis heute tatsächlich eine erstaunliche Konsistenz aufweisen, speisen dabei den Diskurs permanent, indem ihre Aussagen auf die grundsätzliche Subjektivität der Wahrnehmung verweisen und darüber hinaus die darin enthaltene Erkenntnisfunktion deutlich machen: „About 3 days ago, I discovered that synesthesia is the name for the way I have been thinking my whole life. My mother clipped an article from the Washington Jewish Week […] for me […] and the article mentioned that a[n] […] subset of people are ,synesthetes‘ and see colors for every musical tone. Well, it was like a thousand Hallelujah choruses in my head at once. It has a name! Though I know that only one in so many people have synesthesia, I honestly can’t imagine what it must be like NOT to see the world in a series of colors. Everything in my mind is color-coded. For me, what I now know to be synesthesia is not just a cute or freakish ,talent‘, it is the manner in which I organize my thoughts and understand the world around me. I don’t know why I see the colors that I do. I don’t know why Biology is green, Chemistry is red, and Physics is yellow. They just are.“8
Schildert diese Beschreibung eine typische Erfahrung synästhetisch wahrnehmender Menschen, die zunächst meist nicht wissen, dass sie eine spezielle Form der Wahrnehmung besitzen und erst im Laufe ihrer persönlichen Entwicklung auf ihr ,Anders-Sehen‘ stoßen, so lässt sich dieses ,Initialerlebnis‘ auf die Kulturgeschichte übertragen. Beginnt der Synästhesiediskurs mit einem Prozess der Namensgebung, in dem sie als Besonderheit erst hergestellt wird, so wird auch auf subjektiver Ebene die besondere Wahrnehmung erst durch den Begriff bewusst und in ihrer Diffe-
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Ein Synästhetiker zit. nach Day (2004), S. 30.
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renz und Wirkung in einem Lernprozess erkannt. So schreibt die Synästhetikerin Carol Steen: „Ich habe gelernt, eine feinere Aufmerksamkeit gegenüber dem, was ich sehe, zu haben, zu merken, wie ich es nutze, und mir bewusst zu werden, in welchem Umfang ich meine synästhetischen Wahrnehmungen nutzen kann. Sie sind eine Leitlinie und eine Weise, Erfahrung in Verstehen zu übersetzen.“9
Als subjektive Wahrnehmungserfahrung muss Synästhesie erst entdeckt werden und erscheint dann als spezifische, auf sinnlicher Erfahrung basierende Art zu denken. Dieser Selbst- und Identitätsfindungsprozess findet sich auf kulturhistorischer Ebene quasi symptomatisch wieder. Zugleich fungieren die subjektiven Aussagen der Synästhetiker als Antworten auf kulturelle Brüche und Problemstellungen der Zeit und eröffnen einen Weg der Anpassung des Subjekts an sich medial wandelnde Umwelten. So fallen insbesondere kulturelle Umbruchsphasen, in denen durch einschneidende Medienumbrüche motivierte gesellschaftliche Veränderungen eine Neuverhandlung der Sinne, des Körper sowie von Wahrnehmungs- und Wissenspraktiken erfordern, mit einem verstärkten Interesse an der Synästhesie zusammen, wie etwa um 1900 oder am Ende des 20. Jahrhunderts. Dabei vermag die Synästhesie als subjektive Wahrnehmungserfahrung die Rolle des Subjektes im Rahmen komplexer Medienwelten zu thematisieren, während sie auf diskursiver Ebene Ausformulierungen des Synästhetischen stimuliert. Brüche im Synästhesiediskurs, der Wandel von Synästhesiekonzepten sind somit zugleich Hinweise auf Veränderungen kollektiver Wahrnehmungsmuster und Wissensformen im Kontext der Medienentwicklung. Die Umgestaltung von Synästhesiekonzepten, also Brüche im Synästhesiediskurs selbst, sind somit auch Ausdruck von sich durch technische Medien wandelnden Wissensformen. Als Projektionsfläche bietet sich das Synästhetische dabei sowohl Gegenmodell zum Zivilisationsprozess als auch als utopische Zukunftsvision und darüber hinaus als beides zugleich an. Wie sonst ließe sich die anhaltende Faszination an dem Phänomen und die Expansion des Begriffes quer durch Disziplinen wie Medizin(-geschichte), Neurologie, Psychologie, Philosophie, Ästhetik, Literatur-, Musik-, Kunst- und Architekturwissenschaft oder künstlerischen Gattungen, Strömungen und Praktiken erklären. Und obwohl – oder vielleicht gerade weil – bis heute neurologisch noch immer fraglich ist, wodurch Synästhesien verursacht werden, gehen sie auf diskursiver Ebene immer wieder neue Bezüge ein.10 Was den Diskurs antreibt und worauf er reagiert, sind neue Medientechnolo-
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Steen (2007), S. 228.
10 So ist z.B. der Bereich des industriellen Klang- und Geräuschdesigns ein relativer junger Agent in der Beschäftigung mit der Synästhesie. Alle Sinne des Konsumenten sollen
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gien, in deren Lichte sich die Eigenheiten und subjektiven Elemente menschlichen Wahrnehmens und Wissens erst offenbaren und die deren Reorganisation und Neustrukturierung erfordern. „Als Erweiterung und Beschleunigung des Sinneslebens beeinflusst jedes Medium sofort die gesamte Sinnesorganisation“11, beschrieb bereits Marshall McLuhan. Diese Prozesse bilden sich im Synästhesiediskurs als Verhandlungsraum zwischen Kunst, Medien und Wissenschaft ab, in dem sie spezifische Ausformulierung des Synästhetischen hervorbringen, die wiederum auf künstlerische Praktiken, wissenschaftliche Modelle und mediale Entwicklungen zurückwirken. Das verdeutlicht die Arbeit durch eine Analyse und Auswertung der Aussagen über das Phänomen seit etwa 1860 in Hinblick auf ihre jeweilige historische, kulturelle und disziplinäre Verortung. Zu berücksichtigen sind dabei sowohl wissenschaftliche Beschreibungen als auch künstlerische Entwürfe und Praktiken sowie deren Rezeption. Einer Verengung auf eine Definition von Synästhesie widerstehend, interpretiert die Arbeit die Begriffsverwirrung vielmehr als Hinweis auf einen konstruktiven Prozess, der sich um das Phänomen ereignet und möglicherweise einem Muster folgt. Existiert zwar bereits eine Unterscheidung in eine historische Synästhesieforschung um 1900 und eine aktuelle seit etwa den 1980er Jahren, so kennzeichnet diese lediglich eine rein zeitliche Einteilung. Inhaltlich werden diese Phasen kaum differenziert, obwohl sich völlig verschiedene Implikationen, Bedeutungen und Zuschreibungen mit dem Phänomen verbinden. Avancierte die Synästhesie um 1900 beispielsweise zum Modell für eine gegen Entfremdung und Fragmentierung gerichtete gesamtsinnliche Wahrnehmung und Zugang zu einem nicht-sprachlichen, kollektiven Wissen,12 so wird sie in aktuellen technozistischen Phantasien zum Versprechen einer ultimativen technischen Erweiterung der Sinne in Mensch-Maschine-Kopplungen.13 Der Versuch, diese verschiedenen Auffassundurch das Produkt, sei es ein Auto, ein Bauwerk oder ein Schokoriegel, angesprochen werden. Vgl. Haverkamp (2001). 11 McLuhan (1994), S. 79. 12 „Die Rehabilitation synästhetischer Wahrnehmung als Gegenmodell zu einer auf rationalistischen Übereinkünften und Zweckrationalität beruhenden Kultur durch die Symbolisten war mehr als ein Traum oder Ritual der Entgrenzung. Es war ein Versuch, eine kontur- und gestaltlos gewordene Moderne über andersartige Strukturen und Ordnungsmuster zu erfassen. Die Zweck-Mittel-Logik und die Subjekt-Objekt-Spaltung werden verlassen zugunsten einer anderen, auf Einsicht in Korrespondenzen, Analogien und damit ‚unterirdischenʻ, verborgenen Zusammenhängen ausgerichteten Erkenntnisform, die sich der rationalistisch geprägten Alltagswahrnehmung entzieht.“ Baxmann (2000), S. 139. 13 „So lange wir auf unsere beschränkten natürlichen Sinne angewiesen sind, ist es äußerst schwierig für uns, etwas wahrzunehmen, was über Erkenntnisse hinausgeht, die durch
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gen als mögliche Deutungsräume im Rahmen spezifischer wissenschaftlicher, medialer und künstlerischer Diskurse zu verstehen, offenbart einen Blick auf die das Synästhetische jeweils konstituierenden Faktoren und die in ihm verhandelten Problemfelder, Sehnsüchte und Utopien. Denn letztlich geht es immer darum, ein in dem Phänomen Synästhesie verborgen geglaubtes oder vermeintlich im Zivilisationsprozess verloren gegangenes Wissen zu Tage zu fördern und beschreibbar zu machen. Die daraus hervorgehenden Ausformulierungen des Synästhetischen befördern wiederum eine Disziplinierung, Hierarchisierung, Verwissenschaftlichung und Technisierung der Sinne, gegen die das Phänomen paradoxerweise als ganzheitliche, alle Sinne einbeziehende, leiblich-sinnliche Erfahrungswelt immer wieder gesetzt wird. Von Beginn an ist das Synästhetische dabei mit der künstlerischen Sphäre verbunden, wenn es nicht sogar aus ihr hervorging. Operiert es im Bereich der Wissenschaft als theoretisches Modell für neue Wahrnehmungserfahrungen so auch als künstlerisches Experimentierfeld für die praktische Umsetzung neuer Wahrnehmungsmuster und die Schulung der Sinne. So ist z.B. die Idee des Gesamtkunstwerks ein solcher Versuch, die Wahrnehmung zu intensivieren und zugleich auf neue Wahrnehmungserfahrungen, wie sie später vom Film gefordert werden, vorzubereiten. Dabei produziert die Kunst selbst synästhetische Konzepte, die wiederum auf die Wissenschaft zurückwirken. Dieser Ansatz impliziert zwei Dimensionen der Analyse, die sich in einer Untersuchung der generellen Bandbreite des Begriffes und einer historisch ausgerichteten Betrachtung von Synästhesiekonzepten niederschlagen. Der erste Teil der Arbeit nähert sich daher zunächst der Vielfalt von Verwendungszusammenhängen des Begriffes Synästhesie. Gilt es damit zum einen das Spektrum oder das Feld zu umreißen, in dem der Synästhesiediskurs agiert, so ergibt sich daraus der aktuelle Forschungsstand zum Thema, an dem zugleich der eigene Ansatz geschärft und verdeutlicht werden soll. Denn was sich in der Betrachtung der verschiedenen Zuden von unseren Sinnen begrenzten Input entstehen. [...] Eine technisch erweiterte Wahrnehmung würde vermutlich die Geheimnisse körperlicher und kognitiver Prozesse vor uns ausbreiten. Eingepflanzte Mikro- und Nanomaschinen könnten uns alle körperlichen Prozesse vor Augen führen, uns mit nützlicher Information versorgen und Alarm schlagen, wenn ein Schwellenwert erreicht wäre. Die Information könnte durch ein visuelles Signal auf unseren Netzhautlinsen oder auf ein Sehnervimplantat ins Bewusstsein gerückt oder aber in ein anderes sinnliches Signal verwandelt werden. Wir könnten zum Beispiel unsere ER-Apparate darauf programmieren, Bluthochdruck als roten Nebel in unserem Sehfeld sichtbar zu machen [...]; sie könnten körperliche Verletzungen ohne die Empfindung von Schmerz sichtbar machen und uns auf ungewöhnliche Anforderungen an unser Immunsystem hinweisen. Je mehr wir von unseren inneren Prozessen sehen und verstehen können, umso weniger werden wir zwischen Geist und Körper unterscheiden.“ More (1998), S. 342f.
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gänge und Definitionen zeigt, ist, dass diese immer wieder auf andere Disziplinen verweisen und zudem jeweils in einen spezifischen wissenschaftlichen, künstlerischen oder medialen Kontext eingebettet sind, der die Theoretisierung determiniert. So fließen auf neurowissenschaftlicher Ebene Vorannahmen über die Funktionsweise des Gehirns und Wahrnehmungsmodelle oder in geisteswissenschaftlicher Dimension Forderungen nach Inter- oder Transdisziplinarität in die Definitionen ein und stimulieren diese wiederum. Das bedingt die zweite Dimension der Analyse des Materials vor dem Hintergrund historischer Konstellationen, die Gegenstand der folgenden vier Kapitel sind. Dabei kristallisieren sich jeweils dominante Deutungsmuster und charakteristische Ausformungen heraus. So ist die Zeit von etwa 1860 bis 1920, v.a. geprägt von Diskussionen und Debatten um die Definition des Phänomens in Bezug auf seine grundsätzliche Natur, seine spezifischen Eigenschaften und Formen, aus denen das Synästhetische als neues Wahrnehmungsmuster der Moderne überhaupt erst hervorgeht. Parallel avanciert v.a. die Bühne in der Entdeckung ihrer spezifischen Mittel zum Experimentierfeld synästhetischer Entwürfe. Dagegen werden die 1920er und 1930er Jahre deutlich von der Interpretation des Synästhetischen als allgemein menschliche Eigenschaft und anthropologische Konstante dominiert, die in Projekte und Entwürfe eines neuen Menschen und einer neuen Gemeinschaft integriert werden. Der Schauplatz der künstlerischen Auseinandersetzung verlagert sich dabei auf den Film und den Tanz. Ab den 1940er Jahren bis in die 1970er Jahre hinein stehen einem Fehlen des Synästhetischen im wissenschaftlichen Diskurs mit Happenings, Installationen oder Videokunst eine Vielfalt neuer ästhetischer Techniken, Praktiken und Kunstformen gegenüber, die synästhetische Korrespondenzen als intermediale Effekte gleichermaßen in Kombinationen von Medientechniken wie in subjektiv und performativ generierte Wahrnehmungserfahrungen transformieren. Erst seit etwa den 1980er Jahren nehmen wissenschaftliche Beschreibungen des Phänomens wieder zu, nachdem die Neurowissenschaften deren Wiederentdeckung als ,Multimedia der Sinne‘ inszenierten. Daraus geht eine Deutung des Synästhetischen als kreative Fähigkeit des Subjekts in multiplen medialen Welten hervor, die nicht mehr nur durch eine Medienkunst, sondern in Computerspielen und Datenbrillen v.a. durch die Populärkultur bebildert wird. Das Synästhetische erscheint damit als Projektionsfläche und Denkfigur eines medial bedingten Wandels von Wahrnehmungs- und Wissenskulturen, die sich prägnant in vier Phasen verdichten lassen. Das letzte Kapitel führt die Synästhesiekonzepte noch einmal als Projektionen des Medialen zusammen und formuliert daraus Muster eines Synästhesiediskurses. Dieser steht v.a. mit der Geschichte technischer Medien in Verbindung, die angefangen mit rein visuellen Formen wie Fotografie und Film über audiovisuelle Kombinationen in Fernsehen und Video und deren digitale Vereinheitlichung bis hin zu neuesten Visionen eines taktilen Internets und haptischen Datenhandschuhen immer weitere sinnliche Dimensionen er-
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obern und verknüpfen. Das Auftauchen neuer Konzepte des Synästhetischen lässt sich demnach als ein medial bedingter Wandel von Wahrnehmungs- und Wissensformen interpretieren, während die jeweils historisch spezifischen Synästhesiekonzepte selbst theoretisch und praktisch zum Schauplatz neuer Entwürfe der Wahrnehmung und des Wissens werden. Diese Vermutung bestätigt sich beispielsweise auch in jeweils von der Forschung für dominant erklärten Synästhesieformen. Behauptete das 19. Jahrhundert noch die audition colorée, das Farbenhören, als am häufigsten vorkommend, so setzt die aktuelle neurowissenschaftliche Forschung eine Grafem-Farben-Synästhesie als verbreitetste Form. Bei dieser werden in farbigen Buchstaben und Zahlen nicht mehr zwei Sinne verbunden, sondern sinnliche Elemente mit Kategorien des Wissens. Parallel dazu zielten die neuen Medientechniken des 19. Jahrhunderts mit Fotografie, Kinematografie und Phonografie auf die Sinnessphären von Hören und Sehen und veränderten davon ausgehend kulturelle Wahrnehmungsmuster, während die digitale Medienrevolution v.a. auf eine Veränderung von kulturellen Kommunikations- und Wissenspraktiken hinwirkte. So spiegeln Synästhesiekonzepte letztlich immer auch idealisierte Entwürfe des Menschen in Anpassung an medial sich wandelnde Umwelten. Synästhetikern werden heute Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben, die gerade in einer medial organisierten, informationsbasierten Arbeits- und Lebenswelt von besonderem Vorteil sind. Stehen heute Kreativität, empathische Begabung oder die Fähigkeit zum Querdenken im Fokus, so betonten die 1920er Jahre v.a. die Sensibilität für unbewusste Erfahrungen. Das impliziert zugleich, dass sich der Synästhesiediskurs in Zukunft weitere thematische Felder und Kontexte erschließen und der Begriff seine Bedeutung weiter vervielfältigen wird.
I. Das Synästhetische als Imagination und kulturelles Konstrukt
Wird das Sprechen über Synästhesie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Untersuchungsgegenstand und nicht das Phänomen selbst, so gerinnt das Synästhetische zum Konstrukt, zu einer Projektionsfläche und einem kollektiven Imaginären. Möglich wird ein Hinterfragen der Funktionen im jeweiligen Kontext und die Offenlegung der hinter verschiedenen Bedeutungen liegenden verborgenen Strategien. So erscheint eine phänomenologische Deutung der Synästhesie als Einheit der Sinne in der leiblichen Erfahrung unter dieser Prämisse lediglich als eine Zuschreibung unter anderen, die jedoch an spezifische Bedingungen gebunden und auf diese rückführbar ist. Eine historisierende Lesart ermöglicht es, in den Aussagen, Erklärungen und Entwürfen verschiedener Disziplinen zwischen einer phänomenalen und einer diskursiven Beschreibungsebene der Synästhesie zu unterscheiden und offenbart, dass beide in einer ganz besonderen Art und Weise verbunden sind und sich gegenseitig durchdringen. So beschreibt z.B. Heinz Paetzold im historischen Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe drei theoretische Kontexte, in denen „Begriff und Sache der Synästhesie [...] eine Art Rolle im Hintergrund“1 spielen. Der erste sei ein aus Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes herleitbarer methodischer Leitfaden zur Beschreibung einer Kunstphilosophie der „neueren Moderne“, der geeignet sei, „die bei ästhetischen Erfahrungen [...] vorauszusetzende leibliche, d.h. in der Einheit der Sinne und nicht im diskursiven begrifflichen Denken verankerte Synthesis zu durchleuchten“2. Ein zweiter Kontext sei der einer kontemplativen Haltung und ästhetischen Erfahrung der Natur im Sinne einer synergetischen Öffnung aller Sinne.3 Und als dritten Kontext „von eher indirekter Natur“ eröffnet Paetzold „einen theoretisch nur schwer zu erfassenden Zusammenhang zwischen dem in der Gegenwart neu erwachten Interesse an der Synästhesie einer1
Paetzold (2003), S. 840.
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Ebd.
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Ebd, S. 841.
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seits und dem Vordringen der im Zuge der neuen Technologien entstehenden interund multimedialen Kunst- und Kulturformen andererseits“4. Aus der hier entwickelten Sichtweise auf das Synästhetische sind diese drei Kontexte dagegen jedoch nicht voneinander isolierte Einsatzbereiche und Wirkungsfelder sondern stehen in elementarer Verbindung. Denn das Synästhetische erscheint im kulturellen Diskurs als Reaktion auf neue Medientechniken und Modell für eine von diesen geforderte und installierte Wahrnehmungserfahrung der Moderne. In Koexistenz mit diesen stimuliert es Visionen und Utopien einer gesamtsinnlichen Erfahrung, die das Technische wiederum an anthropologische Wissensbestände binden. Das Problem, Synästhesie in medialen Kontexten zu fassen, wie Paetzold es beschreibt, resultiert also aus einer unzureichenden Historisierung des Synästhetischen im Hinblick auf seine kulturelle Bedingtheit. Das zeigt sich z.B., wenn Michael Giesecke schreibt: „Mit politischer und physischer Gewalt verdrängte man individuelle synästhetische Erkenntnisformen zu Gunsten eines genormten Sehens. [...] Die Geschichte der typografischen Massenkommunikation ist nicht nur eine Geschichte der Befreiung, sondern auch eine solche der Unterdrückung, der Versklavung der Sinne, der Prämierung von Eindimensionalität.“5
Giesecke nimmt und setzt hypothetisch ein synästhetisches Erleben vor dem Einzug technischer Medien in die Kulturgeschichte an, das durch diese verdrängt werde. Was aber synästhetisches Erleben überhaupt ist, wird erst im 20. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit technischen Medien ausformuliert und rückwirkend operativ vor und gegen sie gestellt. Anders als Paetzold es beurteilt, ist sein dritter Kontext somit nicht „von eher indirekter Natur“, sondern elementarer Bestandteil der Theoretisierung der Synästhesie. Die Projektion der phänomenalen Ebene in frühere Phasen der Kultur, wie auch immer diese im Einzelnen als ,ursprünglich‘, ,vormodern‘ oder ,vorindustriell‘ deklariert werden, verleugnen den konstruktiven Charakter des Synästhetischen auf diskursiver Ebene. In der Synästhesie als Erscheinung der Kulturgeschichte liegt damit eine Spannung verborgen, die sich zwischen der Setzung als anthropologische Konstante und einem offensichtlich vielfältigen Deutungen zugänglichen Konzept aufspannen. Dabei hängen diese beiden Wesenszüge unmittelbar zusammen und sind aufeinander bezogen. Als Phänomen verweist Synästhesie in ihrer bisher immer noch ungeklärten neurologischen Funktionsweise auf eine verborgene Dimension, ein ,Mehr‘, das unterschiedlich besetzt wird. Ihre Erforschung und Konzeptualisierung ist der Versuch, dieses ,Mehr‘ greifbar und instrumentalisierbar zu machen. Das Synästhetische ist damit im Sinne einer Sehnsuchtsfigur zugleich Ausdruck eines Mangels, der sich in der jeweiligen Ausformu4
Ebd.
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Zit. nach Filk/Lommel (2004), S. 13.
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lierung selbst manifestiert. Entwickelt die Wissenschaft dabei theoretische Modelle synästhetischer Wahrnehmungs- und Wissensprozesse, so muss die Kunst als deren Transformation in konkrete Praktiken und Handlungsanweisungen verstanden werden. Die spezifischen Konzeptualisierungen der Synästhesie sind weit davon entfernt, pseudowissenschaftliche oder esoterische Vorstellungen zu sein, sondern reagieren auf aktuelle kulturelle, wissenschaftliche und mediale Diskurse, mit denen sie fest verwoben sind. Das Synästhetische besetzt Leerstellen, die in der kulturellen Entwicklung aufgerissen werden, während seine konstruktive Generierung durch eine anthropologische Verankerung der Synästhesie als ,ursprüngliche‘ Einheit der Sinne ausgeblendet wird. Konzentrieren sich – bis auf wenige zaghafte Versuche einer kulturhistorischen Betrachtung – die meisten Untersuchungen entweder auf die Synästhesie als spezielle Form der Wahrnehmung, als künstlerische Strategie oder als Beschreibungskategorie für eine Verbindung der Künste und der Medien ohne die Verwobenheit dieser Kontexte zu berücksichtigen, so werden diese hier lediglich als Deutungslinien und Instrumentalisierungen des Synästhetischen betrachtet. Hervorgehoben wird damit das Potenzial des Synästhetischen als Denkfigur einer sich mehr und mehr medialisierenden Kultur seit der Moderne. Ein Hauptproblem vorliegender Studien zur Synästhesie ist der immer wiederkehrende Versuch der Differenzierung in ein ,echtes‘ Wahrnehmungsphänomen einzelner Subjekte von eher psycholgischneurowissenschaftlichem Interesse und ein mehr metaphorisches Verständnis im Sinne von Geisteswissenschaft und Kunst. Diese Ebenen können jedoch nicht voneinander getrennt werden, da sie sich in ständiger Wechselwirkung befinden, die bereits in der Entstehungsgeschichte des Phänomens im 19. Jahrhundert angelegt ist. Denn von Beginn an ist die wissenschaftliche Beschreibung der Synästhesie eng mit der Sphäre künstlerischer Produktion und Rezeption verbunden, so dass unentscheidbar ist, ob zuerst Künstler oder Wissenschaftler das Phänomen ,entdeckten‘. Vielmehr muss sich die Perspektive von begrifflichen und disziplinären Debatten auf die in Wissenschaft und Kunst gleichermaßen ausgelöste Faszination der Synästhesie verlagern, die als Folge jeweils aktueller kultureller Problemstellungen zu verstehen ist. Damit eröffnet sich ein wissenschaftliche Disziplinen überschreitender und gängige Dichotomien ignorierender Raum, in dem vielfältige Bezüge sichtbar werden. Im Folgenden soll zunächst das Spektrum des Begriffes Synästhesie aufgezeigt werden, um Deutungsräume zu umreißen. Stellen diese disziplinär spezifischen Definitionen den Forschungsstand zur Synästhesie dar, so sind sie zugleich Untersuchungsobjekte in Hinblick auf die Frage, welche Funktionen des Synästhetischen gegenwärtig im kulturellen Diskurs wirksam sind. Die anschließenden Überlegungen entwickeln daher auch Tendenzen zu einer kulturhistorisch übergreifenden Perspektive, um den eigenen Ansatz zu schärfen.
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I.1 F ASZINATION UND E NTGRENZUNGEN Was bei Betrachtung der verschiedenen Ansätze und Definitionen der Synästhesie zunächst auffällt, ist zum einen intensive Verweistätigkeit untereinander in Form von Erläuterungen der Verwendung des Begriffes in anderen Disziplinen und Kontexten. Zum anderen findet eine präzise Verortung in einem spezifischen wissenschaftlichen, künstlerischen oder medialen Themenfeld statt, die die Theoretisierung determiniert. So fließen auf neurowissenschaftlicher Ebene beispielsweise Vorannahmen über die Funktionsweise des Gehirns oder in den Geisteswissenschaften Forderungen nach Inter- oder Transdisziplinarität in Entwürfe der Synästhesie ein. In der neueren Diskussion erscheint die Synästhesie besonders prägnant im Kontext der Untersuchung und Analyse von Medientechniken und medialen Ästhetiken. Die Rolle dieser Faktoren bei der Ausgestaltung des Synästhetischen selbst bleibt jedoch sowohl in historischer wie auch in aktueller Perspektive unberücksichtigt. Die gegenwärtige Faszination und das neuere Interesse an der Synästhesie lassen sich auf die Arbeit des amerikanischen Neurophysiologen Richard Cytowic zurückführen, der diese spezielle Wahrnehmungsform mit seinem Buch Synesthesia. A union of the senses von 19896 in den Status wissenschaftlicher Präsenz erhob. Ging es Cytowic als klinischem Neurologen vorrangig darum, diagnostische Kriterien zu finden und zu formulieren,7 so zeichnete er ein für die folgende Diskussion
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Kurze Zeit später veröffentlichte er seine Forschungen auch in dem populärer gehaltenen Buch The Man who tasted Shapes von 1993, das 1997 unter dem Titel Farben hören, Töne schmecken auch auf Deutsch erschien und das Phänomen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte.
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Insgesamt legte er fünf objektive Kriterien als diagnostisches Set fest, um die (klinische) Identifikation eines Synästhetikers zu ermöglichen, die mit einigen Ergänzungen auch aktuell noch Gültigkeit besitzen: 1. Es ist ein objektiver Stimulus notwendig. Die synästhetische Reaktion, d.h. die Erregung des nicht durch den Stimulus angeregten Sinnes, kann nicht unterdrückt und auch nicht willentlich hervorgerufen werden. 2. Die synästhetische Erscheinung besitzt eine räumliche Dimension. Sie wird in den Raum, auf einen ,Bildschirm vor dem Gesicht‘ projiziert. (Dieser Punkt wurde mittlerweile erweitert, denn die Projektion der synästhetischen Erscheinung ist nur eine Spielart). 3. Die Synästhesie ist beständig und konstant in der Zeit. Derselbe Reiz löst immer dieselbe Reaktion aus und es existieren feste Zuordnungen. Die zusätzlichen Erscheinungen sind unabhängig vom Kontext und basieren auf elementaren Wahrnehmungselementen und einfachen Strukturen. 4. Semantisch sind sie inhaltslos, sie können leicht und lebhaft erinnert werden und stehen im Zusammenhang mit der Eidetik. 5. Die Synästhesie besitzt eine emotionale Di-
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einflussreiches Bild des Phänomens. Indem er seine Arbeit als einen Akt der ,Wiederentdeckung‘ inszenierte und auf historische Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert wie auch auf den aristotelischen Gemeinsinn verwies, stellte er eine historische Tradition des Phänomens und seiner Beschreibung her. Zudem zählte er eine Reihe von Künstlern auf, die im Sinne seiner diagnostischen Kriterien vermutlich Synästhetiker gewesen seien – von Arthur Rimbaud über Wassily Kandinsky und Alexander Skrjabin bis hin zu Vladimir Nabokov, David Hockney und Olivier Messiaen – und koppelte damit das Phänomen an künstlerische Schaffensprozesse. Noch wesentlicher als die historischen und künstlerischen Bezüge waren jedoch seine Thesen zur Entstehung der Synästhesie, die nichts anderes darstellten als die Infragestellung anerkannter neurowissenschaftlicher Modelle. Nicht nur, dass er Synästhesie als reales Phänomen ernst nahm, während seine Kollegen sie als neurologisch nicht nachweisbare Einbildung abtaten und ihn belächelten. Er vermutete darüber hinaus, auf Grund einer starken emotionalen Komponente der Synästhesie, dass sie hirnanatomisch im limbischen System lokalisiert sei. Als eines der ältesten Elemente des Gehirns steuert das limbische System – bestehend aus dem Hippocampus, dem Thalamus und der Amygdala – Triebe, Motivation und Emotion. Verstand er Synästhesie anhand von Untersuchungen einzelner Synästhetiker zugleich auch als intellektuelle Fähigkeit, so wertete er damit letztlich die Rolle von Emotionen im Rahmen komplexer Denkprozesse auf, die bis dahin allein einem dominierenden Kortex als Sitz des rationalen Denkens und angenommene oberste Schaltzentrale zugeschrieben wurden: „Synästhesie ist die unmittelbarste und direkteste Erfahrung, die mir jemals begegnet ist. Sie ist sinnlich und konkret, nicht irgendein bedeutungsschwangerer intellektueller Begriff. Sie drückt limbische Prozesse aus, die ins Bewusstsein durchbrechen. Sie hat etwas mit Fühlen und Sein zu tun, sie ist viel unmittelbarer als das Analysieren der Ereignisse und das Reden darüber. Ihre Einfachheit und Unmittelbarkeit gehen direkt ins Herz der Dinge.“8
Cytowics Entwurf stellte nicht nur in der Neurowissenschaft allgemein anerkannte Modelle von der Funktionsweise des Gehirns in Frage, sondern machte die Synästhesie für zeitgenössische Diskurse anschlussfähig, die in der Betonung von körperund erfahrungsbasierten Erkenntnisprozessen den Wissensbegriff neu formulierten. So verortet Arbogast Schmitt die neuere Diskussion um die Synästhesie im Kontext einer leib-philosophischen Wende, die in vorreflexiven, präsemiotischen Erfahrungen eine Ganzheit der Gegenstände, eine Übereinstimmung von Ding und Vorstell-
mension. Das limbische System ist intensiv an ihr beteiligt. Vgl. Cytowic (2002a), S. 13ff. 8
Cytowic zit. nach Schmitt (2002), S. 113.
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ung und einen unverfälschten, unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit suche.9 Dass Cytowic seine Thesen kurze Zeit später revidieren musste, da sich bei Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren die angenommene Beteiligung des limbischen Systems nicht nachweisen ließ, lässt bereits konstruktive Mechanismen und Zuschreibungen erahnen, die sich im Umfeld einer Beschäftigung mit der Synästhesie ereignen. Und obwohl widerlegt, bildet sein Entwurf bis heute einen wesentlichen Bezugspunkt geisteswissenschaftlicher Ansätze. Cytowics Versuch einer ,Entschlüsselung‘ der Synästhesie, sein revolutionäres Potenzial und sein Scheitern stehen symptomatisch für die gesamte Synästhesieforschung seit dem 19. Jahrhundert. Denn bei der Verhandlung des Phänomens geht es nicht nur um die Erklärung einer hirnanatomischen oder physiologischen Anomalie, sondern zugleich um Modelle und Entwürfe menschlichen Wahrnehmens, Fühlens und Denkens. So entwickelte die englische Forschergruppe um Simon Baron-Cohen und John Harrison aus der Kritik an Cytowic und dem Beharren auf dem allgemein anerkannten Gehirnmodell die völlig konträre Annahme, dass kortikale Funktionen die Entstehung von Synästhesien bestimmten. Demnach bestünden zwischen modalitätsspezifischen Gehirnarealen Verbindungen, die bei der Reifung des Gehirns zugunsten einer qualitativen Ausdifferenzierung und neuronalen Vernetzung unterbunden würden, bei Synästhetikern aber bestehen blieben.10 Ist damit das Synästhetische Überbleibsel eines frühen, ,unreifen‘ Entwicklungsstadiums und impliziert andere Deutungen und Bewertungen als Cytowics Entwurf, so sind auch diese Thesen bisher nicht eindeutig bewiesen. Ausgehend von diesen Positionen entstanden und entstehen im Bereich psychologisch-neurowissenschaftlich ausgerichteter Disziplinen auf internationaler Ebene Forschungsprojekte mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, die dem Phänomen mit neuesten wissenschaftlichen Techniken und Methoden – wie bildgebenden Verfahren zur Sichtbarmachung der beteiligten Gehirnareale oder der Lokalisierung von möglicherweise verantwortlichen Chromosomen im Rahmen der Genforschung – zu Leibe rücken.11 Bisher jedoch konnten keine eindeutigen Befunde oder Ergebnisse formuliert werden, was die Synästhesie anschlussfähig macht für Spekulationen, Thesen, verschiedenste Diskurse und Themen. So existieren sich widersprechende Theorien und Modelle des synästhetischen Gehirns, die weniger etwas 9
Vgl. ebd., S. 110.
10 Vgl. Baron-Cohen/Harrison (1997), Baron-Cohen (1996), Harrison (2007). 11 Forschungsprojekte zur Synästhesie gibt es u.a. am Institut für Neurowissenschaft und Medizin des Forschungszentrums Jülich, am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmengen (Niederlande), an der School of Psychology der University of East London, an der Universidad de Granada, dem Institut of Cognitive Neuroscience des University College London, an der University of Sussex, am Department of Cognitive Science der Macquarie University of Sydney.
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über das Phänomen aussagen, als vielmehr den historischen und wissenschaftlichen Kontext der Theorien und Modelle selbst widerspiegeln. Dabei fließen Annahmen über die Funktionsweise der Wahrnehmung und des Gehirns in die Theoretisierung der Synästhesie ein, die selbst dem historischen Wandel unterliegen und zudem nicht selten von neuen Medientechniken beeinflusst sind. So lässt sich in historischer Perspektive die Vorstellung von Nervenbahnen um 1900 in Analogie zu Strom- und Telegrafenleitungen lesen, wie auch Freuds „psychischer Apparat“ einen Bezug zur Technologie aufweist.12 Seit etwa den 1960er Jahren wurden Gehirnprozesse zunehmend im Modell der Rechenoperationen eines Computers gedacht, während sich mit dem Internet mehr und mehr der Netzwerkgedanke als Modell für die Arbeit des Gehirns durchsetzte.13 Neurowissenschaftliche Theoretisierungen der Synästhesie sind demnach das Produkt bestimmter Vorstellungen des Gehirns, die sich wiederum aus medialen und kulturellen Diskursen speisen. Andererseits wird die Synästhesie als konkrete Wahrnehmungserfahrung in den Neurowissenschaften immer wieder als Schlüssel zur Lösung der Geheimnisse des Gehirns ins Visier genommen. Sind dessen Einzelteile mittlerweile recht gut erklärbar, so bleibt deren komplexes Zusammenspiel ein Mysterium, wie Christine Eichel beschreibt: „Tatsächlich sehen inzwischen viele Forscher in der synästhetischen Wahrnehmung ein Modell für die Entschlüsselung des Gehirns: Das Gehirn verarbeitet Sinnesreize keineswegs neutral – unsere Wahrnehmung ist vielmehr ein Produkt eines neuronalen Konstruktionsprozesses. Synästhesien sind ein Paradebeispiel dafür, wie sich das Gehirn seine Sinneswelt teilweise selber schafft.“14
Insofern erhält die Synästhesie eine auratisch-utopische Dimension, die bereits in historischen Erklärungsversuchen mitschwang, und wird als Faszinosum inszeniert, während die konstruktiven Elemente verdeckt werden. Denn beeinflussen Medientechniken Vorstellungen des Gehirns, die wiederum Konzeptionen des Synästhtischen bestimmen, das in der Folge als Modell der Funktionsweise des Gehirns instrumentalisiert wird, so vollzieht sich dabei letztlich ein Angleichungsprozess von Wahrnehmungs- und Wissensprozessen an medial geprägte Umwelten. Ein Vergleich historischer und aktueller wissenschaftlicher Theorien und Aussagen über das Phänomen verspricht deshalb die Offenlegung der konstituierenden Faktoren dieser Setzungen. Zumeist werden zeitspezifische, aus unterschiedlichen Kontexten erwachsende Differenzen von Synästhesiekonzepten jedoch zu Gunsten der Herstellung einer Kontinuität und historischen Linearität sowohl des Phänomens 12 Vgl. Asendorf (1989), S. 58ff. 13 Vgl. Müller, Oliver (2010). 14 Eichel (2004), S. 34.
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selbst als auch seiner Erforschung ausgeblendet oder lediglich unzureichenden Methoden und fehlenden wissenschaftlichen Standards zugeschrieben. Dabei zeigen sich bereits bei flüchtiger Betrachtung der historischen und aktuellen wissenschaftlichen Aussagen gravierende Abweichungen. Unterschiede im Bereich der Angaben zur Häufigkeit des Auftretens von Synästhesien, zum Geschlechterverhältnis oder bei den möglicherweise mit ihnen verbundenen Persönlichkeitsmerkmalen werfen Fragen auf und liefern Hinweise auf ein konstruktives, aus einem bestimmten Kontext heraus wertendes Moment.15 Am auffälligsten ist dabei die Variabilität der verbreitetsten Form der Synästhesie. Denn wird um 1900 das Farbenhören im Sinne von visuellen Farbempfindungen beim Hören von Musik als häufigste Form der Synästhesie beschrieben und quasi auch begrifflich mit ihr gleichgesetzt, so derzeit die Grafem-Farbe-Synästhesie, bei der Zahlen oder Buchstaben immer in einer bestimmten Farbe gesehen werden.16 Kann dabei strenggenommen nicht mehr von der Verknüpfung mehrerer Sinne gesprochen werden, so sind jedoch mit Zahlen oder Buchstaben kulturell erlernte Zeichen- und Symbolsysteme involviert. Erklärt z.B. Kevin T. Dann die größere Häufigkeit der Grafem-Farbe-Synästhesie damit, dass Farben und linguistische Symbole Bereiche seien, die Menschen generell stärker nutzen,17 so stellt sich die Frage, ob das um 1900 nicht der Fall war. Viel schlüssiger ist hingegen, die historisch variierenden Dominanzen der Synästhesieformen in der Mediengeschichte zu begründen. Denn arbeiteten die neuen Medientechniken des 19. Jahrhunderts an der Veränderung von Wahrnehmungsmustern im Bereich von Hören und Sehen, so wirkte die digitale Medienrevolution v.a. auf eine Neuformulierung von Kommunikations- und Wissenspraktiken hin. Der Auffassung Ralf Schnells folgend, dass Wahrnehmung generell medial vermittelt sei,18 entpuppt sich das Synästhetische als Projektionsfläche des medialen Wandels und der damit
15 So schwanken z.B. Angaben der Prävalenz der Synästhesie zwischen Zahlen von 1:25 bis 1:1.000.000. Waren um 1900 eher Männer als Frauen Synästhetiker, so sind seit den 1980er Jahren unter ihnen mehr Frauen. Vgl. Dittmar (2007), S. 25, Dann (1998), S. 8. 16 Vgl. Day (2006), S. 18. Auf seiner Webseite veröffentlicht der amerikanische Linguist und Anthropologe Sean A. Day eine Auflistung der existierenden Arten der Synästhesie mit einer Angabe über ihre Häufigkeit. Während das klassische Farbenhören dort mit 34% angegeben wird, zeigen die Grafem-Farbe-Zuordnungen eine Auftretenshäufigkeit von 64,9%. Siehe http://www.daysyn.com [letzter Zugriff 31.8.2016]. 17 Vgl. Dann (1998), S. 7. 18 „Die ‚natürliche’ Wahrnehmungsfähigkeit ist in medial geprägten Gesellschaften in unverstellter Form nicht mehr vorhanden. Die von Menschen geschaffenen medialen Wahrnehmungsformen wirken auf die Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen zurück, prägen sie, formen sie um, adaptieren sie an parallele soziale und technische Prozesse [...], die ihrerseits eine die Wahrnehmung verändernde Qualität besitzen.“ Schnell (2001), S. 74.
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verbundenen Reorganisation kollektiver Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Wissensformen. Ausgehend von Cytowics provokanten Thesen der Tradition synästhetischer Wahrnehmungsweisen in Kultur und Kunst und ihrer Verwurzelung in emotionalleiblich betonten Wissensformen okkupierten die Geisteswissenschaften den Begriff. Mit seiner Auflistung vermutlich synästhetisch begabter Künstler brachte Cytowic die Synästhesie als durch die Neurowissenschaften bestätigte erhöhte Kreativität insbesondere in Verbindung mit Fragen künstlerischer Produktion. So argumentiert z.B. Paetzold, dass neurologische Konzeptualisierungen von Synästhesie beim Verstehen zeitgenössischer Kunstentwürfe behilflich sein könnten, sofern diese von synästhetischen Programmen des künstlerischen Schaffens geleitet seien.19 Das heißt letztlich, dass von Synästhesie in künstlerischen Kontexten nur die Rede sein kann, wenn sich das Kunstwerk oder der Künstler explizit darauf beziehen.20 Das hat z.B. zur Folge, dass in der neueren Literaturwissenschaft, die unter Synästhesie eine Sonderform der sprachlichen Metapher versteht, immer wieder die Frage aufkommt, ob ein bestimmter Autor selbst synästhetische Empfindungen hatte und inwieweit sich generell in poetischen Texten Wahrnehmungserfahrungen spiegeln. In historischer oder kulturvergleichender Perspektive wird eine an thematischen Feldern orientierte Geschichte sprachlicher Synästhesie entwickelt und nach besonders synästhesiebegeisterten Epochen und Vorlieben für gewisse Sinneskombinationen gefahndet, um daraus Rückschlüsse auf die jeweilige Wahrnehmungswelt zu ziehen.21 Dabei wird der fiktive Charakter von Kunst jedoch auf merk19 Vgl. Paetzold (2003), S. 841. 20 Wie z.B. im Fall Vladimir Nabokov, der in seiner Autobiografie seine synästhetische Wahrnehmung beschrieb: „[...] zu alldem kommt, daß ich einen guten Fall von audition colorée, von Farbenhören abgebe. [...] Das lange a des englischen Alphabets [...] hat für mich die Farbe verwitterten Holzes, während ein französisches a mich an poliertes Ebenholz erinnert. [...] Das hafermehlige n, das nudelweiche l und der Handspiegel des o mit seiner elfenbeinernen Rückseite wären die weißen Buchstaben. […] In der blauen Gruppe befinden sich das stählerne x, die Gewitterwolke des z und das heidelbeerfarbene k. Da zwischen Klang und Form eine subtile Wechselwirkung herrscht, sehe ich das q brauner als das k, während s nicht hellblau wie c ist, sondern eine merkwürdige Mischung von Himmelblau und Perlmutt. [...] Die Bekenntnisse eines Synästhetikers müssen sich für Leute, die von festeren Wänden, als die meinen es sind, [...], langweilig und anmaßend anhören. Meiner Mutter hingegen schien das alles ganz normal. Die Sache kam in meinem siebenten Lebensjahr zur Sprache, als ich eines Tages aus einem Haufen Bauklötze einen Turm baute. Beiläufig bemerkte ich, daß die Farben alle nicht stimmten.“ Nabokov (1991), S. 38ff. 21 So existiert eine Vielzahl von Untersuchungen literarischer Synästhesien bei einzelnen Autoren und in verschiedenen literarischen Epochen. Vgl. dazu Utz (1990), Wanner-
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würdige Art und Weise außer Acht gelassen, denn nicht alles, was Autoren schreiben oder Maler zeichnen, haben sie auch wirklich selbst gesehen oder erlebt. Aus dem Scheitern, das neurologische Phänomen eins zu eins auf künstlerische Fragestellungen zu übertragen, wie es sich u.a. in dem Versuch äußert, Künstler post mortem oder auch zu Lebzeiten als Synästhetiker zu ,outen‘, erwächst wiederum die Tendenz, eine Trennung von ,echter‘, wahrgenommener und metaphorischer Synästhesie vorzunehmen. So versuchten z.B. Lawrence Marks oder Klaus-Ernst Behne in einer psychologisch ausgerichteten Deutung, Synästhesie als intermodale Analogiebildung, zu denen grundsätzlich jeder Mensch befähigt sei, zu fassen.22 Dabei würden, so der Psychologe und Musikwissenschaftler Klaus-Ernst Behne, verschiedene Sinnesempfindungen über ein tertium comparationis, wie z.B. die Helligkeit, mit tendenziell gesetzmäßigen Zügen verbunden.23 Die echte Synästhesie, so Behnes Überzeugung, habe mit Kunst wenig zu tun, wie er 1998 in dem Aufsatz mit dem selbstredenden Titel Über die Untauglichkeit der Synästhesie als ästhetisches Paradigma deutlich machte.24 Fruchtbarer sei dagegen die intermodale Analogie, die, seit der Antike reflektiert, einen immer wiederkehrenden Topos in Philosophie, Ästhetik und Literatur seit dem 18. Jahrhundert bilde.25 Dabei muss Behnes Ansatz grundsätzlich hinterfragt werden, denn er zielt lediglich darauf ab, den individuellen Zuordnungen von Synästhetikern, von z.B. Farben zu Tönen, einen ästhetischen Wert und deren konkrete Wirksamkeit im Kunstwerk und im Rezipienten abzusprechen.26 Dass Synästhesien überhaupt mit der Kunst- und Musikgeschichte in Zusammenhang gebracht werden, wertet Behne als Ergebnis einer begrifflichen Fehlentwicklung in Form der Übertragung des neurologischen Begriffes auf ästhetische Phänomene nicht-alltäglicher Erfahrung oder auf ein Modell für die Vereinigung
Meyer (1998), Dreßler (2002), Hachenberg (2005), Laak (2002), Catrein (2003), Lommel (2006), Müller, Simone (2006), Theilen (2008). 22 Vgl. Behne (2002), S. 31, Dann (1998), S. 16, Marks (1990). 23 „[...] bei Synästhesie handelt es sich jeweils um eine absolute Zuordnung, [...] die unabhängig vom jeweiligen Kontext erfolgt und bei der der menschliche Organismus eigentlich nur passiv reagiert. [...] intermodale Analogien hingegen sind als eine relative Zuordnung zu begreifen, deren Relativität sich vor allem aus ihrer Kontextabhängigkeit ergibt. Intermodale Analogien sind das Ergebnis eines jeweils aktuellen aktiven Prozesses, an den ein nach Vergleichsmöglichkeiten suchender beziehungsstiftender Geist beteiligt ist.“ Behne (1991), S. 111. 24 „Ideosynkratische synästhetische Perzepte sind so relevant wie der Fingerabdruck eines Künstlers, und man müsste schon sich selbst zum Kunstwerk deklarieren, um die Linien auf der eigenen Haut zum ästhetischen Objekt zu machen [...].“ Ebd., S. 116. 25 Vgl. Behne (2002) S. 31. 26 Vgl. Behne (1998), S. 120.
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von Künsten im Gesamtkunstwerk.27 Mit seiner Verengung des Synästhesiebegriffes leugnet Behne einen wesentlichen Teil seiner (Entstehungs-)Geschichte, denn gerade in Bezug auf das Gesamtkunstwerks und die wechselseitige Beeinflussung der Künste entfaltete er seit dem 19. Jahrhundert ein breites Wirkungsfeld, das wiederum Theoretisierungen auf (neuro-)wissenschaftlicher Ebene mitbestimmte.28 Damit verkennt Behne das eigentliche Potenzial des Synästhetischen in kulturhistorischer Perspektive und als diskursive Praxis, das über die Ebene individueller Zuordnungen hinaus im Akt des Kombinierens und Einander-Gleichsetzens von Sinneserfahrungen nach einem übergeordneten, allgemein gültigen Prinzip an sich liegt. Denn dieser wurde durch die Ausformulierung und Erforschung der Synästhesie in der Physiologie des 19. Jahrhunderts für die Kunst als Option erst sichtbar und als künstlerische Technik und Praxis greifbar. Die historische Gleichzeitigkeit einer Synästhesieforschung und der Idee des Gesamtkunstwerks als Verbindung der Künste im 19. Jahrhundert muss als Indikator ihrer gegenseitigen Beeinflussung und als Hinweis auf ein Zusammendenken von Wissenschaft und Kunst, ,echter‘ und metaphorischer Synästhesie betrachtet werden. So bezog die Physiologie ihre ersten Fallbeispiele aus der Literatur der Romantik, die damit einen wesentlichen Anteil an der wissenschaftlichen Konzeptualisierung der Synästhesie hatte. Ausgehend von physiologischen Berichten wiederum wurde der Begriff 1902 durch den Literaturkritiker Viktor Ségalen mit seinem Aufsatz Les Synesthésies et l’ecole symboliste in die Literaturgeschichte eingeführt und bildete den Ausgangspunkt einer psychologisch orientierten, hermeneutisch ausgerichteten Formalisierung des Synästhetischen in Literaturwissenschaft, Linguistik und Musikwissenschaft.29 Der 27 „Mit dem Begriff synästhetisches Erleben scheint heute diffus alles bezeichnet zu werden, was in irgendeiner Form Auge und Ohr verbindet: eine Aufführung von Skrjabins Prométhée mit leuchtenden Farben, musikalische Installationen, Filmmusik u.ä. Nichts hat all dies mit Synästhesie zu tun, denn stets werden hier zwei Sinne gleichzeitig physikalisch angesprochen, während das Besondere an Synästhesien ja gerade darin besteht, dass nur Reize in einem Sinnesgebiet vorhanden sind.“ Behne (1991), S. 117. 28 So befassen sich eine Vielzahl von Publikationen unterschiedlicher Disziplinen aus ihrer je eigenen Perspektive der Literatur, Musik oder bildenden Kunst mit Synästhesie und dem Gesamtkunstwerk. Dabei werden unter dem Begriff ,synästhetische Kunst‘ sowohl nur einen Sinn, wie auch mehrere Sinne ansprechende Arbeiten, bis hin zu verschiedenen Medien kombinierende Werke subsummiert. Vgl. Behne (1987), Behne/Kleinen/MotteHaber (1991), Weisstein (1992), Günther (1994), Kienscherf (1996), Brüderlin (1998), Düchting (2002), Hiß (2005). 29 Wie bereits der Titel von Segalen andeutet, stand der Symbolismus mit den Protagonisten Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud besonders im Blickfeld der ästhetischen Auseinandersetzung mit der Synästhesie. Aber auch die Romantik und ihre Dichter, beliebt war v.a. E.T.A. Hoffmann, wurden zu Untersuchungsgegenständen.
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Versuch einer klaren Trennung verschiedener disziplinärer Synästhesiebegriffe verstellt den Blick auf die kulturhistorischen Prozesse und Kontexte, in denen dem Synästhetischen eine Bedeutung, ein Zweck und eine Funktion zugeschrieben wird. Die grundsätzliche Offenheit und Vieldeutigkeit des Synästhetischen muss dabei als Bedingung seiner Wirkungsmöglichkeit angesehen werden. Es kann also nicht darum gehen, den Begriff einer Eindeutigkeit zuzuführen, sondern vielmehr müssen die verschiedenen Begriffsdimensionen thematisch und historisch kontextualisiert und verortet werden, was bisher nur unzureichend unternommen wurde. Wie Behne beklagen stattdessen weitere Autoren wie Jörg Jewanski und Michael Haverkamp die Ausuferung des Begriffes,30 die jede Disziplin dazu zwinge, ihren eigenen Synästhesiebegriff zu definieren.31 Als blinder Fleck und Lücke der Forschung rückt der Gedanke ins Blickfeld, den grenzüberschreitenden Charakter des Synästhetischen sowohl im Hinblick auf wissenschaftliche Disziplinen als auch in Bezug auf gängige Dichotomien wie Natur- und Geisteswissenschaft, Kunst und Wissenschaft ernst zu nehmen und ihn als besondere Qualität zu interpretieren. So bleibt die Frage, warum Synästhesie als Begriff und Phänomen in vielfältigen Kontexten und zu bestimmten Zeiten nahezu inflationär auftaucht, bislang unbeantwortet. In Bezug auf ästhetische Zusammenhänge ist es z.B. wenig aufschlussreich, ob ein Werk oder ein Künstler als synästhetisch bezeichnet werden kann. Viel ergiebiger ist doch die Fragestellung, wieso seit dem 19. Jahrhundert bestimmte Kunstströmungen und Kunstformen besonders empfänglich für die Idee des Synästhetischen sind und wie sich dabei die Verbindung zu einer wissenschaftlich ausgerichteten Synästhesieforschung gestaltet. Gertrud Koch etwa beschreibt im Vorwort des Bandes Synästhesie-Effekte die Synästhesie als aus dem Medizinischen hervorgegangenen Begriff und Modeerscheinung für ästhetische Phänomene seit etwa 1900.32 Allerdings führt 30 „Diese Unmöglichkeit der Grenzziehung führt dazu, dass jegliche Verknüpfung von akustischen und optischen Elementen unter Synästhesie rubriziert wird. Damit wird der Terminus jedoch aufgeweicht und verhüllt mehr, als dass er erklärt.“ Jewanski (1999), S. 94. 31 „Während Mediziner und Sinnesphysiologen in der Regel nur die genuine, bei wenigen Personen manifeste Verknüpfung als Synästhesie anerkennen, steht bei der psycho-physikalischen Betrachtungsweise die intermodale Analogie im Vordergrund. Die Kulturwissenschaften berücksichtigen insbesondere die Zuordnungen über Symbole, Metaphern sowie konkrete Assoziationen und fassen den Begriff weit. Die Entwicklung der Physik ermöglicht Vergleiche der Wellennatur von Licht und Schall, ist so jedoch auch immer wieder Ausgangspunkt vorschneller Übertragungen auf Mechanismen der Wahrnehmung, die sich mit der Entwicklung der Sinnesforschung als nicht haltbar erwiesen haben.“ Haverkamp (2006), S. 33. 32 „Spätestens seit der vorletzten Jahrhundertwende ist der Begriff der Synästhesie zu einer allgemein üblichen Bezeichnung geworden für all diejenigen Phänomene im Alltäglichen wie im Ästhetischen, die sich auf eine Erfahrung beziehen, die intermodal, also zwischen
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sie anschließend den Ursprung dieser ästhetischen Erscheinungen auf das anthropologische Programm Johann Gottfried Herders zurück, anstatt diese in einer sich parallel und in Verbindung zur Synästhesieforschung entwickelnden physiologischen Ästhetik zu lokalisieren. Kann Herder sicher für die Frage nach einer Verbindung der Künste und auch der Sinne in Anschlag gebracht werden, so kannte er den Begriff Synästhesie nicht. In Mode war das Synästhetische um 1900 vielmehr, weil es eine physiologisch fundierte Formulierung des Menschen mit der Sehnsucht nach einer ganzheitlichen Erlebenswelt und daraus resultierenden künstlerischen Entwürfen verband. Dabei stellte es gleichermaßen Modelle für eine Reorganisation der Sinne in industrialisierten Großstadtwelten, den künstlerischen Schaffensprozess, eine neue Rezeptionshaltung der Intensivierung sinnlicher Erfahrungen und für die Etablierung eines nicht-mimetischen, autonomen und abstrakten Ausdruckssystems bereit. Diesbezüglich zumindest interessant ist der systemtheoretische Ansatz von Arnold Wohler, der 2010 unter gleichnamigem Titel die Synästhesie als ein strukturbildendes Moment in der Kunst des 20. Jahrhunderts beschrieb. In Anlehnung an die Systemtheorie Niklas Luhmanns entwirft er das Synästhetische als zentrales Merkmal der Hirnorganisation beim künstlerischen Schaffensprozess und als Komponente künstlerischer Operationen, die eine Anpassung des kognitiven Systems des Künstlers an die Ausdifferenzierung der Kunst im 20. Jahrhundert darstelle.33 Insofern konfiguriere das psychologische Phänomen der Synästhesie eine „Wirklichkeit des Künstlerischen“, in dem es „Bedeutungen und Konzeptionen“ generiert, „deren ästhetische Formen Synästhesie als ein ästhetisches Paradigma in der Kunst der Moderne begründen“34. Aus kunstpädagogischer Perspektive zielt Wohler daverschiedenen Sinnen etabliert ist: [...] – die Kombinationen der fünf Sinne sind unausschöpfbar, und darin liegt auch die Attraktivität für die Künste begründet, die um die Jahrhundertwende explosionsartig die Synästhesie für sich entdecken, deren Erkundung im Medizinischen ihren Ausgang genommen hatte. Als Erweiterung der Aisthesis steht sie im Zeichen von Empfindung und Wahrnehmung, einer der Gründungslinien der modernen Kunst und Ästhetik [...]. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass in der Gleichursprünglichkeit von medizinischem, psychologischem und ästhetischem Diskurs zur Synästhesie ein Modell der Anthropologie steckt, das als ästhetisches Programm von Herder [...] in die Philosophie eingeführt worden war.“ Koch (2010), S. 7. 33 „Die Fähigkeit des kognitiven Systems, Synästhesien im Umgang mit einem sinnlichen Material zu generieren, tritt im 20. Jahrhundert als eine Begleiterscheinung eines Anpassungsprozesses des kognitiven Systems an das Kunstsystem hervor. Künstlerisches Tun wird im Zuge der Ausdifferenzierung des Systems der Kunst mit einer synästhetischen Wahrnehmungsfähigkeit als dem Produkt einer erhöhten Konnektivität des kognitiven Systems gekoppelt.“ Wohler (2010), S. 14. 34 Ebd., S. 13f.
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rauf ab, Kunst als Produkt einer konstruierten Wirklichkeit des Gehirns und des kognitiven Systems des Künstlers zu beschreiben, um die Synästhesie als Lernmethode zur Aktivierung schöpferischer Potenziale und Unterrichtsform zu entwickeln.35 Die Synästhesie als „eine die bewusste Reflexion umgehende Erkenntnisform“36 münde in einem bestimmten künstlerischen Verhalten, einer Ästhetik und Rezeption moderner Kunst, die umgekehrt wiederum zum Indikator für spezifische kognitive Prozesse werden.37 Das so entstandene Kunstwerk bringe, so Wohler, kognitive Prozesse im Sinne einer erhöhten Konnektivität des Gehirns zu Bewusstsein.38 Reduziert Wohler damit Kunst auf Prozesse im Gehirn, die selbst dem Künstler unzugänglich und erst im Anblick des geschaffenen Werkes fassbar sind, so etabliert er die Synästhesie als konstruktiven Prozess in Kopplung an Wahrnehmungs- und Wissensprozesse. Allerdings minimiert er das Auslösen dieser Mechanismen auf eine spezifisch historische Verfasstheit der Kunst im Sinne einer Befreiung von gegenständlichen Bezügen in der Malerei und funktionsharmonischen Zusammenhängen in der Musik und kann andere Faktoren im Rahmen der Systemtheorie nicht berücksichtigen. Das Synästhetische ist für ihn ein jenseits von Gattungsgrenzen wirkendes Strukturmerkmal der Kunst im Sinne einer „erhöhte[n] Assoziationstätigkeit künstlerisch operierender kognitiver Systeme“39, wobei „Kunstproduktion und Kunstrezeption“ generell „Mittel“ darstellen, um „das Gehirn des Menschen leistungs- bzw. anpassungsfähig zu erhalten“40. Weder Aspekte der Mediengeschichte noch Fragen des Subjekts oder des Körpers werden von Wohler im Zusammenhang von Kunst und Synästhesie angesprochen. So kann er im Rahmen seiner Argumentation über die Synästhesie als Generierung und Schöpfung künstlicher Welten in der Kunst hinaus nur sehr wenig aussagen.41 Unterstützt Wohlers Ansatz zwar die These der Synästhesie als Denkfigur, so bleibt sie bei ihm unveränderbar. Aber gerade in historischer Perspektive muss das Synästhetische als ein Feld betrachtet werden, das für vielfältige Diskurse anschlussfähig und somit wandelbar ist. 35 Vgl. ebd., S. 24. 36 Ebd., S. 15. 37 Vgl. ebd., S. 183. 38 Vgl. ebd., S. 274. 39 Ebd., S. 270. 40 Ebd., S. 274. 41 Die Bedeutungsvielfalt des Begriffs spiegelt, Wohler zufolge, die unterschiedlichen Systeme wieder, die unter dem Aspekt der Synästhesie beobachtbar sind. Dabei sind die Systeme selbst Konstrukte eines Beobachters, dessen Wahrnehmung wiederum ein Produkt von Verrechnungsvorgängen sensorischer Daten im Gehirn ist. Die unterschiedlichen Ausprägungen der Synästhesie sind Momente ein und desselben kognitiven Prozesses. Vgl. ebd., S. 179.
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Generell wird bisher immer wieder darauf verwiesen, dass es eine historische Synästhesieforschung um 1900 und eine aktuelle seit etwa den 1980er Jahren gibt,42 ohne zu hinterfragen, ob möglicherweise ein Zusammenhang zwischen beiden Phasen besteht oder nicht, warum gerade zu diesen Zeitpunkten eine Kumulation synästhetischer Konzepte auftritt und in welcher Art und Weise dabei verschiedene Faktoren in Wissenschaft, Kunst und Kultur zusammenspielen. So taucht der Begriff seit etwa 2000 in der Medienwissenschaft vermehrt in Kombination mit dem Schlagwort der Intermedialität auf, was sich in einer Reihe von Publikationen niederschlägt.43 Machte Behne 1998 bei seiner Kritik an der Synästhesie als künstlerischem Prinzip noch abfällige Bemerkungen über ein „mechanistisches, unmittelbar platt analogisierendes Denken“ und „mathematisierbare Umsetzungsstrategien von Bildern in Musik und umgekehrt“ wie sie der Computer ermögliche, indem „Bilder auf dem Monitor und Musik […] aus dem Lautsprecher letztlich als binäre Ereignisse gespeichert sind“44 und beliebig ineinander transformiert werden können, so scheint die digitale Technologie eine Verknüpfung synästhetischer Wahrnehmungsweisen mit inter- und multimedialen Kunstformen herzustellen und zu befördern. Bereits 1964 hatte der Wegbereiter der Medienwissenschaft Marshall McLuhan deutlich gemacht, inwiefern neue Medientechniken kollektive Wahrnehmungsmuster beeinflussen und verändern, und hob bei der Be- und Verarbeitung derartiger kulturell-gesellschaftlicher Prozesse besonders die Rolle der Kunst hervor.45 Die Synästhesie und ihr Auftauchen im künstlerischen Diskurs wertete er als eine Reaktion auf den umfassenden, durch neue technische Medien verursachten Wandel der Sinneskultur: „Als das Zeitalter der Elektrizität sich im späten neunzehnten Jahrhundert durchzusetzen begann, griff die ganze Welt der Kunst nach den bildsymbolischen Eigenschaften des Tastsinns und des Wechselspiels der Sinnesorgane (Synästhesie, wie man es nannte), in der Dichtung 42 Vgl. u.a. bei Harrison (2007), Jewanski (2002a). 43 Vgl. Emming/Lehmann/Maassen (2003). Clausberg/Bisanz/Weiller (2007), Felten/Roloff (2008), Curtis/Glöde/Koch (2010). 44 Behne (1998), S. 118. 45 „Die neuen Medien und Techniken, durch die wir uns selbst verstärken und ausweiten, stellen gewaltige kollektive Eingriffe dar, die ohne antiseptische Mittel am Körper der Gesellschaft vorgenommen werden. [...] Das ganze System aber wird verändert. Die Wirkung des Radios ist visuell, die Wirkung des Fotos auditiv. Jede neu wirksame Kraft verändert das Verhältnis aller Sinne zueinander. Was wir heute suchen, ist entweder ein Mittel, um diese Verlagerungen der Sinnesorganisation der psychischen und sozialen Perspektive kontrollieren zu können, oder ein Mittel, um sie überhaupt zu verhindern. [...] Heute spüren wir allmählich, daß die Kunst uns vielleicht diese Immunität geben kann.“ McLuhan (1994), S. 107.
32 | S YNÄSTHESIE ALS DISKURS genauso wie in der Malerei. [...] Die elektrische Form durchdringender Eindrücklichkeit ist grundlegend taktil und organisch und gibt jedem Gegenstand eine Art ganzheitlicher Empfindung, [...].“46
Dem Künstler als „Mensch, der auf jedem Gebiet der Natur- oder Geisteswissenschaft die Tragweite seines Schaffens und der neuen Erkenntnisse seiner Zeit erfasst“ und „das Verhältnis der Sinne zueinander berichtigen“ kann, „noch ehe ein neuer Anschlag der Technik bewusste Vorgänge betäubt“47, schrieb er eine Vorreiterrolle zu. Denn „Künstler [...] entdecken immer wieder als erste, wie man ein Medium verwenden kann, um die Kraft eines anderen zur Entfaltung zu bringen“48. Ließ McLuhan das Synästhetische aus der Kunst hervortreten, während er dessen wissenschaftlicher Ausformulierung im Bereich der Physiologie und Psychologie keine Beachtung schenkte, so gab er ihm zugleich eine ganz bestimmte Richtung. Denn als Neuverhandlung der Sinne integrierte er die Synästhesie in ein „Streben [...] nach Ganzheit, Einfühlungsvermögen und Erlebnistiefe“, die „eine natürliche Begleiterscheinung der Technik der Elektrizität“49 seien. Mit McLuhan kann das Synästhetische im 19. Jahrhundert demnach als durch den technisch-medialen Diskurs modellierte Projektionsfläche für Einheitsvisionen und Ganzheitsutopien verstanden werden.
I.2 G ANZHEITSUTOPIEN UND E INHEITSVISIONEN . K OMPENSATION EINER V ERLUSTGESCHICHTE Immer wieder wird die Synästhesie mit dem Nimbus einer ursprünglichen ganzheitlichen Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt besetzt und als Aufhebung und Infragestellung der Trennung der Sinne glorifiziert. Dagegen sprechen die wissenschaftlichen Befunde mit ihrer Konzentration auf einzelne Synästhesieformen eine andere Sprache. Wie es sich in den Worten McLuhans schon andeutete, muss die Vision einer Ganzheit vielmehr als eine Zuschreibung an das Phänomen im Sinne einer Sehnsuchtsfigur betrachtet werden, die im kulturellen Diskurs erst vorgenommen wird. Einer der wenigen, der tendenziell einen derartigen Ansatz verfolgt, ist Kevin T. Dann mit seiner kulturhistorisch ausgerichteten Studie Bright Colors Falsely Seen. Synaesthesia and the Search for transcendental Knowledge aus dem Jahr 1998. Ausgehend von ihrer wissenschaftlichen Beschreibung um 1900 entwickelt 46 Ebd., S. 379. 47 Ebd., S. 109. 48 Ebd., S. 92. 49 Ebd., S. 18.
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Dann die Synästhesie darin als ein in der Tradition der Romantik generiertes Ideal einer Einheit in der sinnlichen Erfahrung und der Auflösung der Zerrissenheit von Gefühl und Verstand, Geist und Körper des modernen Menschen. Die Künste, so Dann, konstituierten dabei die Synästhesie als Modell für eine transzendentale Sprache und traten um 1883 in einen engen Austausch zur Wissenschaft, die das Farbenhören als Modell für die Einheit des menschlichen Bewusstseins in Beschlag nahm:50 „Synaesthesia – the manifestation of an unseen world […] – is not, like paranormal phenomena, ignored or scoffed at by scientist but is thoroughly documented scientifically. […] I argue that because Western culture has lacked a suitable inclusive model or description of human consciousness, synaesthesia has repeatedly been mistaken for a unique, desirable ,higher‘ state, enjoyed only by exceptional individuals.”51
Die Fruchtbarkeit von Danns Überlegungen liegt in der Auffassung der Synästhesie als Modell für etwas Anderes, für das bis dahin keine adäquate Beschreibung in der westlichen Kultur bzw. Wissenschaft existierte. Damit verweisen die an das Phänomen herangetragenen Zuschreibungen zugleich auf dieses Andere. In diesem Prozess wurde die Synästhesie am Ende des 19. Jahrhunderts durch die Integration romantischer Ideale von einer seltenen psychologischen Anomalie überhaupt erst zu einer Befreiung der Sinne vom Verstand, einer transzendentalen Lebensweise und als Erweiterung des menschlichen Bewusstseins ausformuliert und im kulturellen Diskurs installiert. Diese Kombination aus Einheitsutopie und psychologischer Anomalie wirke, Dann zu Folge, bis heute und ermögliche spezifische Sichtweisen auf die Kulturgeschichte,52 verstelle aber den Blick auf den Beginn einer systematischen Erforschung des psychologischen Phänomens und verhindere dessen Historisierung.53 Dann gelingt es in seiner Studie, den Prozess der Zuschreibung offen50 Vgl. Dann (1998), S. 60. 51 Ebd., S. viii. 52 „Because of its persistence as a Romantic ideal over the last century, synaesthesia – [...] – has become a lens through which it is possible to see the limits of modern and postmodern attempts to escape the fetters of the Enlightment. Synaesthesia invites historical reflection unencumbered by deadening positivism and rationalism, but also by liberatory excess. While debunking a century of extravagant claims about synaesthesia […] as transcendental knowledge, I welcome the possibility that these phenomena do point to a new development in human consciousness.“ Ebd., S. x. 53 „Given that writings about synaesthesia have continued to feature such invented histories, it is critical to attempt to understand just where, when, and in what context a systematic study of synaesthesia was originally made, and to trace the early development of scientific thinking on the subject.“ Ebd., S. 18.
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zulegen, in dem die Synästhesie als ursprüngliche Einheit der Sinne in Reaktion auf die Entfremdungserfahrung der Moderne als Gegenmodell erst entworfen wird. Zugleich verengt er sie jedoch auf diese eine Perspektive einer romantischen Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit. So fehlt bei Dann eine Auseinandersetzung mit neuen medialen Techniken und deren Einfluss auf kollektive Wahrnehmungsmuster, die um 1900 und besonders in den 1920er Jahren über das Synästhetische verhandelt wurden und in dessen Ausformulierung einflossen, völlig, wodurch ihm weitere spannende Blickwinkel versperrt bleiben. Außerdem überträgt er diese eine Sichtweise der Synästhesie als Dispositiv eines romantischen Einheitsideals eins zu eins auf die aktuelle Synästhesiedebatte. Dadurch kommt er über die Erklärung einer Faszination an der Synästhesie im Kontext der 1960er und 1970er Jahre, als sie in Verbindung mit Drogenerfahrungen erneut als ganzheitliche Seinsweise, psychedelische und bewusstseinserweiternde Erfahrung und Zugang zum Unbewussten stilisiert wurde, kaum hinaus. Der gesamte Komplex ihrer neuro- und kognitionswissenschaftlichen Erforschung, der Wandel von Medientechniken und die Problematisierung des Subjekts im 20. Jahrhundert fallen aus Danns Version des Synästhetischen als determinierende Faktoren heraus und bleiben unberücksichtigt. Diese Aspekte betont dagegen Andreas Käuser in Synästhesie und das Verhältnis zum Text, der, ähnlich wie Dann, die Einheits- und Ganzheitsvision für den zentralen Motor einer Faszination des Synästhetischen hält. Diese sei „nicht nur dem neurophysiologisch-medizinischen Phänomen oder den multimedialen Möglichkeiten der ‚Vermischung von Sinnesqualitäten‘ geschuldet“, sondern „vom ästhetischen, anthropologischen und sozialen Problem der Einheit der Künste bzw. der Ganzheit des Menschen als semantischem Hintergrund mitverursacht“54. In der Fokussierung auf den künstlerischen Diskurs beschreibt Käuser die Synästhesie als Reaktion auf die Ausdifferenzierung der Künste mit ihrer jeweiligen Medialität und besonderen Materialität in Lessings Laokoon, die zugleich eine Trennung der Sinne formulierte. In diesem Moment verortet er die Entstehung der Synästhesie als Sehnsucht nach einer ganzheitlichen Sinnlichkeit in der Romantik, die aber nur noch in der subjektiven Wahrnehmung erzeugt werden könne.55 Die Avantgarden verstärkten, so Käuser, diesen Differenzierungsprozess in der kreativen und virtuellen Ver-
54 Käuser (2004), S. 58. 55 „Insofern wird die Synthese der Künste aus dem Bereich der Gegenständlichkeit in den Bereich der subjektiven Wahrnehmung der Vermischungen des Sehens und Hörens etc. verlagert. Dies begründet den zentralen Status, den Synästhesie für moderne Kunst und Ästhetik seit 1800 innehat. Synästhesie setzt [...] eine radikale Trennung der Sinne auf Grund der radikalen Differenzierung der Materialität und der Andersheit der Künste voraus.“ Ebd., S. 60.
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knüpfung der medial verschieden agierenden Künste.56 Damit beförderten sie den Zerfall der Sprache in einen inneren, bedeutungsvollen Teil und einen äußerlich wahrnehmbaren, auditiven Bestandteil, der als von Bedeutung befreite phonetische und musikalische Klangform im Prinzip der Montage neue synästhetische Bezüge eingehen konnte.57 Während die Künste und die Medien dergestalt die sinnliche Ebene des Zeichens realisierten, lieferte in der Folge die anthropologische Theorie die Bedeutungsebene, indem sie die Einheit der Sinne, den Körper und die Geste thematisierte.58 Ganzheitlichkeit finde sich seitdem nicht mehr in der Realität, sondern nur noch in den Texten über den Körper und die Sinne. Die Medialisierung und technische Ersetzung der Sinne beschreibt Käuser damit als zunehmende Fragmentierung des Körpers und der Wahrnehmung, deren Fortschreiten ein verstärktes Insistieren auf einem Naturzustand synästhetischer Einheitlichkeit der Wahrnehmung und Ganzheitlichkeit des Körpers in der Theorie zur Folge hätte.59 Dabei betont Käuser die Zusammengehörigkeit künstlerisch-sinnlicher Verknüpfungen und wissenschaftlich-intellektueller Konstrukte, die diesen synästhetisches Erleben als textuell erzeugte Vorstellung und Konnotation erst hinzufügen.60 Berücksichtigt Käuser auf diese Weise zwar die Verbindung wissenschaftlicher, medialer und künstlerischer Diskurse im Umfeld der Synästhesie sowie konstruktive Momente bei deren Generierung, so differenziert er diese in historischer Perspektive nicht und bleibt auf ein Verständnis des Synästhetischen als synthetisierende Reaktion auf einen Zerfallsprozess, der sich bis heute fortschreibt, beschränkt: „Eine zunehmende Differenzierung der Einzelkünste, die von digitalen Medienkünsten noch einmal gesteigert wird, ist dabei Symptom verstärkter sozialanthropologischer Zerteilung. Indem die Sinne wie die Künste einer starken Zersplitterung und Isolierung ausgesetzt sind, scheint die Sinnesvermischung zu diesem neuerlichen ‚Wettstreit der Künste‘ einen syntheti56 „Denn die Avantgarden steigern die Isolierung der Einzelkünste und -sinne; insbesondere kommt es zur Trennung der sinnlich fundierten von den sprachlich fundierten Künsten, etwa durch das Aufkommen visueller, sprachloser Medien wie den Stummfilm oder rein akustischer wie das Radio.“ Ebd., S. 60f. 57 Vgl. ebd., S. 61f. 58 „Das Supplement anthropologischer Theorie fügt nicht nur den semantisierenden und signifikanten Teil des Zeichens hinzu, der den audio-visuellen Bild-Klangkünsten fehlt, sondern auch den Körper (als Identitätsnamen, Kollektivsingular), der ebenfalls in seiner Ganzheit kaum mehr künstlerische Realität gewinnen kann.“ Ebd., S. 63. 59 Vgl. ebd., S. 64. 60 „Im Supplement des anthropologischen Textes wird die (synästhetische) Einheit der Künste eher konstruktiv hergestellt als rezeptiv praktiziert. Synästhesie funktioniert hier nicht so, als würden Bilder wirklich klingen, sondern bedarf der reflektierenden Herstellung in der Vorstellung oder der Imagination.“ Ebd., S. 66. [Herv. i.O.]
36 | S YNÄSTHESIE ALS DISKURS sierenden Kontrast ausprägen zu können. Als Defizitbilanzierung angesichts wenig einheitlicher sozialer und ästhetischer Verhältnisse übernimmt Synästhesie zugleich die Funktion, Modelle möglicher Einheit und Synthese auszuprägen. Sie gerät dadurch in Kontakt zu anderen Identitätsgaranten der Moderne wie dem anthropologisch besetzten Körper, der Idee vom ganzen Menschen als Einheit der einzelnen Sinne oder ästhetisch dem Gesamtkunstwerk, die Einheit der Künste nunmehr gefasst als ars combinatoria und Intermedialität.“61
So enden seine Ausführungen mit der Bemerkung, die digitalen Medien markierten den Beginn einer neuen Stufe synästhetischer Wahrnehmung und intermedialer Vernetzung, führt dies jedoch nicht weiter aus und bleibt eine Erklärung im Rahmen seines Ansatzes schuldig.62 Ordnet Käuser das Synästhetische in anthropologische Problemfelder der Moderne ein, so fixiert er sich dabei jedoch auf eine sprachlich-textuelle und semiotisch-linguistische Ebene. Auf dem Körper basierende künstlerische Praktiken, wie den Tanz oder das Theater, die v.a. in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchten, leiblich-synästhetische Erfahrungen zu stimulieren, blendet er in seinen Überlegungen hingegen aus. Kritisch gewertet werden muss auch seine Auffassung der Mediengeschichte als Fragmentierung der Wahrnehmung und des Körpers. Denn bereits frühe Medientheoretiker wie Walter Benjamin oder Bela Bálasz haben gerade auf einen die körperlich-sinnliche Erfahrung verstärkenden Effekt technischer Bilder hingewiesen.63 Argumentationen wie die von Käuser verlegen eine synästhetische, ganzheitlich-leibliche Wahrnehmung, die erst im 19. Jahrhundert formuliert wird, an den Beginn der Zivilisation oder zumindest vor die Zeit technischer Medien und beachten dabei nicht – oder verleugnen bewusst – den konstruktiven Akt ihrer eigenen Projektion. So beschreibt z.B. auch Eva Kimminich in dem Aufsatz Synästhesie und Entkörperung der Wahrnehmung einen Prozess der ,Entleiblichung‘ im Sinne einer Verlustgeschichte des Körpers und der Sinne, die durch Kulturtechniken zunehmend ausdifferenziert und in
61 Ebd., S. 58. 62 Vgl. ebd., S. 66. 63 So verstand Benjamin Wahrnehmen als geschichtlich variierenden Gebrauch, den wir von Medien und Technologien machen. Fotografie und Film verstärkten dabei die Dimension der Taktilität, indem sie einen veränderten Umgang mit technischen Bildern als Objekte, die in die Hand genommen werden müssen oder als Großaufnahme und Zeitlupe im Film, die das „Optisch-Unbewußte“ sichtbar machen und wie ein Geschoss taktil auf den Zuschauer wirken, fordern. Vgl. Krämer (1998), S. 30. Bálasz sah im Kino eine neue Hinwendung zum Körper: „[...] die ganze Menschheit ist heute schon dabei, die vielfach verlernte Sprache der Mienen und Gebärden wieder zu erlernen. Nicht den Wortersatz der Taubstummensprache, sondern die visuelle Korrespondenz der unmittelbar verkörperten Seele. Der Mensch wird wieder sichtbar werden.“ Bálazs (1982), S. 53. [Herv. i.O.]
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Medientechniken und Technologien ausgelagert wurden.64 Die Synästhesie begleite diese Entwicklung in der Kulturgeschichte als Versuch der Rückkehr zum leiblichen Akt der Wahrnehmung zunächst als sprachliche Technik, später durch die digitalen Technologien, die sinnliches Empfinden nur noch simulieren und dabei weiter instrumentalisieren und normieren.65 Dagegen deutete schon Marcel Mauss 1935 in Les techniques du corps an, inwiefern Medien nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch Körpertechniken beeinflussen und hervorbringen.66 Daran anschließend betont Irmela Schneider Medientechniken als Wahrnehmungspraktiken, die Kultur als Text unterlaufen.67 Als Kulturtechnik impliziere die Mediennutzung zugleich eine Körpertechnik, die nicht nur eine Verlagerung oder Abspaltung von Funktionen nach außen beschreibt, sondern die Inkorporierung von Techniken im Körper selbst einschließt, der dabei überhaupt erst hergestellt werde.68 Diesen Aspekt übersehen Käuser und Kimminich in ihrer Fokussierung auf ein Verständnis der Synästhesie als Versprechen einer ganzheitlichen Wahrnehmung und Kompensation von deren Verlust. Denn das Synästhetische erfüllt immer auch die Funktion, neue Wahrnehmungserfahrungen zu beschreiben, zu habitualisieren und im Hinblick auf Erkenntnisprozesse und Wissensformen zu kontextualisieren. Mag z.B. die Synästhesie am Ende des 19. Jahrhunderts zunächst als Reaktion auf eine Sprach- und Evidenzkrise und einer damit verbundenen Aufwertung körperlich und sinnlich betonter Wahrnehmungs- und Wissensformen instrumentalisiert worden sein, so war sie doch gleichzeitig eingebunden in eine Neustrukturierung der Wahrnehmung im Rahmen neuer Lebenserfahrungen in der modernen Großstadt. Christoph Asendorf beschreibt die Synästhesie in diesem Verständnis als Möglichkeit einer „neuen Koordination der Sinne“69, die sowohl für die Wissenschaft als auch für die Kunst ein adäquates Wahrnehmungsmodell der Verknüpfung und Überlagerung verschiedener gleichzeitiger Sinnesdaten und der Organisation und
64 Vgl. Kimminich (2002), S. 95ff. 65 „Verfolgt man, sich in der Geschichte rückwärts tastend, den anhand physiologischer Spekulationen jeweils unterschiedlich festgelegten Gebrauch menschlicher Sinne bzw. ihre metaphorische Inszenierung, dann zeichnen sich auf beiden Ebenen (physiologisch und sprachlich) Verschiebungen und Verschränkungen ab, an denen sich ablesen lässt, dass die einst als leiblicher Akt empfundene Wahrnehmung zunächst eine Spiritualisierung und Verinnerlichung erfuhr, die zu ihrer excarnatio, ihrer Entfleischung, führte, bis sie schließlich aus dem menschlichen Körper ausgelagert wurde und durch medientechnische oder technologische Substitute ersetzt zu werden begann.“ Ebd., S. 72. 66 Vgl. Mauss (2010), S. 202. 67 Vgl. Schneider, Irmela (2007), S. 119f. 68 Vgl. ebd., S. 124f. 69 Asendorf (1989), S. 122.
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Aktivierung innerer Bilder bot.70 Entstanden daraus völlig neue Wahrnehmungsmuster im Zeichen der Synästhesie, so diente die Vision einer verlorenen, in frühere Phasen der Kulturgeschichte projizierten und wiederzuerlangenden Einheit und Ganzheit dabei lediglich als anthropologische Verankerung oder Naturalisierung dieser neuen Wahrnehmungsmodelle. Markiert das Synästhetische damit eine Bruchstelle im kulturellen Diskurs im Kontext der Moderne,71 so stellt sich die Frage, ob dieser Befund für eine ,Wiederentdeckung‘ der Synästhesie um 1980 ebenso gelten kann? Adler und Zeuch deuten dahingehend im Vorwort des Bandes Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne eine thematische Verschiebung des Synästhesiediskurses an. Als Gründe für das neuere Interesse an der Synästhesie führen sie die Kritik an einer die Rationalität des Menschen betonenden Naturwissenschaft, zunehmende Zweifel an einer objektiven Welt, mit denen der Prozess der Wahrnehmung als kommunizierbarer Weltzugang an Bedeutung gewinnt, und nicht zuletzt den Aufschwung der Kognitionswissenschaften an.72 Entscheidende Theoretiker fokussierten seit etwa den 1960er Jahren eine Bruchstelle im kulturellen Diskurs, den sie auf eine durch mediale und gesellschaftliche Prozesse ausgelöste Vervielfältigung des Wissens und des Wissensbegriffes zurückführten.73 So sei, JeanFrançois Lyotard zufolge, nach dem Ende der Großen Erzählungen Wissen nicht mehr in Form einer Einheit gegeben, sondern manifestiere sich als Netzwerk von Forschungen und Forschungsbereichen, deren jeweilige Grenzen nicht aufhören, sich zu verschieben.74 Der Wissensbegriff wird seitdem nicht mehr als unveränder70 Vgl. auch Hülk-Althoff (2008), S. 79. 71 Mit dem Begriff Moderne geht es in der Arbeit v.a. darum, einen Bruch im kulturellen Diskurs zu beschreiben, der sich von etwa 1850 bis etwa zum Zweiten Weltkrieg im Zusammentreffen gesellschaftlich-politischer, ökonomischer und technologischer Veränderungen entfaltete. Für die ausführliche Diskussion des Begriffs Moderne vgl. Klinger (2002), S. 121-167. 72 Vgl. Adler/Zeuch, (2002), S. 1f. 73 Häufig wird dieser Bruch mit dem Begriff der Postmoderne zu fassen versucht, der heftige Diskussionen und eine erneute Debatte über den Begriff der Moderne auslöst. Er zielte v.a. auf die Desillusionierung der modernen Fortschrittsidee und der Vorstellung einer zielgerichteten Geschichte. Stattdessen impliziert er ein Bekenntnis zur Pluralität, eine Dehierarchisierung und eine nicht lineare, räumliche Geschichtsvorstellung. Für ausführliche Diskussion vgl. Riese (2002). 74 Vgl. Lyotard (1986). Auch Michel Foucault formulierte in der Archäologie des Wissens die Dekonstruktion von Geschichtskontinuitäten hin zu einer „neuen Form der Geschichte“, welche durch die zentralen Begriffe resp. Methoden von Bruch, UmkehrungEreignis, Diskontinuität-Serie, Spezifität-Regelhaftigkeit sowie durch einen neuen Begriff von Wahrheit als Interesse charakterisiert sei. Vgl. Foucault (1981).
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liche Kategorie, sondern als historisch, sprachlich, sozial, kulturell, medial und geschlechtsspezifisch determiniert, an gesellschaftliche Institutionen und Machtstrukturen gebunden und in diesem Sinne auch als instrumentalisierbar und ideologisch überformbar verstanden und verliert sich in einer Fülle an Definitionen und Perspektiven.75 Wirklichkeit ist demnach nicht mehr im Singular sondern im Plural vorhanden, da sie immer durch eine Theorie, eine Welt, eine Situation oder unsere eigene existenzielle Verfassung vermittelt ist.76 In diesem Prozess werden bipolare Wirklichkeitskonstruktionen wie theoretisches und praktisches Wissen, Geistesund Naturwissenschaft, Wissenschaft und Kunst aufgegeben zu Gunsten alternativer Wissensordnungen. Denk- und Wahrnehmungsstilen, die ein nicht-propositionales Wissen wie Erfahrung, Emotion, Intuition oder ein Körper- und Sinneswissen ins Zentrum rücken, werden als Wissensformen und entscheidende Mittel der Wissensproduktion auch im wissenschaftlichen Diskurs anerkannt und neu bewertet. In diesem Kontext einer generellen Absage an Versuche der Vereinheitlichung disparater Wirklichkeiten und Weltsichten in Ganzheitsutopien und Einheitsvisionen muss die ,Wiederentdeckung‘ der Synästhesie in den 1980er Jahren lokalisiert werden. Im Rahmen einer sich mit weiterentwickelten Medientechniken wandelnden Wissenskultur wurde das Synästhetische dabei als Wissensform neu konzeptualisiert. Hinweis darauf ist ein Bruch im Synästhesiediskurs selbst. Von mehreren Autoren wird darauf verwiesen, dass in der Zeit von 1930 bis etwa 1980 sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf künstlerischer Ebene kaum Interesse an der Synästhesie bestanden hätte, was an der Anzahl der erschienenen Publikationen festgemacht wird.77 In Anbetracht der Tatsache, dass sich dieses ,Fehlen‘ des Synästhetischen im kulturellen Diskurs in dem Moment ereignete, in dem postmoderne Theoretiker die Ganzheitsutopien der Moderne negierten und damit den Synästhesiekonzepten ihre Basis entzogen, muss die ,Wiederentdeckung‘ als Ausformulierung eines neuen, veränderten Entwurfs interpretiert werden. Diese Neuformulierung des Synästhetischen bezieht sich nicht mehr auf eine außerhalb des Sub75 Vgl. Huber (2002), S. 167, Hug (2003), Fried/Süßmann (2001), S. 10. 76 Auch Wittgenstein, Sartre, Heidegger oder Vilém Flusser konstatierten übereinstimmend, dass wir in verschiedenen Welten, virtuellen Räumen und vorübergehenden Szenarien leben, die jeweils ihre eigene Form und Wirklichkeit haben. Vgl. Baier (1998), S. 511. 77 So stellt Harrison fest: „Das ausgehende 19. Jahrhundert ist von besonderem Interesse [...], da zu jener Zeit ein reges Interesse an dem Phänomen herrschte. [...] Ein weiteres Kuriosum der letzten 100 Jahre Synästhesieforschung ist, dass nach 1920 etwa 50 Jahre lang praktisch keine einzige Studie zu diesem Thema veröffentlicht wurde.“ Vgl. Harrison (2007), S. 26. Auch Lawrence Marks zählt zwischen 1881 und 1931 74 Publikationen, dagegen zwischen 1932 und 1974 nur 16. Vgl. Baron-Cohen/Harrison (1997), S. 4. Dabei geben die Autoren keine Referenzen für ihre Daten an, so dass nicht deutlich wird, wie sie die Anzahl der Publikationen ermittelten.
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jektes liegende Einheit und Ganzheit, sondern versteht sich als im Prozess der subjektiven Wahrnehmungserfahrung erst performativ generierte Verknüpfung der Sinne in Form einer individuellen Erfahrungskategorie. Vor dem Hintergrund multipler möglicher Welten wird die synästhetische Ganzheitsutopie in eine Einheit des Bewusstseins umformuliert, die das Subjekt in einem konstruktiven Prozess aus Wahrnehmung, Erfahrung und Erinnerung selbst erschafft. Vereinen lassen sich die historisch verorteten Synästhesiekonzepte demnach weniger in einer Ganzheitsutopie, sie verbinden sich vielmehr als Gegenentwürfe, alternative Wahrnehmungs- und Wissensmodelle, die im Prozess eines durch mehrere Faktoren beeinflussten kulturhistorischen Wandels in bestimmten Phasen der Kulturgeschichte virulent und als Reaktion auf kulturelle und gesellschaftliche Brüche und damit als deren Ausdruck funktionalisiert werden. Dabei scheinen die spezifischen historischen Konstellationen v.a. durch Medientechniken motiviert, die jeweils neue Schwerpunktsetzungen im Synästhesiediskurs verursachen. Die vielfältigen Interpretationen und Bedeutungsebenen des Synästhetischen sind das Ergebnis dieser Prozesse und das eigentlich Interessante bei der Betrachtung der Synästhesie.
I.3 S INNESKULTUREN DES M EDIALEN . S YNÄSTHESIE ALS W ISSENSFORM Im Rahmen seiner kulturellen Verfasstheit muss das Synästhetische an eine Kulturgeschichte der Sinne gekoppelt werden, die einen historischen und medialen Wandel der Wahrnehmung und deren Folgen für Wissensprozesse auslotet. Bereits Walter Benjamin argumentierte in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit 1935/36: „Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt.“78
Richtungsweisend waren diesbezüglich v.a. Walter Ong und Marshall McLuhan, der die These vom „Kaleidoskop der Sinne“ prägte. Danach wandle sich die Gewichtung im Orchester der Sinne im Verlauf der Geschichte, indem neue Medien
78 Benjamin (1981), S. 14.
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jeweils eine bestimmte Sinnesfähigkeit erweitern und privilegieren und in dieser Form Raum- und Zeitvorstellungen sowie das Denken überhaupt verändern:79 „Acoustic space is organic and integral, perceived through the simultaneous interplay of all the senses. [...] The man of the tribal world led a complex, kaleidoscopic life, precisely because the ear, unlike the eye, cannot be focused and is synaesthetic rather than analytical and linear. Speech is an utterance, or more precisely, an outering, of all our senses at once; […].”80
Beschrieb McLuhan die orale Kultur als synästhetisch im Sinne einer Simultanität und Gleichzeitigkeit aller Sinne im Gegensatz zum analytischen und linearen Charakter einer visuellen Kultur, so brachte er das Synästhetische mit älteren, vor der Schrift liegenden Wissenstraditionen und -formen in Zusammenhang und in Opposition zu einem rationalen Wissensbegriff. Und diese Kombination von Wahrnehmungspraxis und Wissensprozessen ist v.a. für neuere Konzeptualisierung der Synästhesie als Wissensform wesentlich. Dabei scheint die Synästhesie in ihrer Eigenschaft, Elemente der Wahrnehmung und des Wissens zu verbinden, zugleich als Verhandlungsraum für die Besprechung dieses Zusammenhangs zu fungieren. Denn Sinnlichkeit, so Sybille Krämer, „wird immer in Hinblick auf ihre Funktion für den Logos erörtert, das heißt aber in letzter Konsequenz: wird in Bezug auf ihre Rolle beim Erkennen konzipiert“81. Aus dieser Perspektive erhalten die Trennung der Sinne und ihre Zusammenführung im Synästhetischen eine neue Wendung als Funktionen von Erkenntnisprozessen im Kontext wechselnder Bedeutungen, Werte und Normen, mit denen Sinne und Sinneseindrücke verknüpft werden. So beschreiben z.B. Franz Xaver Baier und Dieter Huber eine Isolierung und Dominanz des Visuellen als Konstruktions- und Erkenntnisleistung emotional-kognitiver Beobachter, die sich in einem qualitativen, existenziellen Akt als Sehende organisieren und dabei im Beobachten selbst eine Distanz erzeugen.82 Auslöser für diese Abstraktion von Einzelsinnen sind, Hartmut Böhme zufolge, die Erweiterungen der Wahrnehmung und der Sinnesorgane durch technische Geräte wie Mikroskop oder Teleskop als Möglichkeiten, nie gesehene Welten zu entdecken, die radikale Umbrüche im 79 In Understanding media – the extensions of man von 1966 entwarf McLuhan, ausgehend von der menschlichen Wahrnehmung als Interaktion aller Sinne, eine Medientheorie, bei der überlastete Funktionen ausgelagert und in technischen Apparaturen vergegenständlicht werden. Medien als Erweiterungen entstehen aus unserer Wahrnehmung von Welt und bringen zugleich neue Wahrnehmungsmuster hervor. Vgl. Aichinger (2003), S. 18, Mlynek (2008), S. 286. 80 McLuhan zit. nach Basbaum (2003), S. 8. 81 Krämer (1998), S. 24. 82 Vgl. Baier (1998), S. 516f, Huber (2002), S. 169.
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Weltbild verursachen.83 Im Gegenzug gerieten die ,unbewaffneten Sinne‘ in der Physiologie selbst auf den Prüfstand und mussten den Vergleich mit den erweiterten Sinnen antreten.84 Das veränderte, laut Böhme, nicht nur die Wissenschaft, sondern die gesamte Gesellschaft, „indem [...] gewaltige Illusionsmaschinerien, unsere Medien nämlich, [...] nicht mehr nur die Wahrnehmungsdispositive verrückter Einzelner, sondern ganzer Gesellschaften darstellen“85. Die Trennung der Sinne und die Fokussierung auf das Sehen werden so zu künstlichen Isolierungen, was die „[d]ie sogenannte Synästhesie“, so Baier, zum „Scheinproblem“86 werden lässt. Denn erst durch die Konstruktion getrennter Sinneskanäle, wie sie die Physiologie oder neue Medientechniken wie die Fotografie zunächst behaupteten, tauchte das Synästhetische als Problem und Abweichung im kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs auf und konnte überhaupt thematisiert werden. Die Ausformulierung als Gegenmodell zu einer Trennung der Sinne muss als Ergebnis eines konstruktiven Prozesses verstanden werden, denn in den Worten von Sybille Krämer ging die „Synthese von Sehen und Erkennen“ nicht auf und es blieb „eine unterschwellige Wirksamkeit des Taktilen“ bestehen, „die allerdings erst in den Reflexionen über das fotografische Bild zum expliziten Thema wird“87. Die wissenschaftlich-konstruktive Trennung der Sinne im kulturellen Diskurs erzeugte demnach eine Differenz oder eine Leerstelle, die sich v.a. in und mit den neuen Medientechniken offenbarte und die durch das Synästhetische produktiv besetzt wurde. Diese Leerstelle versuchte wiederum auch Michael Polanyi in The Tacit Dimension von 1966 als „tacit knowledge“ oder implizites Wissen zu fassen, als dessen reduzierteste Form er die Wahrnehmung beschrieb.88 In der Wendung, dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen, verband Polanyi dabei ein nicht sagbares, unbewusstes Wissen (proximaler Term) mit dessen bewusstem, wahrnehmbarem und sagbarem Teil (distaler Term).89 Den impliziten Wissensakt bildet die Verlagerung der Aufmerksamkeit vom proximalen zum distalen Term, so dass wir den proximalen Term immer nur im Licht des distalen Terms wahrnehmen können. Wahrnehmung sei somit das Ergebnis von bestimmten somatischen Vorgängen, die aber nicht als solche empfunden werden, da die Aufmerksamkeit von den inneren Prozessen auf die Qualitäten äußerer Dinge gerichtet sei, die zugleich das sind, was innere Prozesse be83 Vgl. Böhme, Hartmut (2004), S. 64. 84 „Stattdessen werden die Sinne und ihre Wahrnehmungsleistung selbst zu Objekten wissenschaftlicher Experimente: Und an deren Ende stehen heute die Sinnesphysiologie, die Neurobiologie und die Hirnforschung.“ Ebd., S. 64. 85 Ebd., S. 66. 86 Baier (1998), S. 516, vgl. Huber (2002) S. 168. 87 Krämer (1998), S. 27. Dabei bezieht sich Krämer v.a. auf Walter Benjamins. 88 Vgl. Polanyi (1985), S. 15f. 89 Vgl. ebd., S. 14.
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deuten.90 Dem Körper kommt damit als grundlegendem Instrument des Weltzugangs eine ganz besondere Position zu, denn von ihm geht die Aufmerksamkeit aus, wodurch er als eigener Körper und nie als Gegenstand erfahren werde.91 Erklärte Polanyi damit die Unmöglichkeit einer Objektivität von Wissen, indem er implizites, verborgenes Wissen in allen kognitiven Prozessen wiederfand, so plädierte er für dessen Einbezug und Anerkennung als wesentlichen Faktor wissenschaftlicher Erkenntnis.92 Wie andere Theoretiker seiner Zeit formulierte Polanyi einen neuen Wissensbegriff, der v.a. die leiblich-sinnliche Wahrnehmung in ihrer Funktion für Erkenntnisprozesse betonte. Daraus kristallisierte sich in den 1960er und 1970er Jahren ein Wahrnehmungs- und Wissensmodell heraus, das für die Neukonzeptualisierung des Synästhetischen in den 1980er Jahren wesentlich wurde. Denn jenseits einer Trennung der Sinne, die nur noch als eine mögliche Abstraktionsleistung erschien, wurde die Wahrnehmung selbst zum Wissensprozess und das Synästhetische – egal, ob als Einheit oder Verknüpfung der Sinne gedacht – zur spezifischen Wissensform. Werden dabei die Sinne, der Körper und auch Wissen selbst historisch und kulturell determiniert vorgestellt, so bleibt das Bild der Synästhesie in der allgemeinen Diskussion davon relativ unbeeinflusst. Einzig Stefan Rieger vermag in Synästhesie. Zu einer Wissenschaftsgeschichte der Intermedialität ansatzweise diesen Zusammenhang zu fassen, indem er sie als Modell einer allgemeinen Entsprechungslehre versteht, nach der alle technischen Medien funktionieren. Insofern interpretiert er die Installierung der Synästhesie als ursprüngliche Einheit, Primitivismus und nicht ausdifferenzierte Leistung der Sinnesorgane in Phylo- und Ontogenese als Vision einer gesteigerten Affizierung mehrerer Sinneskanäle, um Strategien der Kommunikation zu optimieren und zu naturalisieren:93 „An welchem Ursprung auch immer soll eine Einheit der Sinne geherrscht haben, die erst im weiteren Verlauf zu den bekannten Standardnormalsinnen ausdifferenziert wurde. Mit der Trias aus Dopplungssemantik, genealogischer Rückadressierung und Einheitsfigur hat die Synästhesie ihre Topik im Aussagesystem und häufig auch die Vorgabe für ihre Titelwahl gefunden.“94
Rieger betrachtet die synästhetischen Entsprechungen vielmehr als erkenntnistheoretische Größe, in denen ein Wissen und eine (Wissens-)Ordnung verborgen seien, die die Synästhesie mit der Welt der technischen Medien als deren latente Matrix
90 Vgl. ebd., S. 21f. 91 Vgl. ebd., S. 22f. 92 Vgl. ebd., S. 30f. 93 Vgl. Rieger (2007), S. 66f. 94 Ebd., S. 69.
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verbinde.95 Denn die Wissensgeschichte der Synästhesie offenbare letztlich den Übersetzungs- und Transformationsmechanismus der Medien, die Dinge von einer Form in eine andere übersetzen: „Das, was technische Umsetzungen erlauben, ist selbst lediglich Teil einer allgemeiner gehaltenen und sehr viel umfassenderen Entsprechungslehre – [...]. Das scheinbar Besondere des Menschen, das man unter bestimmten Aussagevoraussetzungen von der Synästhesie glaubte erträumen zu können, wird als das Allgemeine technischer Medien sichtbar. Ein Spezialfall der Wahrnehmung wird so an das Strukturprinzip aller technischer Medien verwiesen.“96
Ist Riegers Ausgangspunkt dabei zunächst die digitale Technik, bei der alles mit allem in Entsprechung gebracht werden kann, so bestimme in historischer Dimension die jeweilige Wissenskultur, was einander entsprechen kann.97 Deshalb unterscheide sich das aktuelle Konzept der Synästhesie von dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts, während auf phänomenaler Ebene beide gleichermaßen die Wahrnehmung selbst in den Blick nehmen und auf sie zurückwirken.98 Denn als beschreibbares Phänomen lenke sie die Aufmerksamkeit auf die reflexartige intermodale, von den Medien geforderte Kopplung, die bewusst kaum noch wahrnehmbar sei und entfalte darin ihren besonderen Reiz im Zeitalter der Digitalisierung: „Damit wird einem Phänomen breitenwirksames Interesse zuteil, dessen Faszinosum vor allem darin besteht, dass die Wahrnehmungsbesonderung jetzt auf einmal in irgendwelchen Alltagssynästhetikern schlummert, und nicht mehr eine exklusive Spezialvoraussetzung für das ist, was Künstler habituell, Geisteskranke gelegentlich tun, nämlich Kunst produzieren. Auf die eigene Wahrnehmung allererst aufmerksam geworden, produzieren die Alltagssynästhetiker eine neue Flut von Berichterstattung, die entsprechend häufig davon handelt, dass die Wahrnehmungsbesonderheit von den Betroffenen zunächst gar nicht als solche bemerkt, sondern erst über die Tatsache der Kommunikation und entsprechende Sprechanreize erschlossen wird.“99
Verknüpft Rieger damit die phänomenale Ebene der Synästhesie mit einer diskursiven und entwirft sie als konstitutives Element von Wahrnehmungsmodellen medial geprägter Welten, so liegt sein eigentlicher Fokus auf einem Modell von Intermedi-
95 Vgl. ebd., S. 70. 96 Ebd., S. 75. 97 Vgl. ebd., S. 77. 98 Vgl. ebd., S. 62, 73. 99 Ebd., S. 68.
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alität, für das er die Synästhesie lediglich als Vorläufer instrumentalisiert.100 Ist zwar ein Zusammenhang zwischen dem Synästhesiediskurs und dem Begriff der Intermedialität nicht von der Hand zu weisen, so ist er doch erst ab den 1960er Jahren für Konzeptualisierungen der Synästhesie im Sinne einer Verbindung und Verknüpfung von Medien wirksam. Würden die Synästhesiekonzepte vollständig in der Intermedialitätsdebatte aufgehen, so müsste diese das Ende des Synästhesiediskurses einläuten, das sich aber nicht einstellt. Insofern lässt sich mit Rieger die Synästhesie zwar als Modell für eine grundsätzlich (inter-)mediale und in Abhängigkeit von der Mediengeschichte sich wandelnde Wahrnehmungserfahrung verstehen, mit der sich zugleich eine Ordnung und Struktur des Wissens verbindet, andere als mediale Einflüsse auf den Synästhesiediskurs lassen sich jedoch damit nicht erfassen. So vernachlässigt Rieger mit der Konzentration auf Intermedialität Aspekte des Subjekts und des Körpers, als auch Fragen der künstlerischen Umsetzung und Weiterentwicklung synästhetischer Konzepte, die den Synästhesiediskurs wesentlich beeinflussen. Medienästhetische Aspekte der Synästhesie neu zu denken, versuchen Michael Lommel, Christian Filk und Mike Sandbothe mit dem Sammelband Media Synaesthetics. Konturen einer physiologischen Medienästhetik von 2004. Darin entwickeln sie das ambitionierte Konzept einer „Mediensynästhesie“, das die Medien und die Sinne in einer permanenten Interaktion verbindet und ein interdisziplinäres Forschungsgebiet für die Untersuchung intermedialer Experimente der Künste zwischen Medienwissenschaft, Kognitionsforschung, Wahrnehmungspsychologie, Kultur- und Literaturwissenschaft eröffnen soll.101 Mediensynästhesie als sinnlicher Spiel- und Interaktionsraum für „Medien(de)konstruktionen und -konstellationen, Medienvergleiche und Zwischenräume“ soll „Wechselbeziehungen der Sinne in Medienkonfigurationen ästhetischer Theorie und Praxis“102 nachspüren. Im Blickpunkt stünden mediale Kopplungen der Sinne in ihrer historischen Wandelbarkeit, die wiederum auf die Ordnung des Sichtbaren und die Wechselbeziehung von Bild
100 „Jene wissenshistorische Dimension vermag die Intermedialität allerdings erst auf dem Umweg über die Synästhesie zu erreichen, verfügt diese doch als Phänomen einer seit der Antike beschriebenen Wahrnehmungspraxis sowohl über eine historische Tiefenstruktur als auch über eine entsprechende Historiographie, die der Intermedialität als einer explizit ausgearbeiteten Theorie des 20. Jahrhunderts zwangsläufig nicht zu kommen kann.“ Ebd., S. 62. Mit der Annahme einer bis in die Antike reichenden Geschichte der Synästhesie geht er dabei hinter seine eigene These ihrer Kopplung an technische Medien zurück. 101 Vgl. Filk/Lommel/Sandbothe (2004), S. 7. 102 Filk/Lommel (2004), S. 13f.
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und Ton Auswirkungen haben.103 Dabei verstehen Filk und Lommel den Begriff Synästhesie als Instrument zur Infragestellung der Trennung und Hierarchisierung der Sinne, die lediglich Ergebnisse eines Konstruktionsprozesses und theoretische Denkmodelle seien.104 Diesen Bereich würden mediale und künstlerische Formen ausloten, indem sie inaktive Sinne durch die Konzentration auf einen anderen Sinn schärfen. „[V]ormalige Hierarchisierung der Sinnesvermögen“ werden dabei „von intersensoriellen Modellen abgelöst“105. Nehmen Filk und Lommel mit Fragestellungen, wie z.B. Stimmen Geräusche beschwören, Texte Bilder hervorrufen oder im Cyberspace Körperbilder konstruiert werden, v.a. literatur-, theater- und medienwissenschaftliche Perspektiven ins Visier, so geht es letztlich um beliebige Konstellationen und Kreuzungen der Ausdrucksformen Schrift, Bild, Stimme, Blick, Klang oder Bewegung.106 Damit krankt auch dieser zunächst vielversprechende Ansatz an den typischen ,Synästhesieproblemen‘ der Ausuferung und sich verwaschenden Definitionen. Das zeigt sich dann in den einzelnen Texten des Bandes der durchaus namhaften Autoren, die den Begriff Synästhesie eigentlich nicht benötigen, nichts Neues damit beschreiben und sich größtenteils auf intermediale Fragen zum Bild konzentrieren. Scheint Mediensynästhesie mit der Betonung medialer Elemente im Kontext des Synästhetischen als künstlerische Praxis und ästhetisches Beschreibungsmodell in eine fruchtbare Richtung zu weisen, so stellt sie letztlich eine Dopplung dar, denn bereits das Synästhetische an sich ist ohne den Horizont technischer Medien nicht denkbar, aus denen es als Idee erst hervorging. So liegt der Fehler in Filk und Lommels Argumentation darin, dass sie zwar die Trennung der Sinne als Konstruktion begreifen, aber nicht die Synästhesie als deren Gegenmodell selbst. Zum anderen begrenzen sie sich in Bezug auf einen Medien- und Synästhesiediskurs auf Fragen der Ästhetik ohne Rückwirkungen auf die Kulturgeschichte zu erfragen. Einen ähnlichen Versuch wie Filk und Lommel unternehmen Dieter Daniels und Sandra Naumann mit ihrem Projekt See this Sound107, beschränken sich aber 103 „Nicht anthropologische Konstanten oder fixe Definitionen stehen im Vordergrund, sondern Inszenierungsweisen, Fusionen und Umbrüche der Sinne, sensuelle Überschneidungen und ‚Atmosphären‘ (Gernot Böhme). Im Zeitalter technisch reproduzierbarer Bilder und Töne – und bald wohl auch der Kodierung von Geruch, Geschmack und Gefühl – stellt sich die Frage nach der Technologisierung der Wahrnehmung, den medialen Anatomien, Dispositiven und Transpositionen der Einbildungskraft, den Schnittstellen zwischen Medien und Artefakten.“ Filk/Lommel/Sandbothe (2004), S. 7f. 104 Vgl. Filk/Lommel (2004), S. 13. 105 Ebd., S. 17. 106 Vgl. ebd., S. 15. 107 Das Projekt See this Sound umfasste die Ausstellung See this Sound. Versprechungen von Bild und Ton vom 28.8.2009 – 10.1.2010 im Lentos Kunstmuseum Linz, ein Web-
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unter medienhistorischer Perspektive von Beginn an auf audiovisuelle Technologien und die Geschichte der Verbindung von Bild und Ton, wobei sie die Synästhesie nur zum Randphänomen deklarieren.108 Besonderes Gewicht legen sie dabei auf den Moment der Kulturgeschichte, in dem sich drei kulturhistorische Linien treffen: 1. die Theorie und Praxis der Beziehung zwischen Farben und Klängen im Sinne von Analogien, Weltformeln und Farborgeln, 2. die Evolution der menschlichen Wahrnehmung in ihrer kulturellen Konditionierung und anthropologischen Theoretisierung und 3. die Kombination visueller und auditiver Ausdrucksformen in der menschlichen Kultur, Kunst und Religion.109 Das Zusammenfallen dieser drei Bereiche beschreiben sie als Bewusstwerden der Synthese von Hören und Sehen als subjektive Konstruktion, die keinen Gegenpart in der physikalischen Natur von Licht und Klang habe, woraufhin der Mensch begann, technische Medien zu entwerfen, die wie eine zweite Natur diese Verknüpfung aufweisen würden.110 Die Medien wären damit, so Naumann und Daniels, die Erfüllung einer alten Sehnsucht und eines Menschheitstraumes, der als Dispositiv einer digitalen Welt beschrieben werden kann. Auf diese Weise extrapolieren sie die Medienentwicklung zugleich als Geschichte des Fortschritts, in die die großen Medienrevolutionen im 20. Jahrhundert hineinfallen, und Geschichte überdauernder Ideen, die durch ein permanentes Update in Form technischer Innovationen angetrieben werden.111 Dabei definierten neue technische Medien die Grenzen des Visuellen und Akustischen jeweils neu und rekonfigurierten ihre Beziehung zueinander, wie sich z.B. im 19. Jahrhundert Visuelles und Akustisches medial trennten und im 20. Jahrhundert wieder vereinten.112 Die Medien in ihrer Audiovisualität, die sie erst in die Dinge hineinbringen, nähern sich damit, Daniels und Naumann zufolge, immer mehr der menschlichen Wahrnehmung an.113 Eine zunehmende Differenzierung der Sinne im Rahmen der Kulturgeschichte werde so in einer Geschichte der Medien und der archiv und das Symposium Ton-Bild-Relationen in Kunst, Medien und Wahrnehmung vom 2.-3.9.2009 in Zusammenarbeit des Lentos Kunstmuseum Linz und dem Ludwig Boltzmann Institut Medien. Kunst. Forschung. Daraus hervorgegangen ist der Ausstellungskatalog See this Sound. Versprechungen von Bild und Ton (hg. von Cosima Rainer, Stella Rollig, Dieter Daniels und Manuela Ammer, Köln 2009) und das Kompendium See this Sound. Audiovisuology Compendium (hg. von Dieter Daniels und Sandra Naumann, Köln 2010). Siehe http://www.see-this-sound.at [letzter Zugriff 30.8.2016] 108 Vgl. Daniels/ Naumann (2010). S. 6. 109 Vgl. ebd., S. 6f. 110 Vgl. ebd., S. 8. 111 Vgl. ebd., S. 9f. 112 Vgl. ebd., S. 10. 113 Vgl. ebd., S. 11.
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Technologien umgekehrt.114 Die historisch variierenden medialen Bedingungen spiegelten sich wiederum in künstlerischen und technischen Praktiken von KlangBild-Kopplungen, Farblichtexperimenten, Intermedia Art oder Club Culture, während sich wiederkehrende Motive zeigen würden, die Daniels und Naumann jedoch nicht näher ausführen.115 Und das ist dann auch das entscheidende Problem des Bandes und des gesamten Projektes, das in einer Aufzählung künstlerischer Projekte mündet, die irgendwie mit Klang und Bild zu tun haben, wobei unter verschiedenen Schlagwörtern wie Cinedance und Dance as Audiovision häufig dieselben Künstler und künstlerischen Arbeiten herangezogen werden, aus denen kaum eine Deutung der angesprochenen Synergieeffekte hervorgeht. Denn was dem Ansatz fehlt, ist letztlich ein übergeordnetes Konzept wie die Synästhesie, das die von Daniels und Naumann eingeführten drei Themenbereiche in ihrer Komplexität, Gemeinsamkeit und Differenz im kulturellen Diskurs verbinden kann. Dabei beschreiben sie mit ihrer Herangehensweise bereits in Ansätzen einen Synästhesiediskurs, der sich zum einen durch die wiederkehrende Idee einer Einheit und Überwindung der Trennung der Sinne und zum anderen in spezifischen Konzepten und Ausformulierungen, die sich historisch durch mediale Bedingungen und damit verbundene Wissenskulturen wandeln, fassen lässt. Dieser Wandelbarkeit des Synästhetischen soll im Folgenden mit dem Versuch einer umfänglichen kulturhistorischen Beschreibung des Phänomens Synästhesie unter epistemologischen Gesichtspunkten in dem Zeitraum von etwa 1860 bis 2010 nachgespürt werden.
I.4 D AS S YNÄSTHETISCHE ALS D ISKURS . W ISSENSKULTUREN ZWISCHEN K UNST , M EDIEN UND W ISSENSCHAFT Ziel der Analyse der Aussagen über Synästhesie seit etwa 1860 ist, das Synästhetische als Denkfigur seit der Moderne zu beschreiben, die in enger Bindung an die Mediengeschichte den Wandel von Wahrnehmungs- und Wissensformen thematisiert und zwischen den Disziplinen und gängigen Dichotomien wie Natur- und Geisteswissenschaft oder Wissenschaft und Kunst agiert. Werden Begriff und Phänomen der Synästhesie im Kontext (neuro-)wissenschaftlicher, künstlerischer und
114 Vgl. ebd., S. 11. 115 Sie beziehen sich hier lediglich auf Wittgensteins ,Familienähnlichkeit‘, die nicht eine lineare Sequenz wie eine Chronologie, sondern eine einzigartige und originale Mischung kreiert durch überlappende Ähnlichkeiten und Differenzen, die die Determination einer typischen Ähnlichkeit ermöglichen, für die es keine festen und unveränderbaren Kriterien gibt. Vgl. ebd., S. 15f.
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medialer Themenfelder verhandelt und konzeptualisiert, die sich auf Fragen der Wahrnehmung fokussieren, so fehlt bisher eine Betrachtungsweise, die die verschiedenen Ebenen zusammenführt, die wissenschaftlichen, künstlerischen und medienorientierten Debatten parallelisiert, ihre gegenseitige Bedingtheit aufzeigt und historisch verortet. Deshalb untersucht die Arbeit die Aussagen und Theoriebildungen einer historischen und aktuellen Synästhesieforschung sowie synästhetischkünstlerische Entwürfe und wertet sie im Kontext von spezifischen, z.T. gleichzeitig existierenden und sich historisch wandelnden Wissenskulturen aus.116 Gestattet diese Herangehensweise das Vorhandensein verschiedener, sich widersprechender Synästhesiekonzepte zu einem Zeitpunkt,117 so lassen sich in historischer Perspektive Wandlungsprozesse und Brüche eines Synästhesiediskurses beschreiben.118 Die Idee der Wissenskulturen ermöglicht dabei, mediale Bedingungen als Wissensformen wesentlich mitbestimmenden Faktor einzubeziehen.119 Im Sinne einer Projektionsfläche stehen damit jenseits disziplinärer Definitionen zum einen das Wissen, das über die Synästhesie produziert wird und zum anderen Fragen, wie, in welcher Form und in welchem Kontext dieses Wissen generiert wird, im Zentrum. Zugleich 116 Den Begriff der Wissenskulturen prägte Karin Knorr-Cetina mit ihrem Buch Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, in dem sie Erkenntnisstrategien der Naturwissenschaft untersucht als „diejenigen Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, die, gebunden durch Verwandtschaft, Notwendigkeit und historische Koinzidenz, in einem Wissensgebiet bestimmen, wie wir wissen, was wir wissen“. Knorr-Cetina (2002), S. 11. [Herv. i.O.] Die dahinter liegende Frage lautet: Wie, d.h. mit welchen Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, wird Wissen erzeugt, generiert und validiert? Dabei verweist der Begriff der Wissenskulturen entgegen der Verfechtung einer Einheit der Wissenschaft auf die Ausdifferenzierung von Wissensbereichen, die sich durch ihren je spezifischen Zugriff auf Wirklichkeit, ihre Prozesse und Mechanismen der Wissensproduktion und -verwertung, Erkenntnispraktiken und empirischen Methoden unterscheiden. 117 Die Parallelität einer Vielzahl von Wissenskulturen beschreibt Knorr-Cetina als „ein strukturelles Merkmal von Wissensgesellschaften“, die sich durch die parallele Existenz und Gleichzeitigkeit verschiedener Erkenntnistechnologien und -strategien kennzeichnen lassen. Vgl. Knorr-Cetina (2002), S. 19f. 118 Während die historische Dimension des Wandels von Wissenskulturen bei KnorrCetina nur angedeutet bleibt, steht sie bei Hans Jörg Sandkühler in Natur und Wissenskulturen. Sorbonne-Vorlesungen über Epistemologie und Pluralismus im Mittelpunkt. Vgl. Sandkühler (2002). 119 Der Einfluss der Medien auf Wissenskulturen bleibt sowohl bei Knorr-Cetina als auch bei Sandkühler weitgehend unberücksichtigt. Bei Knorr-Cetina tauchen z.B. medientheoretische Fragen lediglich im Zusammenhang mit Messgeräten und der Interpretation ihrer Daten auf.
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rückt aber auch die Perspektive in den Vordergrund, inwieweit synästhetische Konzepte selbst wiederum die Wissenskultur einer Zeit beeinflussen. Wurde das Synästhetische in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Suche nach einer gegen die moderne Entfremdungserfahrung gerichteten gesamtsinnlichen Welterfahrung konzeptualisiert, so wurde es auch als Praxis wirksam. Denn durch die Schulung synästhetischer Fähigkeiten in künstlerischen Kontexten und pädagogischen Reformprogrammen sollten gleichermaßen eine ursprüngliche Einheitserfahrung wiederhergestellt wie neue, von der modernen Lebensweise geforderte Wahrnehmungsmuster trainiert werden. Das Synästhetische muss so auch als ein spezielles Sinnes- oder Körperwissen verstanden werden, das sich nicht immer nur sprachlich artikuliert. Als Erkenntnisstrategie oder Art zu denken wird es auch auf der Ebene des Individuums und als kulturelle Praxis wirksam und beeinflusst so wiederum das wissenschaftliche Denken. Künstlerischer und wissenschaftlicher Diskurs des Synästhetischen stehen damit in einem permanenten Spannungsverhältnis und verhandeln grundsätzliche Fragen des Weltzugangs, wobei die Wissenschaft Modelle entwickelt, während die Kunst diese in die Praxis überführt. Dabei zeigen sich in der Kunst als Wahrnehmungspraxis besonders prägnant Um- und Neustrukturierungsprozesse von Wahrnehmungs- und Wissenskulturen in Reaktion auf Veränderungen und Brüche der medialen Verfasstheit der Kultur. So sieht z.B. Christiane Heibach eine Initialisierung der Diskussion „um mehrsensuelle Wahrnehmung und synästhetische Strategien in der Kunst“ durch die digitalen Medien ausgelöst und argumentiert deshalb, dass „Synästhesie nicht ohne Bezug zu den jeweils dominanten Medien einer Zeit adäquat erforscht werden“120 kann. Im Sinne Walter Benjamins verändert sich die Kunst v.a. im Zusammenhang mit dem Wandel kollektiver Wahrnehmungsmuster, die in Medientechniken zum Ausdruck kommen, aber durch diese auch beeinflusst werden. Dabei werden zukünftige Kunstformen in schon bestehenden ausgebildet, indem zum einen die Technik auf eine bestimmte Kunstform hinarbeite, wie es z.B. vor dem Film Fotobüchlein und Daumenkino gab121, zum anderen „arbeiten [...] die überkommenen Kunstformen in gewissen Stadien ihrer Entwicklung angestrengt auf Effekte hin, welche später zwanglos von der neuen Kunstform erzielt werden“122. In Betrachtung der Synästhesie in Analogie zur Kultur-, Kunst- und Mediengeschichte ist es also durchaus sinnvoll, Synästhesie nicht generell als künstlerisches Konzept zu entwickeln, sondern es jeweils in Kombination mit den zeitspezifischen medialen Bedingungen zu betrachten, wie es auch Christiane Heibach vorschlägt:
120 Heibach (2006), S. 3. 121 Vgl. Benjamin (1981), S. 36. 122 Ebd., S. 37.
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„Eine historische Rekonstruktion von Synästhesiekonzepten in Kunst und Literatur kann darüber Aufschluss geben, welche dieser Tendenzen sich in der heutigen interaktiven Medienkunst wiederfinden und welche der spezifischen Situation des momentanen Medienwechsels geschuldet sind – sie kann auch für eine Trendforschung nutzbar gemacht werden, die etwas darüber aussagt, welche Konsequenzen die Integration der neuen Medien in das bestehende kulturelle Netzwerk von Medien für unsere Wahrnehmungsmodalitäten haben wird.“123
Die historische Verortung im Rahmen der Kulturgeschichte und in spezifischen Wissenskulturen lässt die Funktion des Synästhetischen als Konstrukt und Denkfigur im kulturellen Diskurs aufscheinen. Aus dieser Herangehensweise ergibt sich ein Blick auf die Synästhesiedebatte, die nicht nur die behaupteten Höhepunkte einer Auseinandersetzung um 1900 und seit 1980 in den Mittelpunkt rückt, sondern auch die Zeit dazwischen betrachtet. Weniger die Quantität der in einem Zeitraum zur Synästhesie erschienenen Publikationen ist damit ausschlaggebend, sondern thematisch-inhaltliche Aspekte. Denn bereits bei einem ersten Blick auf die Beschreibung der Synästhesie seit 1860 fällt auf, dass sich die Synästhesieforschung in Bezug auf die Definition und Verwendung des Begriffes, die Fragestellungen, die beteiligten Wissenschaften und Untersuchungsmethoden und die mit der Synästhesie assoziierten Phänomene historisch verändert und durch Brüche gekennzeichnet ist.124 So stand im Zeitraum von etwa 1860 bis ca. 1920 v.a. die ,Entdeckung‘, d.h. die Definition und Beschreibung des Phänomens im Vordergrund, die sich ausgehend von der Konstruktion des Begriffes durch Vulpian im Bereich der Physiologie entfaltete. Dabei setzten sich zunächst die Augen- und Ohrenheilkunde, Physiologie und Psychiatrie mit der Synästhesie auseinander und beschrieben sie als Abnormität und pathologische Erscheinung im Sinne von Defekten am Auge, an den Sehnerven oder einer Sinnesverwirrung, was sich jeweils jedoch nur vermuten und nicht beweisen ließ. Im Zuge der Herausbildung der modernen Psychologie, zunächst als Psychophysik oder physiologische Psychologie aus der Physiologie abgeleitet, wurde die Synästhesie von der Pathologie befreit und mehr und mehr einer psychologischen Deutung zugeführt. Als einer der ersten Untersuchungsgegenstände der jungen Disziplin widmeten sich ihr deren Gründerväter Wilhelm Wundt oder Gustav Theodor Fechner. Im Jahr 1890 auf dem ersten Congrès International de Psychologie Physiologique in Paris und später 1892 beim zweiten Congrès Interna123 Heibach (2006), S. 2. 124 Bereits Heinz Werner erkannte 1926 drei begriffsgeschichtliche Etappen: Zuerst hätte es sich vorwiegend um biografische Selbstbeobachtung und die Sammlung von Berichten über Einzelfälle gehandelt, in einem zweiten Schritt seien Umfrage und Enquete eingeführt worden, so z.B. bei Fechner in der Vorschule der Ästhetik von 1880. Als neueste Errungenschaft der 1920er Jahre sei das Experiment im Labor hinzugefügt worden. Vgl. Paetzold (2003), S. 859.
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tional de Psychologie: International Congress of Experimental Psychology in London wurde die Synästhesie erstmals in größerem Rahmen diskutiert. Dabei scheint ein Zusammenhang zwischen dem Scheitern physiologischer Erklärungsversuche der Synästhesie und der Entstehung der Psychologie als wissenschaftliche Disziplin zu bestehen. Das Phänomen entzog sich einer exakten wissenschaftlichen Fixierung, was sich in einer Vielzahl verschiedener, sich z.T. widersprechender Theorien niederschlug. So entwarfen z.B. auch die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als (pseudo-)wissenschaftliche Disziplin entwickelnde Parapsychologie und ab 1910 auch die Psychoanalyse Theorien zum Phänomen. Ab ca. 1900 ist außerdem eine verstärkte Auseinandersetzung in Bezug auf ästhetische Fragen zu verzeichnen. So wurde eine Verbindung zum sogenannten clavecin oculaire, der Augenorgel, die erstmals 1725 von Louis Bertrand Castel beschrieben wurde, und zu Wagners Entwurf des Gesamtkunstwerkes hergestellt. Als Wahrnehmungspraxis eroberte die Synästhesie von da ausgehend und v.a. in Kombination mit dem Film, in künstlerischen Programmen und Manifesten, wie bei Wassily Kandinsky oder den Futuristen, immer mehr Raum. Nicht zufällig wurde das Synästhetische vom kulturellen Diskurs um 1900 im Zuge einer Neubewertung subjektiver Elemente, einer Absage an ein rein positivistisches Wissenschaftskonzept sowie der Hinterfragung der Sinneswahrnehmung und ihrer Rolle im Erkenntnisprozess hervorgebracht. Denn bevor nicht die Subjektivität der Wahrnehmung und ihre konstitutive Funktion für die Auffassung und Vorstellung von Welt erkannt wurden, konnte die Synästhesie als Phänomen nicht auffallen, und wenn doch, dann lediglich als Krankheit thematisiert werden. Vollends spiegelte sich dieser Bruch im kulturellen Diskurs in den Konzeptualisierungen der Synästhesie ab etwa 1920. Fanden sich um 1900 nur vereinzelte philosophische und anthropologische Ansätze, die versuchten, das Phänomen in einen größeren kulturhistorischen Kontext einzubetten, so zeigte sich von ca. 1920 bis etwa 1940 eine wesentliche Verlagerung des Schwerpunktes in der Auseinandersetzung mit der Synästhesie hin zu ihrer Beschreibung als anthropologische Konstante in der Menschheitsentwicklung. Dabei löste sich das Phänomen aus dem Bereich naturwissenschaftlicher, medizinisch-physiologischer Forschung und wurde überwiegend Gegenstand in geisteswissenschaftlichen Kontexten und Fragestellungen der Kunst-, Literatur- und Musikwissenschaft, während parallel eine enorme Popularisierung durch Artikel in Tages- und Wochenzeitschriften oder Radiobeiträgen stattfand. Besonders prägnant verdichtete sich diese Tendenz in den 1920er und 1930er Jahren in Deutschland in der interdisziplinär angelegten FarbeTon-Forschung des (Musik-)Psychologen Georg Anschütz, der die Synästhesie in Form des Farbenhörens als Ausgangspunkt für eine „neue Synthese des Geistes“ betrachtete, aus der eine „neue Form des Menschen“125 erwachsen sollte. Gleichzeitig erfolgten erstmals systematisch angelegte kulturgeschichtliche und ethnolog125 Anschütz zit. nach Jewanski (2002a), S. 245.
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ische Untersuchungen, die v.a. mit dem Namen Albert Wellek verbunden sind und darauf abzielten, das ,Schon-immer-Vorhanden-sein‘ und die Kontinuität des Phänomens in der Menschheitsgeschichte nachzuweisen. Als Wiederbelebung eines gesamtsinnlichen Empfindens wurde das Synästhetische in Entwürfe eines neuen Menschen und einer neuen Gemeinschaft integriert, die auch politisch im Rahmen einer die Massen erfassenden Propagandakunst und einer nationalsozialistischen Ästhetik anschlussfähig waren. Unter dieser Prämisse entwarfen die sogenannten Avantgarden in Theater und Tanz, in der Vermischung von Kunstgattungen und Überschreitung der Grenzen zwischen den Künsten und deren Kombination mit neuen Mitteln und Techniken künstlerische Konzepte und Umsetzungen wie die Farblichtmusik oder den abstrakten Film. Im Vergleich zu diesem Boom der Synästhesie in den 1920er und 1930er Jahren kann von einem deutlichen Bruch im Synästhesiediskurs ab etwa 1940 gesprochen werden, der sich im Verschwinden des Synästhetischen aus der Wissenschaft und der Öffentlichkeit äußerte, was die Frage nach dem Warum aufwirft. Dabei machen Psychologen und Neurowissenschaftler das wissenschaftliche Paradigma des Behaviorismus, der mentale Zustände wie Fühlen, Denken, Emotionen als nicht nachweis- und objektivierbar aus der wissenschaftlichen Forschung ausgegrenzt, verantwortlich.126 Beschränkt sich diese Aussage indes auf die psychologische oder neurologische Perspektive, so müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden. So veränderten der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg in Deutschland und der Welt das politisch-gesellschaftliche Milieu und forderten ganz andere Fragestellungen und Themen heraus. Daher reduzierte sich die Beschäftigung mit der Synästhesie seit den 1940er Jahren auf literaturwissenschaftliche Abhandlungen zu einzelnen Persönlichkeiten, Epochen oder Werken, vereinzelte kunst- und musikwissenschaftliche Studien, wobei v.a. Fragen des Musik- und Kunstunterrichts im Vordergrund standen, sowie auf Synästhesien im Drogenrausch in einigen populärund pseudowissenschaftliche Publikationen im Kontext der 1960er Jahre. Allerdings ist das sogenannte Verschwinden synästhetischer Konzepte ein Trugschluss. Denn im Bereich der Kunst knüpfte seit den 1950er Jahren eine junge Künstlergeneration mit John Cage, Merce Cunningham oder Nam June Paik ganz bewusst an die synästhetischen Experimente der ersten Jahrhunderthälfte an. Dabei kombinierten sie verschiedensinnliche Elemente, künstlerische Mittel und die Künste nicht mehr im Zeichen einer Ganzheitsutopie, sondern frei nach dem Prinzip des Zufalls und imitierten damit das Prinzip neuer Medientechniken wie Fernsehen und Video. In diesem Kontext dankte auch das Synästhetische als Referenz auf eine ,natürliche‘, sinnliche, geistig-körperliche Einheit und Ganzheit ab und wurde als Kombination von Medientechniken neu formuliert. Mit dem Bau der ersten funktionstüchtigen Rechenmaschine durch Konrad Zuse im Jahr 1941, wobei wichtige theo126 Vgl. Baron-Cohen/Harrison (1997), S. 4.
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retische Vorarbeiten bereits in den 1930er Jahren z.B. von Alan Turing gelegt wurden, begann der Siegeszug digitaler Medientechnik. Spätestens seit den 1980er Jahren eroberten Computer und Internet immer weitere Lebensbereiche. So ist mittlerweile jeder Mediaplayer mit einem Programm zur Visualisierung von Musik ausgestattet, das Musik in Farb- und Formenspiele umwandelt, von denen die frühen Farblicht-, Farbmusik- und Filmpioniere nur träumen konnten. Im Zeitalter von künstlicher Intelligenz und virtuellen Welten wurde insbesondere die menschliche Sinneswahrnehmung neu verhandelt und die Frage von einem Einbezug aller Sinne neu gestellt. In der Folge entstanden wiederum neue Wissenschaftszweige v.a. im Bereich der Neurowissenschaften, die sich an der Analogie von Gehirn und Rechenmaschine abarbeiten. So stellt sich das Verschwinden der Synästhesie aus dieser Perspektive vielmehr als deren Neuformulierung vor dem Hintergrund eines Wandels der medialen Bedingungen dar, die, zuallererst von Künstlern aufgegriffen, eine Renaissance der Synästhesie in den 1980er Jahren wesentlich mitbestimmten, wenn nicht gar überhaupt erst ermöglichten. Die ,Wiederentdeckung‘ der Synästhesie muss demnach im Zusammenhang mit der Digitalisierung betrachtet werden, die zur Entstehung neuer Wissenschaften und neuer Modelle des Menschen führte. So entwickelten sich die Kognitions- und Neurowissenschaften seit den 1960er Jahren zu neuen Leitdisziplinen und dominieren seitdem auch die Synästhesieforschung. Von Beginn an geriet die Synästhesie als neurologisches Phänomen jedoch in Kollision mit herrschenden neurowissenschaftlichen Annahmen und Paradigmen, die sich an einem Modell des Gehirns in Anlehnung an den Computer ausrichteten. So spielte die Synästhesie z.B. eine wesentliche Rolle bei der Formulierung eines phänomenalen Bewusstseins im Sinne des subjektiven Erlebnisgehaltes eines mentalen Zustandes, der nur im Erleben selbst zugänglich ist und mit den Mitteln der Neuro- und Kognitionswissenschaften nicht beschrieben werden kann.127 Damit schlug sich im Synästhesiediskurs ein genereller Paradigmenwechsel nieder, der unter verschiedenen Begrifflichkeiten propagiert wurde und v.a. auf eine Neubewertung subjektiven Erlebens, der Emotionen, Sinneserfahrungen und Intuitionen in ihrem Einfluss auf Wissensprozesse hinarbeitete.128 Die Synästhesie steht so seit den 1980er Jahren als abstrakter Wissensprozess und zugleich emotional betonte Wahrnehmungs- und Wissensform zwischen den Fronten und vermehrt 127 V.a. der Philosoph Thomas Nagel warf 1974 mit seinem Aufsatz What is it like to be a bat? die Frage auf, wie es sich anfühlt, in einem bestimmten mentalen Zustand zu sein, was seitdem als zentrales Problem der Philosophie des Geistes unter dem Begriff Qualia verhandelt wird. Nagels behauptete, die Naturwissenschaften könnten das Phänomen des Erlebens überhaupt nicht erfassen. Vgl. Nagel (1974). 128 So fügt sich Polanyis Konzept des impliziten Wissens in diesen Paradigmenwechsel, aber auch die Prognose einer ,Wiederkehr des Körpers‘, wie sie Dietmar Kamper ausrief. Vgl. Kamper (1982).
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sich in disziplinären Konzepten zu einem fast unüberschaubaren Feld. Dabei weisen die Erklärungsversuche der Synästhesie bis heute eine frappierende Ähnlichkeit mit denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf.129 Das wesentlich Neue im Vergleich zur historischen Synästhesieforschung sind die Untersuchungsmethoden, womit insbesondere die bildgebenden Verfahren angesprochen sind, mit denen Hirnstrukturen und -prozesse sichtbar gemacht werden können. Konnte damit gezeigt werden, dass Synästhetikergehirne in bestimmten Situationen anders reagieren, so blieb der zugrunde liegende Mechanismus nach wie vor ein Rätsel. Auf widersprüchliche Befunde reagierte die Forschung damit, dass sie die Synästhesien in immer neue Unterarten und Formen unterteilt. Auflösen lassen sich diese Widersprüche jedoch viel eher aus der Perspektive des Subjekts im Kontext multipler, flexibler und virtueller Arbeits- und Lebenswelten, in denen das Synästhetische als soft skill und Persönlichkeitseigenschaft die Vernetzung und Verschaltung des Individuums mit und in multiplen medialen Welten unterstützt, deren Effizienz steigert und zugleich im eigenleiblichen Erleben verankert. Dieser kurze Abriss eines Synästhesiediskurses sollte, in Vorbereitung der folgenden Analyse, dessen Verknüpfung mit einem medial bedingten Wandel von Wissenskulturen andeuten, aus dem sich das Synästhetische als Projektionsfläche und Denkfigur einer damit verbundenen Neuformulierung von Wahrnehmungs- und Wissensprozessen konstituiert. Herausschälen lassen sich vier Phasen, in denen das Synästhetische jeweils markante Ausformulierungen und Funktionen erhält. Zugleich finden sich in den vier Phasen jeweils dominante künstlerische Formen, die für das Synästhetische besonders empfänglich sind. Mit dem Aufkommen der Synästhesie in der Wissenschaft um 1900 und ihrer Verbindung mit dem Gesamtkunstwerk als neue theatrale Form wurde v.a. das Theater zum Schauplatz synästhetischer Experimente, in den 1920er Jahren der Film und in den 1950er und 1960er Jahren immer stärker Kombinationen von Medien wie Fernsehen und Video, aber auch die Künste verstanden als Medien selbst. Ab den 1980er Jahren ist es dann mehr und mehr eine digitale Medienkunst. Dabei muss die Einteilung des Synästhesiediskurses in vier Phasen als Vereinfachung komplexer Prozesse verstanden werden, denn zwischen diesen existieren Überschneidungen, sowie Vor- und Rückgriffe. Erst mit einer derartigen Herangehensweise lassen sich jedoch zum einen historisch konstante Elemente in Konzepten des Synästhetischen und zum anderen deren durch neue mediale Bedingungen heraufbeschworene Veränderungen erkennen. Denn das Synästhetische wird insbesondere dann als Modell herangezogen, 129 Das bestätigt auch John Harrison: „Ich habe […] immer wieder betont, dass ein Großteil der modernen Literatur zum Thema Synästhesie im Prinzip klassische Erkenntnisse wiederentdeckt hat. Moderne neurowissenschaftliche Arbeiten unterscheiden sich von denen des viktorianischen Zeitalters oft hauptsächlich in den Techniken.“ Harrison (2007), S. 167.
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wenn sich neue mediale Entwicklungen abzeichnen, die eine gravierende Reorganisation der Sinneswahrnehmung erfordern und mit einer Neustrukturierung der Wissenskultur und der Ordnung des Wissens einhergehen. Dabei würde eine Reduktion auf den Wandel von Medientechniken zu kurz greifen, stellen diese doch ihrerseits zeitspezifische und vielfältig determinierte Produkte des kulturellen Diskurses dar. Das Augenmerk muss vielmehr auf ein komplexes Zusammenspiel wissenschaftlicher, künstlerischer und medialer Aspekte im kulturellen Diskurs gelegt werden, aus dem die Konzeptualisierungen des Synästhetischen hervorgehen.
II. Zwischen Genie und Wahnsinn – Die Entdeckung der Synästhesie als neues Wahrnehmungsmuster der Moderne
Die Entdeckung und Ausformulierung des Synästhetischen ereignete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen einer Kulturanthropologie der Moderne, die das Phänomen für ein Projekt der Wiederbelebung und Instrumentalisierung eines ,verborgenen‘ Wissens und schwer zugänglicher Dimensionen menschlicher Erkenntnisfähigkeit anschlussfähig machte. Aus einer ,Findungsphase‘, in der wissenschaftliche Definitionen, Felder von Relevanzen und Zugehörigkeiten zu bestimmten Wissensbereichen abgesteckt wurden und die etwa bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges reichte, gingen physiologische, psychologische, physikalische, mystische und künstlerische Theoretisierungsversuche des Synästhetischen hervor. Ergeben sich aus den jeweiligen Theorien aufschlussreiche Informationen über die sich mit der Synästhesie jeweils beschäftigenden Disziplinen selbst, so spiegelt sich darin zugleich die Sonderstellung des Phänomens, das sich jeglicher einseitiger Zuordnung entzog und vielseitig besetzbar war. In der Summe entsteht daraus nicht nur ein Bild über die spezifische Verfasstheit der Wissenskultur der Zeit, sondern es zeigt sich v.a. eine konstruktive Logik bei der Ausformulierung des Synästhetischen. Die Synästhesieforschung fügte sich dabei in eine Faszination des 19. Jahrhunderts für andersartige Zustände der Wahrnehmung, der Psyche und des Bewusstseins, wie dem Traum, der Hysterie, der Aura, dem Delirium oder der Migräne, die zwischen Genie und Wahnsinn schwankten und gleichermaßen von Wissenschaft und Kunst aufgegriffen wurden.1 Hinter der Hinwendung zu mythischen und rituellen Traditionen verbarg sich der Versuch einer Wiederbelebung archaischer,
1
„Die vielfältigen nervösen Erregungen und Erschöpfungen sind dabei selbstverständlich nicht nur Thema von Literatur und Kunst, sondern ihre gesamtkulturellen Erscheinungsformen, ihre Symptome und Ursachen werden zum Gegenstand der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen.“ Asendorf (1989), S. 79. Vgl. auch Dann (1998), S. 24.
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vor Sprache und Schrift liegender Wissensformen, die aus einer zunehmenden Erfahrung der Entfremdung und der Sehnsucht nach Einheit und Gemeinschaft resultierten und die kulturanthropologischen Grundlagen für eine Erneuerung der Gesellschaft boten.2 Eingebettet in eine Umstrukturierung kultureller Ordnungs- und kollektiver Wahrnehmungs- und Deutungsmuster bewegte sich das Synästhetische zwischen Wissenschaften, Pseudowissenschaften, okkulten Bewegungen und künstlerischen Strömungen, die sich wiederum gegenseitig beeinflussten. Als neue künstlerische Strategie der Moderne lässt sich Synästhesie deshalb erst gemeinsam mit der wissenschaftlich-physiologischen Fundierung der Wahrnehmung fassen, die wiederum auf neue Medientechniken rekurrierte. Wahrnehmungsforschung und synästhetisch-künstlerische Praktiken waren direkt aufeinander bezogen und miteinander verschränkt. Lieferten die physiologisch-psychologischen Beschreibungsund Erklärungsversuche eine Verankerung des Synästhetischen in der menschlichen Psyche und den körperlich fundierten Nervenprozessen, so stimulierte deren Scheitern die Mystifizierung, Besetzung und künstlerische Ausformung des Phänomens als verborgenes System von Entsprechungen. Die wissenschaftlich ausgerichtete Erforschung der Synästhesie hatte daher wesentlichen Anteil an einer Physiologisierung der Kunst, die ihre Mittel und Techniken unter der Prämisse einer Wirkung auf die Sinne und den Körper aktualisierte und neu kombinierte. Wissenschaft und Kunst näherten sich über Praktiken und Denkoperationen der Analyse und Synthese einander an. Für Künstler aller Gattungen wurde das Theater in der Fluchtlinie des Gesamtkunstwerkes zum Experimentierfeld einer synästhetischen Verknüpfung der Sinne und Künste. Die Reformierung des Theaters um 1900 war ein wesentliches Ergebnis seiner synästhetischen Physiologisierung, die es in eine mediale Apparatur und ein Labor für neue Medientechniken und damit verbundene Warnehmungsmuster verwandelte. Das Synästhetische als Ergebnis eines Konstruktionsprozesses verstehend, der durch kulturelle, mediale, künstlerische und wissenschaftshistorische Bedingungen bestimmt wird, die seine spezifische Ausprägung und Konzeptualisierung bedingen, fällt der Blick auf dessen ,Entstehung‘ und sein erstmaliges Erscheinen im kulturellen Diskurs. Jenseits der phänomenalen Existenz einer speziellen Wahrnehmungsform steht damit der Zeitpunkt der Benennung und Theoretisierung im Vordergrund, die dem Synästhetischen eine Relevanz und Wirkungskraft auf diskursiver Ebene verleihen. Dieser lässt sich anhand der Begriffsbildung relativ genau lokalisieren. Der Physiologe Alfred Vulpian, der u.a. 1856 das Hormon Adrenalin entdeckt hatte, führte synesthésie als neue Wortschöpfung in den Leçons sur la physiologie générale et comparée du système nerveux faites au Muséum d’histoire naturelle von 1866 als wissenschaftlichen Begriff für assoziierte Empfindungen
2
Vgl. Baxmann (2000), S. 36.
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ein3 und formulierte im Dictionnaire Enzyclopédique des Sciences Médicales im Artikel über das Rückenmark von 1874 genauer: „Nous avons nommé synesthésies, les sensations secondaires produites sous l’influence d’une sensation primitive, qui seule est provoquée par une excitation extérieure ou intérieure.“4 Referierte Vulpian mit dem Begriff zunächst auf Phänomene wie das Gefühl von Übelkeit beim Drücken auf den Gaumen oder eine ,Gänsehaut‘ beim Kratzen von Fingernägeln auf einer Tafel, so übertrug Jules Millet in Audition Colorée von 1892 Vulpians Begriff auf Formen von sensations associées, die als Faszinosum unter verschiedenen Terminologien bereits in der Medizin und der Physiologie kursierten und heftig diskutiert wurden.5 In den verschiedenen Begriffen spiegelten sich gleichermaßen definitorische Probleme und multiple Theoretisierungs- und Verortungsversuche im wissenschaftlichen Horizont um 1900.6 Stammten die ersten wissenschaftlichen Referenzen aus dem medizinischen Bereich, in dem die Synästhesie zunächst als Störung der Sinnesorgane oder pathologischer Geisteszustand erschien, so verlagerte sich ihre Deutung zunehmend hin zu einer psychologischen, nicht krankhaften Erscheinung. Daneben fanden sich jedoch auch physikalische Interpretationsversuche, die sie als Beweis der Übersetzbarkeit von Farben in Töne instrumentalisierten, sowie mystisch-verklärte Auslegungen als Zeugnis einer Einheit des Kosmos oder der Weltharmonie. In Anbetracht dessen stellt sich die Frage, welche kulturhistorisch wirksamen Bedingungen die Beschreibung und Konzeptualisierung des Synästhetischen in diesem Moment der Kulturgeschichte ermöglichten, beförderten bzw. notwendig machten und zur Konstituierung eines Synästhesiediskurses beitrugen, der bis heute anhält. Denn dieser kann nur als Reaktion auf spezifische Problemstellungen der Zeit verstanden werden, in deren Folge das Phänomen mit anderen, 3
„C’est par les termes de sympathie ou de synesthésie que l’on doit désigner les phénomènes en question ; ou bien […] on peut employer l’expression : sensations associées.“ Vulpian zit. nach Paetzold (2003), S. 842. Die Leçons sur la physiologie générale et comparée du système nerveux faites au Muséum d’histoire naturelle sind eine Sammlung von Vorlesungen Vulpians aus dem Jahr 1864, die 1866 gedruckt erschienen. Die erste Nennung des Begriffes erfolgte in der 20. Vorlesung vom 21. Juli 1864.
4
Vulpian zit. nach Paetzold (2003), S. 842.
5
Am verbreitetsten war der Ausdruck Farbenhören bzw. audition colorée und colored hearing. Es fanden sich aber auch Bezeichnungen wie pseudochromesthésie bei Chabalier (1864), Calkins (1893) oder Krohn (1893), ,Phonopsie‘ bei Nußbaumer (1873), ,Sekundärempfindung‘, ,Photismen‘ oder ,Phonismen‘ bei Bleuler/Lehmann (1881). Das Adjektiv synesthétique tauchte 1872 im Dictionnaire de la langue française, hg. vom medizinisch versierten Émile Littré, auf. Vgl. Paetzold (2003), S. 842, Dann (1998), S. 21.
6
So bezeichnete z.B. Dr. Epstein das Phänomen 1896 auf Grund einer Reihe widersprüchlicher Befunde und Theorien als enfant terrible der Physiologen und Experimentalpsychologen. Vgl. Epstein (1896), S. 28.
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im historischen Kontext bedeutsamen Themen, Begriffen und Diskursen verknüpft und besetzt wurde, wie Peter Weibel es beschreibt: „Als die Wissenschaft zu Ende des 19. Jahrhunderts die Analyse der Empfindungswelt begann [...] und bald auf das Phänomen der Doppelempfindung stieß, das gleichzeitige und korrespondierende Erleben von Gehör- und Farbempfindungen, hat sie damit nur auf jene Techno-Transformation der natürlichen Wahrnehmungswelt und auf die Extension der natürlichen Sinnesorgane reagiert, die das Ergebnis der industriellen Revolution war.“7
Weibel verortet das Auftauchen der Synästhesie damit in einem umfassenden, durch die Industrialisierung und neue Medientechniken ausgelösten Wandel der Wahrnehmungs- und Wissenskultur um 1900. Als ,Modeerscheinung‘ und um die Jahrhundertwende von prominenten Vertretern der Wissenschaft am häufigsten untersuchte physiologisch-psychologische Anomalie fungierte das Synästhetische als Projektionsfläche für eine Neuorganisation der Wahrnehmung zwischen künstlerischen Einheitsutopien und physiologischer Erforschung der Sinne, die entscheidend durch neue Medientechnologien gespeist wurden. Über Kunst und Wissenschaft hinaus verdichtete sich im Synästhetischen ein neues Wahrnehmungsmodell, das, rekurrierend auf ursprünglich leiblich-sinnliches Erleben, geeignet schien, die Anforderungen einer Reizüberflutung im modernen Großstadtleben bewältigen und beschreiben zu können.8 Mit Eisenbahn, Dampfmaschine, permanentem Warenfluss und Festigung der kapitalistischen Logik transformierte sich die europäische Gesellschaft in einem bis dahin unvorstellbaren Tempo und Rhythmus. In der Großstadt verlor die Zentralperspektive als Wahrnehmungsmodell zunehmend an Wirkung und wurde durch „nervöse Geometrien“9 abgelöst, in denen feste Bezugspunkte verloren gingen und der Mensch einer „permanenten Attacke auf alle Sinne“10 ausgesetzt war.11 Eine neue Raumerfahrung der Geschwindigkeit, der Bewegung, eine 7
Weibel (1988).
8
„Erst als der Mensch durch die Industrialisierung von akustischen Reizen überflutet zu werden begann, formierte sich die Wissenschaft der psychologischen Akustik, welche sich die Frage stellte, wie nimmt der Mensch überhaupt akustische Reize wahr. Dabei wurde der Einfluß des Schalls auf die Lichtempfindungen entdeckt. Bei zunehmender Komplexität des akustisch-visuellen Environments, bei zunehmender technischer Inszenierung unserer urbanen Umwelt wurde auch eine Theorie für eine komplexere Interaktion der Sinnesempfindungen, die sekundären und synästhetischen Sinnesempfindungen, entdeckt.“ Ebd.
9
Asendorf (1989), S. 119.
10 Ebd., S. 120. 11 „Das Auge verliert den Überblick, die Stadt ist nicht mehr [...] als auf den Betrachter zentriertes Gebilde wahrzunehmen, das Beobachtungssystem selbst wird dauernd ver-
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Reduzierung von Distanzen sowie ein neues Verhältnis zur Zeit zogen herauf, unterstützt durch neue Techniken der Nachrichtenübermittlung wie der Telegrafie oder dem Telefon. Mit Medientechniken wie der 1839 von Louis Daguerre entwickelten Fotografie und der durch Auguste und Louis Lumière 1895 präsentierten Kinematografie etablierte sich ein völlig neues Sehen, das die gesamte Kultur grundlegend veränderte. Dabei lassen sich, wie Cowan und Sicks beschreiben „die neuen technischen Entwicklungen zugleich als Ursachen wie als Ergebnisse neuer kollektiver Wahrnehmungs-, Denk- und Sprechformationen verstehen, die in verschiedenste Bereiche repräsentationaler Praxis ausstrahlen [...]“12. Beförderten die aufkommenden technischen Medien eine Trennung der Sinne in Erfahrungen verschiedener Zeitlichkeit und Räumlichkeit, indem sie jeweils Visuelles oder Akustisches isolierten und von haptischen, olfaktorischen und anderen Sinneserfahrungen abspalteten, so installierten sie das Synästhetische überhaupt erst als Dispositiv einer künstlichen Zusammenführung der Sinne.13 Daraus erklärt sich auch eine Dominanz des Farbenhörens, der audition colorée, in der Synästhesieforschung um 1900 als vermeintlich verbreitetste Form des Synästhetischen. Die Synthese der Sinne erfolgte sowohl im Insistieren auf imaginativ-psychische Mechanismen, die dem medial vermitteltem Bild oder Ton fehlende Sinneserfahrungen in der Vorstellung ergänzten, als auch über eine artifizielle Parallelisierung und Verknüpfung verschiedener Sinneserfahrungen. Beide Strategien instrumentalisierten das Synästhetische als elementaren Wirkungseffekt und bedingten spezifische Konzepte und Wahrnehmungsmodelle. Verhandelt und erprobt wurden diese über eine Gleichsetzung von Künsten und Sinnen zunächst v.a. auf der Bühne, ausgehend von der Idee eines Gesamtkunstwerks. Neue Techniken der Sicht- und Hörbarmachung, die bisher nicht wahrnehmbare Dimensionen von Welt zugänglich machten,14 sowie schoben, [...]. Der Beobachter ist nicht mehr herausgenommen, sondern Teil dessen, was er beobachtet. Die Wahrnehmung [...] ist nach dem physikalischen Modell des Feldes organisiert: jedem Punkt in einem räumlichen Bereich sind variable Erregungsgrößen zugeordnet, die von allen Seiten auf die verschiedenen Sinne einwirken.“ Ebd., S. 120. 12 Cowan/Sicks (2005), S. 16. 13 „Denn Klang, Bewegung, Körper und Bild standen in der Kulturgeschichte zumindest so lange in einem unmittelbaren Verhältnis, bis technische Möglichkeiten deren Separierung forcierten. […] Wie paralysiert starrten die Menschen auf die Trichter von Grammophonen. Von da an wird also die Spezialisierung bestimmter Körperfunktionen außerhalb des Körpers forciert und damit auch die Spezialisierung der Sinne. Doch nicht, weil diese Trennung gewollt war, sondern weil es technisch noch unmöglich war, Bild und Ton synchron aufzunehmen und wiederzugeben.“ Binas (2005), S. 112. 14 So veröffentlichte Edward Muybridge 1887 elf Bände mit Fotos von den Phasen menschlicher und tierischer Bewegungsabläufe. Dafür nutzte er die neue Technik der Momentfotografie, die die Zerlegung der Bewegung eines lebenden Objektes ermöglichte und
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die Entdeckung der Röntgenstrahlen durch Wilhelm Conrad Röntgen im Jahr 1895 oder der Radioaktivität durch Antoine Henri Becquerel 1896, ließen die menschliche Wahrnehmung zudem als defizitär, subjektiv konstruiert und synthetisiert erscheinen. Die Welt erweckte zunehmend den Eindruck, von Phänomenen durchzogen zu sein, für die der Mensch keine Wahrnehmungsorgane besaß.15 Mit der Begründung der Quantentheorie durch Max Planck um 1900 und Albert Einsteins Relativitätstheorie um 1905 wurden der Makro- und Mikrokosmos auch im wissenschaftlichen Denken völlig neu organisiert und ein positivistischer Denkmodus und die Existenz objektiven Wissens generell in Frage gestellt.16 Im Großen wie im Kleinen gingen feste Verbindlichkeiten und Tatsachen verloren, was eine Neupositionierung und Neuformulierung des modernen Menschen zwischen Wissenschaft, Technik und Kunst zur Folge hatte. So markierte die Auseinandersetzung mit der technischen Erweiterung der Sinnesorgane den Ursprung einer Physiologie, die, als dominanter Forschungsbereich im 19. Jahrhundert, die Nerven- und Sinnesorgane in Analogie zu neuen Techniken und Apparaten, wie der Elektrizität oder der Kamera, dachte. Physiologie, Experimentalpsychologie und Ergonomie beschrieben den Körper in Analogie zur Maschine mit technologischen Metaphern der Energie, Effizienz, Leistung oder Wachheit während der Urbansierungs- und Industrialisierungsprozess neue Anforderungen an die Körper und die Sinne der Arbeiter und Stadtbewohner stellte.17 Dies gipfelte in einem neuen Körperverständnis, das v.a.
deren vom menschlichen Auge nicht wahrnehmbare Phasen sichtbar machte. Auch Etienne Jules Marey versuchte, Bewegung fotografisch festzuhalten. Mit der Chronofotografie nutzte er jedoch das Verfahren der Mehrfachbelichtung auf einer Platte, bei dem Bewegung grafisch abgebildet wurde und sich der Körper selbst auflöste. Vgl. Asendorf (1989), S. 26. 15 Auch die Elektrifizierung der Haushalte, die durch die Erfindung des Elektrizitätswerkes durch Thomas Alva Edison im Jahre 1879 ermöglicht wurde, unterstützte diesen Eindruck: „In den achtziger Jahren ist die Elektrizität, vor allem ihre Körperlosigkeit, die die gewohnten Weisen der Wahrnehmung in Frage stellt, Fluchtpunkt von Überlegungen, wie Wahrnehmung allgemein und die der einzelnen Sinne im besonderen beschaffen ist.“ Ebd., S. 130. 16 „Die Entdeckung eines Bereichs, in dem die physikalischen Regeln des täglichen Lebens nicht anwendbar sind, problematisiert das Konzept absoluter Wahrheit und die Annahme, objektives Wissen sei durch die menschliche Observation der Realität produzierbar. Plancks Entdeckung des Wirkungsquantums, Einsteins Relativitätstheorie und eine Reihe anderer Entwicklungen in der Physik zur Jahrhundertwende lieferten einen Beitrag zu der Erkenntnis, dass Wissen begrifflich ist, das heißt, dass es von einem Repräsentationssystem und dessen Strategien abhängig ist.“ Klöck (2004), S. 232. 17 Vgl. Cowan/Sicks (2005), S. 17.
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leistungsbezogen war.18 Parallel dazu etablierte sich im Anschluss an Nietzsche und Schopenhauer um 1890 eine Lebensphilosophie, die gegen eine einseitige Betonung der Rationalität das Leben in seiner Ganzheitlichkeit betrachtete. Henri Bergson oder Wilhelm Dilthey versuchten, gegen die analytische Fragmentierung des Menschen in einzelne Sinnesorgane und Körperteile, den gesamten Menschen in Beziehung zu seiner Umwelt zu fassen.19 Im Zuge dessen entstanden eine Reihe hermeneutisch orientierter Ansätze im Bereich der Psychologie, der Anthropologie oder Ethnologie, die die Kategorien des Erlebens und Verstehens betonten.20 In einer Deutung zwischen Wahrnehmung, Empfindung, Vorstellung und Assoziation berührte das Synästhetische in dieser Perspektive grundsätzliche Fragen subjektiver Erfahrungs- und Erkenntniswelten und war für eine Neuverortung des Individuums in einer industriellen Massengesellschaft und daraus hervorgehenden neuen künstlerischen Strömungen der Moderne anschlussfähig. Theoretisiert wurde das Synästhetische dabei sowohl als extrem subjektive bis ins Pathologische und den Bereich der Wahnvorstellungen tendierende Erscheinung als auch als universeller, im Zivilisationsprozess nur verschütteter oder unbewusster Wahrnehmungsmechanismus. In diesem Spannungsfeld bündelte der Synästhesiediskurs gleichermaßen Zukunftsvisionen eines neuen technischen Zeitalters als auch Vorstellungen einer präverbalen und präkulturellen gesamtsinnlichen Wahrnehmung und Einheit der Sinne. Die Erforschung und Beschwörung der Synästhesie fügte sich in eine, wie Inge Baxmann es beschreibt, „Spurensuche unter der Kultur“21, bei der im Angesicht neuer technischer Möglichkeiten ein körper- und sinnenbezogenes Wissen alter Kulturen aktualisiert und über eine „Recodierung des Körpers und des Tanzes“ als anthropologisches Fundament und „Verbindungsglied zu früheren, primitiven Lebensstufen“ als „neues Imaginäres sozialer Kommunikation“22 wirksam wurde. Nicht nur unter Wissenschaftlern, die sich immer häufiger selbst als Farbenhörer erkannten, sondern v.a. unter Künstlern erlangte die Synästhesie einen gewissen 18 Vgl. ebd., S. 15, Sarasin/Tanner (1998), S. 12. 19 Vgl. Berlage (1994), S. 5. 20 So formulierte Dilthey 1927 in Die Abgrenzung der Geisteswissenschaften: „Neben den Naturwissenschaften hat sich eine Gruppe von Erkenntnissen entwickelt, naturwüchsig aus den Aufgaben des Lebens selber, welche durch Verwandtschaft und durch gegenseitige Begründung miteinander verbunden sind. [...] Alle diese Wissenschaften beziehen sich auf die Menschen, ihre Verhältnisse zueinander und zur äußeren Natur. [...] Sie sind alle fundiert im Erleben, in den Ausdrücken für Erlebnisse und in dem Verstehen dieser Ausdrücke. [...]. So entsteht ein Gefüge von Wissen, in welchem das Erlebte, das Verstandene und die Repräsentationen desselben im begrifflichen Denken miteinander verbunden sind. [...]“ Dilthey (1960), S. 70f. 21 Baxmann (2000), S. 45. 22 Ebd., S. 99.
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Schick und es war ,in‘, Synästhetiker zu sein.23 Die Symbolisten verknüpften unter dem Schlagwort Synästhesie romantische Einheitsutopien mit einer nach physiologischen Prinzipien ausgerichteten Wirkungsästhetik, die sich als Entsprechungslehre von Künsten und Sinnen zum entscheidenden Antrieb einer Theater- und Bühnenreform jenseits des sprachlich-literarischen Dramas entfaltete. Im Zusammenspiel von Wissenschaft und Kunst wurde das Synästhetische dabei um 1900 in einem konstruktiven Akt als ,ursprüngliches‘ Wahrnehmungsmodell ausgearbeitet, gesetzt und in frühere Phasen der Kulturgeschichte projiziert. Künstler spielten in diesem Prozess eine herausgehobene Rolle, denn insbesondere Werke der Romantik fungierten als erste schriftlich fixierte Fallbeispiele einer wissenschaftlich agierenden Erforschung der Synästhesie.24 Wurden diese literarischen Fallbeispiele als Schilderungen realer Wahrnehmungserfahrungen interpretiert und deren Urheber posthum zu Synästhetikern erklärt, so erhielten die Schriftsteller und Künstler den Status von Zeugen für die Realität und die historische Kontinuität dieser Wahrnehmungsform. Je nach Deutung der Synästhesie wurden verschiedene historische Bezugspunkte etabliert, bestimmte Wahrnehmungsmodelle, Vorstellungen und Spekulationen über Analogien zwischen den Sinnen aktualisiert und im Nachhinein mit
23 So berichtet z.B. Hermann Bahr 1896 in dem Artikel Colour Music über seine synästhetischen Erlebnisse: „Schon der Knabe wurde gescholten, wenn er, Scalen zu üben gezwungen, behauptete, sehr bunte Streifen vor sich flimmern zu sehen; aber es geht mir noch heute so. Man lachte den Jüngling aus, der erzählte, Czernowitz sei eine unangenehme, gelb riechende Stadt; ich kann aber auch heute den intensiv widrigen Geruch jener Straßen, [...], von dieser Farbe nicht trennen. [...] Auch sind und bleiben mir oft Menschen verhaßt, weil ihre Art zu sprechen in mir häßliche Farben weckt; ich sage dann bei mir; dieser schrecklich gelbe Mensch! [...]. Besonders meine Erinnerungen sind immer optisch: nennt man mir Orte, Leute oder Bücher, so taucht zuerst eine Farbe auf; [...]. [...]; wenn ich mich mit einer Nadel steche, blitzt es vor mir himmelblau auf. So werden alle Stimmungen mir zu Farben und ich habe gelbe, braune oder auch, [...], mauve Tage. Dafür bin ich oft getadelt und verspottet worden. So habe ich ein Recht, mich zu freuen, wenn es die Gelehrten jetzt bestätigen.“ Bahr, Hermann (2008), S. 54. 24 So wurden z.B. bei E.T.A.Hoffmann Äußerungen aufgespürt, die Schilderungen von Synästhetikern ähnelten: „Nicht sowohl im Traume als im Zustande des Delirirens, der dem Einschlafen vorhergeht, vorzüglich wenn ich viel Musik gehört habe, finde ich eine Uebereinkunft der Farben, Töne und Düfte. Es kommt mir vor, als wenn alle auf die gleiche geheimnisvolle Weise durch den Lichtstrahl erzeugt würden und dann sich zu einem wundervollen Concerte vereinigen müßten.“ Oder: „Auch hatte ich gerade ein Kleid an, dessen Farbe in Cis-moll geht, weshalb ich zu einiger Beruhigung der Zuschauer einen Kragen aus E-dur-Farbe darauf setzen lasse.“ Hoffmann zit. nach Bahr, Hermann (2008), S. 53.
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dem Begriff der Synästhesie belegt.25 Die Berücksichtigung dieser nachträglichen Herstellung von Traditionslinien im Rahmen der verschiedenen Theoretisierungsversuche um 1900 ist von entscheidender Bedeutung für die Formierung des Synästhetischen, das dergestalt als Projektionsfläche für verschiedene kulturelle Diskurse diente und diese wiederum erstmals miteinander verband. So wurden Künstler sowohl für eine Pathologisierung der Synästhesie als auch für deren Entpathologisierung instrumentalisiert, ein Widerspruch, der sich erst unter Berücksichtigung verschiedener Deutungs- und Bewertungslinien des Synästhetischen und seiner jeweiligen Fundierung in der Kulturgeschichte auflöst. Vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie von Darwin beispielsweise, die Entwicklung als Prozess zunehmender Differenzierung beschreibt, erschien eine Vermischung der Sinne als Zeichen der Degeneration. In dieser Dimension wurde die künstlerische Beschwörung der Synästhesien mit Geisteskrankheit und Wahnsinn verbunden. Im Verständnis des Synästhetischen als Ausdruck erhöhter Sensibilität und Offenbarung verborgener Korrespondenzen zwischen den Dingen im Sinne mystischer und alchemistischer Weltvorstellungen hingegen wurden die Dichter und Denker zu Vorboten und Propheten unentdeckter, in der menschlichen Psyche schlummernder Fähigkeiten. Insofern griffen der künstlerische und wissenschaftliche Diskurs bei der Ausformulierung des Synästhetischen direkt ineinander und sind nur schwerlich voneinander zu trennen. So äußerte schon Hermann Bahr seine Begeisterung über den 1887 im Progrès Médical erschienenen Artikel Audition Colorée des Arztes J. Baratoux, „weil ein Mediciner da bestätigte, was man den Poeten nicht glauben wollte“26. Rekurrierten die Künstler der Moderne im Sinne einer „Primitivierung der Wahrnehmung“27 auf eine mythische und vorsprachliche Ganzheit von Körper und Geist, eine Einheit der Sinne und der Menschen, wie sie sie im Bild antiker und primitiver Kulturen entwarfen, so entwickelten sie im Verbund mit der physiologisch-psychologischen Erforschung der Synästhesie eine völlig neue Produktionsund Rezeptionsästhetik, die in einer Erneuerung der Kultur und der Gemeinschaft unter neuen medialen und industriellen Bedingungen gipfelte. Das Synästhetische avancierte zum künstlerischen Prinzip einer über den Körper und die Sinne wirken25 So greifen mystische Theorien der Synästhesie auf Schöpfungsmythen zurück, während das Heranziehen von z.B. Newtons Parallelisierungsversuchen von Licht/Farbe und Ton physikalische Paradigmen aktualisiert. 26 Und weiter: „Gerade damals hatte nämlich Rhené Ghil in seinem Traite du Verbe behauptet, jeder Vocal habe eine Farbe, […]. Das hörte sich wohl seltsam genug an, wenn auch die Kenner sich erinnern mochten, daß schon Baudelaire sang: ‚O métamorphose mystique; De tous mes sens fondus en un! Son haleine fait la musique, Comme sa voix fait le parfum —‘ und aus E.T.A. Hoffmann citieren konnten [...].“ Bahr, Hermann (2008), S. 53. 27 Baxmann (2000), S. 140.
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den physiologischen Ästhetik, die sich über mediale Verstärkungs- und Überwältigungseffekte direkt in die Körper einschrieb.28 Zum Referenzpunkt synästhetischer Experimente wurden v.a. das Theater und der Tanz, denen sich Künstler aller Gattungen im Rahmen einer Neubestimmung ihrer Mittel zuwandten. Boten beide mit einem präsenten Körper auf der Bühne die Möglichkeit, alle Künste zu integrieren, so lag die besondere Attraktivität tänzerisch-theatraler Formen in ihren mythisch-kultischen Wurzeln. Fungierte Wagners Idee des Gesamtkunstwerks als Folie für eine synästhetische Verbindung der Künste als Verknüpfung der Sinne, so wurden Theater und Tanz in Konfrontation mit dem Synästhetischen selbst umgeformt und entdeckten ihre spezifische Materialität und Medialität. Befreit aus der Bindung an eine literarisch-dramatische Vorlage, einem Bildungsauftrag und dem Zwang einer naturalistisch-illusionistischen Darstellung wurden Theater und Tanz zu einem Wahrnehmungslabor der Moderne. Theaterreformer wie Adolphe Appia, Emile Jaques-Dalcroze oder Edward Gordon Craig – selbst ursprünglich Musiker und Maler – die Tänzerin Loïe Fuller, abstrakte Maler wie Wassily Kandinsky, Musiker wie Alexander Skrjabin und Arnold Schönberg oder die futuristischen Künstler erprobten auf der Bühne Transformationen und Übersetzungsmechanismen zwischen Visuellem und Akustischem und veränderten die spezifische Verfasstheit des Theaters und des Tanzes grundlegend. Die Fokussierung auf das Theater als erstem Ort synästhetischer Experimente impliziert dabei aber nicht nur, dass sich Künstler verschiedenster Gattungen dem Theater zuwandten, sondern soll v.a. deutlich machen, dass Theater und Tanz selbst erst durch den Einfluss des Synästhetischen neu formuliert wurden, was in den Beschreibungen einer Theater- und Tanzreform um 1900 bislang weitestgehend unberücksichtigt bleibt. In der Abwendung von mimetischen Prinzipien und einer auf Sprache basierenden Kommunikation verkörperten die Synästhesien einen direkten Wirkungsmechanismus, der im Sinne einer universellen Sprache stilisiert werden konnte und über eine Erregung und Vibration der Nerven gesamtsinnliches Erleben und mythisch anmutende, ekstatische Gemeinschaftserlebnisse produzierte. Gegen traditionelle Gesten und die klassische Bewegungssprache des Balletts setzten Theater und Tanz die Auffassung eines ,natürlichen‘ Körpers und referierten auf Prinzipien der menschlichen Physiologie, zu denen auch das Synästhetische gehörte. Die Ideale eines ,natürlichen‘ Körpers und einer ,ursprünglichen‘ Einheit der Sinne müssen dabei als konstruierte Oppositionen zur Vorstellung des Körpers als Maschine gedacht werden, standen aber letztlich genauso im Zeichen der Energieverwaltung und Leistung mit dem Ziel der besseren Anpassung an die modernen Lebensbedingungen. Exemplarisch lässt sich am Synästhetischen, das elementarer Teil dieser Setzung war, nachvollziehen, wie der Körper und die Sinne im Diskursiven renaturalisert wurden.29 So löste sich der Wider28 Vgl. Weibel (1988). 29 Vgl. Baxmann (2000), S. 116f. Vgl. auch Cowan/Sicks (2005), S. 15f.
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spruch von Fortschritt und Rückschritt, Genie und Wahnsinn in einer Naturalisierung synästhetischen Empfindens auf, die zugleich den konstruktiv-synthetischen Akt seiner Generierung verbarg, der den Synästhesiediskurs bis heute durchzieht. Der Künstler selbst avancierte dabei zum Erneuerer der Kultur, zum Magier und Konstrukteur, der vermag, mittels Imagination und Erzeugung synästhetischer Effekte ganzheitliches Erleben, Einheit und Gemeinschaft zu stiften. So markierte das synästhetische Gesamtkunstwerk auch die Entwicklung vom Dramatiker zum modernen Regisseur, der als Visionär das Bühnenwerk aus sich heraus schafft. Aus dieser Konstellation erklärt sich einmal mehr die Affinität des Synästhetischen zu artifiziellen und medialen Welten, die es zugleich als Modell künstlerischer Entwürfe der Moderne qualifizierten. Als neues Wahrnehmungsdispositiv und Element einer Wahrnehmungskunst, die in der umfangreichen Erweiterung der sicht- und wahrnehmbaren Welt wurzelte und zugleich in synthetische Ganzheitsutopien eingebettet werden konnte, verband das Synästhetische um 1900 wissenschaftliche Theorien, Perzeptionsstrategien und künstlerische Praktiken, die bis heute zu einer Verwirrung um den Begriff, aber auch zu seiner Anschlussfähigkeit an verschiedene Diskurse beitragen. Die Entdeckung des Synästhetischen in der Moderne war eine Schnittstelle zwischen dem Aufbrechen überkommener Wahrnehmungsmuster, der Reaktivierung verborgener leiblich-sinnlicher Wissensbestände und der Herausbildung technisch-medial basierter Kommunikationsformen, die sich gegenseitig bedingten.30 Sowohl mystifizierende Einheitsutopien als auch neue technische Errungenschaften, die im Begriffsfeld von Vibrationen, Energien, Strahlen und Strömen zusammengingen, speisten das Synästhetische und verbanden sich darin. Aus diesem Setting gingen verschiedene Theorien und Konzepte des Synästhetischen hervor, die im Folgenden anhand der Schriften und Debatten um das Phänomen in dieser Zeit herausgearbeitet und analysiert werden sollen. Daraus lassen sich wiederum Rückschlüsse auf die Funktionen des Synästhetischen im kulturellen Diskurs ableiten, die sich in den Kontext einer Umstrukturierung der Sinnes-, Körper- und Wissenskultur in der Moderne einfügen und den Synästhesiediskurs bis heute prägen. Die Ausformulierung des Synästhetischen als neues Wahrnehmungsmuster der Moderne zeigt sich in einem Beschreibungs- und Definitionsprozess, in dem das zunächst als pathologisch beschriebene Phänomen nicht nur zunehmend normalisiert, sondern darüber hinaus als besondere Fähigkeit glorifiziert wurde.
30 „Die Synästhesien bildeten ein entscheidendes Element einer schon bei Wagner angelegten physiologischen Ästhetik. Sie waren ein Faszinosum der künstlerischen wie wissenschaftlichen Diskussion der Moderne, die sich um neue Wahrnehmungs- und Kommunikationsstile drehte. Dabei verbanden sich ästhetische und kulturanthropologische mit technologischen und sozialen Argumentationen.“ Baxmann (2000), S. 139.
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II.1 G EISTESKRANKE , P RIMITIVE UND K ÜNSTLER . P ATHOLOGIE DER S YNÄSTHESIE Die ersten in der medizinischen Literatur des 19. Jahrhunderts auftauchenden Fälle von Synästhesie erzeugten nicht nur große Verwunderung, sondern widersprachen v.a. gängigen Wahrnehmungstheorien, so dass sie zunächst als pathologische Erscheinung eingeordnet wurden, deren Ursachen rätselhaft schienen. Dabei folgte die Einstufung als Krankheit und Abnormität den Paradigmen und Gesetzen einer normativ ausgerichteten Physiologie, die jedoch durch das Synästhetische und seine Erforschung ausgehebelt wurden. Dieses Scheitern pathologischer und physiologischer Erklärungsversuche eröffnete in der Folge zunehmend alternative Deutungsund Interpretationsräume, in denen das Synästhetische auf der Suche nach einer neuen Einheitserfahrung im Rahmen einer Kulturanthropologie der Moderne positiv umgedeutet wurde. Bereits die erste umfängliche Beschreibung des Phänomens in der Dissertation Historiae naturalis duorum teucaethiopum particilue duae des Physiologen Georg Sachs aus dem Jahr 1812, in der er neben seinem Albinismus eigene synästhetische Erfahrungen beschrieb und dadurch einen Zusammenhang zwischen beiden stiftete, verlieh diesen außergewöhnlichen Wahrnehmungen einen pathologischen Status.31 Fielen v.a. die visuellen Erscheinungen auf, die keinem optischen Reiz zugeordnet werden konnten, so wurde zunächst eine Störung des Sehens, verursacht entweder durch Defekte am Sinnesorgan selbst oder an den Nervenbahnen, vermutet und das Phänomen in den Bereich der Augenheilkunde verwiesen. So diagnostizierte der französische Augenarzt Charles-Auguste Édouard Cornaz in dem Artikel De l’hyperchromatopsie von 1851 mit Verweis auf Sachs eine „anomalie de la vision“ in Form einer Überempfindlichkeit des Farbensinns und als Pendant zur Farbenblindheit.32 Möglicherweise, so spekulierte Cornaz zudem,
31 So beschrieb Sachs: „There is much which either never comes before the eyes, or which cannot be reckoned with usual sight, that either does not belong to the sense of vision, or which is not perceptible to the senses, which, […], inspires dark ideas of different colors, so intimate and recurring, that cannot be conceived of, or only scarcely and with difficulty, without a certain attention. I cannot express it better than to say that a colored idea apappears […]. Particularly those things which form a simple series; e.g., numbers, the days of the week, the time periods of history and of human life, the letters of the alphabet, intervals of the musical scale, and other such similar things, adopt those colors.“ Sachs zit. nach Jewanski/Day/Ward (2009), S. 297. [Herv. i.O.] 32 „Cette abnormité me paraît opposée à la chromatodysopsie; ce serait en quelque sorte une hypéresthésie du sens des couleurs, et je proposerai de lui donner le nom d’hyperchromatopsie (perception de trop de couleurs). […] Je définerai l’hyperchromatopsie comme étant cette anomalie dans la vision, qui rattache des idées de couleurs à un grand
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sei dieser Zustand bei der Geburt immer vorhanden und werde erst durch Zunahme der Verstandesleistung nach und nach minimiert.33 Stimmen diese frühen Beschreibungen des Phänomens weitestgehend mit aktuellen überein,34 so lenkt die Konstanz der Darstellung der phänomenalen Erscheinung die Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen historischen Interpretationen und Theoretisierungen, die sich nur unter Berücksichtigung außerhalb des Phänomens selbst liegender Einflüsse erklären lassen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Pathologisierung der Synästhesie als eine Deutung, die durch bestimmte Setzungen und Vorannahmen bedingt ist, die sich verfolgen und identifizieren lassen. Nahm Cornaz als Ursachen für das Phänomen noch Veränderungen am optischen Nerv oder am Auge ins Visier, so konstatierte der Arzt Perroud 1863 in De l’hyperchromatopsie, dass es keinerlei Anhaltspunkte für Verletzungen am Auge und seinen Anhängen gäbe.35 Vielmehr müsse von einer Illusion oder Halluzination im Sinne einer Wahrnehmungsstörung oder verminderten intellektuellen Fähigkeiten ausgegangen werden.36 Damit wandelte sich das Verständnis des Synästhetischen hin zu einer Anomalie im Gehirn und in den Nervenprozessen und es wurde dem Bereich der Nervenheilkunde und Psychiatrie zugeordnet.37 Als erster formulierte Dr. Ernest Chabalier in dem Artikel De la Pseudochromesthésie 1864 im Journal de Médecine de Lyon das Phänomen deutlich als eine „curieuse perversion“ und eine „fausse perception intellectuelle de la couleur“38, die im Zusammenhang mit einer leichten Ideenkonfusion stehe.39 Er beschrieb den Fall eines befreundeten Arztes nombre de classes d’objets, qui n’offèrent aucun rapport avec celles-ci pour un œil dont la vision est saine. Ces objets sont spécialement ceux qui forment des séries, et très particulierement les lettres de l’alphabét.“ Cornaz (1851), S. 3f. [Herv. i.O.] 33 „Il est possible qu’avec l’âge, le raisonnement diminue peu à peu la vivacité de ces perceptions colorées; toutefois, rappelons-nous qu’on pourrait, a priori, se faire une idée du même genre au sujet du Daltonisme, idée dont l’expérience nous montre toute la fausseté.“ Ebd., S. 8. 34 Insbesondere die Vermutungen, dass synästhetische Farben vorzugsweise an Objekte angeheftet werden, die Serien bilden, wie Zahlen, Wochentage oder Buchstaben, sowie ein synästhetischer Zustand der Sinneswahrnehmung im Säuglingsalter werden seit den 1980er Jahren z.T. als neue Erkenntnisse verkauft, wie z.B. in der Neonatal Synaesthesia Hypothesis von Daphne Maurer aus dem Jahr 1988. Vgl. Maurer (1997). 35 Vgl. Perroud (1863), S. 39. 36 Vgl. ebd., S. 41. 37 „L’hyperchromatopsie est donc une sensation anormale qui n’a pas sa raison d’être dans un défaut ou dans un vice de l’impression ou de l’acte périphérique ; mais dans une altération de la perception ou de l’acte central.“ Ebd., S. 40. 38 Chabalier (1864), S. 93. 39 Vgl. ebd., S. 92.
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mit ansonsten physischer Gesundheit und guten intellektuellen Fähigkeiten, der seit seiner Kindheit Farben bei Vokalen, Zahlen, Wochentagen, Monaten oder Eigennamen sah und an Halluzinationen und Illusionen litt.40 Als Ursache identifizierte Chabalier die anormalen Bedingungen, unter denen sein Freund aufgewachsen sei, denn er verbrachte die Sommer auf dem Land und schuf sich aus Beobachtungen auf dem Feld und der Leute im Ort fantastische Kreationen.41 Verankerte Chabalier, wie bereits Cornaz, die synästhetischen Erscheinungen in der Kindheit, so deutete er sie zugleich als unentwickelte Verstandestätigkeit, die durch intellektuell wenig anspruchsvolle Umgebung, für die er das Ländliche synonym setzte, der Entwicklung einer ungezügelten Vorstellungskraft und Imaginationsfähigkeit Vorschub leistete. Die Pseudochromästhesien seien demnach nichts anderes als Kindheitserinnerungen in Form einer mit dem Verstand kompatiblen Illusion.42 Auf physiologischer Ebene vermutete Chabalier nervöse Störungen der Empfindsamkeit und der Wahrnehmung in Form von Verfallserscheinungen der Retina, der optischen Nerven oder Nervenzentren, die wiederum durch künstliches Licht und die Lebensweise verursacht sein könnten: „A la lumière du jour, l’homme règne avec toute la force de sa raison, sa personnalité domine et réagit complètement, mais sa force, son individualité froide et égoïste s’affaisse quand l’incitation du jour tombe ; sous l’influence de la lumière artificielle, son imagination est en pleine activité, sa sentimentalité se développe, il devient généralement plus expansif, parce qu’il est moins fort.“43
Das künstliche Licht, das den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus störe, mindere demnach die Verstandesleistung und forciere die Imagination, die die synästhetischen Erscheinungen unterstütze. Klassifizierte Chabalier selbst die Pseudochromästhesien nicht generell als Krankheit,44 so stellte er wesentliche Elemente für eine 40 Vgl. ebd., S. 94. 41 Vgl. ebd., S. 96. 42 Vgl. ebd., S. 100. So glaubte Chabalier auch, dass die Zahl der Pseudochromästheten zunehmen werde, da es seit einigen Jahren üblich sei, die Buchstaben mit Hilfe von Farben zu lernen: „Depuis quelques années il est une méthode d’enseignement par laquelle on apprend à lire aux petits enfants en matérialisant chaque lettre par une coloration particulière. […] ce genre d’instruction produira, j’en suis convaincu, de nombreux cas de pseudochromesthésie.“ Ebd., S. 102. Dieser Einfluss farbiger Alphabetbücher zieht sich als These bis heute durch die Geschichte der Synästhesieforschung. Erst 2005 wurde erneut eine Studie dazu durchgeführt. Vgl. Rich/Bradshaw/Mattingley (2005). 43 Chabalier (1864), S. 98f. 44 „Aussi quoiqu’une perversion semblable à la pseudochromesthésie ne dépende pas d’une lésion matérielle, mais bien d’un travail cérébral, elle n’est pourtant pas tributaire de la
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spätere pathologische Deutung der als eine Form von Geisteskrankheit bereit. Mit dem Entwurf einer Erscheinung, bei der die Einschränkung eines rationalen, verstandesmäßigen Denkens eine überbordende, unkalkulierbare Imagination freisetze, die durch den Einfluss moderner städtischer Lebensbedingungen unterstützt werde, brachte er das Synästhetische zugleich in Kontakt zu neuen künstlerischen Strömungen des Symbolismus, der Neoromantik und Dekadenz, die gegen den Verfall alter Werte und Normen neue künstliche und fantastische Welten setzten.45 So beschrieb Théophile Gautier in Der Club der Haschischesser bereits 1843 in romantischer Tradition eine Erschließung und Erweiterung des Bewusstseins mittels einer durch den Konsum von Haschisch hervorgerufenen Vermischung der Sinne, die Ähnlichkeiten mit den synästhetischen Erscheinungen aufwies und von den Medizinern in diesem Zusammenhang aufgegriffen wurde.46 Als Stilmittel und künstlerisches Prinzip diente das Synästhetische in Symbolismus, Neoromantik und Dekadenz der Etablierung einer autonomen künstlerischen Sphäre und der Betonung ihres artifiziellen Charakters gegen die realistische Abbildung der Wirklichkeit.47 Gerade das, was den Medizinern an dem Phänomen ,unnatürlich‘, vom Normalen abweichend und pathologisch erschien, machte seinen Reiz für die Künstler aus. So wurde das Synästhetische v.a. durch das 1883 im französischen Literaturmagazin Lutèce erschienene Gedicht Voyelles von Arthur Rimbaud, in dem er Synästhesien zu einem künstlerischen Mittel der Her-
folie, mais de ces mille transformations intellectuelles que la lumière fait subir à notre cerveau.“ Ebd., S. 99. 45 Vgl. Asendorf (1989), S. 79. 46 So zitierte der Arzt Jean Clavière in L’audition colorée von 1898 Gautier: „Mon ouïe s’était prodigieusement développée ; j’entendais le bruit des couleurs. Des sons verts, rouges, bleus, jaunes, m’arrivaient par ondes parfaitement distinctes. Un verre renversé, un craquement de fauteuil, un mot prononcé tout bas, vibraient et retentissaient en moi comme des roulements de tonnerre. Chaque objet effleuré rendait une note d’harmonica ou des harpe éolienne, […].“ Gautier zit. nach Clavière (1898), S. 166. Auch Suarez de Mendoza verwies in seiner Darstellung des Farbenhörens auf Gautier. Vgl. Suarez de Mendoza (1890), S. 17. 47 So formulierte Hermann Bahr 1896 über die ,Décadence‘: „Es ist ihre Natur, unnatürlich zu sein. Sie können nicht anders. […] Barbaren, die nicht an der Kette einer alten Cultur geboren werden, nehmen die Welt, wie sie ist, mit den Sinnen in die unbefangene Seele, die sie aus sich ordnen, deuten, [...]: die Welt wird ihnen, [...], von selber Kunst. […] Sie wachsen, unselige Spätlinge, nicht mehr in der wirklichen Welt der Sinne, sondern in einer künstlichen von geborgten Träumen auf, dem Erbe von einst. [...] Das Leben fliehen, durch Laune, Wahn und Traum verdrängen, in sich vergessen – das ist der Sinn dieser Décadence.“ Bahr, Hermann (2008), S. 14.
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stellung einer Atmosphäre von Magie, Mystik und Traum transformierte, zum populären Thema in Intellektuellen- und Künstlerkreisen.48 Abbildung 1: Arthur Rimbaud „LesVoyelles“, Karikatur von Manuel Luque, aus „Les Hommes d'aujourd'hui“
©Mary Evans Picture Libary
Die Stilisierung des Synästhetischen als Element von Rausch, Traum und anderen künstlich geschaffenen Welten im Künstlerischen hatte jedoch wiederum Auswirkungen auf die medizinische Beurteilung des Phänomens als Regressions- und Verfallserscheinung. So machte der französische Arzt Jean Clavière die neuen künstlerischen Strömungen für die Abwertung des Farbenhörens verantwortlich: 48 Vgl. Dann (1998), S. 23.
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„Ce qui a fait à l’audition colorée une si mauvaise réputation, c’est que ses manifestations ont été posées comme principes fondamentaux de la régéneration de l’art par des littérateurs, des poètes, des artistes suffisament connus sous les noms de décadents, de symbolistes, d’evoluto-instrumentistes, etc., et que l’on a qualifiés soit des dévoyés de l’art et des névrosés, soit tout simplement des fumistes.“49
Wurde Rimbaud nicht zuletzt auf Grund von Voyelles bereits 1884 von Charles Féré in La famille neuropathique und 1889 von Ferdinand Brunetière in Symbolistes et décadents zum ,klassischen Degenerierten‘ erklärt,50 so beförderte das 1892 erschienene Buch Entartung des Arztes und Literaturkritikers Max Nordau, das in der Folgezeit populär wurde und „über annähernd 1000 Seiten weniger eine Kritik der modernen Kunst als vielmehr eine Aufforderung zu deren Vernichtung“51 darstellte, eine Pathologisierung der Synästhesie.52 Als Arzt und Richter über Normales und Anormales diagnostizierte Nordau darin den Verfall der Kultur seiner Zeit, die er in den Kategorien von krank und gesund beschrieb.53 Die Neigung zur Verwechslung von Gehör- und Gesichtserscheinung deklarierte er dabei als dekadente Zeiterscheinung, abnorme Wahrnehmung und Zeichen von Degeneration: „It is an evidence of diseased and debilitated brain activity, if consciousness relinquishes the advantages of the differentiated perception of phenomena, and carelessly confounds the reports conveyed by the particular senses. It is a retrogression to the very beginning of organic development. It is a descent from the height of human perfection to the low level of the mollusc. To raise the combination, transposition and confusion of the perceptions of sound and sight to the rank of a principle of art, to see the futurity in this principle, is to designate as progress the return from the consciousness of man to that of the oyster.“54
Die Synästhesien als Vermischung der Sinne, wie sie von den symbolistischen und dekadenten Autoren propagiert wurden, widersprachen nach Nordau dem biologisch-evolutionstheoretischen Prinzip der Höherentwicklung in Form zunehmender Differenzierung. Unter dieser Prämisse interpretierte Nordau das Synästhetische als 49 Clavière (1898), S. 164. [Herv. i.O.] 50 Vgl. Dann (1998), S. 28. 51 Asendorf (1989), S. 80. 52 Nordau war in Paris ein Schüler des Neurologen und Physiologen Jean-Martin Charcot, der v.a. durch seine Studien zur Hysterie bekannt wurde. Dieser betreute 1882 auch Nordaus Doktorarbeit De la castration de la femme. Zur Promotionskommission der medizinischen Fakultät gehörte zum damaligen Zeitpunkt auch Alfred Vulpian, der Namensgeber der Synästhesie. 53 Vgl. Asendorf (1989), S. 81. 54 Nordau zit. nach Dann (1998), S. 33.
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Repräsentation einer unzureichenden und ,primitiven‘ Sinnesdifferenzierung und Rückschritt in der menschlichen Entwicklung. Die Übertragung des Evolutionsgedankens auf die sozial-gesellschaftliche Entwicklung begründete im 19. Jahrhundert zugleich die Annahme einer Überlegenheit der zivilisierten Europäer gegenüber unzivilisierten Naturvölkern, die als ,Wilde‘ auf niedrigere Entwicklungsstufen gestellt wurden. So identifizierte Nordau in Übereinstimmung mit ethnologischen und anthropologischen Erkenntnissen der Zeit diese undifferenzierte Form der Sinneswahrnehmung vermehrt bei ,Urvölkern‘ und ,Primitiven‘ sowie bei Geisteskranken und Psychopathen.55 Entgegen einer Verherrlichung und Mystifizierung des Synästhetischen als andere, bewusstseinserweiternde Form sinnlicher Wahrnehmung und Zeichen von Sensibilität und Genialität, wie sie von Künstlern, aber zeitgleich auch von Wissenschaftlern propagiert wurde,56 erklärte Nordau nicht nur Synästhetiker als verrückt und entartet, sondern mit ihnen zugleich auch alle neu entstandenen Kunstauffassungen, die das Synästhetische als Stilmittel instrumentalisierten.57 Enthielt Entartung eine Widmung an den Psychiater und Kriminologen Cesare Lombroso, der ausgehend von physiologischen Daten entartete Menschen- und Verbrechertypen klassifizierte,58 so fügte Nordau diesen nicht nur das Synästhetische als Merkmal, sondern zugleich eine ganze Reihe von Dichtern und Denkern hinzu.59 55 Hatte bereits Cornaz 1851 ein frühkindliches Entwicklungsstadium angenommen, so teilten andere diese Meinung. Der Lehrer August Lemaître z.B. stellte Synästhesien häufiger bei jüngeren Kindern fest und schloss daraus, dass sie in der Entwicklung durch komplexere intellektuelle Prozesse ersetzt würde: „[...] photisms are as frequent among savages as they are among children, corresponding to an inferior state of either the race or the individual personality, and are condemned to disappear with time or with age.“ Lemaître (1901), S. 152. 56 So z.B. von Jules Millet 1892: „Poets of genius have divulged the sensations of synaesthesia and have consecrated them with the authority of their names.“ Millet zit. nach Dann (1998), S. 33. 57 „[…] in spite of their manifest craziness, well-known critics are bent on discovering in them ‚the future’, ‚fresh nerve stimulations’, and beauties of mysterious kind, and to puff them by their chatter to gaping simpletons as revelations of genius.“ Nordau zit. nach Dann (1998), S. 33. 58 In L’uomo delinquente von 1876 verdächtigte Lombroso grundsätzlich alle Individuen, die bestimmte physiologische Merkmale, wie eine spezifische Schädelform, abstehende Ohren oder schiefgestellte Augen aufwiesen. Kriminelle zeigten, ihm zufolge, atavistische Überreste früherer evolutionärer Entwicklungsstadien. Daraus kreierte Lombroso physiologische Typen des geborenen Verbrechers, des Wilden, Entarteten, Degenerierten, der Prostituierten, des Anarchisten und Wahnsinnigen. Vgl. Asendorf (1989), S. 28. 59 U.a. pathologisierte Nordau Nietzsche, Wagner und Tolstoi als dekadente, ,entartete Kunst‘, was später den Nationalsozialisten Stichwörter lieferte. Dabei wurden Nordaus
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Dabei übertrug Nordau nicht nur physiologische Kategorien auf den Geisteszustand, sondern schloss direkt von den Werken und Schriften der Autoren auf deren Wahrnehmungswelten.60 Auf diese Weise wurde das Synästhetische zu einem greifbaren Charakteristikum der Degeneration in der Psychopathologie und Synästhetiker wie Künstler wurden auf eine Stufe gestellt mit ,Primitiven‘, ,Wilden‘, Geisteskranken, Irren und Verbrechern. So riet z.B. der Neurologe Moritz Benedikt aus Wien dem Arzt und Synästhetiker Friedrich A. Nußbaumer, der 1873 in Über subjektive Farbempfindungen, die durch objektive Gehörsempfindungen erzeugt werden seine eigenen Synästhesien beschrieb, dringend davon ab, sich weiter mit dem Phänomen zu beschäftigen, da er sonst einer Geisteskrankheit verfallen werde.61 Und noch 1912 berichtete der rumänische Neuropathologe Gheorghe Marinescu von einem jungen Mann mit psychischen Störungen und Farbenhören, in dessen Familie mütterlicherseits Psychosen, Suizid und Epilepsie zu finden waren.62 Das Synästhetische dabei mit anderen nervösen Störungen und psychiatrischen Erscheinungen der Zeit in Verbindung zu bringen, war ein weit verbreiteter und im methodischen Denken der Zeit typischer Erklärungsansatz.63 Insbesondere die Hysterie fiel als mit der Synästhesie verwandte Erscheinung ins Blickfeld.64 Am Ende des Bücher selbst im Nationalsozialismus verbrannt, weil er als Jude eine bedeutende Persönlichkeit der Zionismusbewegung war. 60 „Nordaus Verfahren ist [...] folgendes: bestimmt Lombroso Asymmetrie von Gesichtszügen als Kennzeichen von ‚Entartung‘ von ‚Verbrechern‘, so überträgt er das auf den Künstler und erweitert es um die Vorstellung geistiger Asymmetrie. [...] Der Schluß aus dieser Denkbewegung lautet, [...]: normal ist, was symmetrisch ist. Da es nun aber doch vielleicht zu mühsam wäre, Kunst nach diesem Kriterium einzuteilen, wird Symmetrie zur Metapher gemacht für inneres Gleichgewicht, Sittlichkeit und Gesetz, und das Fehlen des Sinnes dafür zum Kennzeichen der ‚Entartung‘.“ Asendorf (1989), S. 81. 61 Vgl. Argelander (1927), S. 3. 62 Vgl. Marinescu (1912), S. 398. Marinescu studierte u.a. bei Jean-Martin Charcot in Paris und arbeitete bei mit ihm am Hôpital de la Salpêtrière. 63 Der Sexualforscher Havelock Ellis, der ausführlich mit Freud korrespondierte und einige Begriffe zu dessen Psychoanalyse beisteuerte, verglich die Synästhesie mit Homosexualität und erklärte die Verbindungen zwischen Farbe und Klang in Parallele zu einer alogischen Geschlechtsbindung. Vgl. Dann (1998), S. 34. 64 Charles Féré klassifizierte in Dégénérescence et criminalité von 1888 die Synästhesie als eine Form und ein Symptom der Hysterie. Vgl. Suarez de Mendoza (1890), S. 30. Auch der französische Psychologe und Ethnologe Gaëtan Gatian de Clérambault, später ein Lehrer von Jaques Lacan, zog eine Verbindung zwischen Synästhesie und Hysterie: „The analogy between synesthesia and hysteria is, of course, natural, since both hinge on metaphor. In the former as artistic experience, sound can equal color, odor can equal touch, and so forth; in the latter, the ‚wandering womb’ makes strangulations of the throat or pa-
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19. Jahrhunderts bündelten sich in der Hysterie und ihrer Erforschung durch den Physiologen Jean Martin Charcot in der durch ihn berühmt gewordenen Nervenklinik Hôpital de la Salpêtrière wesentliche Diskurse der Zeit, die auch für Konzepte des Synästhetischen bedeutsam waren. Stellte Charcot mit Hilfe des Mediums der Fotografie, die er als wissenschaftliches Instrumentarium zur Klassifikation und Dokumentation eines hysterischen Anfalls nutzte, das Krankheitsbild erst her,65 so fokussierte er zugleich den weiblichen Körper als Ort sich unkontrolliert manifestierender Symptome. Mittels der Technik der Fotografie schienen Emanationen des Unbewussten der wissenschaftlichen Erforschung zugänglich zu werden.66 War die Grenze zwischen theatraler Inszenierung und wissenschaftlicher Dokumentation insbesondere in Charcots berühmten ,Dienstagsvorlesungen‘ fließend, in denen er gewissermaßen ,auf Knopfdruck‘ die Symptome seiner hypnotisierten Patientinnen öffentlich präsentierte, so faszinierte er nicht nur seine wissenschaftlichen Kollegen, sondern erlangte große Bekanntheit in Künstlerkreisen, die in den hypnotischen Verrenkungen der Hysterikerinnen archaische Kräfte am Werk sahen. In Kombination von Medientechnik, Wissenschaft und Kunst, die sich in dem Versuch trafen, unbewusste Dimensionen der Psyche offenzulegen, beschreib- und steuerbar zu machen, konstituierte sich die Hysterie als Modekrankheit, die im Rahmen eines Normalisierungsdiskurses den Zweck erfüllte, ungehemmte und ungeregelte Zustände des Seelenlebens auszugrenzen.67 Ähnlich lässt sich die Pathologisierung des Synästhetischen als Konstruktion lesen, die vor dem Hintergrund kollektiver Ängste vor dem Wilden, Unzivilisierten, Urwüchsigen und Ungezügelten ein undifferenziertes, ungeregeltes Sinnesleben jenseits einer rationalen Ordnung als ,anormal‘ einstufte. Gestützt wurde die Pathologisierung des Synästhetischen durch das physiologische Paradigma einer Trennung der Sinne in verschiedene Verarbeitungssysteme und -mechanismen, das sich als Ergebnis naturwissenschaftlich-physiologischer Forschung im 19. Jahrhundert etabliert hatte. Die Physiologie, als Lehre von den Vorgängen im lebenden Organismus im 19. Jahrhundert aus der Medizin hervorgegangen, berief sich auf eine mechanische Konzeption des Körpers als thermodynamische Maschine mit chemisch beschreibbaren Teilen, deren nach den Prinzipien der Physik koordinierte Bewegungen durch Elektrizität induziert werden.68 Im Glauben an den Fortschritt durch wissenschaftliche Naturbeherrschung in einer neuzeitlichen Wissenschaftstradition stehend, nahm insbesondere die Sinnesphysioralysis of the leg metaphors for the repressed sensation in the sexual organs.“ Clérambault zit. nach Dann (1998), S. 189. 65 Vgl. Didi-Hubermann (1997). 66 Vgl. Baxmann (2000), S. 47ff. 67 Vgl. Asendorf (1989), S. 75ff. 68 Vgl. Sarasin/Tanner (1998), S. 24.
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logie unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten eine besondere Stellung ein. Bereits im 17. Jahrhunderte entwickelte John Locke, einer der Hauptvertreter des englischen Empirismus, im Bild der tabula rasa ein auf Sinnesdaten und der Wahrnehmung basierendes Erkenntnis- und Wissensmodell.69 Die physiologische Beschaffenheit der Sinnesorgane und somit auch Faktoren wie Alter, Geschlecht, Temperament und Krankheit wurden in dieser Konzeption zu Determinanten des Denkens.70 Blinde und Gehörlose wurden bei der Frage nach den Auswirkungen fehlender Sinnesdaten auf den Verstand und deren Kompensationsmöglichkeiten zu idealen Versuchsobjekten empiristischer Hypothesen.71 In diesem Kontext berichtete Locke 1689 in dem Essay Concerning Human Understanding von einem Blinden, der die Farbe Rot mit dem Klang einer Trompete in Verbindung brachte.72 Bis heute werden Locke und dieser Blinde in eine Geschichte der Synästhesie integriert und als Beweis für die Existenz und Kenntnis des Phänomens weit vor dem 19. Jahrhundert angeführt. Dabei verdeutlichte Locke mit diesem Beispiel genau das Gegenteil, nämlich die Unmöglichkeit, eine Vorstellung von einer Sinnesqualität mittels einer andersartigen zu geben. Diese verankerte wiederum der Anatom und Zoologe Johannes Peter Müller, einer der Begründer einer disziplinären Physiologie und Lehrer von Emil du Bois-Reymond und Hermann von Helmholtz, als physiologische Trennung der Sinne mit seiner 1826 formulierten Theorie von den spezifischen Sinnesenergien. Mit dieser Annahme, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur gängigen Lehrmeinung avancierte, löste Müller die Vorstellung einer auf physikalischen Prinzipien beruhenden Wahrnehmung durch eine transformierende Aktivität des Bewusstseins ab. Die äußeren Dinge fungierten dabei lediglich
69 Seine Lehre war Ausgangspunkt der Sensualphilosophie, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Empfindsamkeit gipfelte, deren Sinnbild die zu belebende Statue wurde. Vgl. Jütte (2000), S. 143. In einer Begeisterung für Automatenmenschen und -tiere, wie z.B. den Flötenspieler von Jacques Vaucanson von 1738, materialisierte sich der Gedanke, eine Statue oder eine Maschine zu beleben, indem man ihnen Sinnesdaten ,einflößt‘. Damit wurden Voraussetzungen für die Auffassung des Körpers als Maschine geschaffen, wie ihn die Industrialisierung hervorbrachte. Vgl. Zielinski (2000), S. 24ff. 70 Vgl. Sandkühler (2002), S. 62. 71 Ein bekanntes Gedankenexperiment des Mediziners William Molyneux war z.B. die Frage, ob ein Blindgeborener, wenn er das Augenlicht erhält, den Unterschied zwischen einer Kugel und einem Würfel visuell erfassen kann. Vgl. Wanner-Meyer (1998), S. 19, Jewanski/Day/Ward (2009), S. 294. 72 „Ein wissbegieriger Blinder [...] rühmte sich eines Tages, daß er nunmehr verstände, was Scharlach bedeute. Daraufhin fragte ihn sein Freund, was denn Scharlach sei. Der Blinde erwiderte, es sei wie der Ton einer Trompete.“ Locke (1976), S. 31f.
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als Anlass einer Wahrnehmung, die jedoch erst in den Nerven entstehe.73 Die Qualität einer Wahrnehmung werde demnach nicht durch den äußeren Reiz und seine physikalischen Eigenschaften bestimmt, sondern durch die Eigenart des gereizten Sinnesorgans.74 Die Trennung und Unterscheidung der Sinne wurde durch verschiedene Nervenenergien realisiert, wobei jedes Sinnesorgan als Set aus spezifischen sensorischen Kanälen immer denselben Typ von Empfindungen – unabhängig von der Natur des Reizes – kreierte.75 Führte diese Theorie in der Verstärkung der Unterschiede zwischen kanalspezifischen Empfindungen die Trennung der Sinne direkt auf die physiologische Beschaffenheit des Körpers und seine Nervenleitungsprozesse zurück, so erklärte sie z.B. ein Farbenhören an sich für unmöglich. Umso merkwürdiger erscheint es, dass die ,Entdeckung‘ des Synästhetischen im 19. Jahrhundert genau mit der physiologischen Zementierung der separierten Sinne zusammenfiel. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass Synästhesien erst nach der theoretischen Trennung der Sinne überhaupt als ,Abweichung‘ auffallen konnten und demnach erst durch sie im wissenschaftlichen Diskurs hervorgebracht wurden. Fassen ließ sich das Synästhetische aus dieser Perspektive jedoch nur als eine phy73 „Wir mögen uns die Mahnung gelten lassen, daß Licht, Dunkel, Farbe, Ton, Wärme, Kälte, und die verschiedenen Gerüche und Geschmäcke, mit einem Worte, was Alles uns die fünf Sinne an allgemeinen Eindrücken bieten, nicht die Wahrheit der äußeren Dinge, sondern die realen Qualitäten unserer Sinne sind, [...] wodurch das Nervenmark hier nur sich selbst leuchtet, dort sich selbst riecht und schmeckt. [...] Die Wesenheit der äußeren Dinge und dessen, was wir äußeres Licht nennen, kennen wir nicht, wir kennen nur die Wesenheit unserer Sinne.“ Müller zit. nach Sandkühler (2002), S. 147. 74 „Der vermehrte Reiz des Blutes erregt in dem einen Organe spontane Lichtempfindungen, in dem anderen Brausen, in dem anderen Kitzel, Schmerz usw. [...] Die Empfindung ist also nicht die Leitung einer Qualität oder eines Zustandes der äußeren Körper zu Bewußtsein, sondern die Leitung einer Qualität, eines Zustandes unserer Nerven zu Bewußtsein, veranlaßt durch eine äußere Ursache.“ Müller zit. nach Dessoir (1892), S. 202. 75 In diesem Sinne schrieb Hermann von Helmholtz 1878 in Die Tatsachen der Wahrnehmung: „Zwischen den Sinnesempfindungen verschiedener Art kommen [...] verschiedene Grade des Unterschieds vor. Der am tiefsten eingreifende ist der Unterschied zwischen Empfindungen, die verschiedenen Sinnen angehören, [...]; ich habe mir erlaubt, diesen als Unterschied in der Modalität der Empfindung zu bezeichnen. Er ist so eingreifend, dass er jeden Übergang vom einen zum anderen, jedes Verhältnis größerer oder geringerer Ähnlichkeit ausschließt. Ob z.B. Süß dem Blau oder Rot ähnlicher sei, kann man gar nicht fragen. [...] Erregung des Sehnerven erzeugt nur Lichtempfindungen, gleichviel ob er nun von objektivem Licht, d.h. von Ätherschwingungen, getroffen werde oder von elektrischen Strömen, die man durch das Auge leitet, oder von Druck auf den Augapfel, oder von Zerrung des Nervenstammes bei schneller Bewegung des Blickes.“ Helmholtz zit. nach Clausberg (2007), S.44.
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siologische Anomalie, durch die sich die Verarbeitung der verschiedenen Sinnesreize im Gehirn in irgendeiner Art und Weise beeinflusste.76 Das korrespondierte wiederum mit psychopathologischen Darstellungen des Synästhetischen. So formulierte der Mediziner und Kunsthistoriker Max Dessoir, der ab 1906 die Zeitschrift Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft herausgab, 1892 etwas spöttisch, dass gemäß dieser Theorie bei „übers Kreuz verheilten Seh- und Hörnerven [...] wir mit dem Ohre den Blitz als Knall hören, mit den Augen den Donner als eine Reihe von Lichteindrücken hören“77 würden, was letztlich Synästhesien illustrierte. Muss die Trennung der Sinne, wie sie mit den spezifischen Sinnesenergien festgeschrieben wurde, als abstrakt-theoretisches Wahrnehmungsmodell verstanden werden, so besetzte das Synästhetische die Differenz zur alltäglichen, mehrsinnlichen Wahrnehmungserfahrung. In diesem Kontext griff die physiologische Synästhesieforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Lockes Blinden mit der scharlach klingenden Trompete auf und deutete den Fall als Kompensation eines sensorischen Mangels um. So untersuchte z.B. der Arzt Frederick Starr 1893 in Anlehnung an Lockes Anmerkungen das Farbenhören bei Blinden.78 Wurde Locke auf diese Weise in eine Geschichte der Synästhesie implementiert, die er selbst nicht kannte, so schuf der Rückgriff auf die empiristische Analyse der Wahrnehmung zugleich eine Verbindung mit der Idee des Farbenklavieres. Durch die Verknüpfung von Sinnesleistung und Verstand entstanden umfangreiche aufklärerische Programme zur Schulung und Ausbildung der Sinne, mit denen diese kulturell bearbeitet, erzogen und diszipliniert wurden.79 In diesem Kontext entwickelte der Mathematiker Bertrand Louis Castell 1725 Pläne zum Bau eines clavecin oculaire, mit dem er Gehörlosen Musik und Blinden Farben erfahrbar machen wollte.80 Diese Idee der Übersetzung von Musik in Farben und umgekehrt, die v.a. auf Hören und Sehen 76 So behauptete der Mediziner Steinbrügge 1887 in seiner akademischen Antrittsrede Über sekundäre Sinnesempfindungen in Wiesbaden, „es existiere eine Stelle im Gehirn, an welcher sämtliche Sinnesbahnen auf einen engen Raum beschränkt nebeneinander verlaufen“, und dort, an der „pons varoli“, könne es dann bei mangelhafter Isolierung der Nervenbahnen zu einem Überspringen der Erregung kommen. Steinbrügge zit. nach Argelander (1927), S. 75. 77 Dessoir (1892), S. 203. 78 „We seemed to find among the congenital blind absolutely no conception of color, and no tendency to imagine it in terms of other sensations. On the other hand we believe that those who have become blind in childhood, after learning colors, very soon come to perceive color sensations in their hearing. We examined perhaps a dozen. Of these, three were born blind, or were blind from infancy. Of the rest, at least three had color hearing to a marked degree.“ Starr (1893), S. 418. 79 Vgl. Jütte (2000), S. 176. 80 Vgl. Jewanski/Day/Ward (2009), S. 294.
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ausgerichtet waren, in Kombination mit der empiristischen Erschließung der Sinne als Erkenntnisinstrumente prägten den Synästhesiediskurs im 19. Jahrhundert nachhaltig. So bestimmten sie wesentlich die dominante Ausrichtung auf das Farbenhören in der allgemeinen Debatte, die in den frühen Schriften von Sachs oder Chabalier zunächst nicht angelegt war. Damit reproduzierte der Synästhesiediskurs die gängige Hierarchisierung der Sinne mit Sehen und Hören an der Spitze, die in der Tradition Lockes zugleich an ein erkenntnistheoretisches Konzept der Wahrnehmung gebunden war.81 Motiviert war diese Tendenz jedoch zugleich auch durch neue Kommunikations-, Medien- und Verkehrstechniken. Denn im Rahmen eines klassischen Wahrnehmungsmodells mit fünf getrennten Sinnen blieb das Synästhetische eine Abweichung, für die sich keine stichhaltige physiologische Erklärung erbringen ließ. Vielmehr etablierte sich über das Synästhetische eine Neuformulierung der Wahrnehmung im Zuge eines kulturellen Bruchs der Moderne. Fanden sich eine Reihe von Empfindungen, wie z.B. Tasten, denen kein Organ zugeordnet werden konnte, welches gemäß Müllers Theorie spezifische Sinnesenergien produzierte, da die Haut auch für Wärme und Druck empfänglich ist, so wurden darüber hinaus neue Sinne entdeckt. In den 1860er Jahren wurde vor dem Hintergrund der Erfahrungen der modernen, sich bewegenden und beschleunigenden Welt so z.B. der Gleichgewichtssinn aufgespürt, der aber auch durch visuelle Elemente beeinflussbar war. Jenseits der Einteilung in fünf Sinne wandelte sich die Vorstellung spezifischer Sinnesenergien in eine Klassifizierung der Sinne nach Empfindungsmodalitäten, wobei Müllers Theorie durch spezialisierte Empfänger in Form von Gehirnarealen am Endpunkt der Sinnesnerven ersetzt wurde.82 Konnte die Trennung der Sinne damit zunächst aufrechterhalten werden, so standen v.a. technische Neuerungen wie
81 So nahm die Erziehung des Sehsinns seit dem Ende des 18. Jahrhunderts den größten Raum ein, unterstützt durch neue Medientechniken wie der laterna magica, mit der der Physiker Christian Huygens Mitte des 18. Jahrhunderts bewegliche Bilder projizierte, dem Panoramabild und dem Diorama, während Geruchs- und Geschmacksinn von der zivilisatorischen Zurichtung des Körpers weitgehend verschont blieben. Vgl. Kamper/Wulf (1984), S. 9. 82 Der Anatom Franz Josef Gall begründete diese Lokalisierungstheorie, indem er kognitiven Fähigkeiten bestimmte, eindeutig abgrenzbare Hirnregionen zuordnete. Der französische Arzt Paul Broca bestätigte diese Annahme 1861, indem er bei der Autopsie eines Patienten mit Sprachstörung eine Hirnverletzung nachweisen und das nach ihm benannte Broca-Areal als Sprachzentrum identifizieren konnte. Korbinian Brodmann lieferte 1909 mit Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde in ihren Prinzipien dargestellt auf Grund ihres Zellbaues eine umfassende Beschreibung von 52 Gehirnarealen, die mit einigen Erweiterungen auch heute noch gültig ist.
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das Telefon als Modell Pate, mit dem z.B. Max Dessoir den Sinnesapparat aus Sinnesorgan, Nervenleitung und Sinneszentrum im Gehirn verglich: „Es läßt sich wohl denken, daß bereits in dem Sinnesapparate die nervöse Erregung in ihrer Beschaffenheit fixiert und von den Rindenelementen nur reproduziert wird, d.h. daß sich peripherisches und centrales Nervenende in ihrer Funktion ähnlich verhalten wie Sprechvorrichtung an der einen, Hörvorrichtung an der anderen telephonischen Station.“83
Die Nerven wurden zu Drähten oder Stromleitungen, die die Erregung von den Sinnesorganen als Sender zu den sensorischen Gehirnarealen als Empfänger weiterleiteten.84 Diese Übertragung neuer elektrisch-technischer Kommunikationsformen auf die Funktionsweise des Gehirns eröffnete auch neue Erklärungs- und Deutungsmöglichkeiten des Synästhetischen. So versuchte der deutsche Physiologe Paul Grützner 1888 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift die bei der Synästhesie wirksamen Mechanismen in Metaphern von Telefon- oder Telegrafenstationen zu erläutern: „Die z.B. den Hörnerv entlang gehende Erregung, [...], gelangt zwar normalerweise in diejenigen Teile des Gehirns, welche diese Erregung in bewußte Gehörempfindung umsetzen, sagen wir kurz in das Gehörzentrum. Zu gleicher Zeit aber werden auf diesem Wege von einer oder mehreren Stellen seines ganzen Verlaufs regelmäßig Nachbarstationen, und zwar sehr kräftig, mit angeläutet, und auf denselben Wegen, immer dieselben Nachbarstationen. Der Wille kann jene Nebenwege weder absperren, noch auch andere Nebenwege eröffnen.“85
Die Verbindungen, Ausstrahlungen oder Irradiationen wurden dabei im Sinne elektronischer Kommunikationstechnik als feste Verdrahtungen vorgestellt, in denen sich die Konstanz synästhetischer Zuordnungen, aber auch ihre Zwangsmäßigkeit und Unabhängigkeit vom Willen realisierte. Die Physiologie spielte diesbezüglich eine Reihe möglicher Mechanismen gemäß dem damaligen Wissenstand theoretisch-spekulativ durch.86 Bei all diesen Theorien der Miterregung und Ausstrahlung 83 Dessoir (1892), S. 203. 84 So schrieb Helmholtz in der Lehre von den Tonempfindungen: „Man hat die Nerven vielfach nicht unpassend mit Telegraphendrähten verglichen. Ein solcher Draht leitet immer nur dieselbe Art elektrischen Stromes, die bald stärker, bald schwächer oder auch entgegengesetzt gerichtet sein kann, aber sonst keine qualitativen Unterschiede zeigt.“ Helmholtz zit. nach Jütte (2000), S. 238. 85 Grützner zit. nach Mahling (1926), S. 202. 86 So vermuteten z.B. die Ärzte Pedrono, de Rochas und Lussana (1892) hinter dem Farbenhören eine physiologische Beziehung zwischen den sensoriellen Zentren der Farben und der Töne. Baratoux (1883) glaubte, dass das Zentrum für Farbensehen nicht nur durch
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von Nervenströmen stellte sich die Frage, welchen Status die synästhetische Erscheinung beanspruchte, d.h. ob sie grundsätzlich als ,echte‘ Empfindung betrachtet werden kann oder nicht. Das grundsätzliche Wesen der Empfindung und der Wahrnehmung standen jedoch in der Physiologie der Zeit generell zur Disposition. Dienten neue Medientechnologien als Modelle für die Funktionsweise menschlicher Wahrnehmungsmechanismen, so offenbarte sich mehr und mehr eine Differenz zwischen beiden, die mit dem Synästhetischen besetzt werden konnte. So erkannte z.B. Helmholtz in der Beschäftigung mit dem Sehen, für das er die fotografische Kamera zunächst als Modell nutzte, dass Wahrnehmung ein konstruktiver Akt ist, der durch Erfahrung und kognitive Prozesse beeinflusst wird.87 Deshalb konnte er mittels Kameramodell das räumliche Sehen nicht erklären. Erst in der Beschäftigung mit dem Stereoskop, das bereits vor der Fotografie 1838 von Sir Charles Wheatstone entwickelt, jedoch erst in den 1850er Jahren in Verbindung mit dieser populär wurde, erkannte er, dass die räumliche Wahrnehmung aus der Zusammenführung von zwei verschiedenen Bildern entsteht.88 Die Sinnesorgane lieferten also lediglich Zeichenmaterial, das in der Wahrnehmung gelesen und interpretiert wird. Damit fiel der Blick von den rein physiologischen, mess- und beobachtbaren hin zu den unbewussten Vorgängen im Inneren. Dieser Prozess wurde durch das 1860 von Gustav Theodor Fechner formulierte Weber-Fechnersche-Gesetz befördert, das die Stärke einer Empfindung proportional zum Logarithmus der Reizstärke und einen Schwellenwert, der den eben merklichen Unterschied, d.h. den Moment, an dem eine Empfindung bewusst wird, beschrieb. Wurden Empfindungen damit einerseits zu einer Abfolge von in ihrer Intensität wechselnden Größen, die sich quantitativ messen und berechnen ließen, so implizierte die Reizschwelle andererseits, dass es den Reiz der Retina, sondern auch durch Wahrnehmungen anderer Sinnesorgane angesprochen werden könne. Vgl. Mahling (1926), S. 200f. Dr. Epstein hielt es für möglich, dass die Erregung aus dem Gehörzentrum auf die Retina zurückwirke, d.h. eine direkte Reaktion im Auge hervorrufe. Vgl. Epstein (1896), S. 38. Eine andere Variante war die Verbindung zwischen Gehör- und Gesichtszentrum durch anastomisierende Fäden, die gewöhnlich rudimentär, bei manchen Menschen jedoch hochentwickelt seien. So sprach Urbantschitsch 1888 von einer Überleitung der Erregung des Ohres durch den Schall auf die Sehnerven mittels einer Anastomose der Nerven oder Gehirnzentren, wodurch eine Beeinflussung verschiedener Empfindungen stattfinde. Vgl. Argelander (1927), S. 76. 87 „Unsere Empfindungen sind eben Wirkungen, welche durch äussere Ursachen in unseren Organen hervorgebracht werden, und wie eine solche Wirkung sich äussert, hängt [...] ganz wesentlich von der Art des Apparates ab, auf den gewirkt wird. Insofern die Qualität unserer Empfindung uns von der Eigenthümlichkeit der äusseren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht giebt, kann sie als Zeichen derselben gelten, aber nicht als Abbild.“ Helmholtz (1884), S. 226. 88 Vgl. Stiegler (2001).
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Empfindungen gibt, die nicht zu Bewusstsein kommen, aber vorhanden und nicht Nichts sind. So verbanden sich vornehmlich physiologische Fragen mit der Dimension des Unbewussten, das die naturwissenschaftlich geprägte Physiologie herausforderte und, so Baxmann, „archaische Wahrnehmungs- und Sinnbildungsmuster“ auf den Plan rief, „die den geschichtlichen Raum- und Zeitkonventionen und damit den Denkmustern diametral entgegenstehen, die die Deutungsschemata der Alltagserfahrung moderner westlicher Kultur prägen“89. Das Synästhetische stellte unter dieser Prämisse einen Mechanismus in Aussicht, der möglicherweise bei allen Menschen unterhalb der Reizschwelle ablaufe, und fügte sich in eine Neuformulierung komplexer Wahrnehmungsprozesse in der Moderne. So argumentierte Dessoir, dass jeder physiologische Reiz nicht isoliert auf einen Sinn wirke, sondern den ganzen Organismus erschüttere und so z.B. der Blick in die Sonne ein Kribbeln in der Nase erzeuge.90 Diese Verschmelzung einer dominierenden Empfindung mit einer Begleitempfindung im Sinne eines Reflexes aus einem anderen Sinnesgebiet definierte Dessoir als physiologische Doppelempfindung oder Mitempfindung, deren psychologisches Pendant die Synästhesie als eine Form der Erinnerung sei.91 Noch deutlicher artikulierte es der angesehene Schweizer Psychiater Eugen Bleuler 1913 in seinem Artikel Zur Theorie der Sekundärempfindungen, in dem er in diesen eine allgemeine Erscheinung der Gehirnsubstanz vermutete, auf Reize mit jeweils spezifischen Sinnesqualitäten zu antworten, wobei für jedes Sinnesgebiet immer nur eine Qualität im Vordergrund stünde, während andere als Sekundärempfindungen zurücktreten oder gar nicht erst zu Bewusstsein kämen.92 „Photismen“, wie er die synästhetischen Erscheinungen nannte, seien demnach „nicht etwas, was nur einzelnen Menschen zukommt, sondern alle Menschen haben Photismen, nur kommen sie in der Mehrzahl nicht [...] zum Bewusstsein“93. Die Trennung und Isolierung in Einzelsinne wurde damit zum Ergebnis einer Unterdrückung oder Hemmung nicht benötigter Daten, zu einer Rationalisierungs- und Abstraktionsleistung, der jedoch eine gesamtsinnliche, ungeteilte Wahrnehmung im Unbewussten zu Grunde liege. Das Synästhetische entwarf Bleuler dabei als Vordringen oder Durchbrechen dieser verborgenen Schichten zum Bewusstsein. Bereits in der Untersuchung Zwangsmäßige Lichtempfindungen durch Schall und verwandte Erscheinungen auf dem Gebiet anderer Sinnesempfindungen94 von 1881 berichtete Bleuler von einer Um89 Baxmann (2000), S. 38. 90 Vgl. Dessoir (1892), S. 176. 91 Vgl. ebd., S. 176. 92 Vgl. Bleuler (1913), S. 16. 93 Bleuler zit. nach Wellek (1931a), S. 342. 94 Mit dieser Publikation legten Bleuler und Lehmann eine der ersten systematischen Abhandlungen zur Synästhesie vor, in der sie Licht-, Farben- und Formenvorstellungen bei allen möglichen durch das Ohr zugeleiteten Empfindungen, Schallvorstellungen beim
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frage unter seinen Studenten, bei der sie Vokalen Farben zuordnen sollten. Die Ergebnisse zeigten, dass die höchsten Vokale ,i‘ und ,e‘ meist den hellsten Farben zugeordnet wurden, während das dumpfe „u“ meist dunkle Farben erhielt. Damit bestätigte sich für Bleuler, dass „[z]wischen Menschen, welche die Doppelempfindungen besitzen und solchen, die einen derartigen Zusammenhang durchaus nicht verstehen, [...] gar keine scharfe Grenze“95 bestehe. Gegen die Annahme anormaler, abweichender Strukturen im Gehirn und als Entkräftung der Pathologisierungsversuche begründete Bleuler das Synästhetische als allgemeine Erscheinung, die sich aus unbewussten Sphären menschlicher Wahrnehmungsmechanismen speist. Auf diese Weise verbanden sich bei Bleuler physiologische und psychologische Elemente des Synästhetischen mit einer wissenschaftlichen Theorie des Unbewussten.96 Insbesondere Sigmund Freud etablierte das Unbewusste als einen neuen Wissensdiskurs, indem er sowohl auf der Ebene des Subjekts als auch auf der der Kultur durch die Zivilisation verschüttete und verdrängte Teile des Trieblebens und der menschlichen Psyche annahm und diese wieder zu integrieren versuchte. Als Symptom fügte sich auch das Synästhetische als unbewusstes und verdrängtes Element der Psyche und der Kultur in diesen Rahmen. Hat sich Freud selbst mit der Synästhesie nach aktuellem Kenntnisstand nicht beschäftigt, so lieferten seine Anhänger und Schüler eine psychoanalytische Theorie der Synästhesie. Ursprung der synästhetischen Assoziation sei demnach, so die Psychoanalytikerin und FreudSchülerin Hermine Hug-Hellmuth 1912 in Über Farbenhören, eine Verbindung zweier Sinnesbereiche bei einem prägenden früherotischen Erlebnis in der Kindheit.97 In der Folge werde das auslösende Erlebnis verdrängt, doch die Verbindung
Sehen, Farbenvorstellungen für Geschmack, Gerüche, Schmerz-, Wärme- und Tastempfindungen beschrieben. Vgl. Clausberg (2007), S. 44. 95 Bleuler zit. nach Argelander (1927), S. 10. 96 Bleuler, der 1884/85 bei Charcot studiert hatte, war einer der ersten Klinikleiter, der sich mit der Psychoanalyse von Freud auseinandersetzte und eine Abkehr vom klassischen ,Irrenhaus‘ als ,Verwahranstalt‘ bewirkte, in dem er anders als die meisten seiner Kollegen nicht von einer klaren Trennung zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit ausging. 1911 prägte er die Begriffe und die bis heute anerkannten Krankheitsbilder des Autismus und der Schizophrenie. Vgl. dazu Bleuler (1911), Hell (2001), Scharfetter (2001). 97 „Synästhesien kommen überall dort zustande, wo eine konstitutionelle Eignung mit individuellen Sexualerlebnissen der frühesten Kindheit zusammen trifft, die durch ihre Lust- oder Unlustbetonung von so starkem Eindruck waren, daß sie begleitende Nebenumstände, wie Gehörs- und Farbenempfindungen, durch Schaffung von assoziativen Vorstellungen dauernd im Gedächtnis fixierten.“ Hug-Hellmuth zit. nach Mahling (1926), S. 213.
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der Sinne bleibe als Spur bestehen.98 Ähnlich beschrieb Oskar Pfister, einer der Pioniere der Psychoanalyse in der Schweiz und Mitglied der Zürcher Schule für Psychoanalyse um Eugen Bleuler und Carl Gustav Jung, in Die Ursache der Farbenbegleitung bei akustischen Wahrnehmungen und das Wesen anderer Synästhesien von 1912 diese als idée fixe und sinnentleerte Notbrücke in Form einer Zwangsassoziation, die durch Abbrechen des direkten Assoziationsweges aus dem Selbsterhaltungstrieb heraus entstand und durchaus pathologische Züge annehmen könne.99 Diese Interpretation machte das Synästhetische jedoch zu einer subjektiven und unbewussten Assoziation, deren Erforschung als eigenständiges Phänomen damit ins Leere lief, da psychoanalytische Ansätze darauf ausgelegt waren, Synästhesie mit therapeutischen Mitteln zu ‚heilen‘, was aber nicht nachweislich belegt werden konnte. Immer deutlicher zeigte sich, dass das Phänomen weder als pathologische Erscheinung noch als physiologische Anomalie hinreichend beschrieben werden konnte.100 Im Synästhetischen schien etwas verborgen zu liegen, das mit den vorhandenen Mitteln naturwissenschaftlich-physiologisch ausgerichteter Wissenschaften nicht zu bergen war, deren Paradigmen und Methoden überforderte und sie an die Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten führte. Indem das Synästhetische die Klassifizierung und Einteilung in abgegrenzte Sinnesbereiche unterlief, die Subjektivität der Wahrnehmung aufzeigte, auf Dimensionen des Unbewussten und die Bedeutung innerer Prozesse und Vorgänge anspielte, hebelte es vorhandene Wahrnehmungs- und Wissensmodelle aus. So formulierte auch Bleuler, die „Photismen“ als „etwas, wofür unsere Sprache keine allgemeinverständlichen Ausdrücke hat und was überhaupt nicht zu beschreiben ist“101. Bezog sich diese Aussage auf die Schwierigkeit der Schilderung subjektiver, synästhetischer Erscheinungen, vor denen die Synästhetiker, aber auch die sich mit ihnen beschäftigenden Wissenschaftler standen, so verwies sie auf die Grenzen des Sprachlichen.102 Das machte das 98
Hermine von Hug-Hellmuth schilderte diesbezüglich einen Fall, bei dem der Vokal a mit blau assoziiert war, weil die Form des geschriebenen a den Patienten an die väterlichen Hoden erinnerte, die er beim Nacktbaden im See von der gleichen blauen Farbe sah. Vgl. Bleuler (1913), S. 1.
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„Erst, wo die Doppelempfindungen als ein lästiger Zwang empfunden werden, werden wir von einem krankhaften Zustand reden.“ Pfister zit. nach Wellek (1931a), S. 346.
100 So schrieb auch Marinescu: „Il est dificile de décider si l’audition colorée constitue un phénomène normal, appartenant à la psychologie individuelle, ou bien un phénomène anormal relevant de la psychologie pathologique.“ Marinescu (1912), S. 398. 101 Bleuler (1913), S. 16. 102 So beschrieb z.B. Nußbaumer seine synästhetischen Farbempfindung wie folgt: „Drei Töne können eine und dieselbe Nuance von Gelb haben; die eine aber sieht sich glänzend, die andere rau-, die dritte waschgelb an. [...] so tritt mir häufig der Fall ein, dass
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Synästhetische nicht nur für Künstler, die nach neuen Möglichkeiten des Ausdrucks jenseits logisch-sprachlicher Strukturen und einem Zugang zu unbewussten Sphären der Psyche suchten, attraktiv. Vielmehr wurde es darüber hinaus zum Auslöser einer theoretischen Neubestimmung einer vormals positivistisch ausgerichteten Physiologie am Ende des 19. Jahrhunderts, wie sie z.B. von Ernst Mach formuliert wurde. In der Kritik an einem mechanistischen Weltbild und in Anknüpfung an empiristische Erkenntnistheorien deklarierte Mach in seiner Analyse der Empfindungen von 1886 die sinnliche Erfahrung als einzig mögliche Realität, da die wirkliche Welt eine empfundene und die empfundene Welt wirklich sei.103 Konstituierte die Empfindung dergestalt Erkenntnis, indem Mach auch wissenschaftliche Begriffe wie Materie, Gewicht usw. auf Sinneserfahrungen zurückführte, so hob er in der Empfindung die Trennung von Ich und Welt sowie die Grenze zwischen Geist und Materie bzw. Körper auf.104 In diesem Sinne plädierte er für eine Weiterentwicklung der Physiologie zu einer physiologisch fundierten Psychologie.105 In der Kombination aus leiblich basierten, nach physiologischen Prinzipien definierten, die Welt konstituierenden Empfindungen und einer reflexiven Innenschau wurde Mach zur Inspiration für Künstler wie Hermann Bahr und eine Kunst, die die Wahrnehmung zum neuen Paradigma erhob. Und diese Verbindung von Physiologie und einem Leibbegriff, der die metaphysische Besetzung des Körpers und der Sinne ermöglichte, war es auch, die dem Synästhetischen breites Interesse verschaffte. Denn in einer Wechselbeziehung aus subjektivem, mentalem Erleben und quantitativ messbaren, also objektiven physikalischen Reizen schien es diese Zusammenhänge direkt widerzuspiegeln. Das Scheitern physiologischer Erklärungsversuche öffnete Optionen auf Ausdeutungen des Synästhetischen im Rahmen gesamtsinnlicher, antizivilisatorischer Einheitsutopien, die als Zuschreibungen und Ergebnisse radikaler Umwertungsprozesse im kulturellen Diskurs zu beurteilen sind. Der Wandel des Synästhetischen von einer pathologischen Erscheinung zu einer Eigenschaft des Wahrnehmungsapparates, wie er sich am Ende des 19. Jahrhunderts vollzog, war eine Farbe mir wohl bestimmt und deutlich erscheint, objektiv habe ich sie aber gerade in dieser Nuancierung noch nie gesehen, und fehlt mir darum bei der Nennung der Farbe auch der bestimmte Name, die bestimmte Bezeichnung für eben diese Nuance, was zur Folge hat, dass die subjektiv empfundene Farbe bei genauer Beschreibung von mir oft durch die barocksten Vergleiche geschildert werden muss.“ Nußbaumer (1873), S. 52. 103 Vgl. Berlage (1994), S. 44. 104 Vgl. Hoffmann/Laitko (1991), S. 59. 105 „Die bloße Introspektion ohne stete Rücksichtnahme auf den Leib und demnach auf das gesamte Physische, von dem der Leib einen unabtrennbaren Teil ausmacht, vermag keine zureichende Psychologie zu begründen.“ Mach zit. nach Hoffmann/Laitko (1991), S. 59.
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Ausdruck dieses Bruchs, bei dem sich unter dem Einfluss neuer Kommunkationsund Medientechniken eine neue Kulturanthropologie herausbildete. Dabei fungierten diese ebenso als Modell für neue Wahrnehmungstheorien, wie sie im gleichen Moment Differenzen zum menschlichen Wahrnehmungsprozess aufzeigten, der durch aktive Formung des Subjekts beeinflusst wird. Daraus öffnete sich ein Raum für Projektionen, der mit dem Synästhetischen besetzt werden konnte. Dieser Zuschreibungsprozess zeigt sich in der Synästhesieforschung um 1900 selbst als Bruch, denn immer mehr Fälle tauchten auf, die nicht nur geistig ,normal‘ waren, sondern größtenteils eher der gebildeten Schicht angehörten und häufig sogar über eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügten. Zudem stellten die meisten Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen befassten, auch bei sich selbst Synästhesien fest, die sie in zahlreichen Selbstbeobachtungen dokumentierten. Schilderten bereits Georg Sachs und Friedrich Nußbaumer als Mediziner ihre eigenen synästhetischen Wahrnehmungen, so erwähnte auch Eugen Bleuler, dass bei ihm „durch Reizung des Akustikus [...] immer eine Wahrnehmung von Schall und zugleich eine andere hervorgerufen“ werde, die er „nur in optischen Ausdrücken zu bezeichnen vermag, und die in Bezug auf die spezifischen Qualitäten [...] identisch erscheint mit einer optischen Empfindung“106. Um den Befund der Pathologie des Synästhetischen aufrechtzuerhalten, hätten sich die Wissenschaftler selbst für ,anormal‘ oder ,krankhaft‘ erklären müssen. Implizierten deren Selbstbeobachtungen demnach die Tendenz zu einer ,Normalisierung‘ des Phänomens, so liefern sie zugleich einen Beweis für die Faszination, die das Synästhetische auslöste und die seinen Aufstieg zur Modeerscheinung bedingten. Statt als Zeichen verminderter Verstandesleistung zu gelten, wurde die Synästhesie ab etwa 1895 zunehmend mit Intelligenz, Sensitivität und Vorstellungskraft verbunden.107 Die konsequente Umdeutung und Neubewertung des Phänomens kann damit als Ausdruck eines Bruchs in der Wissenskultur gelesen werden kann, in dem z.B. auch die Versuche Diltheys anzusiedeln sind, das künstlerische Genie vom Wahnsinn abzugrenzen und aus der Pathologie zu befreien. Auf der Suche nach einer neuen Einheitserfahrung im sozialen, religiösen und gesellschaftlichen Bereich wurde die Ursprünglichkeit der ,Wilden und Primitiven‘ zu einem neuen Ideal und es entstand eine Anthropologie, die das NichtZivilisierte der menschlichen Natur im modernen Menschen aufzuspüren suchte, was sich insbesondere in der Kunst zeigte.108 Der von den Pathologen inszenierte 106 Bleuler (1913), S. 10. 107 Vgl. Dann (1998), S. 35. 108 Isadora Duncan, Mata Hari, Maud Allan, Ruth St. Denis u.a. suchten nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten in der antiken, altägyptischen und indischen Kultur, die Theaterreformer entdeckten alte und fremde Theaterformen, während sich Maler wie Paul Gauguin oder Henri de Toulousse-Lautrec dem Exotischen, Abseitigen, Fremden zuwandten. Vgl. Baxmann (2000), S. 63ff.
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Atavismus des Synästhetischen wurde positiv umgedeutet und rückte das Phänomen als kulturanthropologische Erscheinung in den Fokus.
II.2 D IE P ROVOKATION DES S UBJEKTS . P SYCHOLOGISIERUNG DER S YNÄSTHESIE In einer Interpretation zwischen Empfindung, Vorstellung oder Assoziation berührte die Synästhesie um 1900 grundsätzliche Fragen subjektiver Erfahrungs- und Erkenntniswelten. Eingebunden in einen modernen Subjektivierungsdiskurs, der in einer durch die Industrialisierung ausgelösten Entfremdungserfahrung und Vermassungstendenz eine Neuverortung des Subjekts vollzog, war das Synästhetische für die Thematisierung vom Individuum aus gedachter Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse und daraus hervorgehenden neuen künstlerischen Strömungen der Moderne anschlussfähig. Als subjektive Assoziation von Empfindungen wurde das Phänomen nicht nur entpathologisiert, sondern zu einem entscheidenden, präverbalen Entwicklungsstadium des Denkens sowohl in der Phylo- als auch der Ontogenese und der soziokulturellen Evolution erhoben. Die Widersprüchlichkeiten in dessen Theoretisierung lösten sich damit jedoch nicht auf. Involviert in eine Neuformulierung der Wahrnehmung forcierte das Synästhetische die Herausbildung der Psychologie als neue wissenschaftliche Disziplin. Als Lehre vom Erleben und Verhalten des Menschen löste sich die Psychologie um 1860 v.a. durch die Arbeit Gustav Theodor Fechners und Ernst Machs zunächst als Psychophysik von der Physiologie der Sinnesorgane ab. Zeitgleich mit der Gründung des ersten Instituts für experimentelle Psychologie im Jahr 1879 durch den Helmholtz-Schüler Wilhelm Wundt in Leipzig erschien eine Flut von Veröffentlichungen zur Synästhesie. Auf dem ersten Congrès International de Psychologie Physiologique in Paris im Jahre 1890 reihte sich das Farbenhören neben Phänomene wie die Hypnose, Halluzinationen, Suggestion oder den Somnambulismus, an denen physiologische Erklärungsversuche gescheitert waren. Eine eigens einberufene Kommission aus sieben prominenten Psychologen, darunter die Wundt-Schüler Theodore Flournoy und Edouard Gruber, widmete sich ausschließlich den Synästhesien. Befasste sich die Psychophysik mit dem Zusammenhang von Reiz und Empfindung, so erhob sie die Sensorik zum Schnittpunkt von Innen- und Außenwelt, von, wie Wundt es formulierte, den Lebenserscheinungen, die sich durch äußere Sinne wahrnehmen lassen und der Innenperspektive des Menschen.109 Wundt ging davon aus, dass alle inneren Vorstellungen durch von außen ausgelöste physiologisch bedingte Empfindungen bestimmt und permanent durch sie beeinflusst werden. Im Unterschied zur
109 Vgl. Wundt (1874), S. 452.
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Sinnesphysiologie erhielten dabei die spezifischen, durch Erfahrung und Erkenntnisprozesse bedingten Mechanismen des Wahrnehmungssubjekts einen neuen Stellenwert und wurden physiologisch messbaren Sinnesdaten gleichgestellt. Entsprechend dienten die Methoden der Selbstbeobachtung und des Experiments als Mittel, dieses Wechselspiel zu begreifen, wobei Änderungen der äußeren Bedingungen Aufschlüsse über Veränderung im Inneren liefern sollten.110 In diesem Sinne vermutete Wundt in den Synästhesien eine allgemeine Tendenz zur Analogiebildung zwischen verschiedenen Empfindungen, die weniger in den äußeren Reizen als vielmehr in einer Verwandtschaft oder Assoziation der Gefühle begründet liege: „Wir bringen erfahrungsgemäss die Empfindungen disparater Sinne in eine gewisse Analogie. [...] bei der ursprünglichen Feststellung jener Analogien der Empfindung ist eine Kenntnis der objectiven Reize nicht im geringsten wirksam, sondern wir vollführen dieselbe unmittelbar und ausschließlich an der Hand der Empfindungen selber. So scheinen uns tiefe Töne den dunklen Farben und dem Schwarz, hohe Töne den hellen Farben und dem Weiss angemessen [...]. In der Unterscheidung kalter und warmer Farben, in den Ausdrücken ‚scharfer Klang‘, ‚gesättigte Farben‘ u.a. führen wir [...] ähnliche Vergleichungen zwischen den höheren und den niederen Sinnen aus. Alle diese Analogien der Empfindung beruhen wahrscheinlich nur auf der Verwandtschaft der zu Grunde liegenden Gefühle. Der tiefe Ton als reine Empfindung betrachtet, bietet mit der dunklen Farbe keinerlei Beziehung dar; aber da beiden der gleiche ernste Gefühlston anhaftet, so übertragen wir dies auf die Empfindungen, die uns nun selber verwandt zu sein scheinen.“111
Damit verlagerte Wundt das Phänomen von jeglichen manifesten Ursachen einer Verknüpfung oder Verdrahtung von Nerven oder Sinneszentren auf die Wirkung der Reize, die als Empfindung und Gefühle wahrnehmbar werden und erst auf einer bewertenden, assoziativen, durch Erfahrung beeinflussten Ebene des Subjekts vergleichbar sind. Das Synästhetische wurde damit zu einem Element des subjektiven Innenlebens, während die Trennung der Sinne auf der Stufe physiologischer Nervenprozesse beibehalten werden konnte. Auch Fechner, der 1876 mit einer Befragung von 73 Personen über Buchstaben-Photismen eine der ersten systematischen Untersuchungen von Synästhesien vorlegte, visierte zunächst assoziative Elemente als Erklärung an. Er schlug einen Zusammenhang zwischen den Farbwörtern und farbigen Vokalen vor, wonach sich ein gelbes Photisma für den Buchstaben ,e‘, ein schwarzes für ,a‘ usw. hätte zeigen müssen, was sich jedoch nicht bestätigte.112 Da110 Vgl. ebd., S. 22f. 111 Ebd., S. 452. 112 „Obwohl der assoziative Einfluß des Vokals, der in die Wortbeziehung einer Farbe eingeht, nach vorigen hie und da nicht wohl zu verkennen ist, ist es doch viel weniger auffällig, als ich vermutet hatte, und spielt offenbar nur eine Nebenrolle; sonst müßten die
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bei nahmen sowohl Fechner als auch Wundt das Synästhetische v.a. im Kontext einer auf physiologischen Gesetzen basierenden Ästhetik in den Blick. Fechner z.B. schickte seinen Fragebogen hauptsächlich an Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle und stellte die Ergebnisse in seiner Vorschule der Ästhetik dar. Ebenso betonte Wundt den Wert der Analogien der Empfindung für die ästhetische Wirkung: „Für die sinnliche Grundlage der ästhetischen Wirkung sind die Analogien der Empfindung von der höchsten Bedeutung. Auf ihnen beruht die Möglichkeit mit Tönen zu malen und in Farben zu sprechen. Vor allem aber bieten sie durch die Vereinigung mehrerer Empfindungen von entsprechendem Gefühlston das wirksamste Mittel zur Verstärkung der Stimmung.“113
Klingt Wundts Aussage wie ein Plädoyer für Wagners Gesamtkunstwerk, so formulierte er Ton und Farbe als ästhetische Wirkungselemente, die andere Sinne aktivieren könnten. So trafen Wissenschaft und Kunst im Synästhetischen in einer Neuformulierung der Wahrnehmung aufeinander. Die Kunst wurde dabei ausgehend von physiologisch-psychologischen Prinzipien der Wahrnehmung neu gedacht und fungierte zugleich als Offenlegung elementarer Wahrnehmungsmechanismen und Schule der Wahrnehmung. Im Farbenhören schien sich dabei ein Zusammenhang zwischen einer körperlichen Wirkung und einer psychologisch bestimmten Bedeutung der Farben zu verdichten, der zugleich Kultur beeinflussende Effekte bewirkte.114 Auf diese Weise verband sich das Synästhetische mit dem Problem einer Farbentheorie, die sich nicht mehr nur nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten bestimmte, sondern, ausgehend von der Wirkung auf das Subjekt, psychologisch oder physiologisch gedacht wurde.115 Insbesondere Goethes Farbenlehre von 1810 wurde Resultate namentlich für a, i und u ganz anders ausgefallen sein.“ Fechner zit. nach Mahling (1926), S. 241. 113 Wundt (1874), S. 452. 114 So untersuchte z.B. Charles Féré die Wirkung farbigen Lichts auf die Psyche von Fabrikarbeitern und stellte fest, dass eine Belichtung mit roten Fensterscheiben die Arbeiter aufgeregter, gereizter machte und sie stärker ermüden ließ als eine mit grünen. An einer kleinen Anzahl von Personen führte er auch Dynamometer- und Ergografenversuche durch, bei denen er eine Steigerung der Hubhöhe (Kraft) bei blauem Licht und eine Steigerung der Hubzahl (Geschwindigkeit) bei rotem Licht nachweisen konnte. Vgl. Argelander (1927), S. 97. Féré war u.a. Charcots Assistent an der Pariser Sâlpetrière und untersuchte an deren Insassinnen Wechselwirkungen zwischen physischen und psychischen Erregungszuständen. Für diese induction psycho-motrice teste er experimentell Ton-, Farb-, Geschmacks- und Geruchsreize. Féré lieferte v.a. Nietzsche entscheidende Stichworte für eine physiologische Ästhetik. Vgl. Herrmann (2007), S. 89. 115 Um 1900 basierten Farbentheorien häufig auf physiologischen Faktoren, wie z.B. die Young-Helmholtzsche Dreifarbentheorie oder Wundts Stufentheorie, aber auch auf der
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dabei zum Gegenstand der Synästhesieforschung, da er in der sinnlich-sittlichen Wirkung der Farbe physiologische Prinzipien des Sehens und ästhetische Aspekte des Gefallens oder Missfallens verband und eine Parallele von Farbe und Ton im Moment der Wirkung ausmachte.116 In der Erforschung grundsätzlicher Gesetze und Mechanismen der Wahrnehmung überschritt die Psychologie die Grenzen einer naturwissenschaftlichen Disziplin und erweiterte die Bandbreite der mit dem Synästhetischen assoziierten Themen. Da jeder Mensch in der Lage ist Farbe und Töne einander zuzuordnen, etablierte sie das Synästhetische als allgemeine menschliche Fähigkeit. So erklärte der Psychologe und Musikwissenschaftler Richard Wallaschek 1905, „daß fast keine Empfindung allein auftritt“ und „die Empfindung in ihrer Isoliertheit“ lediglich „eine Abstraktion des Betrachters“117 sei. Zentrum einer psychologischen Neubewertung des Synästhetischen war die Einbeziehung und Anerkennung der Erfahrung und des Empfindungslebens bei gleichzeitig naturwissenschaftlich exakter Methode. Allerdings ergaben sich bei dieser Deutung neue Schwierigkeiten. Galt es zum einen zu klären, warum nicht alle Menschen ausgeprägte Synästhetiker sind, so war mit der Deklarierung des Synästhetischen als grundlegende menschliche Begabung der Nachweis von Gemeinsamkeiten bei allen Menschen zu erbringen. Die Subjektivität der synästhetischen Zuordnungen wurde dabei zur methodischen Herausforderung der jungen Disziplin, ließen sich diese Fragen nur mit einer Vielzahl von vergleichbaren Daten beantworten.118 Bis dahin existierten jedoch lediglich Einzelfallbeschreibungen mit anekdotischem Charakter oder Aufzeichnungen zufälliger Beobachtungen. So beschloss der erste Congrès International de Psychologie Physiologique im Jahr 1890, neben dem grundsätzlichen Interesse an der Erforschung der Synästhesien, die Erarbeitung einer einheitlichen Terminologie und einer gemeinsamen Untersuchungsmethodik, um verschiedene Fälle komparabel zu machen. Dabei entbrannten jedoch heftige Diskussionen, die, neben den methodischen Schwierigkeiten, v.a. die Ratlosigkeit in Bezug auf dessen Wesen widerspiejeweiligen Wirkung einer Farbe, wie Philipp Otto Runges Farbenkugel oder Schopenhauers quantitativer Farbenkreis. Vgl. Gage (2001). 116 „Vergleichen lassen sich Farbe und Ton untereinander auf keine Weise; aber beide lassen sich auf eine höhere Formel beziehen, aus einer höheren Formel beide, jedoch jedes für sich ableiten wie zwei Flüsse, die aus einem Berge entspringen, aber unter ganz verschiedenen Bedingungen in zwei ganz entgegengesetzte Weltgegenden laufen. […] Beide sind allgemeine elementare Wirkungen.“ Goethe zit. nach Calinich (1910), S. 245. Vgl. auch Marinescu (1912), S. 386, Vgl. Böhme, Gernot (2002), S. 53. 117 Wallaschek zit. nach Wellek (1931a), S. 343. 118 Spezifische Berechnungsmethoden, um vergleichbare Daten zu generieren und zu verarbeiten wurden erst mit der Ausformulierung der Wahrscheinlichkeitsrechnung durch Andrei Kolmogorov in den 1930er Jahren erarbeitet. Vgl. Harrison (2007), S. 42.
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gelten, wobei auch die Pathologie der Erscheinung zur Disposition stand.119 Über definitorische und terminologische Schwierigkeiten hinaus war es v.a. die Vielschichtigkeit und Individualität der Synästhesien, die den Forschern Probleme bereitete. So konnte Ferdinand Suarez de Mendoza bei dem Versuch einer Zusammenfassung der bis 1890 existierenden Literatur, die aus etwa 130 Beschreibungen individueller synästhetischer Zuordnungen bestand, als Gemeinsamkeit lediglich herausfiltern, dass gesprochene Worte offensichtlich lebhaftere Farben erwecken als gelesene, die Höhe eines Tones Einfluss auf die Qualität der Farbe habe und ein Zusammenhang zwischen hohen Tönen und hellen Farben sowie zwischen tiefen Tönen und dunklen Farben bestünde.120 Neu auftauchende Varianten synästhetischer Zuordnungen und Sinneskombinationen erschwerten die Abgrenzung von anderen Phänomenen und warfen die Frage auf, ob tatsächlich nur die Sinne, oder nicht auch andere Bereiche des Geistes und der Psyche involviert sind. So beschrieb z.B. Francis Galton, ein Cousin von Charles Darwin, 1881 in The Vision of Sane Persons sogenannte number forms, bei denen Zahlenreihen in abstrakten Diagrammen räumlich visualisiert werden.121 In Inquiries into Human Faculty von 1883 klassifizierte er diese und andere Farbassoziationen als mentale Vorstellungen und Operationen des Denkens, die als feste, nicht variable und individuelle Zuordnungen in der Kindheit v.a. als Erinnerungshilfen ausgebildet würden, wobei die Fähigkeit dazu, vererbbar zu sein schien.122 Waren damit nicht nur Sinneserfahrungen, sondern auch abstrakte Denkinhalte synästhetisch koppelbar, so nahm der Hinweis auf die Vererbbarkeit vor dem Hintergrund der von Darwin beschriebenen natürlichen Selektion eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Verankerung des Synästhetischen in Phylo- und Ontogenese und dessen Einstufung als normal oder anormal, Rück- oder Fortschritt der menschlichen Entwicklung ein. Denn damit war sowohl eine Interpretation als atavistische Eigenschaft, die sich in der Evolution nicht durchgesetzt hat, möglich als auch eine dem entgegengesetzte Deutung als genetische Mutation, die sich in Anpassung an die moderne Welt erst noch durchsetzen wird.
119 So wies Prof. Benedickt aus Wien auf dem Kongress erneut auf die Gefahren des Phänomens hin und Dr. Neiglicki berichtete von einem Fall, bei dem die Person später den Verstand verlor und konstatierte: „l’audition colorée constitue un signe de dégénérescence mentale“. Neiglicki zit. nach Marinesco (1912), S. 389. Vgl. auch Mahling (1926), S. 180f. 120 Vgl. Binet (1891), S. 644ff. 121 Er kannte u.a. auch die Brüder Nußbaumer sowie Bleuler und Lehmann und tauschte sich mit ihnen über Material und Erkenntnisse aus. Vgl. Galton (1881), S. 731. 122 Vgl. Galton (1997), S. 43ff.
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Trotz der Individualität der verschiedenen Formen und Fälle einigte sich der Kongress 1890 zunächst auf den Oberbegriff audition colorée,123 was mit einer Dominanz des Sehens farbiger Formen beim Hören von Musik, Geräuschen etc. begründet wurde.124 Relativiert sich diese Einschätzung aus heutiger Sicht, indem die aktuelle Forschung die Grafem-Farbe-Synästhesie als häufigste Form beschreibt, so muss die Behauptung einer dominanten Form als konstruktive Setzung betrachtet werden. So war zwar das Farbenhören die um 1900 am häufigsten untersuchte Form, was deutlich aus dem historischen Material hervorgeht. In den frühen Schriften von Sachs oder Cornaz ist jedoch ein Wissen um die vielfältigen auslösenden Reize und Synästhesieformen dokumentiert, die zudem nicht einmal eindeutig bestimmten Sinnen zugeordnet werden konnten, da z.B. Buchstaben gesehen und gehört werden können. Vielmehr lässt sich die führende Rolle des Farbenhörens um 1900 als Verknüpfung von Hören und Sehen, die zum Synästhetischen per se wurde, kultur-, wissenschafts- und medienhistorisch erklären. Sehen und Hören waren die am weitesten erforschten Sinne, da sie durch ihre Zuordnung zu einem bestimmten Organ experimentell am einfachsten zugänglich waren. Zudem existierten bereits kulturhistorische Traditionen der Beschäftigung mit einer Parallelisierung von Farbe und Ton, die von einer Sphärenharmonie der Antike über die Newton’schen Physik bis zur Idee der Farbenklaviere reichten. Darüber hinaus spiegelte sich im Farbenhören die Erfahrung einer technischen Isolierung der Sinne, die sich parallel zu einer wissenschaftlich-physiologischen Trennung der Sinne ereignete. Während Fotografie und Film die Welt rein visuell erfahrbar machten, trennten Telefon und Phonograf die menschliche Stimme vom Körper und isolierten das Akustische, was völlig neue Seh- und Hörgewohnheiten nach sich zog.125 Erst diese technische Aufspaltung von Sehen und Hören ließ das Farbenhören als phänomenale Erscheinung und spezifische Eigenschaft des menschlichen Wahrnehmungsappa123 „Le Congrès émet le vœu qu’il soit procédé à une enquête sur les phénomènes dits d’audition colorée, en prenant le terme dans le sens le plus général de liaison constante entre les sensations de divers sens (en allemand: sekundäre Empfindung, Photismen, Phonismen etc.).“ Zit. nach Mahling (1926), S. 178. 124 Suarez de Mendoza resümierte beispielsweise, dass Farben überwiegend als sekundäre Empfindung anzutreffen seien, weniger dagegen auditive, Geruch oder Geschmack, am seltensten Bewegung, Schmerz, Freude usw. Vgl. Suarez de Mendoza (1890) S. 134. 125 Thomas Alva Edison entwickelte 1877 den ersten voll funktionsfähigen Apparat zur Aufnahme und Wiedergabe der menschlichen Stimme und anderer akustischer Daten, der in der Öffentlichkeit als magische Sprechmaschine populär wurde. Denn der Prozess der Aufzeichnung und die technischen Operationen blieben unsichtbar. Bei der ersten Präsentation seines Apparates an der Pariser Akademie der Wissenschaften am 11. März 1878 musste er sich deshalb den Vorwurf der Scharlatanerie und der Täuschung mittels Bauchrednerei gefallen lassen. Vgl. Levin (2003), S. 40.
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rates hervortreten. Die von Bleuler und Lehmann 1881 eingeführten Begriffe ,Photisma‘ für eine visuelle und ,Phonisma‘ für eine akustische synästhetische Erfahrung sprechen vor diesem Hintergrund für sich, wobei Bleuler selbst anmerkte, dass der Vorrang des Farbenhörens im Weltbild begründet liege, welches er als ein optisch-kinästhetisches beurteilte.126 Das Farbenhören konnte unter diesen Bedingungen als Sehnsuchtsfigur einer im maschinell-technischen verlorenen Verbindung instrumentalisiert und idealisiert werden. Und darin realisiert sich der Charakter des Synästhetischen als Projektionsfläche, in dessen Umfeld relevante Fragestellungen der Zeit verhandelt wurden. Die junge Disziplin einer zunächst physiologisch ausgerichteten Psychologie befand sich in dem Dilemma, von getrennten Sinnen auszugehen, die sich im Erleben aber nicht wiederfanden – eine Lücke, die sich mit dem Synästhetischen schließen ließ. Um dessen Funktionsmechanismen und Gesetzmäßigkeiten offenzulegen, wurde auf dem Kongress von 1890 festgelegt, möglichst viele Personen zu befragen, positive und negative Ergebnisse zu notieren und Ermittlungen über die Prävalenz des Phänomens durchzuführen.127 In der Folge des Kongresses kam es zu einer Flut an Studien und Untersuchungen. Psychologische Labore vermaßen die Größe der Photismen, bestimmten deren Farben mit Farbtafeln, stoppten die Zeit bis zum Erscheinen der Photismen und verglichen die Farbzuordnungen verschiedener Synästhetiker, ohne dass daraus wesentliche Ergebnisse resultierten.128 Der Psychologe Edouard Gruber erarbeitete den ersten Fragebogen zur audition colorée und der Schweizer Psychologe Théodore Flournoy, ein Schüler Wundts in Leipzig, verfasste mit Des Phènoménes de Synopsie 1893 eines der ersten Standardwerke, 126 Bleuler (1913), S. 12. 127 Beschlossen wurde: „1. A determiner la nature psychologique de la sensation associée (simple analogie, vague, image, pensée, hallucination) 2. A noter l’état mental (normal ou pathologique) du sujet, ainsi que le type : visuel, auditif etc. auquel il appartient. 3. A examiner ces faits au point de vue de leur transmission héréditaire.“ Zit. nach Mahling (1926), S. 242. Die zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Angaben zur Häufigkeit zeichneten sich v.a. durch ihre Inkonsistenz aus. So merkte z.B. Perroud an, dass er das Phänomen bisher nur bei Männern beobachtet habe. Vgl. Chabalier (1864), S. 101. Galton schätzte die Häufigkeit der number forms auf 1:30 bei Männern und 1:15 bei Frauen. Vgl. Galton (1880), S. 294. In einer Befragung von 596 Menschen durch Bleuler/Lehmann stellten sich 76 als Farbenseher heraus. Gruber schätzte 1889, dass durchschnittlich 12,5 von 100 Personen Synästhesien haben. Vgl. Suarez de Mendoza (1890), S. 94. Suarez de Mendoza behauptet 3,5%, Claparède25 %. Die Psychologin Mary Whiton Calkins befragte 1892 592 Studenten, von denen sich 7% als Synästhetiker herausstellten. Ein Jahr später bei einer erneuten Umfrage ergab sich ein Anteil von 16,8%, 1894 sogar von 23,3%. Vgl. Argelander (1927), S. 11. 128 Vgl. Dann (1998), S. 36.
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das den Kenntnisstand der Zeit und die Schwierigkeiten einer Theoretisierung der Synästhesien aufzeigte. Flournoy schloss sich weitestgehend der Meinung seines Lehrers an und deklarierte den gleichartigen Gefühlston zweier heterogener Empfindungen als Bindeglied einer association affective und Ursache der Synästhesien.129 Er unterteilte das Phänomen nach den auslösenden Reizen in einen origine sensorielle und einen origine psychique, bei dem anstelle von Sinnesreizen, Tage, Namen usw. Auslöser waren.130 Allerdings hielt Flournoy einzig die synesthésie visuelle für untersuchenswert und glaubte, zwischen verschiedenen Fällen der Zuordnung von Buchstaben zu Farben einige Gemeinsamkeiten gefunden zu haben.131 Bei anderen Synästhesieformen dominierten jedoch die Unterschiede.132 Des Weiteren unterschied Flournoy die Synästhesien nach der Intensität, die von einer objektiv vorhandenen Sekundärempfindung bis zu einer nur gedachten Verbindung reichen konnte.133 Seine Theorie vereinte zwei zentrale Ansichten und löste das Problem des subjektiven Charakters der Sinnesentsprechungen: Zum einen beruhten die Synästhesien auf dem psychologischen Prinzip der Assoziation und zum anderen auf den physiologischen Bedingungen des einzelnen Subjekts. Beide Elemente würden in jedem einzelnen Fall unterschiedlich stark ausgeprägt und in verschiedenen Anteilen vermischt auftreten.134 Die Frage, wie diese Assoziationen zustande kamen, wurde in der wissenschaftlichen Gemeinschaft unterschiedlich beantwortet. Verankerten sie einige darin, dass entsprechende Sinnesdaten gewöhnlich zusammen auftreten, so vermuteten andere im Anschluss an Cornaz und Galton die Verbindung in einer entscheidenden biografischen Situation der Kindheit.135 H. Kaiser 129 Vgl. Argelander (1927), S. 90. 130 Bereits Suarez de Mendoza hatte das Phänomen in L’Audition Colorée als PseudoWahrnehmung beschrieben und unterschied eine physiologisch bedingte Form, und eine Synästhesie purement psychique, die aber nah der Besessenheit oder den idées fixes angesiedelt sei. Vgl. Suarez de Mendoza (1891), S. 641. 131 „[…] il ressort une certaine constance à travers les diversités individuelles.“ Flournoy zit. nach Clavière (1898), S. 170. Im Gesetz der Helligkeit beschrieb er, dass i und e in der Mehrzahl der Fälle hell gesehen werden, während u und ou dunkel seien, a und o lägen dazwischen. Darüber hinaus würden einige Farben häufiger vorkommen als andere, wie z.B. Rot, Gelb und Weiß. Vgl. Clavière (1898), S. 170f. 132 So waren z.B. bei musikalischen Photismen bei einigen einzelne Noten, bei anderen ganze Musikstücke, oder Instrumente die auslösenden Faktoren. Auch die Art, wie sich die synästhetischen Farben manifestierten, variierten stark von Gefühlen der Abneigung über die Vision einer Farbe bis hin zu deren Projizieren auf den auslösenden Reiz oder in Richtung der Schallquelle. Vgl. ebd., S. 171. 133 Vgl. Mahling (1926), S. 180. 134 Vgl. ebd., S. 181. 135 Vgl. Böhme, Gernot (2002), S. 50.
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äußerte 1882 in seinem Aufsatz Assoziation der Worte mit Farben in Bezug auf die synästhetischen Verknüpfungen von Worten und Farben die Vermutung, dass die Synästhesien eine Ideenassoziation aus der Phase der Spracherlernung seien, bei der das Kind die Farbe in ein Verhältnis zum Wort setze, um es sich besser merken zu können.136 Verband sich die Idee des Synästhetischen auf diese Weise mit Lerntheorien, so fiel der Blick v.a. auf den Moment des Lesenlernens.137 Damit einher ging die Annahme, dass es gewisse Gemeinsamkeiten in den Zuordnungen verschiedener Fälle geben müsste. Um einen experimentellen Nachweis für diese These zu erbringen, paarte der Psychologe Alfred Binet, von 1883 bis 1889 ebenfalls ein Schüler Charcots,138 Klänge von Silben mit Farben, lernte sie auswendig und hoffte, damit die audition colorée als Ideenassoziation darstellen zu können, die sich durch Übung und häufigen Gebrauch zu einer association automatique verfestige.139 Relevant für die Ausbildung dieser Assoziationen hielt Binet u.a. Persönlichkeitsmerkmale, in deren Kontext die Zuordnungen einen gewissen Sinn ergeben und sich in individuellen Erfahrungen verankern lassen.140 Bemerkenswert war, dass Binet bereits in mehreren Sitzungen mit zeitlichem Abstand die Zuordnungen der synästhetischen Personen überprüfte, die sich durch eine große Konstanz über längere Zeiträume hinweg auszeichneten, und auch Reaktionszeiten bei der Nennung der synästhetischen Erscheinung ermittelte, die im Vergleich zu Nichtsynästhetikern deutlich kürzer waren.141 Damit stellte er entscheidende Untersuchungsme136 Vgl. Argelander (1927), S. 86. 137 Hatte Chabalier bereits 1864 vermutet, dass das Lernen der Buchstaben mit Hilfe von Farben einen Einfluss auf die Synästhesien haben könnte, so konkretisierte A. Marie 1908 diese Idee dahingehend, dass die synästhetisch hervorgerufenen Farben der Vokale aus Lesefibeln stammten, in denen die Buchstaben farbig wiedergegeben seien, so dass eine feste Assoziation zwischen dem Laut und der zufälligen Farbe gestiftet werde. Vgl. ebd., S. 86. 138 Binet wirkte 1889 bei der Gründung des ersten psychologischen Forschungslaboratoriums in Frankreich mit. Außerdem gründete er mit L'année psychologique die erste französische Zeitschrift für Psychologie. Eine seiner größten Leistungen lag auf dem Gebiet der Intelligenzmessung, indem er einen Test zur Feststellung der geistigen Fähigkeiten eines Kindes entwickelte. 139 Vgl. Beaunis/Binet (1892), S. 448ff, Binet (1893), S. 334ff. 140 So erklärte er die synästhetische Verknüpfung von ,a‘ und ;rot‘ bei einer seiner Versuchspersonen damit, dass dieser Seemann sei und es natürlich fand, an Backbord rotes Licht zu platzieren (wegen a in Backbord). Auch das Wort ,Arterien‘ sei für ihn wegen des a natürlich rot und Resultat interner Vorstellungen. Binet glaubte deshalb, dass keine reellen Farben gesehen werden, sondern es sich eher um eine Idee handele. Vgl. Beaunis/Binet (1892), S. 448ff. 141 Vgl. ebd.
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thoden bereit, die bis heute der Identifikation und Unterscheidung von Synästhetikern und Nichtsynästhetikern dienen.142 Über zwei Jahre studierte er das Phänomen, konnte dessen Natur jedoch nicht klären. Erreichte er durch Auswendiglernen der Zuordnungen von Klängen oder Vokalen zu Farben zwar ähnlich schnelle Reaktionszeiten und eine gewisse Automatisierung, so gelangte er nicht an den Punkt, dass er die Farbe ,sah‘, wie Synästhetiker es beschrieben. Auch Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Synästhetikern und ihren Zuordnungen ließen sich kaum finden. Konnten Synästhesien durch provozierte Lernprozesse nicht künstlich hergestellt werden, so verstärkte sich ihre Bindung an die individuelle Erfahrung und Entwicklung, die allein die Divergenzen der Einzelfallbefunde erklärbar machten. Diese Subjektivität des Synästhetischen bestärkte eine rein psychologische Begründung in einer spezifischen Konstitution des individuellen Organismus, die nicht nur auf sensorischer Ebene lokalisiert, sondern mit mentalen Repräsentationen und Emotionen verwoben und viel komplexer, intellektueller und emotionaler als bisher angenommen sei, so Binet.143 In diesem Sinne schilderte Paul Sokolow 1901 in L’individuation colorée die außergewöhnlichen Fälle von drei Damen, die Farberscheinungen bei Personen beschrieben, die sich nach deren jeweiligen intellektuellen Fähigkeiten oder moralischen Werten bestimmten.144 In Analogie zur audition colorée bezeichnete Sokolow diese Form als individuation colorée, für die er eine intuitive Gefühlsanalogie von Farben und Menschen verantwortlich machte.145 Eine starke Konsistenz dieser Erscheinungen beweise, dass es sich nicht lediglich um einen Auswuchs der Imagination handle, sondern um eine „raison d’être, logique ou psychologique“146: „L’évolution psychique de l’individu, pas moins que celle de la race, étant basée sur une sorte de sélection naturelle, les éléments de la conscience ne peuvent se conserver et se développer qu’à la condition d’être favorables à quelque égard pour sa vie. Les représentations chromatiques des individualités, si extravagantes et superflues qu’elles puissent sembler, doivent être soumises à la même loi.“147 142 So wird die Untersuchung der Konstanz synästhetischer Zuordnungen über die Zeit heute als Konsistenztest bezeichnet, dessen Entwicklung dem Neurologen Baron-Cohen zugeschrieben wird. 143 „Nous sommes ici en présence d’un phénomène bizarre qu’on a jusqu’ici considéré isolément, en lui-même, sans chercher ses relations avec les autres parties de l’organisme psychique de l’individu. […] on ne sait pas du tout sous quelles conditions le phénomène se développe ni même en quoi il consiste.“ Binet (1891), S. 646. 144 Vgl. Sokolow (1901), S. 36. 145 Vgl. ebd., S. 42. 146 Ebd., S. 43. 147 Ebd., S. 43f.
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Damit schrieb er den synästhetischen Erscheinungen in Antizipation des Darwinschen Konzepts der natürlichen Selektion sowohl auf individueller als auch auf kultureller Ebene eine psychogenetische Funktion als Wahrnehmungssymbol zu, das etwas Abstraktes konkret fassbar mache und über eine einfache Assoziation hinaus gehe.148 Insofern näherte er alle Synästhesien dem Status von repräsentierenden Symbolen an. Versehen mit erklärender und gedächtnisstützender Funktion würden diese zu bewussten oder unbewussten Organen des Denkens weisen und Ähnlichkeit mit Metaphern, wie ,dunkler Charakter‘, ,klarer Geist‘ oder ,jemand sieht alles rot oder schwarz‘, auf, die nicht nur Ideen seien, sondern emotional gefärbten Vorstellungscharakter hätten.149 In dieser Version wurde das Synästhetische zu einer besonderen Gabe, gepaart mit erhöhter Intelligenz und ausgeprägten geistigen Fähigkeiten, die v.a. unter Wissenschaftlern und Künstlern verbreitet sei, wie es bereits Suarez de Mendoza beschrieb: „Nous croyons que les personnes douées d’une imagination vive, surtout celles qui cultivent les sciences et les beaux-arts, y ont plus des dispostition que celles pour qui la vie doit être avant tout pratique, et dont les facultés sont absorbées par les soucis dominant du doit et de l’avoir.“150
Der bei Nordau als pathologisch beschriebene, synästhetische Zustand des schaffenden und künstlerischen Subjekts wurde zu einer außergewöhnlichen Begabung umgedeutet und erhielt eine herausgehobene Stellung bei der Neupositionierung des Subjekts in der Moderne. Als Element subjektiver Erfahrungswelten versprach es eine Neuverortung des Individuums im komplexen Gefüge industrieller Großstadtund Massenwelten und war für die Thematisierung vom Individuum aus gedachter Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse und daraus hervorgehenden neuen künst148 „En somme, voici deux idées psychologiques qui peuvent nous élucider les phénomènes d’individuation colorée: l’association et l’aperception. Les associations par contiguïté et par ressemblance des relations idéelles et émotionelles nous expliquent leur origine ; la fonction aperceptive de ces phénomènes nous fait comprendre leur raison d’être et en même temps la cause réelle de leur persistance et de leur développement.“ Ebd., S. 45. [Herv. i.O.] 149 „Es erscheint mir sehr wahrscheinlich, dass die Farbenvorstellungen von Buchstaben, Klängen, Stimmen, Zahlen, Tagen, Monaten etc. nicht an die Aufnahmsorgane des Gehörs gebunden sind […], sondern [...] vielleicht immer an etwas viel Complicirteres und Abstracteres, nämlich an die Gesammtheit der sensoriellen und ideellen Eigenschaften, welche je über den besonderen Werth des Aufgenommenen entscheiden. Alle Fälle von Farbigsehen […] sind in Wirklichkeit nichts anderes als Fälle von ,individuation colorée’“. Sokolow zit. nach Stelzner (1903), S. 561f. 150 Suarez de Mendoza (1890), S. 144. [Herv. i.O.]
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lerischen Strömungen anschlussfähig. Die Fragen und Widersprüchlichkeiten, die das Phänomen aufwarf, lösten sich jedoch auch mit dieser Deutung nicht auf. So konstatierte Bleuler 1913, dass die scheinbare Vererbbarkeit des Phänomens gegen eine psychologische Assoziationstheorie spräche.151 Tauchten in einer Familie oft mehrere Synästhetiker auf, so waren deren Synästhesien allerdings völlig verschieden. Bleuler vermutete daher eine Verschmelzung der Wahrnehmung mit affektiven Elementen, wobei in jeder Entwicklungsphase des Individuums Photismen hergestellt würden, die sich vermischen.152 Grundsätzlich, so Bleulers Fazit, hätten alle Menschen Photismen, die aber als unbewusste Empfindung im Sinne von Fechners Schwellentheorie nicht zu Bewusstsein kämen. Ließen sich derartige Annahmen weder widerlegen noch beweisen, so eröffneten sie einen breiten Raum für eine Besetzung des Synästhetischen mit mystischen Spekulationen und okkulten Phantasien.
II.3 E MANATIONEN DES U NSICHTBAREN . Z WISCHEN M YSTIK UND P HYSIK Als verborgenes Wissen und unsichtbare Dimension menschlicher Erkenntnisfähigkeit war das Synästhetische an eine Kulturanthropologie der Moderne anschlussfähig, die in unbewussten oder unerklärlichen Phänomenen und okkulten Erscheinungen nach einer Neufundierung des Menschen und der Gemeinschaft suchte. Diese glaubte man mit den Mitteln der Wissenschaft fassbar machen zu können, um so einen neuen Zugang zum Wesen des Menschen und seiner Kultur zu erhalten. Die Grenzen zwischen naturwissenschaftlich-exakter Wissenschaft und esoterisch angehauchten, pseudowissenschaftlichen Strömungen wurden dabei fließend, ebenso wie die Unterscheidung psychischer und paranormaler Phänomene. Um die Jahrhundertwende mischten sich, wie es Carl Clausberg beschreibt, „Betrachtungsweisen, in denen physiologische, psychoanalytische und spiritistische Aspekte des Seelischen noch Seite an Seite standen“ und Phänomene wie „Außersich-Sein, auratische Erscheinungen und multimodale Wahrnehmungen bildeten [...] noch einen gemeinsamen Plafond, von dem aus sich vielfältige philosophisch-
151 Vgl. Bleuler (1913), S. 2. 152 Lautphotismen hielt er z.B. für Abstraktionen aus der Phase des Sprechen- und Schreibenlernens, an denen der Verstand beteiligt sei. Bei der Schrift wiederum wirke auch das grafische Bild auf die Photismen. So könnte sich letztlich ein Photisma nach dem Klang, dem Laut oder dem Schriftbild richten, aber auch nach Gefühlen richten. Vgl. ebd., S. 16.
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literarisch-kunstvolle Ausblicke eröffneten“153. Bereits 1890 auf dem ersten Congrès International de Psychologie Physiologique stand das Synästhetische in einer Reihe mit Themen, die wissenschaftliche Methoden sprengten und etwa zehn Jahre später in den Bereich der Parapsychologie verwiesen wurden. Die Unmöglichkeit einer klaren Abgrenzung und Einordnung in Kategorien von normal oder anormal eröffnete die Verbindung des Synästhetischen mit dem Übersinnlichen.154 Die Parapsychologie war als durchaus seriöse, naturwissenschaftlich orientierte Disziplin in den 1880er Jahren zur Erforschung des übersinnlichen, außerhalb des normalen Wachbewusstseins liegenden Seelenlebens entstanden.155 Eine Vielzahl der Wissenschaftler, die sich um die Erforschung der Synästhesien bemühten, fand sich in parapsychologischen Kontexten wieder. So war es beispielsweise Max Dessoir, der den Begriff Parapsychologie prägte, mit dem er Gegenstände der Psychologie umreißen wollte, die weder dem gewöhnlichen noch dem pathologischen Seelenleben zuzuordnen sind.156 Ziel war es dabei, mit wissenschaftlicher Methodik in die verborgenen Dimensionen der menschlichen Psyche vorzudringen und ihre Funktionsmechanismen offenzulegen. Die Synästhesie wurde dabei eine entscheidende Schnittstelle, da sie sowohl bewusste, kognitive als auch unbewusste und affektive Bereiche der Psyche zu berühren schien.157 Bereits 1881 verglich Galton in The Vision of Sane Persons die synästhetischen Erscheinungen mit Visionen, Phantasmen oder Halluzinationen und begründete ihr Erscheinen in einer Überempfindlichkeit bestimmter Domänen der Hirnaktivität, wodurch einzelne Stufen mentaler Prozesse zu Bewusstsein gelängen.158 Bestimmte Persönlichkeitstypen, zu denen er auch große Denker zählte, seien auf Grund einer größeren Reizbarkeit der Nerven für 153 Clausberg (2007), S. 61. 154 „L’audition colorée est la faculté que possèdent certains sujets de percevoir une couleur en même temps qu’ils entendent un son. Ce phénomène, connu depuis plusieurs années déjà, a occupé et préoccupé les médecins et surtout les oculistes qu’il intéressait tout particulièrement.“ Daubresse (1900), S. 300. 155 In Deutschland wurde 1886 die Psychologische Gesellschaft als parapsychologische Vereinigung gegründet, deren Mitglieder u.a. Carl du Prel und Albert von SchrenckNotzing waren. 156 Auch Théodore Flournoy widmete sich der Parapsychologie und veröffentlichte 1900 mit Des Indes à la Planete Mars die Erfahrungen des Mediums Hélène Smith, die im somnambulen Zustand einen Roman in drei Zyklen mit je eigener Sprache geschrieben hatte und als „Muse des Automatischen Schreibens der Surrealisten“ bekannt war. Ebenso sympathisierte Alfred Binet, der sich bereits in der Salpêtrière mit Hypnose und Suggestion beschäftigte, mit der Parapsychologie. 157 So schlug M. Daubresse den unbewussten Mechanismus der Suggestion, insbesondere der Autosuggestion, als Ursache für das Phänomen vor. Vgl. Daubresse (1900), S. 304f. 158 Vgl. Galton (1881), S. 736.
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diese Art Visionen anfälliger als andere.159 Damit wurde das Synästhetische zum Ausdruck gesteigerter Sensibilität einzelner Subjekte mit genialen Zügen. Ähnlich verstand der Schweizer Psychologe Eduard Claparède, Neffe von Theodore Flournoy,160 die Farbenhörer als eine Art ,Seher‘, die sich von anderen Menschen durch eine stärkere affektiv-emotionale Komponente und ein damit verbundenes intuitives Wissen unterschieden.161 Dabei berief er sich u.a. auf den ,Heureka-Effekt‘ einer plötzlichen Einsicht, den Synästhetiker verspüren, wenn sie sich ihrer besonderen Wahrnehmung bewusst werden, und interpretierte das Farbenhören v.a. als besondere Wissensform.162 Claparède selbst besaß Synästhesien für Wochentage und historische Perioden, die seine subjektiven Wissens- und Erkenntnisprozesse beeinflussten. V.a. betonte er, dass die Farben nicht einfach nur gesehen, sondern vielmehr gefühlt werden und nicht die gedachten Bilder gefärbt seien, sondern das Bewusstsein, das sie denkt.163 Als affektiv-subjektive Bewertungen, die nicht mit rein logischen Operationen zu erklären sind,164 definierte Claparède das Synästhetische als vergleichendes, intuitives Wissen, das in rudimentärer Form grundsätzlich allen Menschen zukomme, da derartige sprachliche Analogien von jedem verstanden würden: „On trouve dans toutes les langues de telles analogies, et cela ne choque personne. Quoi d’étonnant à ce que certains individus poussent plus loin que d’autres cette faculté de comparaison, qui paraît exister chez chacun à l’état rudimentaire, et que chez eux se multiplient ces équivalences affectives.“165
Damit legte Claparède eine Interpretation des Synästhetischen vor, die es für das Projekt einer Bergung, Wiederbelebung und Instrumentalisierung eines verborgenen Wissens und unsichtbarer Dimensionen menschlicher Erkenntnisfähigkeit geeignet erscheinen ließ. Die Einreihung des Synästhetischen in paranormale Phänomene um 1900 galt der Heraufbeschwörung dieses verborgenen, transzendentalen 159 Vgl. ebd., S. 739f. 160 Claparède studierte in Genf und Leipzig, forschte zu Themen wie Schlaf, Wachheit und Ermüdung und war u.a. mit Alfred Binet und Jean Piaget befreundet, der nach Claparèdes Tod 1940 dessen Lehrstuhl in Genf übernahm. 161 Vgl. Claparède (1900), S. 515. 162 Vgl. ebd., S. 516. 163 „[...] la couleur n’est pas perçue, mais sentie ; il y a là un phénomène de conscience difficile à définir, comme tous les faits primitifs se rattachant à la sensibilité.“ Ebd., S. 516. [Herv. i.O.] 164 „Non, les représentations de couleur pensées par les auditifs-coloristes n’ont rien d’objectif (sauf peut-être dans des cas très rares […]).“ Ebd., S. 515. [Herv. i.O.] 165 Vgl. ebd., S. 517.
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Wissens, das alle Bereiche menschlicher Existenz umfasste. So lagen für Frederic William Henry Myers, Gründungsmitglied der Society for Psychical Research in England im Jahr 1882 und Namensgeber der Telepathie, die Synästhesien genau auf der Trennlinie zwischen den Bildern des Geistes und dem Sehen der externen Welt. Als Überbleibsel undifferenzierter kontinuierlicher Sensitivität, sowohl bewusst als auch unbewusst, könne sie demnach den Weg zu einer Aktivierung und Regenerierung transzendentaler Fähigkeiten weisen.166 Die negative Besetzung als primitives Stadium der Sinnesdifferenzierung, wie sie sich bei Nordau fand, wandelte sich in eine instinktive Gabe, die ihren Besitzern völlig neue Erkenntnismöglichkeiten erschließe und eine Weiterentwicklung menschlicher Fähigkeiten verspreche.167 So zog Myers 1903 in Human Personality and its Survival of Bodily Death mittels Phänomenen wie Hypnose, Halluzinationen, Trance oder Telepathie eine zentrale Analogie von menschlichem Bewusstsein und elektromagnetischem Spektrum und beschrieb diese erweiterten Bewusstseinszustände als evolutionären Prozess der Wahrnehmung vom Sichtbaren ins Unsichtbare. Die Psychologie, so Myers, müsse ihre Röntgenstrahlen entdecken, um zu den komplexeren Fähigkeiten menschlicher Existenz zu gelangen, von denen einige bereits bekannt seien während andere jedoch erst noch entdeckt werden müssten.168 Diese futuristisch anmutende Vision eines ,Supermenschen‘ hatte durchaus mit exakt naturwissenschaftlicher Forschung zu tun und fügte sich in neu entdeckte, unsichtbare Dimensionen von Welt, wie sie sich mit den Röntgenstrahlen oder der Radioaktivität eröffneten. Auf den Menschen schien eine geheimnisvolle Welt zu warten, die zu ergründen er, ausgestattet mit völlig neuen Wahrnehmungsfähigkeiten, im Begriff war. Die Parapsychologie war damit weit mehr als ein pseudowissenschaftlicher ,Club‘ und stellte einen innovativen Forschungszweig dar, dessen Auftrag die Erschließung bisher ungenutzter Ressourcen der Psyche war. Im Synästhetischen materialisierten sich demnach nicht nur individuelle Assoziationen oder subjektiv gefühlte Verbindungen, sondern vielmehr unentdeckte, verborgene, aber existente Zusammenhänge zwischen den Dingen, die der Mensch bisher noch nicht wahrnehmen konnte.169 In diesem Sinne
166 „Probably in all of us, […], there exist certain synaesthesiae or concomitances of senseimpression. […] For a true synaesthetic or ‘sound-seer’ […] there is a connection between sight and sound which is instinctive, complex, and for our intelligence altogether arbitrary.“ Myers zit. nach Dann (1998), S. 50. 167 Vgl. ebd., S. 49. 168 Vgl. ebd., S. 50. 169 So schrieb auch Jules Millet in L’audition colorée von 1892: „ […] the generalization of synaesthesia will mark a stage in the evolution of the nervous system […] We have forced the ultraviolet rays to disclose themselves: let us now perceive a greater number of vibrations; the world is full of waves which are, perhaps, as much latent as they are
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stilisierte auch Edouard Gruber das Synästhetische auf dem zweiten Kongress für Physiologische Psychologie im Jahr 1892 in London als eine „Manifestation der unbewussten Thatsachen, regiert von einfachen mathematischen Gesetzen“ und als „ein Echo der im Kosmos herrschenden Mathematik“170. Parallel zur Pathologisierung in der Physiologie und zur Subjektivierung in der Psychologie entstand so ein Deutungsraum, in dem das Synästhetische, auf physikalisch-naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten basierend, als geheime Entsprechung zwischen den Dingen im Sinne einer Weltharmonie mystisch verklärt wurde. Dabei mischten sich Bereiche gegenständlicher wissenschaftlicher Naturforschung der Physik, Anatomie und Physiologie mit einer okkulten Naturmagie, die eine Doppelwelt aus sicht- und unsichtbaren Erscheinungen annahm, hinter denen sich die große Einheit des Universums verberge. V.a. die neuen technischen Errungenschaften beschworen alte mystische Vorstellungen herauf und beförderten mit unsichtbaren Vibrationen, Wellen, Strömen und Strahlen den Glauben an Übersinnliches im wissenschaftlichen Zeitalter. „Das Übersinnliche“, so Christoph Asendorf, wurde „lediglich ein Problem der Messgeräte“171, die eine Welt der Geister und verdeckten Verbindungen sichtbar machen konnten.172 So galten die synästhetischen Erscheinungen, von besonders sensitiven Individuen wahrgenommen, sowohl den Okkultisten oder Theosophen, die in dieser Zeit großen Zuspruch erfuhren, als auch den Physikern als Ausdruck universeller Gesetzmäßigkeiten und System von Entsprechungen zwischen Farbe und Ton, die demgemäß bei allen Menschen gleich sein müssten und die aufzudecken höchste Priorität besaß. Dabei ging die physikalisch-naturwissenschaftliche Deutung von einem Außen und Innen der Erscheinungen aus und suchte in Anlehnung an Isaak Newtons Gleichsetzungsversuche von Farbe und Ton den Ausgangspunkt in den physikali-
sources of joy. Surprise us, violins of nature: it is our right.“ Millet zit. nach Dann (1998), S. 29. 170 Gruber zit. nach Epstein (1896), S. 29. Grundlage für Grubers Annahme war die Untersuchung eines Rumänen, der Photismen zu Tönen besaß. Gruber vermaß den Durchmesser der nach außen lokalisierten Gesichtserscheinungen zu jedem Ton und erhielt in der Differenz dieser Durchmesser eine natürliche Zahlenreihe. 171 Asendorf (1989), S. 131. 172 Die Fotografie diente als bevorzugtes Instrument, Unsichtbares sichtbar zu machen. Der neue Glaube an Geister wurde von etwa 1861 bis 1877 durch Fotografien der Spiritisten genährt, auf denen Lichtphänomene erschienen, die im Wesentlichen auf technische Fehler oder bewusste Manipulationen zurückzuführen sind. Als Geisterfotografien oder Materialisationen von Gedanken wurden sie jedoch öffentlichkeitswirksam inszeniert, indem z.B. empfängliche Medien bei der Aufnahme mitwirkten. Vgl. Stiegler (2001).
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schen Eigenschaften der Reize.173 So erweckte das Synästhetische am Ende des 19. Jahrhunderts die alte Hoffnung, dass es eine Gemeinsamkeit und Möglichkeit der Übersetzung von Farbe und Ton geben könnte, und schien zusätzlich den Transformationsmechanismus zu offenbaren. Dazu war die Isolierung eines die Synästhesien auslösenden und messbaren Reizes notwendig, der in der Lage war, beide Sinnessphären anzusprechen. So vermutete Wolfgang Preyer 1870 eine Parallele zwischen Farben und Tönen in der Schwingungsfrequenz von Licht- und Schallwellen, wobei kurzwelliges Licht hohen und langwelliges Licht tiefen Tönen entspräche.174 Im Sinnesapparat des synästhetischen Subjekts, so die Annahme, fänden sich wiederum spezifische Organe oder Mechanismen zur Wahrnehmung der Schwingungszahlen, die die Erscheinungen erzeugen.175 Verstärkte diese Deutungslinie die Dominanz des Farbenhörens, so involvierte sie zugleich die Newtonʼsche Physik in eine Geschichte der Synästhesie und unterstützte die Begründung einer Farbenmusik und deren Einbindung in den Synästhesiediskurs. Als Vater der Farbeninstrumente hatte Bertrand Louis Castell 1723 die französische Übersetzung von Newtons Optik rezensiert und übertrug in dem Artikel Clavecin sur les yeux, avec l’art de peindre les sons, et toutes sortes de pièces de musique im Mercure de France 1725 dessen Farbe-Ton-Beziehung auf die Pläne zu seinem clavecin oculaire.176 Neben der Kompensation fehlender Sinnesdaten Gehörloser und Blinder fokussierte er insbesondere den künstlerischen Bereich als Einsatzgebiet seines Augenklavieres, mit dem Maler auf rationaler Grundlage das Geheimnis der Farbkombinationen erlernen könnten, die Farbe beweglich und Musik auf einer Leinwand fixierbar würden.177 Als neue, daraus hervorgehende Kunstform formulierte er die musique muette der aus der Bedienung des Farbenklavieres entsteh173 In seiner Optik von 1704 versuchte Newton die Frequenz von Schallwellen mit der Wellenlänge des Lichts gleichzusetzen. Er ließ Sonnenlicht durch ein Prisma in einen dunklen Raum fallen und projizierte das entstandene Farblichtspektrum auf eine ebene Fläche. In Analogie zu musikalischen Proportionen teilte er die Farbskala in sieben Farben ein und glaubte, dass sich die Farbenharmonien ähnlich wie die Harmonie der Töne verhielten. Vgl. Jewanski (2006a), S. 144. 174 Auch Moch vertrat die Theorie, dass bei Erhöhung der Schwingungszahl die Töne in Geräusche, Wärme und Farben übergingen. Vgl. Argelander (1927), S. 80f. Ebenso erwog Pietro Albertoni, Professor für Physiologie an den Universitäten von Genua und Bologna, die Schwingung als mögliche Gemeinsamkeit der Synästhesien. Die Farbempfindung sei dabei abhängig von der Anzahl der Schwingungen des Lichtäthers, während die Höhe der Töne an die Schwingungen des tönenden Körpers gebunden sei. Vgl. Albertoni (1889), S. 345f. 175 Vgl. Argelander (1927), S. 80. 176 Vgl. Jewanski (2006a), S. 147f. 177 Vgl. ebd., S. 148f.
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enden Bilder.178 Dabei lösten Castels Veröffentlichungen unter seinen Zeitgenossen heftige Diskussionen über den ästhetischen Wert einer solchen Kunstform und Sinn und Unsinn eines Farbenklavieres aus, da Farbe und Ton völlig verschiedenen Gesetzen zu folgen schienen.179 Dennoch entstanden in Reaktion auf Castel in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts neue Musikinstrumente, die auf einer Begeisterung für visuelle Reize und optische Effekte basierten und sich im Zusammenhang mit der camera obscura, der laterna magica oder dem Feuerwerk zum Element populärer Unterhaltungskultur entwickelten. Ernsthaft rezipiert und aktualisiert wurden Castels Versuche im Zusammenhang mit der Synästhesieforschung um 1900. So schrieb Hermann Bahr 1896: „Man konnte in den Zeitungen neulich Notizen über die Colour Musik lesen, eine Erfindung des Engländers Wallace Remington [Rimington, M.G.], Töne durch Farben darzustellen, also Musik zu malen. Sie sei, hieß es, gar nicht so neu, wie Laien verwundert meinen möchten. Schon 1740 habe ein Jesuit, Luigi Betramo Castel, ein Clavicembalo oculare gebaut, welches Töne optisch zeigen konnte, so daß Musik von Tauben gesehen wurde. Uebrigens hätten manche so feine und innig verbundene Nerven, daß sie gar nicht erst derlei Instrumente brauchten, sondern nichts hören könnten, ohne von selber jeden Ton immer gleich als Farbe zu schauen. Die Aerzte Nußbaumer und Parville, selber im Besitze dieser Gabe, haben sie beobachtet und geschildert; [...].“180
Dergestalt verband sich das Farbenhören, wie es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im wissenschaftlich-medizinischen Diskurs ausformuliert wurde, erst um 1900 mit der Idee einer Farbenmusik, die seitdem aufeinander verweisen. War eine physikalische Farbe-Ton-Analogie zu diesem Zeitpunkt bereits wissenschaftlich wi-
178 Erste Pläne zur Konstruktion eines Farbenklavieres entwickelte er 1726 gemeinsam mit dem Mathematiker Rondet, 1734 soll ein erster Prototyp existiert haben. Vgl. ebd., S. 149f. 179 So erschien bereits damals Newtons Einteilung des Spektrums in sieben Farben willkürlich, da sie ineinander übergehen. Mit der Verbesserung der optischen Geräte wurde das sichtbare Spektrum immer größer und die Parallelisierung von Farben und Tönen immer schwieriger. Diderot schrieb 1753 in der Encyclopédie einen Artikel zum clavecin oculaire und machte darauf aufmerksam, dass Farben im Unterschied zu Tönen keine Intervalle bilden. Nach Castels Tod ironisierte er das Instrument in seinem Stück Les Bijoux indiscrets, da es „nur den Zweck erfülle, die Zusammenstellung der Damengarderobe durch harmonische Akkorde zu unterstützen.“ Diderot zit. nach Jewanski (1995) S. 353. Vgl. Jewanski (2006a), S. 152f. 180 Bahr, Hermann (2008), S. 52. [Herv. i.O.]
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derlegt, da Licht sich niemals in Schall verwandle, wie es Helmholtz formulierte,181 so wurde das Synästhetische zum in der menschlichen Wahrnehmung verborgenen Transformationsmechanismus, der eine Gleichwertigkeit und Entsprechung von Grundfarben und Grundtönen garantierte und in dieser Weise zum Ausgangspunkt einer neuen, Musik und Malerei verbindenden Kunstform instrumentalisiert werden konnte. Das Synästhetische offerierte eine Gemeinsamkeit von Farbe und Ton, die wenn auch nicht auf physikalischem Wege beweisbar, dennoch auf irgendeine, bisher unbestimmte Art und Weise existiere. So dokumentierte der Wiener HalsNasen-Ohren-Arzt Viktor Urbantschitsch z.B. einen Zusammenhang von Farben und Tönen in der Form, dass Töne eine Farbempfindung modifizieren, indem hohe Töne die Klarheit des Farbenfeldes erhöhten, während tiefe Töne zu einem gesättigteren Farbenfeld führten.182 Richard Hennig wiederum schlug 1896 vor, die nicht hörbaren Obertöne als Auslöser der Photismen in den Blick zu nehmen, denn „je zahlreicher und lautere Obertöne ein akustischer Reiz enthält, umso intensiver und heller ist zumeist die begleitende Farbempfindung“183. Farbenhörer besäßen demnach die Fähigkeit, durch eine Miterregung leicht reizbarer Sehnerven die Obertöne visuell wahrzunehmen.184 Im Farbenhören als Vermögen, etwas bisher nicht Wahrnehmbares zu perzipieren, konzentrierten sich auf diese Weise physikalische, ästhetische und wahrnehmungstheoretische Fragen der Zeit, die dessen herausgehobene Stellung im Synästhesiediskurs der Zeit begründeten. Das Synästhetische stellte damit, vor dem Hintergrund einer defizitären Wahrnehmungserfahrung, die Herausbildung neuer spezieller Wahrnehmungsmechanismen für eine bislang unsichtbare und unhörbare Welt, die durch neue wissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen erahnbar wurde, als evolutionären Prozess in Aussicht, der bei Synästhetikern bereits stattgefunden hat. In diesem Kontext erschienen okkulte, spiritistische und paranormale Phänomene als mögliche Vorboten zukünftiger Wahrnehmungsfähigkeiten in einem neuen 181 Vgl. Argelander (1927), S. 82. Den schlagkräftigsten physikalischen Beweis erbrachte James Clark Maxwell im Jahr 1864 mit seiner Beschreibung der Natur des Lichtes als elektromagnetische, und nicht mechanische, Welle wie der Schall, womit er zeigte, dass völlig unterschiedliche Bezugssysteme vorliegen. 182 Vgl. Albertoni (1889), S. 345f. 183 Hennig (1896), S. 186. 184 Vgl. ebd., S. 185. Jegliche psychologische Ursache des Farbenhörens lehnte Hennig ab und hielt Photismen für Buchstaben, Zahlen, Worte usw. für reine Anschauungsbilder abstrakter Gegenstände, die er als Synopsie bezeichnete: „Synopsien im weiteren Sinne nennt man dagegen jede Verdeutlichung abstrakter Begriffe durch visuelle Anschauungsbilder; sie kommen ausschließlich auf rein psychischem Wege, durch Vorstellung, zu stande, werden aber durch Gewohnheit gleichfalls zwangsmässig und unerlässlich zur vollen Erfassung und Verdeutlichung des Begriffs.“ Hennig (1904), S. 58.
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Licht. Okkulte Lehren, die um 1900 großen Zuspruch erfuhren, stilisierten die Synästhetiker und Farbenhörer zu Sehern einer unsichtbaren, in sich bedeutungsvoll zusammenhängenden Welt.185 Gaben sie die naturwissenschaftliche Unterscheidung von Außen und Innen, Reiz und Empfindung, auf, so basierten mystifizierende Deutungen des Synästhetischen dennoch ebenso wie physikalische Erklärungsversuche auf der Übersetzbarkeit und Transformation von Farbe und Ton, die jedoch in Konzepte einer Naturmagie, Alchemie oder Weltharmonie eingebettet waren, in denen der Mensch als Entsprechung des Makrokosmos gedacht wurde. Dies speiste wiederum neue Elemente in den Synästhesiediskurs ein und erweiterte dessen kulturhistorische Bezüge. So referierten okkulte Interpretationen des Farbenhörens auf eine Sphären- oder Weltharmonie, wie sie z.B. die Pythagoräer als Entsprechung der musikalischen Oktave mit einer Harmonie des Weltalls und der Ordnung der Gestirne ausformuliert hatten, wodurch wiederum auch die Idee einer Farbenmusik mystisch unterlegt und gestützt wurde. Basierte die Harmonie der Sphären auf einer in Zahlen ausgedrückten kosmischen Weltordnung, die sich in der Musik widerspiegelte, so notierte auch Johannes Kepler 1619 in seinen Harmonices Mundi die regelmäßigen Verhältnisse der Planetenentfernung in Oktaven, anstatt sie mathematisch zu beschreiben. Die Korrespondenz von Visuellem und Akustischem war bei ihm Ausdruck der göttlichen Ordnung, die Musik das mikrokosmische Ebenbild der himmlischen Töne.186 Entsprach diese Verknüpfung des Musikalischen mit einer Harmonie des Kosmos, die ihm einen besonderen metaphysischen Status verlieh, dem künstlerischen Diskurs um 1900, so verkörperte das Farbenhören in diesem Kontext ein durch Analogien strukturiertes Weltganzes.187 So avancierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch der deutsche Jesuit Athanasius Kircher, einer der bedeutendsten Gelehrten der Barockzeit, der in seinem Hauptwerk Musurgia Universalis von 1650 im Sinne einer Einheit von Welt und Kosmos Töne nicht nur mit Farben, sondern auch mit Mineralien, Pflanzen, Tieren und Leibesorganen in Verbindung brachte, zum ,Universal-Synästhetiker‘188 und wurde in eine Geschichte der Synästhesie integriert. Bewegungen wie die Theosophie interpretierten das Synästhetische als Beweis für die Existenz einer „astralen Welt“, wie es deren Protagonistin Helena Blavatsky, Mitbegründerin der Theosophischen Gesellschaft im Jahr 1875, in ihrer Geheimlehre von 1888 kundgab: „Die jetzt in der Wissenschaft aufgeworfene Frage, ob ein Ton im Stande ist, zu seinen natürlichen Schalleindrücken auch solche von Licht und Farbe hervorzurufen, ist von der Okkulten Wissenschaft schon vor Zeitaltern beantwortet worden. Jeder Anstoss oder jede Schwingung 185 Vgl. Dann (1998), S. 46. 186 Vgl. Wanner-Meyer (1998), S. 21. 187 Vgl. ebd., S. 23. 188 Kienscherf (1996), S. 24.
108 | S YNÄSTHESIE ALS DISKURS eines physischen Gegenstandes, die eine gewisse Schwingung der Luft hervorruft, das heisst, den Zusammenstoss körperlicher Teilchen bewirkt, deren Ton im Stande ist, auf das Ohr einzuwirken, bewirkt zur selben Zeit einen entsprechenden Lichtblitz, der irgend eine besondere Farbe annehmen wird. Denn in dem Bereiche der verborgenen Kräfte ist ein hörbarer Ton nichts anderes als eine subjektive Farbe; und eine wahrnehmbare Farbe nichts anderes als ein unhörbarer Ton; beide gehen aus derselben potentiellen Substanz hervor, welche die Physiker Ether zu nennen pflegten, [...]; aber die wir den plastischen, wenn auch unsichtbaren RAUM nennen. [...] Das menschliche Nervensystem als ein Ganzes kann also als eine Aeolsharfe betrachtet werden, die dem Anstoss der Lebenskraft antwortet, [...] und die feinsten Schattierungen des individuellen Charakters in Farbenerscheinungen offenbart.“189
Der Mensch als Resonanzkörper ätherischer Schwingungen und Vibrationen könne, im Sinne Blavatskys, neben Erscheinungen der physischen Welt auch ihr Pendant in der astralen Welt als synästhetische Erscheinungen wahrnehmen, die damit zugleich deren Existenz bestätigten.190 Die Theosophie vereinte in ihrem Gedankensystem Wissenschaft und Religion, indem sie Natur in mehreren Ebenen dachte, und fand v.a. unter Künstlern eine zahl- und namhafte Anhängerschaft. Die materielle Welt mit ihren physikalisch beschreibbaren Gesetzen und Körpern werde demnach von weiteren, höheren Bewusstseinsebenen begleitet.191 Sensible Personen, Hellsichtige und Synästhetiker, könnten diese verborgenen Welten der Natur und der Körper als Auren wahrnehmen, in denen sich Gedanken und Gefühle in Farben und Formen manifestierten.192 Die Annahme einer „astralen Welt“ und deren Wahrnehmung mittels Synästhesien befand sich dabei in Einklang mit neu entdeckten, unsichtbaren Phänomenen wie den Röntgenstrahlen oder der Radioaktivität und psychischen Erscheinungen des Unbewussten. Zugleich antizipierte die theosophische Deutung des Synästhetischen auch Darwins Evolutionstheorie, indem sie es als Fortschritt der Wahrnehmung interpretierte, was wiederum auch auf dessen wissenschaftliche Beschreibung zurückwirkte. So glaubte der französische Psychologe Jules Millet unter Berufung auf den Okkultisten und Theosophen Franz Hartmann, dass Körper nicht nur Klang, sondern auch Licht mit höherer Wellenlänge produzieren, das nur von Synästhetikern als Menschen mit hoch entwickeltem Nervensystem wahrge189 Blavatsky zit. nach Kienscherf (1996), S. 113. [Herv. i.O.] 190 Vgl. Dann (1998), S. 52. 191 Insgesamt propagierte die Theosophie sieben Dimensionen menschlichen Seins, entsprechend der Organisation des Kosmos in sieben Ebenen: physisch, astral, mental, intuitional, spirituell, monadisch und göttlich. Der physische, ätherische und astrale Körper sowie der niedere Geist hätten sich in der Evolution bereits manifestiert, dagegen seien der höhere, der spirituelle und der universale Geist nur einer Handvoll Menschen zugänglich. Vgl. ebd., S. 52. 192 Vgl. Asendorf (1989), S. 152.
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nommen werden könne.193 Dabei sei es nur eine Frage der Zeit, bis alle Menschen die Vibrationen des Äthers sehen könnten.194 Als Schnittunkt physikalischer, physiologisch-psychologischer Forschung und theosophisch-mystischen Gedankenguts bildete das Synästhetische um 1900 dergestalt eine Projektionsfläche für vielgestaltige Umstrukturierungsprozesse der kulturellen Ordnung, die es zugleich provozierte und forcierte. Partizipierte das Synästhetische an zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen, Theorien und Modellen, von der Evolutionstheorie über physikalische Entdeckungen und physiologische Wahrnehmungstheorien bis hin zu neuen disziplinären Ansätzen, Paradigmen und Methoden der Psychologie, Parapsychologie oder den Geisteswissenschaften, so wurde es vor deren Hintergrund zwischen den Polen von normal und anormal konzeptualisiert. Als Ausdruck der Degeneration, des Unbewussten, des Übersinnlichen, der Sprachentwicklung oder des ästhetischen Empfindens erschien es als Element gesamtsinnlicher Wahrnehmungserfahrung, die je nach Perspektive fortschrittlich oder primitiv-atavistisch gewertet wurde. Gemeinsam war all diesen Ausdeutungen die Annahme eines verborgenen Mechanismus oder Wissens hinter den synästhetischen Erscheinungen, sei es auf der Ebene der Hirnphysiologie oder der phylo- und ontogenetischen Entwicklung. Waren bereits damals alle wesentlichen Eigenschaften und Formen des Phänomens bekannt, die in der aktuellen Forschung wieder diskutiert werden, so blieben seine Ursachen und seine Entstehung selbst ungeklärt und konnten durch keine der vorhandenen Annahmen und Theorien umfassend erklärt werden.195 Scheiterten Physiker und Theosophen an der subjektiven Ausprägung der synästhetischen Zuordnungen, die auch den psychologischen Beschreibungsversuch als Grundeigenschaft der Wahrnehmung in Frage stellten, so die Physiologen an dem Fehlen hirnanatomischer Abweichungen. In ihrer Betrachtung als rein subjektive Assoziation konnten die Psychologen zwar individuelle Einzelfälle erklären, standen aber damit in Widerspruch zu der offensichtlichen Vererbbarkeit der Synästhesien. So etablierten sich um die Jahrhundert193 Vgl. Millet (1892), S. 65. 194 Vgl. ebd. Der Äther war als Medium der Lichtwellen sowohl ein Konzept der Physik der Zeit als auch Element okkultisch-mystischer Systeme. Erst mit Einsteins Relativitätstheorie wurde er endgültig verworfen. 195 So fasste Georg Anschütz 1927 die Synästhesieforschung um 1900 in Kurze Einführung in die Farbe-Ton-Forschung mit den Worten zusammen: „Wenn man sich durch das ganze Labyrinth dieser unendlich verzweigten, verstreuten und in sich sehr unübersichtlichen Literatur von rund 650 Schriften hindurchgearbeitet hat [...], so könnte man fast zu der Überzeugung kommen, daß hier viel wertvolle Geistesarbeit vergeblich ausgeführt wurde. Denn sucht man in den Schriften nach irgendeinem greifbaren Ergebnis, womöglich nach einem einzigen Gesetz, so ist jede Bemühung vergeblich.“ Anschütz (1927b), S. 4.
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wende die verschiedenen Auffassungen und Theorien nebeneinander in einem Projektionsraum aus vielfältigen Spekulationen und Zuschreibungen. Für Künstler wiederum verkörperte das Synästhetische in dieser Form all das, wonach sie im Rahmen einer Neuformulierung der Ästhetik unter modernen Bedingungen suchten. So übte das Synästhetische einen großen Einfluss auf die Symbolisten oder Künstler wie Wassily Kandinsky und Alexander Skrjabin aus, die heute als Paradebeispiele synästhetisch veranlagter Künstler gelten. Manifestierten sich in den Synästhesien körperbasierte physiologische Gesetzmäßigkeiten, metaphysische Einheitsvisionen sowie eine vorsprachliche, nicht rationale Logik, so war die Kunst prädestiniert, diese besondere Erfahrung als Wahrnehmungspraxis zu instrumentalisieren und zu provozieren, um den Menschen in seinem ganzheitlichen Wesen zu erfassen und zu erneuern.
II.4 ÄSTHETISIERUNG DES S YNÄSTHETISCHEN . P HYSIOLOGISIERUNG DER K UNST Vom Moment seiner Entdeckung an bewegte sich das Synästhetische vor dem Hintergrund einer Umstrukturierung von kulturellen Ordnungs- und kollektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmustern in einem Bereich zwischen Wissenschaften, Pseudowissenschaften, okkulten Bewegungen und künstlerischen Strömungen, die sich gegenseitig beeinflussten.196 In dieser Perspektive entpuppte sich das Synästhetische als neue künstlerische Strategie der Moderne, die erst gemeinsam mit der wissenschaftlich-physiologischen Fundierung der Wahrnehmung Sinn ergab. Insofern waren Wahrnehmungsforschung und synästhetisch-künstlerische Praktiken direkt aufeinander bezogen und miteinander verschränkt.197 Lieferten die physiologisch-psychologischen Erklärungsversuche eine Verankerung des Synästhetischen in der Psyche des Subjekts und den körperlich fundierten Nervenprozessen, so stimulierten deren Unvollkommenheit und die offen bleibenden Fragen seine
196 So schrieb z.B. Marinescu: „Ce sont les artistes et les poètes qui semblent, les premiers, avoir observé ces phénomènes.“ Marinescu (1912), S. 385. Und der Physiologe Daubresse bewertete das Phänomen als Modeerscheinung in bestimmten Kreisen von Komponisten und Literaten, die bei der Aufklärung pathologischer Fälle hilfreich sein könnten, da sie sich in normale und krankhafte Zustände der Seele einfühlen könnten. Vgl. Daubresse (1900), S. 305. 197 So formuliert Jewanski: „Die Bedeutung der Synästhesie für die [...] Kunst im 20. Jahrhundert liegt also weniger in den durch sie ausgelösten inneren Bildern und ihre mögliche Umsetzung in Kunst, sondern eher in ihrer Funktion als Katalysator und Vermittler zwischen den Künsten und den Wissenschaften [...].“ Jewanski (2006a), S. 209.
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Mystifizierung, Besetzung und künstlerische Ausformung als verborgenes System von Entsprechungen. Die Mehrdeutigkeit des Synästhetischen am Ende des 19. Jahrhunderts war nicht nur Ausdruck einer Krise der Naturwissenschaften, die mehr und mehr sicht- und unsichtbare Phänomene nicht mehr beschreiben konnte, sondern fügte sich, zwischen Genie und Wahnsinn schwankend, thematisch in den Zeithorizont der 1880er Jahre, als in den französischen Salons Richard Wagners Gesamtkunstwerk, das Unbewusste oder Charcots öffentliche Vorführungen der Hysterikerinnen diskutiert wurden.198 Als Infragestellung und v.a. Neufassung überkommener Einteilungen und Hierarchisierungen der Kultur, die aus einer sich als unzureichend erweisenden, dualistischen Setzung von Körper und Geist, Subjekt und Objekt resultierten, erarbeiteten und forcierten künstlerische Strömungen des Symbolismus und der Décadence, die in Abkehr vom Naturalismus subjektive, innere (Wahrnehmungs-)Welten und eine gesteigerte Sensibilität propagierten, das Synästhetische als ästhetische und künstlerische Praxis. Arthur Rimbauds Sonett Voyelles von 1883, in dem er die Vokale in Farben tauchte, avancierte zu einem Sinnbild, das nicht nur Künstlerkreise, sondern vielfach Physiologen und Psychologen zitierten, und hatte großen Anteil an einer Popularisierung des Farbenhörens.199 So druckte Jules Millets Rimbauds Sonett auf den Frontdeckel seines Buches L’audition colorée von 1892, bezeichnete es als „a powerful agent of the popularization of color hearing in France“200 und erhob Rimbaud und die ,Dekadenten‘ in den Status hypersensitiver Künstler, die Empfindungen übersetzen.201 Etwa zeitgleich beschwor der 1882 als Philosophieprofessor nach Berlin berufene Wilhelm Dilthey eine neue Art der Erfahrungswissenschaft, in der das ,Erleben‘ als unmittelbar bedeutsamer Zusammenhang zur zentralen Kategorie erhoben wurde.202 Sich einreihend in den Kreis der Lebensphilosophie um Henri Bergson in Frankreich, die das Leben in seiner Ganzheitlichkeit zu erfassen suchte, zielte Dilthey, ausgehend von den „unmittelbaren Gegebenheit[en] der Seelentatsachen in der inneren Wahr198 Vgl. Dann (1998), S. 25. 199 Flournoy zufolge konnte das Farbenhören nur durch die Kombination von dekadenter Literatur und psychologischen Berichten so bekannt werden: „It goes without saying that for many people the works of Messieurs Rimbaud, Mallarmé, Verlaine and their friends has served as their initiation into the mysteries of color hearing.“ Flournoy zit. nach Dann (1998), S. 30. 200 Millet zit. nach Dann (1998), S. 29. 201 Vgl. Dann (1998), S. 28. 202 „In dem neunzehnten Jahrhundert entstand ein neues Band zwischen dem ärztlichen Beruf und dem philosophischen Denken, indem sich die Psychologie an der Hand der Physiologie zu einer Erfahrungswissenschaft entwickelte. Sie ist dem Arzte unentbehrlich, nicht nur als eine Hilfsdisziplin der Psychiatrie, sondern auch als eine Ergänzung seines auf körperliche Vorgänge eingeschränkten Studiums.“ Dilthey (1886), S. 5.
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nehmung“203 in ihrer Wechselwirkung mit der Außenwelt, auf eine neue Betrachtung von Erscheinungen des gesunden und kranken Seelenlebens bis hin zu den Leistungen des Genies.204 Gegen eine positivistische Wissenschaftsauffassung gerichtet, die das Innenleben in Analogie zu mechanisch-kausalen Naturgesetzen zu beschreiben versuchte, entwickelte Dilthey die Geisteswissenschaft und führte als deren spezifische Methodik das ,Verstehen‘ als hermeneutische Operation ein.205 In Betonung der psychophysischen Existenz des Menschen begründete Dilthey eine Beziehung von Außen- und Innenwelt, die „eine mächtige Wurzel von Mythos, von Metaphysik, vor allem aber von Poesie“ sei und deren „kernhafte Idealität“ die „Symbolisierung eines ergreifenden inneren Zustandes durch Aussenbilder“ und die „Belebung äusserer Wirklichkeit durch einen hineingesehenen inneren Zustand“206 darstelle. Die Einbildungskraft des Dichters als höchste Leistung des Seelenlebens verstehend, sei das dichterische Genie deshalb „keine pathologische Erscheinung, sondern der gesunde, vollkommene Mensch“207. In der Auflösung der Gleichsetzung von Genie und Wahnsinn, die eine Psychiatrie, Physiologie und Anthropologie à la Nordau und Lombroso vertrat, rehabilitierte Dilthey die als entartet bewerteten Künstler und neuen künstlerischen Strömungen im Rahmen einer psychologischen Produktionsästhetik. Zwar konstatierte er eine Verwandtschaft dichterischen Schaffens mit Halluzinationen und Wahnsinn, der Dichter sei jedoch in der Lage, seine lebhaften inneren Bilder als Symbolisierungen des Seelenlebens nach außen zu bringen.208 Als Kunst hob Dilthey die Imaginationsfähigkeit und die Schaffung artifizieller Welten hervor und unterstützte in dieser Weise die Ausdeutung des Synästhetischen als ästhetisches Konzept, das, verankert in der sinnlichkörperlichen Erfahrung dem Ausdruck eines inneren Zustandes diene. Als Fähigkeit des Künstlers, verborgene Zusammenhänge zwischen den Dingen wahrnehmen und vermitteln zu können, die als Elemente des Unbewussten und Präsemantischen in der leiblichen Existenz gründeten, verherrlichte z.B. Millet im Sinne Diltheys das Farbenhören als „a true progress in the perfection of our senses“ und als „a new sensation that we have begun to perceive, a real property of the sense organs“209, das durch die symbolistische Literatur im Stile Rimbauds trainiert und befördert werde.210 In einer Umdeutung pathologischer und atavistischer Ansätze eröffnete 203 Dilthey zit. nach Siegert (1999), S. 164. 204 Vgl. Dilthey (1886), S. 6. 205 „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ Dilthey zit. nach Siegert (1999), S. 165. 206 Dilthey (1886), S. 25. 207 Ebd., S. 13. 208 Vgl. ebd., S. 19. 209 Millet zit. nach Dann (1998), S. 29. 210 Vgl. Dann (1998), S. 29.
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das Synästhetische Zugänge zu zivilisationsgeschichtlich tief liegenden und für ursprünglich gehaltenen Schichten des Menschseins. Im Zuge einer „Anthropologisierung des Wissens“211 konnte es dergestalt zur besonderen Gabe und zum Teil einer symbolistischen Poetik der Imagination aufsteigen.212 So näherte sich Victor Segalen mit seinem Aufsatz Les Synesthésies et l’Ecole Symboliste 1902 als erster der Synästhesie als künstlerische Stilfigur, die v.a. eine Intensivierung der Rezeption durch Originalität und den Reiz der Exotik bewirke.213 Aus der Kopplung des Synästhetischen mit der künstlerischen Psyche entstand in der Folge eine Gleichsetzung des Gebrauchs synästhetischer Figuren mit einem ebensolchen Empfinden des Autors, das Aufschlüsse über dessen Psyche und den Prozess künstlerischen Schaffens überhaupt versprach.214 Es erschien eine Flut von Texten, die sich darum bemühten, sprachliche Synästhesien in den Werken verschiedenster Dichter aufzufinden, wobei sich psychologische und stilistisch-künstlerische Fragen mischten.215 Diese Gleichsetzung der künstlerischen Umsetzung mit tatsächlich durch den Künstler wahrgenommenen synästhetischen Erscheinungen prägt den Synästhesie211 Siegert (1999), S. 163. 212 So merkte Max Dessoir an: „Dass neben den Künstlern auch Irrsinnige, Kinder, Primitive und Dekadente […] diesen synästhetischen Sichtgebilden besonders unterworfen sind, beweist aber auch, dass dieser Zustand an sich noch nicht schöpferisch ist. Schöpferisch ist nur der Künstler, also derjenige, der sich für eine einzige der lockenden Kunstformen entschieden hat.“ Dessoir zit. nach Wais (1992), S. 42. 213 „Le Trope ‘synesthésie-figure’ peut se définir : manière de parler plus vive, destiné soit à rendre sensible l’idée au moyen d’une image, d’une comparison, soit à frapper davantage l’attention par sa justesse ou son originalité.“ Segalen zit. nach Paetzold (2003), S. 848. 214 Ottokar Fischer argumentierte so 1907 in seinem Aufsatz Über Verbindungen von Farbe und Klang. Eine literarpsychologische Untersuchung: „Welchen Einfluß mögen doch diese für gewöhnlich sowohl von Ästhetik als Stilistik unbeachtet gebliebenen Erscheinungen beim Entstehen eines Bildes, beim Zustandekommen einer Metapher, bei der Anwendung eines Wortes in ‚übertragenem’ Sinne haben! Und umgekehrt, wie interessant kann auch für die Psychologie die Zergliederung einer Dichtersprache und die Zurückführung von Bildern auf seelische Elemente werden.“ Fischer, Ottokar (1907), S. 526. 215 In diese Richtung zielten z.B. die Versuche des Philosophen und Psychologen Karl Groos, der statistische Untersuchungen namhafter Werke von Goethe, Schiller und Shakespeare im Hinblick auf akustische und visuelle Daten durchführte, indem er die Anzahl von Wörtern für die jeweilige Sinnesqualität ermittelte und hoffte, daraus Aufschlüsse über die Psyche des Autors und seine Wahrnehmungswelt zu erzielen. Vgl. Groos (1912). Andere Beispiele sind Dromard (1908), Fischer, Ottokar (1909), Fleischer (1911), Menz (1915), Steinert (1910).
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diskurs bis heute und so wird einigen Künstlern wie z.B. auch Rimbaud immer wieder nachgesagt, Synästhetiker gewesen zu sein. Dabei basierte die Entstehung von Rimbauds Sonett in keiner Weise auf einer von Rimbaud selbst empfundenen Synästhesie, wie Dann nachweist, sondern vielmehr auf Rimbauds Kenntnis der medizinischen Literatur seiner Zeit über das Farbenhören, die er mit mystischen Visionen und seiner Dichtungstheorie verlinkte.216 Hatte Rimbaud mit der Paarung von Farbe und dem Klang der Vokale lediglich ein stilistisches Mittel des französischen Symbolismus formuliert, so avancierte das Synästhetische zu einem Verhandlungsort der Kultur und der Wahrnehmungserfahrungen der Moderne. Ging es Rimbaud und den Symbolisten vordergründig um die Etablierung eines autonomen Kunstwerks und eine sprachlich-imaginative Entgrenzung der Sinne, so wurden sie im Kontext der Synästhesieforschung sowohl als Beweismittel einer pathologischen Erscheinung als auch als propagandistisches Instrument einer Erweiterung der Sinneswahrnehmung vereinnahmt. Gleiches widerfuhr Baudelaires Gedicht Correspondances von 1857, das bis heute im Zusammenhang mit der Synästhesie zitiert wird. Baudelaire verfasste das Gedicht als Reminiszenz an die Entsprechungslehre des Mystikers und Theosophen Emanuel Swedenborg, die eine Reformulierung mittelalterlicher Alchemie auf Basis des okkulten Prinzips der Analogie von Mikround Makrokosmos darstellte.217 Erst das wachsende Interesse am Synästhetischen brachte Correspondances damit in Verbindung, das in seiner Popularität Rimbauds Voyelles übertraf.218 Im Verbund mit Correspondances erhielt das Synästhetische in der Folge eine neue Qualität im künstlerischen Diskurs. Klang bei Rimbaud das synästhetische Element eher stilistisch-spielerisch an, so wandelte es sich mit Baudelaires Gedicht, untermauert von mystisch-theosophischen Ausdeutungen, zum attraktiven Symbol einer modernen Sehnsucht nach Einheit, zur Brücke zwischen einer materiellen und einer spirituellen Welt.219 Die sprachlichen Synästhesien und metaphorischen Sinnesentsprechungen der Dichter dienten dabei nicht nur als konkreter Beweis für die Existenz des Phänomens. Ihre Verständlichkeit für alle Menschen erbrachte gleichzeitig den Nachweis der Universalität dieser Wahrnehmungsform, die nicht den verstandesmäßigen Gesetzmäßigkeiten der Sprache zu folgen schien. So beschrieb z.B. der Architekt und Zeichner Charles Rossigneux in Essai sur l’Audition Colorée et sa Valeur Esthétique das Farbenhören als einen wesentlichen und beständigen Faktor des Sprachempfindens, dessen ästhetischer Wert sich 216 Vgl. Dann (1998), S. 23f. 217 Vgl. ebd., S. 37ff. 218 Diese Verbindung wurde von dem Symbolisten Ernest Raynaud in der symbolistischen Zeitschrift Le Décadent hergestellt und 1888 von dem Physiologen Charles Féré aufgegriffen. Ab etwa 1890 war die Verbindung des Gedichtes zur Synästhesie Gemeinplatz. Vgl. Dann (1998), S. 39. 219 Vgl. ebd., S. 41f.
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als poetischer Eindruck in Klang, Farbe und Rhythmus verwirkliche.220 Die Konzeptualisierung des Synästhetischen um 1900 fügte sich in eine Krise der Kommunikation, die sich auf ästhetischer Ebene in einer Abwendung von der logischgedanklichen Verwendung der Sprache und einer Kritik an der Schriftkultur äußerte, wie sie in Hugo von Hofmannsthals berühmtem Chandos-Brief von 1902 zum Ausdruck kam.221 Traten die sinnlichen Klangqualitäten der Sprache in den Vordergrund, so erweckten die Synästhesien in ihrem alogischen, präsemantischen Charakter und ihrem gehäuften Auftauchen bei ,Primitiven‘, und Kindern den Eindruck, Element präverbaler Kommunikation und Teil einer sich über die körperlich-sinnliche Erfahrung vollziehenden Sprachentwicklung zu sein. Auch Rossigneux fand demgemäß die sinnliche Färbung am deutlichsten in primitiven Sprachen und Volksdichtungen.222 Kein Zufall war es deshalb, dass bei der Suche der Psychologen und Literaturwissenschaftler nach Synästhesien in dichterischen Werken besonders die Romantik und ihre Sehnsucht nach einer Sprache, die sich dem Wesen der Dinge wieder anschmiege, ins Blickfeld rückte und z.B. E.T.A. Hoffmann oder Ludwig Tieck zu potenziellen Synästhetikern ernannt wurden.223 Bezogen sich bereits die Symbolisten, insbesondere Charles Baudelaire, in ihrem widersprüchlichen Verhältnis zur Wirklichkeit auf die Romantik und führten den dort angelegten Diskurs einer Verfallsgeschichte der Kultur und einer Flucht in imaginative Räume unter modernen industriellen Bedingungen fort, so aktualisierten sie die romantische Kunsttheorie 220 Vgl. Alter (1906), S. 228. 221 Mit Formulierungen wie „Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“ oder „[...] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, [...], zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze“ und „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen“ bebilderte Hoffmannsthal 1902 prägnant die Sprachkrise. Hoffmannsthal (1987), S. 248. 222 Vgl. Alter (1906), S. 228. 223 Aus Tiecks Über Farben von 1799 zitierte Ottokar Fischer: „[...] die lieblichste Freundschaft und Liebe schlingt sich in glänzenden Fesseln um alle Gestalten, Farben und Töne unzertrennlich. Eins zieht das andere magnetisch und unwiderstehlich an sich. Die menschliche Kunst trennt Skulptur, Malerei und Musik, jede besteht für sich, und wandelt ihren Weg. Aber immer ist es mir vorgekommen, als wenn die Musik für sich in einer abgeschlossenen Welt leben könnte, nicht aber so die Malerei: zu jeder schönen Darstellung mit Farben gibt es gewiß ein verbrüdertes Tonstück, das mit dem Gemälde gemeinschaftlich nur eine Seele hat. Wenn dann die Melodie erklingt, so zucken gewiß noch neue Lebensstrahlen in dem Bilde auf, eine gewaltigere Kunst spricht uns aus der Leinwand an, und Ton und Linie und Farbe dringen ineinander und vermischen sich mit inbrünstiger Freundschaft in eins.[...].“ Tieck zit. nach Fischer, Ottokar (1907), S. 520.
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aus der Perspektive des Synästhetischen. Sowohl wissenschaftliche Synästhesieforschung wie symbolistische Poetik reanimierten romantische Ideen und speisten sie in den Synästhesiediskurs ein. Vergleiche zwischen Malerei und Dichtung und im Weiteren der ästhetische Diskurs einer Verwandtschaft aller Künste fanden auf diese Weise rückwirkend Eingang in eine Geschichte des Synästhetischen und verknüpften sich mit ihm, so dass die Romantik bis heute als Brutstätte künstlerischsynästhetischer Entwürfe deklariert wird, die jedoch eigentlich erst die Symbolisten in Auseinandersetzung mit dem medizinisch-physiologischen Beschreibungen der audition colorée ausarbeiteten. Aber nicht nur der Bezug zur Romantik wurde im Rahmen einer Konzeptualisierung des Synästhetischen am Ende des 19. Jahrhunderts hergestellt. Auch der Zusammenhang mit dem Entwurf einer Einheit der Künste als Einheit der Sinne, wie er von Richard Wagner im Gesamtkunstwerk projektiert wurde, den die symbolistischen Poeten Frankreichs von Baudelaire über Rimbaud bis hin zu Mallarmé rezipierten, war Ergebnis einer nachträglichen Zuschreibung. Unter dem Schlagwort Synästhesie verknüpften die Symbolisten romantische Einheitsutopien mit einer auf modernen physiologischen Prinzipien, sinnlich-körperlich ausgerichteten Wirkungsästhetik. Diese Verbindung verwirklichte sich vollends auf dem Theater entfaltete sich zum entscheidenden Antrieb einer Theater- und Bühnenreform. Propagierten die Symbolisten das Synästhetische zunächst nur als literarisches Mittel und hatten ein zwiespältiges Verhältnis zur Bühne, da das Stoffliche, Körperliche der Bühne sich dem Immateriellen, Transzendenten widersetzte, so entwickelte sich, Guido Hiß folgend, in Absetzung vom Naturalismus eine symbolistische Theatertheorie als Korrespondenzästhetik.224 Nach den Funktionen und Wirkungsweisen von Kunst, nach Referenzen, Abbildkonventionen und dem Status von Realität und Leben fragend, hatte das Synästhetische als physiologisch basierte Entsprechungslehre der Sinne und Künste einen entscheidenden Anteil an einer Neuformulierung des Theaters jenseits des sprachlich-literarischen Dramas.225 Aus den poetischen Wurzeln in Baudelaires Correspondances und den Experimenten Maurice Mæterlincks und Stéphane Mallarmés am Théâtre d’Art und am Théâtre de l’Œuvre zu Paris erwuchs das Verständnis eines synästhetisch-synthetischen Theaters, das prädestiniert war, im Sinne einer metaphysischen
224 Vgl. Hiß (2005), S. 89. Der Naturalismus muss jedoch als wesentlicher Teil der Theaterreform betrachtet werden. Verschärfte er eine Vorstellung von Theater als realitätsgetreue Abbildung der Realität und setzte sie inhaltlich-thematisch, bühnenbildnerisch und schauspieltechnisch um, so diente er als Kontrastmittel für Theaterentwürfe, die jenseits des literarischen Dramas und einer Nachahmung der Natur nach den spezifisch theatralen Qualitäten und Möglichkeiten suchten. 225 Vgl. ebd., S. 121.
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Anstalt kultisch rückbesetzt zu werden.226 Daraus entstand, so Hiß, ein abstraktes Bilder- und Bewegungsspiel als Theater des Inneren, des Unbewussten, des Traumes, das bei der Bildfunktion der Sprache ansetzte und das Symbolische mit der Materialität der Körper konfrontierte.227 Wesentlichen Einfluss auf die Herausbildung dieser neuen Idee von Theater hatte dabei Friedrich Nietzsche mit seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik von 1872, die zugleich eine Auseinandersetzung mit Wagners Gesamtkunstwerk präsentierte. Wie Wagner war Nietzsche fasziniert von der griechischen Antike, schilderte sie jedoch nicht als goldenes Zeitalter, sondern extrahierte zwei gegensätzliche Pole im Weltbild der Griechen: das Dionysische als Element der Natur, des Rauschhaften und Kollektiven und das Apollinische als das Subjektive, die gestaltende und formende Kraft. Nietzsche projizierte dergestalt die Widersprüche und Zerrissenheit des modernen Menschen in die Antike und nutzte die griechische Tragödie als Modell für die Überwindung der Gegensätze von Subjekt und Objekt, Individuum und Kollektiv, Gefühl und Verstand in der Moderne. In der griechischen Tragödie, aus dem dionysischen Kult entsprungen, sei es gelungen, die sich widerstrebenden Kräfte zu vereinen und zu überwinden, indem Musik und Tanz, hervorgegangen aus rituellen Chortänzen und Kultliedern, das natur- und körperbetonte Dionysische und Rauschhafte verkörperten und sich mit der Sprache als Sphäre Apolls, dem Gott der Rationalität, verbanden. Anhand dieses Modells übte Nietzsche v.a. eine moderne Kritik an der Sprache, die die Verbindung zum Mythos verloren habe und verleugne, während die Musik noch auf ihre mythischen Ursprünge verweise.228 Dieser Vorwurf spielte letztlich auf die fehlende Bindung 226 So inszenierten z.B. Paul Verlaine, Jean Moréas, Henri de Régnier, Charles Morice, Paul Fort und Aurelien Lugné-Poë Le Théâtre d’Art als Instrument der Wesensschau, als „magische[n] Empfänger und Verstärker der inneren Übereinklänge aller Dinge“, und versuchten 1891, eine Partitur aus Worten, Farben, Musik und Düften auf Basis des Hoheliedes Salomos umzusetzen. Paul Fort schrieb: „Gemäß den berühmten Versen von Baudelaire […] wollten wir an jenem Abend ein umfassendes Angebot für alle Sinne gleichzeitig anbieten. Nehmen wir z.B. die Orchestrierung der ersten Szene. Jedes i wird blau, jedes o weiß beleuchtet, Musik in Dur, als Duft Weihrauch. Und so weiter. Die Lichtprojektionen wechselten ihren Grundton ständig, passten sich den Intensitäten der jeweiligen Szene rhythmisch an. Dazu wurden alle nur denkbaren Düfte produziert. Von den höher gelegenen Logen aus drückten Dichter und Maschinisten mit äußerstem Einsatz auf Zerstäuber, die duftende Wellen in den Saal entließen.“ Zit. nach Hiß (2005), S. 116. Diese Aufführung erwähnte auch Jean Clavière in L’audition colorée. Vgl. Clavière (1898), S. 165. 227 Vgl. Hiß (2005), S. 95ff. 228 „Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Her-
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der Sprache an ihre körperlich-physiologischen Entstehungsbedingungen an, die, nach Nietzsche, ihre Erkenntnisfunktion begründen und die er als mythische Einheit von Körper und Geist inszenierte. Greifbar wird das in Nietzsches Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn von 1873. Darin entwarf er Sprache als Metapher, die ursprünglich von körperlichen Nervenreizen herrühre, wobei zwischen dem Ding an sich und dem Begriff kein kausales Verhältnis bestehe.229 Im Sinne einer Illusion erhöben sich jedoch die Metaphern und Begriffe zu den Dingen selbst, ein Prozess, der sich auch am eigenen Körper ereigne, der, durch Begriffe verstellt, gar nicht mehr wahrgenommen werden könne.230 Die Wissenschaft wiederum ordne die Begriffe und formuliere daraus Naturgesetze, die den Eindruck allgemeingültiger Mechanismen und Prinzipien hervorrufen, tatsächlich aber nur auf sich selbst verweisen und nicht auf die Natur an sich: „Dagegen ist einmal zu sagen: hätten wir noch, jeder für sich, eine verschiedenartige Sinnesempfindung, könnten wir selbst bald nur als Vogel, bald als Wurm, bald als Pflanze perzipieren oder sähe der eine von uns denselben Reiz als rot, der andere als blau, hörte ein dritter ihn sogar als Ton, so würde niemand von einer solchen Gesetzmäßigkeit der Natur reden, sondern sie nur als ein höchst subjektives Gebilde begreifen.“231
Wahrnehmung sei, nach Nietzsche, ein individueller, subjektiver Prozess, der durch seine Transformation in Systeme wie Sprache oder Wissenschaft kulturell und gezen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisiert, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. [...] daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, [...].“ Nietzsche (1993), S. 45. 229 „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten! [...] Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue. [...] Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.“ Nietzsche (2000), S. 13f. 230 „[...] die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, [...]. Nietzsche (2000), S. 16. Und weiter: „Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! [...] Verschweigt die Natur ihm nicht das allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluß der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschließen!“ Ebd., S. 11. 231 Ebd., S. 21.
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sellschaftlich bedingten Konventionen unterliege, die zwar ein Sprechen über die Dinge ermöglichen, mit ihnen selbst aber nichts mehr zu tun hätten. Auf Grund dessen erübrige sich die Frage nach richtiger und falscher, normaler und anormaler Wahrnehmung, so Nietzsche, wie sie die Physiologie der Zeit auch in Bezug auf die Synästhesie stellte: „Überhaupt aber scheint mir die richtige Perception – das würde heißen der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt – ein widerspruchsvolles Unding: denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt gibt es keine Causalität, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache. Wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittlkraft bedarf.“232
Für Nietzsche war der Mensch letztlich ein „gewaltiges Baugenie“233, das sich aus den Nervenreizungen in der Wahrnehmung eine Welt erschafft und diese für etwas ihm Äußerliches, Objektives hält. Insofern erscheinen die Synästhesien mit den Augen Nietzsches als durchaus mögliches Phänomen subjektiver, vorsprachlicher Wahrnehmungswelt, das in kulturell ausgehandelten Sprach- und Kommunikationsnormen verschwindet.234 Ihr Auftauchen im kulturellen Diskurs war so gesehen Ausdruck einer Neubewertung subjektiver Wahrnehmungsprozesse und begründete in demselben Maße ihre Affinität zur Kunst der Zeit. Denn, so Nietzsche, einzig die Kunst könne sich dem Prozess der Verallgemeinerung und Objektivierung subjektiver Wahrnehmungserfahrung entziehen, indem sie durch einen direkten Zugang zur körperlich-sinnlichen Ebene der Wahrnehmung in Form einer Wirkung auf die Sinnesorgane den Prozess der Metaphernbildung offenlege und mit einer permanenten Neubesetzung und Neuproduktion neue Übertragungen und Metonymien bereitstelle.235 Die Kunst sei damit nicht frei von Illusionen, stelle sie aber als solche dar. In diesem Kontext stieg die Musik zur idealen Kunstform auf, deren Generierung aus semantisch unbesetzten Tönen und Rhythmen, die direkte Nervenreize hervorrufen und erst in der Wirkung über den Körper, Bedeutung, Bilder und Gefühle im Sub232 Ebd., S. 19f. 233 Ebd., S. 18. 234 Besonders die Zeilen „oder sähe der eine von uns denselben Reiz als rot, der andere als blau, hörte ein dritter ihn sogar als Ton“ aus obigem Zitat werfen die Frage auf, ob Nietzsche das Phänomen der Synästhesie kannte. Tatsächlich taucht Nietzsche erst seit ein paar Jahren in der Synästhesieforschung auf. Ein Grund dafür könnte sein, dass Nietzsche mit der Synästhesie v.a. unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten zusammengebracht werden kann, was eher ein Thema der aktuellen Synästhesieforschung ist. Vgl Kofman (1993), Behler (1993), Cazeaux (1999), Babette (2006). 235 Vgl. Nietzsche (2000), S. 24.
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jekt entfalten und produzieren.236 Konnte die Lebenserfahrung der Moderne mit Sprache nicht mehr adäquat wiedergegeben werden, so formte sich die Musik in ihrer Eigenschaft, nicht-begriffliche, nicht logisch-rationale Inhalte, Gedanken und Gefühle zu erzeugen und auszudrücken, zum Ausgangspunkt einer neuen, auf sinnlichem Material und körperlichen Empfindungen basierenden Kunst. Bereits in der romantischen Musikalisierung der Dichtung als universell verständlich zur Ursprache der Menschheit und zum Modell der Kunst überhaupt erhoben,237 gesellte sich zur Musik, vermittelt über Wagner und Nietzsche, das körperlich-physische Element in Form einer Rückführung ihrer Wirkung auf physiologisch determinierte Sinnes- und Nervenreize in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinzu. Das Theater fungierte in dieser Konstellation als Modell einer Zusammenführung verschiedensinnlicher Elemente und garantierte, mittels präsenter Körper auf der Bühne und im Publikum, die massenwirksame, direkte Wirkung auf die Nerven und unmittelbare physische Stimulanz. Aus dem Geist der Musik als Gesamtkunstwerk neu entworfen, bildete das Theater auf diese Weise ein Instrument kollektiver Überwältigung, an das sich eine soziale Utopie der archaischen, nicht rational-verstandesmäßig organisierten Gemeinschaftsbildung anschließen ließ. Inspiriert von den Schriften Wagners und Nietzsches, endeckten die Symbolisten und in der Folge die Theaterreformer von Craig über die Tanzavantgarden bis ins Bauhaus die Materialität des Körpers und der Bühne in ihrer physiologischen und medienspezifischen Wirkung als Auslöser induzierter Nervenreaktionen und multimedialer Verstärkungseffekte.238 Die Musik konkretisierte sich in einer Bilder- und Sprachwelt, wobei sich die Synästhesien als physiologischer Übersetzungsmechanismus zwischen den Sinnen besonders geeignet erwiesen. Glorifiziert als utopische Einheitsvision, verkörperte das Synästhetische um 1900 ein revolutionäres Rezeptionsmodell, dessen Ziel die Intensivierung der Wahrnehmung und des sinnlich-körperlichen Erfahrens war. Analog zum technisch-medialen Modell eines Senders und Empfängers, wie es die neuen Kommunikationstechniken des Telefons und der Telegrafie realisierten, bildete sich die Auffassung heraus, dass bei der Schöpfung von Kunstwerken synästhetische Prozesse stattfinden, die sich beim Hören und Betrachten derselben in quasi umgekehrter Form unbewusst im Rezipienten vollziehen.239 236 So formulierte Nietzsche in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik: „Hiermit haben wir das einzig mögliche Verhältnis zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: Das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich.“ Nietzsche (1993), S. 43. 237 Vgl. Hiß (2005), S. 10. 238 Vgl. Bitsch (2008), Hiß (2005), S. 92. 239 So beschrieb der bei einem Laborunfall erblindete Mathematiker Christoph Ruths 1898 in Experimentaluntersuchungen über Musikphantome: „Bei der Entstehung, der Wiedergabe und der Aufnahme von Tonwerken sind nicht bloß die Gehörsphären in Tätig-
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In diesem Sinne erwies sich das Synästhetische, so 1909 die Psychologin Lillien Jane Martin, als „wesentlicher Faktor für das innere Miterleben“ und „von vitaler Bedeutung in all unserem Denken“240 und war einer naturalistisch-illusionistischen Einfühlungsästhetik diametral entgegengesetzt. Die synästhetische Korrespondenzästhetik beförderte neue Entwürfe des Theaters und verlieh diesen zugleich eine metaphysische Dimension, in dem sie als Vision einer höheren Ordnung und Vergegenwärtigung des Transzendenten vereinnahmt werden konnte.241 Das Synästhetische war folglich um die Jahrhundertwende weit mehr als eine seltene psychologische oder physiologische Anomalie und absorbierte wesentliche kulturelle und wissenschaftliche Debatten der Moderne. Als künstlerisches Konzept agierte das Synästhetische dabei zwischen physiologischen, psychologischen und mystischen Deutungen und verschränkte diese anthropologisch miteinander.
II.5 P ROJEKTIONEN : V ON DER ROMANTISCHEN E INHEITSVISION ZUR Ü BERWÄLTIGUNG DER S INNE Im Synästhetischen trafen um 1900 nicht nur verschiedene wahrnehmungstheoretische und wissenschaftliche Ansätze aufeinander. Als künstlerische Praxis implizierte es ebenso unterschiedliche ästhetische Strategien, die bis heute zu einer Verwirrung um den Begriff, aber auch zu seiner Anschlussfähigkeit beitragen. Resultierte aus der Verbindung zur Romantik ein Verständnis des Synästhetischen als Akt der Imagination, so implizierte das Synästhesiekonzept eines Gesamtkunstwerkes die gleichzeitige Aktivierung und Reizung aller Sinne und Nerven. Beide Versionen sind dabei Ergebnis konstruktiver Operationen, die in einer Naturalisierung synästhetischen Empfindens den Akt ihrer synthetischen Generierung verbergen. Löst sich der im Synästhetischen angelegte Widerspruch zwischen Fort-
keit, sondern es finden auch stetig Übergänge oder Anregungen von oder zu anderen psychischen Sphären statt. Unter diesen Übergängen oder Anregungen gibt es solche, welche [...] sich als unbewußte, unwillkürliche, als absolute und ursprüngliche [...] Prozeße charakterisieren. Soweit diese [...] zur Geltung kommen, werden durch bestimmte Phänomene [...] ähnliche Phänomene in der anderen Sphäre angeregt, und die Vorstellungen, Gedanken und Gefühle, welche sich in dem Gehirn des schaffenden [...] Künstlers bewußt oder unbewußt an der Entstehung oder Wiedergabe des Tonwerkes beteiligen, können so ohne weiteres mit charakteristischen Zügen in den Gehirnen derjenigen Personen wieder auftauchen oder angeregt werden, welchen das Tonwerk zu Gehör gebracht wird.“ Ruths zit. nach Mahling (1926), S. 215. 240 Martin, Lillien (1909), S. 3. 241 Vgl. Hiß (2005), S. 117.
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schritt und Rückschritt, Genie und Wahnsinn in dieser Betrachtung auf, so wird der Künstler als Konstrukteur künstlich hergestellter ganzheitlicher Erfahrung erkennbar, der im Gewand des Magiers und Propheten einer neuen Kultur erschien. Ist das Synästhetische als wissenschaftlicher Gegenstand wie als künstlerische Strategie ein Kind des ausgehenden 19. Jahrhunderts, so wird es immer wieder mit der Romantik und Wagners Gesamtkunstwerk in Verbindung gebracht. Deutlich müssen diese kulturhistorischen Bezüge allerdings als nachträgliche Zuschreibungen herausgestellt werden, denn weder die Künstler der Romantik noch Wagner kannten das medizinisch-physiologische Phänomen der Synästhesie, wie es Wissenschaft und ästhetische Theorie ab 1860 ausformulierten und popularisierten. Deren Einbindung in den Synästhesiediskurs war jedoch wesentlich für die Ausformulierung des Synästhetischen als Sehnsuchtsfigur einer ursprünglichen, verlorenen und wiederzugewinnenden Einheit und Ganzheit und die Rückführung der ästhetischen Wirkung auf die sinnesphysiologischen, leiblichen Gegebenheiten der Wahrnehmung. Erst vor dem Hintergrund umfassender Umstrukturierungsprozesse in der Kultur um 1900 wurden diese Elemente aus der Romantik und dem Gesamtkunstwerk extrahiert und mit dem physiologischen und psychologischen Phänomen der Synästhesie verknüpft. Verweisen diese retrospektiven Projektionen auf die konstruktiven Prozesse und Zuschreibungen rund um das Synästhetische, so unterstützen sie den Anschein einer vermeintlich linearen Geschichte der Synästhesie. Immer wieder lässt sich auch lesen, die Romantik habe die Synästhesie als Reaktion auf die Sinnendisziplinierung der Aufklärung, als Utopie einer Egalisierung der Sinne und als Infragestellung der Ordnung des Sinnendiskurses entworfen.242 Oder Johann Gottfried Herder wird, beispielsweise von Heinz Paetzold, zum Ahnherr einer ästhetischen Theorie der Synästhesie erklärt, die im Folgenden für die Romantik als eine Facette der von Schlegel propagierten Universalpoesie tragend wurde.243 Angeführt wird dabei häufig folgendes Zitat von Herder: „Wie hängt Gesicht und Gehör, Farbe und Wort, Duft und Ton zusammen? Nicht unter sich in den Gegenständen; aber was sind denn diese Eigenschaften in den Gegenständen? Sie sind bloß sinnliche Empfindungen in uns, und als solche fließen sie nicht Alle in Eins? Wir sind
242 Vgl. Wanner-Meyer (1998), S. 13f. 243 Vgl. Paetzold (2003), S. 842. Auch der Germanist Hans Adler argumentiert, dass sich Synästhesie schon lange vor dem Namen finde und rekurriert dabei auf Herder. Vgl. Adler (2002), S. 205. Und Peter Utz schreibt: „Insbesondere in der Verwandtschaft von Gehör und Gefühl, welche die romantische Synästhesie besonders gern aufgreift [...], entdeckt Herder sprachlich erhaltene Fragmente einer ursprünglichen Sinnestotalität [...].“ Utz (1990), S. 208f.
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Ein denkendes sensorium commune, nur von verschiedenen Seiten berührt – da liegt die Erklärung.“244
Verstand Herder im Zuge einer anthropologischen Wende der Philosophie alle Sinne als Gefühl, während ihre Unterscheidung eine Leistung des Verstandes sei,245 so erinnern seine Äußerungen durchaus an die Theorien des Synästhetischen um 1900 bei Wundt und Fechner. Dagegen muss indessen ein deutlicher Unterschied hervorgehoben werden, der zumeist vernachlässigt wird. Denn Herder ging es nicht um eine synästhetische, alle Sinne als körperliche Erfahrung bewusst einbeziehende Wahrnehmung, auf die Physiologie und ästhetische Theorie um 1900 abzielten, sondern um den Vorgang der Einbildung oder der Imagination.246 Fließen für Herder auf einer vorsprachlichen Ebene, in der Vorstellung oder auch der Phantasie, zwar alle Sinne zusammen, so hat das nichts mit einer synästhetischen Kopplung von Sinneseindrücken zu tun, die Herder wohl, wie zunächst die Physiologen, als pathologische Erscheinung abgetan hätte.247 Deutlich tritt das in seinen Überlegungen zu den Künsten hervor, denen er jeweils eine eigene sinnliche Domäne zuwies: „Es gibt also in uns einen Sinn für Flächen, Töne, Formen, und wenn’s dabei aufs Schöne ankommt, drei Sinne für drei Gattungen der Schönheit, die unterschieden sein müssen, wie Fläche, Ton, Körper. Und wenn’s Künste gibt, wo jede in Einer dieser Gattungen arbeitet, so kennen wir auch ihr Gebiet von außen und innen, Fläche, Ton, Körper, wie Gesicht, Gehör, 244 Herder zit. nach Wellek (1931a), S. 332. [Herv. i.O.] 245 Vgl. Käuser (2004), S. 59. 246 So erläuterte er in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele eine Einheit der Sinne folgendermaßen: „Wir nennen die Tiefe dieses Zusammenflusses meistens Einbildung: sie besteht nicht bloss aus Bildern, sondern auch aus Tönen, Worten, Zeichen und Gefühlen, für die oft die Sprache keine Namen hätte. Das Gesicht borgt vom Gefühl, und glaubt zu sehen, was es nur fühlte. Gesicht und Gehör entziffern einander wechselseitig: der Geruch scheinet der Geist des Geschmacks, oder ist ihm wenigstens ein naher Bruder. Aus dem allem webt und würkt nun die Seele sich ihr Kleid, ihr sinnliches Universum.“ Herder zit. nach Adler (2002), S. 210. 247 So merkte er z.B. an: „Wir sind voll solcher Verknüpfungen der verschiedensten Sinne; nur wir bemerken sie nicht anders als in Anwandlungen, die uns aus der Fassung setzen, in Krankheiten der Phantasie oder bei Gelegenheiten, wo sie außerordentlich merkbar werden [...] Wäre es möglich, daß wir die Kette unserer Gedanken anhalten und an jedem Gliede seine Verbindung suchen könnten: welche Sonderbarkeiten, welche fremde Analogien der verschiedensten Sinne würden wir wahrnehmen, nach denen die Seele geläufig handelt! Wir wären alle für ein bloß vernünftiges Wesen jener Gattung von Verrückten ähnlich, die klug denken, aber sehr unbegreiflich und albern verbinden!“ Herder zit. nach Wellek (1931c), S. 242.
124 | S YNÄSTHESIE ALS DISKURS Gefühl. Dies sind sodann Grenzen, die ihnen die Natur anwies und keine Verabredung; [...]. Eine Tonkunst, die malen, und eine Malerei, die tönen, und eine Bildhauerei, die färben, und eine Schilderei, die in Stein hauen will, sind lauter Abarten, ohne oder mit falscher Würkung.“248
Ganz entgegen einer Vermischung der Sinne oder der Künste in einer Art Gesamtkunstwerk sprach sich Herder für deren entschiedene Trennung aus, wobei jede Kunst allerdings in der Lage sei, mittels Vorstellung oder Einbildung andere Sinnesempfindungen zu involvieren. Diesen Akt der Imagination, der z.B. innere Bilder beim Lesen eines Buches aufscheinen lässt, als Synästhesie zu deklarieren, ist erst das Ergebnis einer spezifischen Interpretation des Synästhetischen, die im 20. Jahrhundert ausformuliert wurde und sich auf Herder bezog.249 Interessant ist diesbezüglich der Ansatz der Literaturwissenschaftlerin Christiane Heibach, der die These, die Frühromantik habe die Grenzen zwischen den Künsten aufgebrochen und Synästhesie zu einer künstlerischen Strategie ausgearbeitet, einer kritischen Prüfung unterzieht.250 Unter der Prämisse zeitspezifischer Verkopplungen von Medientechniken und Wahrnehmungstheorien geht Heibach davon aus, „dass die jeweilig dominante Sinnesauffassung [...] in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Künste und ihrem Verhältnis zueinander steht“251. Bildete sich als wichtigstes literarisches Genre in der Romantik der Roman heraus, so heißt das für Heibach, „dass spätestens zu diesem Zeitpunkt das Druckmedium zum wichtigsten literarischen Medium avancierte“252, was gegen eine Tendenz der Verbindung oder Egalisierung der Künste spräche: „Die Frühromantik wendet sich zwar teilweise gegen die im Laufe des 18. Jahrhunderts ausdifferenzierte Trennung der Künste, sie tut dies aber nicht, indem sie die Trennung der Sinne wirklich aufhebt. Der Hauptgrund dafür scheint mir darin zu liegen, dass sie letztlich eine Tendenz weiterführt, die sich in der Aufklärung herausgebildet hat [...]: die Verlagerung der Wahrnehmungsprozesse von den ‚äußeren‘ Sinnen zur inneren Informationsverarbeitung. Indem die Frühromantik diesen Prozess radikalisiert, entmachtet sie die äußeren Sinne. Dies geht einher mit einer Abkopplung von der äußeren Welt, die es ihr letztlich unmöglich macht, die Verschmelzung der Künste tatsächlich in multimedialer Weise umzusetzen. Stattdessen 248 Herder zit. nach Heibach (2006), S. 10. [Herv. i.O.] 249 Insbesondere Albert Wellek griff bei seiner kulturhistorischen Grundlegung der Synästhesie in den 1920er Jahren auf Herder zurück und nahm ihn in den Synästhesiediskurs auf. Herder wurde dabei von Wellek besonders in Bezug auf die sprachbildende Funktion der Synästhesie bedeutsam. 250 Vgl. Heibach (2006), S. 5. 251 Ebd., S. 5. 252 Ebd.
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prämiert sie einen einzigen Sinn – den inneren der Einbildungskraft, auf den alle Künste wirken.“253
Eine vermeintlich romantische Synästhesie entpuppt sich also vielmehr als Betonung und Beschwörung der Einbildungskraft, wie es auch bei Herder der Fall war. Eine alle Sinne involvierende Ästhetik fand sich demnach lediglich als imaginäre Operation auf der Ebene künstlich-künstlerischer Innenwelten, nicht jedoch im Sinne einer synästhetischen Verstärkung und Multiplikation der Empfindung.254 Insofern impliziert der Verweis auf Herder und die Romantik ein Konzept des Synästhetischen als Element von Vorstellung, Phantasie und Imagination, das für eine strikte Trennung und ,Reinheit‘ der Künste steht. Ist der Bezug des Synästhetischen zu Herder und zur Romantik Ergebnis einer diskursiven Praxis, so schrieb sich damit zugleich ein konstruktives Moment in den Synästhesiediskurs ein, das als konstitutiv für alle synästhetischen Entwürfe gelten muss. Denn bereits der romantischen Ästhetik wohnte ein synthetisierender Charakter inne, der durch die Projektion des Synästhetischen in die Romantik in den Synästhesiediskurs implementiert wurde. Korrespondierte der Einsatz sprachlich-synästhetischer Wendungen in romantischer Dichtung mit typischen ,Settings‘ der Romantik, wie der Nacht, dem Traum oder dem Märchen, so grenzte das diese phantastischen Welten nicht nur von der alltäglichen Wahrnehmungserfahrung ab, sondern kennzeichnete sie auch als spezifisch artifizielle Welten, die völlig anderen Gesetzen gehorchten. Die leiblich-sinnliche Erfahrung wurde auf diesem Wege weniger intensiviert oder vervielfältigt als vielmehr abgeschaltet, um der Schöpfung imaginärer, synthetischer Welten Platz zu machen. Guido Hiß spricht in diesem Zusammenhang von der Entstehung eines neuen Synthesegedankens in der Romantik, der, in Reaktion auf Erfahrungen der Dissoziation und des Verlustes eines geschlossenen Weltbildes, die Sehnsucht nach einer neuen Mitte und den Wunsch nach einer „Rezentrierung der Welt“ verkörpere.255 Die Partikularisierung der Welt entsprach einer Separierung der Sinne, die in einem schöpferischen Prozess romantischer Reflexion überwunden und zu einer ungeteilten sinnlichen Einheit in der Vorstellung neu zusammengefügt werden sollte.256 Als Universalpoesie agierte die Dichtung als Medium einer synthetisch-künstlerischen Rekonstruktion des Zerbrechenden und beschwor im Zuge einer Revitalisierung des Mythischen die Kunst als neuen, ästhetisch definierten
253 Ebd., S. 6. 254 Nach Heibach zeige sich das auch daran, dass die Romantik keinerlei Versuche unternahm, mehrsinnliche, multimediale Darstellungsformen zu entwickeln. Vgl. ebd., S. 14. 255 Vgl. Hiß (2005), S. 31. 256 Vgl. ebd., S. 40.
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Mythos, der v.a. eine neue kollektive Identität bewirken sollte.257 Wurde diese im künstlerischen Prozess synthetisch generierte Mythologie als „Kunstwerk der Natur“258 gepriesen, so verdeckte sie die hinter ihr liegende konstruktive Logik. Als physiologisch-sensorisches Äquivalent der romantisch-poetischen Synthesediskussion war das Synästhetische, wie es sich in seinen Spielarten um 1900 ausformulierte, besonders geeignet, auf die Romantik als Naturalisierung und Anthropologisierung eines synthetisierenden Verfahrens projiziert zu werden. Erübrigt sich unter dieser Prämisse die häufig aufgeworfene Frage, ob die romantischen Dichter Synästhesien wirklich empfunden haben, so erscheint das Synästhetische als künstlerisches Prinzip, das ganz bewusst andere, von der realen Welt verschiedene Wahrnehmungen generiert und Ganzheit imaginativ herstellt. Die Idee einer Einheit wurde in dieser Weise utopisch besetzt und transportierte sich in der Verknüpfung der Romantik mit dem Synästhetischen als Vision einer Identität und Gemeinsamkeit der Sinne und zugleich Auftrag zur synthetisch-künstlerischen Generierung ganzheitlichen, leiblich-sinnlichen Empfindens. Blieb eine Einheit der Sinne in der Romantik Produkt der Imaginationsfähigkeit, die sich nur in unwirklichen Räumen der Kunst, des Traumes oder der Nacht verwirklichte, so besetzte das Synästhetische um 1900 diesen utopischen Raum und entpuppte sich in seiner psychologischen und physiologischen Existenz als Realisierung romantischer Einheitsvisionen. In einer mystisch verklärenden Deutung addierte das Synästhetische romantische Themen der Einheit von Ich und Welt und stieg zum Sinnbild einer neuen Formel allgemeingültiger Entsprechungen in der Moderne auf, das mit den unsichtbaren Erscheinungen der Röntgenstrahlen und magnetischen Felder, die am Ende des 19. Jahrhunderts im Wissenshorizont Einzug hielten, kompatibel war.259 Ist das Synästhetische in der Deutung einer Einheit der Sinne Ergebnis eines in der Romantik angelegten, synthetisierenden Prozesses, so resultierte daraus seine enge Bindung an die künstlerische Sphäre. Als künstlerische Praxis im Sinne einer Produktions- und Rezeptionsästhetik war die Synästhesie keine Erscheinung der Romantik, denn diese strebte weder nach einer tatsächlichen Überwindung der Trennung und Hierarchisierung der Sinne in der sinnlich-leiblichen Erfahrung noch nach 257 Mit der Universlpoesie war eine politische Idee verbunden: die Abschaffung des mechanistischen Staates zugunsten eines natürlich-organischen, gleichberechtigten Zusammenlebens der Menschen. Die Mythologie als gemeinsame Wurzel von Poesie, Geschichte und Philosophie stellte eine verallgemeinernde Symbolik bereit, die das ganze Leben durchdrang. So formulierte Schelling die „Totalität einer Nation, die sich zugleich als Identität – als Individuum – verhält“. Zit. nach Hiß (2005), S. 43. Umgekehrt vollzog sich über die Nation eine Revitalisierung von Mythos, Kunst und Gesellschaft. Vgl. ebd., S. 45. 258 Ebd., S. 45. 259 Vgl. Dann (1998), S.13f.
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einem Aufbrechen der Grenzen zwischen den Künsten. Erst die Industrialisierung und neue mediale Techniken veränderten die Bedingungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts dergestalt, dass der Wunsch nach einer Neufundierung der Wahrnehmungsprozesse in der körperlichen Existenz und nach Modellen, die gesamtsinnliches Empfinden tatsächlich generieren, heranreifte. Konnte die Romantik noch im Medium der Sprache Synästhesien produzieren, so war genau diese im Rahmen einer Kommunikations- und Evidenzkrise um 1900 problematisch, wie es sich in Hofmannsthals Chandos-Brief und auch bei Nietzsche artikulierte. Deshalb bedurfte es überhaupt erst am Ende des 19. Jahrhunderts alternativer, jenseits sprachlicher Mechanismen funktionierender Wahrnehmungs- und Kommunikationsstrategien, wie sie sich über das Synästhetische formierten. In Gemeinschaft mit dem physiologischen Diskurs, der der Romantik fehlte, bildete erst die Kunst der Moderne synästhetische Wahrnehmungsmodelle und -praktiken als Element einer körperlichsinnlichen Wirkungsästhetik aus. Was die Romantik in den Synästhesiediskurs einspeiste, war eine synthetisch generierte Einheitsidee, in der sich auch Richard Wagners Gesamtkunstwerk verorten lässt, das sich als wesentlicher Motor einer Theater- und Tanzreform um 1900 erwies. Wagner verharrte allerdings nicht im romantischen Projekt einer imaginativen Einheitsutopie, sondern transformierte und verwirklichte sie als physiologisch fundierte Gleichsetzung der Sinne mit den Künsten als Gesamtkunstwerk auf der Bühne. Dabei entwickelte er eine auf den Körper als Empfänger von verschiedenen Sinnesdaten ausgerichtete, physiologische Wirkungsästhetik, die als Überwältigung der Sinne die „Wiedergewinnung einer Totalität der Wahrnehmung“260 in Aussicht stellte. Insofern beschreibt Inge Baxmann Wagner als „Vorläufer einer intermedialen Ästhetik, die [...] sich an ein Massenpublikum richtet“ und „Problemstellungen vorweg“ nahm, „die mit der Entwicklung neuer Medien erst ihre ganze Relevanz entfalteten“261. Gilt Wagner sowohl als positiver als auch negativer Bezugspunkt der (Theater)Avantgarden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so findet sein Gesamtkunstwerk immer wieder als Paradebeispiel einer künstlerischen Umsetzung des Synästhetischen Erwähnung.262 Dabei ist die Verknüpfung des Synästhetischen mit Wagners Gesamtkunstwerk ebenso eine nachträgliche Projektion, die erst die Symbolisten in Ausarbeitung ihrer von Wagner beeinflussten Theatertheorie her-
260 Hiß (2005), S. 41. 261 Baxmann (2000), S. 20. 262 So beschreibt z.B. Guido Hiß eine sensorische Reorganisation der Wahrnehmung in Form einer „synästhetischen Schulung der Sinne“, die zur Grundlage einer Synthese der Künste wurde. Die Synästhesie sei dabei ein wesentliches Moment bei der Entstehung des Konzepts Gesamtkunstwerk, da sie die physiologischen Grundlagen schaffe. Vgl. Hiß (2005), S. 41.
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stellten.263 Was Wagners Entwurf für die Ausarbeitung des Synästhetischen als künstlerische Strategie prädestinierte, war die Definition der Künste in Anlehnung an sinnliche Wahrnehmungsqualitäten. Die Verschmelzung der Künste im Gesamtkunstwerk wurde daher gleichbedeutend mit einer Vermischung und Verknüpfung der Sinne, die im Synästhetischen am Ende des 19. Jahrhundert wiederum physiologisch und psychologisch fundiert wurde. Über das Gesamtkunstwerk vollzog sich dabei nicht nur eine Ästhetisierung des Synästhetischen, im selben Maße hatte es entscheidenden Anteil an einer Physiologisierung der Kunst. Ging es Wagner bei der Konzeption des Gesamtkunstwerkes zunächst um eine politisch ausgerichtete Sozialutopie, so wandelte es sich in späteren Jahren zu einem „musikalisch generierten Weihefestspiel“, das Theater als „synthetische Anstalt der ‚Allversöhnung‘ von ‚Tanzkunst‘, ‚Tonkunst‘ und ‚Dichtkunst‘, von Spielenden und Schauenden, von Sinnlichkeit und Sinn“264 entdeckte. Den Zivilisationsprozess als Niedergang und zunehmende Entfremdung der Welt, der Menschen und der Künste interpretierend, war für Wagner, so Inge Baxmann, „die Geschichte der modernen Kultur zugleich eine Verlustgeschichte des Körpers und der Sinne“ und „[s]ein Gesamtkunstwerk [...] das groß angelegte Projekt einer modernen Sinneskultur, die Gemeinschaft stiften wollte“265. Als goldenes Zeitalter einer Einheit der Künste im Verbund mit ekstatischen Gemeinschaftserfahrungen erschien Wagner die attische Tragödie, in die er, der romantischen Logik folgend, sein Ideal der Vereinigung von Musik, Wort und Tanz historisch rückwärts projizierte und dergestalt in mythischen Ursprüngen verankerte.266 „Die griechische Mousiké“, so betont es Inge Baxmann, diente dabei lediglich als „Modell einer sinnenbezogenen Gemein263 So äußerte sich Baudelaire bezüglich der Kritik einer als skandalös eingestuften Aufführung von Wagners Tannhäuser in Paris: „It would truly be surprising if a musical tone could not elicit a color, if colors could not evoke a melodic motif, and if notes and colors were not suited to conveying thoughts; especially since these things have been expressed by means of mutual analogy from time immemorial, ever since the day God created the world as a complex and indivisible totality.“ Baudelaire zit. nach Dann (1998), S. 37. V.a. Albert Wellek hat in der Folge mit Artikeln wie Synästhesie und Synthese bei Richard Wagner (1929) oder Heinrich von Kleist und Richard Wagner in ihrer historischen Stellung (1925) in den 1920er Jahren zu einer Integration Wagners in eine Geschichte der Synästhesie beigetragen. Vgl. Wellek (1925), Wellek (1929a). 264 Hiß (2005), S. 56. 265 Baxmann (2000), S. 15. Vgl. Hiß (2005), S. 61. 266 „Das Besondere der griechischen Bildung ist, dass sie der rein leiblichen Erscheinung des Menschen eine so bevorzugte Aufmerksamkeit zuwandte, dass wir diese als Basis aller griechischen Kunst anzusehen haben. Das lyrische und dramatische Kunstwerk war die durch die Sprache ermöglichte Vergeistigung der Bewegung dieser leiblichen Erscheinung.“ Wagner zit. nach Murasov (1992), S. 29, vgl. auch Hiß (2005), S. 66.
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schaftskultur, die es in der Moderne ‚wiederherzustellen‘ gelte“, weshalb „keine Kopie des antiken Modells gemeint“ war, „sondern Gestaltung, Verkörperung und Selbstkonstitution der modernen Gesellschaft, die den utopischen Entwurf vor dem Hintergrund der neuen Bedingungskonstellationen reflektierte“267. Darin findet sich die Projektion einer idealisierten Vergangenheit als utopische Zukunft, die durch die Herstellung einer Verbindung Wagners mit dem Synästhetischen – wie schon die romantische Einheitsutopie – in den Synästhesiediskurs implementiert wurde. Wagners Beitrag zur Modellierung des Synästhetischen ging aber noch einen Schritt weiter. Nicht nur, dass er den Künstler zum Schöpfer eines neuen Arkadiens und das Volk als Gemeinschaft zum Agenten der Umgestaltung der Lebensverhältnisse berief,268 er näherte Dichtung, Ton- und Tanzkunst einander auf sinnlichphysiologischer Basis an. Setzte er Dichtkunst und Sprache mit dem Verstand gleich, der in Ermangelung emotionaler Elemente die Wirklichkeit in Teile zersetze, so verkörpere die Musik das reine Gefühl, der jedoch die Möglichkeit verwehrt sei, einen bestimmten, klar verständlichen Inhalt auszudrücken.269 Im Gesamtkunstwerk als Synthese aus Dicht-, Ton- und Tanzkunst sollten diese miteinander verschmelzen und über Auge und Ohr gleichzeitig Verstand und Gefühl ansprechen, wodurch Wagner eine Steigerung der emotionalen Wirkung zu erreichen erhoffte.270 In einer Musikalisierung der Sprache als tönender Laut eines Gefühlsausdrucks erhielt die Sprache ihre Leiblichkeit und Sinnlichkeit zurück, während sich das musikalisch Unbestimmte, Unbewusste durch eine Hinwendung zum Dich-
267 Baxmann (2000), S. 17. 268 Vgl. John (2004). 269 „Der charakteristische Unterschied zwischen Wort- und Tondichter besteht darin, dass der Wortdichter unendlich zerstreute, nur dem Verstande wahrnehmbare Handlungs-, Empfindungs- und Ausdrucksmomente auf einem, dem Gefühle möglichst erkennbaren Punkt zusammendrängte; wogegen nun der Tondichter den zusammengedrängten dichten Punkt nach seinem vollen Gefühlsinhalt zur höchsten Fülle auszudehnen hat.“ Wagner zit. nach Hiß (2005), S. 82. Vgl. auch Murasov (1992), S. 36. 270 „Die Mitteilung eines Gegenstandes aber, den die Wortsprache nicht zu völliger Überzeugung an das notwendig auch zu erregende Gefühl kundgeben kann, also ein Ausdruck, der sich im Affekt ergießt, bedarf durchaus der Verstärkung durch eine begleitende Gebärde. Wir sehen also, dass, wo das Gehör zu größerer sinnlicher Teilnahme erregt werden soll, der Mitteilende sich unwillkürlich auch an das Auge zu wenden hat: Ohr und Auge müssen sich einer höher gestimmten Mitteilung gegenseitig versichern, um dem Gefühl sie überzeugend vorzuführen. Die Gebärde sprach in ihrer nötig gewordenen Mitteilung an das Auge nun aber das aus, was die Wortsprache eben nicht mehr auszudrücken vermochte [...].“ Wagner zit. nach Murasov (1992), S. 39.
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terischen und Visuellen konkretisieren sollte.271 Kreierte Wagner damit eine völlig neue Form des Musikdramas als „musikalisch-poetische Ganzheit“272, so lieferte er in der Reflexion der einzelnen Künste und ihrer Mittel in Hinblick auf deren Fähigkeit, sinnliche Qualitäten darzustellen und diese letztlich in einem Publikum zu erzeugen,273 zugleich eine frühe Medientheorie. In der Rückführung der Künste auf ihre sinnlich-körperliche Wirkung und der damit verbundenen Möglichkeit ihrer gegenseitigen Verstärkung inszenierte Wagner eine moderne Wahrnehmungsapparatur, die das Gesamtkunstwerk für die medialen Umwälzungen der Moderne und zugleich deren Naturalisierung, Anthropologisierung und Mythisierung anschlussfähig machte.274 Dabei „vermittelt sich der mythenbildende Ansatz“, so Hiß, „durch das zum kollektiven Rezentrierungsinstrument ausgebaute musikalische Theater selbst“275, mit dem Wagner die Verstärkung der Emotionen durch „einen überaus wirkungsmächtigen intermedialen Effekt“ entdeckte, „der das Künstliche nicht im Mythischen aufhob, sondern es zu höchster Potenz steigerte“276. Die gemeinsame körperlich-sinnliche Erfahrung des Publikums über Nervenreize und nicht verbalisierbare Korrespondenzen gerann zum Mittel der Gemeinschaftsbildung und verhinderte im Sinne religiöser oder mythischer Erlebnis- und Erkenntnisweisen Distanz und kritische Auseinandersetzung.277 Durch die (Wieder-)Verknüpfung der Sinne, des Körpers und des Geistes im Affekt sollte „das Volk kein Unterschiedenes, Besonderes mehr sein“, denn im Erleben des Gesamtkunstwerks werden alle 271 Vgl. Hiß (2005), S. 83, Murasov (1992), S. 35. Dazu installierte Wagner eine Reihe von Kunstgriffen, wie den Einsatz von Vokalen als Töne, die Verknappung des sprachlichen Ausdrucks auf das affektiv Wesentliche oder die Leitmotivtechnik, die eine kommentierende Funktion erfüllte, indem sie die Musik mit den szenischen Situationen verknüpfte und inhaltliche Bezüge herstellte Vgl. Hiß (2005), S. 62ff. 272 Borchmeyer (1982), S. 88. 273 „Das höchste gemeinsame Kunstwerk ist das Drama: nach seiner möglichen Fülle kann es nur vorhanden sein, wenn in ihm jede Kunstart in ihrer höchsten Fülle vorhanden ist. Das wahre Drama ist nur denkbar als aus dem gemeinsamen Drange aller Künste zur unmittelbarsten Mitteilung an eine gemeinsame Öffentlichkeit hervorgehend [...].“ Wagner zit. nach Kienscherf (1996), S. 71. Vgl. auch Hiß (2005), S. 67ff. 274 Vgl. Baxmann (2000), S. 15. 275 Hiß (2005), S. 60. 276 Ebd., S. 85f. [Herv. i.O.] 277 „Wagners Werk ist der erste umfassende Versuch einer Massenkunst für ein Massenpublikum. Seine physiologische Ästhetik zielte auf Effekte ab, die beim Publikum zuweilen Ohnmachten und sogar Nervenkrisen auslöste. [...] Die Synthese der Künste als Synthese der Sinne beruhte auf der Kombination von visuellen, akustischen und kinetischen Elementen und sollte Zustände kollektiver Ergriffenheit hervorrufen.“ Baxmann (2000), S. 16.
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Teilnehmenden „Eins sein, – Träger und Weiser der Notwendigkeit, Wissende des Unbewussten, Wollende des Unwillkürlichen, Zeugen der Natur, – glückliche Menschen“278. Wagners Versuch einer Remystifizierung der Gemeinschaft durch die Aufhebung der Trennung der Künste vollzog sich über einen physiologisch definierten Körper, der als über sinnliche Reize aktivierbarer Schnittpunkt der Transformationen zwischen Sprache, Musik und Bewegung eine prominente Stellung einnahm.279 Das Theater wurde dergestalt, so Hiß, zum utopischen Ort der Wiedergewinnung der Körper und der Vereinigung der Sinne und der Künste, wobei sich der Begriff des Theaters vom Dramatischen zum Integralen und Medialen verlagerte.280 Anders als in der romantischen Vorstellung einer imaginären Verknüpfung verstärkten sich Sprache und Musik bei Wagner auf der Bühne gegenseitig über den Körper und seine Nervenprozesse in den Sinnen und dem Gefühl der Zuschauer.281 Daher resultierte aus der Besetzung des Gesamtkunstwerkes mit dem Synästhetischen eine von der romantischen Version abweichende Konzeption und Ästhetik im Modus einer sinnlich-medialen Transformation von Klang und Bild, Akustischem und Visuellem. War Wagners Gesamtkunstwerk eine Politisierung, Theatralisierung und v.a. Verkörperung des romantischen Syntheseprogramms, das Visionen einer neuen Gemeinschaft mit einer auf physiologischen Prinzipien basierenden Wirkungsästhetik koppelte, so kann es nicht nur als Vorspiel eines modernen Regietheaters, sondern auch als Vorwegnahme neuer Medienpraktiken und aus ihnen hervorgehenden neuen Wahrnehmungsmustern der Moderne gelten. Das Synästhetische offerierte in diesem Zusammenhang um 1900 ein Beschreibungsmodell der Wirkungsmechanismen des Gesamtkunstwerkes in Gestalt des Überspringens oder Ausstrahlens von Erregungen zwischen Nervenbahnen oder Sinneszentren, das erst aus dessen wissenschaftlich-physiologischer Bearbeitung extrahiert wurde. Gleichzeitig erhob das Gesamtkunstwerk das Synästhetische zum künstlerischen Prinzip 278 Wagner zit. nach Kienscherf (1996), S. 71f. 279 „Wagners Vitalismus läuft im engsten Kern auf eine These hinaus, wonach die Trennung des Bewusstseins von den Dingen in der Verachtung der Körper [...] begründet liege. Entsprechend ist das Musikalische qua Rhythmus immer mit dem Physischen, mit dem tänzerischen Ausdruck konnotiert: [...].“ Hiß (2005), S. 86. 280 Vgl. ebd., S. 9. 281 „All dies Hysterisch-Religiöse, Hypernervöse, Dekadente, das ‚Tristan‘ und ‚Parsifal‘ vorführen, [...] implantiert synästhetische Sensationen direkt ins Nervensystem des Publikums.“ Hiß (2005), S. 64. Und Harro Segenberg formuliert: „Akustisches wird schon bei Wagner derart intensiv perfektioniert, dass es wie von selber ins Visuelle hineinzieht. Oder auch: Wagners Musik wird die Qualität einer ästhetischen Reizwirkung zugeschrieben, die es fertig bringt, in der Intensität einer Sinneswirkung weitere Sinneswirkungen anzuregen.“ Segenberg (2005), S. 42.
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der Kombination und Transformation von Sinnesdaten, das sich in den Medientechniken und -strategien des 20. Jahrhunderts fortsetzt. Dabei entsprach Wagners Entwurf einer Fixierung auf Hören und Sehen, wie sie sich auch in der Dominanz des Farbenhörens im wissenschaftlichen Diskurs manifestierte und die mit der Mediengeschichte parallelisiert werden kann. Das Zusammengehen mit dem Gesamtkunstwerk erweiterte den Begriff des Synästhetischen um die Dimension des Medialen. In der Folge formulierten Symbolismus, Tanz- und Theaterreform sowie die Avantgarden das synästhetisierte Gesamtkunstwerk und seine Funktionsweise in einer theoretischen Reflexion der Verbindung und Vermischung der Künste sowohl in metaphysisch-religiöser Deutung, als Mittel der Gemeinschaftsstiftung wie auch in Hinblick auf neue mediale Möglichkeiten und damit einhergehende Wahrnehmungsmuster weiter aus. Die Wirkung von Wagners Gesamtkunstwerk entfaltete sich zunächst v.a. in theaterhistorischer Perspektive,282 strahlte aber weit darüber hinaus in die Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts aus, indem sie v.a. in die Populärkultur des Hollywoodfilms einging und Entwicklungslinien einer digitalen Medienkultur präformierte. Im Schatten Wagners eröffnete sich ein Spiel- und Experimentierfeld des Synästhetischen, dessen erster Ort das Theater war, dem die technischen Medien folgten. Die Reformierung des Theaters um 1900 war in diesem Kontext ein wesentliches Ergebnis seiner synästhetischen Physiologisierung. Zu betonen bleibt, dass im Synästhetischen um 1900 verschiedene wahrnehmungstheoretische und künstlerische Strategien aufeinandertrafen und sich verbanden. Analog zu den verschiedenen Theorien in der Wissenschaft, die es als krankhaft übersteigerte Phantasie, als normalen, aber unbewussten Mechanismus der Wahrnehmung oder als Fähigkeit des besonders sensiblen Genies klassifizierten, implizierte das Synästhesie als künstlerische Praxis unterschiedliche ästhetische Strategien. Resultierte aus der Verbindung zur Romantik ein Verständnis des Synästhetischen als Akt der Vorstellung, die vor dem Hintergrund einer Einheit der Sinne fehlende Sinneserfahrungen imaginär ergänzt, so zielte das Synästhesiekonzept eines Gesamtkunstwerkes auf die parallele und gleichzeitige Aktivierung und Reizung aller Sinne, der Nerven und des Körpers. Die ungenügende Unterscheidung zwischen beiden verursacht sich widersprechenden Definitionen und Bewert282 „Indem Wagner das synthetische Werk theatralisch fasst, geht er weit über die Romantik hinaus, initiierend die wichtigste Theaterreform des neunzehnten Jahrhunderts. […] Das Synthetische, von den Romantikern noch explizit theaterfern diskutiert, findet auf der Bühne seinen prädestinierten Ort. Was sich, Stichwort Synästhesie, diskret in Jena andeutete, die Vermutung nämlich, dass dem Verlust urtümlicher Einheit auch ein Verlust an sinnlicher Integration korrespondiert, rückt hier, vitalistisch, ins Zentrum. Theater wird dabei von der verachteten Kanzel der Aufklärung zum prädestinierten Medium einer Wiedergewinnung von Ganzheit, die nicht nur die Versöhnung von Individuellem und Kollektivem meint, sondern am Körper selbst ansetzt.“ Hiß (2005), S. 72.
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ungen des Synästhetischen als ästhetisch-künstlerisches Konzept. In Bezug auf den Film z.B. scheint aus der Perspektive einer romantischen Deutung lediglich der Stummfilm synästhetisch, während in dem Verständnis des gleichzeitigen Ansprechens mehrerer Sinne erst der Tonfilm diese Bezeichnung verdient. Darin materialisiert sich wiederum der Charakter des Synästhetischen als Projektionsfläche für die Theoretisierung einer ästhetischen und perzeptiven Praxis der Moderne, die die romantische Einheitsutopie mit einer auf dem Theater realisierbaren Verbindung der Künste auf der Grundlage ihrer sinnlich-körperlichen Wirkung in einem künstlerischen Konzept vereint. Aus dieser Perspektive wird der konstruktive Prozess sichtbar, der durch kulturelle Brüche motiviert ist. Avancierte das Synästhetische zum Sinnbild einer Vermischung der Sinne und Künste in der Moderne, so war dies ein Ergebnis der Verbrüderung des wissenschaftlich-physiologischen Diskurses mit dem romantischen Synthesegedanken einer verlorenen und artifiziell wiederherzustellenden Einheit und ihrer auf sinnesphysiologischen Prinzipien basierenden, über den Körper generierten Realisierung im Gesamtkunstwerk. Aus einem empfundenen Mangel erfolgte die doppelte Projektion einer als ursprünglich angenommenen Ganzheitlichkeit und Einheit der Sinne und Künste in der Vergangenheit und ihre Wiedererlangung mittels synästhetischer Praktiken in der Zukunft. Der im Synästhetischen verborgene Widerspruch von Fortschritt und Rückschritt, Genie und Wahnsinn löste sich in einer Naturalisierung synästhetischen Empfindens auf, die zugleich den konstruktiv-synthetischen Akt seiner Generierung verbarg, der den Synästhesiediskurs bis heute durchzieht. Der Künstler positionierte sich in dieser Situation als Erneuerer der Kultur, als Magier und Konstrukteur, der vermag, mittels Imagination und Erzeugung synästhetischer Effekte ganzheitliches Erleben, Einheit und Gemeinschaft zu stiften. So markierte das synästhetische Gesamtkunstwerk auch die Entwicklung vom Dramatiker zum modernen Regisseur, der als Visionär das Bühnenwerk aus sich heraus schafft. Aus dieser Konstellation erklärt sich einmal mehr die Affinität des Synästhetischen zu artifiziellen und medialen Welten, die es bis heute als Modell künstlerischer Entwürfe qualifizieren.
II.6 T RANSFORMATIONEN ZWISCHEN K LANG , B EWEGUNG UND L ICHT . D ER R EGISSEUR ALS S YNÄSTHETIKER Kunst im Zeichen des Synästhetischen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Strategien der Generierung und Umsetzung von Einheitsutopien und darin verwobene Praktiken der Transformation zwischen den Künsten auf der Grundlage der körperlich-sinnlichen Wirkung ihrer Mittel gekennzeichnet. Insofern eignete sich das Theater in ganz besonderem Maße als Experimentierfeld für synästhetische Effekte, denn es ermöglichte die Isolierung und Kombination der einzelnen künst-
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lerischen Mittel in ihrer direkten Wirkung auf die Sinnesorgane.283 Als Kunstform entdeckte das Theater dabei seine spezifische Materialität und Medialität und brachte mit dem Regisseur einen neuen Typus des genialen Gesamtkünstlers und Meisters einer Synthese der Künste hervor. Nicht nur die symbolistischen Poeten experimentierten mit den Möglichkeiten der Bühne, auch Maler wie Wassily Kandinsky oder Komponisten wie Arnold Schönberg und Alexander Skrjabin wandten sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts dem Theater zu, um Entsprechungs- und Übertragungsmechanismen zwischen den Künsten zu erforschen. Finden diese Künstler bis heute immer wieder im Kontext der Synästhesie Erwähnung, so bleibt die Frage nach der spezifischen Verfasstheit des Theaters selbst, das deren Entwürfe erst ermöglichte, meist unberücksichtigt. Denn dafür war zunächst eine Umgestaltung des Theaters nötig, die es aus der Bindung an eine literarisch-dramatische Vorlage, einem Bildungsauftrag und dem Zwang einer illusionistischen bis naturalistischen Darstellung befreite. Dieser Prozess vollzog sich im Zuge einer Theaterreform um die Jahrhundertwende, die, ausgehend von Wagner und Nietzsche, Theater auf seine kultischen Wurzeln zurückführte und von dort aus unter modernen Bedingungen erneuerte. In diesem Kontext spielte das Synästhetische eine wesentliche Rolle, die bisher kaum untersucht wurde. Fallen Namen wie Adolphe Appia, Edward Gordon Craig oder auch Emil Jaques-Dalcroze ins Blickfeld, die – ursprünglich selbst Musiker, Maler und Architekten – einen wesentlichen Anteil an einer Neugestaltung des Theaters hatten, so findet das Synästhetische in der Betrachtung ihrer Theaterentwürfe bislang keine Berücksichtigung. Weit vor Kandinsky oder Skrjabin entwickelten diese Theaterreformer neue Räume und Rezeptionsmodelle und formten das Theater zu einem Wahrnehmungslabor um, auf das im Folgenden erst als Ort synästhetischer Experimente zurückgegriffen werden konnte. Die Fokussierung auf das Theater als erstem Ort künstlerisch-synästhetischer Praktiken zielt also nicht nur auf die Hinwendung von Künstlern verschiedenster Gattungen zum Theater, um dort die Kombination der Künste und Mittel zu testen, sondern v.a. darauf, dass das Theater selbst erst durch den Einfluss synästhetischer Ideen derart umgestaltet wurde, dass es als Plattform für Maler, Musiker und Architekten fungieren konnte.
283 „Bis zur Entwicklung der elektronischen Medien war das Theater in seinen [...] genrespezifischen Ausformungen das einzige Medium des Abendlandes, das neben dem durch die Schrift dominierenden Auge auch die anderen Sinne des Menschen ansprach und [...] zu einer kulturell bedeutenden Sozialisierung und Organisierung der Wahrnehmung beitrug.“ Blum (1995), S. 23. Und Motte-Haber argumentiert: „Die Bühne war ein Ort für Innovation, die weniger eine Veränderung der Medien selbst betraf, als vielmehr erlaubte, verschiedene künstlerische Ausdrucksformen in eins zu montieren.“ Motte-Haber (1999), S. 52.
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Im Zuge einer Suche nach dem Spezifischen der Theaterkunst war es v.a. der Körper, sowohl des Darstellers als auch des Zuschauers, in seiner Präsenz und Materialität, der in den Blickpunkt rückte und auf physiologischer Basis neu definiert wurde. Der Tanz spielte in diesem Kontext in seiner Befreiung vom klassischen Ballett und seiner Neuerfindung durch Vorkämpferinnen wie Loïe Fuller und Isadora Duncan eine entscheidende Rolle. Im Lichte des Synästhetischen wurden insbesondere der Status des Schauspielers und die aktivierende Wirkung sinnlicher Reize auf den Zuschauer, die wesentliche Elemente der Theaterreform bildeten, einer neuen Betrachtungsweise unterzogen. Jenseits sprachlich-gedanklicher Inhalte avancierte das Synästhetische zum künstlerischen Prinzip von Entsprechungen, Übersetzungen und Transformationen, die die abstrakt-formale Strukturierung der Bühnenwerke bestimmten und in der Folge auf andere Künste mit gleicher Gültigkeit übertragbar waren. Dies definierte das Material in neuer Weise, indem es nicht etwas anderes, Inhaltliches zum Vorschein brachte, sondern selbst zum Zweck und zum Inhalt neuartiger Verfahren wurde. So betrat z.B. der Schauspieler nicht mehr ausschließlich als Träger einer Rolle die Bühne, sondern als Körper, der wiederum als Vermittler, Empfänger und Sender von Vibrationen und Rhythmen den Zuschauer aktivieren und aus seiner passiven Haltung befreien sollte. Wagner war dabei, als positiver und negativer Bezugspunkt, entscheidender Impulsgeber.284 So schwankte schon Nietzsche zwischen Vergötterung und Ablehnung von Wagners Konzeption. Der Vorwurf an Wagner war dabei, dass er die Künste nur addiert und nebeneinandergestellt und nicht nach ihren spezifischen Qualitäten zusammengeführt habe. Hinter dieser Kritik verbargen sich letztlich wieder die über die Romantik und das Gesamtkunstwerk entwickelten, sich unterscheidenden Synästhesiekonzepte einer Einheit der Sinne in der Imagination und einer gleichzeitigen physiologischen Wirkung auf mehrere Sinne. Bezogen auf eine Verbindung, Vermischung und Einheit der Künste entsprach das zum einen der Konzentration auf eine Kunstform, die alle anderen in der inneren Vorstellung generiert, wie z.B. eine nach musikalischen Prinzipien organisierte abstrakte Malerei. Zum anderen war damit aber auch das gleichzeitige und gleichwertige Agieren mehrerer Künste in einem Werk mit dem Ziel ihrer gegenseitigen Verstärkung angesprochen. Zwischen diesen Polen einer Besinnung jeder Kunst auf die ihr eigenen spezifischen Mittel, die auf Grund eines gemeinsamen Ursprungs aller Künste Verwandtschaften und Beziehungen zu anderen Künsten aufweisen, und der Gleichberechtigung aller Künste und Mittel als Sinnesempfindungen, die sich in ihrer Wirkung verdoppeln 284 „Im Grunde setzten sich alle künstlerischen Strömungen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, die mit neuen Kunst- und Bildvorstellungen, mit neuen Materialien, Medien und Techniken experimentierten und damit auf neue Beziehungen zwischen Kunst und Leben, Kunst und Politik zielten, explizit oder implizit mit der Wagnerschen Ästhetik auseinander.“ Baxmann (2000), S. 137.
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und intensivieren, arbeiteten sich die künstlerischen Entwürfe der Theaterreformer und Avantgarden ab. Mit dem aus den Erfahrungen der Moderne resultierenden Ziel der Überwindung von Differenzen der Sinne und Künste rückte die Frage nach deren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Fokus. In der Extrahierung und Aufwertung von allen Künsten gemeinsamen Elementen wie Rhythmus oder Bewegung, die als Grundmechanismen der Wahrnehmung Transformationen zwischen den Künsten ermöglichten und zugleich ein neues Lebensgefühl der Moderne verkörperten, realisierten sich diese Bestrebungen. Theater gerann zur Erforschung und Analyse elementarer Wahrnehmungsprozesse, die mit und durch die moderne, sich ständig verändernde Lebenswelt in neuer Weise herausgefordert und dadurch sichtbar wurden. Auf thematisch-inhaltlicher Ebene äußerte sich dies in einer Hinwendung zu den Grundfragen menschlicher Existenz und der Aufdeckung anthropologischer Wissensbestände, zu denen auch das Synästhetische gehörte, die in diesem Prozess erst als solche etabliert und deklariert wurden. „Wir wollen auf der Bühne die Dinge nicht mehr so sehen, wie sie sind, sondern so, wie wir sie empfinden“285, propagierte Wagners Schüler und Mitarbeiter Adolphe Appia, der in Abwendung von einem naturalistisch-illusionistischen Theater das musikalisch generierte Gesamtkunstwerk weiterentwickelte. Glaubte er zwar, wie Wagner, dass für eine wahre Kunst, die in das Wesen der Dinge vordringt und neue Schauweisen des Seins eröffnet, eine Annäherung der verschiedenen Künste notwendig sei,286 so war diese für ihn jedoch nicht auf dem Wege ihrer Addition herzustellen. Denn „jede Kunst strebt innerhalb ihres vorgegebenen Materials und innerhalb ihrer spezifischen Gesetze nach Vollkommenheit“ und „[e]ine Vereinigung muß deshalb immer die eine zugunsten einer anderen zurücksetzen lassen, sie vergewaltigen und ihr eigentliches Wesen mißachten“287. Um eine künstlerische Einheit entstehen zu lassen, zerlegte Appia daher in Die Inscenierung als Schöpfung der Musik von 1899 die Künste Musik, Malerei, Tanz und Dichtung in ihre elementaren Einheiten Bewegung, Ton, Wort, Farbe und Licht und kombinierte und analogisierte diese nach ihren spezifischen Ausdrucksqualitäten. Die Musik als geeignetstes Mittel zur Darstellung des „inneren Dramas“288, des Unbewussten, Immateriellen und Ideellen garantierte dabei die Einheit der Bühnenrealisation, indem sie alle Teile der Inszenierung verband und diese zeitlich strukturierte.289 Der Darsteller
285 Appia zit. nach Bablet (1982), S. 73. 286 Vgl. Appia (1982a), S. 53. 287 Appia zit. nach Giertz (1975), S. 62. 288 Appia (1986), S. 41. 289 „Die Musik [...] setzt nicht nur die Aufeinanderfolge der Vorgänge im Drama fest, sondern vom darstellerischen Standpunkt muß sie [...] als die Zeit selbst betrachtet werden. [...] [Die] von der Musik festgesetzten Bewegungen des Darstellers im Raum lassen das
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übertrug mittels der Bewegungen seines Körpers „die Musik aus der bloßen Zeitlichkeit in die sichtbare Räumlichkeit“290 und vollzog deren Visualisierung als abstrakten Bewegungsraum, in den sich der Rhythmus der Musik über den Körper und seine Bewegungen einschrieb.291 Der auf diese Weise entpersönlichte Darsteller verbildlichte innere Prozesse, abstrakte Gefühle über körperlich-rhythmische Bewegung, die wiederum Imaginationen und Suggestionen heraufbeschworen, und wurde als Körper zum Vermittler zwischen Akustischem und Visuellem, Zeit und Raum, Unsichtbarem und Sichtbaren.292 Folgten diese Transformationen zwischen den Sinnen und Künsten keiner gedanklich-inhaltlichen oder sprachlichen Logik, so lassen sie sich nur im Rahmen einer synästhetisch inspirierten Ästhetik nachvollziehen, die sowohl imaginär als auch auf physiologisch motivierte, körperlich-sinnliche Wirkungseffekte ausgerichtet war. Verschwand der Mensch als subjektives, individuelles Element von der Bühne, so fand parallel ein radikaler Subjektivierungsprozess statt. Denn das von Appia umrissene Bühnenwerk entsprang als subjektive, synästhetische Vision einem Schöpfer, dem Regisseur als Gesamtkünstler, der, gewissermaßen als Farbenhörer, die Musik in ein gewaltiges, bewegtes Bild transformierte. Diese Überlegungen gewinnen bei der Betrachtung der weiteren, von Appia angedachten Bühnenmittel an Bedeutung. Nach dem Darsteller folgte in Appias Klassifizierung der theatralen Mittel das Licht, mit dem der „Wort-Tondichter sein Bild malt“293 und das Appia in völlig neuer Weise als ästhetisches Mittel einsetzte: „Das Licht richtet sich nach der Musik, diese beseelt die Bewegung. Das Licht erklärt sie [...]. Dies ist aber nur möglich, wenn das Licht ein Milieu schafft. Es muß für die Bewegung werden, was der Resonanzboden für den Ton ist. [...] es muß den sich Bewegenden anregen, indem es sich mit der Musik zu einer seelischen Kraft verbindet. Ton und Lichtbewegung wollen ein und dasselbe ausdrücken. Der rhythmisch bewegte Mensch erlebt es. Sein Körper macht es in Bewegungen sichtbar. Wir erleben es mit, wir hören und sehen es zugleich [...] Ein ‚tönendes Licht‘ – wäre etwa das, was wir suchen.“294 musikalische Zeitmaß gleichsam im Raum Gestalt gewinnen und bestimmen dadurch auch die Verhältnisse der gesamten übrigen Inszenierung.“ Ebd., S. 40. [Herv. i.O.] 290 Ebd. 291 Vgl. Hiß (2005), S. 100. 292 „Im Tanz schafft sich der Körper ein fiktives Milieu. Um dies zu ermöglichen opfert er dem musikalischen Zeitmaß die begriffliche Bedeutung seines persönlichen Lebens und gewinnt dafür den lebendigen Ausdruck seiner Formen. Was die reine Musik für unser Empfinden, das ist der Tanz für den Körper: eine fiktive, ohne Rücksicht auf den Verstand sich bekundende Form.“ Appia (1986), S. 43. 293 Appia (1982a), S. 53. 294 Appia zit. nach Giertz (1975), S. 127f. [Herv. i.O.]
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Parallelisierte er das Licht auf der einen Seite mit der Musik und auf der anderen Seite mit der Bewegung des Schauspielers, so war es in synästhetischer Manier nicht nur sicht-, sondern auch hörbar. Dafür sah Appia zwei Arten von Licht vor: ein verteiltes Stimmungslicht, das als Teil des Bühnenbildes von diesem gefärbt und geformt wurde, und ein gestaltendes Licht, das die Plastizität und Dreidimensionalität des Darstellers unterstützen sollte. Als Übertragung einer subjektiven Vision auf die Bühne war Appias Bühnenwerk durch vielfältige synästhetische Operationen der Übersetzung vom Akustischen ins Visuelle und umgekehrt gekennzeichnet, die auf grundlegende Wahrnehmungselemente, wie Rhythmus oder Bewegung, referierten: „Der Rhythmus verbindet das Leben der Töne eng mit den Bewegungen unseres Organismus. Dies ist bereits ein Meilenstein der bedeutsamen Transposition. Andererseits bedarf das Licht unbedingt der plastischen Formen, um sich ausdrücken zu können. Nun gilt es, die vom Rhythmus auf unseren Organismus übertragenen Bewegungen [...] mit den vom Licht offenbarten plastischen Formen zu vereinen, die in unseren Augen das eigentliche Wesen des Lichts ausmachen. Der Brennpunkt, an dem einerseits Klangwellen dank dem Rhythmus und andererseits Lichtstrahlen dank den drei Dimensionen zusammenlaufen, ist der menschliche Körper. Er ist der aussöhnende Endpunkt, die zeitweilige Verkörperung des Gottes des Gesangs und des Lichtes.“295
Der menschliche Körper als Empfänger von Licht- und Klangwellen wurde sowohl in Form des Schöpfers, des Darsteller, als auch des Zuschauers zum Kulminationspunkt eines auf sinnliche Wirkung angelegten Bühnenwerkes, das bei aller mystifizierenden Rhetorik in höchstem Maße synthetisch-konstruktiv und subjektiv war. So plante Appia zur Eliminierung aller zufälligen Faktoren für jede Inszenierung eine „Partitur der scenischen Darstellung“296, in der alle Bühnenelemente enthalten sein sollten. Appia schuf auf diese Weise eine völlig neue Art der Inszenierung und revolutionierte mit seinen dreidimensionalen, architektonischen Räumen das Bühnenbild. Die Begegnung mit Emile Jaques-Dalcroze und seinem System der Rhythmischen Gymnastik im Jahr 1906 bot Appia die Möglichkeit, seine Ideen der Transformation von Musik in den Raum über den Körper des Sänger-Darstellers seines Wort-Tondramas in der Praxis zu erproben. Jaques-Dalcroze entwickelte die Rhythmische Gymnastik während seiner Arbeit als Musikpädagoge am Genfer Konservatorium zunächst als Reformsystem für die musikalische Ausbildung, nachdem er bei den meisten seiner Schüler eine hochgradige Arhythmie diagnostizierte, die er auf ein gestörtes Gleichgewicht zwischen geistigen und körperlichen Kräften zurückführte. Im antiken Griechenland, genauer 295 Appia (1982a), S. 53. 296 Appia (1982b), S. 54.
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in der griechischen Orchestik, entdeckte er, wie schon Wagner und Nietzsche, in der Einheit von Wort, Musik, Tanz und Rhythmus die von ihm gesuchte Harmonie zwischen geistigen und körperlichen Elementen. Nach diesem Vorbild sollte die Rhythmische Gymnastik den Menschen physisch und psychisch sensibilisieren und die Fähigkeit fördern, äußere Eindrücke in adäquate Ausdrucksformen umzusetzen. Der Musikhistoriker Hermann Abert beschrieb 1899 die Grundlagen der JaquesDalcrozʼschen Methode: „Sie [...] geht aus von der Annahme enger auf dem Prinzip der Bewegung beruhender Wechselbeziehungen zwischen Klang und Rhythmus einerseits und dem menschlichen Gemütsleben andererseits; ihr Hauptsatz ist: die hörbare Bewegung vermag die Bewegung der Seele nicht nur darzustellen und widerzuspiegeln, sondern auch zu erzeugen. Den Ursachen, auf welchen dieser geheimnisvolle Konnex beruht, nachzuspüren, darauf lässt sich jene Lehre nicht ein; es genügt ihr, sein Vorhandensein auf empirischem Wege zu konstatieren.“297
Parallelisierte demzufolge Jaques-Dalcroze die Musik zugleich mit der körperlichen Bewegung als auch mit den Empfindungen nach synästhetischem Muster, so konnten sich diese drei Elemente gegenseitig beeinflussen. Zum Transformationsmechanismus zwischen Bewegung, Musik und Psyche wurde der Rhythmus, der allen drei Elementen angehöre.298 Dabei ist Aberts Behauptung, Jaques-Dalcroze hätte nicht nach einer Erklärung für diese Verbindungen gefahndet, nicht ganz richtig. Denn zumindest in den Jahren 1905/06 arbeitete Jaques-Dalcroze gemeinsam mit dem Psychophysiologen Eduard Claparède, der nicht nur selbst Synästhetiker, sondern auch glühender Verfechter der audition colorée als besondere Gabe war,299 an der Entwicklung der Terminologie der Rhythmischen Gymnastik. Es ist also anzunehmen, dass Jaques-Dalcroze Kenntnis von diesem ungewöhnlichen Phänomen und den Debatten darüber hatte, die sich wesentlich auf die Ausformulierung seiner Methode auswirkte. Wie es sich im Farbenhören materialisierte, zielte die Rhythmische Gymnastik auf die Übersetzung von Akustischem in visuell-räumliche Sphären ab, die auf der Annahme elementarer Verbindungen zwischen den Sinnen, dem Muskel- und Nervensystem und psychischen Prozessen basierten. Dadurch könne, so Jaques-Dalcroze Auffassung, ein musikalischer Impuls direkt in einen körperlichen umgewandelt werden, ein Prozess, der mittels rhythmisch-gymnastischer Übungen sensibilisiert, intensiviert, beschleunigt und letztlich automatisiert werden sollte, so dass die Übersetzung unbewusst und ,zwangsmäßig‘ abläuft. Der Mensch sollte 297 Abert zit. nach Giertz (1975), S. 8. 298 Der Rhythmus der Bewegung meinte dabei aber nicht den Rhythmus der Musik im Sinne von Takt, sondern einen inneren körpereigenen Rhythmus. Diese Unterscheidung und definitorische Abgrenzung bleibt bei Jaques-Dalcroze jedoch schwammig. 299 Vgl. Claparède (1900).
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„[...] endlich ein musikalischer Resonator“ werden, „der so leicht und so getreu die ihn treffenden Schwingungen übernimmt, daß er jede durch die tönenden Rhythmen ausgelöste ästhetische Erregung spontan in Haltung und Gebärden umsetzen kann“300. In diesem Sinne war die Rhythmische Gymnastik v.a. eine synästhetische Wahrnehmungs- und Körperschulung. Noch deutlicher wurde die Beziehung zu Konzepten des Synästhetischen in der von Jaques-Dalcroze konzipierten Weiterentwicklung der Rhythmischen Gymnastik zur neuen Kunstform der plastique animée.301 Die belebte Plastik sollte dazu übergehen, „Bewegungsformen zu gestalten ohne Beihilfe äußerer Töne, allein vermöge der eigenen ihr innewohnenden Musik“302. Durch das in Analogie zu einem Orchester organisierte Auftreten polyrhythmischer Gruppen in reiner Bewegung auf der Bühne sollten Kompositionsstrukturen und Musik erst synästhetisch im Zuschauer erzeugt werden.303 Auf diese Weise wurde Jaques-Dalcroze zur Ikone eines neuen Tanzes, insbesondere des Ausdruckstanzes, der wesentlich durch die Rhythmische Gymnastik gespeist wurde.304 So bemerkte Fritz Böhme, der die Ausdruckstanzbewegung in den 1920er Jahren in Deutschland journalistisch und theoretisch begleitete, Jaques-Dalcroze habe den Blick auf den Körper gelenkt und mit dem Konzept des musiklosen Tanzes die „Entwicklung eines von der Musik unabhängigen Bewegungs- und Körpergefühls und [die] Schaffung einer Kunst, die auf den inneren rhythmischen Gesetzen körperlicher Bewegung aufbaut“305, unterstützt. Entwarf Jaques-Dalcroze ein rhythmisch-synästhetisches Übersetzungsmodell von Musik in Bewegung und umgekehrt, so verfolgte er damit nicht zuletzt sozial-utopische Ansprüche, die von einer Verfeinerung des Intellekts bis hin zu einem neuen Menschengeschlecht reichten, 300 Jaques-Dalcroze zit. nach Giertz (1957), S. 78. 301 „Wenn die Verkörperung der musikalischen Rhythmen (dank der Übertragung übersinnlicher Gefühle in Muskelbewegung und umgekehrt) einmal bis zur Vollendung ausgebildet ist, [...] so ändert die Rhythmik ihren Charakter und wird zu einer ästhetischen und zugleich sozialen Kundgebung [...] jener besonderen Kunst, die wir [...] bewegte oder lebendige Plastik nennen können.“ Jaques-Dalcroze zit. nach Giertz (1975), S. 105. 302 Jaques-Dalcroze zit. nach ebd., S. 92. 303 Die plastique animée erinnert damit an Ideen einer Farblichtmusik für Gehörlose, aber auch an die Experimente des in den 1920er Jahren entstandenen absoluten oder abstrakten Films, der auch als bewegte Malerei oder „Augenmusik“ bezeichnet wurde. 304 V.a. über die internationale Künstlerkolonie Monte Verità bei Ascona, einem Kultort der Avantgarde und der Lebensreformbewegung, wo sich Jaques-Dalcroze 1909 zur Kur befand, verbreitete sich seine Methode. 1913 gründete Rudolf von Laban dort eine Zweigstelle seiner Münchner Tanzschule, deren Schülerin auch die in Hellerau ausgebildete Mary Wigman wurde. 305 Böhme, Fritz (1921) S. 12.
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ganz im Sinne von Claparèdes Interpretation der Farbenhörer als ,Seher‘ eines affektiv-intuitiven Wissens.306 Die Gymnastik wurde in der Praxis meist in Gruppen ausgeübt, so dass daraus zudem ein neues Gemeinschaftsgefühl resultiere, das „das Entstehen einer schöneren Menschheit“307 befördere. Ansatzweise umsetzen konnte Jaques-Dalcroze diese Utopie in der Gartenstadt Hellerau, wo 1910/11 die Schule für Rhythmische Gymnastik, Musik und Körperbildung mit einem Festspielhaus als Heimstatt entstand, an dessen architektonischer Gestaltung auch Appia mitarbeitete. Als Modell einer neuen Lebensform war Hellerau für die wachsende Klasse der Arbeiter konzipiert, die mit dem Festspielhaus und der Dalcrozʼschen Schule nicht nur kulturelle Anregung, sondern auch für den Arbeitsalltag stählende, körperliche Schulung erhalten sollten.308 Am Ende jedes Schuljahres fanden Schulfeste statt, bei denen Ergebnisse von Jaques-Dalcrozes Unterricht gezeigt wurden, die sich zu einem Anziehungspunkt für Künstler aus ganz Europa entwickelten. So sahen bei dem Schulfest 1913 u.a. Konstantin Stanislawski, Max Reinhardt oder Sergej Diaghilew Teile aus Glucks Oper Orpheus und Eurydike, inszeniert von Appia. Der Schriftsteller Upton Sinclair schrieb euphorisch: „Musik war sichtbar geworden“309. Verwirklichte sich in dieser Form die künstlerische Umsetzung des Synästhetischen als Transformation zwischen den Sinnen und Künsten, so war sie mit dem Umbau des gesamten Theaterapparates und einer Besinnung auf das ihm spezifische Ausdrucksmaterial aus produktions- und rezeptionsästhetischer Sicht verbunden. Dabei waren die neuen Theaterentwürfe, die Rhythmische Gymnastik oder auch der Ausdruckstanz weit mehr als neue künstlerische Techniken. Als Teil einer umfassenden Lebensreform, sozialer und gesellschaftlicher Utopien erhoben sie das Synästhetische zum neuen Wahrnehmungsmuster der Moderne und zu einer einheits- und gemeinschaftstiftenden Kommunikationsform jenseits von Sprache, das Interaktionen zwischen den Sinnen, zwischen Körper und Geist, zwischen Zuschauer und Publikum nach physiologischen Prinzipien sicherstellte. In der Entwicklung und Er306 „Elle aura pour résultat de créer des êtres vivants et sensibles, capable d’extérioriser des sensations vives et spontanées et de comprendre et d’aimer la musique dont ils sont chargé de traduire les émotions.“ Jaques-Dalcroze zit. nach Giertz (1975), S. 80f. 307 Jaques-Dalcroze zit. nach ebd., S. 99. 308 So kann die Rhythmische Gymnastik auch als Disziplinierung und Anpassung des Körpers an die von Maschinen vorgegebene Industriearbeit gelesen werden. Allerdings ging das Konzept nicht auf, denn die Schule von Jaques-Dalcroze wurde zumeist von Töchtern aus besserem Hause besucht, die auch das Schulgeld bezahlen konnten. 309 „Mit Hilfe eines anderen Sinnes erhöhte sich die Wirkung des Kontrapunktes. Musik war sichtbar geworden und als der Vorhang vor Orpheus und seiner Gattin in ihrer Glückseligkeit niederfiel, erschütterte ein Beifallsturm das Haus. Männer und Frauen erhoben sich, um mit ihren Rufen ihrem Entzücken über die Offenbarung einer neuen Kunstform Ausdruck zu geben.“ Sinclair zit. nach Giertz (1975), S. 167f.
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probung synästhetischer Vermittlungs- und Übersetzungsstrategien entdeckte das Theater seine spezielle Form der Präsentation, seine Gegenwart und Medialität. Diese analytische Reflexion der künstlerischen Mittel als präsemantische Wirkungen auf Sinne und Körper durchtränkte das Theaterschaffen von Edward Gordon Craig, Wsewelod Meyerhold, Georg Fuchs, Jaques Copeau und vielen anderen.310 Dabei wurden neuartige Synergien und synästhetische Ergänzungen zwischen den Künsten offenbar, die die Bühne als Ort für Musiker, Maler und Architekten attraktiv machte. Wurden die Korrespondenzen zwischen den Künsten und Sinnen zwar als allgemeinverständlich und universell inszeniert, so erforderten sie dennoch einen neuen Künstlertypus als Meister der Synthese, der die verschiedenen Mittel und Künste systematisch miteinander kombinierte. Im Theater realisierte sich dieser Prozess in der Herausbildung des Regisseurs als genialem synästhetischem Gesamtkünstler, der Zugang zum Übersubjektiven, Übersinnlichen und Transzendenten hatte und es auf der Bühne synästhetisch vergegenwärtigen und beschwören konnte.311 Als neuer Künstlertypus des Regisseurs par excellence kann Edward Gordon Craig, bezeichnenderweise ursprünglich Maler, betrachtet werden, der, so Guido Hiß, das Bindeglied zwischen dem symbolistischen Theateraufbruch und einem modernen Regietheater verkörperte, indem er Schopenhauer, Baudelaire, Appia und Maeterlinck zu einer neuen Vision des Theaters als Kunst verknüpfte.312 Craig gestaltete das Theater zum Tempel der Erfahrung einer transzendenten Welt und den Theaterkünstler zu einem synästhetischen Seher, der „mehr wahrnimmt als andere menschen und mehr darstellt, als er wahrgenommen hat“, ein „künstler der zeremonien“, „schöpfer der visionen“, dessen Aufgabe es sei „den höchsten geist zu feiern – den geist der bewegung“313. Als Beschwörer einer imaginären Welt der Geister und Schatten verband und kombinierte der Theaterkünstler die theatralen Aus314 drucksdimensionen miteinander, wobei Craig, wie schon Appia und Jaques310 So verwies Meyerholds ästhetisches Konzept des bedingten Theaters auf die Eigengesetzlichkeiten des Theaters. Fuchs propagierte die „Schaubühne der Zukunft“ und Copeau verfocht eine Kunst „de créer une atmosphère dramatique par le moyen de la couleur, de la forme et de la lumière“ Copeau zit. nach Geil (1999), S. 23. 311 „Das vordergründig übersubjektive Programm lässt sich – egal ob es Theater als kollektive Feier oder als Materialisationsort der Idee konzipiert – lesen als Aufblähung zumindest einer Subjektivität: der des Künstlers.“ Hiß (2005), S. 119. 312 Vgl. ebd., S. 128. 313 Craig (1969b), S. 68. 314 „die kunst des theaters ist weder die schauspielkunst noch das theaterstück, weder die szenengestaltung noch der tanz. sie ist die gesamtheit der elemente, aus denen diese einzelnen bereiche zusammengesetzt sind. sie besteht aus der bewegung, die der geist der schauspielkunst ist, aus den worten, die den körper des stückes bilden, aus linie und far-
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Dalcroze, auf eine spezifische, physiologisch definierte Körperlichkeit als Basis eines neuen Theatermodells abzielte. Seine provokanteste Forderung in dem Aufsatz Der Schauspieler und die Übermarionette von 1907 bestand darin, den menschlichen Schauspieler mit seiner Individualität, Subjektivität, Privatheit und Unplanbarkeit, die ihn als Instrument des Gesamtkünstlers als ungeeignet erweisen, aus dem Theater zu verbannen. Stattdessen propagierte er eine Schauspielkunst der symbolischen Gebärdensprache, die nicht verkörpert, sondern szenisch vorführt und zwischen einem Körper in Trance, der dem Reich der Phantasie und des Todes nahe stehe, und dem Schauspieler als Maschine, der sich der künstlerischen Idee und dem Geist des Regisseurs unterordnet und eine höhere Ordnung mathematischgeometrisch realisiert, schwankte. In der Logik der Zeit verknüpfte Craig die Rückkehr zum Kultischen mit dem Entwurf eines neuen Menschenbildes mit verbesserten, d.h. an die modernen industriellen Lebensbedingungen angepassten, geistigen, sinnlichen und körperlichen Fähigkeiten im Sinne eines Maschinenmenschen. Verwies Craig damit bereits auf folgende futuristische und konstruktivistische Theaterkonzepte,315 so nahm die Figur und Konzeption des Darstellers/Schauspielers in den Entwürfen der Theaterreformer generell eine wichtige Stellung ein, verdichteten sich in ihnen nicht selten neue Menschenbilder und Anthropologien.316 Die Diskussion kulminierte dabei v.a. in der Frage nach der Einfühlung in die Rolle und der Authentizität und Wahrheit der Darstellung, deren Definitionen jedoch variierten. Plädierte z.B. Konstantin Stanislawski für den Einbezug der eigenen inneren Gefühle in die Rolle, um im Sinne der Illusion einen lebensnahen authentischen Ausdruck zu erzielen, so strebten Theaterentwürfe wie die von Appia oder auch Craig nach einer übergeordneten, metaphysischen Wahrheit, dem Überpersönlichen, die Zeiten Überdauernden, das ein Persönlich-Individuelles verkörpernder Schauspieler störte. Dabei lässt sich die Differenz zwischen beiden Ansätzen unter Berücksichtigung des jeweils im Fokus stehenden Künstlers auflösen. Ist es bei Craig der ,Regisseur‘, der das Bühnenwerk als kollektives Erlebnis aus seiner inneren Vision schafft, so stand bei Stanislawski der Schauspieler als Schöpfer seines eigenen inneren Dramas und dessen Transformation in die Rolle im Mittelpunkt, deren Echtheit allein wiederum die Wirkung im Zuschauer garantierte. Im Grunde suchten jedoch naturalistische und symbolistische Darstellungstheorien nach einer Neubestimmung des Lebens und der Ordnung, die über dem Einzelnen liegt, und gründeten gleichermaßen auf einer modernen Anthropologie und einem psycho-physiologischen Körperverständnis. Sowohl in der Konzeption des Regisseurs als auch der des Schauspielers spiegelte sich das Paradox zwischen Subjektivierung und Entindividualibe, welche die seele der szene sind und aus dem rhythmus, welcher das wesen des tanzes ist.“ Craig (1970), S. 101. 315 Vgl. Hiß (2005), S. 134. 316 Vgl. Baumbach (2012), S. 15, 127ff.
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sierung, das zur selben Zeit auch den wissenschaftlichen Synästhesiediskurs prägte, wider. Der Rückzug in innere, imaginäre und artifizielle Welten, wie ihn Romantiker und Symbolisten als Flucht vor dem sich beschleunigenden Wandel der industriellen Welt wählten, war verbunden mit der Erfahrung der Vereinzelung, die sich in eine moderne Entfremdungserfahrung fügte und wiederum den Wunsch nach kollektivem Erleben in Gang setzte. Das Theater als kultisch und rituell besetztes Gemeinschaftserlebnis bot die Möglichkeit alle Teilnehmenden zu Eingeweihten werden zu lassen, was im Wesentlich auf Mechanismen des Synästhetischen beruhte. Verlief die Diskussion im Rahmen der Erneuerung des Theaters durch die Abschaffung der Guckkastenbühne und neue architektonische Theatermodelle vordergründig über eine Neuformulierung des Verhältnisses zwischen Zuschauenden und Darsteller, so zielten diese Überlegungen auf die Installation einer neuen Art der Wirkung und Einfühlung, die nicht verstandesmäßig, sondern als synästhetische Miterregung aller Gefühls- und Empfindungssphären physiologisch und automatisch über die Sinne funktionierte. Dabei war es nicht zwingend notwendig, alle Sinne gleichermaßen anzusprechen, im Gegenteil, das Modell des Synästhetischen garantierte ja gerade die automatische Aktivierung aller Sinne des Zuschauers und versprach zudem, ein ursprünglicher, zivilisatorisch verdrängter Mechanismus zu sein. In einer radikalen Simplifizierung der Botschaft auf allgemeine Formeln, so Hiß, zielte ein dionysisches Massentheater durch rhythmische Impulse und die multisensorische, synästhetische Körperstimulation, die sich zu rauschhaften, ekstatischen Gemeinschaftserfahrung steigern sollte, auf die körperliche Einschwingung aller Beteiligten ab.317 Ein solches kollektivistisches Überwältigungstheater in Extremform praktizierte z.B. Georg Fuchs, der in Anlehnung an Nietzsche das Dionysische zum absoluten, die Individuation überwindenden Prinzip erklärte.318 Im Rahmen der sogenannten Stilbühnenbewegung, die ein synästhetisch-rhythmisches Zusammenspiel von Farben, Bewegung, Musik und Gerüchen zur Befriedigung übersinnlicher, geistiger Bedürfnisse anstrebte, arbeitete Fuchs ab 1908 gemeinsam mit Peter Behrens und Hans Littmann am Münchner Künstlertheater.319 In der letzten Konsequenz führten derartige Entwürfe zur Auflösung des Theaters und dem Aufgehen von Spielendem und Schauenden in der chorischen Urgemeinschaft, für die symptomatisch die Forderung nach der Abschaffung der Rampe als Trennung von Ich und Welt propagiert wurde. Hatte das Theater seine kultischen Elemente im Prozess der Zivilisation eingebüßt, so war das Rauscherlebnis nur durch moderne „dionysische Medientechniken“320, die direkt auf die Sinne und den Körper wirkten, wie das Synästhetische oder Rhythmische, 317 Vgl. Hiß (2005), S. 164. 318 Vgl. ebd., S. 169f. 319 Vgl. Hoßner (1983), S. 86. 320 Hiß (2005), S. 180.
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zu erreichen.321 Auch die Sprache wurde dieser Prämisse unterworfen, indem sie in der Wiederentdeckung ihrer sinnlichen, klanglichen und akustischen Qualität von ihrem gedanklichen Inhalt befreit wurde. So entwickelte z.B. der Maler und Dramatiker Lothar Schreyer das an musikalischen Regeln orientierte Klangsprechen für sein „Farbformtonspiel“322, einem neuen Bühnenwerk, in dem Farbe, Form, Bewegung und Ton in Kombination mit überlebensgroßen Ganzmasken eine neue theatrale Einheit bildeten.323 Indem Schreyer die Bühne als Ebenbild des Kosmos, als „mystische Hochzeit von Natur und Geist“, als Ort des „Sehers und der Schauenden“, der alle Teilnehmer „in der Schau der Ekstase“324 vereint, verstand, definierte er ein hochgradig synästhetisches und synthetisches Theaterkonzept.325 Der Regisseur wurde zum Propheten, der im Bühnenwerk die geheimen Zusammenhänge zwischen den Dingen offenbart, durch Abstraktion in das innere Wesen des Menschen vordringt und im Erleben die Gemeinschaft zur Überwindung der Grenzen des Ichs und des Scheins führte.326 Reduzierte Schreyer die Bühnenmittel auf 321 „Rhythmische Bewegung des Körpers im Raum versetzt andere Menschen in gleiche und ähnliche Schwingungen und damit in einen gleichen oder ähnlichen Rauschzustand.“ Fuchs zit. nach Hiß (2005), S. 170. 322 Schreyer zit. nach Hoßner (1983), S. 142 323 In der Schrift Die neue Kunst schrieb Schreyer 1919: „[...], die Vision des Dichters besteht aus Vorstellungen. [...] Die optischen Vorstellungen werden im Inhalt der Worte gegeben, die akustischen im Laut der Worte, die Bewegungsvorstellungen im Rhythmus der Worte. Jeder Laut hat einen besonderen Wert. Von jedem Vokal geht eine andere Wirkung aus. [...] Und die einzelnen Verbindungen der Konsonanten und Vokale wirken wieder anders. Jedes Wort ist komponiert. Das Lautgebilde der Wortform steht in einem adäquaten Verhältnis zum Wortinhalt. [...].“ Schreyer zit. nach AllendeBlin (1994), S. 179. 324 Schreyer zit. nach Hoßner (1983), S. 142. 325 „Der Bühnenraum ist eine Entsprechung des kosmischen Raums. Und die bewegten tönenden Gestalten im Bühnenraum sind Entsprechungen aus der geistigen Wirklichkeit, wie sie im Menschen gipfelt. Und es ist das Leben der Kunst, dass sie das Menschenbild zu künden vermag, wenn die Gestalt kein unmittelbares Abbild der äußeren Menschengestalt, sondern eine Abstraktion, gestaltet als Ausdruck der inneren Schau, ist.“ Schreyer zit. nach ebd., S. 146. 326 1917/18 schrieb Schreyer in Das Bühnenkunstwerk: „Das Bühnenkunstwerk [...] ist von einem Seher des Geistes geschaut [...]. Die Grundfarbformen, die Grundbewegungen, die Grundtöne lösen Gefühlskomplexe aus [...]. Die Schöpfung schöpft aus dem Unbewussten. Sie schafft das Unbewusste [...]. Das Geheimnis des Seins bleibt dem Bewusstsein verschlossen [...]. Wir sind nicht mehr Schein, nicht mehr Erscheinung des Seins. Wir sind selbst der Grund des Werdens. Wir sind Sein.“ Schreyer zit. nach ebd., S. 143.
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Grundformen, Grundfarben und reine Töne, um mit Hilfe von Pathos und Bewegung eine universale Ordnung zu veranschaulichen, so erinnerte das Bühnengeschehen an die Wahrnehmungserfahrung von Synästhetikern. Während Masken und Beleuchtung die Farbformgestaltung organisierten, wurden die Stimmen als Farbformbewegungen nach Rhythmus, Tonhöhe und Lautstärke behandelt.327 Das Ideal war eine primitive Ursprache, die die synästhetische Wirkung unterstützte und, vom Inhalt gereinigt, in Klang und Rhythmus transformiert wurde. Aus der rhythmischen Sprechmelodie und den Schwingungen des Wortklanges leitete sich der Bewegungsrhythmus jedes Spielers als eigener ,innerer Klang‘ ab und verband sich mit den Rhythmen der anderen Spieler zu einem gemeinschaftlichen Bewegungsrhythmus. Die Sprache erhielt damit in etwa die Aufgabe, die der Musik bei der Rhythmischen Gymnastik zukam. Als musikalische Begleitung setzte Schreyer meist einfache, exotische Instrumente wie die Glasharmonika oder die ,Negertrommel‘ ein, das Licht wurde als Möglichkeit zur Verwandlung „von Körperlichkeit in Geistigkeit“328, als Entmaterialisierung und Erzeugung einer imaginativen Welt eingesetzt. Die expressionistischen Ganzkörpermasken aus geometrischen Grundformen mit einer Höhe von bis zu drei Metern befreiten den Darstellerkörper nicht nur von seiner Individualität, sondern verwandelten ihn zugleich in eine „Farbkomposition“329. Dabei verkörperte jede Form, Farbe und Bewegung sinnbildlich eine Funktion der kosmischen Ordnung. Kugel und Kreis z.B. stellten die Unendlichkeit dar, Weiß symbolisierte das Licht, Geburt und Reinheit usw. Ähnelte diese Zuordnung Entsprechungssystemen, wie sie im Rahmen der Synästhesieforschung bei Naturvölkern oder bei dem ,Universal-Synästhetiker‘ Athanasius Kircher im 17. Jahrhundert zu finden waren, so entstand durch die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen ein ikonografischer, symbolischer Text. Zwischen 1916 und 1925 konzipierte Schreyer mehrere solcher Farbformtonspiele, für die er selbst die Texte schrieb und in Partiturform alle Parameter notierte. Einige von diesen, an das Farbenhören angelehnten Bühnenstücken realisierte Schreyer an der Sturmbühne, deren Leiter er von 1917 bis 1920 war. Vor dem Hintergrund, eine direktere Wirkung nicht auf ein Subjekt, sondern auf eine Masse zu erzielen und dadurch Gemeinschaftserfahrungen zu generieren, wurden alle Elemente des Theaters, vom Schauspieler über Musik und Sprache bis hin zu Bühnenarchitektur, Bühnenbild und Beleuchtung, völlig neu definiert. Über all327 „Das Bühnenwerk gestaltet [...] mit den Mitteln Farbe, Form, Ton, Bewegung. Die Bewegung färbt die Farbe. Der Ton bewegt die Farbform. Die bewegte Farbform tönt. Jedes Bühnenwerk hat seinen Rhythmus. [...] Die Farbform erscheint im Raum als rhythmische Linie und rhythmische Fläche. Der Ton erscheint als Wortton, Musikton, Geräuschton.“ Schreyer zit. nach Allende-Blin (1994), S. 179. 328 Schreyer zit. nach Hoßner (1983), S. 153. 329 Schreyer zit. nach ebd., S. 150.
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dem schwebte die synästhetisch konzeptionierende und agierende, in der Theatergeschichte neue Künstlerpersönlichkeit des Regisseurs.330 Diese Entwicklung implizierte ein neues Massentheater, wie es z.B. Max Reinhardt mit seinem am antiken Amphitheater orientierten Theater der 5000 umsetzte, das in seiner Nähe zu liturgischen Feiern nicht nur auf eine Aktivierung des Zuschauers, sondern dessen Überwältigung und Betäubung zielte.331 Der Schritt zur ideologischen, propagandistischen Vereinnahmung derartiger theatraler Modelle war nicht weit und wurde sowohl von linken Gewerkschaften als auch im nationalsozialistischen Thingspiel vollzogen, in denen die Figur des Regisseurs zur Führeranalogie mutierte. Partizipierte diese Entwicklung an der durch die Synästhesiedebatte ermöglichten, physiologischen Transformation und Übersetzung von akustischer und visueller Sphäre, die die Symbolisten mit ihrer Korrespondenzästhetik auf das Theater übertrugen, so lieferten Theaterpioniere wie Appia, Craig, Jaques-Dalcroze, Fuchs oder Schreyer die dazu passende Apparatur und Theaterarchitektur. Das Synästhetische schrieb sich dabei in eine Theaterästhetik der Moderne ein und wurde zunehmend medial besetzt, indem das zunächst mit theatralen Mitteln erprobte Setting einer visuellen Musik oder der reinen Bewegung im neuen Medium des Films perfektioniert wurde. Verschwand im Theater zwar die Illusion oder Nachahmung einer äußeren Realität, so reiften auf dessen Basis Techniken und Praktiken der Illusionierung, Täuschung und Überwältigung der Sinne und der Wahrnehmung heran, die als massenwirksame Effekte vom Film und von anderen technischen Medien weitergeführt wurden.
II.7 T ANZ DER NEUEN T ECHNIK ( EN ). AVANTGARDE , ABSTRAKTION UND DIE M EDIALISIERUNG DER S INNE Das Synästhetische wurde in der Moderne im Rahmen einer Erneuerung und Rekollektivierung der Kultur zur Schnittstelle zwischen dem Aufbrechen überkommener Wahrnehmungsmuster, einer Reaktivierung verborgener leiblich-sinnlicher Wissensbestände und der Herausbildung technisch-medial basierter Kommunikationsformen, die nicht als Widerspruch angelegt waren, sondern sich gegenseitig bedingten.332 Sowohl mystifizierende Einheitsutopien als auch neue technische
330 „Das synästhetisch gesteigerte raumzeitliche Pulsieren der Masse stellt das Pendel [...] jenes Hypnotiseurs dar, der sich in der Maske der Regie verbirgt.“ Hiß (2005), S. 189. 331 Vgl. ebd., S. 192ff. 332 „Die Synästhesien bildeten ein entscheidendes Element einer schon bei Wagner angelegten physiologischen Ästhetik. Sie waren ein Faszinosum der künstlerischen wie
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Errungenschaften, die im Begriffsfeld von Vibrationen, Energien, Strahlen und Strömen zusammengingen, speisten das Synästhetische und verbanden sich darin. So eröffnete die flächendeckende Einführung des elektrischen Stromes in den Lebensalltag und auf die Theaterbühnen in den 1880er Jahren, ermöglicht durch die Erfindung des Elektrizitätswerkes durch Thomas Alva Edison im Jahr 1879, völlig neue Perspektiven für den Einsatz verschiedenster Apparate und Geräte im täglichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Gebrauch, die neue Bühnenentwürfe und ästhetische Konzepte wesentlich mitbestimmten. Beispielhaft dafür steht die Tänzerin Loïe Fuller, die als Fée de l’Electricité im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts Aufsehen erregte. Mit dem sie berühmt machenden Serpentinentanz, bei dem sie meterlange Stoffbahnen mittels die Arme verlängernden Stäben um ihren Körper schwang, während sie in wechselnden Farben beleuchtet wurde, debütierte Loïe Fuller am 5.11.1892 im Pariser Theater Folies Bergère. Zeigte Fuller eine völlig neue, von jeglichem Erzählauftrag befreite Konzeption von Tanz jenseits des klassischen Balletts, so lag ihre Innovationskraft v.a. im Einsatz und in der Umsetzung neuer technischer Mittel für die Bühne, die sie in engem Kontakt mit einer Reihe von Wissenschaftlern erarbeitete.333 Im Verzicht auf jegliches Bühnenbild, Rampenlicht und Saalbeleuchtung transformierten die Schleier als einzige Projektionsflächen das Licht und verwandelten das Tanzkleid in eine kinematografische Leinwand.334 In der Symbiose mit den neuen Lichttechniken verschwand der Tanzkörper als darstellendes Subjekt und das elektrische, farbige Licht und die Bewegung wurden zum Zeichenträger.335 Die daraus entstehenden Metamorphosen boten dem Publikum verschiedene individuelle Wahrnehmungs- und Rezeptionsmöglichkeiten, während das Bild der Serpentine oder Spirale, so Christopher Balme, als vitalistisches Symbol des Energetischen und Erfahrung eines pulsierenden Zeitflusses Fuller zur Repräsentantin des Zeitgeistes der Moderne aufstiegen ließ.336
wissenschaftlichen Diskussion der Moderne, die sich um neue Wahrnehmungs- und Kommunikationsstile drehte. Dabei verbanden sich ästhetische und kulturanthropologische mit technologischen und sozialen Argumentationen.“ Baxmann (2000), S. 139. 333 Sie war mit dem Astronom Camille Flammarion befreundet, der die Wirkung von Farben auf organisches Leben und die menschliche Psyche erforschte, stand mit Edison, Becquerel und den Curies in Verbindung und tanzte 1903 und 1911 auf der Feier zur Verleihung des Nobelpreises. 1904 präsentierte sie den Radium Dance, für den sie Stoffbahnen mit einer radioaktiven Leuchtfarbe behandelte. 334 Vgl. Bahr, Petra (1999), S. 3. 335 Vgl. Balme (2004), S. 189. 336 „Das einfache Volk begnügte sich damit, in ihren Darbietungen das Bild eines Schmetterlings, einer Wolkenformation, eines Blütenkelchs oder eines Wirbelsturms zu
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Abbildung 2: Die Fée de l’Electricité Loïe Fuller, Plakat für einen Auftritt, 1890er Jahre, Farblithographie, von Jean de Paleologou
©William Haber Collection
In der darstellerischen Auseinandersetzung mit Bewegung und Licht als die Wahrnehmung konstituierende Elemente inspirierte Fuller Fotografen, Maler und eine ganze Generation symbolistischer und futuristischer Künstler.337 Waren die Zeitgenossen v.a. von den visuellen Effekten fasziniert, so produzierte Fuller ihre abstrak-
erkennen, während die Intelligenzia darin Zeichen einer viel abstrakteren Ebene ausmachen konnte.“ Ebd., S. 190. 337 Als Gegenspiel von Körperlichem und Unkörperlichen hat z.B. Toulouse-Lautrec die Essenz der Fuller mit seinen Lithographien festgehalten, indem er das Fuller‘sche Licht- und Farbenspiel auf Papier übertrug und versuchte, die Symbiose aus Bewegung und Farbspiel wiederzugeben. Vgl. Balme (2004), S. 186ff.
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ten Farb- und Formgebilde zur Musik, die nicht nur in additiver Funktion, sondern als strukturelles Element bei der Generierung der Bilder im Sinne einer Augenmusik agierte.338 Als Sichtbarmachung der Musik und ihres Wandels, der Übertragung vom Akustischen ins Visuelle, formte der Tanz synästhetische Bilderwelten.339 Traf Fuller in der Kombination der Ausstellung einer bewegten Wahrnehmung, die zwischen sichtbar und unsichtbar changiert, mit synästhetischen Transformationen den Nerv der Zeit, so agierten ihre Darbietungen an der Grenze von Entertainment und Avantgardekunst, zwischen Multimediakonzept und Nummernrevue. Was Fullers Tänze inszenierten, so Inge Baxmann, waren Wahrnehmungsvorgänge in einer sich ständig verändernden und bewegenden modernen Welt.340 Der Tanz, in seiner Fähigkeit, synästhetische Transformationsprozesse mit Bewegung zu kombinieren und unbewusste, nichtsprachliche Inhalte auszudrücken, avancierte zum neuen Leitmedium der Epoche und zum Experimentierfeld neuer Symbiosen von Technik und Mensch.341 Verdichtet und radikalisiert wurde dieser Zusammenhang v.a. durch den Futurismus, der 1909 von F. T. Marinetti in Paris ausgerufen wurde und die Technik zur neuen Religion erhob. Die Futuristen ersetzten die romantische Einheitsutopie einer ästhetischen Rezentrierung der Welt inhaltlich durch Begriffe wie Bewegung, Geschwindigkeit, Dynamik, Maschine und Krieg und zielten mit neuen Synthesen und der künstlerischen Provokation des Synästhetischen nicht mehr auf Korrespondenzen im Sinne geheimer Entsprechungen.342 Vielmehr appellierte die Simultaneität verschiedener Sinneseindrücke als Schockwirkung und Reizüberflutung an die Erfahrungen in der modernen Großstadt an sich, die als neues Verhältnis zur Welt inszeniert und verherrlicht wurden.343 Verzichtete der Futurismus damit nicht auf eine Ganzheitsutopie, sondern formulierte sie in der Bemühung um die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben unter urbanen und industriellen 338 Ihr musikalisches Repertoire umfasste romantische, impressionistische und symbolistische Komponisten wie Berlioz, Brahms, Chopin, Debussy, Grieg, Rimsi-Korsakow, Saint-Saëns, Schubert, Skrjabin, Strauss und Wagner. 339 Vgl. Bahr, Petra (1999), S. 11. 340 Vgl. Baxmann (2000), S. 137. 341 „[D]ie Wahrnehmungsgewohnheiten an die moderne technisierte Lebenswelt anzupassen, erforderte eine Beschleunigung des Zusammenspiels der Sinne und ihrer Übersetzung in Bewegung.“ Baxmann (2000), S. 132, vgl. Bahr, Petra (1999), S. 2. 342 Vgl. Hiß (2001), S. 201. 343 „Die Ästhetik des Simultané war jedoch mehr als ein Spiel mit den Möglichkeiten der modernen Lebenswelt, sie implizierte eine Archäologie der Wahrnehmung. Die multisensorischen Eindrücke des Großstadtlebens wiederzugeben und dabei eine ebenso viele Sinne ansprechende Wirkung auszulösen, war das Anliegen futuristischer Geräuschcollagen [...], der Mehr-Phasen-Bilder, ,kinetischen‘ Plastiken [...] oder auch der Theatersynthesen [...].“ Baxmann (2000), S. 135.
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Bedingungen neu, so wurde auch das Synästhetische neu konzeptualisiert.344 So forderte z.B. Carlo Carrà, neben Marinetti einer der Begründer des Futurismus, in seinem Manifest The painting of sounds, noises and smell aus dem Jahr 1913 von der Malerei, alle Farben der Geschwindigkeit, der Bewegung, der Freude, der Ausgelassenheit, des Karnevals, des Feuerwerks, des Kabaretts und der Music-Halls zu benutzen: „We Futurists therefore claim that in bringing the elements of sound, noise and smell to painting we are opening fresh paths. We have already taught artists to love our essentially dynamic modern life with its sounds, noises and smells, thereby destroying the stupid passion for values which are solemn, academic, serene, hieratic and mummified: everything purely intellectual, in fact. Imagination, without strings, words-in-freedom, the systematic use of onomatopoeia, antigraceful music without rhythmic quadrature, and the art of noises – these were created by the same Futurist sensibility that has given birth to the painting of sounds, noises and smells.“345
Gegen eine statische Kunst ging es um deren Dynamisierung als Entsprechung zur modernen Lebenserfahrung mit ihren lärmenden Geräuschen, verschiedensten Gerüchen und leuchtenden Farben. Der Einbezug aller Sinne und Sinneskanäle rekurrierte auf die alltägliche Wahrnehmungserfahrung, in der sich flüchtige Konstellationen von Sinnesempfindungen situativ herstellen. Ganzheitliches Empfinden generierte sich durch die Gleichzeitigkeit einer physiologisch und medial vermittelten Wirkung auf alle Sinne, wobei Polyphonie und Polyrhythmus zu wesentlichen Elementen künstlerischer Darstellung wurden.346
344 Die Affinität des Futurismus zu Ganzheitsutopien zeigte sich v.a. im politischen Bereich in seiner Nähe zum Nationalsozialismus und auch zum Kommunismus. Insofern spricht Heinz Brüggemann von einer Steigerung der Synästhesie im Futurismus: „Die Vorstellung einer dynamischen Einheit der Erscheinungswelt, eines universellen Dynamismus der Rhythmen, Farben, Töne, Alltagsgeräusche, Energien, Intensitäten, manifestiert sich künstlerisch in den Synästhesien der futuristischen Produktionen. Synästhesie ist selber eine Form der Durchdringung, eine Form des poetischen Widerstands gegen eine rationalistische Aufspaltung und zivilisatorisch-funktionale Fixierung und Verdinglichung der Sinne, auch gegen starre dualistische Entgegenstellung von Subjekt und Objekt im Prozeß der Wahrnehmung.“ Brüggemann (1998), S. 378 345 Carrà (2009), S. 156. 346 „Abstract plastic wholes, corresponding not to our sight but to the sensations which derive from sounds, noises, smells and all unknown forces that surround us.“ Ebd., S. 157.
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Abbildung 3: Carlo Carrà „Bericht eines Mailänder Nachtschwärmers“, Wort-Collage mit Notizen und Notenfragmenten, Mailand 1914
©Sammlung A. Calmarini
Entgegen einer Dominanz des Visuellen ging es um die Entwicklung alternativer Modelle der Wahrnehmung im Sinne einer, wie Brüggemann es formuliert, „neuen Einheitsformel der Moderne“ als „technisch-energetische Vernetzung der vereinzelten Einzelnen durch die medialisierten Sinne“347. Das Synästhetische – als zugleich künstlerisches Konzept, physiologisches Wahrnehmungsprinzip und technisch-medialer Transformationsmechanismus – stellte dafür ein geeignetes Modell bereit. Die vielfältigen futuristischen Kunstformen, wie z.B. die totale Malerei von Carrà, gingen dabei weit über die Idee des Gesamtkunstwerkes hinaus, indem sie permanent die Grenzen von Kunst, Technik, Medien und Leben überschritten und das
347 Brüggemann (1998), S. 386.
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Subjekt in Multiperspektiven und anderen energetischen Zustände auflösten.348 So forderte Marinetti ein théâtre aéroradiotélévisé und Mario Scaparro verfaßte Aerosynthesen, in denen Flugzeuge wie Menschen agierten.349 Das Varieté als Feier der akustischen und optischen Reize der elektrifizierten Städte wurde zur Schule der Wahrnehmung und der Skandal zum Inbegriff theatraler Aktion, der bis zu radikalisierten Formen von Terror und Krieg weitergedacht wurde.350 Sprengten Futuristen und kurze Zeit später auch Dadaisten das symbolistisch-synästhetische Entsprechungssystem, so befreiten sie das sinnliche Material von seiner Bedeutung und ermöglichten dessen freie Kombination und die Herausbildung neuer Referenzen.351 Die vergeblichen Versuche der Physiologen und Psychologen, ein System in den synästhetischen Zuordnungen zu finden, exponierte das Synästhetische in seiner scheinbaren Zufälligkeit einmal mehr als neue Wahrnehmungsformel. Futuristen und Dadaisten stellten mit neuen synthetisch-synästhetischen und dramaturgischen Techniken, die, so Barbara Lesák, geeignet waren, die parallelen und simultanen Situationen des Lebens zu erfassen,352 wie z.B. das Kurz-Drama, der schnelle Plot oder das Dramolett, tradierte Kunst- und Theaterformen in Frage. Diese Entwicklung führte nicht nur zur Herausbildung des Theaters als Propagandamittel eines Erwin Pisactors in den 1920er Jahren,353 sondern bot v.a. Anknüpfungspunkte für neue Kunstformen nach dem Zweiten Weltkrieg.354 348 Vgl. ebd., S. 363. 349 Vgl. Lesák (1988). 350 Vgl. Hiß (2005), S. 208f. Varieté und Cabaret wurden auch zu bevorzugten Orte des Dadaismus, der im Februar 1916 mit dem von Hugo Ball und Emmy Hennings gegründeten Cabaret Voltaire von Zürich aus in Europa Verbreitung fand. Dada verstand sich v.a. als Antikunst und praktizierte die Aufkündigung einer Einheitsvision auf der Ebene von Bedeutung und Sinn, die sich im Lautgedicht, einer Erfindung der Dadaisten, prägnant präzisierte. Mit der mehr oder weniger zufälligen Kombination von Silben und Wörtern sollte die Arbitrarität der Sprache entlarvt und Sprache wieder als Klang sinnlich erfahrbar werden. Willkürliche, zufallsgesteuerte Aktionen, Montagen in Wort und Bild wurden zum künstlerischen Verfahren und sollten die Wörter und die Dinge selbst wieder in den Vordergrund treten lassen. Vgl. ebd., S. 219ff. 351 Vgl. ebd., S. 235. 352 Vgl. Lesák (1988). 353 Vgl. Hiß (2005), S. 251. 354 „Viele der futuristischen Ideen sind [...] – in den fünfziger Jahren – vom Theater des Absurden [...] aufgegriffen, verfeinert und erweitert worden. Aber auch der fließende Wirklichkeitsbegriff des futuristischen Theaters, auf Grund dessen Theater und Wirklichkeit zu austauschbaren Faktoren wurden, erwies sich als überaus tragfähige Basis, auf der heutzutage das Happening oder die mehr musikorientierte Fluxus-Bewegung aufbauen.“ Lesák (1988).
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Generell spielte das Synästhetische bei der Entwicklung von Techniken der Abstraktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Rolle. Wandten sich eine Reihe bildender Künstler und Musiker der Bühnenkunst zu, so nutzten sie die dort erprobten synästhetischen Transformationsmodelle zwischen den Sinnen und Künsten für die Umsetzung neuer Techniken ihrer eigenen spezifischen Kunstform und Gattung. Immer wieder angeführtes Beispiel ist der Maler Wassily Kandinsky, der von der Synästhesieforschung zum synästhetischen Künstler per se erklärt wurde und im Rahmen einer Geschichte der Synästhesie in der Kunst eine exponierte Rolle erhielt, wobei immer wieder ernsthaft die Frage diskutiert wird, ob Kandinsky Synästhetiker war.355 Kandinsky war bei weitem nicht der einzige Künstler der Zeit, der mit synästhetischen Transformationen operierte, doch mehrere Faktoren prädestinierten ihn zum Paradebeispiel eines Künstler-Synästhetikers. Reflektierte er seine Arbeit umfassend in der kunsttheoretischen Schrift Über das Geistige in der Kunst von 1912, so stand er theosophischem Gedankengut nahe356 und pflegte eine enge Freundschaft mit dem Komponisten Arnold Schönberg. Ausschlaggebendstes Argument aber war und ist seine Auseinandersetzung mit dem Theater, die sich nicht nur in eigenen Stückkonzeptionen niederschlug, sondern auch sein bildkünstlerisches Werk beeinflusste. Programmatisch kam das Synästhetische als physiologisch fundiertes Wahrnehmungsmodell bei Kandinsky in der abstrakten Bühnensynthese Der gelbe Klang zum Ausdruck, die er 1912 im Blauen Reiter veröffentlichte. Mit dem Gelben Klang projektierte er ein zweckfreies, absolutes Formen- und Farbenspiel mit Bewegung, Gebärde, Musik- und Spracheffekten, in dem sich theosophische, mythologische, christliche und künstlerische Aspekte gegenseitig durch355 Vgl. Lesák (1988), Cytowic (1989), Jewanski (2006a), Düchting (1996), Ione (2003). Ausschlaggebend sind dabei Äußerungen Kandinskys wie diese: „Die Geigen, die tiefen Basstöne und ganz besonders die Blasinstrumente verkörperten damals für mich die ganze Kraft der Vorabendstunde. Ich sah alle meine Farben im Geiste, sie standen vor meinen Augen. Wilde, fast tolle Linien zeichneten sich vor mir. Ich traute mich nicht, den Ausdruck zu gebrauchen, dass Wagner musikalisch ‚meine Stunde‘ gemalt hatte.“ Kandinsky (1977), S. 14. 356 So war er vertraut mit der theosophischen Schrift Gedankenformen von Annie Besant und Leadbeater, in der es darum ging, innere Bilder sichtbar zu machen: „Viele Menschen wissen, dass Töne immer in Verbindung mit Farben auftreten, dass, wenn z.B. ein Ton angeschlagen wird, zu gleicher Zeit ein entsprechender Farbenblitz von dem Hellseher, dessen höhere Sinne bereits bis zu einem gewissen Grade entwickelt sind, wahrgenommen werden kann. Es scheint nicht so allgemein bekannt zu sein, dass Töne ebenso wohl Formen wie Farben hervorbringen, und dass jedes Musikstück einen Eindruck hinterlässt, der längere Zeit hindurch andauert und denen deutlich sichtbar und verständlich ist, die Augen haben zu sehen.“ Besant/Leadbeater zit. nach Jewanski (2006a), S. 206.
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drangen.357 Als Erklärung fungierte der gemeinsam mit Der Gelbe Klang veröffentlichte Aufsatz Über Bühnenkomposition. Kritisierte er darin in Anschluss an Wagner die Spezialisierungen der einzelnen Gattungen Drama, Oper und Ballett, so propagierte er in Absetzung zu Wagner, eine neue Synthese der Bühnenkünste, die sich auf deren inneren Zusammenhang gründe, wobei die einzelnen Künste die Verschiedenheit ihrer Mittel behielten, diese jedoch einem gemeinsamen Ziel unterstellt wurden, das Kandinsky wie folgt bestimmte: „Dieses letzte Ziel (Erkenntnis) wird in der menschlichen Seele erreicht durch feinere Vibrationen derselben. [...] Der undefinierbare und doch bestimmte Seelenvorgang (Vibration) ist das Ziel der einzelnen Kunstmittel. Ein bestimmter Komplex der Vibrationen – das Ziel eines Werkes. Die durch das Summieren bestimmter Komplexe vor sich gehende Verfeinerung der Seele – das Ziel der Kunst.“358
Im Bild der Vibration, die das verbindende Element der Mittel und der Künste in ihrer Wirkung verankerte, rekurrierte Kandinsky auf eine Erregung der Sinne und der Nerven. Der Künstler sei gezwungen, in der Kombination der Mittel den Ausdruck seiner „Seelenvibration“ zu finden, um die identische Vibration in der Seele des Empfängers hervorzurufen.359 Wurde der Künstler zum Meister der Synthese der Mittel, so vollendete sich das Werk erst in den im Zuschauer erzeugten Schwingungen der Seele. Das Modell einer synästhetischen Wahrnehmung als Überspringen der Erregung auf andere Sinnesnerven garantierte dabei sowohl den Eingang verschiedensinnlicher Eindrücke in ein Bild auf der Produktionsseite als auch eine dem schaffenden Künstler ähnliche Aktivierung auf der Rezeptionsseite. Die Elemente der Bühnenkomposition wurden zu den eigentlichen Handlungsträgern, indem sie physiologisch-psychische Vorgänge stimulierten, die ein inneres Drama im Zuschauer erzeugten.360 Als dem Künstler zur Verfügung stehende Mittel deklarierte Kandinsky: „1. musikalischer Ton und seine Bewegung, 2. körperlich-seeli357 Die Bühnenhandlung hob auf ein Hin und Her zwischen Menschen und Metaphysischem ab. Der Darsteller wurde auf die Elemente Bewegung und Farbe reduziert, die Kandinsky genau notierte, wie auch den Einsatz von Licht und Musik, für die der russische Komponist Thomas von Hartmann einen Entwurf ausarbeitete. Zu Kandinskys Lebzeiten blieb die Konzeption unrealisiert. Erst in den 1970er Jahren wurde das Werk der Öffentlichkeit vorgestellt. Erwähnt wird eine Aufführung 1972 in New York. Nina Kandinsky dagegen erinnerte sich an eine erste Aufführung im August 1975 unter der Regie von Jacques Polieri mit der Musik des Komponisten Alfred Schnittke im französischen La Saint Baume. Vgl. dazu Düchting (2006). 358 Kandinsky (1986), S. 126. 359 Vgl. ebd., S. 127. 360 Vgl. ebd., S. 131.
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scher Klang und seine Bewegung durch Menschen und Gegenstände ausgedrückt, 3. farbiger Ton und seine Bewegung (eine spezielle Bühnenmöglichkeit).“361 Bestimmte er alle Elemente als Bewegung, die dem Maler als künstlerisches Mittel versagt war, so erklärt sich daraus ein Stück weit sein Hang zur Bühne, die er als theoretisch-gedankliches Modell nutzte, um Gesetze der Transformation und Kombination von Sinnen und Künsten zu finden, die sich auf die Malerei übertragen ließen.362 Auch aus diesem Grund hat Kandinsky nie Anstrengungen unternommen, den Gelben Klang praktisch zu realisieren. Das Theater, das zu diesem Zeitpunkt synästhetische Übertragungsmechanismen und -prinzipien am weitesten entwickelt hatte, bot ihm die Möglichkeit, Klang, Farbe und Bewegung in Reinform nach dem Kompositionsmodell der Musik zu kombinieren. So führte er die drei Elemente der Bühne nach den Regeln einer „komplizierten Komposition“ zusammen, die „eine Reihe von Möglichkeiten [...] zwischen der Mit- und Gegenwirkung“363 eröffnete, indem sie sich gegenseitig verstärken oder widersprechen konnten, wodurch die Gefühle des modernen Menschen adäquat ausdrückbar würden. Auf diese Weise erarbeitete Kandinsky über das Theater in den Jahren 1908 bis 1914 im Umkreis des Münchner Künstlertheaters ein synästhetisches Wahrnehmungs- und Rezeptionsmodell, das gesamtsinnliche Wirkungsmechanismen für die Malerei erschloss.364 Im selben Jahr wie Der Gelbe Klang erschien Kandinskys theoretische Schrift Über das Geistige in der Kunst, in der er Formprinzipien zwischen den Künsten übertrug und dabei allgemeine Strukturen benutzte, die bis an die Schwelle des mathematisch Formulierbaren reichten.365 Gilt die Schrift allgemein als Ästhetik einer Synthese der Künste, so lässt sie sich im Verständnis des Synästhetischen als seelisch-geistige Operation vielmehr als Erklärung der abstrakten Malerei lesen. Kandinsky stellte seinen explizit künstlerisch-technischen Überlegungen ein synäs361 Ebd., S. 127. 362 „Dieses Vergleichen der Mittel verschiedenster Künste und dieses Ablernen einer Kunst von der anderen kann nur dann erfolg- und siegreich werden, wenn das Ablernen nicht äußerlich, sondern prinzipiell ist. D.h. eine Kunst muss bei der anderen lernen, wie sie mit „ihren“ Mitteln umgeht, sie muss es lernen, um dann „ihre eigenen“ Mittel „prinzipiell“ gleich zu behandeln, d.h. in dem Prinzip, welches „ihr allein“ eigen ist.“ Kandinsky zit. nach Brüderlin (1998), S. 30. 363 Kandinsky (1986), S. 127. 364 Neben dem Gelben Klang entstanden weitere Entwürfe, die lange unveröffentlicht blieben. Im Mittelpunkt standen dabei immer Farbe und Licht. So zielt das Fragment Zauberflügel auf die Schaffung von Bildern mit theatralem Material, wobei der Ausdruck über die Farben des Lichts erzeugt werden sollte. Ein nie verwirklichtes Bühnenprojekt mit Tanz war Daphnis und Chloe von 1908/09, für das er mit dem Tänzer Alexander Sacharoff zusammenarbeitete. Vgl. Boissel (1998), S. 38. 365 Vgl. Motte-Haber (1999), S. 46
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thetisches Konzept voran, indem er von der Kunst forderte, sich unter „Verzicht auf das gewohnte Schöne aus befehlender innerer Notwendigkeit“ auf das „InnerlichWesentliche“366 zu konzentrieren und auf der Basis des Gefühls die Seele in Mitklang zu versetzen. Verstand er diesen Akt des Mitklingens und Mitschwingens gleichermaßen in Anlehnung an eine „bewegte Elektrizität“367 und das theosophische Gedankengut Helena Blavatskys und Rudolf Steiners,368 so aktualisierte er eine Interpretation des Synästhetischen als Ausdruck einer spirituellen Begabung, unsichtbare Zusammenhänge wahrnehmen zu können.369 Das Synästhetische wurde für Kandinsky zu einem geeigneten Denkmodell der Transpositionen zwischen den Künsten und Ausgangspunkt seiner Überlegungen und seiner Analyse der malerischen Mittel. Stand Farbe für ihn als Maler an erster Stelle, so schrieb er ihr sowohl eine physische und psychische Wirkung als auch die Fähigkeit, andere Sinne zu affizieren, zu.370 Unter dieser Prämisse erprobte er mit dem Tänzer Alexander Sacharoff und dem Komponisten Thomas von Hartmann die Transformation vom Malerischen ins Musikalische und Tänzerische:
366 Kandinsky (1956), S. 23. 367 Ebd., S. 40. 368 Steiner leitete seit 1902 die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft und machte sich 1913 mit der Anthroposophischen Gesellschaft selbständig. Ab 1912 arbeitete er an der Eurythmie als Raumbewegungskunst, die Musik und Sprache in Ausdrucksbewegungen umsetzen sollte, zu deren Veranschaulichung dann verschiedene Farben dienten. Steiner entwarf dafür die Eurythmiefiguren, die die Vokale und Konsonanten des Alphabets, unterschiedliche Stimmungen und den Dur- und Moll-Dreiklang symbolhaft darstellten. Vgl. Kienscherf (1996), S. 116. 369 „ [...] in the case of such highly developed people the paths leading to the soul are so direct, and the impressions it receives are so quickly produced, that an effect immediately communicated to the soul via the medium of taste sets up vibrations along the corresponding paths leading away from the soul to the other sensory organs (in this case, the eye). The effect would be a sort of echo or resonance, as in the case of musical instruments, which without themselves being touched, vibrate in sympathy with another instrument being played.“ Kandinsky zit. nach Dann (1998), S. 56. 370 „Da die Seele im allgemeinen fest mit dem Körper verbunden ist, so ist es möglich, daß eine psychische Erschütterung eine andere, ihr entsprechende durch Assoziation hervorruft. Z.B. die rote Farbe kann eine der Flamme ähnliche seelische Vibration verursachen, da das Rot die Farbe der Flamme ist. [...] so würden wir leicht durch die Assoziation eine Erklärung auch der anderen physischen Wirkungen der Farbe finden, d.h. zu den Wirkungen nicht nur auf das Sehorgan, sondern auch auf die anderen Sinne. Man kann annehmen, daß z.B. helles Gelb einen sauren Eindruck macht aus der Assoziation mit der Zitrone.“ Kandinsky (1956), S. 61. [Herv. i.O.]
158 | S YNÄSTHESIE ALS DISKURS „Der Musiker suchte aus einer Reihe meiner Aquarelle dasjenige aus, das ihm in musikalischer Hinsicht am klarsten erschien. In Abwesenheit des Tänzers spielte er dieses Aquarell. Dann kam der Tänzer dazu, ihm wurde das Musikstück vorgespielt, er setzte es in Tanz um und erriet danach das Aquarell, das er getanzt hatte.“371
Was dieses Experiment verdeutlichen sollte, war, dass die Malerei in andere Künste transformiert werden konnte, wobei die Wirkung erhalten blieb. Dabei ging es Kandinsky mit derartigen Experimenten nicht vordergründig um eine Musikalisierung der Malerei oder eine andere Form der Annäherung der beiden Künste, sondern hauptsächlich darum, der Malerei ähnliche Möglichkeiten zur Abstraktion als Kunst der Innerlichkeit zu erschließen, wie sie die Musik schon besaß.372 Insbesondere das Modell der musikalischen Komposition, mit dessen Übertragung auf die Malerei sich Farben und abstrakte geometrische Formen als Elemente mit jeweils eigenem inneren Klang nach dem Prinzip der ,inneren Notwendigkeit‘ kombinieren und variieren ließen, glaubte er für eine abstrakte Malerei nutzbar machen zu können. Die innere Notwendigkeit definierte sich dabei über die Individualität des Künstlers, die epochale Spezifik der jeweiligen Zeit und das Künstlerische, Schöpferische an sich373 und garantierte das Erscheinen des „Ewig-Objektiven“ der Kunst „im Zeitlich-Subjektiven“, die zusammen den „mystischen Inhalt der Kunst“374 verwirklichten.
371 Kandinsky zit. nach Brauneck (1986), S. 216. 372 „Ein Künstler, welcher [...] ein Schöpfer ist, welcher seine innere Welt zum Ausdruck bringen will und muß, sieht mit Neid, wie solche Ziele in der heute unmateriellsten Kunst – der Musik – natürlich und leicht zu erreichen sind. Es ist verständlich, daß er sich ihr zuwendet und versucht, dieselben Mittel in seiner Kunst zu finden. Daher kommt das heutige Suchen in der Malerei nach Rhythmus, nach mathematischer, abstrakter Konstruktion[...].“ Kandinsky (1956), S. 54f. In diesem Sinne schrieb Kandinsky 1911 in einem Brief an den Komponisten Arnold Schönberg: „Sie haben in ihren Werken das verwirklicht, wonach ich in freilich unbestimmter Form [...] eine große Sehnsucht hatte.“ Kandinsky zit. nach John (2004). Von 1911 bis 1914 standen Kandinsky und Schönberg in einem engen Briefkontakt, der auf Parallelen in ihrem Schaffen basierte. Ähnlich dem Schritt Kandinskys zur Abstraktion (1910) hatte Schönberg 1908 den Weg zur Atonalität eingeschlagen und sah im Theater die Möglichkeit, mit den künstlerischen Mitteln zu experimentieren. Von 1910 bis 1913 konzipierte Schönberg Die glückliche Hand, ein Drama mit Musik, das er als „mit den Mitteln der Bühne musizieren“ beschrieb. 373 Vgl. Kandinsky (1956), S. 80. 374 Ebd., S. 82.
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Abbildung 4: Wassily Kandinsky „Fuge“, Öl auf Leinwand, 1914
©The Solomon R. Guggenheim Museum New York
Kandinskys Vorstellung einer abstrakten Malerei lässt sich in diesem Sinne als Verbindung und Konfrontation von durch Farben und Formen synästhetisch im Künstlersubjekt erzeugten Klängen mit kulturell geprägten, assoziativen Zuordnungen und Entsprechungen zwischen den Sinnen denken, die „der Entwicklung und Verfeinerung der menschlichen Seele“375 diene. Mittels des Synästhetischen unterlief abstrakte Kunst rationale und sprachlich-begriffliche Erkenntnismechanismen und baute auf intuitiv-physischen Wissensformen auf.376 Im Zusammengehen aller dergestalt vergeistigten, nach synästhetischen Prinzipien gestalteten und abstrahierten Künste begründete sich für Kandinsky die Möglichkeit einer „monumentalen Kunst“, mit der „derselbe innere Klang [...] in demselben Augenblicke durch verschiedene Künste gebracht werden“ kann, „wobei jede Kunst außer diesem allge-
375 Ebd., S. 134. 376 „Die Töne der Farben, ebenso wie die der Musik, sind viel feinerer Natur, erwecken viel feinere Vibrationen der Seele, die mit Worten nicht zu bezeichnen sind.“ Ebd., S. 104.
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meinen Klang noch das ihr geeignete wesentliche Plus zeigen [...] und dadurch einen Reichtum und eine Gewalt dem allgemeinen inneren Klang hinzufügen wird, die durch eine Kunst nicht zu erreichen sind“377. Basierte bereits jede einzelne Kunst auf synästhetischen Übersetzungen zwischen den Sinnesmodalitäten, so potenzierte sich die Wirkung in der Synthese der Künste als „Bühnenkomposition [...], welche das erste Werk der monumentalen Kunst sein wird“378 , über Mehrfachsynästhesien, indem jedes einzelne Mittel und jede einzelne Kunst zu den auf der Bühne realisierten Kombinationen weitere Verknüpfungen erzeugen würde. Verband Kandinsky auf diese Weise die zwei verschiedenen Versionen des aus dem Synästhetischen ableitbaren künstlerischen Konzepts – einer Rückführung und Konzentration auf eine Kunst und der Zusammenführung aller Künste im Gesamtkunstwerk – so kam er dabei wieder auf das Theater zurück, in dem er das größte Potenzial für die Ausschöpfung aller künstlerischen Mittel sah.379 Nach seiner Berufung ans Bauhaus im Jahr 1922, wo er die Leitung der Werkstatt für Wandmalerei übernahm, lieferte er dort v.a. entscheidende Impulse für die Bühnenwerkstatt, in der die verschiedenen am Bauhaus praktizierten Künste zusammentrafen. Er selbst konnte während seiner Arbeit am Bauhaus im April 1928 im Friedrich-Theater in Dessau die Idee einer Bühnensynthese mit der Inszenierung von Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung umsetzen. War Mussorgskys Klavierzyklus bereits eine Transformation der visuellen Eindrücke beim Betrachten von Bildern seines Freundes Victor Hartmann, so unternahm Kandinsky den Versuch einer erneuten Umwandlung vom Akustischen ins Visuelle, die seinen Ansprüchen jedoch auf Grund unüberwindbarer technischer Schwierigkeiten der Realisation nicht gerecht wurde.380 377 Ebd. 378 Ebd., S. 84. [Herv. i.O.] 379 „Der im Theater verborgene Magnet hat die Kraft, alle diese Sprachen an sich zu ziehen, alle diese Mittel der Künste, die gemeinsam die größte Möglichkeit der monumentalen abstrakten Kunst bieten. [...] 1. Raum und Räumlichkeit – Mittel der Architektur [...] 2. Die vom Objekt unabtrennbare Farbe – Mittel der Malerei – [...] ganz besonders in der Form des farbigen Lichtes, 3. Die [...] räumlichen Ausdehnungen – Mittel der Plastik [...] 4. Der organisierte Klang – Mittel der Musik [...] 5. Die organisierte Bewegung – Mittel des Tanzes – zeitliche, räumliche, abstrakte Bewegungen nicht des Menschen allein, sondern des Raumes, der abstrakten Formen [...] 6. [...] die letzte uns bekannte Kunst, die ihre abstrakten Mittel noch nicht entblößt hat – die Dichtung.“ Kandinsky zit. nach Geil (1999), S. 25. 380 Das Hauptprinzip der Inszenierung war die Entwicklung abstrakter Bilder aus Farben und Formen in der Zeit. Die Bühne bestand aus einem schwarzen Plüschvorhang und einer roten Scheibe, die heller und wieder dunkler wurde. In insgesamt fünf Promenaden und zehn abstrakten Bühnenbildern bzw. Farblichtspielen wurden Variationen über
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Auch andere, auf das Synästhetische hin konzipierte Projekte scheiterten an den noch nicht ausgereiften technischen Möglichkeiten, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Entwicklung weiterer Medientechniken behoben werden konnten, wie z.B. das 1910 vollendete Werk Prométhée, le poème du feu des Komponisten Alexander Skrjabin, in dessen Partitur eine zweigeteilte Lichtstimme als fester Bestandteil einfügt war.381 Mittels eines Tasteria per luce sollte das farbige Licht zur Musik auf einer Leinwand erscheinen, wobei die erste Luce-Stimme dem Verlauf der Musik folgte, indem jeder Note eine Farbe und eine bestimmte Position im Raum zugeordnet war, während die zweite dem Grundton des Klangzentrums der jeweils sechstönigen Quartenakkorde entsprach und unabhängig von der ersten Lichtstimme Stimmungen erzeugen sollte. Ziel des farbigen Lichts war es, den musikalischen Eindruck zu verstärken. Die Uraufführung des Prometheus fand am 15. März 1911 in Moskau statt, jedoch ohne Farblicht.382 Erst bei der Aufein Thema gezeigt, wobei die Bühne die Musik exakt formal analysierte. In der zweiten Promenade z.B. wurde der rote Kreis blau beleuchtet, in der dritten bewegte sich ein Viereck von links nach rechts, in der vierten tauchte ein sich langsam bewegender blauer Punkt auf und in der fünften zeigte sich eine andere Bewegung des Vierecks von rechts nach links. Die dahinter stehende Märchengeschichte von den Zwergen, dem Schloss und dem kleinen Mädchen blieb abstrakt. Lediglich in zwei Szenen tauchten Tänzer auf. Die technische Umsetzung, v.a. die Beleuchtung, stellte eine große Herausforderung dar. So musste z.B. der Regieassistent Felix Klee, Sohn von Paul Klee, in der Szene Ballett der Küchlein in ihren Eierschalen mit einer Taschenlampe schlangenförmige Linien auf ein Bühnenprospekt zeichnen. Vgl. Behne (1987), S. 36f. 381 Bezeichnend ist, dass dann häufig Werke aus dem frühen 20. Jahrhundert wieder hervorgeholt und umgesetzt werden, wie z.B. Kandinskys Der gelbe Klang, aber auch Skrjabins Prometheus in den 1970er Jahren. Die künstlerischen Experimente des frühen 20. Jahrhunderts im Zeichen der Synästhesie erscheinen damit als Vorwegnahme von Medienpraktiken, deren Auswirkungen und kulturverändernde Kraft sich erst später vollends entfaltete. 382 Berichtet wird jedoch von einer Präsentation im Freundeskreis im Jahr 1911 bei der Alice Koonen, Tänzerin und Frau von Alexander Tairov, zur Komposition tanzten. Dazu demonstrierte Skrjabin, laut Alice Koonen, mit einem von seinem Freund Alexander Moser gebauten Farbklavier, das aus zwölf farbigen Lampen und zwölf Drucktasten bestand, auch seine Lichtvorstellungen: „Häufig schaltete er mal dieses, mal jenes Licht hinter dem Flügel ein, und das Zimmer wurde in blaues, gelbes, rotes und violettes Licht getaucht.“ Koonen zit. nach Kienscherf (1996), S. 116. Auch ohne Licht machte die neuartige Komposition, die mit der Dur-Moll-Tonalität brach, bei der Uraufführung in Moskau großen Eindruck. Es wurde gar von einer Zuhörerin berichtet, die einen Herzinfarkt erlitt, woraufhin Stimmen über einer Krankhaftigkeit Skrjabinʼscher Musik laut wurden.
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führung in New York am 20. März 1915 vom Russian Symphony Orchestra, geleitet von Modest Altschuler, wurde versucht die Farblichtstimmen zu integrieren, was Skrjabin auf Grund des Ersten Weltkrieges nicht miterlebte. Eine Intensivierung der Musik durch Farben wurde laut Kritik jedoch nicht erreicht.383 Kurze Zeit später verstarb Skrjabin. Abbildung 5: Foto der ersten Aufführung von Alexander Skrjabins „Prometheus – Le poem du feu“ mit Farblicht, April 1915
©Scientific American
Skrjabin wurde zu einer wichtigen Vermittlerfigur des ästhetischen, anthropologischen, wissenschaftlichen und medialen Diskurses des Synästhetischen. Sowohl Schönberg als auch Kandinsky kannten Skrjabins Prometheus, denn die Partitur wurde ebenfalls im Blauen Reiter von 1912 gemeinsam mit einem Text von Leonid Sabanjew über Skrjabin veröffentlicht, was ihm u.a. noch zu Lebzeiten die Aura eines Synästhetikers verlieh. So untersuchte der Psychologe Charles Samuel Myers, Gründer und Direktor des Laboratoriums für experimentelle Psychologie an der Universität Cambridge, Skrjabin als Farbenhörer und veröffentlichte seine Eindrücke 1911 im British Journal of Psychology: „Skrjabins Aufmerksamkeit wurde zuerst durch ein Erlebnis bei einem Konzert in Paris ernsthaft auf sein Farbenhören gelenkt, als er, neben dem Komponisten Rimski-Korsakow, seinem Landsmann, sitzend, bemerkte, das Stück, das sie hörten [...], erscheine ihm gelb, worauf sein 383 So schrieb ein Journalist in Nation: „Although he endeavored to show certain colors, singly or in contrast, will produce similar effects on the senses and emotions as certain musical tones or chords [Scriabin] has failed to make such connection clear to the spectator and hearer. His musical score, moreover, represents the very extreme of ultramodern cacophony, all harmonic euphony being avoided with a zeal worthy of a better cause […]. It is not likely that Scriabin’s experiment will be repeated by other composers; moving-picture shows offer much better opportunities.“ Zit. nach Dann (1998), S. 75.
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Nachbar erwiderte, ihm komme die Farbe ähnlich vor, nämlich golden. [...] Die Farbe oder ein Farbwechsel wird ihm manchmal bemerkbar, noch bevor er die Tonart oder einen Tonartwechsel wahrgenommen hat. Deshalb glaubt er, dass die Wirkungen von Musik gesteigert werden, wenn dem Auge gleichzeitig die zugehörige Farbe dargeboten wird. Im allgemeinen hat er beim Anhören von Musik nur ein ‚Gefühl‘ der Farbe; erst wenn das Gefühl sehr intensiv ist, geht es dazu über, ein ‚Bild‘ der Farbe zu vermitteln.“384
Bis heute gilt Skrjabin als Beispiel für einen auf der Basis echter Synästhesien schaffenden Künstler, während diese wohl eher als Element einer künstlerischen Selbstinszenierung betrachtet werden müssen.385 Das Synästhetische fungierte dabei zum einen als ideelles und strukturelles künstlerisches Konzept und zum anderen als Auratisierung, Mystifizierung und Überhöhung der eigenen Künstlerpersönlichkeit und seiner ästhetischen Welt. Dabei mischte Skrjabin theosophisches Gedankengut im Sinne einer Beschwörung mythischer Weltzusammenhänge, die er im eigenen Ich verankerte, mit physiologisch-psychologischen Erkenntnissen zum Farbenhören und der künstlerischen Idee des Gesamtkunstwerkes. Entsprachen die Farbzuordnungen im Prometheus ziemlich genau denen, die Helena Blavatsky in The Secret Doctrine von 1888 entwarf,386 so muss die Wahl des Prometheus-Stoffes mit seinem aufklärerischen Impetus als Feier des autonomen, subjektiv-schaffenden, genialen Künstlers verstanden werden. Denn Skrjabins Prometheus war in ein umfassenderes, mystisch-ästhetisches Konzept einer Befreiung und Aktivierung aller treibenden Kräfte zur Überwindung erstarrter Daseinsformen und einer daraus resultierenden Erneuerung und Erlösung der Menschheit eingebaut. In diesem Sinne war der Prometheus nur ein Vorstudium zu Skrjabins unvollendet gebliebenem Mysterium, das als Vereinigung aller Künste und Sinne ähnlich einem mystischrituellen Vorgang in einem indischen Tempel biblische sieben Tage dauern sollte. In Aufzeichnungen aus den Jahren 1900 bis 1906 formulierte er das Mysterium als „[...] bewegliche architektonische Gebilde aus leuchtendem Gebälk, Sinfonien von Düften und Berührung, Schöpfung einer ungeahnten Kunst, die ihr Material allen 384 Myers zit. nach Kienscherf (1996), S. 106. 385 So weichen die Farbzuordnungen, die Leonid Sabanejew im Blauen Reiter von 1912 beschrieb, von denen bei Myers ab, was bei einem Synästhetiker eher ungewöhnlich ist. So argumentierte Myers, dass für Skrjabin nicht jeder einzelne Ton, sondern die Tonart eine Farbe habe. „Für ihn hat die (rote) C-Tonart eine Beziehung zur Materie und trägt den Geruch von Erde an sich, während die (violette) Fis-Tonart geistig und ätherisch ist.“ Myers zit. nach Jewanski (2006a), S. 190. Auch Kevin T. Dann weist darauf hin, dass Skrjabins Zuordnungen viel zu systematisch und die Farbbezeichnungen zu einfach seien, und spricht von der Erfindung des Synästhetikers Skrjabin ebenso wie bei Kandinsky, Rimbaud und Baudelaire. Vgl. Dann (1998), S. 71ff. 386 Vgl. Jewanski (2006a), S. 191.
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Sinnesempfindungen gleichzeitig entnehmen sollte“.387 In der Überwindung der Kluft zwischen der Handlung auf der Bühne und der Handlung, die sich in der Vorstellung des Zuschauers vollzog, sollte es im Mysterium nur noch reales Erleben geben, kein Publikum mehr, nur Mitwirkende, die im Schlussakt in einem nur durch die Fesseln des Rhythmus gebändigten orgiastischen Tanz zur Ekstase geführt werden sollten. Als Bühne plante Skrjabin einen halbkugelförmigen Bau, der sich durch Wasserspiegelung zu einer Kugel ergänzte und um dessen Zentrum sich die Mitwirkenden in konzentrischen Kreisen gruppierten. Abbildung 6: Skizze des Tempels für das „Mysterium“ von Alexander Skrjabin, um 1914
Aus: Skrjabin (1979).
Erinnerte das Mysterium an die antiken mythischen Wurzeln des Theaters, so stand in seinem Kern der Künstler Skrjabin als Schöpfer, Prophet und Erlöser der Welt.388 In Anlehnung an Wahrnehmungstheorien der Zeit, wie sie z.B. Ernst Mach formulierte, erhob er das Ich als wahrnehmendes und empfindendes Subjekt, dem die Welt in der Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich überhaupt erst entspringt, zur einzigen Realität:
387 Skrjabin zit. nach Riesemann (1924), S. 13. 388 „Ich bin nichts als die von mir erlebten Empfindungen, und mit diesen Empfindungen erschaffe ich die Welt. [...] Ich erschaffe die Welt durch das Spiel meiner Stimmung, durch mein Lächeln, meine Seufzer, meine Zärtlichkeiten, meinen Zorn, durch meine Hoffnung und meine Zweifel.“ Skrjabin zit. nach Riesemann (1924), S. 37f.
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„Wir können nur das Vorhandensein unserer eigenen Empfindungen feststellen; sie sind Bestätigung unserer Erkenntnis schöpferischer Vorgänge. [...] Zeit und Raum sind untrennbar von den Wahrnehmungen. Das eine wie das andere ist, ebenso wie jede Empfindung derselben, einziger Schöpfungsakt. Außerhalb der Wahrnehmung gibt es weder Zeit noch Raum.“389
In diesem Schöpfungsakt von Welt aus der subjektiven Wahrnehmung wurden Erkennen und Erleben eins und steigerten sich bis zur Ekstase, in der nicht die Grenzen des Ichs zum Kollektiven hin überwunden, sondern im Gegenteil die Subjektivität und Individualität auf alle Erscheinungen ausgedehnt und empfunden werden sollten.390 Der Künstler selbst wurde zu einer Art Gott, der aus seinen Sinnesempfindungen die Welt erschafft und durch die Anregung aller Sinne des Zuschauers mit farbigem Licht, Musik, Düften usw. diesen ebenfalls zum Schöpfer seiner eigenen Welt erhebt. Insofern sah sich Skrjabin selbst als Prometheus, als Bote des Feuers und des Lichts.391 Glaubten Skrjabins Kritiker in diesen Visionen seinen Hang zum Wahnsinn und zur Selbstüberschätzung bestätigt zu sehen, was durch seine behaupteten Synästhesien noch gestützt wurde, so erklärten ihn andere Zeitgenossen v.a. aus Künstlerkreisen zum Genie.392 Bei Skrjabin verdichteten sich daher wesentliche Elemente der Ausformulierung des Synästhetischen als Wahrnehmungsmodell der Moderne, das den wissenschaftlichen und künstlerischen Diskurs aufs engste miteinander verwob. Verortet zwischen Genie und Wahnsinn, avancierte das Synästhetische im Zeichen einer Neuformulierung der Wahrnehmung zum Indikator einer fundamentalen Beziehung der sensorischen Modi. Erst in der Verbindung der Entdeckung der Synästhesien als Gegenstand physiologisch-psychologischer Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit künstlerischen Entwürfen einer romantischen Einheitsutopie, des Gesamtkunstwerks und einer Erneuerung des Theaters und der anderen Künste konnte das Synästhetische seine Wirkungskraft entfalten. Auf diese Weise installierte sich ein Synästhesiediskurs, der seitdem gleichermaßen als Projektionsfläche für die Verhandlung von Theorien der Wahrnehmung als auch für deren Umsetzung in künstlerische Techniken und Praktiken fungiert. Die physiologisch-psychologisch ausgerichtete Synästhesieforschung hatte wesentlichen Anteil an einer Phy389 Skrjabin zit. nach ebd., S. 48f. 390 „Das letzte Ziel – absolutes Sein – ist allgemeine höchste Entfaltung. Das ist der letzte Augenblick, in dem sich die göttliche Synthese vollziehen wird. Das ist der Höhepunkt meiner allumfassenden Individualität. Das ist die Wiederherstellung der Weltharmonie, die Extase, die mich zum Zustand der Ruhe führt.“ Skrjabin zit. nach ebd., S. 85. 391 Vgl. Jewanski (2006a), S. 178. 392 Der ungarische Komponist Alexander László sah Skrjabins „überragendes Genie“ darin, dass er „die konzentrische Wirkung und die daraus entstehende extatische Kulmination der Ton- und Farbenkunst von Grund auf“ erfasste. László (1925a), S. 17.
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siologisierung der Kunst, welche Mittel und Techniken auf Basis ihrer Wirkung auf die Sinne und den Körper hin aktualisierte und neu kombinierte. Moderne Kunst wurde in Analogie zum wissenschaftlichen Denken zur Tätigkeit der Analyse und Synthese der künstlerischen Mittel.393 In der Fluchtlinie des Gesamtkunstwerkes wurde das Theater für Künstler aller Gattungen zum ersten Experimentierfeld einer synästhetischen Verknüpfung der Sinne und der Künste und selbst zu einer medialen Apparatur umgeformt. In diesem Sinne kann die Theaterreform als Medialisierung des Theaters gelesen werden. Angetrieben wurde das Projekt Synästhesie durch umfassende Neustrukturierungsprozesse der Kultur im Rahmen ihrer Industrialisierung und Medialisierung, die in allen Lebensbereichen wirkten. Im Zuge dessen wurde das Synästhetische vielfältig besetzt. Als Einheit der Sinne implizierte es sowohl die Möglichkeit einer Wiederherstellung ganzheitlichen, gemeinschaftlichen Erlebens, das in Vorzeiten der Kultur zurückprojiziert wurde, als zugleich auch die Entwicklung neuer Wahrnehmungsstrategien, die den Anforderungen moderner urbaner, industrieller und auch medialer Welten gerecht wurden.394 Diese Kopplung von Ursprünglichkeit und Fortschritt machten das Synästhetische im Rahmen einer Absage an die Logik der Sprache als Zugang zur Wirklichkeit und bei der Suche nach neuen Kommunikationsformen attraktiv. Künstlerische Experimente und neue Medien im 19. Jahrhundert exponierten v.a. ein gegen die Sprache und ein auf Schriftlichkeit basierendes abendländisches Denken gerichtetes Wissen. Vermittelt über neue Medientechniken wurde eine stärker auf den Sinnen und der Wahrnehmung basierende Logik, im Sinne von bildlich-visuell, akustisch usw., etabliert, in die sich das Synästhetische nach physiologischen Prinzipien einfügte. Neue technische Erfindungen wie Telegrafie und Telefon verbanden die einzelnen Körper unsichtbar mittels Strom, der zum Lebenssaft der Gemeinschaft stilisiert wurde,395 und ließen das Synästhetische als assoziative und imaginäre Verknüpfung zwischen Sinnesempfindungen als alternativen Kommunikationsmechanismus erscheinen. Wurde dieser in der Kulturgeschichte rückwärts projiziert und in der Folge z.B. der Entstehung der Sprache selbst unterlegt, so galt es, die Sprache und die Kultur auf ihre sinnlich393 So schrieb Kandinsky 1923: „Die sämtlichen einzelnen heutigen Künstler vertiefen sich seit Jahrzehnten in eigene Kräfte. Sie zerlegen rücksichtslos die eigenen Mittel bis an die letzte Grenze und prüfen diese Mittel unbewußt oder bewußt auf der inneren Waage. […] Das ist die Periode der großen Analyse, die von großer Synthese laut redet. Das Zerlegen soll dem Zusammenhang dienen, der Abbau – dem Aufbau.“ Kandinsky zit. nach Geil (1999), S. 24. 394 „[...] die Strategie der Avantgarde, über die Kunst die Wahrnehmungsgewohnheiten der Masse an die Erfordernisse der technisch bestimmten modernen Kultur anzupassen, setzte auf eine ‚Primitivierung der Wahrnehmung‘.“ Baxmann (2000), S. 140. 395 Vgl. Braun (2001), S. 614.
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körperlichen Wurzeln zurückzuführen, wie es von Künstlern wie Wagner, Schreyer oder den Dadaisten praktiziert wurde. Dabei entdeckten die Theaterreformer und Avantgarden in der Fundierung ihrer synthetisch-künstlichen Welten in physiologischen Prinzipien der Sinneswahrnehmung mediale Effekte der Generierung, Verstärkung und Ersetzung sinnlicher Wirkung, wie Kandinsky oder auch Fuller. Das Synästhetische wurde dabei zum Modell synthetisch-medialer Kopplungen aus Licht, Musik, Farben und Körpern, das allgemeinmenschlichen Grundmechanismen der Wahrnehmung zu entsprechen schien. Wurden die Medien als erweiterte oder direktere Wirklichkeitserfahrung gefeiert, so veränderten sie Wahrnehmungsmuster nachhaltig. Erster Sensor für diese neuen Wahrnehmungsmuster war die Installierung eines Synästhesiediskurses in Wissenschaft und Kunst, der fälschlicherweise oft als Gegenreaktion auf neue Medientechniken interpretiert wird. Das Synästhetische entfaltete sich zum Verhandlungsraum von durch die neuen Medientechniken hervorgebrachten Wahrnehmungsmustern und nahm diese zum Teil vorweg.396 Die wissenschaftlich-theoretische Trennung der Sinne in der Physiologie fand ihre technische Entsprechung in der Medienentwicklung, die zunächst die Sinnesmodalitäten einzeln ansprach. Diese neue Wahrnehmungserfahrung technisch generierter, isolierter Bilder und Klänge rief das Synästhetische bei der Frage auf den Plan, wie die jeweils anderen Sinne auf das Dargebotene reagierten. Deshalb war es kein Zufall, dass sich die Entdeckung des Synästhetischen parallel zur Revolutionierung der Kultur durch optische und akustische Medien ereignete, denn als physiologischpsychologische Mechanismus hob das Farbenhören oder Tönesehen letztlich die technisch-mediale Isolierung der Sinne wieder auf und das Spezifische der menschlichen Wahrnehmung hervor. So zeugte die von Beginn an zum Stummfilm gespielte Musik von einem Unbehagen gegenüber der künstlichen Isolierung der Sinne und der Sehnsucht nach synästhetischen Effekten. Zum anderen verstärkte das Synästhetische wiederum den Realitätsanspruch der technischen Bilder und Töne, was zahlreiche Berichte von gehörten Geräuschen bei den ersten Filmvorführungen fahrender Züge belegen. Das Synästhetische füllte damit eine Leerstelle, die sich zwischen den technischen Medien und der menschlichen Wahrnehmung auftat, und eröffnete einen Raum der Imagination. Ausdruck dessen war die Entpathologisierung und Mystifizierung des Synästhetischen, die in dieser Perspektive sowohl als Naturalisierung technischer Medien als auch als Medialisierung der Sinne und des Körpers verstanden werden müssen, wie es sich in Fullers Kreationen von Blumen und Schmetterlingen sinnbildhaft formierte. So entstanden durch die neuen 396 So lassen sich Wagner, die Theaterreform und Fuller als Erprober medialer und filmästhetischer Wahrnehmungseffekte lesen, bevor das neue Medium überhaupt in der Lage ist, diese selbst zu erzeugen. Die Theaterreformbewegung Ende des 19. Jahrhunderts setzte im Gegensatz zum Film zwar anti-illusionistische Akzente, aber nur, um im Bereich der Darstellung des Innenlebens eine viel größere Realität zu erreichen.
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medialen Techniken und Praktiken eigenartige Doppelfiguren aus Technikfaszination und pessimistischer Zukunftsvision, von Maschinenmenschen und einem natürlichen Körper, von gesamtsinnlicher Wahrnehmung und einer Dominanz des Visuellen, die die Zeit prägten und zusammengedacht werden müssen. Das Synästhetische, und das ist das Besondere, lässt sich in beide Elemente dieser Doppelfiguren integrieren und war sowohl als Versprechen einer Ganzheit des Körpers und der Sinne wie auch als technisch-mediale Wahrnehmungspraxis und -strategie ein Faszinosum der Zeit. Die Entdeckung des Synästhetischen als Wahrnehmungsmuster der Moderne kann demnach nur in direkter Verbindung mit der medialen Entwicklung sinnfällig erklärt werden, was sich bis in aktuelle Kontexte durchzieht. Das Synästhetische lässt sich damit als Ergebnis eines Konstruktionsprozesses lesen, der Widersprüchliches harmonisiert. Im Rahmen eines kulturellen Bruchs verkörperte das Synästhetische eine neue Ordnung von Wissen, Sinnen und Erfahrung, die zugleich neue, synthetisch generierte Entwürfe von Gemeinschaft, Körper und Mensch implizierte.
III. Syn(äs)thetische Visionen – Gemeinschaftsutopien und Entwürfe eines neuen Menschen
Im Unterschied zur Phase der Konstituierung eines Synästhesiediskurses im Zeitraum von etwa 1860 bis 1910, die durch vielfältige Konzeptionen und Deutungen des Synästhetischen geprägt war, zeigte sich nach dem Ersten Weltkrieg und v.a. in den 1920er und 1930er Jahren eine Fokussierung auf dessen Interpretation als anthropologische Grundkonstante, die im Rahmen von Entwürfen eines neuen Menschen und Ideen einer neuen Gemeinschaft instrumentalisiert und popularisiert wurde. Diese Anthropologisierung war bedingt durch eine neue Dimension der technischen Synthetisierung der Wahrnehmung in der Weiterentwicklung von Medientechnologien. Die technisch möglich werdende, direkte Kopplung von Bild und Ton im Tonfilm bildete ein neues Dispositiv der synthetischen Synchronisierung der Sinne, das im Synästhetischen anthropologisch verankert wurde. Visionen eines neuen Mensch und einer neuen Gemeinschaft, die im Rückgriff auf vermeintlich ,ursprüngliche‘ Wissensbestände ebenso synthetisch generiert wurden, entwarfen das Synästhetische als allgemein menschliche Fähigkeit. Als Naturalisierung völlig neuer technisch basierter Kopplungen der Sinne etablierte sich das Synästhetische als Projektionsfläche für die Verhandlung von Wahrnehmungserfahrungen in sich medial wandelnden Welten und modellierte selbst technische Prinzipien der Kopplung von Bild und Ton sowie darin eingebettete neue Bedeutungen, Sinnstrukturen und epistemologische Kontexte, die Bilder und Klänge allein bis dahin nicht besaßen. Zur Schnittstelle wurde dabei ein Körper, der in seiner leiblichen Existenz anthropologisch, phänomenologisch und ontologisch neu verankert wurde. Im Zusammenhang mit einer Begeisterung für fremde und ,primitive‘ Kulturen, die bei der Suche nach alternativen Wissensformen ein als ursprünglich deklariertes Körper- und Sinneswissen bereitstellten, verfestigte sich das Synästhetische zum Sinnbild einer als natürlich verstandenen Einheit von Körper und Geist. Die Umdeutung der Argumente, die noch im 19. Jahrhundert zu seiner Pathologisierung beigetragen hatten, wie das häufige Auftreten bei Kindern, ,Primitiven‘ und ,Geistesgestörten‘,
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dienten nun als Zeugen für die Universalität und den allgemeinen Charakter synästhetischer Wahrnehmungsformen. Im Zuge einer fortschreitenden Industrialisierung und der daraus resultierenden Standardisierung des Individuums durch die Einführung des Fließbandes – 1913 in den USA durch Ford und elf Jahre später durch Opel in Deutschland – verschärfte sich die Opposition der Ideen von Natürlichkeit und einer maschinisierten und automatisierten Moderne.1 Stand auf der einen Seite eine Verherrlichung des Fortschritts, wie er schon von den Futuristen gefeiert wurde, so bildete eine pessimistische Verlustrhetorik den Gegenpol dazu. Die Verstärkung der strukturellen Kopplungen von Mensch und Maschine führte zunehmend zu konkurrierenden Körperbilder eines Maschinenmenschen und eines natürlichen Leibes, die wiederum spezifische Implikationen für Modelle von Subjekt und Gemeinschaft aufwiesen.2 So lassen sich, Cowan und Sicks folgend, die Revuegirls der 1920er Jahre oder die Massensportarten gleichermaßen als Identitätsverlust in der Masse und Identitätsbildung über Praktiken der Kollektivierung lesen.3 Sowohl der natürliche Körper als auch der Mensch als Maschine wurden dabei in Abhängigkeit voneinander als Entwürfe eines neuen Menschen propagiert, die durch einen Bruch im kulturellen Diskurs motiviert waren.4 In diesen Konstruktionsprozessen operierte das Synästhetische in beiden Dimensionen als Denkfigur und verband die Vorstellung einer ursprünglichen, gesamtheitlichen Wahrnehmung mit der Vision einer neuen, zukünftigen Synthetisierung der Sinne. So bildete sich, laut Filk und Lommel, „die utopisch-transzendente Vorstellung heraus, durch die kulturgeschichtliche Spezialisierung unserer Sinne sei ein ursprüngliches, ganzheitliches
1
Vgl. Cowan/Sicks (2005), S. 21.
2
Cowan und Sicks beschreiben, dass Körperbilder schon vor 1918 mit der technisch-industriellen Entwicklung verbunden waren, diese sich aber verstärkt in den 1920er Jahren in einer Reihe kultureller Praktiken finden. Vgl. Cowan/Sicks (2005), S. 14f.
3
Vgl. Cowan/Sicks (2005), S. 22.
4
So beschreibt Randi Gunzenhäuser: „Maschinenmenschen treten in Zeiten der Körperhysterie auf, also immer dann, wenn Brüche im Menschenbild auftauchen, wenn kein Konsens darüber besteht, wie die Norm des Menschlichen beschaffen ist oder sein soll. [...] Der Maschinenmensch hält dem Menschen also nicht einfach einen Spiegel vor, er dient nicht nur dazu, die Natur des Menschen zu erkennen, sondern er arbeitet auch ständig an der Perfektionierung und Überschreitung dieser Natur. [...] Authentizität und Naturzustand werden – zumal im Kontext einer Veränderung der Medienkonstellation – als das ‚Vorher’ phantasiert, verlorengegeben und erneut herbeigesehnt. Dieses Sehen geschieht in Bildern vermeintlich natürlicher Körper einerseits und naturüberschreitender Körper andererseits. Und es bedient sich immer neuer Wunschmaschinen, wechselnder Medientechnologien und unterschiedlicher Bezüge der Medien untereinander.“ Gunzenhäuser (2006), S. 10f.
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Wissen verloren gegangen“5, das mittels Synästhesie wiedergewonnen werden könnte, die sich unter dieser Prämisse zum omnipräsenten Phänomen wandelte.6 Konnten weder Physiologie noch Psychologie das Zusammenspiel der Sinne schlüssig erklären, so besetzte das Synästhetische, als Element ursprünglicher Wissensformen entworfen, eine anthropologische Leerstelle. Folglich etablierte die Forschung eine kulturhistorische Traditionslinie des Synästhetischen, die bis in die Anfänge der Kultur zurückreichte, während zeitgleich ethnologische Studien synästhetische Wahrnehmungen bei einer Vielzahl von als primitiv bezeichneten Naturvölkern nachwiesen. Als Sehnsuchtsfigur und Utopie in einem absoluten Ursprung der Menschheit installiert, zu dem über synästhetisches Empfinden wieder eine Beziehung hergestellt werden kann, schlug diese sich in philosophisch-phänomenologisch ausgerichteten Ansätzen eines Helmuth Plessners, Ernst Cassirers oder später auch Maurice Merleau-Pontys nieder, die, in einer Welt, die nicht nur auf das Subjekt einwirkt, sondern dieses auch konstituiert, das Verhältnis von Sinn und Sinneserfahrung, Wissen und Können, Erfahrung und Erkenntnis neu bestimmten. Dabei zielte das Synästhetische nicht auf die Rückkehr in einen mythischen Urzustand, sondern auf eine Anpassung an die modernen Lebensbedingungen. Durch die Verbreitung des Autos, des Luftflugs oder des Telefons nahmen Mobilität und Kommunikationsfähigkeit des Menschen im Sinne einer allumfassenden Dynamisierung Mitte der 1920er Jahre zu.7 Das Synästhetische bot in diesem Kontext ein Modell, Daten verschiedener Sinneskanäle schnell, automatisch und parallel zu verarbeiten und zu kombinieren, und garantierte damit bessere Reaktionen auf die sich bewegenden Umwelten. Als Synthetisierung und Effektivierung der Wahrnehmung erlaubte das Synästhetische die Handhabbarmachung einer neuen Erfahrungswelt vor dem Hintergrund neuer Kommunikationstechniken, die jenseits von Sprache über Körper agierten.8 Das Kino entwickelte sich zwischen den Weltkriegen rasant zum neuen Unterhaltungs- und Massenmedium, das bereits 1912 den ersten abendfüllenden Spielfilm zeigte. Aber auch das Radio und der 1923 eingeführte Unterhaltungsrundfunk installierten neue Codes körperlicher Performanz, Repräsentation und Kommunikation.9 Das Synästhetische verkörperte dabei zunächst die Strategie einer 5
Filk/Lommel (2004), S. 11.
6
So äußerte sich z.B. der Maler Fritz Gysi 1924 auf einem musikwissenschaftlichen Kongress in Basel Über Zusammenhänge zwischen Ton und Farbe: „Heute wird die farbige Existenz der Töne und umgekehrt die klingende Wirkung gewisser Farben oder Farbenkomplexe kaum mehr in Abrede gestellt. Denn es handelt sich beim Austausch solcher Sinnesempfindungen weder um willkürliche Konnexe noch um pathologische Wahnvorstellungen, sondern um ganz normale Nervenreize.“ Gysi (1925), S. 177.
7
Vgl. Cowan/Sicks (2005), S. 18.
8
Vgl. Gunzenhäuser (2006), S. 16, Cowan/Sicks (2005), S. 22.
9
Vgl. Cowan/Sicks (2005), S. 22.
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medialen Wahrnehmung, die dem Bild oder Ton fehlende Sinneserfahrung assoziativ-imaginär ergänzte. Mit der Entwicklung des Tonfilms im Jahr 1929 wirkte das Konzept des Synästhetischen wiederum auf das Medium selbst zurück, aus dem es im Wesentlichen hervorgegangen war. Als Teil einer Ästhetik der Medien und zugleich neuer Körpertechniken und -praktiken, wie sie z.B. auch der Ausdruckstanz über den natürlichen Körper etablierte, folgte das Synästhetische einer konstruktiven Logik des Zerteilens und Neuzusammensetzens, der Analyse und Synthese, bei der jedoch der Akt des Entwerfens in der Deklarierung des Synthetisierten als ,natürlich‘ im Verborgenen blieb.10 Aufdecken lässt sich der synthetische Charakter des Synästhetischen jedoch im Zusammendenken seiner theoretisch-wissenschaftlichen Konzeptualisierungen mit der auf synästhetischen Prinzipien basierenden künstlerischen Praxis. Denn wurde das Synästhetische in den 1920er Jahren im wissenschaftlichen Diskurs anthropologisch verankert und mit einer ,Ursprünglichkeit‘ belegt, so motivierte es in künstlerischer Perspektive mit der Farblichtmusik oder dem abstrakten Film vorwiegend technisch-mediale Ausgestaltungen. Ergriff das synästhetische Wahrnehmungsmodell im Sinne einer Projektionsfläche in dieser Zeit alle Lebensbereiche von Wissenschaft über Kunst bis hin zur Populärkultur, so mündete es in den 1920er und 1930er Jahren in eine neue Wissenskultur und eine Massen- und Körperpolitik, die v.a. auch ideologisch anschlussfähig waren. Diese Zusammenhänge verdichten sich in den 1920er Jahren unter dem Namen der Farbe-Ton-Forschung, die durch den Psychologen und Musikwissenschaftler Georg Anschütz ins Leben gerufen wurde. In der Theoretisierung und Popularisierung des Farbenhörens führte diese interdisziplinär angelegte Forschung Wissenschaftler und Künstler in der Erarbeitung eines Synästhesieentwurfes zusammen, der nichts weniger zum Ziel hatte, als eine „neue Synthese des Geistes“, aus der eine „neue Form des Menschen“11 hervorgehen sollte. Als Eigenschaft eines neuen Menschen installierte die Farbe-Ton-Forschung einen weit gefassten Begriff des Synästhetischen, der sie aus heutiger Perspektive einer neurologisch ausgerichteten Synästhesieforschung eher fragwürdig erscheinen lässt.12 Genau diese Ausweitung 10 Diese Logik ist selbst eine spezifische Strategie der Medien: „Medien zerstückeln Körper, die angeblich bereits in einer geschlossenen Form existieren, und setzen sie nach ihren Regeln zusammen. Alle Medien bemühen sich, die Spuren dieses kreativen Prozesses zu verwischen und ihre technischen Kunstgriffe (die Perspektivierung, die Schnitttechnik, die Charakterzeichnung) – und damit die Körperbilder – ‚natürlich‘ erscheinen zu lassen.“ Gunzenhäuser (2006), S. 20. 11 Anschütz zit. nach Jewanski (2002a), S. 245. 12 So merkt z.B. Michael Haverkamp kritisch an: „Um einem möglichst allgemeinen Anspruch gerecht zu werden, verlagerte sich der Schwerpunkt zunehmend von der Synästhesie als Ausnahmeerscheinung hin zu Assoziationen und allgemeinen Analogiebetrachtungen. Zahlreiche versierte Arbeiten von Georg Anschütz, dem führenden Kopf der
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und Aufweichung des Begrifflichen sind jedoch wesentlicher Anhaltspunkt für die Funktion des Synästhetischen als Projektionsfläche für spezifische Diskurse der Zeit. Erst aus dieser Betrachtungsweise rückt der Prozess des Entwerfens des Synästhetischen mit seinen spezifischen Implikationen im Kontext der Zeit in den Mittelpunkt. Knüpfte die wissenschaftliche Beschäftigung in den 1920er Jahren an die vielfältigen Definitionsversuche des Synästhetischen um 1900 an, so konstatierte sie im Wesentlichen deren Ergebnislosigkeit.13 Für Annelies Argelander lag das Problem v.a. darin, dass die vorliegenden Studien und Abhandlungen „in der Hauptsache Beschreibungen von Einzelfällen, meistens von medizinischen Beobachtern gesammelt“14 seien, was deren Verwertbarkeit und Aussagekraft in Frage stellte. Motiviert war ihre Beurteilung dabei v.a. durch eine Frage, die für die Theoretisierung als universeller Wesenszug des Menschen in den 1920er Jahren ausschlaggebend war: „Stimmen die in der Literatur vorliegenden Angaben über die farbigen Sekundärempfindungen, die im Gefolge akustischer Primärempfindungen auftreten, untereinander überein und können wir daraus bestimmte Beziehungen zwischen Ton und Farbe erkennen oder müssen wir aus mangelnder Übereinstimmung der Photismen auf völlige Subjektivität des Phänomens schließen?“15
In der Setzung des Synästhetischen als anthropologische Konstante wurde das Auffinden eines einheitlichen Gesetzes in der Funktionsweise oder den synästhetischen Zuordnungen zur Bedingung. Damit ging es der Farbe-Ton-Forschung in den 1920er Jahren, im Unterschied zur Synästhesieforschung um 1900, nicht mehr explizit um den Nachweis der Existenz des Phänomens oder seine Entpathologisierung, ‚Bewegungʻ, sowie von Albert Wellek und vielen anderen haben wesentliche Erkenntnisse beigesteuert, jedoch nicht unbedingt zur Abgrenzung der Synästhesie im engeren Sinne beigetragen.“ Haverkamp (2006), S. 33. Lediglich Karl Clausberg hält die FarbeTon-Forschung im Umfeld einer Verbindung von Natur- und Kulturwissenschaften, wie sie Ernst Cassirer, William Stern, Aby Warburg oder Jakob von Uexküll ausformten, für wesentlich. Vgl. Clausberg (2007), S. 42. 13 So schrieb Fritz Gysi: „Versuche, das eigentümliche [...] Phänomen auf eine wissenschaftliche Formel zu bringen, haben dann hauptsächlich im 18. Jahrhundert eingesetzt und seither den Physikern und Musiktheoretikern, aber auch den Dichtern und bildenden Künstlern keine Ruhe gelassen, wiewohl oder gerade weil die meisten dieser Experimente, sei es an biologischen, sei es an psychologischen oder ästhetischen Fehlschlüssen, scheiterten.“ Gysi (1925), S. 178. 14 Argelander (1927), S. 6. 15 Ebd.
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sondern um die Suche nach für alle Fälle und Formen gültigen, universellen Regeln der synästhetischen Transformationen und Übersetzungen zwischen den Sinnen. Daran arbeiteten wiederum Wissenschaft und Kunst gemeinsam. So entstanden in Anknüpfung an eine Geschichte der Farblichtklaviere und das Gesamtkunstwerk Kunstformen wie die Farblichtmusik oder der abstrakte Film, die mit laborähnlichen Versuchsanordnungen und technischen Apparaten an der Aufdeckung allgemeiner synästhetischer Wahrnehmungsmechanismen arbeiteten und Kunst-, Technik- und Mediengeschichte aufs engste miteinander verbanden.16
III.1 „D IE NEUE S YNTHESE DES G EISTES “. D IE N EUBEGRÜNDUNG DER K ULTUR AUS DES S YNÄSTHETISCHEN
DEM
G EISTE
Die Farbe-Ton-Forschung definierte das Synästhetische nicht mehr als Abart oder Ausnahmeerscheinung, sondern als Grundprinzip der Wahrnehmung und des Denkens überhaupt und erhob sie zur Grundlage eines neuen Menschenbildes, einer neuen Wissenschaft und einer neuen Kunst. Als Grundlage eines Natur und Kultur, Körper und Geist aussöhnenden Wahrnehmens, Denkens und Fühlens wurde das Synästhetische dabei in einem konstruktiven Prozess selbst erst generiert und durch Verankerung im menschlichen Wesen naturalisiert. In dieser Form war es als einheitsstiftender Mechanismus geeignet, das moderne Subjekt und neue Formen von Gemeinschaft auf der Basis vorsprachlicher, präsemantischer und nicht rational definierbarer anthropologischer Wissensbestände zu fundieren und zu remythisieren. Auf diese Weise fügte sich die Farbe-Ton-Forschung in eine in den 1920er Jahren vielerorts ausgerufene Vision eines neuen Menschen, den sie als Opposition zu einer mechanisierten und technisierten Kultur setzte.17
16 „Man erinnere sich an das Aufsehen, das seinerzeit die Danses lumineuses der Loë Fuller erregten. [...] Was heute angestrebt wird: eine Synthese sämtlicher Sinneseindrücke und der sie verwertenden Künste – das ist im Theater, in Wagners Gesamtkunstwerk und seinen Verzweigungen, zum Teil wenigstens, bereits erprobt, und manches, was uns in der Theorie der modernen Ton- und Farbenpsychologen als unwahrscheinlich vorkommt, ist hier, im Zusammenwirken von Musik und Bühnenlicht, längst traditionell geworden.“ Gysi (1925), S. 178. 17 „Das 19. Jahrhundert mit seinem gesteigerten Weltverkehr, seiner Technisierung und Materialisierung des Lebens, seinem Übergang zu Fabrikunwesen und Massenbetrieb, seiner Mechanisierung und Herabwürdigung des Individuums zur bloßen Nummer im mechanischen Geschehen musste zu Unzufriedenheit und Erbitterung, ja zu körperlich-geistiger
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Die Farbe-Ton-Forschung begründete ab etwa 1925 in Deutschland eine „Synästhesie-Euphorie“18, aus der die bis heute „umfassendste Bündelung wissenschaftlicher und künstlerischer Kompetenz unter dem Oberbegriff der Synästhesie“19 hervorging. Bis in die 1930er Jahre hinein bemühten sich Georg Anschütz und seine Mitstreiter mit einer Vielzahl von Zeitungsartikeln, Aufsätzen, Vorlesungen, Radiobeiträgen und insgesamt vier Farbe-Ton-Kongressen um die Popularisierung und Dokumentation des Phänomens Synästhesie.20 Als Ausarbeitung eines ganzheitlichen Menschseins aus der „ursprünglichen und gesunden Geisteskraft unseres Volkes“ durch eine „Revolution des Geistes“21 verstand Anschütz die Farbe-TonForschung weniger als Wissenschaft denn vielmehr als Bewegung: „Die gesamte Farbe-Ton-Forschung, [...], bedeutet etwas anderes und in manchem auch mehr als eine neue „Fachwissenschaft“. Sie ist eigentlich gar keine Forschung, sondern eine Bewegung. [...] Wir sind Suchende. Aber nicht Suchende im Sinne eines interessanten Klubs, sondern im Sinne einer Gemeinschaft, die sich aus einer Idee, einem Ziel, einem Willen heraus zusammengefunden hat: Es gilt, ein von selbst an allen Orten der Wissenschaft, der Kunst und des Lebens emportauchendes Etwas zu fördern, nämlich die Arbeit an einer neuen Synthese des Geistes.“22
Dabei synthetisierte die Farbe-Ton-Forschung nicht nur einen neuen Menschen, sondern auch eine neue Konzeption des Synästhetischen, die unter dem Rückgriff auf eine vermeintlich ursprüngliche, gesamtsinnliche Wahrnehmungserfahrung in Entwürfe einer neuen Kultur eingebettet wurde. Dies zeigte sich insbesondere in den Untersuchungen von Anschütz, der zunächst aus musiktheoretischer Perspektive auf das Farbenhören stieß.23 Fand er das Farbenhören v.a. „bei GeisteswissenEntartung, zu explosiver Entladung unterdrückter Naturrechte führen.“ Anschütz (1931b), S. 310. 18 Jewanski (2002a), S. 239. 19 Haverkamp (2006), S. 32. 20 Anschütz, der 1908 bei Theodor Lipps in München promoviert und in Paris mit Alfred Binet und ab 1912 u.a. mit Wundt in Leipzig zusammengearbeitet hatte, konzipierte die Farbe-Ton-Forschung 1925 in Hamburg zunächst als psychologisch-ästhetische Arbeitsgemeinschaft, die sich in 14-tägigem Abstand zu Vorträgen und künstlerischen Vorführungen einfand. Ab 1927 benannte sich die Arbeitsgemeinschaft in psychologischästhetische Forschungsgesellschaft um, die etwa 150 Mitglieder zählte. 21 Anschütz (1931b), S. 315. 22 Ebd., S. 314f. 23 Im Zusammenhang mit Fragen der Rezeption und Wirkung von Musik entdeckte er, „daß zahlreiche Menschen beim Hören von Musik, [...], vor ihrem inneren Auge eine wunderbare Welt von Licht- und Farbenphänomenen erschauten, die ihnen wie Visionen aus
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schaftlern, Künstlern, Psychologen und Ärzten unserer neueren Zeit“24, so glaubte er, dass sich darin universelle Gesetzmäßigkeiten materialisierten, die weniger im Bereich einer physikalischen Entsprechung von Farbe und Ton, sondern vielmehr in der Natur der Psyche und der Entwicklung des Geistes lägen.25 Durch die Erforschung des Farbenhörens könne demnach nicht nur der Beweis einer Beziehung von Farbe und Ton erbracht, sondern darüber hinaus die dahinterliegenden, verborgenen psychologischen Mechanismen offengelegt werden, die jahrhundertealte Analogien von Farbe und Ton speisten. Die höchst subjektiven Einzelfälle und Zuordnungen, wie sie die Synästhesieforschung um 1900 vielfach beschrieben hatte, stellten dabei jedoch ein Problem dar.26 Mit einer einheitlichen und systematischen Methodik und einer möglichst breit angelegten Forschung hoffte er, die individuellen Zuordnungen als Ausdruck allgemeiner Zusammenhänge in der Psyche erklären und Gesetzmäßigkeiten aufspüren zu können. So begann er 1925 mit eigenen Analysen von Farbenhörern, die er über Umfragen in Zeitung und Radio sowie in Vorlesungen und Vorträgen akquirierte.27 Ziel war es, wissenschaftlich haltbare Gemeinsamkeiten und ein hinter den Zuordnungen liegendes objektives System der Entsprechungen bei allen Fällen zu finden. Bei der Betrachtung dieser Studien zeigt sich v.a. der große manipulative Aufwand, den Anschütz betrieb, um Gesetzmäßigkeiten herzustellen, was wiederum auf den konstruktiven Charakter des Synästhetischen verweist. Grundprinzip dieser Studien war die Erzeugung synästhetischer Erscheinungen durch einen Reiz und die Erfassung der subjektiven Beschreibungen der Synästhetiker in einer Gesprächssituation mit dem Experimentator.28 Wählte Anschütz zunächst nur Versuchspersonen aus, die optische Erscheinungen zu musikalischen Elementen besaßen, so konnte er sich bei seinen Untersuchungen auf die formale Zerlegbarkeit der Musik stüteiner anderen Welt erschienen und über die sie nur unter Schwierigkeiten sprachen, weil sie damit einen Teil ihres eigensten Ichs preiszugeben meinten“. Anschütz (1927b), S. 5. 24 Anschütz (1928), S. 4. 25 Vgl. Anschütz (1927b), S. 5f. 26 „Wenn man sich durch das ganze Labyrinth dieser unendlich verzweigten [...] und in sich sehr unübersichtlichen Literatur von rund 650 Schriften hindurchgearbeitet hat, [...] so könnte man fast zu der Überzeugung kommen, daß hier viel wertvolle Geistesarbeit vergeblich ausgeführt wurde. Denn sucht man in all den Schriften nach irgendeinem greifbaren Ergebnis, womöglich nach einem einzigen Gesetz, so ist jede Bemühung vergeblich [...].“ Ebd., S. 4. 27 „Eine seit [...] Jahren durchgeführte Umfrage in Zeitschriften hat uns nicht minder als rund 200 Fälle echten ‚Farbenhörens’ gebracht, die dieses Phänomen in immer neuen Formen, aber schließlich doch mit durchgehenden Regelmäßigkeiten studieren lassen.“ Anschütz (1927d). 28 Vgl. Anschütz (1929), S. 29.
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zen.29 Das ideale Forschungsobjekt stellte die von Anschütz als analytische Synopsie benannte Form dar, bei der die subjektiven Erscheinungen direkt an einzelne Töne gebunden waren. Damit bestand, auf der Seite der auslösenden Reize bereits eine Ordnung durch das Notensystem, die auf die Photismen übertragbar war.30 Dergestalt widmete sich Anschütz in Untersuchungen zur Analyse musikalischer Photismen von 1925 dem blinden Farbenhörer Paul Dörken, der nicht nur über farbige Photismen für sämtliche Töne der Oktave und ein absolutes Tonbewusstsein verfügte, sondern zudem im Alter von 13 Jahren erblindet war und nicht von visuellen Wahrnehmungen ,abgelenkt‘ wurde.31 Anschütz’ Ansinnen bei der Analyse von Dörkens Farbenhören war, in den Photismen die musikalischen Gesetzmäßigkeiten wiederzufinden. Dazu ordnete er die Photismen z.B. nach der Tonfolge oder die Töne nach der Helligkeit und Spektralfarbenfolge der Photismen und verglich, ob sich daraus sinnvolle Reihen im jeweils anderen Bereich erschlossen.32 Mit unglaublichem Rechenaufwand und unzähligen nur schwer nachvollziehbaren Diagrammen und Tabellen kam er zu dem gewünschten Ergebnis einer inneren Gesetzmäßigkeit und Logik in den Photismen, die jedoch mehr als konstruiert erscheinen. So ergab z.B. die Zuordnung der Farben zu der Tonfolge der Oktave annähernd die spektrale Farbenfolge, wobei die musikalische Skala jedoch mit dem Ton F beginnen musste, was Anschütz nicht als Abweichung vom erwarteten System, sondern im Sinne einer doppelten Bestätigung positiv interpretierte: „Wenn die Skala also auch nicht ganz vollkommen ist, so zeigt sie doch, daß die Tendenz nach spektraler Anordnung besteht. Dabei ist besonders interessant, daß die Skala mit F beginnt. Dieser Ton gilt nämlich in der Musik als ,Naturton‘. [...] F-Dur ist [...] in der Musik unserer großen Meister immer die Tonart der Naturstimmung. [...] Dieser Punkt ist übrigens, wie zahlreiche andere, dazu geeignet, auf die Allgemeingültigkeit der Dörkenschen Phänomene hinzuweisen.“33
Unterstützte die Geschichte vom Naturton ganz nebenbei die Universalität und Allgemeingültigkeit der Zuordnung, so wertete Anschütz weitere Daten, die sich nicht in die anvisierte Ordnung einpassen ließen, als individuelle Fehlerquellen. Bei Dörkens Photismen fehlte z.B. das für die spektrale Ordnung der Farben notwendige Grün, was Anschütz mit dem Umstand erklärte, der blinde Dörken leide wahrscheinlich an einer inneren Rotgrünblindheit.34 Wirkt diese Erklärung mehr als ab29 Vgl. Anschütz (1926), S. 251. 30 Vgl. Anschütz (1927b), S. 12. 31 Vgl. Anschütz (1925), S. 160. 32 Vgl. ebd., S. 172. 33 Anschütz (1927b), S. 15f. 34 Vgl. ebd., S. 8.
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surd und ließ sich v.a. nicht überprüfen, so zeigt sie, inwieweit Anschütz das gesetzmäßige System der Photismen und die vermeintlich objektiven Entsprechungen zwischen musikalischem Hören und dem synästhetischem Sehen selbst erst herstellte. In der Schrift Kurze Einführung in die Farbe-Ton-Forschung von 1927 fasste Anschütz die Ergebnisse seiner ersten experimentellen Untersuchung in zwei möglichen ,Gesetzen‘ zusammen. Das erste sagte aus, „daß sich die bekannten Farben zu den Tönen genau entsprechend dem Spektrum von der musikalischen Tiefe zur Höhe den Tönen zuordnen“, während das zweite, deutlicher hervortretende Gesetz darin bestand, dass „[n]icht nur die spektrale Folge“ bei der „Zuordnung von der musikalischen Tiefe zur Höhe eine Rolle“ spiele, „sondern auch der spezifische Helligkeitsgehalt einer jeden einzelnen Farbe“35. Aus diesen zwei Gesetzen ergab sich eine Farbfolge, die für Anschütz Allgemeingültigkeit besaß und die, unabhängig von Synästhesien, als eine im menschlichen Wesen verankerte Farbenfolge überall wiederzufinden sei.36 So entdeckte Anschütz sie u.a. in der Statistik der Blütezeit der beliebtesten Bauernblumen von Frühjahr bis Herbst oder in den Farben der nach ihrem Wert in verschiedenen Ländern sortierten Briefmarken.37 So abwegig diese Beispiele erscheinen, so dokumentieren sie Anschütz’ Interesse, ein allgemeines synästhetisches Gesetz menschlichen Wahrnehmens und Denkens zu formulieren, das er in Abriß der Musikästhetik von 1930 als grundlegendes System geistig-gedanklicher Zuordnung von Farben zu Reihen konkretisierte.38 Beweis dafür lieferten ihm zum einen Nichtfarbenhörer, die Ansätze zur Zuordnung nach denselben Regeln zeigten, woraufhin er alle Menschen zu potenziellen Synästhetikern
35 Ebd., S. 15f. 36 „Die Folge lautet also von der Tiefe zur Höhe: schwarz, blau, rot, grün, gelb, weiß. Diese interessante Farbfolge hat nun neuerlich H. Hein sogar an Personen bestätigt gefunden, die überhaupt nicht Synoptiker waren, sondern nur rein gefühlsmäßig Farben zu Tönen zuordnen sollten.“ Ebd., S. 16. 37 „Es ist interessant, daß diese Farbfolge durchaus nicht vereinzelt dasteht, sondern auf anderen Gebieten interessante Parallelen aufweist. Zunächst sei an die Farbenfolge unserer gebräuchlichsten Briefmarken erinnert. Eine Nullpfennigsmarke haben wir natürlich nicht. Wäre sie da, so müßte sie weiß sein. Wir hatten dagegen eine Zweipfennigsmarke, die hellgrau war. Dann folgt jetzt noch die hellbraune Dreipfennigsmarke, deren Farbe ein leicht verdunkeltes Gelb darstellt, dann der Reihe nach grün, rot, blau und violett für die Marken im Werte von 5, 10, 20 und 30 Pfennigen. Die Folge stimmt also mit der oben genannten überein bis auf die Vertauschung von Blau und Violett, die aber […] vorkommen kann. [...].“ Ebd., S. 17f. 38 Vgl. Anschütz (1930a), S. 177.
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ernannte.39 Diese Interpretation war jedoch nur unter Ausblendung sich widersprechender Daten möglich. Anschütz selbst rechtfertigte seine Argumentation immer wieder damit, dass die Ergebnisse weder durch „bewusste Täuschung oder Konstruktion“40 noch durch rein subjektive Wahrnehmungen erklärt werden könnten und dass die hinter der Erscheinung liegenden Gesetze lediglich so verborgen seien, dass sie dem Einzelnen gar nicht bewusst seien.41 Unter Berufung auf verborgene Dimensionen menschlichen Erkennens und Wissens generierte eine konstruktiv-synthetisierende Logik unter dem Anschein empirisch fundierter Daten und wissenschaftlicher Objektivität den synästhetischen Charakter des Menschen. Denn obwohl Anschütz die Photismen Dörkens mit Stoppuhr und Metermaß zeitlich und räumlich fixierte, basierten seine Analysen auf den Aussagen Dörkens, wo diese sich befinden und wann sie erscheinen und verschwinden. Das Insistieren auf exakten wissenschaftlichen Methoden kompensierte einen Mangel an zugänglichen Daten und versuchte, die subjektiven Beschreibungen zu objektiven Tatsachen und Beweisen aufzuwerten. Dabei unterlief Anschütz, in dem Glauben an sich in den Photismen artikulierende, allgemeine intersensorielle Gesetzmäßigkeiten, den Objektivitätsanspruch permanent mit hermeneutisch deutenden Operationen. Das zeigte sich auch in den Untersuchungen über komplexe musikalische Synopsie von 1926, in denen Anschütz die Synästhesien von Max Gehlsen, Hugo Meier und Heinrich Hein analysierte, die über Photismen bei komplexen musikalischen Formen, wie Melodien oder Harmonien, verfügten. Obwohl die Photismen der einzelnen Synästhetiker zu ein und demselben Reiz höchst unterschiedlich ausfielen, glaubte Anschütz, auch hier ein objektives System aufspüren zu können.42 So animierte er seine Versuchspersonen, Bilder von den zur Musik entstehenden Photismen zu zeichnen, die nicht nur als Material und Beweismittel in die Untersuchung eingingen, sondern später auch auf den Farbe-Ton-Kongressen ausgestellt und publiziert wurden.43 Riefen diese Bilder vielfach Assoziationen zu Darstellungen abstrakter Kunst hervor, so dass Anschütz ihnen einen eigenen künstlerischen Wert zusprach, so testete er mit ihnen v.a. die Möglichkeit der Rückübersetzung 39 So ließ er z.B. 80 Studenten bei einer Vorlesung die Farben verschiedenen Systemen zuordnen, wie den musikalischen Tönen, den Vokalen, den Tageszeiten, den Wochentagen usw., und fand dabei sowohl eine Übereinstimmung zwischen den Subjekten als auch mit seiner universellen Farbenfolge. Vgl. Anschütz (1927b), S. 18, Anschütz (1930a), S. 177. 40 Anschütz (1927b), S. 9. 41 Vgl. ebd., S. 19 42 Vgl. Anschütz (1926), S. 134, Anschütz (1928), S. 5f. 43 Interessanterweise hielt Anschütz den Film für das perfekte Dokumentationsinstrument der synästhetischen Erscheinungen, da er die Bewegung, den Verlauf, das Ineinanderübergehen der Farben und Formen eines Photismas nachvollziehen könnte. Vgl. Anschütz (1926), S. 136.
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durch nicht-synästhetische Personen, um deren universellen Charakter zu überprüfen.44 Im Ergebnis kam er zu dem Schluss, dass die Bilder die Struktur der auslösenden Musik enthielten und einen Zusammenhang zwischen dem Aufbau des Musiksystems und den Synästhesien bestätigen würden.45 Abbildung 7: Zeichnungen der Versuchsperson H. Hein
Bild 1 Zeichung zu Bagatelle von Beethoven, Op. 33 Nr. 5, C-Dur, Bild 2 zu Hochzeitstag auf Troldhaugen von Grieg, Bild 3 zu Faustwalzer von Gounod, aus: Anschütz (1927a).
Als fast mechanische Übertragung von Hörbarem in Sichtbares, von Zeitlichem in Räumliches erlangte das Farbenhören dergestalt den Status der direkten Transformation von Musik in Bilder, in die sowohl objektive Elemente der Musik als auch unbewusste Wirkungen der Musik auf das Subjekt einflossen.46 In diesem Sinne interpretierte Anschütz die individuellen Elemente der Synästhesien als Ausdruck der Persönlichkeit und unterlegte ihnen eine Bedeutung als Form des inneren Sehens
44 In diesem Kontext verwies Anschütz auf die Musikalische Grafik Oskar Rainers, der ausgehend von synästhetischen Verknüpfungen von 1913 bis 1925 an einem kunsterzieherischen Konzept arbeitete. Dabei ließ er seine Schüler Musik in Bilder aus Farben und Formen umwandeln, die objektiv die Musik widerspiegeln würden und die Rekonstruktion der Musikstücke durch unbeteiligte Personen ermöglichten. Dabei ging es Rainer nicht nur um eine begleitende Visualisierung der Musik, sondern um eine neue Bildkunst aus dem Geist der Musik. Die Tänzerin und Dalcroze-Schülerin Rosalia Chladek nutzte die musikalische Grafik, um eine Sensibilisierung für die Musik zu erreichen. Vgl. Sündermann/Ernst (1981), Düchting (2006). 45 Vgl. Anschütz (1927b), S. 10. 46 Vgl. Anschütz (1926), S. 135.
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des Subjekts.47 Besäßen zwar grundsätzlich alle Menschen synästhetische Fähigkeiten, so könnten nur besonders sensible Menschen, bei denen das Innenleben dominiere und über die Photismen nach außen projiziert werde, diese realisieren, was ihnen einen leichteren Zugang zu einem verborgenen Wissen und unbewussten Elementen der Psyche verschaffe.48 Die spezifischen Zusammenhänge mit der Persönlichkeit erläuterte Anschütz eingehend anhand der Untersuchung des Schriftstellers und Musikers Eduard Reimpell, die er 1929 unter dem Titel Das FarbeTon-Problem im psychischen Gesamtbereich veröffentlichte. Scheiterte bei Reimpell eine an der Musik orientierte Untersuchungsmethodik, da er über vielfältige Synästhesien für Zahlen, Gerüche, Geschmack, Gedanken, Stimmungen, Ahnungen oder abstrakte Begriffe verfügte, so erweiterte der Fall Anschütz’ Konzeption des Synästhetischen zu einem Modell der Psyche als Einheit des Geistigen, Seelischen und Sinnlichen: „Die Synästhesien erscheinen zwar heute noch als ein Sonderkapitel [...]. Das Eindringen in sie zeigt jedoch, [...] wie sehr sie in fast alle einzelnen Gebiete der Psychologie [...] eingreifen, von der einfachen Wahrnehmung beginnend und endend bei Fragen des komplexen Denkens und Erkennens, des intuitiven Erfassens und der Bildung von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen. Die Erforschung der Synästhesien erfasst bestimmte psychische Zusammenhänge, die in gleicher Weise kaum durch andere Methoden greifbar sind.“49
Über das Farbenhören hinaus beschrieb Anschütz die Synästhesien als Manifestationen allgemeiner Gesetzmäßigkeiten des Denkens, die den Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis und der höheren geistigen Operationen bildeten.50 Damit umfasste das Synästhetische in der Anschütz’schen Konzeption das gesamte Bewusstsein einschließlich unbewusster Schichten und versprach, diese wissenschaftlich be-
47 Vgl. ebd., S. 252. 48 Denn der „Synoptiker und allgemein der Synästhetiker repräsentiert in sich [...] in ausgeprägter Form einen Funktionszusammenhang, der sich latent und in Ansätzen bei allen Individuen findet“ Anschütz (1926), S. 260. „Es ist daher kein Zufall, [...] daß Synästhetiker mystischen Problemstellungen näher stehen, als der Durchschnitt [...] und daß sie [...] mehr einer intuitiven Weltauffassung huldigen. [...] Der ‚Farbenhörer’ hat somit als eine Persönlichkeit zu gelten, die [...] dadurch gekennzeichnet wird, daß ihr Innenleben ein besonders reiches ist und daß sich die Erlebnisse [...] in optisch greifbarer Form niederschlagen.“ Anschütz (1928), S. 9f. 49 Anschütz (1929), S. 103. 50 „Die Beziehungen von Farben zu Tönen sind einerseits derart, daß sie nur in Bezug auf dieses engere Gebiet Geltung haben; sie decken sich andererseits mit Gesetzlichkeiten, die das menschliche Denken überhaupt beherrschen [...].“ Anschütz (1927b), S. 2.
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schreibbar zu machen.51 Die ganze Psyche könne, so Anschütz’ Hoffnung, schließlich über die Synästhesien offengelegt werden: „Die von einer Sinnesphäre zur anderen laufenden Verbindungen sind [...] derart kompliziert und reichen so weit in die Tiefen des Bewußtseins hinein, daß ihre Erfassung nicht nur einfache Sinnesinhalte in ihrer zufälligen Verbindung miteinander zutage fördert, sondern zugleich mit ihnen und in ihnen mehr oder minder bedeutsame Elemente des zentralen und womöglich sonst latenten Bewusstseinslebens. Da aber einerseits diese zentralen Elemente in sinnlich greifbarem Niederschlag erscheinen, andererseits diese ‚sekundären‘ Sinnesinhalte mit außersinnlichen Fragmenten durchsetzt sind, so müssen der Forschung nunmehr alle in diesen Komplex eingehenden Teile modifiziert und neuartig erscheinen.“52
Offenbarten die Synästhesien dergestalt unbewusste Zusammenhänge und Zustände, so veranlasste dies Anschütz zu der Vermutung, dass noch „mannigfache andere Phänomene mit in den Kreis der Untersuchungen einbezogen werden müssen, die sonst in das Kapitel der ‚Visionen‘ oder des sogen. ‚Okkulten‘ gehören“53. Für die Recherche in diese Richtung besuchte Anschütz eigens den Kreis der Spiritisten um Albert von Schrenck-Notzing in München und nahm an einer spiritistischen Sitzung teil, bei der ihm vier der zwölf dort anwesenden Personen von synästhetischen Erscheinungen berichteten.54 Damit erweiterte sich der Kreis der Themen- und Fragestellungen der Farbe-Ton-Forschung, die nun als Weg erschien, über die Synästhesien parapsychologische und als okkultisch-mystisch bezeichnete Erscheinungen
51 „Es unterliegt heute keinem Zweifel mehr, daß die Bahnen vom Hören zum Sehen [...] unendlich komplizierter sind, so daß man eine Durchquerung des gesamten Bewußtseins und damit des Gehirns annehmen muß. Besonders wichtig hierbei ist, daß nicht nur das übliche klare, wache, [...] Bewusstseinsleben durchschritten wird, sondern oft diejenigen Sphären, die im Untergrunde liegen und dem Erlebenden selbst bei größter Anstrengung seiner Aufmerksamkeit nicht erfassbar sind. Damit nähert sich die Farbe-Ton-Forschung einem Gebiet, das dem Traumleben sowie den nur in der Hypnose, bei Geisteserkrankungen usw. erfaßbaren ‚Unterschichten’ des Seelenlebens verwandt ist, wenn es nicht in häufigen Fällen schon mit ihm zusammenfällt.“ Ebd., S. 28. 52 Anschütz (1927a), S. IV. 53 Anschütz (1927b), S. 22. 54 Vgl. Anschütz (1926), S. 268f. Der Mediziner und Pionier der Psychotherapie und Parapsychologie Albert von Schrenck-Notzing war v.a. für seine Experimente mit der Hypnose bekannt. Er gründete 1886 gemeinsam mit dem Philosophen Carl du Prel in München die Psychologische Gesellschaft, die sich überwiegend mit parapsychologischen Phänomenen befasste.
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wissenschaftlich untersuch-, beweis- und erklärbar machen zu können.55 Zugleich hatte dies eine neue Deutungsdimension des Synästhetischen zur Folge. Als „Niederschläge von Erkenntnisprozessen“ verkörperten die Photismen für Anschütz ein Wissen ganz eigener Art, das zu „einer Modifikation und Erweiterung des Erkenntnisbegriffes“56 überhaupt führen könnte.57 Denn dieses Wissen sei eine „Erkenntnis nicht in der Form des typischen abendländischen Denkens, wo sich Subjekt, Prädikat und Objekt säuberlich voneinander scheiden und wo das klar bewußte Zergliedern und Zusammensetzen im Mittelpunkte der geistigen Funktionen steht“, sondern vielmehr „dasjenige Erkennen, das dem Erschauen der Orientalen, der Intuition, dem unmittelbar Gegenwärtighaben der Religionen, [...] dieser Seher- oder Ahnungsgabe irgendwie entspricht“58. Im Gegensatz zum rationalen Denken entwarf Anschütz das Synästhetische als basale, gefühlsmäßige Wissensform. In den Synästhesien, so Anschütz, „scheinen [...] Fähigkeiten zutage zu treten, die im menschlichen Bewußtsein ruhen, die aber durch die allgemeine Veräußerlichung des heutigen Lebens zurückgedrängt sind“59. Damit postulierte er das Synästhetische als im zivilisierten Menschen verschüttete Fähigkeit und forderte dessen Wiederbelebung zur Wiederherstellung einer verloren geglaubten Ganzheitlichkeit.60 Denn die Synästhesien bewiesen, dass „Bewußtsein und Geist [...] keine Gebilde außerhalb unserer Sinne“ sind, „sondern [...] mit ihnen zusammen eine Einheit“ bilden, „die nur künstlich und zum Schaden aller Teile getrennt werden kann“61. Das Synästhetische war insofern geeignet, zum Modell einer Einheit und Ganzheit zu werden, die die Differenzen zwischen Erfahrung und Erkenntnis, zwischen Wahrnehmungs55 „Damit ist der ganze Problemkreis der Visionen, vieler Halbschlafbilder, des ‚Doppelgängertums‘, des ‚Hellsehens‘, überhaupt aller sogenannten ‚okkulten‘ Erscheinungen aufgeworfen, diesmal jedoch nicht durch den nach dem Mystischen, dem Unerforschten suchenden Menschengeist, der die Inhalte seiner Visionen oder Erscheinungen gläubig hinnimmt, sondern durch die mit beiden Füßen auf dem Boden des objektiven Denkens stehende Forschung.“ Anschütz (1927b), S. 6. 56 Ebd., S. V. 57 „Sieht jemand in seinen ‚Visionen’ Farben und Formen, die etwas Gehörtes oder auch Gedachtes repräsentieren, das jedoch im Hören oder im bewußten Denken nicht erfaßt wurde und vielleicht unerfaßbar ist, so ist dies zweifellos eine Art von Erkenntnis, die von der Erkenntnis im sonst üblichen Sinne abweicht.“ Ebd., S. 29. 58 Ebd., S. 29. 59 Ebd., S. 28f. 60 „Denn die Farbe-Ton-Forschung suche, genau wie die Kunst, die Philosophie, ja selbst die Politik, den ‚Menschen‘, […] die lebendige Einheit in uns, die alles das wieder zusammenfasst, was Materialismus und Kleinkrämerei verzettelt haben“. Anschütz (1930c), S. 345. 61 Anschütz (1930a), S. 173.
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und Wissensprozessen aufhob.62 Darauf zielte Die neue Synthese des Geistes, mit der über das Synästhetische ein ursprüngliches Wissen wieder in den modernen Menschen integriert und die Etablierung einer neuen Lebensauffassung hin zu „einer neuen Form des Menschen“63 vollzogen werden sollte, wie es Anschütz 1930 in einem Vortrag auf dem zweiten Kongress für Farbe-Ton-Forschung als deren Endziel proklamierte: „Aus einem Chaos der Vernichtung und des Verrottens erwachsen Bausteine für ein neues Leben, eine neue Kultur, eine neue Kunst, einen neuen Glauben, eine neue Erkenntnis, einen neuen Menschen. [...] Sie sind nicht das Alte, aber sie enthalten alle seine Elemente in einem neuen einheitlichen Organismus.“64
Damit bildete das Synästhetische für Anschütz das Vorbild für die neue Synthese „indem sie von Sinnesfunktionen ausgeht, dann aber an Hand der natürlichen Verbindungen zwischen den beiden Hauptsinnesgebieten notgedrungen zu ganz komplexen Formen des Seelenlebens fortzuschreiten genötigt ist“ und so „das analytische Element der älteren Forschungsweise mit dem synthetischen, das unserem gegenwärtigen Zeitalter charakteristisch ist oder das ihm doch als Ideal vorschwebt“65, vereint.66 Die sich in den Synästhesien offenbarende natürliche Synthese müsse von der Wissenschaft nachvollzogen werden, um zu einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen und seines Seelenlebens zu gelangen. Denn, so Anschütz, „[h]inter allen Bestrebungen der Gegenwart, die ‚tiefen‘ Schichten des Bewußtseins mit zu erfassen, [...], [...] und in ihm alle ‚Atavismen‘ als latent aber doch konstituierend zu betrachten, zeigt sich der immer stärker durchbrechende synthetische Zug“67. Über die Wiederherstellung einer Ganzheit im Sinne eines Rückgangs in frühere Zivilisationsstufen sollte eine neue Einheit künstlich-synthetisch hergestellt werden,
62 „Wir stehen in zahlreichen Phänomenen an der Grenze, wo [...] Sinnenmäßiges mit rein Geistigem identisch wird […]. Vor allem aber strebt die neuere Psychologie [...] in engen Zusammenhange mit dem gesamten Kulturgeschehen [...] nach ‚Ganzheiten‘, nach dem ‚Menschen‘, den sie erstmalig finden möchte [...].“ Anschütz (1931a), S. V. 63 Anschütz (1931b), S. 315. 64 Ebd., S. 305. 65 Anschütz (1927b), S. 27. 66 Es „muß mit aller Entschiedenheit betont werden, daß mindestens neben der Analyse die Synthese zu erfolgen hat, da sich alles Bewußtseinsleben nicht aus Atomen und Einzelfunktionen, sondern schließlich aus lebendigen Formen und Ganzheiten heraus wird begreifen lassen.“ Ebd., S. 27. 67 Anschütz (1931b), S. 313.
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die ganz im Zeichen des Fortschritts stand.68 Gegen eine Verfallsgeschichte der Kultur plädierte Anschütz für deren synthetische Erneuerung, die mittels des Synästhetischen, verstanden als im menschlichen Wesen verankertes ursprüngliches Wissen, naturalisiert wurde. Referierten diese euphorischen Erneuerungsphantasien dergestalt auf eine gesamtsinnliche Wahrnehmungs- und Empfindungswelt, so verdeckten sie den synthetisch-konstruktiven Charakter des Synästhetischen selbst. Denn hatte Anschütz die Synästhesien mit seinen Untersuchungen selbst erst als universelle Fähigkeit des Menschen herausgearbeitet und der Maschine entgegengesetzt,69 so war das Synästhetische letztlich ebenso der Idee des modernen Fortschritts unterworfen. Das zeigte sich z.B. daran, dass sich Anschütz, weit davon entfernt, ein tatsächlich ganzheitliches Empfinden zu idealisieren, vielmehr auf die dominanten Sinne der Neuzeit konzentrierte. Denn „Auge und Ohr“ als „die vornehmsten Sinnesorgane des Menschen“ seien „die Haupteinfalls- und Ausfallstore des Geistes“70. Dieser Widerspruch löst sich nur in der Betrachtung des Synästhetischen als Projektionsfläche für eine zunehmend medial organisierte Wahrnehmungserfahrung auf, die neue synthetische Verknüpfungen und Kopplungen der Sinne forderte. Basierte die neue synthetische Kultur in dieser Weise auf einem synästhetischen Modell der Wahrnehmung, so schrieb sich das Synthetische zugleich in die Definition des Synästhetischen ein. Die wiedererlangte Einheit und Ganzheitlichkeit im Synästhetischen generierte sich damit selbst nur durch künstlich-synthetische Operationen. Synthetisch und synästhetisch erschienen auf diese Weise synonym. Sie unterschieden sich jedoch dadurch, dass das Synthetische seinen konstruktiven Charakter offen zur Schau trug, während dieser beim Synästhetischen verborgen blieb. Liegen in dieser Setzung weitreichende definitorische Schwierigkeiten, die den Synästhesiediskurs bis heute durchziehen, so war deren Ziel die Naturalisierung und Positivierung des Fortschrittsgedankens und der zunehmenden Technisierung und Medialisierung. Somit baute das Synästhetische im kulturellen Diskurs eine Brücke von archaisch-mythischen Vorstellungen der Kultur zu modernen Entwürfen des Menschen und der Gemeinschaft. Dergestalt idealisierte die Farbe-Ton-Forschung den Synästhetiker in Umkehrung atavistischer Auffassungen und ganz im Sinne einer „Weltanschauung“71 zum vollkommenen Menschen, während der nicht synästhetisch wahrnehmende Mensch 68 „Endlich bekennen wir uns mit unseren Forschungen auch inhaltlich in jeder Hinsicht zum Fortschritt. [...] Wir setzen, [...], dieser passiven Krisenstimmung den Willen zum Aufstieg und zu einer neuen Kultur entgegen.“ Anschütz (1931a), S. 6. 69 „Der Mensch ist nicht Maschine“, so Anschütz, und er propagierte dagegen das „Ziel der Menschenbildung im Sinne einer lebendigen und organischen Ganzheit aller geistigen und ethischen Fähigkeiten“. Anschütz (1931b), S. 312f. 70 Anschütz (1928), S. 3. 71 Anschütz (1931a), S. V.
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einen Mangel aufweise. Der ausgeprägte Synästhetiker, so Anschütz, „sieht bzw. empfindet sinnenmäßig-klar Zusammenhänge, die dem Nichtsynästhetiker entweder gar nicht oder nur unbestimmt gefühlsmäßig zugänglich sind“72. Könnten sie dadurch höhere geistige und ethische Qualitäten entwickeln, so postulierte Anschütz das Synästhetische als Maß für Sensibilität, Intelligenz, Geistigkeit und Vollkommenheit des Menschen. Zugleich lag in dem Verständnis des Synästhetischen als universelle Eigenschaft die Möglichkeit der Schulung und Entwicklung synästhetischer Fähigkeiten, wozu für Anschütz insbesondere die Kunst berufen schien.73 Die Künste in all ihren Formen wurden zum Schau- und Ausbildungsplatz des neuen synästhetischen Menschen, seiner Sinne und seines Körpers. Die Affinität des Synästhetischen zum künstlerischen Schaffen, die letztlich aus dessen synthetischer Herleitung resultierte und auf diese verweist, setzte Anschütz als grundsätzliche voraus, indem er Synästhetiker als geborene Künstler deklarierte, die eine neue Kunst heraufbeschwören könnten.74 So betrachtete er z.B. die Zeichnungen seiner synästhetischen Versuchspersonen als neue psychische Malerei, die psychische und unbewusste Vorgänge weit über das rein Individuelle hinaus symbolhaft abbildeten.75 Als synästhetische Kunst der Zukunft propagierte er darüber hinaus die Farblichtmusik Alexander Lászlós, die Gesehenes und Gehörtes in der unmittelbaren Anschauung verbinde, oder den Tonfilm und den Trick-Tonfilm, da sie die höchste Wirkung der Gleichzeitigkeit von Bild und Klang ermöglichten.76 Damit 72 Anschütz (1926), S. 260. 73 Vgl. Anschütz (1930c), S. 312. Besonders das Kind in seiner Ursprünglichkeit und noch nicht vom Verstand zerstörten sinnlichen Einheit geriet in den Fokus umfassender synästhetischer Erziehungsmaßnahmen: „Im Kind von heute schlummert das, was wir noch nicht verwirklicht vor uns sehen, was aber morgen an die Oberfläche kommen und eine neue Kunst bilden kann. [...] Bunte Bilder, die von Kindern selbständig entworfen werden, [...], gestatten wichtige Einblicke [...] in die Entstehung stilistischer Elemente in der Kunst der Primitiven wie der Orientalen und des Mittelalters.“ Anschütz (1930b), S. 18f. 74 „Die Synästhesien erscheinen als ein Element, das nicht nur bei jedem unmittelbaren (‚intuitiven’) Erfassen, sondern auch im künstlerischen Schaffen eine Rolle spielt [...].“ Anschütz (1929), S. 103. „Man muß sich mit der Tatsache abfinden, daß es einen besonderen Typus gibt, eben den ‚Synästhetiker‘, daß aber dieser Typus nichts Absonderliches, sondern wahrscheinlich etwas der künstlerischen Anlage grundsätzlich Verwandtes darstellt.“ Anschütz (1928), S. 9. 75 „In allen [...] Fällen ergab sich [...], daß die auftretenden Farben- und Formengebilde keineswegs etwas Zufälliges sind. Überall enthalten sie [...] das Wesen des Gehörten, Gedachten, Gefühlten, Erlebten. Sie spiegeln andererseits auch die Art der Auffassung oder des Erlebens in der entsprechenden Persönlichkeit wieder. So werden sie [...] zu [...] Symbolen [...], wie wir sie in der Kunst bereits kennen.“ Ebd., S.10. 76 Vgl. Anschütz (1930a), S. 173ff.
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deutete sich die für die Zukunft bedeutsam werdende Ausrichtung des Synästhetischen auf mediale Kopplungen von Bild und Klang hin an, die sich in der Betrachtung der insgesamt vier Farbe-Ton-Kongresse in den Jahren von 1927 bis 1936 bestätigt. Ausgehend von zunächst psychologischen Fragestellungen, erweiterten sich deren Themen über künstlerische Problemstellungen hin zur Verhandlung ästhetischer und technischer Fragen des Films. Ergab sich aus den vielfältigen von Anschütz gesetzten Beziehungen des Synästhetischen ein umfangreiches Themenspektrum der Farbe-Ton-Forschung, die ästhetische, medientheoretische, natur- und geisteswissenschaftliche Fragestellungen gleichermaßen einschloss,77 so fungierte das Synästhetische als alles umfassendes kulturelles Prinzip einer neuen synthetisierenden Zeit zugleich als „Aufgeben der herkömmlichen Kluft zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Denken und Intuition, zwischen Subjekt und Objekt“ und installierte „eine neue Ordnung der Wissenschaften und Künste“78. War dem Phänomen weder mit streng naturwissenschaftlichen Paradigmen, die allgemeine Gesetzmäßigkeiten beschreiben, noch mit reiner Deutungsarbeit subjektiven Erlebens beizukommen, so stellte das Synästhetische die Trennung der Wissenschaften in Frage.79 Prägt dieser Widerspruch bis heute den Synästhesiediskurs, so birgt er zugleich das Potenzial des Synästhetischen, in Krisenzeiten wissenschaftlicher und kultureller Ordnungsmuster, wie sie die Moderne kennzeichneten, wirksam zu werden. Entsprechend konzipierte Anschütz die Farbe-Ton-Forschung als Verknüpfung natur- und geisteswissenschaftlicher Methoden und rief das Synästhetische zum Prinzip einer ganzheitlichen Betrachtungsweise aus, die in der Synthese dualistische Setzungen überwinden sollte.80 Unter dieser Prämisse waren die in Hamburg stattfindenden Farbe-Ton77 „Diese grundsätzliche Einstellung bringt die synästhetische Forschung in enge Beziehung zu außerpsychologischen Gebieten, insonderheit zur Ästhetik der bildenden Künste und der Musik, zur Sprachforschung und zur Philosophie.“ Anschütz (1927a), S. V. 78 Anschütz (1928), S. 17. 79 Diese Tendenz beobachtete Anschütz in der gesamten Naturwissenschaft: „Einmalige Beobachtungen in der Physik, der Astronomie, der Biologie und Anthropologie erlangen immer mehr allgemeine repräsentative Bedeutung derart, daß man in ihnen zwar äußerlich Zufälliges, innerlich jedoch Wesentliches erblickt. Einmaliges ist nach dieser Auffassung nicht anders möglich, als daß in ihm unter der Oberfläche liegende allgemeine Gesetze und Zusammenhänge ersichtlich werden. Im Sinne der sog. Geisteswissenschaften bedarf es nicht des Nachweises, daß Einmaliges, [...] Unter- oder Übernormales, Geniales generelle Bedeutung besitzt.“ Anschütz (1929), S. 7. 80 „Wir leben noch im Banne der herkömmlichen Aufteilung in Natur- und Geisteswissenschaften. Viele Anzeichen sprechen aber dafür, daß nicht nur das jetzt noch bestehende Schema der Wissenschaften seinem Ende entgegengeht, sondern daß insbesondere die uns angelernte Verschiedenheit von Welt und Mensch, Körper und Bewußtsein, Materie
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Kongresse unter Beteiligung von Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen, Künstlern und Synästhetikern inter- oder transdisziplinär angelegt.81 In seinem Beitrag Die neue Synthese des Geistes beim zweiten Kongress 1930 formulierte Anschütz: „Auf unserem Kongreß haben sich [...] die verschiedenartigsten Geister zusammengefunden: Gelehrte und Künstler, Fachforscher [...], Theaterleute, Schriftsteller und ,Dilettanten‘. Wir sehen in dieser Tatsache keine Verflachung, keinen Zerfall, sondern den Willen zu einer neuen Form geistiger Betätigung.“82
Entsprechend waren die 33 Vortragsthemen beim viertägigen ersten Kongress für Farbe-Ton-Forschung vom 2. bis zum 5. März 1927 weit gefasst und reichten von psychologischen Betrachtungen über eine Geschichte der Synästhesie und der neuen Lichtkunst, die Harmonisierung von Farbe und Musik im Kunstunterricht, die Symbolik der Farben bis hin zum Vokalklang und der Farbigkeit in der dichterischen Sprache.83 Die von Anschütz untersuchten Synästhetiker Paul Dörken und Heinrich Hein sprachen über ihre persönlichen Erfahrungen und stellten eigene Zeichnungen im Rahmen einer ,wissenschaftlichen Ausstellung‘ zur Schau. Künstlerische Beiträge in Form farbmusikalischer Experimente lieferten Alexander László und Ludwig Hirschfeld-Mack. Obwohl die Anlage des Kongresses durchweg positiv bewertet wurde, schienen die Ergebnisse eher verhalten ausgefallen zu und Geist, Objekt und Subjekt nicht die endgültige Weisheit der Menschheit bedeutet.“ Anschütz (1928), S. 4. 81 Dokumentiert wurden die Kongresse z.T. in drei von Anschütz publizierten Bänden der Farbe-Ton-Forschung. Band I enthielt z.T. bereits publizierte Beiträge über die ersten Untersuchungen von Anschütz und seinen Kollegen. Band III dokumentierte ausführlich den zweiten Kongress von 1930. Band II sollte ursprünglich die Beiträge des ersten Kongresses von 1927 enthalten, wurde auf Grund von Finanzierungsschwierigkeiten jedoch erst 1936 in verkürzter Form veröffentlicht. 82 Anschütz (1931b), S. 314f. Und im Vorwort des dritten Bandes der Farbe-Ton-Forschung führte er programmatisch weiter aus: „Es kam nicht darauf an, innerhalb einer festen Berufsgruppe neue Ergebnisse, Gedanken und Entdeckungen mitzuteilen […]. Es handelte sich nicht um eine geistige Fachschaft, [...] zu denen als aktiv Mitwirkender nur der autorisierte Kollege Zutritt genießt. Sondern es galt [...] ein im Werden begriffenes Gebiet, eine neue Interessensphäre, eine alle Kreise durchziehende geistige Bewegung zu sammeln, zu festigen, zu fördern. [...]. Wer vielmehr zum Farbe-Ton-Problem irgendwie Belangvolles zu sagen hatte, sei es im wissenschaftlichen Sinne, als Künstler oder als Laie und ‚Dilletant‘, der wurde gerufen, oder er kam ungerufen zu Worte.“ Anschütz (1931a), S. III. 83 Vgl. Anschütz (1936), S. 211-213.
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sein.84 So war der zweite Kongress vom 1. bis zum 5. Oktober 1930 im Ganzen weitaus programmatischer und selbstbewusster konzipiert und stellte künstlerische und kulturelle Fragestellungen deutlicher in den Vordergrund.85 Besonders die Umgestaltung des Theaters zu einer auf dem Synästhetischen basierenden Kunst der Zukunft wurde in mehreren Vorträgen ausführlich diskutiert, wobei es einerseits um technische Fragen der Kopplung von Bild und Klang und deren Umsetzung in der Bühnenarchitektur und andererseits um den gemeinschaftsbildenden Aspekt des Theaters ging, die im Rahmen der Schaffung einer neuen synästhetisch-synthetischen Kultur zusammengedacht werden müssen.86 War auch beim dritten Kongress vom 2. bis zum 7. Oktober 1933 unter dem Motto Tonfilm, Neue Bühne, Neue Musik das Theater Gegenstand der Diskussionen, so erhielt v.a. der Tanz, im Speziellen der deutsche Ausdruckstanz, breiteren Raum.87 Im Mittelpunkt dieses dritten Kongresses stand jedoch das junge Medium Film, wobei nicht mehr nur abstrakte filmische Experimente sondern auch der kommerziell ausgerichtete Unterhaltungsfilm als Filmkunst fokussiert wurden.88 Ein Großteil der Elite der deutschen Filmschaffenden besuchte den Kongress und im Begleitprogramm wurden als innovativ geltende Filme, wie der erste deutsche abendfüllende Tonfilm Melodie der Welt von Walter Ruttmann aus dem Jahr 1929 oder Die verkaufte Braut von 1932 in der Re84 So bewertete es zumindest der Tanzkritiker Fritz Böhme: „Der Verlauf der Diskussion auf dem ersten Farbe-Ton-Kongress in Hamburg zeigte, dass die Ansichten über die Möglichkeit einer Vereinigung oder Verbindung von Ton und Farbe noch sehr auseinandergehen und klare theoretische Grundlagen noch nicht vorhanden sind.“ Böhme, Fritz (1927). 85 Vgl. Anschütz (1931a). 86 Der Bühnenbildner Hans Wildermann z.B. übertrug in seinem Vortrag Goethes Farbenlehre auf die Bühne. Der Tanzkritiker Fritz Böhme forderte ein neues synthetisches Bühnenwerk als Einheit von Licht, Klang und Tanz. Albert Talhoff hielt einen Vortrag über Das dramatisch-agierende Licht. Der u.a. mit Piscator an der Volksbühne arbeitende Bühnenbildner Torsten Hecht sprach über Licht- und Formprobleme des modernen Bühnenbildes und die Auswirkungen der neuen Lichttechnik auf die Bühne. Vgl. ebd. 87 So referierten u.a. Albert Talhoff und Fritz Böhme oder der Gymnastiklehrer Hans Huber, der ab 1930 gemeinsam mit Grethl Curth eine Wigman-Schule in Hamburg betrieb. Vgl. Anschütz (1936). 88 So wurden neben Werken der abstrakten Filmkunst von Oskar Fischinger Beispiele aus Ton-, Spiel- und Unterhaltungsfilmen wie Schanghai Express (1932, Regie: Josef von Sternberg) mit Marlene Dietrich oder Liebelei (1933, Regie: Max Ophüls) mit Magda Schneider, Gustav Gründgens und Paul Hörbiger gezeigt. Leni Riefenstahl, ursprünglich vom Ausdruckstanz kommend, sprach über ihre erste Regiearbeit Das blaue Licht (1932). Lotte Reiniger, die auch mit Ruttmann zusammengearbeitet hatte, erläuterte ihre Scherenschnittfilme. Vgl. ebd.
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gie von Max Ophüls mit Karl Valentin und Liesl Karlstadt, gezeigt. Wurden die Grenzen zwischen Kunst und Populärkultur fließend, indem z.B. auch die Filmindustrie mit Vertretern der Kodak und Agfa AG anwesend war und neue Farbenfilme vorführte, so realisierte sich darin die eigentliche Praxis des Synästhetischen als Element einer neuen, medial geprägten Wahrnehmungskultur. Frühe künstlerisch-synästhetische Experimente, und auch die Farbe-Ton-Forschung selbst, werden aus dieser Perspektive als Vorstufe einer medialen Wahrnehmungspraxis sichtbar, die sich mit Ton- und Farbfilm im kulturellen Diskurs massenwirksam etablierte. War die Ausrichtung des dritten Kongresses auf den Film motiviert durch seine Möglichkeit, Akustisches und Visuelles in einem Trägermedium zu vereinen, so manifestierten sich darin zum anderen politische Interessen, die mit der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 auch die bisher eher unpolitische Farbe-TonForschung erreichten. Lag für die nationalsozialistische Führung im Film das größte Potenzial einer wirksamen Propaganda, so verkörperte das Synästhetische effektive, sinnlich-körperlich basierte Strategien zur Steigerung der emotionalen Wirkung im Stile Wagners.89 In diesem Sinne wurde auf dem Kongress auch der Film Morgenrot des Regisseurs Gustav Ucicky von 1932/33 präsentiert, der als einer der ersten Propagandafilme des NS-Regimes gilt. Waren in diesem Rahmen v.a. Verstärkungseffekte zwischen Bild und Musik für die emotionale Involviertheit wesentlich, so kam bei dem Kongress der für die Musik von Morgenrot verantwortliche Komponist Herbert Windt zu Wort, in dessen Person sich der Zusammenhang zwischen Propaganda und der Bild-Ton-Parallele verdichtete.90 Die Musik wiederum beschäftigte den Kongress v.a. in Bezug auf eine durch neue technische Erfindungen ermöglichte elektro-akustische Musik, die mit dem Medium des Films kompatibel war und dort spezifische Effekte hervorrufen konnte. So führte Paul Dörken die elektro-akustische Klangharfe vor und der Ingenieur Friedrich Trautwein präsen89 Zwei Beiträge auf diesem Kongress widmeten sich der Freilichtbühne, was vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Thingspiele, die etwa von 1930 bis 1935 als Propagandainstrument der Nationalsozialisten in Erwägung gezogen wurden, sinnfällig erscheint. 90 Windt stellte das Hörspiel Sinfonie der Arbeit von Hans-Jürgen Nierentz vor, bei dem er ebenfalls für die Musik verantwortlich zeichnete. In diesem Hörspiel vermengte sich eine expressionistisch geprägte Dichtung mit der futuristischen Maschinen- und Stadtästhetik, antikapitalistischer Arbeitspathos mit totalitärer Auflösung des Individuums in der Gemeinschaft der (Arbeits-)Soldaten. Windt, einer der prominentesten Filmkomponisten des Dritten Reichs, komponierte u.a. die Musik zu Leni Riefenstahls Parteitagsfilmen Der Sieg des Glaubens (1933) und Triumph des Willens (1935) und war an ihren Olympiafilmen Fest der Völker und Fest der Schönheit (1938) beteiligt. Darüber hinaus lieferte er die musikalische Untermalung mehrerer propagandistischer Beiträge der Wochenschau.
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tierte mit dem Musiker Oskar Sala das von ihnen entwickelte Trautonium, eines der ersten elektronischen Instrumente, das als Vorläufer des heutigen Synthesizers gilt.91 Weitete sich die Farbe-Ton-Forschung auf der einen Seite zu einer Spielwiese neuer Medien- und Unterhaltungstechniken aus, so wurde sie auf der anderen Seite zunehmend ideologisch instrumentalisiert. Synästhetische Praktiken fanden Eingang in Mechanismen der Gemeinschaftsbildung, die im Rekurs auf körperlichsinnliche, affektive Erfahrungen Massen in Bewegung und einheitliche Schwingungen versetzte. Fügte sich die Utopie einer auf vermeintlich natürlichen, archaischen Mechanismen basierenden Herstellung von Gemeinschaft in den 1920er Jahren in politische Ideologien rechter als auch linker Prägung, so wurde sie insbesondere in der nationalsozialistischen Propagandamaschine gesellschaftlich wirksam. In der Fundierung der nationalsozialistischen Denkart auf der Vorstellung einer Remythisierung des Menschen und der Gemeinschaft auf der Grundlage der Rasse und des Blutes,92 ließ sich das Synästhetische als zugleich physiologisch fundierter, wirkungsvoller Effekt einer Überwältigung der Sinne in ausgefeilte Lichtchoreografien mit Musik bei Massenkundgebungen für die Erzeugung von Gemeinschaftserlebnissen integrieren. Lediglich der intellektuelle Anspruch und der modern-artifizielle Überbau der Farbe-Ton-Forschung mussten entfernt werden. So spielten das Phänomen des Farbenhörens und Fragen nach seinen physiologisch-psychologischen Ursachen bereits auf dem dritten Kongress nur am Rande eine Rolle. Ein letzter Farbe-Ton-Kongress fand 1936 statt, der, unter nationalsozialistischem Einfluss stehend, das Ende der Farbe-Ton-Forschung einläutete. Inhaltlich war dieser Kongress mit Themen wie Film als Kunst, Unterrichts- und Forschungsfilm, Grenzfragen des Tonfilms, Bild- und Klangfolge im Tonfilm, farbiger Tonfilm oder plastischer Film vollends auf das neue Wissens- und Unterhaltungsmedium ausgerichtet und manifestierte zum einen die Affinität des Synästhetischen zu medialen Prakti91 Erstmals wurde das Trautonium, mit dem man nicht nur herkömmliche Musikinstrumente nachahmen, sondern Vokale, Tierstimmen und synthetische Klänge erzeugen konnte, 1930 auf dem Berliner Fest Neue Musik vorgeführt. Die ersten Kompositionen für Trautonium schrieb 1930 Paul Hindemith. Oskar Sala, ein Schüler Hindemiths, wurde der bedeutendste Interpret des Trautoniums. Berühmt geworden sind die Klänge, die Sala seinem Trautonium für die Filmmusik zu Alfred Hitchcocks Die Vögel (USA, 1963) entlockte. Diese Anfänge der elektronischen Musik beeinflussten nicht nur die Filmgeschichte – George Lucas nutzte z.B. den Klang des Trautoniums für seinen Filmes Star Wars: Episode III - Die Rache der Sith von 2005 – sondern lassen sich bis in den populären Elektropop der 1970er und 1980er Jahre nachverfolgen. 92 So formulierte Hitler in Mein Kampf, dass „das Volkstum, besser die Rasse, eben nicht in der Sprache liegt, sondern im Blute“. Hitler (1925/27), S. 428. Deutschtum musste sich so im Körper, in seinen Bewegungen, in seinem Tanz widerspiegeln, die damit zur Aufgabe der Politik und der Propaganda wurden.
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ken und zum anderen die Instrumentalisierung des Films als Propagandamittel des NS-Staates. Anschütz selbst wurde 1933 Mitglied der NSDAP und nahm, ähnlich wie Fritz Böhme, eine z.T. fragwürdige Position im Nationalsozialismus ein.93 Spielte beim Ende der Farbe-Ton-Forschung die politisch-gesellschaftliche Entwicklung eine Rolle, so scheiterte eine Erklärung der Synästhesien, die trotz Anschütz’ Bemühungen subjektiv und nur vage strukturierbar blieben, auch an dem Mangel an eindeutigen Ergebnissen. Andererseits ließe sich argumentieren, dass sich das Synästhetische in den 1930er Jahren soweit als Wahrnehmungsmuster und -praxis installiert hatte, dass es einer Erklärung nicht mehr bedurfte und das Interesse und die Diskussion durch den Verweis auf einen in der menschlichen Natur verankerten Wahrnehmungsmechanismus beendet wurde. Waren Anschütz und die Farbe-Ton-Forschung auf Grund ihrer Nähe zum NSRegime zunächst in Vergessenheit geraten, so wird ihnen seit den 1990er Jahren wieder größere Aufmerksamkeit zuteil. Vor allem die kulturhistorischen und künstlerischen Dimensionen des Synästhetischen, die die Farbe-Ton-Forschung mit einer Fülle an Material ausgestaltete, werden im Rahmen einer Begriffserweiterung zu Referenzen aktueller Auseinandersetzungen mit dem Synästhetischen.94 Problematisch ist jedoch, dass dabei der konstruktive Charakter der Farbe-Ton-Forschung unterschlagen wird, der sich in der Verwandtschaft des Synästhetischen mit dem Synthetischen zeigte. Eine von der Farbe-Ton-Forschung, v.a. in der Person des Musikwissenschaftlers Albert Wellek, erst in den 1920er Jahren hergestellte Kulturgeschichte der Synästhesie, die das Phänomen in die Urzeiten der Menschheit projiziert, wurde auf diese Weise in den Synästhesiediskurs implementiert. 93 War Böhme während des NS-Regimes als Nachfolger des emigrierten Rudolf von Laban Leiter der Meisterwerkstätten für Tanz, so übernahm Anschütz in der Nachfolge des jüdischen Psychologen William Stern 1933 die Leitung des Psychologischen Institutes der Hamburger Universität. Von 1939 bis 1945 war er Dozentenbundführer der Universität und Gaudozentenbundführer von Hamburg und wurde 1944 mit dem Kriegsverdienstkreuz I. Klasse ausgezeichnet. In einem Brief an Walter Behm vom 13.9.1946 relativierte er jedoch seine offizielle Rolle im Nationalsozialismus: „Jahrelang stand ich mit einem Fuß im KZ. Die Bedrohungen rissen nicht ab, und nur ein gütiges Schicksal hat mich davor bewahrt, früher als nach der Besatzung hinter Stacheldraht zu wandern. [...] Ich habe bis jetzt ca. 30 eidesstaatliche Erklärungen von Leuten, die es selbst erlebt haben, [...] welchen Gefahren ich mich aussetzte. [...] Obwohl ich selbst lange Zeit [...] auch an das Positive im Vergangenen glaubte, habe ich niemals gezögert, gegen Schäden, Mängel und Fehler rücksichtslos Front zu machen.“ Anschütz (1946). Nach Ende des Zweiten Weltkrieges erhielt Anschütz nach einigen Anhörungen 1949 den Persilschein Gruppe V, wurde aber aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Seine Versuche, die Farbe-TonForschung wieder aufzubauen, scheiterten. 94 Vgl. Jewanski (2002a), S. 246.
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III.2 U RSPRUNGSMYTHEN : D IE E RFINDUNG EINER G ESCHICHTE Definierte die Farbe-Ton-Forschung das Synästhetische als grundsätzlichen Wesenszug menschlichen Wahrnehmens und Denkens, so stellte sich zugleich die Aufgabe, dessen Existenz in der Kulturgeschichte nachzuweisen. Im Ergebnis entstand eine Geschichte der Synästhesie, die völlig neue Beziehungen herstellte, sie in phylogenetische Zusammenhänge verwickelte und zu einem entscheidenden Motor der kulturellen Entwicklung stilisierte. Federführend arbeitete Albert Wellek als Mitstreiter von Georg Anschütz an der kulturhistorischen Einbettung und Tradierung des Synästhetischen und legte damit Anknüpfungspunkte für dessen dezidiert geisteswissenschaftliche Deutung.95 In der Abkopplung physiologisch-neurologischer Elemente eröffneten sich insbesondere Zusammenhänge mit Fragen der Ästhetik und Kunsttheorie. Im Verständnis der Synästhesien als „versteckte Kulturquelle“96 verfolgte Wellek deren Spuren bis in die Anfänge der Kultur und bescheinigte ihnen den Status eines archaischen, gesamtheitlichen Empfindens. Die Basis seiner Argumentation bildeten linguistische Evidenzen und die Fähigkeit aller Menschen, Analogien zwischen den Sinnesempfindungen herzustellen.97 War Welleks wie Anschütz’ Anliegen die Suche nach den Gemeinsamkeiten der Synästhesien im Sinne von Entsprechungen zwischen den Sinnen, so ging er nicht von ausgeprägten Sonder- und Einzelfällen aus, die er in Anlehnung an pathologische Deutungen für suspekt und der Zwangsvorstellung oder der idée fixe98 verwandt hielt.99 Vielmehr verstand Wellek das Synästhetische als ein „funktionell verknüpftes Ein- oder Auftreten zweier [...] heterogener Sinnesqualitäten, einerlei, ob diese nun beide SinnesEmpfindungen und -Wahrnehmungen, oder ob eine von beiden oder sogar beide bloße Vorstellungen sind; kurz: jeden psychologischen Vorgang, in dem verschie-
95 Albert Wellek, Bruder des Literaturwissenschaftlers René Wellek, studierte Musikwissenschaft in Wien und Prag und promovierte 1928 bei Robert Lach in Wien über Doppelempfindung und Programmusik. Vgl. Rösch (2007). 96 Wellek (1931a), S. 325. 97 Vgl. Rösch (2007), S. 27. 98 Wellek (1931a), S. 357. 99 „Die Aussagen des zwangsmäßigen, neurotischen Doppelempfinders zu Richtern über die etwaigen objektiven Sinnenentsprechungen zu machen, ist im Grunde ebenso gut, als wollte man nach der Abstimmung in einem Narrenhaus über den naturwissenschaftlichen Wert und Unwert von Geistererscheinungen Urteile fällen; - womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß alle [...] Doppelempfinder allgemein Narren oder selbst nur in irgendeiner anderen Hinsicht unzurechnungsfähig sind, als gerade nur, unter Umständen, in der Richtung der Sinnenentsprechung, [...].“ Ebd., S. 357.
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dene Sinnesräume [...] miteinander verbunden und in Parallele gesetzt sind“100. Dergestalt umfasste seine Konzeption des Synästhetischen jegliche Assoziation zwischen Sinnesbereichen, die er als menschliches Allgemeingut und eigentliche Form des Synästhetischen deklarierte: „Je weniger die Synästhesien den Charakter des Zwangsmäßigen tragen, [...], desto mehr erhebt sich ihr subjektiver, biologischer Wert in den Bereich der objektiven, der ästhetischen und Erkenntniswerte.“101 Die bewusst reflektierte Analogiebildung besäße nicht nur den größten objektiven Wert, indem sie den Intellekt beteilige und allgemein verständlich sei, sondern läge letztlich allen Formen menschlicher Kultur zu Grunde. Diese These versuchte Wellek durch die Analyse synästhetischer Ausdrucksformen in der Geistesgeschichte zu beweisen und konstruierte damit eine kulturhistorische Traditionslinie. Galt allgemein die Romantik als Ursprung der Synästhesie, so argumentierte Wellek, dass sie diese lediglich wiederentdeckt habe.102 Als genereller Modus des Wahrnehmens und Denkens, so Wellek, „zeigen synästhetische Denk-, Fühl- und Vorstellungs[...] Tendenzen in der Geistesgeschichte ungeahnte räumliche und zeitliche Ausbreitung“103. So beschrieb er etwa die Bibel, Homer, die babylonische und ägyptische Urzeit und auch Aristoteles als „Wiegestätten dieser großen Seelenbewegung in der menschlichen Kultur“104. Stellte Wellek auf diese Weise völlig neue Bezüge des Synästhetischen zur Kulturgeschichte her, so wurde insbesondere dessen Verknüpfung zur aristotelischen Lehre vom sensus communis im Synästhesiediskurs folgenreich. Denn obwohl erst Ergebnis der Wellek’schen Synästhesieinterpretation in den 1920er Jahren, wurde Aristoteles als historischer Beleg für das Wahrnehmungsphänomen in eine Geschichte der Synästhesie und Synästhesieforschung integriert, die bis heute unhinterfragt aufgegriffen wird. Stellte sich Aristoteles in De Anima die Frage, wie es möglich sei, Daten aus verschiedenen Sinnesbereichen zu vergleichen und zu unterscheiden, so entwickelte er die Idee des sensus communis als Gemeinsamkeit aller Sinne in Form von Daten, die durch alle Sinne gegeben werden, und stellte damit die Möglichkeit ihrer Verknüpfung her.105 100 Ebd., S. 326. [Herv. i.O.] 101 Wellek zit. nach Rösch (2007), S. 19. 102 „Die bisherige [...] Geschichtsforschung sieht durchweg in dem Gebrauch synästhetischer Tropen [...] eine Errungenschaft und Domäne der Romantik und nimmt an, daß sie von dem Castelschen Farbenklavier und dieses von Newton (1704) angeregt sei. An sich wäre dies natürlich nicht falsch, mit der erweiternden Einschränkung, daß die Synästhesien aufs neue eine Errungenschaft und wieder eine Domäne der Romantik sind.“ Wellek (1927a), S. 579. 103 Wellek (1927a), S. 579. 104 Ebd., S. 582. 105 Die Wahrnehmung erfasse zuerst eine Art Ganzheit, eine unbestimmte Abstraktheit, die erst der Verstand in seine Einzelteile zerlege. Aristoteles erweiterte u.a. die Grundfar-
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Dabei verstand die aristotelische Lehre den Menschen als Organismus, der zwar mit der Außenwelt agiere, dessen Innenleben sich jedoch kategorial von der Umgebung abgrenze, was sich perfekt in die Paradigmen der jungen Psychologie der 1920er Jahre fügte.106 Wellek setzte kurzerhand den aristotelischen Gemeinsinn mit seiner Auffassung der Synästhesien gleich. Insofern war überhaupt erst nach Ausformulierung einer anthropologisch-psychologischen Lesart des Synästhetischen, wie Wellek sie vorlegte, der Bezug zu Aristoteles möglich. In der Deutung Welleks wurde das Synästhetische eine allgemeine Erscheinung der Menschheitsentwicklung und ein sowohl in phylogenetischer als auch in ontogenetischer Perspektive wirksames kulturbildendes Element.107 Seine Recherchen führten zu dem Ergebnis, „daß die als Farbenhören und Tönesehen“ bezeichneten „und oft untersuchten Verbindungen von Licht und Klang [...] zeitlich fast bis unmittelbar auf Adam zurückgehen [...] und sich besonders im chinesischen, indischen und griechischen Altertum einer beträchtlichen Ausbreitung erfreuten; und daß sie in sämtlichen Künsten und ‚Überkünsten‘, in der Mythologie, Religion und Mystik und in der Wissenschaft der Astronomie, Kristallographie, Geometrie, Anatomie, Optik, Philologie, Poetik, Ästhetik und dergleichen, übrigens in allen Geheimlehren und ‚okkulten Wissenschaften‘, ferner selbst in der Stenographie eine Rolle spielen oder mindestens gewisse gestaltgebende Niederschläge auslösen“108. Als Erkenntnisquelle ganz eigener Art, die im menschlichen Denken verborgen liege, versprach das Doppelempfinden auf diese Weise Aufschluss über wesentliche kulturgeschichtliche Entwicklungen bereitzustellen. So sei, nach Wellek, ihre systembildende Funktion z.B. in der Entwicklung der Schrift und der abendländischen Notenschrift zum Tragen gekommen, die er als Resultat einer Umwertung von akustischen in optische Dimensionen verstand.109 Vor allem aber lag die kulturbildende Kraft des Synästhe-
ben analog der Musiktheorie zu einer siebenteiligen Skala und ordnete sie erstmalig, auf der Wahrnehmung basierend, nach Helligkeit oder nach Geschmacksqualitäten. Vgl. Jewanski (2006a), S. 135ff., Schott (2002), S. 95, Böhme, Gernot (2002), S. 49, Lühe (2002), S. 186f, Schmitt (2002), S. 115f. 106 Vgl. Schott (2002), S. 95. 107 „Die bekannte Tatsache nämlich, daß Kinder an Synästhesie reicher sind als Erwachsene, wie auch entsprechende Beobachtungen an Geistesgestörten und Wilden, legen den Schluß auf ein sehr ehrwürdiges Alter der Erscheinung nahe. Tatsächlich ist es mir geglückt, sie bis in das 2. und 3. vorchristliche Jahrtausend zurückzuverfolgen, teils sprachgeschichtlich, etymologisch, teils kunst- und philosophiegeschichtlich, mythologisch.“ Wellek (1927a), S. 581. 108 Wellek (1927b), S. 485. 109 Dabei wurde zum einen der physiologische Bewegungsvorgang des Kehlkopfes auf die Hand beim Schreiben übertragen. Bei der Notenschrift basiere die Übertragung auf ei-
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tischen für Wellek in der Entstehung der Sprache, die auf einer Klangnaturalistik basiere, indem die Wortlaute den Inhalt nachahmten.110 Darauf aufbauend begründete Wellek ein philologisches Forschungsgebiet, das er 1930 auf dem zweiten Farbe-Ton-Kongress in seinem Vortrag Das Laut-Sinn-Problem unter dem Gesichtspunkt der Farbe-Ton-Forschung und die Synästhesien der Sprache darstellte.111 Darin fundierte er die Sprachentstehung in der Bewegung und der Gebärdensprache, auf die die Lautgebärde als ebenfalls motorischer Vorgang nach synästhetischen Prinzipien folge und sich als Wort vom Gegenstand ablöse.112 Diesen Gedanken stützte Wellek v.a. auf Herder und dessen Abhandlung über den Ursprung der Sprache, die er als „synästhetische Sprachtheorie“113 betrachtete. In die Überzeugung Herders, Sprache könne durch die Gemeinsamkeit des Klanges das Tönende der Natur aufnehmen und symbolisieren, interpretierte Wellek dessen Kenntnis des Phänomens und hatte entscheidenden Anteil an einer bis heute andauernden Vereinnahmung Herders im Rahmen einer Geschichte der Synästhesie.114 Sprache wurde dergestalt zum Aufbewahrungsort sinnlicher Erfahrungen, die synästhetisch ins Akustische transformiert wurden. Für die Bildung abstrakter Begriffe, die nicht auf klangliche Nachahmung eines Gegenstandes zurückzuführen waren, nahm Wellek eine mittelbare, synästhetische Transfiguration im Sinne einer Projektion aus einem Sinnenraum in den anderen an, womit er das Feld einer Lauthermeneutik betrat.115 Dabei ging er von gesetzmäßigen Übertragungen aus, die für alle
ner Raumsynästhesie in dem Sinne, dass Hoch und Tief im Raum der Höhe und Tiefe eines Tones entsprächen. Vgl. Wellek (1931b), S. 144ff. 110 So seien z.B. Worte für einen kleinen Gegenstand mit dem höchsten Vokal ausgestattet, wie z.B. Kind. Vgl. Rösch (2007), S. 26. 111 Vgl. Wellek (1931c), S. 240. 112 Vgl. ebd. 113 Ebd., S. 241. 114 „Sowohl die Allgemeingültigkeit der Synästhesien als auch ihr Assoziationscharakter und sogar ihr Einfluß auf die Instinkthandlungen des Menschen [...], steht also für Herder fest: [...].“ Wellek (1931c), S. 242. Dabei berief er sich auf folgende Stelle bei Herder, die seit dem immer wieder zitiert wird: „Allen Sinnen liegt Gefühl zugrunde, und dies gibt den verschiedenartigsten Sensationen schon ein inniges starkes, unaussprechliches Band, daß aus dieser Verbindung die sonderbarsten Erscheinungen entstehen. Mir ist mehr als ein Beispiel bekannt, da Personen [...], vielleicht aus einem Eindruck der Kindheit, nicht anders konnten, als unmittelbar durch eine schnelle Anwandlung mit diesem Schall jene Farbe, mit dieser Erscheinung jenes ganz verschiedene Gefühl verbinden, was durch die Vergleichung der langsamen Vernunft mit ihr gar keine Verwandtschaft hat; [...].“ Herder zit. nach Wellek (1931c), S. 242f. 115 Vgl ebd., S. 244.
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Sprachen gültig seien, und versuchte, diese ausfindig zu machen.116 Sei z.B. der Charakter von dunklen und hellen Vokalen in allen Sprachen nachweisbar, so leitete er daraus eine „universelle Sinnensymbolik des Sprachlauts und [...] des Wortbilds“117 ab. Auf diese Weise verankerte Wellek Sprache im Synästhetischen als Fähigkeit zur analogen Übertragung zwischen sinnlichen Elementen, die auf einer ursprünglichen Undifferenziertheit der Wahrnehmung fuße.118 Das Synästhetische erhielt den Charakter eines ,Urzustandes‘ in Form einer Ungeschiedenheit der Sinne, aus dem heraus sich die Sprachbildung vollziehe.119 Ließen sich demnach sprachliche Synästhesien auf eine ursprünglich gesamtsinnliche Wahrnehmung zurückführen, so war das Synästhetische zugleich wesentlicher Motor der Sprachentwicklung, in dem mit zunehmender Differenzierung der Wahrnehmung und des sprachlichen Ausdrucks Bezeichnungen für Inhalte der einzelnen Sinne mittels Gefühlsanalogien auf die übrigen Sinne übertragen wurden.120 Die dabei wirkenden Gesetzmäßigkeiten fasste Wellek in sogenannten „Ursynästhesien“ zusammen, die in allen Sprachen zu finden seien.121 Diese insgesamt sechs Ursynästhesien, die Wellek aus mythologischen und kosmologischen Zuordnungen der Sinnesbereiche alter Kulturen extrahierte, bildeten ihm zufolge die ältesten und nach wie vor für al-
116 „Die [...] Umsetzung aus dem Nichtklanglichen ins Klangliche erfolgt nun in allen Sprachen natürlich, d.h. nach zwingenden sinnvollen Gesetzmäßigkeiten, [...].“ Ebd., S. 245. So erläuterte er z.B. das Vorkommen des Lautes „i“ in Wörtern aus verschiedenen Sinnessphären, wie trillern, schrillen, schillern, blinken, flimmern, schwirren, flirren usw., und fand als Gemeinsamkeit eine Beziehung dieser Wörter mit Licht, Helligkeit und Glanz. Daraus schloss er dann: „In unserem [...] Schriftdeutsch hat das kurze i etwa folgende lauthermeneutische Attribute: scharf, spitz, dünn, geschwind, flink, schlank, hoch, klar, frisch, grell, glänzend, hell, licht, warm, [...], durchaus positive Eigenschaften.“ Ebd., S. 246. 117 Ebd., S. 247. 118 „Etymologische Tatsachen stützen aber auch die Erfahrung, daß eine Einheit der Sinne zunächst gegeben war, dergestalt, daß sie auf früher Stufe sprachlich nicht streng geschieden werden.“ Ebd., S. 251. 119 „Im ‚Urzustand’ fußt die Synästhesie auf einer Undifferenziertheit der Wahrnehmung, derzufolge dann auch die Benennungen für Licht und Schall (usw.) und für deren Besonderungen gemeinsam oder wurzelverwandt sind.“ Ebd., S. 248. 120 So seien z.B. Wörter wie ,knallrot‘ oder ,hell‘, das etymologisch von ,hallen‘ kommt, ursprünglich akustischen Ursprungs. Vgl. ebd., S. 248. 121 „In alledem drücken sich ‚ursynästhetische’ Beziehungen aus, gemeinverständliche Entsprechungen, wie sie einander im Laufe der Menschheitsentwicklung ablösen, mehr oder minder aber noch immer, kraft ihrer gefühlsmäßigen Begründung, gültig und einleuchtend sind.“ Ebd., S. 249.
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le Kulturen gültigen intermodalen Verbindungen.122 Gegen feste Zuordnungen von Farben und Tönen, wie Anschütz sie nachzuweisen suchte, konzipierte Wellek ein polares und komplementäres System der Sinnesentsprechungen, die nicht nur auf die Farbe-Ton-Parallele, sondern auf Übertragungen zwischen allen Sinnen anwendbar waren. So sind die Ursynästhesien v.a. als semantische Operationen zu verstehen, die Bedeutung transportieren und auf diese Weise die Sprachentwicklung beförderten, welche wiederum die Differenzierung der Sinne antrieb und die Grundlage der kulturellen Evolution bildete.123 In Analogie zur Sprachentwicklung extrahierte Wellek daraus wiederum verschiedene Abstufungen des Synästhetischen in phylo und ontogenetischer Perspektive, die von einer undifferenzierten, subjektiven Form echten Doppelempfindens bis hin zu differenzierten, objektiveren und synthetischeren Formen reiche: „Die Undifferenziertheit der Sinnlichkeit, [...], wird mit dem Laufe der Sprachentwicklung überwunden; wie ja auch das Doppelempfinden nur beim primitiven Menschen eine solche Undifferenziertheit, auf höherer Stufe aber eine Synthese der deutlich voneinander abgehobenen Sinne auf Grund ihrer objektiven und Gefühlsgemeinsamkeiten bedeutet.“124
Zielte Welleks Instrumentalisierung des Synästhetischen nicht auf eine Wiederbelebung oder Verherrlichung gesamtsinnlicher, ursprünglicher Wahrnehmungserfahrungen, die er ganz im Sinne atavistischer Theorien betrachtete, so ging es ihm vielmehr um die Analyse synästhetischer Vergleiche in der Menschheitsgeschichte, aus denen er sich Rückschlüsse auf die spezifische Qualität der Sinneswahrnehmung einer Person oder eines Zeitalters versprach.125 Insbesondere wirkten und manifestierten sich die synästhetischen Sinnesentsprechungen, Wellek zufolge, im Bereich der Kunst, die bei Wellek die eigentliche Domäne des Synästhetischen darstellte:
122 Die sechs Ursynästhesien sind: 1. Die Pole scharf und schwer entsprechen den Kategorien hoch und tief beim Ton, 2. die Analogie von schnell und langsam mit hoch und tief, 3. die Gleichsetzung von auf und ab mit hoch und tief, 4. die Parallele von hell und dunkel mit hoch und tief, 5. die Entsprechung von grell (leuchtend) und blass (grau) mit stark und schwach beim Ton, 6. die Analogie der Pole vielfarbig und einfarbig mit klangvoll und eintönig. Vgl. ebd., S. 249f. 123 „Aus alledem geht hervor, daß gerade das typische ‚Doppelempfinden’ nicht bloß subjektive Angelegenheit bevorzugter [...] Einzelner zu sein braucht, sondern sehr wohl auch kulturelles Gemeingut genannt werden kann.“ Wellek (1927a), S. 581. 124 Wellek (1931c), S. 252. 125 So sei die Synästhesie z.B. in der Renaissance Ausdruck dessen, dass Mensch und Natur dem Göttlichen zugehören, im Barock dagegen Ausdruck der Wechselwirkung zwischen Mikro- und Makrokosmos. Vgl. Wellek (1931a), S. 326f.
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„Nicht allein setzen sämtliche Überkünste, vom bloßen Tanzen und Dirigieren bis zum Gesamtkunstwerk und den Farblichtmusiken, einen synästhetischen Prozeß voraus: auch in allen Einzelkünsten, in der Mehrzahl der empirischen Wissenschaften, in Philosophie, Religion, Mystik, Mythologie usw. finden sich synästhetische Niederschläge im Gegenstand oder in der Form; [...].“126
Als Akt der Symbolbildung realisiere sich der „synästhetische Prozess“ bevorzugt in den „Überkünsten“, d.h. in Kunstformen und Kunstsynthesen, die mit Projektionen von einem Sinnesraum in einen anderen arbeiten und ohne synästhetische Prinzipien nicht denkbar seien, wie Tanz, Oper, Musikdrama, Pantomime, Ballett oder auch die Farblichtmusik.127 Weit davon entfernt, diese Kunstformen auf kultischmythische Ursprungsszenarien zurückzuführen, war es vielmehr Welleks Anliegen, die Wirkungsmechanismen des Synästhetischen im Künstlerischen in Gestalt einer Kunsttheorie nachzuweisen. Daraus resultierte ein Zusammengehen der Frage nach einer Verbindung und Verknüpfung der Künste mit dem Synästhetischen, wie z.B. im Gesamtkunstwerk, die Wellek durch Aufsätze wie Synästhesie und Synthese bei Richard Wagner von 1929 entscheidend forcierte.128 Darin formulierte er „alles Synästhetische“ als „Symptom der Übereinstimmung oder Entsprechung der Künste und ihrer sinnlichen Elemente“129, wobei alle Einzelkünste als Akt der Symbolbildung und Transformation zwischen den Sinnen bereits schon synästhetisch seien. Das Drama, in Anlehnung an Nietzsche aus der Musik entspringend, sei demzufol126 Wellek (1927a), S. 580f. 127 „Oder man nehme eine synästhetische (d.h. doppelt empfundene) Kunstform, wie etwa den Tanz: Läßt man bei ihrer Ausführung eines von ihren Gliedern fallen [...], so wird ganz von selbst die [...] zweite Empfindungsweise durch die bloße Vorstellung [...] ergänzt. Hört also jemand, [...] z.B. ein Menuett, [...] so stellt sich bei ihm die Vorstellung der dazugehörigen Tanzgebärde [... ] ganz unwillkürlich und selbsttätig ein. Ähnlich fühlt beim bloßen Erklingen beliebiger Tanzmusik der [...] Tanzkünstler: er verbindet den auditiven Eindruck mit motorischen, plastisch-visuellen Vorstellungen [...].“ Ebd., S. 581. 128 „Nach alledem müssen die Sinnesentsprechungen [...] für die Schaffung, Ästhetik und Kritik der Kunstsynthesen von grosser Bedeutung sein. So im Gesamtkunstwerk als Kriterium der Rollenverteilung der einzelnen Künste [...] in dem Sinne [...], dass jede von ihnen auf das Gebiet verwiesen werde, in dem ihre Ausdruckseignung die der Schwesterkünste überwiegt. Hier also wird das Doppelempfinden zum Scheidewasser der Künste: denn nicht darauf kommt es an, wie sich ein und dasselbe durch verschiedene Kunstmittel ausdrücken lasse, vielmehr gerade darauf, wie eine solche [...] Selbstwiederholung zu vermeiden, – das Komplementärverhältnis der Teilkünste zueinander zu wahren sei.“ Wellek zit. nach Rösch (2007), S. 20. 129 Wellek (1929a), S. 84.
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ge eine Übersetzung vom Auditiven ins Visuelle unter Beteiligung mehrerer Künste und somit synästhetisch entstandene Kunstform, wobei die Musik im Endergebnis gewöhnlich verschwinde.130 Anders sei der Fall jedoch bei Wagner, der „alle drei Baustoffe: Mimik (Szene) – Musik – Poesie, nebeneinander oder vielmehr ineinanderwachsend bestehen wissen wollte“131. Wirke jede einzelne dieser Kunstformen bereits synästhetisch, so lag für Wellek das Spezifische des Gesamtkunstwerkes darin, dass die Künste getrennt blieben, damit es nicht zu Dopplungen komme.132 „Gerade der Separatismus ist der Weg zur Synthese“133, so Welleks Argumentation. Eine Synthese der Künste setzte Wellek damit dem Prinzip des Synästhetischen entgegen, indem es nicht dasselbe mit verschiedenen Kunstmitteln ausdrücke, sondern das komplementäre Zusammenwirken der Künste bewahre, womit Wagner über die Romantik hinausgegangen sei.134 Stand diese Interpretation im Gegensatz zu der Meinung von Nietzsche, Appia oder Kandinsky, die in Wagners Umsetzung nur eine Addition und Verdopplung der Wirkung der Künste sahen, so räumte auch Wellek ein, dass diese Gefahr bei Kunstsynthesen grundsätzlich bestünde. Denn „alle Synästhesie als Kunst“ will „eine Verwischung oder Verschiebung der natürlichen Grenze der Künste, will Übergriffe und witzige absonderliche Verteilungen der Ausdrucksaufgaben, wie sie der reinen Ökonomie des Gesamtkunstwerks zuwiderlaufen“135. Dies zeige sich bei Wagner in einer Neigung zur Ton- und Lautmalerei und einer Klangsymbolik, die Wellek als Reste der synästhetischen Transformation vom musikalischen Urstoff in sichtbares Geschehen deutete.136 Verstand Wellek das Synästhetische insofern zwar als Motor einer Verbindung der Künste, weil es grundsätzlich bereits in jeder einzelnen Kunst verborgen sei, so müssten bei einer Synthese der Künste Synästhesien vermieden werden, weil jede Kunst an sich 130 „Denn in seiner wahren Gestalt lässt sich das Drama keiner einzelnen Kunst, auch nicht der Poesie, einordnen; vielmehr bedeutet es eine Synthese nicht allein von Lyrik und Epik [...], sondern auch aller Kunstarten im technischen Verstande: [...].“ Ebd., S. 80. „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [...] ist also [...] konkrete Wahrheit des dramatischen Schaffens. Nicht nur ist die Tragödie entwicklungsgeschichtlich aus der Musik geboren worden: sie wird es immer wieder auch im einzelnen Falle.“ Vgl. ebd., S. 83. 131 Ebd., S. 82. 132 Vgl. ebd., S. 83. 133 Ebd., S. 84. 134 Vgl. ebd. 135 Ebd., S. 85. 136 „Synästhesien, die diese Richtung aufwiesen, würden sich sonach als Reste der Transfiguration deuten lassen – als Stellen, an denen die Umsetzung der Musik in Bild und Gebärde nur halb verwirklicht, die Musik Musik, wenn auch Bild und Gebärde darstellend, geblieben ist.“ Ebd., S. 85f.
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bereits synästhetisch wirke. Als Überrest und Zeugnis einer Transformation und Analogiebildung verwies das Synästhetische bei Wellek sowohl in menschheitsgeschichtlicher, sprachlicher und kunsthistorischer Entwicklung auf die ursprüngliche Verwandtschaft und Ungeteiltheit der Sinnesempfindung. Als künstlerisches Stilmittel und Denkmodell erfülle das Synästhetische demnach die Funktion des Hinweises auf spezifische Wahrnehmungsstrategien und -praktiken. Darin lag das Neue der Wellek’schen Deutung, das mit einer Popularisierung des Synästhetischen in geisteswissenschaftlichen und semantisch-linguistischen Kontexten und der Erweiterung seines Wirkungsradius einherging. Nicht nur, dass er durch seine Studien zur Synästhesie in der Geistesgeschichte eine Traditionslinie synästhetischen Denkens als Prozess der Bedeutungsübertragung zwischen Sinneserfahrungen herstellte und als wesentliches Element kultureller Entwicklung und künstlerischer Betätigung installierte, er übertrug eine spezifische, konstruktive Ausformulierung des Synästhetischen der 1920er Jahre auf den Ursprung der Kultur und speiste damit neue Aspekte in den Synästhesiediskurs ein. Ein ähnliches Analogiemodell der Sinneserfahrung, wie es Wellek mit dem Synästhetischen fasste, spielte z.B. auch Walter Benjamin theoretisch durch. In seinem Text Über das mimetische Vermögen von 1933 definierte er dieses als Erkennen von Ähnlichkeiten zwischen den Dingen, das in Form von Übertragung und Nachahmung Grundlage jeder Kultur sei.137 Basierten frühere Zivilisationsstufen und ihre Weltmodelle dergestalt auf Systemen von Entsprechungen, so schien das mimetische Vermögen im Lauf der Geschichte verloren gegangen zu sein: „Denn offenbar enthält die Merkwelt des modernen Menschen von jenen magischen Korrespondenzen und Analogien, welche den alten Völkern geläufig waren, nur noch geringe Rückstände. Die Frage ist, ob es sich dabei um den Verfall dieses Vermögens oder aber um dessen Transformierung handelt.“138
Entgegen der Annahme des Verlustes entwickelte Benjamin die These, das mimetische Vermögen sei in der Sprache aufgegangen, d.h. transformiert worden.139
137 Vgl. Benjamin (2002), S. 123. 138 Ebd., S. 123. 139 „Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen. Später kamen Vermittlungsglieder eines neuen Lesens, Runen und Hieroglyphen in Gebrauch. Die Annahme liegt nahe, daß dies die Stationen wurden, über welche jene mimetische Begabung, die einst das Fundament der okkulten Praxis gewesen ist, in Schrift und Sprache ihren Eingang fand. Dergestalt wäre die Sprache die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit: ein Medium, in welches ohne Rest die früheren Kräfte
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Sprache sei somit, wie schon bei Wellek, kein verabredetes, arbiträres System von Zeichen, sondern enthalte auf irgendeine Art und Weise in Schriftbild oder Klang eine Ähnlichkeit mit dem Bedeuteten.140 Zugleich bewahre die Sprache damit ein körperliches und praktisches Wissen auf, das als Mimetisches der Sprache jedoch nur im Semiotischen in Erscheinung trete.141 Ist der Name Benjamins in der Synästhesiedebatte bisher kaum in Erscheinung getreten, so zeigen sich in seinen Gedanken auffällige Parallelen zu Fragestellungen der Farbe-Ton-Forschung.142 Keine unwesentliche Rolle spielten dabei Benjamins Haschisch-Experimente, bei denen er nicht nur synästhetische Erscheinungen hatte, sondern auch die Aura und die Formkonstanten der Wahrnehmung, wie Heinrich Klüver sie – ebenfalls nach Drogenexperimenten – extrahiert hatte, erkannte: „Und ich stellte [...] die echte Aura in Gegensatz zu den [...] Vorstellungen der Theosophen. [...] Vielmehr ist das Auszeichnende der echten Aura: das Ornament, eine ornamentale Umzirkung, in der das Ding oder Wesen fest wie in einem Futteral eingesenkt liegt. [...] Erste Erfahrungen die ich von der audition colorée machte. Was Egon sagte, wurde von mir dem Sinne nach nicht sehr aufmerksam aufgenommen, weil mein Vernehmen seiner Worte sich unmittelbar in die Wahrnehmung farbiger, metallischer Flitter umsetzte, die zu Mustern zusammentrafen. [...] Über die Bilder selbst kann ich wegen der ungeheuren Schnelligkeit mit der sie, [...] entstanden und wieder vergingen, hier nicht mehr viel sagen. Sie waren im wesentlichen gegenständlich. [...] mit einem stark ornamentalen Einschlag. [...] Mauerwerk zum Beispiel oder Gewölbe oder gewisse Pflanzen.“143
Waren Drogenexperimente in Wissenschaftler- und Künstlerkreisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Mittel der Erforschung von Bewusstseinszuständen sehr beliebt, so wurden sie auch im Rahmen der Synästhesieforschung relevant. Hatte bereits Theophile Gautier mit seinem Haschischclub durch Drogen induzierte Synästhesien beschrieben, so entstand die Idee, Synästhesien künstlich zu erzeugen und für Nichtsynästhetiker erfahrbar und zugänglich zu machen.144 Wurde der Zumimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind, bis sie so weit gelangten, die der Magie zu liquidieren.“ Ebd., S. 125f. 140 Vgl. ebd., S. 124. 141 Vgl. ebd., S. 125. 142 Lediglich Clausberg sieht Walter Benjamin und auch Ludwig Klages als Kronzeugen für synästhetisch hochangereicherte Sprach-, Begriffs- und Theoriebildung. Vgl. Clausberg (2007), S. 61. 143 Benjamin zit. nach Clausberg (2007), S. 70. 144 So sprach 1930 beim zweiten Kongress für Farbe-Ton-Forschung der Heidelberger Professor Willy Mayer-Groß, Chefarzt für Psychiatrie und Herausgeber der Zeitschrift Der Nervenarzt, über Synästhesien im Meskalinrausch, nachdem er selbst ca. 150 Meskalin-
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sammenhang zwischen synästhetischem Wahrnehmen und Drogenkonsum v.a. in den 1960er Jahren wieder relevant, so führte er in den 1920er und 1930er Jahren zur Einbettung des Synästhetischen in phänomenologische Fragen nach dem Bewusstsein, dem Erleben und dem Denken.
III.3 D IE E INHEIT DER S INNE IN DES S YNÄSTHETISCHEN
DER
V ERLEIBLICHUNG
Im Rahmen seiner Anthropologisierung wurde das Synästhetische insbesondere seit den 1920er Jahren offensiv in Ganzheitspsychologie, Lebensphilosophie und Phänomenologie eingebunden. Deren Protagonisten Ludwig Klages, Helmuth Plessner, Ernst Cassirer oder Maurice Merleau-Ponty etablierten in der Verleiblichung des Synästhetischen eine auf dem Körper basierende Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Wissensform. Wurde der Leib zur entscheidenden Schnittstelle und zum Vermittler zwischen Innen und Außen, Mensch und Welt, Natur und Kultur so verwies das Synästhetische auf eine ,ursprüngliche‘ Einheit der Sinne im eigenleiblichen Spüren. Dabei referierte die Instrumentalisierung des Synästhetischen weniger auf die Wiederherstellung ursprünglicher Sinneserfahrung, sondern fungierte als Anpassung an neue technisch-mediale Wahrnehmungsmuster und -praktiken der Moderne, die es dergestalt naturalisierte. Besonders fruchtbar für die philosophische Debatte war die Arbeit des Psychologen Heinz Werner, der das Synästhetische systematisch in entwicklungspsychologische Betrachtungen einbezog.145 In seiner Einführung in die Entwicklungspsychologie von 1926 beschrieb er die Synästhesien als zentrales Element in der Entwicklung des Menschen und formte aus ihnen eine organismische Wahrnehmungslehre.146 So zeigten für ihn z.B. „die Sphären des Gesichtes, Geschmackes,
versuche gemacht hatte. Er beschrieb die Erfahrung, dass sich optische Erscheinungen im Rausch akustisch und durch den Hautsinn beeinflussen lassen und Musik wiederum auf die Haut und den ganzen Körper wirke. Bei der Synästhesie, so glaubte er, läge ein ähnlich veränderter Bewusstseinszustand des Ich vor. Vgl. Mayer-Groß (1931), S. 266ff. 145 Vgl. Dann (1998), S. 96. Die Entwicklungspsychologie entstand in den 1920er und 1930er Jahren als eigenständige Teildisziplin der Psychologie, die ethnologische Befunde mit der kindlichen Entwicklung verglich und daraus pädagogische Konzepte wie auch eine Kulturgeschichte entwarf. 146 „Die Synästhesie ist, [...], keineswegs eine bloß sonderbare, kuriose Art, wahrzunehmen, sondern steht zentral innerhalb des Problems der Entwicklung der Wahrnehmung überhaupt. [...], denn es lässt sich erweisen, daß diese Synästhesie im engsten Zusam-
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Geruches usw. [...] auf primitiven geistigen Stufen eine viel engere Gemeinschaft“, was vermuten lasse, „daß bei Naturvölkern diese Synästhesien eine größere Rolle als beim Kulturmenschen spielen“147. In seiner Argumentation stützte sich Werner v.a. auf ethnologische Untersuchungen und erläuterte Synästhesien von Naturvölkern in Ägypten, Babylonien, China oder Mexiko.148 Das Vorhandensein derartiger Entsprechungen in allen Kulturen bestätige, so Werner, seine These von einer allgemeinen synästhetischen Grundlage der Wahrnehmung, die in der objektiv-sachlichen Wahrnehmung des industrialisierten Menschen verschwunden sei.149 Schwang in den ethnologischen Beschreibungen der Zeit nicht nur bei Werner eine Sehnsucht nach einer Renaturalisierung und Neufundierung des Seins mit, so konstatierte Werner ähnliche Phänomene bei Kindern, die noch nicht präzise zwischen den verschiedenen Sinnen unterscheiden könnten und generell synästhetisch wahrnehmen würden.150 Aber auch Psychopathen und besonders Schizophrene, bei denen die Synästhesien zwar Ausdruck „krankhafter Primitivität, krankhafter Undifferenziertheit der Erscheinungs- und Ichwelt“151 seien, würden Systeme von Entsprechungen aufweisen, die denen ,primitiver Völker‘ ähnelten.152 Aus diesen Befunden entwimenhang steht ebenso wohl mit dem Grundcharakter der ursprünglichen Wahrnehmungsweise, [...], wie mit der Verwurzeltheit der Wahrnehmung in Urschichten – auch des gehobenen Menschen, soweit er synästhetisch erlebt.“ Werner (1926), S. 67. 147 Ebd., S. 62. 148 Dort würden z.B. die Zuňi-Indianer jeder Raumgegend eine bestimmte Farbe zuweisen. Für die chinesische Kultur beschrieb er Entsprechungen wie z.B. weiß und Tiger, Trockenheit und scharf, rot und Vogel, Wärme und bitter, schwarz und Krieger, Kälte und salzig, Wind und sauer usw. Vgl. ebd. 149 „Bei der Universalität, in der derartige Entsprechungen auf der ganzen Welt bestehen, ist es ausgeschlossen, daß hier nicht allgemeine, d.h. synästhetische Grundlagen vorliegen. Die Grundlage ist eine geringere Differenziertheit im wahrnehmungsmäßigen Erlebnis, die in unserer objektiven Wahrnehmung sachlicher Art fehlt. Es klingt in diesen universalen Entsprechungen ein primitives Erlebnis nach, bei dem normalerweise die Wahrnehmung so tief im Bewusstsein verankert ist, daß sie Schichten lebendig macht, in denen die Empfindung des Farbigen von der des Geschmackes, der Temperatur usw. sich noch nicht scharf gesondert hat.“ Ebd., S. 62f. 150 „Die Komplexität der Sinnessphären, wie sie sich in der Synästhesie ausdrückt, können wir auch in der Kulturwelt als eine normale Erscheinung beim Kinde verfolgen. [...] es ist besonders das Gebiet des Farbenhörens und der farbigen Erlebnisart von sonst nicht farbigen Wahrnehmungen, wie etwa der Ziffern, Buchstaben usf., das anscheinend in der Kindheit außerordentlich weit reicht.“ Ebd., S. 63f. 151 Ebd., S. 66f. 152 „Allem Anschein nach ist der komplexe Charakter der Sinnessphären auch die Ursache einer weitgehenden Synästhesie, wie wir sie bei Psychopathen, insbesondere Schizoph-
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ckelte Werner die Annahme, dass der eigentlichen Wahrnehmung eine synästhetische Vorstufe als ein vom Affekt bestimmtes Erleben der Dingwelt, die noch nicht vom Gegenstand abgelöst sei, d.h. bei dem die Trennung von Subjekt und Objekt noch nicht stattgefunden habe, vorausgehe.153 Werner nannte das „physiognomisches Erleben“154, an dem der gesamte Körper beteiligt sei, indem Affekte durch Bewegungen mitgetragen würden.155 Als urtümliche Wahrnehmungsfähigkeit gründe das Synästhetische demnach auf einer fundamentalen Einheit der Sinne im primitiven Erleben, die sich erst später zu verschiedenen Qualitäten ausdifferenziere: „Farbe und Ton sind hier in einem gefühlsartigen Urerlebnis bewusst, in welchem die spezifisch optische ‚Materie‘ der Farbe und die spezifisch akustische ‚Materie‘ des Tones noch gar nicht existieren; jene Einheit von Ton und Farbe ist also darum möglich, weil diese sich stofflich noch nicht oder nur wenig differenziert haben. [...] und wenn man sich bemüht, durch Einstellung diese Stufe zu erreichen, dann wird man finden, daß die Synästhesie tatsächlich auf einer ganz und gar urtümlichen Erlebnisweise beruht; einer Erlebnisweise, die nicht kurios ist, sondern von jedem normalen Menschen mehr oder weniger durch experimentelle ‚Primitivierung‘ erreicht werden kann.“156
War das Synästhetische bei Werner in einen Diskurs der Suche nach dem ,Ursprünglichen‘ im modernen Menschen eingebettet, so lokalisierte die Gleichsetzung von Primitiven und Kindern, d.h. die Tatsache, dass „die Synästhesie sich als eine urtümliche Anschauungsweise in allen Primitivtypen deutlich offenbart“157, dieses zugleich auf einer phylo- wie ontogenetischen Ebene. Implizierte dieses Verständnis die Möglichkeit des Vergleiches zwischen Kindern und Primitiven, z.B. in Bezug auf die Sprachentwicklung, so eröffnete die Deutung des Synästhetischen als Vorstufe der sachlich-differenzierten Wahrnehmung die Option der Rückbesinnung des zivilisierten Menschen auf ein gefühlsbetonteres Erleben durch bewusste Einstellung:
renen finden. Da gibt es eigentümliche Systembildungen bei derartigen Kranken, welche in ihren Entsprechungen irgendwie an naturvölkische Systeme erinnern und ohne synästhetische Grundlagen wohl nicht erklärt werden können.“ Ebd., S. 66. 153 Vgl. ebd., S. 57. 154 Ebd., S. 68. 155 „Es ist sehr wahrscheinlich, dass das synästhetische Einheitserlebnis, das im Bereich der Vitalempfindungen durch verschiedene Reizmodalitäten ausgelöst werden kann, auf Tonusvorgängen des Körpers beruht.“ Werner (1966), S. 298. 156 Werner (1926), S. 68. 157 Ebd., S. 67.
206 | S YNÄSTHESIE ALS DISKURS „Man kann interessanterweise – nach Entdeckungen Gertud Grunows, [...] – Schichten beim Kulturmenschen bloßlegen, die genetisch vor den Wahrnehmungen stehen und die als ursprüngliche Erlebnisweisen beim ,sachlichen‘ Menschentypen teilweise verschüttet sind. In dieser Schicht kommen die Reize der Umwelt nicht als sachliche Wahrnehmungen sondern als ausdrucksmäßige Empfindungen, welche das ganze Ich erfüllen, zum Bewusstsein. In dieser Schicht ist es tatsächlich so, dass Töne und Farben vielmehr ,empfunden‘ als wahrgenommen werden.“158
Menschen, die dazu in der Lage seien, bezeichnete Werner als Ausdrucksmenschen und wahre Künstler. Als Beispiel führte er Kandinsky an, der eine physiognomische Wahrnehmungsweise wiederentdeckt habe, in dem er Farben nicht assoziierte, sondern fühlte und nach ihrem Ausdruckswert klassifizierte.159 Aus diesen Befunden entwickelte Werner eine Systematik und Klassifikation der Synästhesien, die sowohl die individuelle Ebene als auch deren Rolle bei der Entwicklung von Kulturen, Kunstwerken und -formen umfasste. Besonders interessant ist dabei Werners Unterscheidung der synästhetischen Erlebnisse nach ihrer funktionellen Bedeutung. Diese reichte von einer Kopplung ohne besondere Funktion über einen wesentlichen Anteil an der Physiognomisierung der Wahrnehmungswelt bis hin zu einer elementaren Position in der abstrakten Symbolik des Individuums, der Kultur, Kunst und Religion. Befreite Werner, wie schon Anschütz und Wellek, die Synästhesien von dem Status einer individuellen Besonderheit der Wahrnehmung, so betonte er ihren kulturbildenden Charakter und räumte ihnen eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung symbolischer Systeme ein. Insofern hielt Werner für deren Erforschung u.a. anthropologische, genetische, ontogenetische und vergleichende Untersuchungen sowie eine Kultur- und Sozialpsychologie des Synästhetischen für sinnvoll.160 Werner selbst führte mit seinen Studenten Karl Zietz und Paul von Schiller Experimente durch, die, im Unterschied zu den Anschütz’schen Untersuchungen, v.a. zum Ziel hatten, synästhetische Wahrnehmungseffekte bei Nichtsynästhetikern nachzuweisen.161 Dazu testeten sie den Einfluss verschiedener Sinneserregungen auf die Gesichtswahrnehmung, wobei z.B. hohe Töne Farben aufhellten, während tiefe Töne die Farben verdunkelten. Unter der Fragestellung, inwiefern sich die Schwellenwerte einer Sinnesmodalität verändern, wenn die Versuchsperson Reizen einer anderen Sinnesmodalität ausgesetzt wird, wandelte sich 158 Werner zit. nach Böhme, Gernot (2002), S. 51. Der Hinweis auf Gertud Grunow ist insofern interessant, als sie auch am Bauhaus tätig war. 159 Vgl. Werner (1926), S. 67f. 160 Vgl. Werner (1966), S. 278f. 161 „Zietz, Schiller und ich führten im Hamburger und Berliner Laboratorium Experimente an normalen Personen durch, die erweisen, daß unter geeigneten Umständen jeder Kulturmensch synästhetischen Beeinflussungen zugänglich ist.“ Ebd., S. 281.
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das Synästhetische zur intermodalen Beeinflussung und intersensoriellen Identität. Allerdings ließen sich diese synästhetischen Effekte experimentell nur bei ca. 20 Prozent der Versuchspersonen und nur mit flüchtigen, instabilen Wahrnehmungsbildern erzeugen.162 Als derartige instabile Wahrnehmungen nannte Werner nun bezeichnenderweise „stroboskopische, kinematographisch dargebotene, Bilder, die wir zu Bewegungen synthetisieren, kurzdauernde – tachiskopisch produzierte – Formen; ferner optische Nachbilder, schwachgesättigte Farben, schwellennahe Farben usw.“163 Hatte diese Bemerkung bei Werner eher beiläufigen Charakter, so verweist sie auf den spezifischen Zusammenhang der Ausformulierung des Synästhetischen mit medialen Wahrnehmungsformen, Techniken und Praktiken. Eine explizit mediale, synthetisch generierte Wahrnehmungserfahrung wurde zum Wirkungsfeld allgemeiner, auch beim zivilisierten Menschen auffindbarer Synästhesien. Umgekehrt stilisierte dies wiederum das Kinematografische, Filmische zum Ort gesamtsinnlicher, archaischer Wahrnehmungsprinzipien. Bei Werner ging es also ebenfalls weniger darum, vermeintlich ,natürliche‘ Wahrnehmungsformen zu reaktivieren, sondern vielmehr darum, mediale Wahrnehmungsmuster zu naturalisieren, im menschlichen Wesen zu verankern und theoretisch fassbar zu machen. Werners Konzept des Synästhetischen als Ergebnis intersensorieller Qualitäten, wie z.B. die sowohl optisch als auch taktil und akustisch wahrnehmbare Räumlichkeit oder der akustisch als auch motorisch zugängliche Rhythmus, fokussierte dabei nicht auf direkte Übersetzungen von z.B. Tönen in Farben, sondern auf deren Entsprechung in Bezug auf spezifische Dimensionen wie Helligkeit oder Intensität.164 Hoben diese intermodalen Qualitäten die grundsätzliche Trennung und Unterteilung in fünf Sin162 „Im allgemeinen kann man eine Änderung in unserer visuellen Dingwelt nicht erwarten, weil die Formen und Farben der Sehdinge prägnant und konstant gesehen werden und daher Beeinflussungen widerstehen. Mit anderen Worten: Wahrnehmungen, mit denen wir es im Alltagsleben zu tun haben, sind ‚objektive’ hochdifferenzierte Phänomene. Wollen wir Beeinflussungen erzeugen, so müssen wir uns aus dieser hochdifferenzierten, stabilen Wahrnehmungswelt wegbegeben in eine solche, in der alles verhältnismäßig flüssig und labil ist.“ Ebd., S. 296. 163 Ebd., S. 296. 164 Dabei bezog sich Werner v.a. auf den Musikethnologen Erich Moritz von Hornborstel, der in den 1920er Jahren intersensorielle Eigenschaften, wie Intensität oder Helligkeit, etablierte, die allen Sinnesgebieten zukommen würden. Fühlen, so Hornborstel, umfasse alle sensorischen Qualitäten, die erst die Wissenschaft in fünf Sinne trenne. Er führte sogenannte Äquivalenzbestimmungen durch, in dem er seinen Versuchspersonen z.B. einen Geruch darbot und sie eine Graunuance dazu wählen ließ. Im nächsten Schritt mussten sie dem Geruch einen Ton zuordnen und diesem wiederum eine Graunuance. Im Ergebnis wurden fast identische Grautöne ausgesucht. Vgl. Werner (1966), S. 294. Vgl. Dann (1998), S. 79.
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ne in gemeinsamen, verschiedensinnlich erfahrbaren Eigenschaften auf, so wurden sie zur Ursache sowohl individueller als auch kultureller Synästhesien.165 Ausgehend von einem (gesamt-)sinnlichen, affektiv-leiblichen Seinszustand vor jeglicher Differenzierung spezifischer Sinnesmodalitäten, implizierte Werners Theorie des Synästhetischen die Möglichkeit zur Abstraktion und Isolierung einzelner Sinne unter bestimmten Bedingungen: „Die [...] allgemein beobachtbaren Tatsachen der Synästhesie scheinen uns gegenwärtig am besten von einer genetisch-organismischen Wahrnehmungslehre her verstehbar zu sein: der innere Zusammenhang der Sinne, die Tatbestände intersensorieller Eigenschaften, [...] wurzeln nach dieser Auffassung in einem genetisch primären, psychophysisch undifferenzierten Zustand. In diesem Totalerlebnis, in dem affektiv-motorische Einstellungen und leibliche Haltungen prinzipiell bedeutsam sind, sind die Sinne noch nicht in einzelne diskrete Felder gespalten. Wir können daher hier sowohl von einem synästhetischen als auch einem sensorisch-tonischen Urgrunde sprechen, von dem aus [...] die Differenzierung in spezifisch akustische oder optische Phänomene verfolgt werden kann. Die Annahme einer genetischen Ursprünglichkeit macht es einleuchtend, warum die Synästhesie besonders häufig unter ‚primitiven‘ Bedingungen auftritt, wie man sie beim Kinde, beim Naturmenschen, [...], in der Tagträumerei, in pathologisch-schizophrenen Zuständen, in Rauschvergiftungen, aber auch in künstlerischer und religiöser Inspiration vorfindet.“166
Werners Deutung des Synästhetischen wurde insbesondere für erkenntnistheoretische Fragen der Phänomenologie bedeutsam. So erarbeitete Ernst Cassirer gemeinsam mit Heinz Werner und dem Frankfurter Neurologen Kurt Goldstein das Synästhetische als generellen Charakter des Wahrnehmungsbewusstseins und integrierte es in seine Phänomenologie der Erkenntnis, den dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen von 1929.167 Cassirer unterschied grundsätzlich zwischen einer Dingwahrnehmung, bei der z.B. die Farbe als Eigenschaft eines Objektes betrachtet werden kann, und einer derselben vorausgehenden expressiven Aus-
165 „Die Aufdeckung einer überraschend großen Anzahl von intermodalen Qualitäten legt daher den Schluß nahe, daß die vielleicht allgemeinste Bedingung für das Entstehen sowohl universeller als auch individueller synästhetischer Kopplungen in der Gemeinsamkeit von Eigenschaften besteht, die mehr oder weniger allen Sinnen zukommen.“ Werner (1966), S. 296. [Herv. i.O.] 166 Ebd., S. 299. 167 Goldstein, Cousin von Ernst Cassirer und einer der Begründer einer Neuropsychologie, hielt es eigentlich für einen Fehler, überhaupt von Synästhesie zu sprechen, denn das setze einen Ausgangspunkt voraus, in dem die Sinne getrennt und Erfahrungen objektiviert seien. Vgl. Goldstein (1928), S. 116ff.
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druckswahrnehmung einer Farbe als warm oder kalt.168 Als diffuse synästhetische, emotionale, leiblich-unmittelbare und subjektive Atmosphäre auf einer frühen Ebene des Bewusstseins kenne die Ausdruckswahrnehmung weder eine Trennung der Sinne noch einen Unterschied zwischen der sinnlichen Existenz eines Phänomens und seiner Bedeutung.169 Über einen fundamentalen semiotischen Prozess könne sie jedoch als Dingwahrnehmung fokussiert werden, d.h. eine Bedeutung erhalten. Diesen Prozess bezeichnete Cassirer als „symbolische Prägnanz“, die im Ergebnis zu „symbolischen Formen“ führe.170 Sinn entstehe demnach, indem dem Sinnlichen eine Bedeutung zugeschrieben werde, und sei damit Verkörperung des Sinnlichen, das grundsätzlich mehr als eine Bedeutung haben könne. Das Synästhetische der leiblich-sinnlichen Ausdruckswahrnehmung beeinflusste dabei für Cassirer wesentlich den Prozess der Generierung von Bedeutung.171 Die Beziehung zwischen Leib und Geist, Sinnlichem und Sinn beschrieb Cassirer in dieser Weise als eine symbolische, die weder kausal noch als Beziehung zwischen Dingen gefasst werden könne.172 In ähnlicher Weise setzte Helmuth Plessner das Synästhetische gegen eine sinnenvergessene idealistische Konzeption des Geistes.173 In Die Einheit der Sinne. 168 Vgl. Krois (2007), S. 157. 169 „In all these worlds, the spheres of visual and auditory sensations, of smell and taste, show a far closer involvement than in our perception with its tendency to isolate the ,qualitiesʻ of things. However, this interrelation is by no means limited to the primitive consciousness, but is retained far beyond it. Even in highly developed consciousness, phenomena of socalled ,synesthesiaʻ – for example, of colored tones, numbers, and smells, or words – are by no means mere anomalies but reveal a fundamental behavior and character of the perceptive consciousness.“ Cassirer zit. nach Krois (2007), S. 157. 170 „Unter ‚symbolischer Prägnanzʻ soll [...] die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnlichesʻ Erlebnis, zugleich einen bestimmten anschaulichen ‚Sinnʻ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.“ Cassirer zit. nach ebd., S. 152. 171 Bereits vor Cassirer beschäftigte sich der amerikanische Psychologe Raymond Holder Wheeler 1920 mit der Frage, inwieweit Synästhesien Bedeutung konstituieren, und lieferte eine Theorie des Synästhetischen als essenzielle Komponente des Denkens, die jedoch kaum beachtet wurde. Vgl. Dann (1998), S. 81ff. Wheeler erblickte in den Synästhesien den sichtbar werdenden Vorgang der Bedeutungszuschreibung, d.h. die Entstehung einer Vorstellung auf Basis eines impliziten Prozesses der Identifikation. Die Synästhesien würden die Möglichkeit eröffnen, das undifferenzierte Bewusstsein im Stadium abstrakter Empfindungen zu studieren, und zeigen, wie sensorische Prozesse in kognitive einfließen. Vgl. Wheeler (1920). 172 Vgl. Krois (2007), S. 153. 173 Vgl. Paetzold (2003), S. 856.
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Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes von 1923 verstand er, unter Berufung auf Erich Moritz von Hornborstels Erforschung der Intermodalität der Sinne, die im Synästhetischen liegende Verschmelzung der Sinne als passive Einheit, der eine positive, ausgehend von den Leistungen der Sinne in der menschlichen Kultur gedachte Einheit, entgegengestellt werden müsse.174 Denn in den verschiedenen Dimensionen der Kultur würden sich spezifische Zuordnungen zwischen den Sinnen ergeben, die jeweils Bedeutung konstituieren, wie z.B. das Auge-Hand-Feld in der Wissenschaft oder Gehör, Gesicht und Ausdrucksbewegungen des Leibes in der Sprache. Dabei kam dem Körper in Plessners Philosophie eine besondere Rolle zu, die er mit dem Begriff der „exzentrischen Positionalität“ zu fassen versuchte. Diese beschreibt eine dreifache Positionalität des Menschen: ist er organischer Körper und Leib, so erlebt er zugleich das Außersichsein als eigenes Erlebens über die Grenzen des Leibes hinaus. Beide Ebenen seien wiederum in dem Wissen um die Doppelexistenz des zugleich Innerhalb- und Außerhalb-des-Leibes-Seins verbunden.175 Körper-Sein als Leib in absoluter Zeit und absolutem Raum und Körper-Haben in einem relativem Bezugssystem von Zeit und Raum würden in ihrer dialektischen Gleichzeitigkeit den Geist konstituieren, der Außen- und Innenwelt in einer Mitwelt zusammenführe.176 Als passive Einheit der Sinne im Leiblichen transformiere sich das Synästhetische dergestalt über die dreifache Positionalität als Grundlage der menschlichen Kultur in all ihre Erscheinungsformen, wobei jeweils spezifische Sinneskombinationen wirksam würden. Die Verbindung des Synästhetischen mit der leiblichen Erfahrung beschrieb dann auch Maurice Merleau-Ponty in seiner Phénoménologie de la Perception von 1945. Dabei bildete der Leib als primäre persönliche Erfahrung vor aller Erkenntnis und aller Wissenschaft den Ausgangspunkt seiner Überlegungen.177 Sei die Welt dem Subjekt in der Wahrnehmung gegeben, so sei diese selbst lediglich eine Konstruktion des Subjekts. Wahrnehmung bezeichne demzufolge einen Integrationsprozess, bei dem der Kontext der Außenwelt erst hergestellt werde.178 Denn jede Empfindung als Erfahrung eines Zustandes des Selbst habe schon Bedeutung für das Subjekt und stehe bereits in einem Sinnhorizont.179 Nur die wissenschaftliche Theorie der Wahrnehmung deklariere Reize und deren Empfindung als etwas Objektives, obwohl sie bereits der vom Bewusstsein produzierten Welt angehörten.180 Im Rahmen dieser grundlegenden Verfasstheit der Wahrnehmung verortete Merleau174 Vgl. ebd., S. 856. 175 Vgl. Plessner (1982), S. 10f. 176 Vgl. ebd., S.14. 177 Vgl. Merleau-Ponty (1966), S. 13. 178 Vgl. ebd., S. 28. 179 Vgl. ebd., S. 13. 180 Vgl. ebd., S. S.35.
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Ponty auch das Synästhetische. Die Isolierung einzelner Sinne interpretierte er als Operation einer wissenschaftlich-beobachtenden und fixierenden Haltung, die nicht im Erleben begründet sei. Die „natürliche Einheit des Wahrnehmungssubjekts“181 beschrieb er, unter Berufung auf Heinz Werner, vielmehr als eine synästhetische „Urschicht“, die der „Teilung der Sinne vorgängig ist“.182 Bleibe das Synästhetische aus dem Blick einer objektiven Welt paradox, so sei es als Einheit der Sinne das grundlegende Prinzip der Wahrnehmung, aus dem heraus eine Objektivierung einzelner Sinneserfahrungen erst möglich werde: „Das Sehen von Tönen, das Hören von Farben kommt zustande [...] dadurch, dass der Leib nicht eine Summe nebeneinandergesetzter Organe, sondern ein synergetisches System ist, dessen sämtliche Funktionen [...] verbunden sind in der umfassenden Bewegung des ZurWelt-seins, [...] Die Rede vom Sehen von Tönen oder vom Hören von Farben hat ihren Sinn, insofern Gesicht und Gehör [...] Beispiele von Modalitäten der Existenz, Synchronisierungen des Leibes mit diesen sind; und das Problem der Synästhesien beginnt sich zu lösen, wenn wir begreifen, das jede Erfahrung einer Qualität [...] Erfahrung einer bestimmten Weise der Bewegung und des Verhaltens ist.“183
Erleben ereignet sich demzufolge in einer gesamtsinnlichen Existenz, aus der heraus einzelne Akte des Sehens oder Hörens hervortreten können, die jedoch immer in dem einen Leib verankert bleiben und auf diesen und somit auch auf alle anderen Sinne verweisen. Insofern leistete das Synästhetische bei Merleau-Ponty nicht nur eine Überbrückung der Lücke zwischen den Sinnen, sondern auch der zwischen fühlendem Subjekt und den Wahrnehmungsobjekten. Dabei kam ein weiterer wesentlicher Aspekt hinzu, denn, so Merleau-Ponty, „das Fundament der Einheit der Sinne ist die Bewegung, [...] der Bewegungsentwurf oder die virtuelle Bewegung“184. Beispielhaft erläuterte er das anhand des Tonfilms, der das Schauspiel nicht nur mit Klangbegleitung ausstatte, sondern das Schauspiel selbst modifiziere.185 Bild und Ton, im Prozess des filmischen Wahrnehmens wechselseitig aufeinander bezogen, verändern sich dadurch im Verlauf, womit sich die Einheit der Sinne in der Bewegung des Films realisiere. Darin liegt das eigentlich Interessante an Merleau-Pontys Entwurf des Synästhetischen. Denn stellt die Forschung diesen immer wieder als Beschwörung eines leiblich-fundierten Erlebens heraus, so legte 181 Ebd., S. 266. 182 Vgl. ebd., S. 266ff. Explizit erwähnte er in diesem Zusammenhang die Experimente von Werner mit kinematografischen Bildern, die durch auditive Einflüsse modifiziert wurden, und auch die Studien von Mayer-Groß zu Synästhesien im Meskalinrausch. 183 Merleau-Ponty (1966), S. 273f. 184 Ebd., S. 274. 185 Vgl. ebd., S. 274.
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er eigentlich ein mediales oder kinematografisches Konzept des Synästhetischen vor, in dem die Einheit der Sinne in der Rezeption bewegter, sprechender und klingender Bilder überhaupt erst bewusst werde und performativ Bedeutung generiere. So verglich er in dem Aufsatz Das Kino und die neue Psychologie, aus demselben Jahr wie die Phänomenologie stammend, Wahrnehmung generell mit dem Film, bei dem der Sinn eines Bildes vom vorhergehenden abhänge und erst die Aufeinanderfolge und das Zusammenspiel der Bilder mit dem Ton Bedeutung herstelle, d.h. im übertragenen Sinne Realität schaffe.186 Die Korrespondenz der Sinne im Leiblichen wurde dabei nicht nur zur Grundform der Wahrnehmung und der ästhetischen Erfahrung, sondern v.a. zu einer medial vermittelten Syntheseleistung, die durch die Kunst in ihrer Konstruktivität sichtbar gemacht werden könne.187 Unter dieser Prämisse zeigte sich auch in der Synästhesieforschung der 1920er und 1930er Jahre eine erhöhte Aufmerksamkeit für den Körper und die Bewegung. Insbesondere der Musikpädagoge Alexander Truslit widmete sich der Bewegung als wesentlichem Element der Synästhesien, was er auf dem zweiten Kongress für Farbe-Ton-Forschung in dem Vortrag Das Element der Bewegung in der Musik und der Synopsie erläuterte. Seinen Ausgangspunkt bildete die bereits biologisch gegebene enge Beziehung von Gehör, Gleichgewichtsorgan und Muskelsystem. Im Rückgriff auf durch musikalische Strukturen ausgelöste Bewegungsvorstellungen von Synästhetikern, die er aus deren Malereien und Musikbildern als Bewegungskurven ableitete, entwickelte er ein System der Visualisierung von Bewegung.188 In den synoptischen Bildern, so seine Überzeugung, würde sich v.a. die Bewegung der Musik abbilden, d.h. eine gehörte Bewegung in eine gesehene übersetzt werden, was wiederum auch Nichtsynästhetikern verständlich sei.189 Auf diese Weise führte 186 Vgl. Merleau-Ponty (1997), S. 238. „Meine Wahrnehmung ist also keine Summe von visuellen, taktilen, auditiven Gegebenheiten; ich nehme vielmehr auf eine ungeteilte Weise mit meinem ganzen Sein wahr, ich erfasse eine einzigartige Struktur des Dings, eine einzigartige Weise des Existierens, die alle meine Sinne auf einmal anspricht.“ Ebd., S. 238. 187 „Das Glück der Kunst ist, zu zeigen, wie etwas Bedeutung anzunehmen beginnt, und zwar nicht durch Anspielung auf bereits entwickelte und erworbene Ideen, sondern durch zeitliche oder räumliche Anordnung der Elemente.“ Ebd., S. 243. 188 Vgl. Truslit (1931), S. 181ff. Vgl. Haverkamp (2007) 189 „Obwohl die Synopsie in der Reihe der Reaktionserscheinungen auf Musik einen Sonderfall darstellt, so lässt sie doch allgemeingültige psycho-physische Vorgänge erkennen, die wie beim Darbietenden so auch beim Aufnehmenden sich abspielen. Denn jeder Mensch besitzt, [...], eine entsprechende Anlage, nur ist der Grad der ‚Übersetzung‘ ins Anschauliche, Optische ein verschiedener. Und tatsächlich wird die Tonbewegung in der Musik nicht nur von Synoptikern, sondern von jedem empfunden, dessen Sinn für Bewegung einigermaßen offen und entwickelt ist.“ Truslit (1931), S. 177.
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Truslit das Musikerleben auf Bewegungsempfindungen zurück, die als Urelement der Musik wiederum deren Form bestimme. Verband die Bewegung dergestalt Auge und Ohr, so fungierte sie in einer Dreierbeziehung der Übersetzung von Musik in Bewegungsempfindung und deren Reproduktion als optisches Gebilde als Schaltpunkt zwischen Optischem und Akustischem.190 Zum Beweis der Kopplung zwischen Bewegung und Visuellem und umgekehrt machte Truslit wiederum eine interessante Bemerkung: „Wenn wir z.B. im Film Bewegungsvorgänge [...] vorgeführt sehen, so haben wir neben der reinen Gesichtsempfindung gleichzeitig noch die Empfindung der Bewegung, meistens von charakteristischen Muskelspannungen im Körper begleitet.“191 Damit verwies Truslit auf die synästhetisch-leibliche Dimension des Films, die der Behauptung eines rein optischen Mediums entgegenstand. Die Interaktion mit bewegten medialen Bildern vollzog sich über einen ebenso bewegten Körper, wobei das Synästhetische zum entscheidenden, im Menschen verankerten Übersetzungsmechanismus wurde. In diesem Sinne wurden Arhythmie, Entrhythmisierung oder Bewegungshemmung, wie sie bereits Jaques-Dalcroze und auch die Protagonisten des Ausdruckstanzes diagnostizierten, zu negativen Befunden, die auf eine neue bewegte, rhythmisierte und medialisierte Kultur verwiesen. Tanz und Film werden in einer Linie als neue kulturelle Formen, Praktiken und Wahrnehmungslabore sichtbar, obwohl sie entgegengesetzt erscheinen. Verkörperte der Film modernste Technik, so referierte der Tanz auf eine ,Ursprünglichkeit‘ und ,Natürlichkeit‘ der Körpererfahrung. Beschwor der Film jedoch archaische Wahrnehmungsmuster, so verbarg sich hinter dem Tanz eine neue Technisierung und Medialisierung des Körpers.192 Dabei wurden sowohl der Film als auch der Tanz von einem synästhetischen Wahrnehmungsmodell gestützt. Der Verankerung des Synästhetischen in ,urmenschlichen‘ Kontexten stand demzufolge seine Instrumen190 Vgl. ebd., S. 179f. 191 Ebd., S. 179. Beschrieb Truslit hier eine frühe Version der Theorie der Spiegelneuronen, die 1992 von dem Italiener Giacomo Rizzolatti und seinen Kollegen nachgewiesen wurden und dafür verantwortlich sind, dass bei Primaten das Betrachten von Handlungen gleiche Aktivitätsmuster im Gehirn auslöst wie der eigene Vollzug dieser Handlung. 192 Das zeigte sich z.B. bei Rudolf von Laban, der – Rhythmus als Lebensprinzip denkend – den Tanz zur Wahrnehmungs- und Erkenntnisform erhob. Seine Bewegungsgesetze setzte er nicht nur im Tanz um, sondern übertrug sie auch auf körperliche Arbeitstechniken von Fabrikarbeitern, um diese zu optimieren. So formuliert Inge Baxmann: „Die von [...] Rudolf von Laban entwickelten Bewegungsstudien sind exemplarisch für die Ambivalenz einer Konzeption, die einerseits den menschlichen Körper – dem Modell der Maschine entsprechend – als selbstreguliertes mechanisches System versteht und ihm andererseits metaphysische Deutungen unterlegt, die ihm einen normativen ‚Körpersinn’ zuschreiben.“ Baxmann (2000), S. 114.
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talisierung im Rahmen medialer Wahrnehmungsmuster gegenüber. Die Verleiblichung des Synästhetischen war Teil einer neuen Kulturanthropologie, die einer zunehmenden Technisierung und Medialisierung der Welt entgegengestellt wurde, deren Ergebnis sie jedoch überhaupt erst war.193 So naturalisierte das Synästhetische in einem konstruktiven Prozess die industrielle und mediale Entwicklung, indem es deren Funktionsweisen in die Wahrnehmung, die Sinne, den Körper und die Anthropologie implementierte.
III.4 „K ULTURALCHEMISTEN DES 20. J AHRHUNDERTS “. B EWEGTE K ÖRPER ZWISCHEN N ATURALISIERUNG UND T ECHNISIERUNG Agierte das Synästhetische sowohl im Rahmen einer Naturalisierung als auch einer Technisierung des modernen Menschen, so lässt sich dies in den 1920er Jahren insbesondere an künstlerischen Entwürfen und Praktiken ablesen. Ging es den Theaterkünstlern und Avantgarden der Jahrhundertwende um die Etablierung eines Kunsterlebnisses für alle Sinne, so standen jetzt v.a. Strategien und Techniken im Mittelpunkt, die dieses Einheits- und Gemeinschaftserleben synthetisch herstellen konnten. Dabei verbanden sich Kunst, Wissenschaft, Technik und Populärkultur miteinander. Als anthropologische Grundkonstante wurde das Synästhetische dem künstlerischen Schaffens- und Rezeptionsprozess vorausgesetzt. Insbesondere der Tanz und der Film standen Umsetzungen des Synästhetischen nahe und avancierten unter Schlagwörtern der Zeit, wie Bewegung, Raum und Körper, zu Leitkünsten der Epoche. Dabei prägten Künstler die wissenschaftliche Auseinandersetzung entscheidend mit, während die Wissenschaft Kunst synästhetisch fundierte. Die künstlerische Szene der Zeit vom Bauhaus über die Filmpioniere bis hin zu den Ausdruckstänzern besuchte die Anschütz’schen Farbe-Ton-Kongresse und integrierte das Synästhetische konzeptionell in ihre Arbeiten und Entwürfe, die gleichzeitig
193 „Die neuen Medien riefen [...] Körpereffekte hervor und machten die physiognomischen Aspekte der modernen Lebenswelt erfahrbar. Die Körperemphase der Moderne bildete so eine komplexe und ambivalente Reaktion auf eine durch Technologien und Medien charakterisierte Welt. Sie war nicht nur eine Abwehr der Funktionalisierung des Körpers in einer industriellen Welt, sondern zugleich eine positive Reaktion auf die neuen Möglichkeiten von Verkörperung, die mit dieser gegeben waren. [...] Der primitive Körper und der technologische Körper sind daher keine Gegenpole mehr, sondern bilden gemeinsam das Moderne. Der Tanz lieferte das Modell für eine totalisierende und synästhetische Bewegungs- und Raumerfahrung, wie sie nicht zuletzt der Film für die Massen popularisierte.“ Ebd., S. 174.
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wiederum als Folie für die wissenschaftliche Definition des Synästhetischen fungierten. So stellte z.B. der Pädagoge Georg Schliebe, nach eigenen Aussagen selbst Synästhetiker, in seiner Dissertation Über motorische Synästhesien (Photismen). Kasuistischer Beitrag zum Problem der Synopsie aus dem Jahr 1932 eine Verbindung der synästhetischen Erscheinungen mit dem Ausdruckstanz her, indem er natürliche, freie Bewegungen als Auslöser von Photismen beschrieb. Die Sinnfälligkeit der Übertragung von Vorstellungen und Emotionen in Bewegungen und umgekehrt im Stile einer Psychologie der Motorik und eines Tanzes auf synästhetischer Basis untermauerte er mit einer Aussage der Tänzerin Mary Wigman: „Selbstverständlich entspringen auch alle tänzerischen Konzeptionen und Gestaltungen aus Augenblicken stärkster Gefühlsüberspannung, und es ist natürlich, daß die persönliche und menschliche Überwältigung, die dadurch stattfindet, sich nicht nur in sichtbar werdenden Bewegungsfolgen und -formen manifestiert, sondern daß in diesen Momenten auch rein Visuell-Bildhaftes vor einem auftaucht. Es ist allerdings so, daß in den sogenannten schöpferischen Augenblicken das Sichgestaltenwollende einen selbst durchdringt und gleichzeitig wie eine Art gesehener Vision außerhalb vor einem im Raume schwebt.“194
In diesem Sinne experimentierte Schliebe im Selbstversuch mit verschiedenen Bewegungsformen, wie z.B. Kreisbewegungen, eckigen oder freien Bewegungen der Arme, der Beine und des Kopfes, die er nackt in einem dunklen Raum mit und ohne Metronom ausführte. Freie Bewegungen waren hilfreicher, um in ein Gefühl der Versunkenheit, der Ganzheitlichkeit zu finden, und führten zu deutlichen und intensiven Photismen, was wie eine Hymne auf den Ausdruckstanz anmutete: „Die Bewegungen des Armes sind von einer gewissen Innigkeit – jeder Muskel scheint zu spielen –, tänzerisch gestaltend. Vollkommene Versenkung in den Tanz. Mir ist, als fühle und taste ich den Raum ab, als plastikere der Arm, als spiele der Arm im Raume und dränge zur tänzerischen Gestaltung.“195
In dieser engen Verbindung von Motorik und optischer Sphäre im synästhetischen Erlebnis realisierte sich eine ungeteilte Sinneserfahrung in einem auf natürlichen Bewegungen basierenden Tanz, der nicht nur eine neue Weise der Kommunikation verkörperte und zum Mittel der Gemeinschaftsbildung avancierte, sondern zugleich das Synästhetische im Leiblichen verankerte.196 So hatte bereits Fritz Böhme, Weg194 Wigman zit. nach Schliebe (1932), S. 292. [Herv. i.O.] 195 Schliebe (1932), S. 303. 196 „Der Tanz wurde zum Modell für eine Weise der Kommunikation, die sich synästhetisch vollzieht, Resonanzen weckt, und der schon in alten Kulturen die Funktion der Gemeinschaftsstiftung zukam.“ Vgl. Baxmann (2000), S. 61.
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begleiter der Ausdruckstanzbewegung in Deutschland, im Rekurs auf Jaques-Dalcrozes Konzeption einer plastique animée die synästhetischen Wirkungen der tänzerischen Körperbewegung beschrieben, die Bilder, Gedanken und Musik erzeuge.197 Insofern begründete er die besondere Rolle des Tanzes in dessen Referenz auf die leiblich-körperliche Existenz des Menschen, aus der heraus ein neues Einheitsgefühl heraufziehe: „Die Aufgabe des Tanzes ist es, den schauenden Menschen durch die rhythmischen Bewegungen des Körpers zu innerem Mitschwingen, zur inneren, eigenen Produktion eines Erlebnisses zu veranlassen, ihn aus der Alltäglichkeit zufällig geschauter Dinglichkeit in den Kreis ewiger, kosmischer Wesenheit zu führen, ihn zu erlösen von dem Chaos und durch die Kunst in ihm die Ahnung der schwingenden Weltrhythmen zu erzeugen.“198
Die durch den Tanz synästhetisch erzeugten Mitbewegungen und –schwingungen erfüllten insbesondere den Zweck, ein Gemeinschaftsgefühl auszulösen.199 Dazu müsse die Bewegungssprache des Tanzes selbst jedoch synästhetisch aus dem Leiblichen und aus der natürlichen Physiogomie des Körpers geboren werden, womit Böhme sich gegen die künstliche Zeichensprache des Balletts stellte.200 Das Synästhetische transformiere dabei auf der Seite des Tanzkünstlers inneres Erleben in Bewegung und auf der des Publikums gesehene Bewegung in Bewegungsempfindung und erzeuge auf diese Weise innere Erlebnisse des Zuschauers. Dergestalt sollten sich auch alle anderen Künste dem Ziel der Mitbewegung des Publikums in der Referenz auf leiblich-synästhetische Entstehungs- und Rezeptionsmuster unterordnen. In seinem Vortrag Licht, Klang, Tanz als Einheit auf der Bühne auf dem zweiten Kongress für Farbe-Ton-Forschung von 1930 plädierte Böhme deshalb für die Entwicklung eines neuen synthetischen Theaters der Zukunft, in dem alle Bühnenmittel auf diesen Zweck ausgerichtet seien: 197 „[...] die Wirkung des Tanzes ohne Musik wird ähnlich der der Musik sein. Die Wirkung der Musik [...] beruht [...] immer auf Schwingungs- und Spannungsübertragung: diese erregten Schwingungen werden bei dem einen von Bildern, bei dem andern von Gedanken, bei dem dritten von Gefühlen begleitet je nach der spezifischen Art der Aufnahme- und inneren Produktionsfähigkeit des empfangenden Menschen. Und so ist es auch beim musiklosen Tanz.“ Böhme, Fritz (1921), S. 19. 198 Ebd., S. 16. 199 „Auf eine Erklärung des Vorganges der Mitbewegung, [...], einzugehen, muß ich mir versagen: vielleicht ist er Ausdruck immanenten Gemeinschaftsgefühls, vielleicht Rudiment suggestiver Verstärkung der Energie des Ausübenden, [...].“ Ebd., S. 20f. 200 „Aus der Erfahrung des Leibes durch sich selbst wächst die Gestaltung. Der Tänzer tanzt nicht vor Spiegeln, sein Spiegel ist die innere leibliche Schau. Er erfährt den Leib, es setzen sich bei ihm innere Erlebnisse in äußere Bewegung um, [...].“ Ebd., S. 26f.
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„Es handelt sich darum – [...] –, das Darstellungsmäßige aus jener zu weit gewordenen Distanz wieder herauszubekommen, um das Erleben des Menschen am Geschauten wieder zu entzünden und in vertieftem Sinn wirksam werden zu lassen. Es ist der Kampf, den Zuschauer aus dem passiven Zustand des nur peripher berührten Genießers in den aktiven Zustand zu verwandeln (in einen Menschen, der, im Lebenszentrum erfasst, interessiert mitschwingt) [...]. Und der Weg dazu führt, [...], von der Form her gesehen über die Synthese der Bühnenfaktoren, von denen die sinnliche Wirkung ausgeht.“201
In der Zusammenführung der Bühnenelemente „Licht als farbig schwingende Luft, Klang als tönend schwingende Luft und Tanz als sichtbar schwingende Gestalt“202 im Hinblick auf ihre gemeinsame sinnliche Basis, die Böhme mit Rhythmus und Bewegung v.a. über das Körperlich-Tänzerische definierte, formulierte er das Theater als neue synästhetische Kunst.203 Das „Rhythmisch-Dynamische“, das Licht, Klang und Tanz in der sinnlichen Wirkung synästhetisch verbindet, so Böhme, „ist kein Abstraktum, keine kühle Formangelegenheit, sondern quillt aus den Tiefen des Menschentums, aus dem Schöpferischen selbst: es ist das Lebendigste vom Lebendigen“204, womit er die Kombination der Bühnenelemente zugleich anthropologisierte und naturalisierte. Beispielhaft für eine Bühnensynthese, die ein synästhetisches Mitschwingen der Zuschauer bewirke, stellte Böhme das Bühnenwerk Totenmal. Dramatisch-chorische Vision für Wort, Tanz, Licht von Albert Talhoff aus dem Jahr 1930 mit Mary Wigman als Solotänzerin heraus. Inhaltlich formulierte Totenmal eine Klage über die Toten im Ersten Weltkrieg unter der Verwendung von Masken, Tänzen, Bewegungs- und Sprechchören, Klängen und farbigem Licht. In der Schwäbischen Volkszeitung war darüber zu lesen: „Er [Talhoff] schuf mit neuen Mitteln ein neues Werk [...] Unser Auge und unser Ohr sind noch nicht so gebildet, um sich in die Sphäre künstlerischer Empfangsbereitschaft und -fähigkeit begeben zu können, in der man aus Linien, Bewegung und Licht Musik und Rhythmen 201 Böhme, Fritz (1931), S. 15. 202 Ebd., S. 16. 203 „Sie müssen in einem gestaltmäßigen Sinn geeint, d.h. gemeinsam geboren sein, müssen von Künstlern stammen, die diese Synthese der Materialsphären der Künste elementar in sich tragen, und dürfen nicht nur nebeneinander gesetzt, füreinander zurechtgemacht erscheinen. [...] Was sie alle eint, ist die Urkraft der rhythmischen Bewegtheit. Sie ist die Urquelle des Schöpferischen, der Weg des formenden Ausdrucks. [...] Von hier aus gesehen hat die Erforschung der Entsprechung Farbe-Ton und die Forderung der Verwirklichung der Entsprechungen im Bühnengeschehen einen über Wissenschaft, Kunst und Ästhetik hinausweisenden, im menschlichen Gesamtverhalten ruhenden Grund.“ Ebd., S. 15. [Herv. i.O.] 204 Ebd., S. 26.
218 | S YNÄSTHESIE ALS DISKURS und Lieder hört, in der umgekehrt Klänge, Rhythmus und Melodie, Farben-, Licht- und Linienerlebnisse auslösen; [...], in der die Abgrenzungen unserer bisherigen Sinnengetrenntheiten keine Geltung mehr haben [...] Eine neue Welt der Schaubühne tut sich auf. [...] Der seelische Leidensgang der Menschheit, [...], zieht vorüber in seltsamen Tanzbildern, getaucht in neue Lichtrhythmen und -akkorde, untermalt und getragen von einer primitiv anmutenden Musik, wie aus fremder, ferner Tempelstimmung geboren. Sie klirrt und tönt, braust und sirrt, singt und sinnt, [...] in Klängen und Rhythmen einher, wie urtümliche Naturlaute, wie Vogelrufe, wie Meer und Wind, [...], eine Musik, grell anspringend, wogend und verebbend, ohne Melodie, die dafür ganz und gar aufgenommen ist von den Bewegungslinien der Einzel- und Gruppentänze. Diese werden unterbrochen vom sinndeutenden Wort des zelebrierenden Chores, der Sprech- und Gebärdenfiguren, geführt vom Aufruf der Sakralfigur. Es gibt keine ‚Fabel‘ des Stückes, nur den gespielten Sinn, verdeutlicht im neuen synthetischen Gesamtwerk: [...] aus dem chaotischen Grauen und Gram der alten Menschheit ersteht sieghaft der Dom einer neuen.“205
Paradigmatisch spiegelte sich im Totenmal sowohl inhaltlich als auch formal der synthetische Erneuerungskult, der den kulturellen Diskurs der Zeit beherrschte. Der Verherrlichung archaischer, primitiver Muster wurden völlig neue synthetische und mediale Wahrnehmungserfahrungen hinzugefügt, die nicht als Widerspruch erschienen, sondern einen Prozess ihrer Naturalisierung initiierten. Talhoff selbst war beim zweiten Kongress für Farbe-Ton-Forschung mit einem Vortrag über Das dramatisch-agierende Licht, seine symbolische und szenische Funktion präsent. Darin prophezeite er eine Rückkehr zum Theater als kultischen Dienst, das den Zuschauer in den Raum des Universalen, Überpersönlichen aufnehme und den Menschen in seiner Totalität „als synthetisches Instrument“206 aus Körper und Geist erfasse.207 Zeichen für dessen Auferstehung und Erneuerung sei ein neues Interesse seiner Zeit am Körper, an rhythmischen Bewegung und dem Tanz. Der Körper als Transformator des Unsagbaren, der dadurch Sprache „und [...] Schrift unaussagbarer Erlebnisse hinein in den Raum“208 werde, markierte für Talhoff nicht nur den Beginn eines neuen darstellerischen Ausdrucks des „tänzerischen Tragöden“209, sondern verkörperte zugleich einen neuen Menschen, der – kosmozentrisch statt egozentrisch, Gefühl statt Intellekt, Intuition statt begrifflichem Denken – dem Mysterium
205 Zit. nach Chorische Bühne e.V. München (1930). 206 Talhoff (1931), S. 27. 207 Vgl. ebd. 208 Ebd., S. 31. [Herv. i.O.] 209 „Es scheint, daß der tänzerische Tragöde den mimisch-wortlichen abzulösen beginnt, [...], um das neu erfundene Instrument, den rhythmisch-melodischen Körper in Aktion zu setzen. Das Gesicht wird Maske, der Leib Gefäß: [...].“ Ebd., S. 31.
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der Gemeinschaft verpflichtet war.210 Gipfelte das alte Menschenideal in der Maschine und im Krieg, so sei der „Held der kommenden Tragödie, der Geist einer neu gewonnenen Universalität, einer neu gewonnenen Verklärung und Umbildung der Materie, [...] der von aller intellektuellen Notzucht befreiten Natur [...], die sowohl die dämonische als auch die göttliche Welt brüderlich ins Ich fasst, die Trennung zwischen Leib und Seele nicht kennt, und so auch nicht künstliche Isolierung zwischen der Gottheit und ihrem Geschöpf“211. Im Tänzer als Sinnbild des neuen Menschen verdichtete sich bei Talhoff in Anlehnung an Nietzsche „die Geburt der Tragödie aus der Sakralität der menschlichen Wirklichkeit“212: „Dieser Held wird die Synthese vollziehen. Er wird seinen Gläubigern im Blute predigen, und sein Reich wird die schaffende Allmacht des Gefühles sein, [...]. In seinem Blick wird jede Erscheinung zum Symbol: Klang, Farbe, Laut, Rhythmus, Form werden in ihrem synthetischen Zusammenspiel zum Träger menschlicher Totalität.“213
Verwirklichte sich diese Vision einer Totalität der Empfindungen im Synästhetischen, so sah Talhoff in der Farbe-Ton-Forschung einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung der Generierung synthetisch-ganzheitlichen Empfindens.214 Beziehen sich Talhoffs und auch Böhmes Äußerungen explizit auf das Theater und den Tanz, so lässt ihr pathetischer Charakter eine Nähe zur nationalsozialistischen Propagandarhetorik nicht verleugnen. Ist die Frage, welche Rolle Talhoff, Böhme, Anschütz, die Farbe-Ton-Forschung oder der Ausdruckstanz im Dritten Reich einnahmen, an dieser Stelle weniger von Interesse,215 so offenbart sich jedoch die Anschlussfähigkeit synästhetischer Konzepte im Rahmen totalitärer Gesellschafts- und Gemeinschaftsentwürfe. Kunst im Zeichen des Synästhetischen war in den 1920er Jahren Element von Zukunftsvisionen eines neuen synthetischen Zeitalters mit einer Nähe zum Absoluten und zu kultisch-religiösen bis totalitären Ansprüchen.216 Dabei ver210 Vgl. ebd., S. 32. 211 Ebd., S. 34. 212 Ebd., S. 40. 213 Ebd., S. 34. 214 „Ein nicht geringer Anteil an der Realisierung dieser Idee wird der Farbe-TonForschung als einer Wissenschaft zur Ergründung der menschlichen Sinnesbeschaffenheit und Sinnesfunktion zufallen, und so hat sich denn endlich wieder das Wunder vollzogen, daß das wissenschaftliche Denken sich der künstlerischen Anschauung verbindet, womit nichts anderes gesagt sein kann: als daß die Ablösung des analytischen Geistes durch den Willen zur synthetischen Welterfassung erfolgt ist.“ Ebd., S. 41. 215 Vgl. dazu z.B. Stern (2002). 216 So argumentierte z.B. der tschechische Maler und Musiker Arne Hošek in seinem Vortrag Elemente der Allkunst auf dem zweiten Kongress für Farbe-Ton-Forschung, die
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wies der Synthesegedanke vor dem Hintergrund einer sich permanent verändernden, sich zunehmend ausdifferenzierenden, technisierten und medial vermittelten Welt, die nur in der Totalität einer physiologisch basierten Bombardierung aller Sinne zusammengehalten werden konnte, auf den konstruktiven Charakter dieser Entwürfe. Das Synästhetische im Kontext der fluktuierenden Wirklichkeitserfahrungen und flüchtigen Bewegung garantierte eine intensive Sinneserfahrung, die den ganzen Menschen berührte und erschütterte. Im Bild des Mitschwingens löste das Synästhetische selbst imaginäre, innere Bewegungen aus, die es in Kombination mit dem Tanz und dem Film als Verhandlungsraum sich ständig wandelnder Wahrnehmungserfahrungen zu einer neuen Existenzweise des Menschen stilisierten. In allen Künsten erfuhr das Element der Bewegung direkt oder indirekt eine neue Bewertung, die sich in Affinitäten zum Tanz oder zum Filmischen manifestierte. So plädierte z.B. der tschechische Avantgardist und Pionier der Lichtkunst Zdeněk Pešánek auf dem zweiten Farbe-Ton-Kongress in seinem Vortrag über Bildende Kunst vom Futurismus zur Farben- und Formkinetik für eine neue bewegte Malerei als „bildende Kinetik“217, die v.a. die affektiv-emotionale Wirkung erhöhen sollte.218 Der Kinetismus als neue Kunst bringe in der Fläche Filme, Farbenklaviere und Reflektorspiele hervor und im Raum Feuerwerk, Lichtplastiken, Fontänen und Farbenilluminationen.219 Führte er seine Farbenkinetik mit einem selbst entworfenen Farbenklavier vor,220 so war diese neue Kunst für ihn v.a. mit einer neuen künstlerischen Methodik verbunden, die nicht nur auf Intuition basiere, sondern nach wissenschaftlichen Prinzipien vorgehe, nach denen es einzig und allein gelingen werde, „durch eine neue Synthese aus alten und neuen Elementen die Grundlage einer neuen Epoche zu schaffen“221. Umfasste eine so verstandene Kunst für Pešánek Arbeitsfelder sowohl für Philosophen und Psychologen als auch für Elektriker und Techniker, die neue Farbkinetikinstrumente konstruierten, so deutete sich v.a. eines an: Die Kunst selbst wurde technisch aufgerüstet, während das Synästhetische die neue Ästhetik in der Natur der Wahrnehmungsmechanismen verankerte. Diese Synthese aus alten und neuen Elementen verkörperten die Synoptiker in Reinform, die Synästhesie erhebe die Kunst zur Allkunst: „In allen Zeitaltern einer absoluten Kultur schufen sich die Künste ihre Gesetze allein, [...]. In diesen Gesetzen schlummerten mathematische und geometrische Regeln, [...]. Sie waren eine Widerspiegelung kosmischen Geschehens, und in jedem Kunstwerk war die ganze Entwicklung eingeschlossen.“ Hošek (1931), S. 58. 217 Pešánek (1931), S. 194. 218 Vgl. ebd., S. 197. 219 Vgl. ebd. 220 Seine Farbenkinetik präsentierte er u.a. Gehörlosen, die dadurch Musik nachvollziehen können sollten. Vgl. ebd., S. 198. 221 Ebd., S. 200.
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als „Kulturalchemisten des 20. Jahrhunderts, [...] an der glücklichen Entdeckung des ‚Absoluten‘ arbeiten und darauf bauen“222. Das Synästhetische spielte dergestalt nicht nur bei der Entwicklung und Etablierung einer neuen Kunst eine wesentliche Rolle, sondern generierte entscheidende Schnittstellen zwischen Kunst, Medien, Technik, Populär- und Alltagskultur bis hin zur Unterhaltungsindustrie.223 Diese Affinität synästhetischer Konzepte zum Technischen und Medialen verweist wiederum auf den Ursprung des Synästhetischen in den neuen Medientechniken des 19. Jahrhunderts und den damit verbundenen neuen Wahrnehmungsmustern der Moderne, die die Kunst in konkrete Wahrnehmungspraktiken und -erfahrungen umsetzte.
III.5 S YNÄSTHETISCHE M ASCHINEN . D IE K UNST DER S YNCHRONISIERUNG VON L ICHTEFFEKTEN UND ELEKTRISCHEN K LÄNGEN Im Dunstkreis der Begeisterung für Synästhesien in den 1920er und 1930er Jahren entstanden neue Kunstformen, die in bisher nicht gekanntem Ausmaß mit elektrisch-technischen Apparaturen und Apparaten gekoppelt waren. Das veränderte nicht nur Konzeptionen des Synästhetischen, sondern offenbarte v.a. deren Kopplung an mediale Techniken und Praktiken. Die Grenzen zwischen synästhetischen Kunstformen, Wissenschaft, Technik und Populärkultur wurden dabei zunehmend fließend. Gingen diese Kunstformen zum Teil aus der Synästhesieforschung selbst hervor, so beeinflussten sie diese wiederum in dem sie als deren Beweisobjekte und Bebilderung fungierten. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde auf diese Weise ein Bezug der audition colorée zur Idee einer Farbenmusik hergestellt, die historisch bis zur Sphärenharmonie der Antike zurückverfolgt wurde.224 Im Anschluss tauchten bereits um 1900 eine Reihe von Farbmusikinstrumenten, wie z.B. die Farborgel des Engländers Alexander Wallace Rimington von 1895 oder die des Malers Bainbridge Bishop von 1877 auf, die in eine Geschichte der Synästhesie integriert
222 Ebd., S. 201. 223 So beschreibt auch Claus Pias: „Trotz früher Realisierungsversuche wie der ‚Lichtorgel‘ Wallace Rimingtons (1895) entstand erst in den 20er Jahren eine breite Diskussion um synästhetische Gestaltungen und deren Kunstanspruch. Versuche der Entgrenzung der klassischen Kunstgattungen führen in dieser kurzen Phase viele Künstler zur Lichtund Tontechnik, auf die sich manche nach der Etablierung des Ton- und Farbfilms ganz verlegten.“ Pias (1997). 224 Umfassende Darstellungen der Geschichte einer Farbenmusik finden sich bei Jewanski (1995) oder Kienscherf (1996).
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wurden und an der Verankerung des Synästhetischen in ,uralten‘ Fragestellungen der Menschheit mitwirkten.225 Abbildung 8: Die Farborgel Alexander Wallace Rimmingtons
Aus: Rimmington (1912), S. 164.
Diese farbmusikalischen Versuche können aber auch als Experimentierfeld praktischer Umsetzungen technisch-medialer Kopplungen von Bild und Ton verstanden werden, die über das Synästhetische naturalisiert wurden. Im Unterschied zu den frühen Versuchen, die v.a. auf überraschende Effekte abzielten, deklarierte sich die Farblichtmusik in den 1920er Jahren explizit als neue Kunstform, die sowohl spezifische Techniken als auch eine eigene Ästhetik und eine Kunsttheorie hervorbrachte, was nicht zuletzt den verbesserten technischen Möglichkeiten geschuldet war.226
225 Vgl. Jewanski (2006a). 226 So schrieb z.B. Annelies Argelander 1927 in ihrer Abhandlung Das Farbenhören und der synästhetische Faktor der Wahrnehmung: „Was von Benedikt und anderen Zeitgenossen als schwere geistige Anomalie angesehen wurde, gilt heute als Voraussetzung für das Verständnis und den Genuß einer Richtung der modernen Musik, der Farblichtmusik, die in den letzten Jahren aus den Versuchen Skrjabins [...] in der breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist und die im Sommer 1925 durch den Komponisten
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Der seit 1915 in Berlin lebende ungarische Pianist und Komponist Alexander László, der in enger Verbindung zur Farbe-Ton-Forschung stand, war einer der populärsten und bekanntesten Farblichtmusiker Deutschlands in den 1920er Jahren. Die Farblichtmusik als völlig neue Kunstform konzipierend, entwarf er mit dem Sonchromatoskop nicht nur ein ihr eigenes Instrument und eine Notationform, die Sonchromographie, sondern gründete darüber hinaus im März 1925 die Gesellschaft für Sonchromismus, die den Startpunkt einer Akademie zur Ausbildung im Farblichtspiel bilden sollte. Weit darüber hinaus, experimentelle Spielerei oder Verstärkung des musikalischen Ausdrucks zu sein, ging es László um die Begründung einer neuen Gattung und Kunstlehre, die er in der Schrift Die Farblichtmusik von 1925 darlegte. Ausgehend von seiner persönlichen Erfahrung, sich während des Klavierspiels Bilder vorzustellen, die er selbst als Synästhesien interpretierte,227 und getrieben von der Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs aller Künste wollte er mittels der Farblichtmusik nicht nur seine inneren Bilder sichtbar machen, sondern v.a. die Künste einander wieder anähern.228 László glaubte, dieses Ziel durch eine Dynamisierung der Künste mit explizit technischen Hilfsmitteln zu erreichen.229 Die Farblichtmusik sollte v.a. die Musik und die Malerei verbinden und als abstrakte Malerei mit Tönen Musik in Farbe und Bewegung überführen, wobei das Synästhetische den Beweis ihres in der Psyche verankerten Zusammenhangs lieferte.230 Die „Farblichtmusik als Kunstgattung“, so László, „ist rein psychischer Natur, sie ist Sache des Sentiments“231 und spreche direkt aus dem Gefühl des Künstlers. Deshalb lehnte er starre Zuordnungen eines Tones zu einer Farbe ab, da die Verbindung von Musik und Malerei „keine unbeweglich feststehende, sondern eine subjektiv von Fall zu Fall zu entscheidende“232 sei. Darüber hinaus widersprächen die Wahrnehmungsgewohnheiten diesen Verfahren, denn das Auge sei nicht in gleicher Weise László mit einem von den Ernemann-Werken gebauten Instrument eine breitere Fundierung gefunden hat.“ Argelander (1927), S. 3. 227 „Schon als 13-jähriger machte ich die sonderbare Entdeckung, [...], dass ich umso ‚schöner’ spielte, [...], je freier ich die herrlichen Gebilde vor meinen inneren Auge kreisen, huschen, mit Licht und Farbe durchfluten liess. Ich fragte meine Mitschüler auch um ihre licht-glanz-frohen Mosaikspiele. Sie sahen mich verwundert an und nannten mich einen Narren. [...] Kein Mensch erfuhr mehr von dem eigenen Reich meiner Wunder. [...] Später, [...] fragte ich mich: ‚Warum lässt sich nicht diese Farbenkomposition, die gleichzeitig mit der Musik in mir entstand, genau so vorführen, wie die Musik auf dem Klavier?“ László (2006), S. 302f. 228 Vgl. László (1925a), S. 20. 229 Vgl. ebd., S. 21. 230 Vgl. ebd., S. 25. 231 Ebd., S. 30. 232 Ebd., S. 19.
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auf schnelle Veränderungen eingestellt sei wie das Gehör.233 Lászlós Überlegungen zu einer Farblichtmusik fokussierten sich auf kulturelle Wahrnehmungspraktiken der Annäherung und Synchronisierung von künstlerisch, d.h. auch künstlich, generierten Bildern und Klängen. In diesem Sinne fügte László der Tondichtung eine ihr analog strukturierte Farblichtdichtung hinzu, indem er einerseits musikalische Gesetzmäßigkeiten wie Harmonie, Kontrapunkt, Dynamik, Rhythmik, Lautstärke und musikalische Formen wie Sonaten- oder Liedform auf das farbige Licht übertrug und andererseits die Möglichkeit der Darstellbarkeit der Musik in grafischen und geometrischen Formen nutzte. Der Verweis auf die Psyche bei der Produktion und Rezeption farblichtmusikalischer Kunstwerke, die sich László gleichermaßen in synästhetischen Prozessen vorstellte,234 diente demnach eigentlich der Naturalisierung einer rein technischen Synchronisierungsprozedur. So ließen sich denn auch Lászlós Vorstellungen des Farblichts zur Musik nur mittels einer gigantischen Bühnenapparatur aus mehreren Leinwänden, auf denen sich mittels Mehrfach-Diaprojektion ein abstraktes Farb- und Formenspiel entwickelte, und dem Sonchromatoskop, bestehend aus einem Mischpult und mehreren Scheinwerfern, in die farbige Diapositive und Formschablonen eingesetzt werden konnten, verwirklichen. Die ersten Versuche zur Konstruktion dieses Apparates, für den der Kunstmaler Matthias Holl Aquarelle malte und auf Diapositive übertrug, machte László in seinem Haus in Starnberg bei München, wo es 1924 eine erste private Vorführung gab.235 Am 16. Juni 1925 fand beim 55. Deutschen Tonkünstlerfest die erste öffentliche Vorführung von Lászlós Farblichtmusik statt, die, beginnend mit einem Vortrag Lászlós, in dem er die Farblichtmusik als „Weg zur Verwirklichung unserer alten Träume“ und „Ausbau einer neuen Kunst“236 propagierte, trotz technischer Schwierigkeiten eine Flut von ca. 50 Artikeln in verschiedensten Tageszeitungen zur Folge hatte.237 233 „[...] das menschliche Ohr ist durch mehrtausendjährige Gewöhnung dahin gelangt, Töne und Geräusche [...] mit immer grösserer Schnelligkeit aufzunehmen, [...]. Demgegenüber ist das menschliche Auge auf den schnellen Wechsel der Farben nicht gleicherweise eingestellt, und es wird ebenso eine tausendjährige Gewohnheit durch Vererbung notwendig sein, um die Schnelligkeit – mit dem Auge zu erfassen, zu sehen, zu erkennen – Tatsache werden zu lassen.“ László (1925b), S. 36. 234 „Ist dieses Kunstwerk ein Produkt der gebärenden Seele, so wird auch die Aufnahme des Werkes durch die Sinne des passiven Individuums in diesem eine Wirkung erzielen, welche gleich ist mit dem Ursprungsempfinden des aktiven Individuums bei Schaffung des Kunstwerkes.“ László (1925a), S. 25. 235 Vgl. Jewanski (2006b), S. 214. 236 László (2006a), S. 273. [Herv. i.O.] 237 László spielte Präludien für Klavier und Farblicht, während ein Mitarbeiter das Mischpult des Sonchromatoskops bediente, das hinter dem Publikum aufgebaut war. Licht-
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Abbildung 9: Die Hauptschweinwerfer des Sonchromatoskop von Alexander László
Aus: László (1925a).
Die Bewertungen fielen durchaus widersprüchlich aus.238 Anschütz z.B. heroisierte László als Synästhetiker und Prototypen eines neuen Künstlers und hob ihn und seine Farblichtmusik gemeinsam mit abstrakten Filmen von Walter Ruttmann und den Reflektorischen Farblichtspiele von Ludwig Hirschfeld-Mack mit als Bestätigung allgemeiner synästhetischer Wahrnehmungsmechanismen auf dem ersten Farbe-Ton-Kongress im März 1927 hervor. Die Hauptkritik an der Farblichtmusik quellen waren vier technisch veränderte Diaprojektoren hinter dem Publikum und vier kleinere Rampenwerke. Vgl. Jewanski (2006b), S. 217. 238 Die DAZ schrieb z.B.: „Diese merkwürdige Sache ist von [...] Alexander László erfunden worden, [...]. Was man [...] an diesen zwei Vormittagsstunden sah, das wirkte allerdings keineswegs so überzeugend, daß man die Notwendigkeit solcher Versuche eingesehen hätte. Was tut Herr László? Er setzt sich ans Klavier, spielt ein Präludium, das beispielsweise den Titel ‚Rot’ führt, während gleichzeitig auf einer ausgespannten Leinwand phantastische Figuren, entsprechend gefärbt, vorüberfließen. Man sieht die Sache eine Weile lang geduldig an, [...] und fragt sich schließlich, was das noch mit Musik zu tun hat.“ Deutsche Allgemeine Zeitung (1925). Dagegen schrieb Otto A. Graef: „Die Verbindung von Musik und Malerei, [...] ist ein Problem, das seit Jahrhunderten immer wieder auftaucht [...], dessen Lösung aber bis heute noch nicht gefunden war. Diese konnte nur einem Manne gelingen, der im besten Sinne des Wortes Polyhistor, die Fähigkeiten des Künstlers mit denen des Wissenschaftlers in solchem Maße vereinigt, daß er über alle Theorien hinaus zur praktischen Verwirklichung vorzuschreiten vermochte. Alexander László, [...] ist es gelungen, eine Synthese von Ton und Farbe herzustellen, [...].“ Graef (1925).
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hätte, dem Musikwissenschaftler Jörg Jewanski zufolge, darin bestanden, dass sich über die für den Zuschauer willkürliche Beziehung zwischen Musik und Licht kaum Inhalte transportierten und die Farbfolgen eher zum Bilderraten animierten.239 Abbildung 10: Eine farblichtmuskalische Aufführung, Illustration aus Alexander Lászlós „Die Farblichtmusik“
Aus: László (1925a), S.37.
Grund für das Scheitern der Ansprüche der Farblichtmusik als Kunst sei demnach, so Jewanski weiter, die individuelle Ausprägung der Synästhesien gewesen, von der man damals noch wenig gewusst hätte, so dass László davon ausgegangen sei, seine Bilder zur Musik wären nachvollziehbar. Dagegen ist jedoch anzumerken, dass die individuellen Eigenschaften des Phänomens bereits um 1900 sehr wohl bekannt waren und nur in der spezifischen Konzeption des Synästhetischen in den 1920er Jahren unter Berufung auf universelle Wahrnehmungsprinzipien verleugnet wurden. Dass die Farblichtmusik nicht die beabsichtigte Wirkung erzielte, muss vielmehr anders begründet werden, denn bemerkenswerterweise schadete die Kritik dem Interesse an Lászlós Versuchen keineswegs. Pendelte die Öffentlichkeit zwischen Euphorie und Ablehnung, so tourte László die folgenden zwei Jahre mit der Farblichtmusik erfolgreich durch ganz Deutschland, wobei sich die eigentliche Innovation der Farblichtmusik herauskristallisierte. So wurde ihm von Mai bis Oktober 1926 eine eigene Halle bei der Düsseldorfer GeSoLei, einer an die Weltausstellungen angelehnten Ausstellung mit den drei Abteilungen Gesundheit, Soziale Fürsorge und
239 Vgl. Jewanski (2002a), S. 242.
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Leibesübung, zur Verfügung gestellt, in der er täglich acht bis zehn Vorstellungen à 30 Minuten präsentierte, die von insgesamt 41.499 Zuschauern besucht wurden.240 Boten diese Vorführungen für László eine experimentelle Plattform, indem er sich, einem Wissenschaftler gleich, mittels eines Fragenkataloges direkt die Eindrücke der Zuschauer rückmelden ließ, so waren sie im Gesamtkonzept der GeSoLei-Ausstellung als Demonstrationen des neuesten Standes der Lichttechnik deklariert.241 Unter dem Deckmantel einer Verwirklichung „alter Träume“ der Verbindung von Farbe und Ton offenbarte sich die eigentliche Stoßrichtung der als neue Kunst propagierten Kopplung von Farbe und Ton, die vielmehr als Ausloten neuer technischer Möglichkeiten und ihrer Anwendungen im Alltag gedacht werden muss.242 Darüber hinaus lässt sich spekulieren, dass die für künstlerisch innovativ gehaltene Kopplung von Bild und Ton bereits so weit in die Wahrnehmungspraxis eingegangen war, dass sie nicht mehr den Status einer Kunst beanspruchen konnte und vielmehr auf Fragen der technischen Realisierung der Verbindung von Licht- und Klangeffekten reduziert wurde. Unter der Annahme einer elementaren, verschütteten Verbindung zwischen Farbe und Ton in jedem Menschen, die nur beim Synästhetiker an die Oberfläche trete, wurde die Farblichtmusik lediglich zur Bebilderung, Hervorhebung und Verdopplung der bereits in jedem Zuschauer existierenden synästhetischen Verbindungen.243 Kann sie insofern einen gewissen ,Aha-Effekt‘ erzeugen, so musste ihr Kunstanspruch scheitern, ganz ähnlich wie Wagners oft kritisierte Verdopplung der Künste im Gesamtkunstwerk. Was sich jedoch rund um die Farblichtmusik und ihren Boom in den 1920er und 1930er Jahren abzeichnete, war eine erste Blütezeit elektronischer Instrumente und synästhetischer Maschinen, die neue künstlerische und mediale Techniken, Methoden und Praktiken erprobten. Eine Reihe von Künstlern wurden in der Überschreitung der Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik zu Konstrukteuren 240 Vgl. Jewanski (2006b), S. 221. 241 Vgl. ebd., S. 222f. 242 So schreibt auch Claus Pias: „Kunsthandwerk statt Gesamtkunstwerk lautete der Tenor der Kritik, allenfalls geeignet für Vergnügungsparks und Textilindustrie. Ebenda fand man László 1926, im Zenit seiner Popularität: auf der monumentalen GeSoLei-Ausstellung in Düsseldorf, zwischen Feuerwehrturm und ‚Woglinde-Wellenbad‘. Im Pavillon ‚Lichttechnik‘, dessen Spektrum von Physiologie bis Küchenbeleuchtung reichte, gab László insgesamt 1.200 Vorstellungen, die von fast 42.000 Besuchern gesehen wurden.“ Pias (1997). 243 Auch László ging von dieser Prämisse aus, wie er in einem Vortragsmanuskript 1939 notierte: „Ich behaupte, dass in den meisten Menschen das Farbenhören irgendwie schlummert. Daher nenne ich die zwangsweise hervortretenden synoptischen Fälle das absolute Farbenhören, und die durch Erziehung und Übung ausgelösten Bildassoziationen das relative Farbenhören.“ László (2006b), S. 323. [Herv. i.O.]
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und Ingenieuren.244 Damit markierte die Farblichtmusik in den 1920er und 1930er Jahren eine Veränderung des Synästhetischen hin zu medientechnischen Fragen einer Synchronisierung und Parallelisierung von Bild und Ton, die zunehmend auf die Kombination und Synthese verschiedener Medien hinausliefen und sich in der Entwicklung des Ton- und Farbfilms fortsetzten, als dessen Vorbereitung und Vorwegnahme die Farblichtmusik betrachtet werden kann. So notierte László selbst in einem Vortragsmanuskript vom Dezember 1939, dass die Erfindung des Farbfilms die technische Seite der Farblichtmusik gelöst hätte.245 Er selbst wechselte ab 1928 in die Filmbranche und komponierte Filmmusik, dirigierte Tonfilmorchester und war bis 1933 Musikdirektor des Emelka-Filmkonzerns in München.246 Mit Machtergreifung der Nationalsozialisten emigrierte László 1933 nach Ungarn und floh 1938 mit Hilfe von László Moholy-Nagy, der ihn an das New Bauhaus in Chicago holen wollte, in die USA. Da das New Bauhaus aus finanziellen Gründen schließen musste, übernahm László die musikalische Leitung einer Max-Reinhardt-Show. An der Farblichtmusik als neue Kunstform hielt er dennoch weiterhin fest und gründete 1939 mit dem Komponisten John W. Haussermann Jr. die American Colorlight-
244 So entwickelte z.B. Mary Hallock Greenewalt um 1920 die Farborgel Sarabet, die – über eine Abblendvorrichtung mit 267 Helligkeitsstufen verfügend – einen ganzen Raum mit Farbe ausfüllen konnte, und einen Visual-Music Phonographen, der bewegte Farben auf eine Glaskuppel warf, die ein Grammophon abdeckte. Thomas Wilfred nannte sein um 1920 entwickeltes Instrument Clavilux und bezeichnete seine rein visuellen Kompositionen als Lumia, die er ohne Musik präsentierte. Wladimir BaranoffRossiné baute um 1920 ein Piano optophonique, Ludwig Hirschfeld-Mack und Kurt Schwerdtfeger experimentierten am Bauhaus mit Farblichtspielen und -skulpturen, Raoul Hausmann entwarf um 1925 das Optophon, Zdeněk Pešánek einen FarbspielAutomaten, bei dem Glühbirnen mit der Klaviatur gekoppelt waren, so dass er einen ,Glühbirnen-Tanz‘ erzeugen konnte. Anatol Vietinghoff-Scheel konzipierte mit dem blinden Klavierbauer Kanzler einen Lichtapparat, das Vietinghoff-Kanzler’sche Chromatophon, László Moholy-Nagy um 1930 den Licht-Raum-Modulator, Charles Dockum um 1940 den MobilColor Projector und Oskar Fischinger 1950 einen Lumigraphen. Parallel dazu entstanden in dieser Zeit Instrumente, die auf elektronischem Wege Klänge erzeugten, wie z.B. 1926 das Sphärophon von Jörg Mager, von 1920 bis 1928 das Theremin von Leon Theremin oder 1930 das Trautonium von Friedrich Trautwein und Oskar Sala, die zu Vorbereitern einer elektrisch basierten Musik wurden. Vgl. Moritz (1987), S. 31. 245 Vgl. László (2006b), S. 321. 246 Beispielsweise komponierte er die Musik für G.W. Pabsts Film Westfront 1918 von 1930. Vgl. Jewanski (2006b), S. 253.
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Music Society, mit der er mit neuer Technik und neuen Kompositionen seine Versuche für kurze Zeit noch einmal aufnahm.247
III.6 Z WISCHEN K UNST UND U NTERHALTUNGSINDUSTRIE . D ER F ILM ALS P ARADIGMA DES S YNÄSTHETISCHEN In den 1920er Jahren traten erstmals, vermittelt auch über die Farbe-Ton-Forschung, Konzeptionen des Synästhetischen direkt mit dem Medium des Films zusammen, dessen Techniken höchst diffizile Bild-Ton-Interaktionen ermöglichten. Eine ganze Reihe von Künstlern wandte sich in der Fokussierung auf den Körper und seine Bewegung filmischen Mustern und Ästhetiken zu, die die Kopplung von Sinneserfahrungen in den Bereich des Medialen verlagerten. Dabei offenbarte sich nicht nur die Affinität von Konzepten des Synästhetischen zu medialen Wahrnehmungsformen und -praktiken, sondern das Synästhetische selbst wurde zur Projektionsfläche und Spiegelung der medialen Transformation einer ganzen Kultur, die es zugleich stimulierte. Dies beinhaltete nicht nur neue Formen des Sehens oder Hörens, sondern darüber hinaus völlig neue Erkenntnisstrategien und Wissensformen, kurzum die gesamte Art und Weise des Fühlens und Denkens. War der Film massenwirksamer als alle bisher dagewesenen Kunst- und Unterhaltungsformen und trat zu den klassischen Künsten in Konkurrenz, so schien insbesondere der Stummfilm eine, wie Inge Baxmann es beschreibt, mit dem Auge nicht fassbare, magisch-physiognomische Dimension der modernen Lebenswelt zu offenbaren.248 Im Insistieren auf die Wiederbelebung vermeintlich archaischer Wahrnehmungsformen ging es dabei jedoch um das Ausloten neuer Medientechniken und die Installierung neuer Wahrnehmungsmuster, die sich mit Konzeptionen des Synästhetischen deckten.249 Der Film forderte nicht nur synästhetische Wahrnehmungsweisen heraus, sondern produzierte diese auch ganz bewusst. So bezeichnet Jan Reetze den Film grundsätzlich als „Medium synästhetischer Illusion“250, denn insbesondere
247 Ab Februar 1940 hatte er eine Professur für Klavier und Musiktheorie am New York College of Music, wo das Farblichtklavier im Saal des Colleges aufgebaut werden sollte. Da es dafür zu schwer war, schickte László es nach Chicago zu Moholy-Nagy an die School of Design, wo es aus mangelnden Verwendungszwecken 1945 demontiert wurde. Erst Ende der 1960er Jahre begann die Aufarbeitung der Farblichtmusik der 1920er Jahre. László arbeitete ab 1943 in Hollywood, komponierte Musik für ca. 60 Filme und zahlreiche Fernsehserien. Vgl. ebd., S. 260ff. 248 Vgl. Baxmann (2000), S. 61. 249 Vgl. ebd., S. 61. 250 Reetze (1992), S. 20.
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der Stummfilm vermochte durch das Herstellen akustischer Assoziationen mittels bewegter Bilder die Wahrnehmung der Zuschauer zu manipulieren. Bei Fritz Langs Film Metropolis von 1927 schworen mehrere Zuschauer, Klänge und Geräusche gehört zu haben, die durch das besondere Zusammenspiel von Architektur und Licht lediglich imaginär-synästhetisch erzeugt wurden.251 War die Idee des Synästhetischen im Stummfilm dabei zunächst dem romantischen Ideal einer imaginären Vervollständigung eindimensionaler Sinneserfahrungen verpflichtet, so entwarfen frühe Filmtheoretiker wie Béla Balázs, der u.a. 1931 das Drehbuch für Leni Riefenstahls Regiedebüt Das blaue Licht schrieb, in Der sichtbare Mensch von 1924 den Film gegen die Dominanz der Schrift als Ausdruck einer neuen visuellen Kultur und einer damit verbundenen Revolution von Erkenntnis- und Wissensprozessen.252 Habe das Wort die Sprache des Leibes verdrängt, so würde der Film, so Balázs’ Überzeugung, die Entwicklung einer begrifflichen Kultur rückgängig machen.253 Wie Wellek und Benjamin referierte er dabei auf eine synästhetische Ursprungstheorie der Sprache in den Ausdrucksbewegungen des Leibes, die mittels Wort ins Hörbare überführt wurden, wobei der Körper in seiner Materialität an Bedeutung und Ausdrucksfähigkeit verlor.254 Der Film sei dagegen, wie der Tanz, ein Versuch, eine „neue Gebärdensprache“ zu etablieren, die „unserer schmerzlichen Sehnsucht, mit unserem ganzen Körper, [...], Mensch sein zu können [...] und unseren eigenen Leib nicht mehr als eine fremde Sache, als irgendein praktisches Werkzeug mit uns schleppen zu müssen“ entgegenkommt und „der Sehnsucht nach dem verstummten, vergessenen, unsichtbar gewordenen leiblichen Menschen“255 entspringe.256 In dem 251 So schrieb die Filmhistorikerin Lotte H. Eisner: „Mit Licht scheint sogar der Ton erzeugt zu werden: Das Pfeifen der Fabriksirenen wird durch vier grelle Strahlenbündel, die in vier Richtungen vorstoßen, anschaulich zum Ausdruck gebracht, und man glaubt sie fast zu hören.“ Zit. nach Reetze (1992), S. 40. 252 „Nun ist eine andere Maschine an der Arbeit, der Kultur eine neue Wendung zum Visuellen und dem Menschen ein neues Gesicht zu geben. Sie heißt Kinematographie. Sie ist eine Technik zur Vervielfältigung und Verbreitung geistiger Produktion, genau wie die Buchpresse, und ihre Wirkung auf die menschliche Kultur wird nicht geringer sein.“ Balázs (1982), S. 52. 253 Ebd., S. 51f. 254 „Die Kultur der Worte ist eine entmaterialisierte, abstrakte, verintellektualisierte Kultur, die den menschlichen Körper zu einem bloßen biologischen Organismus degradiert hat.“ Ebd., S. 55. 255 Ebd., S. 54. 256 Die auf dem Element der Bewegung fußende Affinität von Tanz und Film äußerte sich besonders in beide kombinierenden Werken wie Picabias Ballett Relâche oder auch Fernand Légers Film Ballet mécanique von 1924 sowie in neuen Filmgenres wie dem Tanzfilm oder dem Musical-Film. Die Hochphase von Tanz im Film fand sich in den
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Glauben, dass körperlicher Ausdruck und Gebärden keiner Worte bedürfen, sondern direkt bedeuten, hielt Balázs den Film für das geeignete Mittel, ein verborgenes Körperwissen wiederzubeleben: „[D]ie ganze Menschheit ist heute schon dabei, die vielfach verlernte Sprache der Mienen und Gebärden wieder zu erlernen. Nicht den Wortersatz der Taubstummensprache, sondern die visuelle Korrespondenz der unmittelbar verkörperten Seele. Der Mensch wird wieder sichtbar werden.“257
Entwarf er den Film als erste internationale Sprache ohne lokale Unterschiede, die in allen Ländern verständlich sei,258 so wirke dieses neu erlangte Körperwissen über das Kino wiederum auf die gesamte Menschheit zurück und schaffe einen neuen Menschen, eine neue Kultur und eine neue Gemeinschaft: „Das bewußte Wissen wird zu unbewußter Sensibilität: es materialisiert sich zur Kultur im Körper. [...] Hier liegt der erste lebendige Keim jenes Normalmenschen verborgen, der als Synthese aus den verschiedenen Rassen und Völkern einmal entstehen wird. Der Kinematograph ist eine Maschine, die, auf ihre Art, lebendigen und konkreten Internationalismus schafft: die einzige und gemeinsame Psyche des weißen Menschen. Und mehr noch. Indem der Film ein einheitliches Schönheitsideal als allgemeines Ziel der Zuchtwahl suggeriert, wird er einen einheitlichen Typus der weißen Rasse bewirken.“259
In diesen Äußerungen offenbarte sich zum einen die utopische Dimension des Films, zum anderen trat zugleich seine evolutionstheoretisch motivierte, normierende und totalisierende Funktion hervor, die bisher, so Balázs, keine existierende Kunst leisten könnte.260 Klingen bereits bei Balázs dezent rassistische Züge an, so erklärt sich aus der Kombination von mythisch-leiblicher Fundierung mit einer die Masse vereinheitlichenden Wirkung das Interesse der Nationalsozialisten am Film
1930er Jahren mit den Protagonisten Fred Astaire, wobei der ganze cinematische Apparat auf den Tanz ausgerichtet wurde, oder Busby Berkley, der die Filmtechniken nutzte, um verschiedene Perspektiven und abstrakte Formationen der Tänzer zu kreieren, die mehr auf das Serielle abzielten. Vgl. Lund (2010), S. 67f. 257 Balázs (1982), S. 53. [Herv. i.O.] 258 Vgl. ebd., S. 56. 259 Ebd., S. 56f. 260 Fehle der Malerei die Bewegung, so dem Theater die Fähigkeit der Darstellung von Monumentalität im Sinne der Physiognomie von Gesellschaften und zur Konzentration auf das Mienenspiel. Vgl. ebd., S. 87.
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als Propagandainstrument.261 Damit der Film wiederum zum Kunstwerk werde, so Balázs, müsse er auf die genaue Abbildung der Realität verzichten und durch expressionistische Stilisierung der Natur und der Dinge als Symbole und Ausdruck innerer Zustände Bedeutung selbst lebendig werden lassen.262 Als neue Wahrnehmungskunst entsprach der Film damit dem Prinzip des Synästhetischen, das Bedeutung erst im Akt des leiblichen Wahrnehmens und Fühlens selbst generierte, wie es Heinz Werner oder Merleau-Ponty beschrieben. In diesem Sinne arbeiteten nicht nur die klassischen Künste daran, filmische Techniken für sich nutzbar zu machen, indem z.B. die Malerei bewegt wurde, sondern zugleich ging es um die Frage nach dem künstlerischen Status des Films und seinen spezifischen ästhetischen Paradigmen. Vor diesem Hintergrund fanden fast zeitgleich zur Kieler Erstaufführung von Alexander Lászlós Farblichtmusik am 3. und 10. Mai 1925 in Berlin zwei Matineen unter dem Titel Der absolute Film im Ufa-Theater am Kurfürstendamm statt, bei denen abstrakte Filme aus sich bewegenden Linien und Formen gezeigt wurden, die auf Grundmuster und -mechanismen der Wahrnehmung verwiesen. In dem Bestreben, den Film als abstraktes Farben- und Formenspiel zu einer neuen Kunstgattung zu entwickeln, ließen sich die beteiligten Künstler von Formmodellen der Musik inspirieren und übertrugen Fugen und Symphonien in die Filmsprache, um eine visualisierte Musik, eine Musik für die Augen und eine bewegte Malerei zu erzeugen.263 Wesentliche Schnittstellen zu Konzepten des Synästhetischen ergaben sich insbesondere durch die auch in die Farbe-Ton-Forschung involvierten Künstler Walter Ruttmann und Ludwig Hirschfeld-Mack. Die Matinee begann mit der Dreiteiligen Farbensonatine. Reflektorische Farbenlichtspiele von dem Bauhausschüler Ludwig Hirschfeld-Mack, die er ab 1922 in Zusammenarbeit mit dem Meister der Bauhauswerkstatt für Holz- und Steinbildhauerei Josef Hartwig und dem Bauhausschüler Kurt Schwerdtfeger entworfen hatte. Hirschfeld-Mack selbst beschrieb die Farbenlichtspiele als „Spiel bewegter gelber, roter, grüner, blauer Lichtfelder, in organisch bedingten Abstufungen aus der Dunkelheit entwickelt bis zur höchsten Leuchtkraft“, bei denen „Farbe, Formen, Musik: in eckigen, scharfen, spitzen Formen; in Dreiecken, Quadraten, Vieleck oder in Kreisen, Bogen und Wellenformen: nach oben, unten, seitwärts in allen Abstufungsmöglichkeiten rhythmisch beherrschter Bewegung [...] zur künstlerisch geplanten orchestralen Darstellung geführt“264 wurden.
261 Auf diesen besonderen Aspekt des Films wies insbesondere Siegfried Krakauer 1927 in seiner Schrift Das Ornament der Masse hin. 262 Vgl. Balázs (1982), S. 93f. 263 Vgl. Weibel (1987), S. 74. 264 Hirschfeld-Mack (1931), S. 109.
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Abbildung 11: Projektionen der „Reflektorischen Farbenlichtspiele“ von Ludwig Hirschfeld-Mack und Kurdt Schwerdtfeger
Aus: Düchting (1996), S. 196.
Als Umsetzung einer Partitur für Musik, Farbe und Licht mittels Klavier und Farblicht erzeugten die Farbenlichtspiele abstrakte kinetische Effekte parallel zur Musik, indem Schablonen von verschiedenen Farben und Formen hinter einem transparenten, von Scheinwerfern beleuchteten Bildschirm durch mehrere Personen von Hand hin und her geschoben wurden. Waren sie damit kein Film im eigentlichen Sinne, so propagierte Hirschfeld-Mack selbst die Farbenlichtspiele als eine neue Kunst, die insbesondere für den Film fruchtbar sein könne.265 Eine weitere Vorführung von Hirschfeld-Macks Farblichtspielen fand im März 1927 auf dem ersten Kongress für Farbe-Ton-Forschung statt. Im Kongressbericht wurde dabei besonders die fühlbare Verbindung zur Musik gelobt, denn „das Verständnis für die zeitlich rhythmische Folge wird durch akustische Hilfsmittel gefördert“266. Auf dem zweiten Kongress von 1930 erläuterte Hirschfeld-Mack in einem Vortrag seine Arbeitsweise, die er als Weiterentwicklung der Malerei durch Bewegung beschrieb. Ausgangspunkt war jeweils ein visuelles Farbformthema, das durch Entsprechungen zwischen Farben und Formen bestimmt war und zu dem eine passende Musik gesucht oder geschrie-
265 „wir glauben mit den farbenlichtspielen einer neuen kunstgattung näher zu kommen, die in ihrer starken, physisch-psychischen wirkung der mittel farbsinnliches und musikalisches erleben in tiefen und reinen spannungen auszulösen vermag. darüber hinaus sehen wir möglichkeiten einer fruchtbaren einwirkung auf den film in seiner heutigen form.“ Ebd., S. 113. 266 Anschütz (1931a), S. 230f.
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ben wurde, die die Gliederung und Struktur des Farbenspiels nach Tempo, Intensität, Helligkeit und Rhythmus bestimmte.267 Abbildung 12: Apparatur für die „Reflektorischen Farbenlichtspiele“ von Ludwig Hirschfeld-Mack und Kurt Schwerdfeger
Aus: Maur (1985), S.217.
Rhythmus war auch das Thema des zweiten, bei der Matinee Der absolute Film gezeigten Werkes Film ist Rhythmus von Hans Richter mit einfachen grundlegenden geometrischen Formen in rhythmischer Bewegung.268 An dritter Stelle folgte der Film Symphonie Diagonale des schwedischen Malers Viking Eggeling von 1924, dessen Formen grafisch angelegt waren. Eggeling selbst beschrieb seine Arbeit, ganz im Sinne Balázs, als Suche nach einer neuen künstlerischen Sprache, einem universellen Alphabet, das, basierend auf grundlegenden Wahrnehmungsmechanismen, allgemein verständlich sei.269 Seine Hinwendung zum Film verdankte sich 267 Hirschfeld-Mack entwickelte folgende Entsprechungen zwischen Farbe und Form: spitzer Charakter des Gelb entsprach dem Dreieck, massiver Charakter des Rot dem Quadrat und das in sich ruhende Blau dem Kreis. Das musikalische Motiv war zum einen an den Bewegungsrhythmus gekoppelt, zum anderen bestimmte es über die Tonhöhe Größe und Helligkeit der Formen und Farben sowie die Bewegungsrichtung. Zudem wurden jeder Farbe eine Tonart und eine bestimmte Klangfarbe zugeordnet. Vgl. Hirschfeld-Mack (1931), S. 112f. 268 Vgl. Deutsches Filmmuseum (1989). 269 „Die abstrakten Formen bieten die Möglichkeit, alle nationalen Sprachgrenzen zu überwinden. Eine Grundlage dafür bildet die bei allen Menschen identische Wahrnehmungs-
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Einflüssen der asiatischen Kultur, insbesondere einer Beschäftigung mit chinesischen Rollbildern, die es, an zwei Rollen befestigt, ermöglichten, am Zuschauer eine Geschichte in Bildern vorbeiziehen zu lassen. Beruhten seine bis zu 15 Meter langen konstruktivistischen Bilder, an denen die Zuschauer im Vorbeigehen die Veränderung geometrischer Muster betrachten konnten, auf einer ähnlichen Technik, so bot der Film für Eggeling eine ungleich bessere Lösung. Abbildung 13: Filmbilder aus Viking Eggelings „Symphonie Diagonal“
Aus: Daurer (2006), S. 47
Daran schlossen sich Walther Ruttmanns Filme Opus 2, Opus 3 und Opus 4 an. Ursprünglich Architekt, Maler und Grafiker, entdeckte Ruttmann nach dem Ersten Weltkrieg seine Leidenschaft für das Lichtspiel, das er selbst als Malerei mit Zeit verstand.270 Für seine filmischen Versuche konstruierte er selbst einen ,Tricktisch‘ zum Filmen, Schneiden und Kleben des Films, den er sich 1920 patentieren ließ. Auf diesem entstand in monatelanger Arbeit sein erster abstrakter Film Lichtspiel Opus 1 von 1921, der – organische natürliche, farbige Formen zeigend, die Rutt-
fähigkeit. Sie lässt auf eine universale Kunst hoffen, die es vorher nie gegeben hat.“ Eggeling zit. nach Emons (1987), S. 55. 270 „Es will nicht mehr gelingen, die auf einen Moment zurückgeführte, [...] symbolisierte Lebendigkeit eines Bildes als tatsächliches Leben zu empfinden. Die Rettung [liegt in einer] ganz neuen Kunst, einer Malerei mit Zeit, einer Kunst für das Auge, [...]. [...] es wird sich deshalb ein ganz neuer, bisher nur latent vorhandener Typus von Künstlern herausstellen, der etwa in der Mitte von Malerei und Musik steht.“ Ruttmann zit. nach Emons (1987), S. 53.
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mann meist aus Sand gestaltete und von unten durch eine Glasscheibe filmte – aus 10.000 einzeln eingefärbten Bilder bestand. Abbildung 14: Fotosequenzen aus Walter Ruttmanns „Opus III“ von 1923 und „Opus IV“ von 1924
Aus: Maur (1985), S. 225.
Max Butting komponierte die Musik für den Film, die er selbst jedoch für überflüssig hielt, „denn“, so Butting, „tatsächlich war der Film eine dreiteilige Sonate“271 im Sinne einer visuellen Musik.272 Nach der ersten öffentlichen Vorführung des Films waren Kritik und Publikum v.a. von der Darstellung abstrakter reiner Bewegung fasziniert.273 Praktisch über Nacht war Ruttmann zu einem Pionier der deutschen
271 Zit. nach Reetze (1992), S. 50. 272 Vgl. Weibel (1987), S. 74f. 273 So schrieb der Filmkritiker Alfred Kerr: „Schillernd fließende Farbigkeit [...] ein Gemeng von schwebend schrumpfend-zuckenden Kringeln, Ringeln, Kugeln, Spitzheiten, Rundheiten; von erglühtem Umriß, schwindsamer Füllung, bunten Erglänzungen; von Tauchendem und Sinkendem.“ Kerr zit. nach Reetze (1992), S. 49. Und die Tänzerin Valeska Gert schwärmte: „Ruttmann hat dem Film die bewegte absolute Malerei geschenkt; [...] lässt Kugeln, Kreise, Keile in einem von innen heraus empfundenen Rhythmus spielen. Formen gleiten ruhig auf der Leinwand vorüber, ballen sich zusammen, führen zur Katastrophe und entladen sich. Er gibt Schicksale der reinen Formen,
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Film-Avantgarde geworden und konnte bereits 1922 seinen zweiten Film Opus 2 und 1924/25 Opus 3 und Opus 4 fertigstellen.274 Als letzter Programmpunkt der Matinee folgten zwei französische Filme: Images Mobiles von Fernand Léger und Dudley Murphy von 1924 und der dadaistisch inspirierte Kurzfilm Entr’Acte, realisiert 1924 von Réne Clair nach einem Szenario von Francis Picabia, der ursprünglich mit einer Komposition von Erik Satie als filmische Einlage von Picabias Ballettinszenierung Relâche konzipiert wurde. Diese beiden Filme unterschieden sich wesentlich von den anderen, indem sie, so Fritz Böhme, „nicht nur ungegenständliche Formen wählen, sondern Dinge der alltäglichen Wirklichkeit verwerten, sie aber der natürlichen Beziehung entkleiden und in einen eigenen, bewegungsmäßig und kompositorisch diktierten Zusammenhang setzen“275, so dass sie eine neue Bedeutung erhielten. Schwankten alle bei der Matinee gezeigten Filme als visuelle Musik oder bewegte Malerei zwischen den Gattungen, so realisierten sie bei genauerer Betrachtung synästhetische Kopplungen von Bild und Ton, von Hören und Sehen, und darauf basierende spezifisch filmische Techniken, die den kommenden Farb- und Tonfilm vorwegnahmen. Wie Musik Bilder erzeugte, sollten diese in Bewegung wiederum synästhetisch akustisch-musikalische Empfindungen auslösen und damit das Spezifische des Films realisieren, was sich in der Bezeichnung ,absoluter Film‘ spiegelte.276 In ihrer Verschiedenheit zielten die abstrakten visuellen Farb- und Formenspiele in der Generierung von Ton mittels Bild und umgekehrt letztlich darauf ab, beide miteinander zu verbinden und zu parallelisieren. Aus diesem Grund spielte der Rhythmus als Bild und Musik gleichschaltendes und synchronisierendes Element eine wesentliche Rolle. Dabei experimentierten die abstrakten Filme, die sowohl mit als auch bewusst ohne begleitende Musik präsentiert wurden, gleichermaßen mit einem imaginären Konzept des Synästhetischen und der Gleichzeitigkeit Parallelen zu einem Gewitter oder einem erotischen Akt.“ Valeska zit. nach Wilmesmeier (1994), S. 51. 274 Während dieser Zeit arbeitete Ruttmann eng mit der Bauhausschülerin Lore Leudesdorff zusammen, unter deren Einfluss Ruttmann einen Wandel von mehr naturhaften Formen hin zu sachlich-geometrischen Motiven vollzog, der sich 1927 in dem Film Berlin – Sinfonie einer Großstadt niederschlug. 275 Böhme, Fritz (1925). 276 So schrieb der Filmkritiker Bernhard Diebold bereits 1921 über den Film: „Das Drängen der expressionistischen Malerei nach Bewegung, die kinohafte Hast im rasenden Durcheinander der tausend Anspielungen eines futuristischen Bildes – diese ganze Unmöglichkeit eine zeitliche Reihe von Vorgängen der Assoziationen im räumlichen Nebeneinander zu bannen: sie findet in der neuen Filmkunst ihre Erfüllung – ihre Erlösung aus dem Raum in die Zeit. Die Malerei hat sich mit der Musik vermählt. [...] Es gibt eine Augenmusik.“ Zit. nach Wilmesmeier (1994), S. 81. [Herv. i.O.]
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und Entsprechung von Bild und Musik, die sich zu einem medialen Konzept des Synästhetischen verdichteten, das sich mit dem Tonfilm auch auf technischer Ebene durchsetzte. Das spiegelte sich auch in der Bewertung des abstrakten Films, die wie schon beim Gesamtkunstwerk, bei Loïe Fuller oder der Farblichtmusik zwischen Euphorie und Kritik, zwischen Kunst und Nicht-Kunst schwankte. Auf Grund seiner vermeintlichen Universalität und Allgemeinverständlichkeit wurde der absolute oder abstrakte Film gefeiert.277 Die Kritik am abstrakten Film bestand wiederum darin, dass sich, so Hans Emons, über ein Kommen und Vergehen hinaus keine Inhalte und Bedeutungen transportierten und die Sache zum reinen Kunstgewerbe verkomme.278 Dass Ruttmann mit seinen Filmen und seiner ausgereiften Filmtechnik früh die Aufmerksamkeit der Werbebranche auf sich zog, sprach für diesen Befund. Wie schon die Farblichtmusik, so muss der abstrakte Film weniger auf seinen Kunststatus hin befragt, sondern v.a. als Ausloten technischer und künstlerischer Möglichkeiten und Praktiken des Mediums Film überhaupt und seiner Kombinations-, aber auch seiner Abgrenzungsfähigkeit von bzw. mit anderen Künsten und Medien betrachtet werden.279 Denn dann verweist der abstrakte Film auf spezifische 277 So entsprach z.B. für Victor Schamoni diese Kunst „so allgemeinen menschlichen Grundeigenschaften physikalischer und seelischer Konstitution [...], daß sie von gleicher, gemeinsamer und allgemeingültiger Wirksamkeit sein müsste wie die Musik.“ Zit. nach Wilmesmeier (1994), S. 41. Fritz Böhme betonte v.a. den Aspekt des Motorischen und der Bewegung: „Es wäre verkehrt zu behaupten, daß solche Filme gegenstandslos, [...], inhaltslos sind. [...] die Kompositionsgesetze des menschlichen Lebens, Abstoßung, Anziehung, [...] Kampf, Gruppenbildung, Vereinzelung, Aufbau, Zerfall, Zerstörung – [...] sind auch hier enthalten, [...]. Es wird auch hier vom Zuschauer Einfühlung verlangt, aber in der besonderen Art der Mitschwingung. Das Motorische steht im Vordergrund. Der Zuschauer geht mit den Bewegungen der Punkte und Linien in ähnlicher Weise mit wie mit den Gebärden der Menschen, allerdings mit dem Unterschied, daß die dargestellte menschliche individualisierte Handlung einen bestimmt inhaltlich gerichteten Assoziationszwang ausübt, während das nicht der Wirklichkeit entnommene Bewegungsbild ein inhaltlich unerzwungenes, seelisches Gegenbild erzeugt, das, analog der Musik, durch den Formwandel, durch Spannungs- und Lösungsvorgänge und die jeweiligen, dem Zuschauer eigenen Erlebnisinhalte bedingt ist. [...] Der Beschauer wird in einen durch das Bewegungsbild vermittelten Rhythmus getaucht [...] und wird damit in unmittelbaren Kontakt gesetzt mit Bewegungsgesetzmäßigkeiten, die über das Menschliche und Individuelle hinaus allgemeine Wachstums- und Fortbildungsgesetze sind, denen alles vom Stern bis zur Mikrobe folgt.“ Böhme, Fritz (1925). 278 Vgl. Emons (1987), S. 62. 279 So argumentierte auch Balázs 1930 in Der Geist des Films, dass die abstrakten Filme, selbst da, wo sie eine Unmöglichkeit bewiesen haben, eine Aufgabe erfüllt hätten, indem sie eine Grenze absteckten. Vgl. Jewanski (2006b), S. 250.
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Wahrnehmungspraktiken der Moderne in ihrer Bindung an neue Medientechniken. Diesen Zusammenhang beschrieb insbesondere Walter Benjamin in dem legendären Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1935/36, in dem er den Blick auf die technische Seite der Medien und ihre Konsequenzen für die menschliche Wahrnehmung lenkte. Lösten die neuen Medientechniken, so Benjamin, angefangen mit der Fotografie, die Kunst aus ihrer Verankerung im Ritual, so ermöglichten sie zugleich eine Vervielfältigung und Massenwirksamkeit von Kunst, die wiederum gesellschaftlich-politisch oder utopisch-ästhetisch besetzbar sei.280 Den Benjamin’schen Gedanken aufnehmend, lässt sich in diesem Prozess insbesondere eine Kunst des Synästhetischen lokalisieren, die sich als Nebenprodukt und Begleiterscheinung der Medienentwicklung im kulturellen Diskurs manifestierte. Mit der Propagierung des abstrakten Films oder der Farb-lichtmusik als neue Kunst wurde der auratisch-rituelle Part der Kunst durch den Verweis auf eine als ursprünglich deklarierte gesamtsinnliche und universelle, jedoch erst synthetisch hergestellte Wahrnehmung besetzt, deren direkter Ausdruck das Synästhetische war, das wiederum durch neue künstlerische Formen selbst erst künstlichvirtuell stimuliert und geschult werden musste. Gleichermaßen waren diese künstlerischen Formen für politisch-ideologische Vereinnahmungen anschlussfähig. Verliere das Kunstwerk, wie Benjamin es formulierte, im Zusammenspiel von technischen Medien und Massengesellschaft seinen Kultwert und werde zur Ware,281 so avancierten die Effekte des abstrakten Films oder der Farblichtmusik zunehmend zu Elementen der Werbe- und Unterhaltungsindustrie. Mit der Neubesetzung des Kultwertes durch Politik oder ästhetische Entwürfe könnten neue Medientechniken wie der Film zwar als Kunst deklariert werden, veränderten damit aber gleichzeitig den Gesamtcharakter von Kunst grundlegend.282 Sowohl die Ursache als auch das Ergebnis dieser Prozesse führte Benjamin auf veränderte Wahrnehmungsmuster zu280 Benjamin argumentierte, dass um 1900 die technische Reproduktion von Kunst einen Standard erreicht hatte, auf dem sie selbst zur künstlerischen Verfahrensweise werden konnte, wie Film und Fotografie zeigten, die auf die tradierten Künste zurückwirkten. Dabei ging jedoch das einmalige Dasein des Kunstwerks verloren, was den Begriff der Echtheit des Kunstwerks entwertete. Benjamin hat diesen Prozess als Verlust der Aura beschrieben, der in der Forschung viel diskutiert wird, auf den hier aber nicht weiter eingegangen werden soll. Vgl. Benjamin (1981), S. 11f. 281 Vgl. ebd., S. 17. 282 Aus der zeitlichen Situation um 1935 heraus bedeutete für Benjamin der Verlust des Kultwertes v.a. die Möglichkeit der politischen Instrumentalisierung der Kunst: „In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.“ Ebd., S. 18.
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rück, die durch die Medientechniken selbst hervorgebracht werden. So beschwor beispielsweise der abstrakte Film die Universalität der Wahrnehmung im Sinne synästhetischer Prinzipien, während Balázs das Körper- und Mienenspiel im Film als Grundlage einer neuen Gebärdensprache kultisch besetzte. Anders als Balázs dachte Benjamin die vom Film geforderte Wahrnehmung von der technischen Apparatur ausgehend, die, zwischen Darsteller und Publikum gestellt, den Zuschauer in den Status eines wissenschaftlichen Beobachters versetze: Es „fühlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt“ und „übernimmt [...] dessen Haltung: es testet“283. Dabei sei der Film selbst reine Illusion, Ergebnis einer technischen Prozedur, die das Gefilmte analytisch demontiert und zerstückelt, um es im nächsten Schritt mittels Schnitt und Montage synthetisch zu einem neuen Ganzen zusammenzufügen, was die Wahrnehmungskultur nachhaltig verändert habe.284 Diese Beschreibung des filmisch-technischen Prinzips der Zerlegung und Analyse in Einzelteile und die darauffolgende Synthese gleicht genau der Anschütz’schen Formulierung der Farbe-Ton-Forschung, die, ausgehend von einzelnen Sinnesorganen und -erfahrungen, deren synthetische Zusammenführung zu einem neuen Ganzen fasste. Sowohl Anschütz als auch Benjamin sahen darin eine Annäherung von Wissenschaft und Kunst.285 Insofern kann das Synästhetische in Anschütz’ Konzeption mit dem Filmischen im Sinne von Benjamin gleichgesetzt werden, die beide völlig neue Einsichten in die Mechanismen der Wahrnehmung versprachen und dabei bestehende Wahrnehmungsmuster und -weisen massiv veränderten. So brachte der Film für Benjamin bisher nicht wahrnehmbare Dimensionen zum Vorschein, ein Effekt, den er mit der Psychoanalyse verglich, die das Triebhaft-Unbewusste hervorbringe, während die Kamera das Optisch-Unbewusste der Wahrnehmung offenlege.286 Verschoben sich dabei die Grenzen zwischen den Kategorien 283 Ebd., S. 24. [Herv. i.O.] 284 „Der Film hat in der ganzen Breite der optischen Merkwelt, und nun auch der akustischen, eine ähnliche Vertiefung der Apperzeption zur Folge gehabt. Es ist nur die Kehrseite dieses Sachverhalts, daß die Leistungen, die der Film vorführt, viel exakter und unter viel zahlreicheren Gesichtspunkten analysierbar sind, als die Leistungen, die auf dem Gemälde oder auf der Szene sich darstellen. [...] Dieser Umstand hat, und das macht seine Hauptbedeutung aus, die Tendenz, die gegenseitige Durchdringung von Kunst und Wissenschaft zu befördern.“ Ebd., S. 34f. 285 Vgl. ebd., S. 35. So schrieb Anschütz: „Die Gegenstände der Farbe-Ton-Forschung bedeuten [...] mehr als ein Kuriosum. [...] Das Farbe-Ton-Problem ist nur der besondere Ausdruck, [...] eines umfassenden Strebens, das heute die ganze Wissenschaft in ihren einzelnen Disziplinen durchzieht, das die Künste beherrscht, das Wissenschaft und Kunst in dauernden gegenseitigen Konnex zu bringen sucht.“ Anschütz (1931b), S. 304. 286 „Unter Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung. Und so wenig es bei der Vergrößerung sich um bloße Verdeutlichung dessen handelt, [...] son-
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,sichtbar‘ und ,unsichtbar‘, so ließen sich der abstrakte Film und auch das Synästhetische in diesem Sinne als Versuchsfeld für die Aufdeckung verborgener Wahrnehmungsmechanismen lesen, die, Benjamin zufolge, immer auch gesellschaftlichkulturell bedingt seien.287 So biete der Film nicht nur passive Versenkung oder Kontemplation, sondern auch Ablenkung und Schockwirkung, wie sie der modernen Wahrnehmungserfahrung entsprächen: „Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu blicken haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.“288
Übernahm der Film als wesentliche Funktion die Schulung der Wahrnehmung in neuen Lebenswelten, so war er, als für Massen zugängliches Unterhaltungsmedium, in der Lage, Wahrnehmungsmuster nachhaltig zu verändern, denn „[...] gewisse Aufgaben in der Zerstreuung bewältigen zu können, erweist erst, daß sie zu lösen einem zur Gewohnheit geworden ist“289. In der Verknüpfung von ästhetischen Fragestellungen zum Film als Kunst mit dessen technischer Apparatur und der kulturell gesellschaftlichen Entwicklung begründete Benjamin eine Medientheorie, die bis heute wirksam und in Bezug auf Konzeptionen des Synästhetischen bedeutsam ist. Benjamin entwarf zugleich eine Mediengeschichte als Kunstgeschichte, indem er darauf verwies, dass im historischen und kulturellen Verlauf zukünftige Kunstformen und Medien häufig in schon bestehenden ausgebildet würden und sich auf diese Weise in Tuchfühlung mit dem kulturellen, wissenschaftlich-technischen Diskurs permanent selbst weiterentwickeln, was später insbesondere Marshall McLu-
dern vielmehr völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen, so wenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte [...]. So wird handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht.“ Benjamin (1981), S. 36. 287 Vgl. ebd., S. 37. 288 Ebd., S. 39. 289 Ebd., S. 41. Dabei wohnte dieser Anpassungsleistung zugleich ein gesellschaftlich-regulierendes, normatives Element inne: „[...] nirgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen der Einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt. Und indem sie sich kundgeben, kontrollieren sie sich.“ Ebd., S. 33.
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han aufgriff.290 In diesem Sinne sei, laut Benjamin, bereits in der Fotografie der Tonfilm virtuell verborgen.291 Beeinflussen die Medien wiederum Wahrnehmungspraktiken, so ergibt sich ihre Rückwirkung auf die kulturell-gesellschaftliche Entwicklung. Der Film, und im Besonderen der abstrakte Film, können in dieser Perspektive in einer Entwicklungslinie betrachtet werden, die, ausgehend vom Gesamtkunstwerk, über die Theaterreformer und die Avantgardisten bis hin zur Farblichtmusik Sinneserfahrung synthetisch-künstlich kombiniert und medialisiert. Fundiert und theoretisiert wurde diese Entwicklung wiederum über das Synästhetische als Übertragungs- und Transformationsmodell zwischen Sinnen, Künsten und Medien. Dabei bot das Synästhetische nicht nur einen Referenzpunkt all dieser verschiedenen Kunstformen und -auffassungen, die letztlich die Wahrnehmung verhandelten, sondern verankerte sie zugleich anthropologisch als Grundeigenschaft der menschlichen Wahrnehmung und ihrer Funktionsmechanismen selbst. Das Synästhetische wurde damit zur Bedingung einer modernen Wahrnehmungsweise. Beispielhaft treffen die in der Fluchtlinie des Synästhetischen stehenden Künste und Kunstformen im Filmischen bei Sergej Eisenstein zusammen, der nicht nur die Ästhetik des Gesamtkunstwerkes im Sinne einer Entgrenzung der Künste und des Zusammenwirkens von Bild, Aktion, Musik und Ton in den Film integrierte, sondern darüber hinaus auch Elemente des avantgardistisch-symbolistischen Theaters und neue, spezifisch technisch-synthetische Verfahren des filmischen Prozesses, wie z.B. die Montage.292 Dabei zentrierte sich Eisensteins Filmästhetik, Bernd Uhlenbruch zufolge, um die Begriffe Mythos und Montage, indem die Alltagswirklichkeit als Abstraktion in eine mythische Welt- und Gesellschaftsferne transportiert wurde und der Film mittels Montage selbst zum Mythos wurde.293 So erläuterte Eisenstein in der Rede Die 4. Dimension im Film, die er 1930 in Hollywood hielt, sein audio-visuelles Montageprinzip als Polyphonie, das die filmischen Mittel in vielstimmiger Weise synkretistisch einsetze, um synästhetisch komplexe Reizstrukturen zu erzeugen, die in wechselseitiger Bezogenheit wirkten.294 Als symbolistisches Gesamtkunstwerk werde der Film durch die Montage, so Uhlenbruch, zum Ort ei-
290 „Es arbeiten [...] die überkommenen Kunstformen in gewissen Stadien ihrer Entwicklung angestrengt auf Effekte hin, welche später zwanglos von der neuen Kunstform erzielt werden.“ Ebd., S. 37. 291 Vgl. ebd., S. 36. 292 So äußerte Eisenstein: „Das was sich Adolphe Appia und Gordon Craig nur erträumen konnten, kann der Film mit Leichtigkeit vollenden.“ Eisenstein zit. nach Uhlenbruch (1994), S. 196. 293 Vgl. Uhlenbruch (1994), S. 189ff. 294 Vgl. ebd., S. 192.
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ner Synthese und synaisthesis, die im Sinne Eisensteins dem Mythischen der Kunst entspreche:295 „Von allen Künsten ist das Kino die wirkliche, grundlegende und endgültige Synthese ihrer Erscheinungen, jene Synthese, welche nach den Griechen zerfiel und welche Diderot in der Oper, Wagner im Musikdrama, Skrjabin in den Farbkonzerten vergeblich zu finden versuchen.“296
Eisenstein entwickelte die Verbindung der Künste unter medialen Bedingungen weiter, indem er Skulpturen beweglich machte und Bilder in der Abstraktion der Musik zum audiovisuellen Bild entgrenzte, aus denen sich der Film-Sinn in den Paradoxien von okularer Musik, Farbensprache und akustischer Visualisierung realisierte.297 Bei Eisenstein deutete sich an, inwieweit der Film in der Lage war, verschiedene künstlerische, formale und technische Möglichkeiten innerhalb eines Trägermediums zu präsentieren, das nicht nur den Sehsinn, sondern gleichermaßen auch den Hörsinn und alle anderen Sinne ansprach und involvierte. Existierte diese Tendenz als Teil der frühen Filmkultur seit den ersten Filmvorführungen, indem Stummfilme zumeist mit Klavierbegleitung präsentiert wurden, so markierte der Tonfilm einen entscheidenden Einschnitt in der Ästhetik des Films. Denn anstatt akustische Elemente imaginär-synästhetisch hervorzurufen, ersetzte der Tonfilm diesen sich im Subjekt vollziehenden Prozess durch eine neue Medientechnik, die realen Ton in Synchronizität zum Bild lieferte und dieses quasi sprechend werden ließ. Das entsprach zugleich dem Wandel von einem assoziativ-imaginären Konzept des Synästhetischen hin zu dessen Realisierung als Überwältigung der Sinne in der Tradition einer physiologischen Ästhetik des Gesamtkunstwerkes, die als mediale Konzeption des Synästhetischen betrachtet werden kann. Der erste abendfüllende Sprechfilm mit Ton von einem Plattenspieler, der mit dem Filmprojektor synchronisiert war, war Alan Croslands The Jazz Singer, der am 6.10.1927 in New York uraufgeführt wurde. Ab 1928 wurden Klang- und Tonfilme zur Norm, deren Praxis der Harmonisierung von Bild und Ton zunächst heftige Kritik besonders von Künstlern hervorrief, die den Tonfilm als naturalistischen Synchroneffekt und Illusionismus verschrien. Standen Ästhetik und Technik offensichtlich in Widerspruch, so verwirklichte sich im Tonfilm eine Entwicklung, die die synthetische Zusammenführung von Hören und Sehen vollendete. Dass der Tonfilm sich sowohl in der Populärkultur als letztlich auch in der künstlerischen Praxis durchsetzte, hatte mit durch den Film selbst ausgelösten Veränderungen von Wahrnehmungsmustern zu tun, die in Farblichtmusiken und abstrakten Filmen im Zu295 Vgl. ebd., S. 193. 296 Eisenstein zit. nach Uhlenbruch (1994), S. 194. 297 Vgl. ebd., S. 195.
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sammenhang mit dem Synästhetischen erprobt wurden. Bereits Benjamin wies darauf hin, dass der Tonfilm die Hörkultur verändere wie der Stummfilm die visuelle Kultur, indem der Ton im Film im Sinne einer „Vertiefung der Apperzeption“ nicht Hörbares hörbar und bewusst machen oder hervorheben könne.298 Ließe sich argumentieren, dass bereits Grammophon, Phonograph oder Radio diese Effekte auf die akustische Kultur ausübten, so war das Besondere des Tonfilms jedoch, dass er diese Effekte in Synchronität mit dem Bild erzeugte, wodurch diese sich in der technisch-synthetischen Kopplung von Bild und Ton gegenseitig beeinflussten. Der Ton konnte dem Bild oder das Bild dem Ton nun eine neue Bedeutung verleihen, wie es Merleau-Ponty beschrieb. Entsprach der Tonfilm auf der einen Seite der Alltagserfahrung gleichzeitigen, synchronen Hörens und Sehens, so koppelte er andererseits Hören und Sehen voneinander ab, indem er mit asynchronen Effekten oder ungewöhnlichen, in der Realität nicht existierenden Bild-Ton-Konstellationen völlig neue Kombinationen ermöglichte, die der alltäglichen Wahrnehmungserfahrung widersprechen und diametral entgegengesetzt sein konnten.299 Generierte zuvor die Kunst mittels Synästhesien künstlich-synthetische Kopplungen von Bild und Ton, so löste die Technik des Tonfilms diese vom Subjekt ab. Vormals im Künstlersubjekt oder im Zuschauer imaginär entstehende Effekte konnten nun technisch realisiert werden. Das Phänomen des Farbenhörens manifestierte sich für alle Menschen erfahrbar innerhalb eines technischen Trägermediums. Aus dieser Perspektive erscheint der Versuch, das Synästhetische als allgemeine menschliche Fähigkeit zu deklarieren, einmal mehr sinnfällig und muss als Anpassung, aber auch Vorwegnahme neuer technischer Möglichkeiten betrachtet werden.300 Bereits in den ausgehenden 1910er Jahren hatte es in Deutschland Versuche gegeben, Ton und Bild auf einem Medium, dem Filmstreifen, zu verbinden. Anders als beim Nadeltonverfahren, bei dem, wie in The Jazz Singer ein Grammophon mit der ablaufenden Filmrolle synchronisiert werden musste, wurden beim sogenannten Lichttonverfahren, auch bekannt als Tri-Ergon-Verfahren, Schallwellen in elektrische Impulse umgewandelt und in eine Lichtspur transformiert, die in grafischen Mustern auf dem Filmstreifen gespeichert werden konnte.301 Als technisch-elektronische Umsetzung des Farbenhörens war das Lichttonverfahren 1921 ausgereift, 298 Vgl. Benjamin (1981), S. 34f. 299 Das spiegelt sich bis heute in der Filmproduktion wieder, bei der Tonspur und Bildfolge voneinander getrennt aufgezeichnet und erst am Ende wieder zusammengeführt werden. 300 So schreibt Inge Baxmann: „[...] die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu einer vollen Sinnenwelt, [...] schien mit den neuen technischen Medien, die synästhetische Prozesse technisch herzustellen vermochten, realisierbar. Diese Neuentdeckung der Sinne implizierte eine Auseinandersetzung mit der Wahrnehmungstheorie, die mit zur Erneuerung anthropologischer Wissensbestände gehörte.“ Baxmann (2000), S. 148. 301 Vgl. Levin (2003), S. 33. Vgl. Jutz (2009), S. 68.
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setzte sich jedoch erst in den 1930er Jahren durch, da es durch die Aufzeichnung von Bild und Ton auf einem Medium kostengünstiger und von weitaus größerer Synchronität als das Nadeltonverfahren war.302 Zugleich verbargen sich im technischen Verfahren des Lichttons bereits weitere neue Medientechniken und künstlerische Praktiken in Form neuer Aufnahmemedien und synthetischer Klangtechnologien. So entwickelte Rudolf Pfenninger 1929, ausgehend vom Lichttonverfahren, die Tönende Handschrift, bei der grafische Zeichnungen, ähnlich den als Zacken erkennbaren Abbildungen des Lichttons, zugleich Filmbild und Quelle für den Film-Ton darstellten, der auf diese Weise aus dem ,Nichts‘ entstand.303 Abbildung 15: Rudolf Pfenninger mit handgezeichneten ‚Ton-Streifen‘ in seinem Labor, 1932
©Pfenninger Archiv München.
Auf langen Papierrollen zeichnete Pfenninger eine Abfolge von nach Tonhöhe, Tonstärke und Klangfarbe genau berechneten Zacken, die, abgefilmt und auf die Tonspur des Lichttonfilms aufgebracht, grafisch basierten, synthetischen Ton er302 Vgl. Jutz (2009), S. 68. 303 An ähnlichen Projekten arbeiteten zur selben Zeit z.B. auch László Moholy-Nagy, dessen Film mit synthetischen Tönen leider verschollen ist, und Nikolai Voinov in der Sowjetunion. Vgl. Levin (2003), S. 38.
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zeugten.304 In den Studios der Münchener Lichtspielkunst AG, Vorläufer von Emelka und Bavaria Film GmbH, perfektionierte er die Technik der Synthetisierung des Klangs soweit, dass er eine künstliche Stimme schaffen und Ton als solchen grafisch schreiben konnte.305 Neben Pfenninger experimentierte zeitgleich auch Oskar Fischinger mit der synthetischen Generierung von Klang,306 fokussierte sich jedoch mehr auf die künstlerische Auswertung des Verfahrens.307 Als Pionier des abstrakten Films, der u.a. Assistent von Walter Ruttmann war und in Verbindung mit der Farbe-TonForschung und Alexander László stand, dessen Farblichtmusik er mit seinen Filmen perfektionieren wollte,308 stellte Fischinger seit 1921 abstrakte Filme zu klassischer Musik her. Diese Filme mit den Titeln Studien 1-16 beruhten auf der Analogie zwischen musikalischen und choreografisch bewegten Formen und erprobten v.a. neue Animationstechniken. Als deren Steigerung sollten die bewegten Formen und Linien die Musik nicht mehr nur malerisch-grafisch nachempfinden oder anreichern, sondern selbst erst erzeugen.309 Als Klangwerdung des Bildes und Bildwerden des
304 Vgl. ebd., S. 39f. 305 Vgl. ebd., S. 34. 306 So schrieb die DAZ vom 23.10.1932 anlässlich einer Vorführung von gezeichneten Tonfilmen Pfenningers: „Es handelt sich hier [...] um [...] das gleichzeitige Auftauchen einer Idee an zwei voneinander unabhängigen Arbeitszentren. Pfenninger ist wie Fischinger [...] in der Lage, auf dem Wege über die mathematische Ermittlung der jeweiligen Schwingungszahl eines Tones das graphische Bild desselben [...] festzustellen, aufzuzeichnen und auf eine tönende Filmwand photographisch in Musik umzusetzen.“ DAZ (1932). 307 „Fischinger, […], is basically interested in exploring the relationship between given graphic forms and their acoustic correlates, and how that isomorphism might allow one to make cultural-physiogonomic comparisons. […] for Fischinger handwritten sound, indeed writing per se, is entirely in the service of a thoroughly anti-technological (irrational) artistic intention: ,hand-made film renders possible pure artistic creationʻ.“ Levin (2003), S. 57f. 308 Fischinger erstellte 1926 den Stummfilm R1 – ein Formenspiel für die Aufführung der Farblichtmusik, wobei nicht bekannt ist, wie und wann der Film eingesetzt wurde. Auf dem zweiten Kongress für Farbe-Ton-Forschung im Jahr 1930 präsentierte er seinen dreiminütigen abstrakten Film Studie Nr. 5. 309 „Between ornament and music persist direct connections, which means that Ornaments are Music. If you look at a strip of film from my experiments with synthetic sound, you will see along one edge a thin stripe of jagged ornamental patterns. These ornaments are drawn music – they are sound: when run through a projector, these graphic sounds broadcast tones or a hitherto unheard of purity, and this, quite obviously, fantastic pos-
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Klangs wurde die Bild-Ton-Analogie nicht mehr von einem Künstlersubjekt bewusst inszeniert oder hergestellt, sondern, von technischen Parametern bestimmt, vom filmischen Apparat selbst vollführt.310 Waren die grafischen Bilder zugleich Bild und Klang, so implementierte sich das Synästhetische letztlich über die künstlerische Praxis in die Technik selbst und nahm bereits die Digitalisierung vorweg, bei der visuelle und akustische Daten in einem Code vereinheitlicht werden. Die abstrakten filmkünstlerischen Experimente als Umsetzungen vom Akustischen ins Optische und deren Umkehrung als synthetischer Klang markierten daher nicht nur Momente der Film- oder Musikgeschichte, sondern v.a. Schnittpunkte der Kunst, der Wissenschaft und der Technik mit der Populär- und Alltagskultur im Rahmen einer zunehmenden Medialisierung der Welt und den damit verbundenen Wahrnehmungspraktiken. So machte z.B. Fischinger, der 1936 nach Hollywood übersiedelte, Walt Disney mit seinen Ideen vertraut, der sie in seinen nach dem Klang choreografierten Micky-Mouse-Trickfilmen einsetzte.311 Als filmmusikalische Technik des Mickey-Mousing transportierten sich dergestalt synästhetische Praktiken des Films von der Kunst in eine kommerzielle Unterhaltungsindustrie, eine Kultur der Werbung, des Musikmarktes und der Videoclips der 1980er Jahre.312 Experimentierte die Kunst auf der Suche nach einer ganzheitlichen, gesamtsinnlichen Wahrnehmungserfahrung im Zeichen des Synästhetischen mit den neuen medialen Techniken, so entdeckte und entwickelte sie dabei deren spezifische Effekte, die sich wiederum über die massenwirksamen Medien und ihre kommerzielle Vermarktung als Wahrnehmungspraktiken in der gesamten Kultur verbreiteten. Seitdem sind die Grenzen zwischen Kunst und Populärkultur durchlässig. So lässt sich die Entwicklung von künstlerischen Konzepten des Synästhetischen über Lightshows in den 1960er Jahren, die die Wirkung von Drogen wiedergeben sollten, bis hin zur Techno-Kultur der 1990er Jahre, in der Lichteffekte und schnelle Beats zur Betäubung der Sinne eingesetzt wurden, weiterverfolgen. Das Synästhetische fungierte demnach nicht nur auf wissenschaftlich-theoretischer Ebene, sondern v.a. auch auf der Ebene künstlerischer Praktiken als Folie für neue mediale Wahrnehmungsformen und – als anthropologisches Faktum – zugleich als Motor für die Weiterentwicklung der Medientechniken in Form ihrer Kombination und Verknüpfung. sibilities open up for the composition of music in the future.“ Fischinger zit. nach Levin (2003), S. 51. 310 Vgl. Weibel (1987), S. 89. 311 „Am 13. November 1940 feierte Walt Disneys „Fantasia“ am Broadway Premiere und schuf, von abstrakt bis naturalistisch-narrativ, von Technicolor und Breitwand bis hin zur ersten Surround-Sound-Anlage der Mediengeschichte, das ästhetische und technische Paradigma des Musikvideos. Daß auch Disney damit einen Kunstanspruch formulierte [...] ist von besonderer Ironie.“ Pias (1997). 312 Furniss (2010), S. 34f.
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III.7 S YNÄSTHESIE , M ENSCH , G EMEINSCHAFT UND DIE E RSCHLIESSUNG MEDIALER R ÄUME AM B AUHAUS Die 1920er und 1930er Jahre zeichneten sich dadurch aus, dass das Synästhetische auf allen Ebenen der Kultur Einzug hielt. Beispielhaft zeigte sich das an einem in künstlerischer Perspektive überaus bedeutsamen Projekt, dem Bauhaus, in dem sich alle bisher aufgezeigten Elemente des Synästhesiediskurses der Zeit bündelten. Als Vereinigung aller Künste im Zeichen eines neuen Menschen symbolisierte das Bauhaus nicht nur eine neue Form der Kunstschule, sondern suchte v.a. nach einer völlig neuen Durchdringung von Kunst und Leben. Dabei spielte eine gesamtsinnlich und ganzheitlich ausgerichtete Ausbildung eine ganz entscheidende Rolle, wobei sich auf dem Synästhetischen basierende philosophisch-anthropologische und pädagogische Konzepte mit künstlerischen Praktiken und neuen Medientechniken trafen. Das Staatliche Bauhaus zu Weimar wurde 1919 unter der Leitung von Walter Gropius als Kunstschule eröffnet, in der alle Zweige bildnerischen Gestaltens vertreten waren. Unter dem Primat des Baus mit dem Architekten als „Ordner des ungetrennten Gesamtlebens“ zielte Gropius’ Vision darauf ab, „nicht nur werkgerechte Lampen zu entwerfen, sondern Teil einer Gemeinschaft zu sein, die den neuen Menschen in neuer Umgebung aufbaut“313. Verstand sich das Bauhaus in dieser Weise als Verwirklichung einer neuen Einheit des Menschen und einer sozialen Utopie, so war der konkrete Bezug zum praktischen Leben, zur Arbeit und zur Produktion wesentlich, was sich in der Bezeichnung der einzelnen Abteilungen als ,Werkstätten‘ widerspiegelte.314 Im Sinne der Entwicklung und Synthese aller schöpferischen Kräfte wurde den Grundelementen und dem Material aller Künste besondere Aufmerksamkeit gewidmet, weshalb alle Schüler in einer sogenannten ,Vorlehre‘ unterrichtet wurden. Ab 1922 leitete der Maler Johannes Itten den Vorkurs Farbe, der, an Programmen der Reformpädagogik orientiert, auf den ganzen Menschen abzielte und die Kreativität der Schüler aktivieren sollte.315
313 Gropius zit. nach Brauneck (986), S. 227. 314 So formulierte Gropius 1919 in Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses Weimar: „Der beherrschende Gedanke des Bauhauses ist also die Idee der neuen Einheit, die Sammlung der vielen Künste, Richtungen und Erscheinungen zu einem unteilbaren Ganzen, das im Menschen selbst verankert ist und erst durch das lebendige Leben Sinn und Bedeutung gewinnt. Von dem richtigen Gleichgewicht der Arbeit aller schöpferischen Organe hängt die Leistung des Menschen ab. Es genügt nicht, das eine oder andere zu schulen, sondern alles zugleich bedarf der gründlichen Bildung.“ Gropius zit. nach Düchting (1996), S. 45. 315 Vgl. Kienscherf (1996), S. 185.
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Abbildung 16: Johannes Itten „Hören und Sehen“, Skizze, Bleistift auf Papier, 1917
©VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Deshalb begann er seinen Unterricht mit Entspannungs-, Atem- sowie körperlichrhythmischen Formübungen, z.T. auch als Freikörperbewegungen auf dem Dach des Bauhauses, bei denen v.a. die elementaren Kategorien der Epoche, Bewegung und Rhythmus, als allgemeine künstlerische Prinzipien vermittelt wurden. Wie im Ausdruckstanz wurden damit der Körper und auf ihm basierende synästhetische Prinzipien zur Grundlage künstlerischen Schaffens erhoben. Die Rolle des Synästhetischen am Bauhaus verdichtete sich insbesondere in Person der Musikpädagogin Gertrud Grunow, die Ittens Assistentin war. Im Rahmen einer ganzheitlichen Erziehung der Sinne lehrte Grunow synästhetisches Empfinden als Grundlage für eine Harmonisierung und Vereinigung der Künste.316 Indem sie sich mit dem Ziel, das im Menschen angelegte Gleichgewicht von Farben, Formen, Tönen und ande316 Lothar Schreyer hob die Rolle Grunows für das Bauhaus hervor: „Johannes Itten arbeitete in enger Fühlung mit Gertrud Grunow, deren Harmonisierungslehre der immer quellende Jungbrunnen der ganzen Bauhausarbeit war.“ Schreyer zit. nach Düchting (1996), S. 41.
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ren Empfindungen wiederherzustellen, auf aktuelle philosophisch-psychologische Konzeptionen des Synästhetischen berief, verlieh sie dem Synthesegedanken aller Bauhäusler, so Hajo Düchting, einen „betont anthropologisch-psychologischen Akzent“317. In dem Aufsatz Der Aufbau der lebendigen Form durch Farbe, Form und Ton im Bauhaus-Buch von 1923 stellte sie eine enge, in der Natur und den inneren, physiologischen Gesetzmäßigkeiten des Menschen fundierte, synästhetische Beziehung zwischen Klang und Farbe her, deren Freilegung und Schulung unmittelbar ein geistig-körperliches Gleichgewicht herstelle, Zugänge zu unbewussten schöpferischen Kräften ermögliche sowie die Fähigkeit besäße, Bewegungssequenzen auszulösen.318 In diesem Sinne bestand Grunows Kurs aus einem meditativen und imaginativen Training, bei dem Konzentrations- und rhythmische Bewegungsübungen nach Klavierbegleitung sowie bewusstes Zuordnen von Farben, Klängen und Stoffen praktiziert wurden, wie Walter Gropius es beschrieb: „Man schließt die Augen, [...], und man bekommt die Anweisung, entweder sich eine bestimmte farbige Kugel vorzustellen und sie dann mit den Händen in sie hineintretend abzutasten oder sich auf einen Ton einzustellen, der am Klavier angeschlagen wird. [...] Nicht etwa rhythmische Bewegungen à la Dalcroze kommen dabei heraus, im Gegenteil deutlich ist der gehemmte Intellektualist von dem strömenden naiven Menschen zu unterscheiden [...] Wie ein Unerlöster hält [...] ein Intellektualist die Hände vor die Augen und bewegt sich schlürfenden Schrittes, während der gelöste Mensch sich in steter rhythmischer Bewegung von Händen und Beinen befindet. Was bezwecken nun diese Übungen? Sie sind der Weg zum Finden von naturhaften Grundformen und wollen zugleich die innere Ordnung im Menschen 317 Düchting (1996), S. 45. 318 „Das Licht, die Farbe ist nicht nur spezifisch im Auge als blau, rot usw. zu fassen, sondern in erster Linie primär, als lebendige Kraft. [...] Alles vollzieht sich in gesetzmäßiger Ordnung äußerlich [...] und innerlich [...]. Jedes Mit-, Neben-, Über-, Unter-, Nacheinander im lebendigen Wirken der Kräfte beruht auf einer speziellen, gesetzmäßigen inneren Ordnung und erzeugt eine besondere Empfindung und äußere Erscheinung. Das oberste Gesetz, nach dem jede Ordnung aufgebaut ist, heißt Gleichgewicht. [...] Dadurch, daß die Natur dem Menschen durch das Gleichgewichtsorgan im Ohre einen Wächter und Hüter der Ordnung verliehen hat, ist das Ohr zum unmittelbarsten, obersten Richter der Ordnung im menschlichen Organismus bestimmt. [...] Das Ohr empfindet bei Anspannung des Organismus dessen lebendige Ordnung in eigener höchster spezifischer Empfindungsform, nämlich als einen Ton [...]. Jeder lebendigen Kraft, also jeder Farbe, entspricht eine gesetzmäßige Ordnung, ein Ton. [...] Aus der Einheit von Ton und Farbe geht eine Lebensform hervor, das heißt eine Empfindung, [...], welche sich am einfachsten und stärksten in der aufgerichteten Menschengestalt und deren geistigen und seelischen Ausdruck offenbart.“ Grunow zit. nach Düchting (1996), S. 42f.
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herstellen, [...]. Wenn wir neue Formen suchen, müssen sie in uns wiedergeboren werden aus der Totalität des Erlebens, dem Allgefühl (!) von Natur und Geist. Der Weg ist: Zuerst irrational und später steigend rational.“319
In der Erweiterung und Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung als Grundlage einer leiblich-seelisch-geistigen Einheit lag die Bedingung, elementare Empfindungen und Erfahrungen in eine äußere Gestalt umzusetzen und künstlerisch zu formen. Wie die Reflektorischen Farbenlichtspiele Hirschfeld-Macks stellte die Arbeit von Grunow eine direkte Verbindung des Bauhauses zur Synästhesieforschung her. Grunow selbst verließ 1924 das Bauhaus und arbeitete von 1926 bis 1934 an der Hamburger Universität zusammen mit dem Entwicklungspsychologen Heinz Werner an der Erforschung der Synästhesie und in der Gesellschaft für ästhetische Forschung.320 Das Phänomen Synästhesie war demnach am Bauhaus nicht nur bekannt, sondern floss über die Vorkurse in alle künstlerischen Bereiche, von bildender Kunst über Architektur bis zum Design. Besondere Möglichkeiten zur Umsetzung synästhetischer Versuche bot die von 1921 bis 1929 existierende Bauhausbühne. So waren die bereits betrachteten Farbenlichtspiele Hirschfeld-Macks und Kandinskys Bilder einer Ausstellung Teil der Bühnenexperimente am Bauhaus, die eine auf synästhetischen Prinzipien basierte Philosophie und Anthropologie mit neuen künstlerischen Praktiken und Techniken zusammenbrachten.321 Bezeichnenderweise war die Bühnenwerkstatt die einzige Werkstatt des Bauhauses, an die kein abgeschlossener Lehrgang angebunden war, sondern ihre Mitglieder rekrutierten sich aus Lehrlingen anderer Werkstätten. Insofern besaß die Bühnenwerkstatt am Bauhaus, die in Weimar eher provisorischen Charakter hatte und erst 1926 mit 319 Zit. nach Düchting (1996), S. 42. 320 Mitglieder dieser Gesellschaft waren u.a. Walter Gropius und der Musikpädagoge Heinrich Jakoby, der als Nachfolger Grunows am Bauhaus im Gespräch war. Jakoby wiederum hatte ab 1913 an der Schule in Hellerau für Rhythmische Gymnastik, Musik und Körperbildung von Dalcroze gearbeitet. Möglich ist, dass diese Gesellschaft für ästhetische Forschung in Zusammenhang mit der Psychologisch-ästhetischen Forschungsgesellschaft von Georg Anschütz in Hamburg steht oder gar mit ihr identisch ist, was jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden konnte. Die Bestrebungen einer Harmonisierungslehre wurden am Dessauer Bauhaus durch den gymnastischen Unterricht von Karla Grosch nach dem System der Tänzerin Palucca und die Vorträge des Gestaltpsychologen Karlfried Graf Dürckheim, der u.a. auf Wundt aufbaute, aufrechterhalten. 321 Hans Emons bringt das auf den Punkt: „Hirschfeld-Macks Farbensonatine wiederum als Licht-Spiel weder Film noch Handlungstheater, vereinigt die für die Bühnenprojekte des Bauhauses konstitutiven Elemente von Reduktion, Kinetik, Abstraktion und Synästhesie zu einem fast lehrhaft-anschaulichen Modell.“ Emons (2000), S. 233.
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Vollendung des Baus in Dessau mit allem Notwendigen eingerichtet und technisch wie künstlerisch voll funktionsfähig war, eine herausgehobene Stellung. Gropius selbst betonte 1923 die grundsätzliche Parallele seiner Bauhauskonzeption mit dem Bühnenwerk im Sinne der Gesamtkunstwerkidee und visionierte eine Experimentierbühne, die, getrieben von „einer metaphysischen Sehnsucht“, eine „übersinnliche Idee“ in der „Wirkung auf die Seele des Zuschauers und Zuhörers [...] im sinnfällig-optisch und akustisch wahrnehmbaren Raum“322 verdeutliche und so zu einer neuen Sprache finde.323 Später arbeitete Gropius selbst gemeinsam mit Erwin Piscator am ,Totaltheater‘ und entwickelte die ,Verwandlungsbühne‘. Diese charakterisierte er 1935 auf dem Volta-Kongress in einem Vortrag über das Teatro Dramatico als „eine große Klaviatur für Licht und Raum [...], ein flexibles Bauwerk, das schon vom Raum her den Geist umbildet und erfrischt“ und das durch sichtbare Dynamik das Publikum aktiviert, welches „seine Trägheit abschütteln“ wird, „sobald es den Überraschungseffekt des verwandelten Raumes erlebt“324. Analog zu den anderen Werkstätten begann die Arbeit der Bühnenwerkstatt, laut Gropius, mit der Analyse der zur Verfügung stehenden theatralen Mittel und deren darauf folgender Neukombination.325 Der erste Leiter der Bauhausbühne war bis 1923 der bereits im Kontext der Theaterreform erwähnte Lothar Schreyer, dessen Theater als Ort der Reinigung und Erlösung einem „kultischen Expressionismus“326, basierend auf synästhetischen Entsprechungen der Bühnenmittel, entsprach. Nach Differenzen Schreyers mit den Bauhausschülern übernahm ab 1923 Oskar Schlemmer, der bereits seit 1920 Leiter der Werkstatt für Steinbildhauerei und Wandmalerei war, die Bauhausbühne und baute sie zu einem Theaterlaboratorium für die Erforschung des Verhältnisses von Mensch und Raum aus. Dabei entwickelte er eine Mathematik des Theaters, die von den elementaren Form- und Be322 Gropius zit. nach Hoßner (1983), S. 162. 323 „Das Bühnenwerk ist als orchestrale Einheit dem Werk der Baukunst innerlich verwandt, beide empfangen und geben einander wechselseitig. Wie im Bauwerk alle Glieder ihr eigenes Ich verlassen zugunsten einer höheren gemeinsamen Lebendigkeit des Gesamtkunstwerks, so sammelt sich auch im Bühnenwerk eine Vielheit künstlerischer Probleme, nach diesem übergeordneten eigenen Gesetz, zu einer neuen größeren Einheit.“ Gropius zit. nach Düchting (1996), S. 145. 324 Gropius zit. nach Hoßner (1983), S. 175f. 325 „Klare Neufassung des verwickelten Gesamtproblems der Bühne und ihre Herleitung von dem Urgrund ihrer Entstehung bildet den Ausgangspunkt der Bühnenarbeit. Die einzelnen Probleme des Raumes, des Körpers, der Bewegung, der Form, des Lichtes, der Farbe und des Tons werden erforscht, die Bewegung des organischen und des mechanischen Körpers, der Sprachton und der Musikton wird gebildet, der Bühnenraum und die Bühnenfigur gebaut.“ Gropius zit. nach Düchting (1996), S. 145. 326 Düchting (1996), S. 149.
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wegungsstrukturen des menschlichen Körpers als „Mechanismus aus Zahl und Maß“327 und dessen choreografischen Möglichkeiten im Raum ausging. Das Synästhetische verwirklichte sich dabei als Entsprechung des Raumes in seinen geometrischen Dimensionen mit einer sich aus Farbe und Form konstituierenden mechanischen Konzeption des Körpers. Verstand Schlemmer diese Korrespondenzen als in der Natur des Menschen liegende Gegebenheiten, so war sein Raumverständnis, angelehnt an eine abstrakte Malerei, ein stark vom Naturhaften abstrahiertes und reduziertes Modell, das sich perfekt in das künstliche Milieu des Bühnenraums fügte. Weitergedacht ließe sich Schlemmers Theaterarbeit unter dieser Betrachtung als Vorwegnahme eines künstlich geschaffenen, rein medial existierenden Raumes lesen, in den sich die ebenfalls abstrahierte, auf Formen und Farben reduzierte menschliche Gestalt einfügen ließ. Damit realisierte er Prinzipien der Transformation, Anverwandlung und Integration des Menschen an und in einen virtuellen Raum, wie sie später von Fernseh-, Video- und digitaler Technik gefordert wurde. In seinem Aufsatz Mensch und Kunstfigur von 1925 beschrieb er die Geschichte des Theaters als „Geschichte des Gestaltwandels des Menschen [...] im Wechsel von Naivität und Reflexion, von Natürlichkeit und Künstlichkeit“328. Als bildender Künstler mit Farbe und Form arbeitend, definierte für ihn die Gestalt als Synthese von Farbe und Form das Ideal eines Theaters als „optische Schaubühne“, „wo Dichter und Schauspieler zurücktreten zugunsten des Optischen oder durch dieses erst wirksam werden“, wie es in „Ballett, Pantomime, Artistik; ferner auf den von Dichter und Schauspieler unabhängigen Gebieten der anonym oder mechanisch bewegten Form-, Farb- und Figurenspiele“329 der Fall sei. Basierend auf den abstrakten Mitteln von Form, Licht und Farbe boten die Bühne und der menschliche Körper den beteiligten Künsten Architektur, Plastik und Malerei das Mittel der Bewegung. Aus dieser Kombination sollte die „absolute Schaubühne“330 entstehen, die die Diskrepanz zwischen architektonischem, abstraktem Raum und menschlichem Körper durch Anpassung der menschlichen Figur an den Raum zu überwinden suchte. Anders als Hirschfeld-Mack verzichtete Schlemmer nicht auf die menschliche Gestalt, sondern verwandelte sie der Mathematik des kubischen Raumes an, die vollkommen der „dem menschlichen Körper innewohnenden Mathematik“331 entspräche, wie sie sich in den unsichtbaren Funktionen von Herzschlag, Blutkreislauf, Atmung, Hirn- und Nerventätigkeit spiegele. Der Mensch sei nicht nur „ein Organismus aus Fleisch und Blut“, sondern auch „Träger von Zahl und Maß aller Dinge“332. Die Be327 Schlemmer zit. nach Düchting (1996), S. 151. 328 Schlemmer (1985), S. 7. 329 Ebd., S. 20. 330 Ebd., S. 12. 331 Ebd. 332 Ebd..
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wegungen des Körpers in diesem Bühnenraum müssten wiederum seiner inneren Mathematik entsprechen und also mechanische, vom Verstand bestimmte sein, eine „Geometrie der Leibesübungen, Rhythmik und Gymnastik“333. Auf diese Weise werde der Mensch durch die Bewegung zum Zentrum und Schöpfer eines imaginären Raumes, der als ein virtueller Raum gedacht werden kann. Vollkommen vereinten sich die Gesetze des abstrakten Raumes und des organischen Körpers im „Tänzermenschen“334, für den Schlemmer zur Verdeutlichung der Ausdrucksmittel eigens vier Kunstfiguren entwarf, die sowohl unsichtbare Raum-, Funktions- und Bewegungsgesetze als auch metaphysische Vorstellungen sinnfällig zur Darstellung bringen könnten.335 Aus der Gegenüberstellung des nackten Menschen mit der Kunstfigur ergab sich für Schlemmer nicht nur die Möglichkeit, beide in ihrem Wesen zu erkennen. Aus ihrer Kombination erschlossen sich darüber hinaus neue Theaterformen, wie z.B. „das Abstrakt-Formale [...] Theater, [...], das Mechanische, Automatische und Elektrische Theater, das Gymnastische, Akrobatische [...] Theater, das Komische, Groteske und Burleske Theater, das [...] Pathetische und Monumentale Theater und das Politische, Philosophische und Metaphysische Theater“336. Entwarf Schlemmer die Kunstfigur als ein theatrales Instrumentarium, das sowohl für Gemeinschaftsentwürfe und sakral-mythische Dar-stellungen als auch für abstrakte Form- und Farbenspiele und rhythmisch-tänzerische Darstellungen anschlussfähig war, so lassen sich seine Überlegungen zugleich als Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Mensch und von ihm abstrahierten, künstlich und medial generierten Doppelgängern deuten, die sich zunehmend auf Leinwänden und Bildschirmen in imaginären Räumen tummelten und mit dem Zuschauer interagierten. Schlemmers Kunstfiguren lassen sich so als Medialisierungen des Menschen lesen, ein Gedanke, der sie aus heutiger Perspektive als frühe Entwürfe von Avataren, grafisch generierten Stellvertretern in virtuellen Räumen, erscheinen lässt, die sich dessen formalen Gegebenheiten und Gesetzen anpassen.337 Die Affinität von
333 Ebd., S. 13. 334 Ebd., S. 15. 335 Das Kostüm wandelnde Architektur übertrug die kubischen Raumformen auf den menschlichen Körper, die Gliederpuppe verkörperte die Funktionsgesetze des menschlichen Körpers, ein technischer Organismus entsprach den Bewegungsgesetzen des menschlichen Körpers und das Modell Entmaterialisierung den metaphysischen Ausdrucksformen. 336 Schlemmer (1985), S. 19. 337 Interessanterweise stammt der Begriff ,Avatar‘ aus einer gleichnamigen Erzählung von Théophile Gautier aus dem Jahr 1856, in der er, angelehnt an sein Interesse am Mesmerismus, eine Seelenwanderung zwischen dem in eine verheiratete und treue Gräfin unglücklich verliebten Octave und deren Ehemann beschreibt, die aber nicht zum Erfolg
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Schlemmers Entwürfen einer „optischen“ oder „absoluten Schaubühne“ zu medialen Räumen und Settings drängt sich auch dadurch auf, dass Schlemmer selbst das synthetisch-künstliche Element klar herausstellte, indem er zwar von einem ,natürlichen‘ Körper ausging, diesen aber ganz bewusst in abstrakt-geometrischen Formen idealisierte und damit den Konstruktionsprozess betonte. Mit praktischen Umsetzungen seiner Ideen experimentierte Schlemmer bereits seit 1912 gemeinsam mit dem Tänzer Albert Burger unter dem Einfluss Schönberg’scher Musik, Kandinskys Gelbem Klang und Skrjabins Promethée. Le poem du feu.338 Als Ergebnis entstand Schlemmers berühmtes Triadisches Ballett, das, nach einer ersten Version aus dem Jahr 1916, 1922 in Stuttgart uraufgeführt wurde. Abbildung 17: Oskar Schlemmers Figurinenplan zum „Triadischen Ballett“
©Theatermuseum der Universität Köln
,Triadisch‘ stand zum einen für das Ordnungsprinzip des Tanzstücks, bei dem eine Tänzerin und zwei Tänzer in zwölf Tänzen in 18 verschiedenen abstrakten Kostümen tanzten, und markierte zum anderen die Überwindung dualistischer Gegensätze und den Beginn eines Kollektivs. Die Tänze gliederten sich in drei Abteilungen, die jeweils eine bestimmte Farbigkeit des Bühnenhintergrundes besaßen, die der Stimmung entsprechen sollte.339 Die Kostüme, und mit ihnen die Bewegungen, die sie der Verführung der Frau führt, da diese die Diskrepanz zwischen dem Körper ihres Mannes und dem fremden Geist spürt. 338 Vgl. Sauerland (1991), S. 173. 339 Im ersten, ,heiter-burlesken‘ Teil war die Bühne zitronengelb, im ,festlich-getragenen‘ zweiten Teil rosa und im dritten, ,mystisch-phantastischen‘ Teil schwarz. Vgl. Düchting (1996), S. 150.
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jeweils forderten oder überhaupt ermöglichten, dienten der Anverwandlung der menschlichen Figur an die Dimensionen und die Stimmung des Raumes, in dem die geometrischen Grundformen Dreieck, Kreis und Quadrat, die drei Grundfarben Rot, Blau und Gelb sowie die Art der Bewegung nach synästhetischen Entsprechungsprinzipien gezielt thematisch eingesetzt wurden. Während Schlemmers Zeit am Bauhaus, das er 1929 verließ, entstanden in der Folge des Triadischen Balletts die Bauhaustänze, die meist zu den Bauhausfesten aufgeführt wurden. Bei diesen Tänzen, wie dem Raumtanz, dem Stäbetanz, dem Gestentanz oder dem Metalltanz, handelte es sich um Choreografien, die im Zusammenspiel elementarer Requisiten wie Würfeln, Stäben, Bällen oder Reifen mit fundamentalen Körperbewegungen, die durch die Requisiten bestimmt waren, entwickelt wurden. Abbildung 18: „Der Stäbetanz“ von Oskar Schlemmer, aufgeführt an der Bauhausbühne in Dessau, 1927
Aus: Düchting (1996), S. 245.
Der Mensch wurde dabei in einen künstlichen, von Materialien und ihren Geometrien bestimmten Raum gestellt, wobei deren Einfluss auf die Bewegungen und den Körper selbst sicht- und greifbar wurde.340 Ein ebenfalls theateraffiner Künstler, László Moholy-Nagy, wurde 1923 als Nachfolger von Johannes Itten ans Bauhaus berufen und gab mit seiner industriellfunktionell ausgerichteten Ästhetik dem Bauhaus eine stärkere Tendenz zur Werbung und zur Industrie. Als ,Künstler-Ingenieur‘ nutzte Moholy-Nagy die Bühne v.a. als ein experimentelles Feld für die künstlerische Erforschung von Sehgewohnheiten unter den neuen medialen Gegebenheiten. Sein Ausgangspunkt war eine 340 Auch nach Verlassen des Bauhauses arbeitete Schlemmer weiter an Theaterprojekten. So inszenierte er z.B. im Sommer 1930 an der Kroll-Oper in Berlin Die glückliche Hand von Arnold Schönberg.
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ganzheitliche, synästhetische Sinnesschulung der optischen, haptischen und akustischen Sphäre auf der Basis von Ernst Machs Erkenntnistheorie, der zufolge er Empfindungen als nicht hinterfragbare Bauteile der Konstruktion einer Wirklichkeit verstand, die nur in der Betrachtung ihres Zusammenspiels erfassbar sei.341 Damit rekurrierte er auf ein spezifisches Prinzip neuer Medientechniken wie dem Film, die in der synthetischen Neukombination verschiedensinnlicher Elemente auf Basis des Synästhetischen diesen neue und wechselnde Bedeutungen verliehen, während zugleich das isolierte Empfinden elementarer Erfahrungen des Lichts, des Klangs, der Fläche, des Volumens, der Zeit oder des Raumes durch die neuen Technologien selbst geschult werde. Galt Moholy-Nagys besonderes Interesse der Auseinandersetzung mit Licht und Farbe, so verfolgte er intensiv die Entwicklung des abstrakten Films und der Farbe-Ton-Forschung und unterstützte z.B. Hirschfeld-Macks Lichtspiele. Sein Plädoyer für eine neue Lichtkunst als Malerei mit Licht zielte auf dessen direkte Gestaltung ab, die zum einen „von der statischen zur kinetischen Gestaltung“342 und zum anderen als „Lichtarchitektur“ zu deren Ausdehnung im Raum hinführen sollte.343 In dieser Linie trafen sich seine Überlegungen mit der Bühne, für die er von 1922 bis 1930 eigens ein Lichtrequisit konstruierte. Der Licht-RaumModulator war ein elektrisch bewegbarer Apparat aus Metall, Glas und Kunststoffen, der mittels Glühbirnen sich verändernde farbige Licht- und Formenspiele projizieren konnte und dadurch „das Licht in seiner Struktur erfassen und dessen RaumZeit-modulierende Kraft in materieller Existenz sichtbar machen“344 sollte. In der variablen Kombination aus Farbe, Licht und Bewegungen versinnbildlichte der Licht-Raum-Modulator die Grundbedingungen des modernen Daseins im Zeitalter der Technik, unter denen sich Erkenntnis erst aus dem flüchtigen und wechselnden Zusammenspiel der Sinne generiert.345 Diese Auffassung fließender Übergänge 341 „die von einem ausdruckswunsch her erfolgte zusammenstellung der tastwerte ergibt einen neuen ausdruckswert ebenso wie farben oder töne nicht mehr als einzelne farboder tonwirkungen da sind, wenn sie in eine bewußte (oder im unbewußten zielsichere) beziehungsgemeinschaft gesetzt werden: sie werden umgestaltet zu einem sinnvollen etwas, zu einem organismus, der aus sich die kraft ausstrahlt, die ein neues lebensgefühl auszulösen vermag.“ Moholy-Nagy zit. nach Düchting (2002), S. 252. Vgl. MotteHaber (1999), S. 53. 342 Zit. nach Düchting (1996), S. 62. 343 „seit der erfindung der fotografie ging die entwicklung der malerei vom ‚pigment zum licht’, das heißt, ebenso wie mit pinsel und farbe hätte man in der letzten periode schon mit dem licht direkt ‚malen’, also die zweidimensionale farbige fläche in eine lichtarchitektur verwandeln können.“ Moholy-Nagy zit. nach Düchting (1996), S. 58. 344 Moholy-Nagy zit. nach ebd., S. 62. 345 „absehbare und unergründliche beziehungen entstehen gleicherweise unter kosmischer determination. die chemisch-fysisch-transzendenten einflüsse der wechselwirkenden
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zwischen sich synästhetisch beeinflussenden Sinneserfahrungen und Wahrnehmung, Denken und Fühlen prägte auch seine generelle Haltung zum Theater. So forderte er in seinem Aufsatz Theater, Zirkus, Varieté von 1925 bei der Bühnengestaltung eine „Aktionskonzentration“ aus Ton, Licht, Raum, Form und Bewegung, die er „Mechanische Exzentrik“346 nannte. Dabei müsse das menschliche Wort durch Musik und der menschliche Körper durch Formen ersetzt werden, um die Vorherrschaft logisch-gedanklicher Verknüpfungen und Werte aufzuheben. Im „neuen THEATER DER TOTALITÄT“ werde auf diese Weise ein neuer Typ des Darstellers „die ihm zur Verfügung stehenden geistigen und körperlichen Mittel aus sich heraus PRODUKTIV verwenden und sich in den Gestaltungsvorgang INITIATIV einordnen“347. Stand dieser Anspruch ganz im Sinne der Anforderungen, die dem Menschen in modernen Lebensräumen abverlangt wurden, so formulierte Moholy-Nagy hier eine frühe Version der Performativität, wie sie sich später in der Happening- und Performance-Kunst verwirklichen sollte. In Form der Anpassung an wechselnde Kontexte und Bedeutungsgefüge mittels synästhetischer Organisation der Wahrnehmung und der Bewältigung von Reizüberflutung sei es Aufgabe des künftigen Schauspielers, „das allen Menschen GEMEINSAME in Aktion zu bringen“, während jegliche „Individualproblematik“348 ausgeschlossen sein müsse. Die technische Umsetzung dieser Vision von Theater stellte v.a. die Frage, wie „sich menschliche Bewegungs- und Gedankenfolgen in den Zusammenhang von beherrschbaren, ‚absoluten‘ Ton-, Licht- (Farbe), Form- und Bewegungselementen gleichwertig einordnen“349 lassen. Die Lösung dieses Problems sah Moholy-Nagy durch eine „SIMULTANE; SYNOPTISCHE; SYNAKUSTISCHE [...] Wiedergabe von Gedanken (Kino, Grammophon, Lautsprecher) oder eine ZAHNRADARTIGE INEINANDERGREIFENDE Gedankengestaltung“350, wie sie sich z.B. durch den Einsatz von Chören verwirklichen lasse. Integrierte Moholy-Nagy auf diese Weise alle vorhandenen Medientechniken und Apparate, die v.a. den Zweck erfüllten, den Menschen zu medialisieren, d.h. in einen medial strukturierten, abstrakten Raum einzupassen, so griff er mit dem Chor in Anlehnung an Nietzsche zugleich auf antibeziehungen verdichten sich verschieden, je nach gesetzlichem ablauf. einmal zur blauen farbe, ein andresmal zu einem aggregatzustand und ein drittes mal zur sublimation des geistes, das denken als funktionelles ergebnis von körper und weltallbeziehungen – ist in seinen erscheinungen ein stetiges, ein immer von neuem entstehendes fänomen. geist ist immanente emanation menschlichen daseins.“ Moholy-Nagy zit. nach ebd., S. 62. 346 Moholy-Nagy (1985), S. 47. 347 Ebd., S. 49. [Herv. i.O.] 348 Ebd., S. 49. 349 Ebd., S. 51. 350 Ebd., S. 52. [Herv. i.O.]
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ke, entindividualisierte Formen zurück. Unter der Prämisse der Generierung von Wirklichkeit und Sinn aus einem synästhetischen Zusammenspiel der Sinne, das sich als spezifisch mediale Wahrnehmungsweise entpuppte, eröffnete sich ein Raum der Möglichkeiten, der, wie bei Schlemmer, als ein medialer oder virtueller Raum gedacht werden kann, der nicht einer sprachlichen Logik des Nacheinanders folgte. Aus den vielfältigen Simultaneitätseffekten sollte sich im Ergebnis eine „GESAMTBÜHNENAKTION“ ergeben, ein „großer, dynamisch-rhythmischer Gestaltungsvorgang, welcher die größten miteinander zusammenprallenden Massen (Häufung) von Mitteln – Spannungen von Qualität und Quantität – in elementarer gedrängter Form zusammenfasst“351. Ansatzweise verwirklicht sah Moholy-Nagy seine Vorstellungen in Zirkus, Operette, Clownerie und Varieté, bei denen zudem eine Aufhebung der Trennung von aktiver Bühne und passivem Zuschauerraum angelegt sei, die für seine Konzeption unerlässlich war. So sah er für die Bühne seines Theaters der Totalität verschiebbare Raumbauten und bewegliche Platten vor, um Elemente der Bühnenhandlung hervorzuheben, wie es im Film die Großaufnahme vermochte.352 Zeigte sich daran zum einen, inwieweit filmische Techniken und Wahrnehmungsmuster auf ältere Kunstformen wie das Theater und die Wahrnehmung überhaupt zurückwirkten, so deutete sich in Moholy-Nagys Entwurf zugleich an, dass sich die Konzeption des Synästhetischen mehr und mehr auf die Kombination verschiedener medialer Elemente verlagerte, aus der sich neue virtuelle Räume generieren. Das offenbarte sich auch in dem „NEUEN SPIELLEITER“, den Moholy-Nagy forderte und den er als einen „tausendäugigen, mit allen modernen Verständigungs- und Verbindungsmitteln ausgerüsteten“353 Ingenieur, Techniker und Künstler beschrieb. Anders als Schlemmer hat Moholy-Nagy sein in Theater, Zirkus, Varieté konzipiertes Bombardement aller Sinne des Zuschauers nicht in konkrete praktische Experimente an der Bauhausbühne umgesetzt. Seine Wirkung auf zukünftige Künstlergenerationen, die mediale Elemente nach dem Prinzip des Zufalls kombinierten und die er nach seiner Emigration in die USA dort prägte, war hingegen weitaus größer. Dominierte in allen realisierten oder unrealisierten Entwürfen rund um die Bauhausbühne der Synthesegedanke als Tendenz einer intensiven Analyse und Neuverknüpfung der Elemente zu einem Gesamtkunstwerk, so diente das Synästhetische der Erforschung der primären Beziehungen der künstlerischen Mittel jenseits logisch-sachbezogener Zusammenhänge und wurde zum Kennzeichen einer ,absolu351 Ebd. [Herv. i.O.] 352 „Die nächste Form des entstehenden Theaters wird auf diese Forderungen [...] wahrscheinlich mit schwebenden HÄNGE- UND ZUGBRÜCKEN kreuz und quer, aufwärts und abwärts, mit einer in dem Zuschauerraum vorgebauten Tribüne usw. antworten.“ Ebd, S. 55. [Herv. i.O.] 353 Ebd. [Herv. i.O.].
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ten Kunst‘354. Als Denk- und Wahrnehmungsmodell, aber auch als Folie der künstlerischen Synthese, der abstrakten Darstellung, der aktiven Rezeption und des Künstlermenschen spielte das Synästhetische im Gesamtprojekt Bauhaus, mehr oder weniger explizit ausgesprochen, im Rahmen einer Schulung und Anpassung der Sinne, des Geistes und des Körpers an die neuen modernen Lebensbedingungen und deren ästhetisch-künstlerische Implikationen eine große Rolle. In geballter Ansammlung verschiedener Künstlerpersönlichkeiten, zwischen denen sich Synergieeffekte herstellten, begann bis zur Schließung des Bauhauses im Jahr 1933355 v.a. an der Bauhausbühne eine Erschließung medialer Räume und Möglichkeiten, die ihre Wirkung erst mit der Weiterentwicklung der Medientechnik nach dem Zweiten Weltkrieg vollends entfaltete.356 Hat das Synästhetische das künstlerische Schaffen der 1920er und 1930er Jahre als konstruktives Modell wesentlich beeinflusst, so trat es v.a. als Funktionsweise neuer, technischer Kopplungen von Bild und Ton hervor, die durch die Entwicklung der Medientechniken wie z.B. Film, Radio, Tonfilm und Fernsehen zunehmend realisierbar wurden.357 Arbeiteten diese Techniken nach dem Prinzip der Trennung und Aufspaltung der Sinneswahrnehmungen in verschiedene Aufnahmetechniken und Trägermedien, so führten sie diese im nächsten Schritt technischsynthetisch wieder zusammen. Genau dieser Vorgang der Zerlegung und Synthese wurde mittels des Synästhetischen naturalisiert und anthropologisiert. Die Ausformulierung des Synästhetischen sowohl auf wissenschaftlicher Ebene in der FarbeTon-Forschung oder in philosophischen Richtungen als auch in der Kunst und in frühen Medientheorien war von dem Gedanken einer Analyse der Sinne und ihrer darauffolgenden Synthese und Neukombination durchzogen. Näherten sich dadurch Wissenschaft und Kunst, Natur- und Geisteswissenschaft einander an, so erhielt das Synästhetische durch eine Verankerung in der frühen Menschheits- und Kulturgeschichte einen ,ursprünglichen‘ Anstrich und implizierte zugleich eine gegen Entfremdungstendenzen gerichtete Einheitsutopie, die sich im Menschen selbst begründete. Durch die Verallgemeinerung des Synästhetischen als allen Menschen zukommende Fähigkeit stellte es zugleich ein geeignetes Mittel und Modell der 354 Hoßner (1983), S. 172. 355 Gropius trat 1928 als Direktor zurück, seine Nachfolger wurden Hannes Meyer und 1930 Mies van der Rohe. 356 Vgl. Weibel (1987), S. 58. 357 Das Fernsehen entwickelte sich in der Zeit zwischen 1920 und 1940 unter Begriffen wie ,elektrisches oder telegrafisches Sehen‘ aus der Arbeit mehrerer Techniker und Erfinder, die jeweils einzelne Elemente beitrugen. 1926 gelang die erste fernsehtechnische Übertragung eines Bildes, 1928 die Übermittlung eines Fernsehbildes von London nach New York. Ab 1935 wurde in Deutschland das erste regelmäßige Fernsehprogramm der Welt ausgestrahlt. Vgl. Abramson (2002).
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Kommunikation von und zwischen Massen dar, die direkt ohne Sprache funktionieren könne. Das Synästhetische wurde in den 1920er Jahren auf diese Weise Teil der Konzeption eines neuen Menschen, der auf allen Gebieten als Pendant zur medialtechnischen Entwicklung entworfen wurde, aus der es selbst erst hervorgegangen war. Als universelle allgemeinmenschliche Eigenschaft der Wahrnehmung wurde das Synästhetische gleichermaßen Projektionsfläche einer auf der sinnlichen Wahrnehmung fußenden, gemeinschaftsstiftenden Kunst wie auch Dispositiv einer zunehmend technisch organisierten Wahrnehmungs- und Alltagskultur. Gestützt wird diese These durch den Befund, dass das öffentliche Interesse an dem Phänomen des Farbenhörens und der Synästhesien sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf künstlerischer Ebene spätestens ab Mitte der 1930er Jahre deutlich zurückging, wie es sich auch bei der Farbe-Ton-Forschung, der Farblichtmusik oder dem abstrakten Film zeigte. Kann das z.T. auf die politisch-gesellschaftliche Entwicklung des Nationalsozialismus zurückgeführt werden,358 so waren z.B. durch den Tonfilm, folgt man der Argumentation Benjamins, synästhetische Wahrnehmungspraktiken so weit in die Alltagskultur übergegangen, dass es einer Betonung und ihrer Instrumentalisierung nicht mehr bedurfte. In diesem Sinne kann z.B. folgende Aussage Argelanders aus dem Jahr 1927 verstanden werden: „Die Tatsache des Farbenhörens ist eines derjenigen Probleme, auf die sich das Wort anwenden lässt von der Wahrheit, die als Paradoxon geboren wird, um als Banalität in der Gosse zu endigen.“359 Offenbart sich das Synästhetische als Projektionsfläche einer medialen Transformation von Kultur, so erscheint ein erneutes Interesse an der Synästhesie, wie es in den 1980er Jahren aufkam, als Ausdruck einer Neuverhandlung von Wahrnehmungsmodellen und -praktiken und damit zusammenhängenden Erkenntnisstrategien, die wiederum auf neue digitale Medientechniken reagieren. Erzeugten diese offensichtlich einen Bruch im kulturellen Diskurs, so zogen sie zu358 Zunächst fügte sich das Synästhetische auf Grund seiner Eingebundenheit in archaischmythische Kontexte durchaus in die nationalsozialistische Ideologie und in eine auch von den Nationalsozialisten propagierte Ganzheits- und Gemeinschaftsutopie ein. So basierten die Thingspiele auf der Gesamtkunstwerkidee Wagners und ihrem synästhetisch-gesamtsinnlichen Anspruch und die Masseninszenierungen der nationalsozialistischen Parteitage und Aufmärsche arbeiteten, wie auch die kommunistischen Massenveranstaltungen und Arbeiterfestspiele in den 1920er Jahren, nach dem Prinzip des synästhetischen Mitschwingens. Georg Anschütz und Fritz Böhme konnten ihre Forschungen unter nationalsozialistischer Flagge weiter betreiben und nahmen durchaus nicht unwichtige Positionen im Deutschen Reich ein. Was jedoch zum Problem wurde, war die Verbindung des Synästhetischen zu einer modernen Kunst, die in großen Teilen als entartet erklärt wurde, wodurch erneut pathologische Vorstellungen à la Nordau auflebten. 359 Argelander (1927), S. 3f.
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gleich einen Wandel der Konzeption des Synästhetischen nach sich, der sich jedoch schon in den 1930er Jahren andeutete und in der Zeit von 1940 bis etwa 1980 ausgeformt wurde. Die Rede vom Verschwinden des Synästhetischen in den 1940er Jahren und seiner Wiederentdeckung in den 1980er Jahren muss deshalb einer kritischen Prüfung unterzogen werden.
IV. Intermediale Effekte
Die Ausformulierung des Synästhetischen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildete die Grundlage einer technischen Gleichschaltung von Bild und Ton, die in der Digitalisierung um die Jahrtausendwende ihre Vollendung fand. Das digitale Prinzip als Matrix der beliebigen und permanent möglichen Transformation von verschiedenen Sinnesdaten, deren Materialisierung als Klang oder Ton lediglich von Ausgabegeräten und entsprechenden (Datei-)Formatierungen bestimmt wird, verwirklicht die Utopie einer Einheit der Sinne und Ganzheit der Wahrnehmung im Technischen. Als Neuformulierung des Synästhetischen in den 1980er Jahren realisiert das Digitale Übersetzungsmuster zwischen den Sinnen, wie sie physiologische Theorien im 19. Jahrhundert über das Phänomen der audition colorée in elektrischen Nervenimpulsen entwarfen. Nicht Übertragungsleistungen von einem Sinn in einen anderen sind dabei wesentlich, sondern alle Sinnesdaten werden auf einen Code rückführbar, den elektrische Aktionspotenziale in der Physiologie und der binäre Zahlencode im Digitalen verkörpern. Die anthropologische Verankerung des Synästhetischen in den 1920er Jahren wird damit als Prozess einer Medialisierung des Menschen und der Kultur sichtbar, die aus der Perspektive einer sich seit den 1980er Jahren zunehmend digitalisierenden und vernetzenden Welt sinnfällig erscheint, in der, so die langläufige Meinung, die Synästhesien nach einer Phase des Desinteresses ,wiederentdeckt‘ werden. Dieses Desinteresse indes lässt sich vielmehr als Bruch im Synästhesiediskurs deuten, bei dem dessen anthropologische und technische Dimension zunächst voneinander entkoppelt wurden und erst in den 1980er Jahren in einer erneuten Euphorisierung des Synästhetischen wieder vollständig zueinander finden. Mehrere Autoren behaupten ab etwa 1940 bis in die 1960er und 1970er Jahre hinein ein fast vollständiges Fehlen des Phänomens Synästhesie im wissenschaftlichen und künstlerischen Diskurs, das sich in der Betrachtung der in dieser Zeit zum
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Thema erschienenen Publikationen zu bestätigen scheint.1 Führen sie dafür mehrere offensichtliche Gründe an, wie die gravierenden gesellschaftspolitischen Ereignisse rund um den Zweiten Weltkrieg, die Durchsetzung des Behaviorismus als wissenschaftliches Paradigma oder auch die Ergebnislosigkeit wissenschaftlicher und künstlerischer Experimente der 1920er und 1930er Jahre, so vernachlässigen derartige Positionen eine innovative, die Trennungen zwischen den Künsten und Sinnen aufhebende künstlerische Praxis der 1950er und 1960er Jahre. Entgegen der Behauptung des Verschwindens und Wiederauftauchens des Synästhetischen im kulturellen Diskurs muss vielmehr von einem durch mediale, wissenschaftliche und künstlerische Veränderungen gleichermaßen motivierten Umbau synästhetischer Konzepte hin zu einer Theorie des Intermedialen, der Verknüpfung und Verbindung verschiedener Medien, ausgegangen werden. In einer Phase des Auslotens und Kombinierens verschiedener Medientechniken, in der Künstler als Techniker und Techniker als Künstler mit intermedialen Effekten experimentierten, wurde das Synästhetische als Wahrnehmungsdispositiv einer digitalisierten Kultur bereits vor den 1980er Jahren ausgearbeitet. In der Kombination von Musik, Geräusch, Bewegung und Bild als Fortführung synästhetischer Versuche der ersten Jahrhunderthälfte entdeckte eine junge Künstlergene-ration in Happenings, Performances und Installationen Wahrnehmungspraktiken und -muster einer computerbasierten Medienrevolution, die erst in den 1980er und 1990er Jahren in ihren Implikationen und Auswirkungen für die Kultur vollends sichtbar wurden. Im Anschluss an Ideen einer visuellen Musik oder einer bewegten Malerei formten Künstler wie John Cage oder Nam June Paik neue künstlerische Konzepte und Formen aus, die Grenzüberschreitungen zwischen Sinnen, Künsten, Medien, Wissenschaften und Alltagskultur zum grundlegenden Prinzip erhoben und auf diese Weise eine Beschäftigung mit elektronischen Medien in ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Funktion initiierten. Diese Künstler kombinierten verschiedensinnliche Elemente nicht mehr auf der Basis geheimer Entsprechungen oder einer angenommenen Einheit, sondern frei nach dem Prinzip des Zufalls. Damit rekurrierten sie zwar auf Ganzheitsutopien oder das Gesamtkunstwerk, entlarvten diese jedoch, indem sie deren künstlich-synthetischen, konstruierten Charakter ausstell1
„After interest peaked between 1860 and 1930, it was forgotten, […] simply because psychology and neurology were premature sciences. […] Just as concepts became recognizable modern, behaviorism appeared with such draconian restrictions that even aknowledging the existence of an inner life was taboo for a long time. Subjective experience, such as synesthesia, was deemed not a proper subject for scientific study.“ Cytowic (1995). Der Medienwissenschaftler Dieter Daniels konstatiert ein Ende der Ansätze einer audiovisuell experimentierenden Avantgarde in den 1930er Jahren und begründet dies mit der politischen Situation und dem Erreichen künstlerischer und auch technischer Grenzen des Möglichen. Vgl. Daniels (2009), S. 241.
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ten. Zugleich verdeutlichten sie damit die Funktionsweise technischer Medien, die, allein den Prinzipien der Apparatur verpflichtet, sich gegenseitig beeinflussende Sinneserfahrungen in Form von Bild und Klang beliebig kombinieren und damit völlig neue Sinnkontexte schaffen konnten. Auf diese Weise übertrug sich das Konzept des Synästhetischen, der Einheitsutopie entledigt, von einer Verbindung der Sinne und Künste auf die Kombination von Medien. Abbildung 19: Nam June Paik „Klavier Integral“ Installation, Klavier präpatiert mit Alltagsgegenständen, 1958-63
©Museum Moderner Kunst, Wien
In Gemeinschaftsprojekten von Künstlern verschiedener Gattungen, die das Prinzip des genialen synästhetischen Künstlersubjekts bewusst unterliefen, verlagerte sich das Synästhetische in eine künstlerische Praxis der Erprobung und Verknüpfung verschiedener Medientechniken, prägnant zusammengefasst in dem von dem Fluxus-Künstler Dick Higgins 1965 geprägten Begriff ,Intermedia‘. Damit nahm die Kunst Prinzipien des Digitalen als Kombination ,von allem mit allem‘ voraus, die die neue synästhetische Ganzheitsutopie technisch motivierten. Das Synästhetische, neu formuliert als intermedialer Effekt, gipfelte in der digitalen Vereinheitlichung und Gleichschaltung der Sinnesdaten und nahm sie vorweg. Dabei unterliefen zufällige Kombinationen der Künste, Materialien und Medien einen Werk- und Kunstbegriff und negierten die Annahme einer wie auch immer gearteten Einheit
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und Ganzheit außerhalb des Subjekts, auf die sich künstlerische Entwürfe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch bezogen. Vielmehr verlegten sie die Konstituierung von Sinn und Bedeutung in das subjektive Erleben der Rezipienten, in denen sich multiple Kunstwerke in performativen Akten formten. Als künstlerisches Prinzip verwies das Synästhetische auf die Funktionsmechanismen einer medial definierten Wahrnehmung nach dem Prinzip mehr oder weniger zufällig aufeinandertreffender, aber sich gegenseitig beeinflussender Sinnesempfindungen, aus denen sich nicht nur Bedeutung, sondern das Subjekt und seine Realität selbst erst generieren. Das vermeintliche Verschwinden des Synästhetischen muss daher vielmehr als Neuformulierung des Synästhetischen unter neuen medialen Bedingungen gedeutet werden. Das verstärkt wiederum die These der Konstituierung des Synästhesiediskurses in enger Bindung und Parallelität an die Erfindung und Weiterentwicklung technischer Medien seit dem 19. Jahrhundert. Dabei ist dieser Bruch bei genauerer Betrachtung weniger stark ausgeprägt als vermutet, deutete sich die Neuformulierung des Synästhetischen doch bereits in den 1930er Jahren an. Als Projektionsfläche für sich verändernde kulturelle und v.a. mediale Bedingungen impliziert das Synästhetische zum einen eine Konstanz im kulturellen Diskurs seit dem Einwirken technischer Medien auf Wahrnehmungspraktiken, zum anderen markieren die sich in Umdeutungen und Veränderungen des Synästhetischen manifestierenden Brüche im Synästhesiediskurs einen Wandel der ihn speisenden Bedingungen und Elemente. War das Synästhetische in den 1920er Jahren in die Vision eines neuen Menschen und einer daraus hervorgehenden neuen Gemeinschaft involviert, so wurden diese Ideen durch den Nationalsozialismus pervertiert und ins Negative verkehrt. Das ,Fehlen‘ synästhetischer Entwürfe und Theoretisierungen, für die der Bezug zu einer, wenn auch konstruierten, ursprünglichen Einheit und Ganzheitlichkeit wesentlich war, lässt sich in dieser Betrachtung vielmehr als ein Hinweis auf den Verlust und die bewusste Verweigerung von Einheits- und Ganzheitsutopien infolge der desaströsen geschichtlichen Ereignisse interpretieren. Der Zweite Weltkrieg muss in dieser Perspektive als Unterbrechung einer Entwicklung in Augenschein genommen werden, indem er die Aufmerksamkeit auf politisch-gesellschaftliche Themen lenkte und auf persönlicher Ebene viele Künstler durch Verfolgung, Umsiedlung und Emigration zur Neuordnung ihrer Lebensumstände zwang.2 Zugleich hatte der Zweite Weltkrieg im Rahmen der militärischen Aufrüstung aller Beteiligten eine Beschleunigung der Entwicklung von Kommunikations- und Medientechniken zur Folge, aus der wesentliche Impulse für die Computertechnologie hervorgingen.3 So entstanden in den 1950er und 1960er Jahren mit den Neuro- und Kog2
Vgl. Hattinger (1988).
3
Besonders folgenreich war Alan Turings Beschäftigung und Konstruktion von Rechenmaschinen zur Entschlüsselung deutscher Geheimcodes, die später in die Entwicklung
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nitionswissenschaften eine Reihe neuer Disziplinen, die wiederum eng mit der technischen Entwicklung des Computers und dem Bereich der künstlichen Intelligenz verbunden waren. Führten diese Wissenschaften die Mensch-Maschine-Analogie des 19. Jahrhunderts fort, so arbeiteten sie sich insbesondere an dem Vergleich des menschlichen Gehirns mit dem Computer ab. Und genau diese Wissenschaften sind es, die sich ab den 1980er Jahren um das Phänomen der Synästhesien bemühten und ihre ,Wiederentdeckung‘ in den 1980er Jahren inszenierten. Bezeichnenderweise beschäftigte sich bereits einer der ernannten Gründerväter der Neuropsychologie, Alexander Lurija,4 1968 in seinem Buch Kleines Porträt eines großen Gedächtnisses ausführlich mit dem Gedächtniskünstler Shereshevski, der seine besonderen Leistungen v.a. mit Hilfe seiner synästhetischen Veranlagung vollbrachte und den Lurija über 30 Jahre in mehrjährigen Abständen untersucht hatte.5 Entgegen einem Desinteresse am Synästhetischen war es sowohl im wissenschaftlichen als auch im künstlerischen Diskurs grundlegend in die Herausbildung neuer Wahrnehmungsund Erkenntnismodelle involviert, die den Weg in die digitale Revolution vorbereiteten und begleiteten.
IV.1 AUS M ANGEL AN B EWEISEN . N EGIERUNG UND E SOTERISIERUNG S YNÄSTHETISCHEN
DES
Trotz der verhältnismäßig wenigen wissenschaftlichen Belege für Konzeptionen des Synästhetischen in der Zeit von 1940 bis 1980 lässt sich ein Bild zeichnen, das der Situation um 1900 nicht ganz unähnlich ist. Denn schlossen naturwissenschaftlichakademische Kreise das Phänomen Synästhesie vor dem Hintergrund einer auf objektiven Daten basierenden Wissenschaftsauffassung aus ihren Forschungsgegen-
des ersten digitalen Computers einflossen. Aber auch Fernseh-, Funk- und Radartechnik verzeichneten im Rahmen der Erprobung ihrer militärischen Nutzung große Fortschritte. Ebenso wurde die Kybernetik, die Norbert Wiener aus der Beschäftigung mit der automatischen Zielsteuerung und Zündung von Flugabwehrgeschützen im Zweiten Weltkrieg ableitete, für die spätere Nachrichtentechnik und Kommunikationstheorie bedeutsam. 4
Neben Lurija gilt u.a. Kurt Goldstein als Begründer der Neuropsychologie, der mit Ernst Cassirer verwandt und befreundet war. Goldstein entwickelte mit Cassirer für dessen Theorie der symbolischen Formen einen Entwurf des Synästhetischen, das er wie Lurija in Modelle des Gehirns einbezog.
5
Vgl. Lurija (1991). Der Zusammenhang der Synästhesie mit eidetischen Phänomenen wurde bereits 1907 von Victor Urbantschitsch beschrieben, entfaltete zu diesem Zeitpunkt jedoch kaum Relevanz.
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ständen aus, so entfaltete es ab den 1950er und 1960er Jahren eine faszinierende Wirkung im Umfeld der New-Age- und der Hippiebewegung, die es im Anschluss an theosophisches und okkultistisches Gedankengut in Kombination mit neuen, psychedelische Zustände hervorrufenden Drogen in esoterische Kontexte einbanden. Erscheinen diese beiden Linien zunächst gegensätzlich, so bedingen und beeinflussen sie sich im kulturellen Diskurs und treffen insbesondere im Feld kultureller, künstlerischer und v.a. medialer Praktiken zusammen. Hans-Jörg Sandkühler konstatiert bei der Betrachtung von Wissenskulturen seit der Moderne für die Mitte des 20. Jahrhunderts eine erneute Hinwendung zu einer materialistisch-realistischen Auffassung der Wirklichkeit, die sich insbesondere in der Hirnforschung bemerkbar machte.6 Als Auflösung des Leib-Seele-Problems setzte diese mentale Zustände mit spezifischen physischen Gehirnstrukturen und physikalisch erklärbaren Gehirnzuständen gleich. Einen wesentlichen Einfluss darauf hatte die Entwicklung des Computers, der, zunächst als Rechenmaschine konzipiert, mehr und mehr zum Modell des Gehirns und des menschlichen Denkens überhaupt avancierte.7 In der Fortführung der Mensch-Maschine-Analogie schienen nun nicht mehr nur Körperfunktionen mechanisch-technisch beschreibbar, vielmehr keimte die Hoffnung, auch menschliches Denken in den Kategorien von Input und Output mathematisch erfass- und formalisierbar zu machen. In der Psychologie schlug sich dieses Modell zunächst im Paradigma des Behaviorismus nieder, der, aus einer experimentellen, mathematisch orientierten Psychophysik hervorgehend, v.a. in den 1930er bis 1950er Jahren zum dominanten Ansatz der Beschreibung menschlichen Verhaltens aufstieg. Der Behaviorismus radikalisierte das Reiz-Reaktionsmodell mit einem Gefüge von Annahmen und Methoden, die, ohne Rücksicht auf mentale Prozesse, nur auf dem beobachtbaren Verhalten basierten. Das Synästhetische als weder objektiv mess- noch beobachtbar, wie es auch die Anschützschen Versuche gezeigt hatten, fiel damit aus dem offiziellen Forschungsbereich heraus.8 Dennoch versuchte z.B. der Psychologe Lowell E. Kelly im Jahr 1934, die Synästhesien als konditionierten Reflex zu beschreiben, wie ihn Iwan Petrowitsch Pawlow, einer der Protagonisten der behavioristischen Lehre, mit seinem Verfahren der Konditionierung formulierte, und so in die behavioristischen Forschungsinhalte 6
Vgl. Sandkühler (2002), S. 265f.
7
Nach der ersten mechanischen Rechenmaschine Zuse Z1, die Conrad Zuse 1938 baute, präsentierte er 1941 mit der Zuse Z3 die erste binäre Rechenmaschine, die als erster funktionsfähiger Computer gilt. Das erste logische Modell des Computers, die Turingmaschine, lieferte Alan Turing bereits 1936 und entwarf 1950 den Turing-Test, der als Bewertungskriterium gilt, ob die Maschine mit dem Menschen vergleichbar denkfähig ist, und wesentlich die Entwicklung der künstlichen Intelligenz vorantrieb. John von Neumann lieferte 1946 die Hardwarearchitektur des Computers.
8
Vgl. Harrison (2007), S. 47.
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zu integrieren.9 Den Beweis sollte eine experimentelle Studie erbringen, bei der 18 Versuchspersonen mit Farbe-Ton-Kombinationen konditioniert wurden.10 Die Ergebnisse waren jedoch eindeutig und zeigten, dass keinerlei Empfindungen generiert werden konnten, die den Synästhesien annähernd entsprochen hätten, und diese 11 sich somit nicht experimentell erzeugen, messen oder beobachten ließen. Auch der Psychologe T.H. Howells versuchte im Jahr 1944, Synästhesien künstlich zu generieren und auf diese Weise einer Untersuchung zugänglich zu machen, wie er in dem Artikel The Experimental Development of Color-Tone-Synesthesia darlegte. Dabei ging er in Anlehnung an Heinz Werner von einem prinzipiell anderen Verständnis des Synästhetischen als Kelly aus, indem er es als grundsätzlichen Mechanismus der Wahrnehmung überhaupt unterlegte.12 Synästhesie sei Wahrnehmung, so sein Statement, und bewirke nicht nur die Integration verschiedener Sinne, sondern auch die von verschiedenen Daten eines Sinnes.13 In dieser Version konnte Howells Synästhesien beweisen. Als Beleg diente ihm dahingehend der ,Bauchredner-Effekt‘, bei dem die Stimme des Bauchredners auf Grund des visuellen Eindrucks den Mundbewegungen der Puppe zugeschrieben wird.14 Vor dem Hintergrund einer noch relativ jungen Tonfilmpraxis erscheint dieses Beispiel besonders prägnant, da es sich nicht nur auf die Synchronität visueller und optischer Eindrü9
„While considering the nature of synaesthesia in general […], it occurred to the present writer that these phenomena might be nothing more than examples of the well known conditioned reflex.“ Kelly (1934), S. 319.
10 Vgl. ebd., S. 321. Ähnliches hatte bereits Binet in den 1890er Jahren versucht. 11 Vgl. ebd., S. 336. 12 „Linkage of the senses, […], is commonly known as synesthesia. It is evidently involved in all perception […]. […], if perception is regarded as a synthesis of more elementary impressions, synesthesia may be considered as practically identical with perception. Synesthetic processes may accomplish the basic functional integration of sensory data, not only between the different senses, […], but also within a single sense, such as hearing or seeing.“ Howells (1944), S. 88. 13 Ähnlich argumentierte der österreichisch-amerikanische Psychoanalytiker Paul Schilder 1950: „But we should not forget that every sensation is generally synaesthetic. This means that there does not exist any primary isolation between the different senses. The isolation is secondary. […] The synaesthesia, therefore, is the normal situation. The isolated sensation is the product of an analysis. […] The nervous system acts as a unit according to the total situation, the unit of perception is the object which presents itself through the senses and through all the senses. Perception is synaesthetic.“ Schilder (1950), S. 38f. [Herv. i.O.] 14 „Ventriloquism is evidentally a synesthetic phenomenon too, since both the source and quality of the sounds are misinterpreted because of more influential visual evidence supplied by the puppet but concealed by the ventriloquist.“ Howells (1944), S. 89.
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cke bezog, sondern v.a. auf den Film übertragen ließ, bei dem die Stimme, zwar aus dem Lautsprecher kommend, dem jeweils die Lippen bewegenden Schauspieler zugeordnet wird. Das Synästhetische beschrieb dergestalt einen Prozess der Kombination verschiedener sensorischer Daten, die sich erst in einem bestimmten Setting und Kontext in gegenseitiger Beeinflussung zu einer spezifischen, bedeutungsvollen Wahrnehmung konstituieren.15 Als alltäglicher und sich in der Wahrnehmung permanent abspielender Vorgang beinhaltete dieses Verständnis die Möglichkeit der experimentellen Erzeugung und Erforschung des Synästhetischen.16 Jenseits behavioristischer Forschungsinteressen verwies das Synästhetische für Howells jedoch genau auf die Funktionen, die sich zwischen Reiz und Reaktion abspielten.17 Vordergründig phänomenologischen Deutungen des Synästhetischen verwandt, klang bei Howells eine neue Dimension im Verständnis der Sinneserfahrungen als Daten an, die verarbeitet werden und austausch- sowie ersetzbar sind. Die Kategorie des Erlebens unter dem Einfluss der Computeranalogie durch den Prozess der Informationsverarbeitung ersetzend, wobei das behavioristische Verständnis von Reiz und Reaktion als In- und Output grundsätzlich erhalten blieb, finden sich bei Howells Ansätze der Kognitions- und Neurowissenschaften, die beschreiben, wie aus Daten Wissen oder Wahrnehmung entsteht. Integrierte der Kognitivismus, gegen das vereinfachte Schema des Behaviorismus gerichtet, mentale Phänomene sowie dessen physiologische Grundlagen wieder in den Kanon wissenschaftlicher Themen, so blieben die vom Behaviorismus bereitgestellten empirisch-naturwissenschaftlichen Mess- und Untersuchungsmethoden in ihrem Objektivitätsanspruch bestehen.18 Zeigen die beiden Studien von Kelly und Howells eindrücklich, inwie15 „[…] a general hypothesis of synesthesia: namely, that synesthetic effects may be the result of a[n] […] combination of sensori-motor activities, if and when they are functionally involved in a larger and longer process of organic adjustment or goal achievement, or in other words if they are derived from a dynamic whole. This hypothesis […] of synesthesia, […] suggested a new […] method of producing it experimenttally.“ Ebd., S. 90. 16 Experimentell erzeugte Howells, ähnlich wie Werner, Synästhesien in der Form, dass Töne die Bewertung von Farben beeinflussten. Grundsätzlich seien sensorische Daten nicht voneinander oder von den sie vermittelnden motorischen Aktionen zu unterscheiden, die Fähigkeit zur Differenzierung sei jedoch eine notwendige Funktion. Vgl. Ebd., S. 102. 17 „The practical implication of this experiment is the evident necessity for integrating sensory data with motor functions and the possibility of supplementing the data of a given defective sense by data from another sense […] Thus it may come to pass that the blind shall see again – through their ears.“ Ebd, S. 103. 18 Eine wesentliche Rolle bei der Ablösung des Behaviorismus als dominantes Deutungsmuster spielte der Linguist Noam Chomsky, der mit Syntactic Structures von 1957 eine
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fern wissenschaftliche Paradigmen und Annahmen Auswirkungen auf die Frage nach der Existenz des Synästhetischen und seine Konzeptualisierung haben, so unterlagen beide dem Zwang des objektiven Nachweises ihrer Thesen. Unter dieser Prämisse war die sich in Messdaten ausdrückende Sichtbarkeit des Phänomens entscheidend, um wissenschaftliche Relevanz zu erhalten. Howellsʼ Ansatz fand aus diesem Grund in der wissenschaftlichen Welt relativ wenig Resonanz, denn für die Neurowissenschaften konnte dieser Anspruch erst mit der Entwicklung bildgebender Verfahren zur Sichtbarmachung von Gehirnstrukturen und -prozessen verwirklicht werden. So war es kein Zufall, dass der Neurologe Richard Cytowic, der die Synästhesien in den 1980er Jahren popularisierte, gleichzeitig auch die ersten Versuche ihrer Sichtbarmachung im Gehirn mittels bildgebender Verfahren unternahm. Die Wiederentdeckung des Synästhetischen in den 1980er Jahren muss aus dieser Perspektive auch als Ergebnis neuer Techniken der Evidenzbildung qua Bildwerdung betrachtet werden, die durch die Computertechnik in den 1970er Jahren zunehmend Eingang in die medizinische Diagnostik fanden. Dass das Synästhetische in der Zeit von etwa 1940 bis 1980 im wissenschaftlichen Diskurs kaum auftauchte, kann also weniger mit einem Desinteresse als vielmehr mit dem Mangel eines objektiven Nachweises im Sinne der gängigen wissenschaftlichen Maßstäbe begründet werden. Andererseits stellt sich die ,Wiederentdeckung‘ im wissenschaftlichen Diskurs so auch als Ergebnis hinterfragbarer technischer Operationen dar. Die Differenzen zwischen Messmethoden, Messdaten und eigentlichem Phänomen, die sich in den Untersuchungsmethoden der Behavioristen und Kognitivisten auftaten, formulierte Merleau-Ponty 1961 in dem Aufsatz Das Auge und der Geist, in dem er der Wissenschaft die Konstruktion von Phänomenen, „von unseren Apparaten eher produziert als nur registriert“19, unterstellte. Gegen die Ersetzung der Erscheinungen durch Messdaten, bei denen der Körper nur als Informationsmaschine diene,20 müsse die Wissenschaft wieder von der wahrnehmbaren Welt ausgehen, vom eigenen Leib „als Geflecht von Sehen und Bewegung“21, der, sehend und sichtbar zugleich, Subjekt und Objekt sei.22 Anklang fanden Merleau-Pontys Kritik und seine Konzeption des Synästhetischen, wie er sie bereits 1945 in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung formuliert hatte, insbesondere im Nordamerika der 1960er Jahre. Gefeiert als Fortschritt der menschlichen Evolution, fungierte das Synästhetische in der New-Age- und Hippiebewegung als Metapher für ein transzendentales Wissen und als Brücke zwischen materialistischen und esoterischen vernichtende Anklage von Burrhus Frederic Skinners behavioristischer Theorie des Spracherwerbs (Verbal Behavior, 1957) vorlegte. Vgl. Harrison (2007), S. 51. 19 Merleau-Ponty (1967), S. 275. 20 Vgl. ebd., S. 277. 21 Ebd., S. 278. 22 Vgl. ebd., S. 279f.
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Konzepten des Bewusstseins.23 Spielte dabei zum einen die neue synthetische Droge LSD eine große Rolle,24 so waren diese sich weltweit ausbreitenden Bewegungen, als Gegenkultur mit einer Kritik an der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Praxis verbunden und forderten einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. Hatten bereits Benjamin oder Gautier die Synästhesien stimulierende Wirkung von Meskalin oder Opium als Rekonfiguration eines ganzheitlichen Wahrnehmens und Erlebens beschrieben, so wurde mit LSD, das verstärkt Konfusionen der Sinneskanäle verursacht, synästhetisch zum Synonym für psychedelische Zustände.25 Dabei ging es jedoch nicht um eine die Sinne betäubende Rauscherfahrung, sondern v.a. um eine Erweiterung von Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Bewusstseinsformen.26 Der Gedächtniskünstler Shereshevski, Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Gautier, Baudelaire oder Rimbaud wurden zu Kultfiguren und Ikonen auf dem ultimativen Acid-Trip.27 Dabei galt das Synästhetische v.a. auch als Form einer transzendentalen Ursprache, wie Wellek oder Cassirer sie angelegt hatten, und traf sich mit einer kognitiv ausgerichteten Psycholinguistik, die den Synästhesien im Sinne einer Symbolsprache eine erkenntnistheoretische Funktion unterlegten.28 So beschrieb z.B. Charles E. Osgood das Synästhetische als kognitives Phänomen in Verbindung mit dem Konzept der konnotativen Bedeutung.29 In 23 „[…] the word ‚synaesthesia’ began to appear again on the lips of a new generation of Romantics, a desire for transcendence attached to it, as it had in Paris in the 1890s. Synaesthesia was offered as an antidote to the same poisons – rationalism, materialism, and positivism – […]. Synaesthesia fit neatly into the metaphorical and ideological mixture of the sixties counterculture. Thought to be rooted in the body rather than the mind, synaesthetic awareness seemingly defied limitations and conventions and offered path to unity and transcendence.“ Dann (1998), S. 165. 24 Erfinder von LSD war der Schweizer Chemiker Albert Hoffman, der es 1943 es aus Versehen bei einem Experiment einatmete, was synästhetische Effekte und eine Bewusstseinserweiterung zur Folge hatte. 25 Vgl. Dann (1998), S. 166. 26 So beschrieben z.B. Robert Master in Mind Games von 1972 und Jean Houston in Listening to the body. The psycho-physical way to health and awarenesss von 1978 die Schulung synästhetischer Erfahrung mittels LSD als „education, ecstasy, entertainment, selfexploration, […]“, die zum Zugang ungenutzter Kapazitäten, zu „images, accelerated mental processes, more acute sensory impressions, access to other places of the mind, subjective realities, new space-time operations“ führe. Zit. nach Dann (1998), S. 167. 27 Vgl. Dann (1998), S. 168. 28 Vgl. Marks (1997), S. 87. 29 Unter dem Begriff des semantischen Differentials entwickelten Osgood u.a. ein Verfahren, das ermitteln sollte, welche Vorstellungen Menschen mit bestimmten Begriffen und Sachverhalten verbinden. Vgl. ebd., S. 85f.
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der Studie The Cross-cultural Generality of Visual-Verbal Synesthetic Tendencies von 1959 untersuchte er Begriffe und Kategorien wie ,gut‘, ,schlecht‘, ,schwarz‘ oder ,weiß‘ bei Amerikanern, Mexikanern, Japanern und Navajos in Hinblick auf ihre semantische, interkulturelle Generalität.30 Dazu ließ er sie die Wörter auf HellDunkel-Skalen einordnen und fand auffällige Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen linguistischen und kulturellen Gruppen. Dies veranlasste Osgood zu der Annahme universeller, sprachübergreifender, synästhetischer Verbindungen zwischen Sprache und optischer Sphäre, die nicht nur die Bedeutung und kognitive Prozesse, sondern v.a. linguistische Strukturen beeinflussen.31 Zielten derartige linguistische Befunde synästhetischer Transformationen zwischen sinnlicher Erfahrung und Sprache v.a. auf die Formalisierung der Sprachentwicklung und sprachlichsyntaktischer Strukturen als Denkmuster, um sie später dem Computer zu implementieren, so bildeten sie in den 1950er Jahren einen Schnittpunkt von kognitionswissenschaftlichen Ansätzen und den Drogenerfahrungen einer jungen, revoltierenden Generation, die das Synästhetische als Erweiterung des Bewusstseins im Rahmen einer bis ins Esoterische abgleitenden Verklärung verherrlichte. Beide Linien werden für spätere Konzeptionen des Synästhetischen und seine Auswertung im Rahmen der neurologischen Erforschung von Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Bewusstseinsphänomenen bedeutsam und bereiten sie vor. Entgegen einem Verschwinden des Synästhetischen im kulturellen Diskurs wurden in Anknüpfung an die Synästhesieforschung der ersten Jahrhunderthälfte seit den 1940er Jahren wesentliche Verbindungen geknüpft, die insbesondere in der künstlerischen Praxis sichtbar wurden. Denn hier zeigte sich ein Fortwirken synästhetischer Entwürfe, die, in multimediale Settings und technisch-künstlerische Kollektivprojekte transformiert, eine Umerziehung der Wahrnehmungs- und Erkenntnisstrategien anstrebten.
30 Vgl. Osgood (1959). 31 Bereits 1929 führte der Psychologe Wolfgang Köhler einen Versuch durch, der bis heute von der Synästhesieforschung rezipiert wird. Dabei präsentierte er seinen Versuchspersonen runde und eckige Formen und bat sie, diesen die Fantasieworte ,maluma‘ und ,takete‘ zuzuordnen, wobei in 90 % der Fälle ,maluma‘ den runden und ,takete‘ den spitzen Formen zugeschrieben wurde. Köhler gilt mit Max Wertheimer als einer der Begründer der Gestalttheorie. Seine Arbeit wurde v.a. seit den 1950er Jahren im Bereich der Hirnforschung rezipiert, wo er als Vorläufer der Theorie der Spiegelneuronen gilt.
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IV.2 ANTIKUNST
UND DIE
„V ERFRANSUNG “
DER
K ÜNSTE
Scheint allgemeiner Konsens darüber zu bestehen, dass die künstlerisch-synästhetischen Entwürfe in den 1930er Jahren parallel zu der wissenschaftlichen Beschäftigung scheiterten, so konstatieren mehrere Autoren, dass sich in den 1960er Jahren in der Kunst ein Wiederanknüpfen an avantgardistische und synästhetische Konzepte ereignete.32 Die Frage ist jedoch, ob es sich tatsächlich um so scharfe Brüche oder nicht vielmehr um Kontinuitäten handelt, die auf Grund veränderter politisch-gesellschaftlicher, medialer und wissenschaftlicher Bedingungen lediglich zu einem Wandel der Konzeption des Synästhetischen führten, der sich erst in den 1960er Jahren vollends bemerkbar machte. Denn, ausgehend von der Annahme einer Negation des Synästhetischen, stellt sich das Problem, was zu seiner plötzlichen Wiederbelebung beitrug, die nicht nur mit der Erfindung einer neuen Droge erklärt werden kann. Als Projektionsfläche und Konstrukt verstanden, reagiert das Synästhetische auf kulturelle und insbesondere mediale Prozesse, die eine Anpassung von Wahrnehmungsleistungen erfordern, sensibel und verändert sich dabei selbst. Vor dem Hintergrund der sich mit Fernsehen, Video und digitaler Technologie immer weiter vervielfältigenden und verbreitenden Medientechniken erscheint der vermeintliche Bruch vielmehr als Neuformulierung des Synästhetischen, die letztlich z.B. im Bauhaus bereits angelegt wurde. Beispielhaft greifbar wird diese Kontinuität anhand der Künstlerpersönlichkeit John Cage, der eine Verbindung zwischen avantgardistischen Bestrebungen der ersten Hälfte des Jahrhunderts zur künstlerischen Szene nach dem Zweiten Weltkrieg herstellte, die sich eindrucksvoll in seiner Biografie spiegelt.33 Neben intensiven
32 So zieht z.B. Barbara Lesák eine Verbindungslinie von der Farbe-Ton-Forschung zur amerikanischen Kunst um 1960, die sie durch Experimente mit psychedelischen Substanzen motiviert: „Dadurch, daß er [Anschütz, MG] auf das Problem des künstlerischen Hervorrufens von Synästhesien eingeht, fällt bei ihm auch das Stichwort ‚Mescalin’, [...]. Damit ist die Verbindung zu den späten fünfziger Jahren hergestellt, einem Zeitabschnitt, in dem vor allem in Amerika in Underground-Bereichen der Kunst auch mit Drogen [...] experimentiert wurde, um die halluzinatorischen Empfindungen als künstlerische Inspiration auszubeuten. Die im Rauschzustand [...] erfahrenen Doppelempfindungen [...] wurden in sogenannten Mixed-Media-Aufführungen oder Light-Shows, aber auch im psychedelischen Film weitergegeben.“ Lesák (1988). 33 Der amerikanische Künstler lebte bereits während seines Architekturstudiums 1930 für 17 Monate in Europa und kam mit Arbeiten von Hans Arp, Hugo Ball, Marcel Duchamp, James Joyce, László Moholy-Nagy und Kurt Schwitters in Berührung. Ab 1934 studierte Cage beim ersten US-amerikanischen Schüler von Arnold Schönberg, Adolph Weiss, und nahm ab 1937 bei Schönberg selbst in Los Angeles Privatunterricht. Dort lernte er auch
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Kontakten zu den europäischen Avantgarden der 1910er und 1920er Jahre war für Cages Entwicklung v.a. die Lehrtätigkeit am Black Mountain College von 1948 bis 1952 bedeutend, das, angelehnt an die Bauhausidee, eine Reihe aus Deutschland emigrierter Bauhäusler wie Josef und Anni Albers, Walter Gropius oder Buckminster Fuller als Lehrkräfte aufnahm. Hier inszenierte Cage gemeinsam mit dem Tänzer und Choreografen Merce Cunningham, dem Schriftsteller Charles Olson, dem Komponisten Robert Rauschenberg, dem Pianisten David Tudor u.a. im Sommer 1952 mit Untitled Event eine neue künstlerische Form, die eine neue Kultur des Happenings und der Performance begründete. Die von Cage verfasste Partitur für Untitled Event gab den beteiligten Künstlern lediglich Zeiten vor, in denen sie etwas aufführten oder nicht, während ihnen die Art der Aktivität selbst freistand.34 Dieser Einbezug des Zufallsmoments wurde für Cage zum wesentlichen Prinzip seines künstlerischen Schaffens, das den Grundstein für eine völlig neue Art performativer Kunst legte. Als Lehrer übten sowohl Cage als auch Cunningham großen Einfluss auf eine Reihe von Künstlern wie George Brecht, Dick Higgins, Yoko Ono, Allan Kaprow, George Maciunas, La Monte Young oder Nam June Paik aus, die die künstlerische Szene der 1960er und 1970er Jahre mit Fluxus, Happenings, Performance- und Aktionskunst bis hin zur Medienkunst prägten. War Cage zum einen in der Tradition der mit synästhetischen Prinzipien experimentierenden Avantgarden der ersten Jahrhunderthälfte verwurzelt, die verschiedene künstlerische Mittel und Gattungen nach formalen Ordnungsprinzipien der Musik kombinierten, so erfuhr dieser Ansatz durch das Zufallsprinzip als Basis der Organisation der Darstellungselemente eine wesentliche Verlagerung. Korrespondenzen oder Oskar Fischinger kennen und wurde dessen Assistent und Filmkomponist, was ihn zum Tanz und zu der Einsicht führte, dass sich rhythmische Strukturen nicht nur durch Musik, sondern auch durch Klänge, Geräusche und Bewegung ausdrücken lassen. 1938 traf er auf den damals 19-jährigen Tänzer Merce Cunningham, seinen späteren Arbeits- und Lebenspartner. Auf Einladung László Moholy-Nagys unterrichtete Cage 1941 an dessen Chicago School of Design und lernte Piet Mondrian, André Breton, Max Ernst und Peggy Guggenheim kennen, die ihn nach New York einluden. Häufig traf er dort mit Marcel Duchamp zusammen und komponierte 1943 die Duchamp-Sequenz im Experimentalfilm Dreams that Money Can Buy (1947) von Hans Richter. 34 Der Zuschauerraum war in vier Dreiecke unterteilt, die auf ein Zentrum innerhalb des Raumes ausgerichtet waren. An einer Wand des Saales lief ein Film und auf die gegenüberliegende wurden Dias projiziert, während Cage auf einer Leiter stand und einen Vortrag mit stillen Passagen hielt. Eine zweite Leiter wurde abwechselnd von Charles Olson und Mary Caroline Richards benutzt. Rauschenberg, dessen White Paintings neben einem Bild von Franz Kline an der Decke hingen, spielte Musik von einem Phonografen ab. David Tudor saß am Klavier und Merce Cunningham und andere Tänzer tanzten durch und um das Publikum.
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synästhetische Entsprechungen wurden dabei nicht mehr im Rahmen einer utopischen Einheitsvision vorausgesetzt, sondern generierten sich erst situativ aus der Parallelität von Ereignissen innerhalb einer festgelegten Struktur.35 In dieser unkalkulierbaren Simultaneität visueller und hörbarer Ereignisse, die erst im Erleben zusammenlaufen, entdeckte Cage ein der Zeit angepasstes und die Ideen der Avantgarde weiterführendes künstlerisches Kompositionsprinzip.36 Hebelte die beliebige Kombination der Künste und ihrer Materialien sowohl den Werk- als auch den Kunstbegriff aus, so negierte sie die Existenz einer sinn- und planvollen Einheit außerhalb des Subjekts, indem diese sich lediglich temporär in einem performativen Prozess auf der Ebene des Rezipienten herstellte.37 Erst in der Wahrnehmung des Zuschauers erhielten die involvierten Künste und Materialien eine Bedeutung und formten sich zu multiplen Kunstwerken im subjektiven Erleben jedes Einzelnen. Schloss dieses Verfahren Kategorien von Wiederholbarkeit und Tradierung grundsätzlich aus, so überwand es die Grenzen zwischen Kunst und Leben, indem es alltägliche und v.a. mediale Wahrnehmungspraktiken involvierte. Nicht das Synästhetische wurde dabei verleugnet, sondern lediglich seine außerhalb der Wahrnehmung des Subjekts liegende Fundierung. Die bewusste Verweigerung sinnvoller Entsprechungen im Zeichen einer Ganzheit und ihre absurde Verkehrung als Ergebnis von Zufallsprozessen verwiesen zugleich immer wieder auf die Idee einer Einheit und entlarvten sie als Konstrukt. Ebenso bezog sich das aus verschiedenen Künsten wahllos speisende Werk negativ auf das synästhetische Gesamtkunstwerk. Insofern ist z.B. Theodor W. Adornos in Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei 1965 vorgelegter Versuch zu verstehen, Wagners Idee des Gesamtkunstwerkes von der Verbindung der Künste, wie sie bei Cage stattfand, abzugrenzen. Das hat letztlich zur Abwertung und Verwerfung des Synästhetischen als künstlerisches Prinzip und theoretisches Modell zeitgenössischer Kunst beigetragen. Gegen eine synästhetische Vermischung und Annäherung der Künste als Übertragung von Mitteln oder inhaltliche Verdopplung im Stile einer Musikalisierung der Malerei oder Verbildlichung der Musik38 setzte Adorno eine Verwandt35 „Im Prinzip war das, was Cunningham und Cage anregten – [...] – eine ‚induzierte Synästhesie’. Äquivalenzen zwischen den sinnlich wahrgenommenen Elementen wurden weder angenommen noch angestrebt, sondern einfach geschaffen. Der Einklang, in den die verschiedenen Kunstrichtungen [...] gebracht wurden – [...] – machte es möglich, daß sie in ihrer grundsätzlichen Nichtobjektivität und Bezugslosigkeit, wie im Leben, in ein Ganzes verschmolzen.“ Vgl. Frank (1988). 36 Vgl. Polzer/Schäfer (2004), S. 10. 37 Vgl. ebd., S. 11. 38 „Kandinsky hat wohl als erster von Klängen in seinen Bildern gesprochen. Aber wie wenig die Gleichung zwischen beiden Sphären aufgeht, ist gerade daran zu lernen. ‚Klangfarbe’ hat etwas Zwingendes, ‚Bildklänge’ etwas kunstgewerblich Modernistisches wie
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schaft und Konvergenz der Künste auf der Basis ihres Sprach- bzw. Zeichencharakters. Die Künste wurden zu Medien als Vermittler von Zeichen.39 Dabei überging Adorno jedoch, dass das Synästhetische selbst erst einer Medialisierung der Künste entsprang, die bei Wagner ihren Ausgangspunkt nahm.40 In dem Versuch, das Synästhetische als künstlerisches Paradigma zu widerlegen, beschrieb er letztlich ziemlich genau dessen Wandel und Steigerung, wie sie sich bei Cage ereigneten. Die Überwindung der Trennung der Künste verwirkliche sich laut Adorno nicht im Synästhetischen, sondern in der Anerkennung des Singularitätscharakters jedes einzelnen Kunstwerkes, das sich grundsätzlich dem Bedürfnis nach Klassifikation und Einordnung in Gattungen entziehe.41 „In der permanenten Grenzüberschreitung und Ausfransung der Künste“, so Adorno, vollende sich „die Abschaffung ihrer Universalien“ und sie mindere „die qualitativen Differenzen ihrer Medien, der Künste, bis zur Irrelevanz“42. In dieser Verfassung könne jedes Werk nur aus sich selbst heraus in der Erfahrung jedes Einzelnen verstanden werden.43 Kunst sei damit letztlich Ergebnis eines Konstruktionsprozesses von Zeichen als Schrift, der in der Annäherung der Künste als Medien bis zu dem Punkt verstärkt werde, an dem er z.B. wie bei Cage ganz dem Zufall überlassen bliebe.44 Interessanterweise unterschied Adorno dabei zwei Konstruktionsbegriffe – einer ästhetischen Ursprungs bei Schelling mit Referenz auf das Subjekt und der andere mathematischen Ursprungs im Sinne der Herstellung einer rationalen Ordnung im Material –, die während der zwanziger Jahre propagierte Farbtonmusik. Die Spielereien, die unter diesem Namen betrieben wurden [...] gehen zurück auf jene Synästhesie, die mit fortschreitender Differenzierung die Kunst der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kannte, der Tristan und Baudelaire. Das Schlechte an Synästhesie ist eins mit dem Unsachlichen; [...]. Wer sie als Prinzip aufrichtet, möchte zweimal, durch Verkopplung verschiedener Medien und Ausbeutung übrigens fragwürdiger Analoga einiger ihrer Phänomene, sagen, was einmal bereits gesagt ward.“ Adorno (1967a), S. 16. 39 „Konvergieren Malerei und Musik nicht durch Annäherung, so treffen sie sich in einem Dritten: beide sind Sprache.“ Adorno (1967a), S. 12. 40 So gestand er nebenbei Wagners Gesamtkunstwerk diese Tendenz zur Konvergenz bereits zu: „Das Wagnersche Gesamtkunstwerk und seine Derivate waren der Traum jener Konvergenz als abstrakte Utopie, ehe die Medien selbst sie gestatteten. Es missglückte durch Vermischung der Medien, anstatt des Übergangs des einen ins andere durchs eigene Extrem hindurch.“ Ebd, S. 17. 41 „Nur jedoch, wo das Werk seiner singulären Situation so sich ergibt, [...], existiert die Bedingung dafür, daß es, nicht länger eingeschachtelt in seine Gattung, diese überschreitet.“ Ebd, S. 18. 42 Ebd., S. 20. 43 Vgl. ebd., S. 20. 44 Vgl. ebd., S. 21.
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die sich letztlich mit der romantisch-imaginären Konzeption des Synästhetischen und dessen Ausformulierung als mediales Prinzip decken. Was Adorno demnach gegenüberstellte, entsprach lediglich unterschiedlichen Konzeptionen des Synästhetischen, die in einer Entwicklungslinie betrachtet werden müssen. Das Problem in Adornos Überlegungen besteht darin, dass er in seinen Ausführungen von einer Zeichensprache und Schrift letztlich die grundsätzlich sinnliche Verfasstheit des künstlerischen Materials vernachlässigte, aus der heraus ein Verständnis der Künste als Medien überhaupt erst möglich wurde. So beschrieb er z.B., dass die mathematischen Konstruktionsprinzipien und die Relation von Musik und Malerei bereits im künstlerischen Material präformiert seien, und verwies auf den Ursprung der Kunst in einer vor jeder rationalen Ordnung liegenden ungeschiedenen Einheit, ohne diese jedoch näher zu spezifizieren.45 In der Auflösung der Trennung der Künste in ihrem Charakter als Medien würden diese dann permanent nur auf ihren gemeinsamen Ursprung als Künste referieren, was letztlich den Begriff der Kunst nicht in einem Höheren aufhebe, sondern zu l’art pour l’art führe.46 Verständlich werden diese Überlegungen erst in der Lokalisierung der Aufhebung einer Unterscheidung der Künste in ihrer Besinnung auf ihr spezifisch sinnliches Material, womit sie letztlich alle auf ihren Ursprung in der Wahrnehmung verweisen, die die bei Adorno unbestimmt bleibende ungeschiedene Einheit verkörpert. Die Radikalisierung der Kunst als l’art pour l’art liest sich dann als Verzicht auf jegliche außerhalb der Wahrnehmung selbst liegenden Bezüge. Stellte Adorno den kommunikativen Aspekt der Künste in den Vordergrund, so blendete er die sinnliche Ebene des Zeichens als wesentliches Moment von Kunst aus. Dies wird auch in seinem Aufsatz Die Kunst und die Künste von 1957 deutlich, in dem er die Kultur der Happenings als „totale Antikunstwerke“ und Rebellion dem Gesamtkunstwerk gegenüberstellte.47 Darin skizzierte er am Beispiel Kandinskys einen Bedeutungsverlust des Kunstwerkes seit der Moderne, indem sich sinnliche Reize als dessen Selbstzweck verselbständigten, während die theoretische Reflexion die Ebene der Bedeutung nachlieferte und einen Sinnzusammenhang herstelle, den das Kunstwerk selbst nicht mehr produziere.48 Unter dem Primat des vom Künstlersubjekt selbst geschaffenen und definierten inneren Zusammenhangs seien die Künste dabei einander näher gerückt.49 Die Neuerung der Kunst der 1950er Jahre, so Adorno, sei die Absage an das sinnstiftende 45 Vgl. ebd., S. 22f. 46 Vgl. ebd., S. 23. 47 „Aber in der Verfransungstendenz handelt es sich um mehr als um Anbiederung oder jene verdächtige Synthese, deren Spuren im Namen des Gesamtkunstwerks schrecken; Happenings möchten wohl Gesamtkunstwerke einzig als totale Antikunstwerke sein.“ Adorno (1967b), S. 26. 48 Vgl. ebd., S. 29. 49 Vgl. ebd., S. 33f.
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Subjekt.50 In der Folge würden diese Werke, als Kunst deklariert, einen Sinn behaupten, den sie gemäß ihrer zufälligen oder mathematischen Entstehungslogik gar nicht haben könnten. Betonten diese Arbeiten letztlich immer wieder ihre Sinnlosigkeit, so sei dies ihr einziger Inhalt, der sich in der Nähe zur Massenkultur und einem Fehlen jeglicher Abbildfunktion spiegele.51 In der Konsequenz der „Verfransung“ der Künste stelle sich Kunst damit selbst in Frage und löse sich in der Überschreitung der Grenze zwischen Kunst und Leben auf.52 In dieser Fokussierung auf überholte Kategorien von Sinn, Bedeutung und Inhalt der Kunst jenseits ihrer sinnlichen Existenz konnte Adorno das Synästhetische nur als inhaltliches ,Verdopplungsprinzip‘ fassen und seine grundsätzliche Qualität als Motor einer Rückführung der Künste auf ihr sinnliches Material im künstlerischen Diskurs seit Wagners Gesamtkunstwerk nicht erkennen, die sich in der Kunst der 1960er Jahre potenziert. Das Synästhetische als grundsätzliches Prinzip ist in der Kunst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wirksam, wobei sich lediglich dessen Bezüge wandeln. Verwies das Synästhetische zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine ursprüngliche und wiederzuerlangende Einheit des Menschen und der Gemeinschaft, so wurde es in künstlerischen Konzeptionen der 1960er Jahre zum Abgesang derartiger Ganzheitsutopien und radikalisierte sich als Wahrnehmungs- und Erkenntnisstrategie in einem performativen Akt, in dem sich nicht nur Sinn und Bedeutung, sondern v.a. das Subjekt selbst erst konstituieren. Dieser Prozess wurde zum einzigen Inhalt von Kunst, wie es der ,Anti-Titel‘ Untitled Event programmatisch suggerierte. In der Verweigerung jeglicher außerhalb des Werkes liegender Bezüge oder Sinnkontexte in Form eines allmächtigen Künstlersubjektes oder einer wie auch immer begründeten Einheitsutopie stellten Cage und seine Kollegen den Prozess des Wahrnehmens und der Generierung von Bedeutung selbst in den Mittelpunkt. Entgegen einer Absage an das Subjekt legten sie dabei den konstruktiven Prozess seiner Herstellung im Rahmen multipler Bezüge, Kontexte und Bedeutungen offen. Synästhetische Effekte wurden dabei nicht von außen oder aus festgelegten Systemen implementiert, sondern in ihrer zufälligen Entstehung selbst zu sinnkonstituierenden Momenten. Diese neue Konzeption des Synästhetischen, das im Prozess des Wahrnehmens bedeutsam wird und multiple Sinnhorizonte bereitstellt, die sich erst im Subjekt konkretisieren und dieses damit bestimmen, warf letztlich die Frage auf: Wie konstituiert sich Sinn und damit das Bewusstsein des Subjekts in einer 50 Vgl. ebd., S. 34f. 51 Vgl. ebd., S. 46f. 52 „Die Verfransung der Künste, feind einem Ideal von Harmonie, das [...] geordnete Verhältnisse innerhalb der Gattungen als Bürgschaft von Sinn voraussetzt, möchte heraus aus der ideologischen Befangenheit von Kunst, die bis in ihre Konstitution als Kunst, [...], hinabreicht. Es ist, als knabberten die Kunstgattungen, indem sie ihre festumrissene Gestalt negieren, am Begriff der Kunst selbst.“ Ebd., S. 47.
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Welt aus zunächst bedeutungslosen, unzusammenhängenden, sinnlichen Daten? Und genau diese Frage war es auch, die zum einen die Psychologen Howells und Osgood unter Begriffen wie intermodale Integration oder konnotative Bedeutung am Synästhetischen exemplifizierten und die zum anderen neue mediale Wahrnehmungspraktiken im kulturellen Diskurs aufwarfen. Denn war die Medientechnik zunehmend in der Lage, verschiedensinnliche Daten völlig sinnfrei, nach rein technischen Vorgaben der Apparatur zu kombinieren, so suggerierte und produzierte sie damit zugleich Bedeutung. Effekte der Synchronität und Asynchronität sinnlichen Materials, die sich im Prinzip des Zufalls verdichteten, erhielten dabei einen neuen Stellenwert, den die künstlerische Praxis erprobte. Die von Adorno als Antikunst beschriebene Kunst ohne Sinn entpuppte sich dabei als tiefgreifende Reflexion medialer Wahrnehmungsmuster, deren Einübung aber auch kritische Hinterfragung, woraus die Nähe zur Alltags- und Populärkultur resultierte. Selbst Medium wurden die Künste zum Spielfeld technisch-medialer Praktiken, für die sich das Synästhetische erneut als grundlegendes Wahrnehmungsmuster anbot.53 Dabei war in den Synästhesien als Wahrnehmungsphänomen mit ihren individuellen und nicht allgemein gültig fixierbaren Zuordnungen das Zufallsprinzip als Möglichkeit der Kombination ,von allem mit allem‘ unter Verzicht auf jeglichen außerhalb des Subjekts liegenden Sinn bereits angelegt, was in den 1920er und 1930er Jahren in dem Glauben an ein universelles System verleugnet wurde. Von einer utopischen Einheits- und Ganzheitsvision im Sinne verborgener Entsprechungen zwischen den Dingen entkleidet, blieb das Synästhetische in seiner neuen Konzeption dennoch negativ auf diese bezogen und entlarvte deren konstruktiven Charakter als Teil eines Macht- und Herrschaftsdiskurses.
53 So formulierte Marshall McLuhan 1964 in Understanding Media – The Extension of Man: „Synästhesie oder ein integriertes Sinnes- und Vorstellungsleben war westlichen Dichtern, Malern und Künstlern im allgemeinen als ein unerreichbarer Traum erschienen. [...] Aber diese gewaltigen Erweiterungen unseres Zentralnervensystems [Radio und Fernsehen, M.G.] haben den westlichen Menschen das Erlebnis der Synästhesie zu etwas Alltäglichem gemacht. Die westliche Lebensweise, wie sie schon seit Jahrhunderten durch strenge Trennung und Spezialisierung der Sinne zustande kam, [...], kann den Radio- und Fernsehwellen nicht standhalten, welche die ganze Augenwelt des abstrakten individualistischen Menschen überfluten.“ McLuhan (1994), S. 477.
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DIGITALE
E INHEITSUTOPIE
Praktizierte die Kunst seit den 1950er Jahren vielfältigste Kombinationen von Musik, Geräusch, Bewegung und Bild, so nahm sie damit Prinzipien einer neuen computerbasierten, digitalen Medienrevolution vorweg, die erst in den 1980er und 1990er Jahren in ihren die gesamte Kultur verändernden Auswirkungen offenbar wurde. Das Synästhetische realisierte sich dabei in der Verkopplung verschiedener Medientechniken, die in der digitalen Vereinheitlichung von Sinnesdaten ihre neue Einheitsutopie fand. Bereits 1964 beschrieb Marshall McLuhan in Understanding Media – The Extension of Man das Veränderungspotenzial neuer Medientechniken für die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung und prognostizierte ein „Zeitalter der Elektrizität“, in dem „wir immer mehr in die Form der Information verwandelt werden und einer technischen Erweiterung des Bewusstsein entgegen gehen“54. Waren „frühere Techniken beschränkt und atomistisch“, so sei „die elektrische [...] total und allumfassend“55, denn „[w]ährend [...] die ganze vorhergehende Technik [...] tatsächlich einen Teil unseres Körpers erweitert hatte, kann man von der Elektrizität sagen, daß sie das Zentralnervensystem selbst einschließlich des Gehirns nach außen gebracht hat“56. Beschrieb McLuhan damit einen umfassenden, medienbasierten Wandel der Kultur hin zu einer Informations- und Wissensgesellschaft, so räumte er insbesondere dem Künstler in diesem Prozess eine prophetische Position ein: „Der Künstler greift die Botschaft der kulturellen und technischen Herausforderung schon Jahrzehnte, bevor ihre umgestaltende Wirkung eintritt, auf. [...] Genauso wie höhere Bildung längst nicht mehr eine Marotte oder ein Luxus, sondern eine dringende Notwendigkeit für die Produktions- und Betriebsorganisation im elektrischen Zeitalter ist, wird der Künstler unentbehrlich bei der Gestaltung und Analyse und zum Verständnis der Lebensformen und Strukturen, die die Technik der Elektrizität hervorbringt.“57
Bildete die Verschränkung von künstlerischem Schaffen mit (medien-)technischen Apparaten im frühen 20. Jahrhundert mit Farblichtklavieren und filmischen Experimenten einen wesentlichen Teil des Synästhesiediskurses, so potenzierte sie sich in der zweiten Jahrhunderthälfte.58 Entdeckten die Künstler als Ingenieure neue Effekte und Möglichkeiten der Medien und Techniken, so medialisierte sich im Zuge
54 Ebd., S. 97. 55 Ebd., S. 98. 56 Ebd., S. 376. 57 Ebd., S. 108. 58 Vgl. Daniels (2009), S. 246.
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dessen die Kunst und wurde zu einem Ort der Auseinandersetzung mit kulturell relevanten medialen Wahrnehmungspraktiken, bei der sie u.a. das illusionierende Potenzial dieser Techniken und ihrer Funktionsweisen offenlegte.59 Neue Kommunikations- und Medientechnologien mit ihren stroboskopischen Effekten trafen sich mit der Popularisierung kybernetischer und medientheoretischer Ideen sowie mit den sinnlichen und sozialen Utopien der Gegenkulturen der 1960er Jahre.60 Ein Zentrum für die Entwicklung neuer technisch-künstlerischer Apparate waren die Bell Telephone Laboratories in der Nähe von New York, in denen experimentelle Kunst und wissenschaftliche Forschung verschmolzen.61 Eine Vermittlerrolle nahm dabei der schwedische Elektroingenieur Billy Klüver ein, der eng mit den Künstlern an der Entwicklung neuer Technologien arbeitete.62 Aus dieser Zusammenarbeit ging 1966 die legendäre Veranstaltung Nine Evenings of Art & Technology mit Performances von John Cage, Merce Cunningham, Robert Rauschenberg, Steve Paxton, Lucinda Childs, David Tudor u.a. hervor, die im darauf folgenden Jahr gemeinsam mit Klüver die Organisation Experiments in Art & Technology als Zusammenschluss von Künstlern und Ingenieuren gründeten. Diese Vereinigung innovativer Kunstformen und Technologien zielte nicht nur darauf ab, neue Techniken für die künstlerische Arbeit nutzbar zu machen, sondern diente in der Instrumentalisierung künstlerischer Kreativität v.a. der Erprobung neuer technischer Anwendungen, um sie einer Verwertung durch die Industrie zuzuführen, wobei die Grenzen fließend wurden.63 59 So bestand z.B. Peter Kubelkas Film Arnulf Rainer (1960) aus Blankfilm, Schwarzfilm, Perfoband mit aufgenommenem weißen Rauschen und unbespieltem Perfoband und setzte sich auf diese Weise aus den Elementen Licht, Dunkelheit, Rauschen und Stille zusammen. Im stroboskopischen Wechsel von Präsenz und Absenz wurde die Illusion kinematografischer Bewegung sichtbar gemacht. Auch Tony Conrads Film The Flicker (1966) erzeugte stroboskopische Effekte als Schwarzfilm, der in unterschiedlichen Intervallen mit transparenten Bildern durchsetzt war. Vgl. Schwierin (2010), S. 20f. 60 Vgl. James (2010), S. 178. 61 So ließ z.B. Merce Cunningham dort ein Kontrollsystem mit Fotozellen entwickeln und Yvonne Rainer bestellte für The house of my body einen Berührungstransistor, um Atem und Herzgeräusche hörbar zu machen. 62 Klüver arbeitete u.a. mit John Cage, Robert Rauschenberg, Yvonne Rainer, Jean Tinguely, Andy Warhol etc. 63 Vgl. Kotz (2009), S. 136. So entstanden z.B. Formen wie das Expanded Cinema, das den Film nicht nur auf eine Leinwand projizierte, sondern neben Mehrfachprojektionen auch reale Aktionen von Darstellern und Tänzern integrierte, die den Raum der Filmvorführung in die Kinoerfahrung einbezogen. Dies wiederum inspirierte kommerzielle Praktiken der Musikindustrie, wie z.B. Lichtshows bei Konzerten. Multiple Formen von Film, Projektion und Licht kreierten eine synästhetische Umgebung, in der die Grenzen zwischen
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Prägnant verdichteten sich die Zusammenhänge zwischen Kunst, Technik und Populärkultur v.a. in dem sich seit den 1950er Jahren zum neuen Massenmedium etablierenden Fernsehen, das eine umfassende Medialisierung, Audiovisualisierung und Synästhetisierung der Privatsphäre zur Folge hatte und zugleich, in Kombination mit der Videotechnik, neue Möglichkeiten für künstlerische Experimente im Anschluss an den abstrakten Film bereitstellte.64 Insbesondere Marshall McLuhan wies auf die durch das Fernsehen ausgelöste Stimulierung multimedialer, synästhetischer Wahrnehmungsleistungen hin.65 Wie schon Benjamin von der technischen Prozedur hinter den Medientechniken ausgehend, konstatierte er im Fernsehen eine „Ausweitung des Tastsinns“ und eine „Wechselwirkung der Sinne“66, denn „[d]as Fernsehbild ist keine Einzelaufnahme [...], sondern es tastet pausenlos Konturen von Dingen mit einem Abtastsystem ab“67 und „verlangt in jedem Augenblick, daß wir die Lücken im Maschennetz durch angestrengte Beteiligung der Sinne ‚schließen‘, die zutiefst kinetisch und taktil ist“68. In bis dahin ungekanntem Ausmaß und einer noch nie da gewesenen Geschwindigkeit veränderte das Fernsehen auf diese Weise tradierte Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Wissenspraktiken einer bis dahin schriftlich geprägten westlichen Kultur, indem es die ganze Welt in Echtzeit zugänglich machte. Verwirklichten sich für McLuhan darin Reformprogramme der ersten Hälfte des Jahrhunderts in der Populärkultur,69 so oblag es der Kunst, die konstruktiven und manipulativen Momente dieses Mediums hervorzuheben, das unPublikum und Performer, zwischen den Sinnen und den Individuen verschwand. Diese kollektive Identität herstellende und Gemeinschaft stiftende Praxis des Synästhetischen als Überwältigung der Sinne, wie es bereits bei Wagner und in den 1920er Jahren erprobt wurde, lässt sich, medial und technisch aufgerüstet, bis in die aktuelle Rave-, Technound Eventkultur verfolgen. Vgl. James (2010), S. 179f. 64 Vgl. Schwierin (2010), S. 18. 65 „I am working from the observation that our technical media, […], are extension of our senses. The latest such extension, TV, I am suggesting, is an extension, not just of sight and sound, but of that very synesthesia which artists of the past centuries have stressed as accessible via the tangible-tactile values of the new vision. TV is not just sight and sound, but tangibility in its visual, contoured, sculptural mode.“ McLuhan zit. nach Paetzold (2003), S. 868. 66 McLuhan (1994), S. 403. 67 Ebd., S. 473. 68 Ebd., S. 475. 69 „Das Fernsehen ist das Bauhaus-Programm der Formgebung des Lebens oder die Montessori-Erziehungsmethode ins technische erweitert und kommerziell gestützt. Die plötzliche künstlerische Offensive mit dem Ziel der Neuschaffung des westlichen Menschen ist über das Fernsehen eine allgemeine und überwältigende Erscheinung im amerikanischen Leben geworden.“ Ebd., S. 487.
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ter dem Anschein, Fenster zur Welt zu sein, neue künstliche und virtuelle Welten schuf. Dabei standen v.a. Versuche der elektronischen Bilderzeugung im Vordergrund, die als direkte Ergänzung zu Pfenningers und Fischingers Verfahren der künstlichen Tonerzeugung gedacht werden können. Abbildung 20: Nam June Paik „TV Cello“, Installation von 1971
©Walker Art Center
Besonders Nam June Paik, Pionier der Medienkunst, legte die synthetische Praxis der Bild-Ton-Beziehung und ihren Wirklichkeit erst herstellenden Charakter offen, indem er in den 1960er Jahren im Rahmen von Fluxusprojekten Fernsehapparate und das Fernsehbild so manipulierte, dass sie das vorhandene Fernsehprogramm verändert und verzerrt wiedergaben.70 Im Experimentieren mit unterschiedlichen Mitteln zur Beeinflussung des Bildes, wie z.B. magnetischen Manipulationen oder
70 Paik studierte in Tokio Ästhetik, Musik- und Kunstwissenschaften und verfasste seine Abschlussarbeit über Arnold Schönberg. Von 1958 bis 1963 arbeitete er mit Karlheinz Stockhausen im Kölner Studio für elektronische Musik des WDR. Inspiriert von John Cage, versuchte er, neue Wege für die Musik zu finden, und entwickelte das Konzept der „Aktionsmusik“, bei der er Instrumente zertrümmerte und zufällige Geräusche mit klassischen Klängen mischte. Als Mitglied von Fluxus trat er in den frühen 1960er Jahren mit diversen Performances auf und widmete sich v.a. dem Fernsehapparat als Kunstobjekt. Seit 1980 erstellte Paik hauptsächlich Multi-Monitor-Videoinstallationen, in denen er Fernsehmonitore zu Skulpturen anordnete und auf ihnen mehrere Videosequenzen simultan abspielte.
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Audiosignalen, entlarvte er den Fernseher als kulturelle Ikone und als aus der Kontrolle des Individuums verschwundenes technologisches Produkt.71 Ende der 1960er Jahre laborierte Paik verstärkt mit der neuen Videotechnik und entwickelte den Paik/Abe-Video-Synthesizer zur Manipulation von Videobildern in Echtzeit. Mit der Entwicklung des ersten tragbaren Videobandrekorders im Jahr 1963, der ersten batteriebetriebenen Videokamera 1965 und dem ab 1969 verfügbaren Videorekorder entstanden für Künstler neue Möglichkeiten für experimentelle Arbeiten, die sich ab etwa 1967 unter Einbeziehung politischer und ideologischer Debatten und in der Distanzierung vom kommerziellen Fernsehen als Videokunst etablierten.72 Wesentlich dabei war v.a. die Kompatibilität mit dem Massenmedium Fernsehen, auf das die Videokunst sowohl ästhetisch als auch in der Entwicklung eines speziellen elektronischen Vokabulars zurückwirkte.73 Bildete die Kombination des durch Audio-Synthesizer generierten Klanges und des durch Video-Synthesizer erzeugten Bildes die Grundlage für rein synthetische Bild-Ton-Kopplungen, so ging es vordergründig mehr und mehr um einen Dialog der Medien und die technische Annäherung von Bild und Ton als Daten, die in den 1980er Jahren im Übergang von analogen zu digitalen Medien gipfelte.74 Beschreibt Peter Weibel diesen Prozess als einen „Wechsel von der Synästhesie zu Isomorphie“, indem „ein und dieselbe elektromagnetische Welle einmal als Ton und einmal als Bild realisiert werden konnte“75, so löst er die technische Ebene von der Wahrnehmung ab, obwohl beide jedoch in elementarer Verbindung stehen und aufeinander bezogen bleiben. Denn das Synästhetische als Analogie oder Transformation der Sinne ging der technischen Gleichschaltung von Bild und Ton sowohl im kulturellen Diskurs als auch auf technischer Ebene voraus und ist deren Bedingung. Vielmehr kann das digitale Prinzip als weitere Neuformulierung des Synästhetischen betrachtet werden, indem es, alle Daten in einen Code transformierend, deren Erscheinung als Klang oder Ton lediglich von den Ausgabegeräten abhängig macht, wie bei den Synästhesien elektrische Nervenimpulse offensichtlich Farben und Klänge auslösen können. Diese Konzeption des Synästhetischen meint nicht mehr nur Übersetzungen von einem Sinn in einen anderen, sondern führt alle Sinnesdaten auf eine Matrix oder einen Code zurück und nähert sich dabei physiologischen Prinzipien des 19. Jahrhunderts wieder an. Die Einheits- und Ganzheitsuto71 Beispiele dafür sind die Arbeiten Electronic Opera No. 1 (1965), TV-Cello (1971) oder Kuba TV. 72 Vgl. Hanhardt (1988). 73 Vgl. Spielmann (2010), S. 315. 74 „Im elektronischen Medium wurde die Beziehung Bild und Ton auf einer naturwissenschaftlichen Basis, d.h. auf einer (objektiv) technischen [...] statt einer (subjektiv) sinnlichen bzw. sensorischen Korrespondenz erstellt.“ Weibel (1987), S. 103. 75 Ebd.
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pie einer gesamtsinnlichen Wahrnehmung wurde dabei durch Medientechniken besetzt, die verschiedene Sinnesdaten beliebig transformieren und gleichsetzen können. So suchte z.B. John Whitney, ab 1966 Artist in Residence bei IBM, nach einer gemeinsamen strukturellen Syntax für Bild und Klang und entwickelte dabei Prinzipien des abstrakten Films zur Computergrafik weiter. Aus Analogcomputern zur ballistischen Berechnung von Flugabwehrgeschützen im Zweiten Weltkrieg konstruierte er einen Apparat zur computergestützten Bildgenerierung und testete dabei die ersten Grafikprogramme.76 Damit läutete Whitney eine neue Ära der medialen Kunst an der Schnittstelle von elektronischem Video, Ton und Computer ein und veröffentlichte 1982 mit Digital Harmony. On the Complementarity of Music and Visual Art deren erstes Standardwerk. Der alte Traum einer Übersetzung von Farbe und Ton, von Bild und Klang, den schon Alexander László beschwor, realisierte sich damit im Digital-Elektronischen.77 Neue künstlerische Formate, wie Installationen, erweiterten wiederum die technischen Bild-Ton-Kopp-lungen der Musiker, Szeniker und Elektroniker zu einem abstrakten Wahrnehmungsraum der Interaktion von Mensch und Medien. In der Dynamisierung der kinematografischen Anordnung von Zuschauer und Leinwand gerieten der Zuschauer und seine Wahrnehmung – in der permanenten Reflexion der eigenen Position im Verhältnis zu anderen Besuchern und den Elementen der künstlerischen Arbeit – in Bewegung.78 Der Raum der Installation als Raum zwischen Mensch und medialem Bild wurde zum Wahrnehmungslabor für die Erforschung der aus der Wechselwirkung beider resultierenden sinnlichen Erfahrung und daraus sich performativ generierender Sinnzusammenhänge.79 Das Synästhetische fungierte dabei modellhaft als Verhandlungsraum der Gleichzeitigkeit und Parallelität direkter und medial vermittelter Sinneserfahrungen, die erst gemeinsam Sinnkontexte herstellen, und antizipierte damit Wahrnehmungspraktiken und Erkenntnisstrategien einer neuen digitalen und in alle Lebensbereiche hinein wirkenden Medienkultur. Die Wirklichkeit spaltete sich in multiple Welten, die zugleich immer nur indirekt zugänglich und virtuell sind.80 Im Sinne McLuhans war Kunst in diesem Kontext die experimentelle Erprobung
76 Vgl. Daniels (2009), S. 245f. 77 Vgl. Weibel (1987), S. 102. Als wesentliche Protagonisten dieser neuen medialen Kunstform nennt Weibel Steina und Woody Vasulka, Ernest Gusella, die Gruppe Ars Intermedia, Stephen Beck, Bob Snyder, Ed Tannenbaum, Tom DeWitt und Larry Cuba, die in ihren Projekten v.a. an der elektronischen Interaktion von Bild und Ton interessiert waren. 78 Vgl. Hagener (2010), S. 153. 79 Vgl. ebd., S. 158ff. 80 Vgl. ebd., S. 157.
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und Schulung veränderter Wahrnehmungsmuster in medial durchsetzten Welten.81 In künstlerischen Praktiken weiten sich Konzeptionen des Synästhetischen zum einen auf technische Dimensionen der Zusammenführung von Medien und Medientechniken und zum anderen auf die Beschreibung performativer Wahrnehmungsund Sinnbildungsprozesse aus, die das Subjekt in medialen Welten konstituieren. Im Synästhetischen als Projektionsfläche materialisieren sich damit gleichermaßen Medientechniken und Medienpraktiken. Brüche im mediengeschichtlichen Diskurs, wie ihn der Wechsel vom Analogen zum Digitalen darstellte, müssen sich damit auch in Ausformulierungen des Synästhetischen im wissenschaftlichen Diskurs widerspiegeln. Das beweist die neurologische Synästhesieforschung seit den 1980er Jahren. Dabei praktizierte und theoretisierte die Kunst als Vorreiter synästhetische Wahrnehmungs- und Erkenntnisstrategien als dynamischen Prozess der Kopplung verschiedener Sinneselemente, der multiple, fluktuierende Bedeutungsebenen produziert.
IV.4 H APPENING DER S INNE . I NTERMEDIA In der Fortführung avantgardistischer Tendenzen verwandelte die Kunst der 1950er und 1960er Jahre das Konzept des Synästhetischen von der Vermischung der Sinne und der Künste zur Verbindung der Medien.82 Wurde der Begriff des Künstlers, der nicht mehr Maler oder Musiker, sondern alles zugleich war, völlig neu definiert, so entstanden Mischformen, die ganz bewusst zwischen den Künsten angesiedelt wa-
81 So beschrieb z.B. Gene Youngblood in Expanded Cinema von 1970 ein synästhetisches Kino als die der Zeit entsprechende Wahrnehmungsform: „Synaesthetic cinema is the only aesthetic language suited to the post-industrial, post-literate, man-made environment with its multi-dimensional simulsensory network of information sources. It’s the conscious existence in the nonuniform, nonlinear, nonconnected electronic atmosphere of the Paleocybernetic age.“ Youngblood zit. nach Hagener (2010), S. 157. 82 Peter Weibel sieht diesbezüglich v.a. die Fluxusbewegung als Wendepunkt: „Hat vor Fluxus die [...] Fusion von Klang und Bild auf der Grundlage von Analogien, Äquivalenzen, Korrespondenzen, von Tönen und Farbe stattgefunden, in der Musiker und Maler in Synchronien, Synästhesien und Synchromien schwelgten, so hat sich durch Fluxus die Fusion von Kunst und Musik […] zur Fusion der Medien auf der Grundlage von Intertextualität, Intermedialität, Interaktion verlagert, wobei [...] alle Erfahrungen von Futurismus, Dada, Bauhaus, Surrealismus etc. in die Inszenierung dieser Fusion auf der Bühne eingegangen sind.“ Weibel (1987), S. 116.
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ren und die Grenzen zu Populärkultur, Wissenschaft und Technik überschritten.83 Die adäquaten künstlerischen Ausdrucksformen dieser Prozesse waren Happenings,84 Performances und Aktionen, die in der Konzentration auf Bild und Abfolge von einzelnen Ereignissen unter Einbezug von Film, Malerei, Musik und einer Aufführungspraxis im öffentlichen Raum gleichermaßen die Grenzen zwischen den Gattungen, den Medien und zwischen Kunst und Leben sprengten.85 Eine Reihe von Künstlern, wie Wolf Vostell, Hermann Nitsch, László Moholy-Nagy oder Nam June Paik, entwickelte diese Formate in den 1960er Jahren, um eine Intensivierung der Wahrnehmung und des poetischen Gehalts von Alltagssituationen und -gegenständen herbeizuführen.86 Daraus entstand eine performative Praxis, bei der die Medien im künstlerischen Prozess konvergierten.87 Zur Beschreibung dieser neuen, zwischen den Medien angesiedelten Art von Kunst prägte der Künstler Dick Higgins 1965 in dem Aufsatz Synesthesia and Intersenses. Intermedia den Begriff ,Intermedia‘.88 ,Intermedia‘ setzte sich weniger als Bezeichnung für eine neue Art der Kunst durch, wie Higgins es andachte, sondern löste als Intermedialität v.a. eine theoretische Debatte um den Begriff des Mediums und des Medialen aus. Der Titel von Higginsʼ Aufsatz suggerierte Intermedia als ästhetisches Konzept, das, auf der Synästhesie basierend, jedoch zwischen den Sinnen agiere, indem es, feste Zuordnungen und Regeln zwischen Sinnen, Künsten, Materialien und Medien verwei83 Beispiele dafür sind der Philips-Pavillon von Iannis Xenakis, Edgar Varèse und Le Corbusier auf der Expo in Brüssel von 1958, in dem sie mit Poème electronique ein multimediales Sound- und Bildspektakel inszenierten, das heutige Eventformate vorwegnahm, oder auch Joseph Beuys‘ ,soziale Plastik‘ als Gesamtkunstwerk aus der Integration von Natur, Kunst, Technik und Wissenschaft. 84 Der Maler Allan Kaprow prägte den Begriff Happening mit seiner ersten Inszenierung im öffentlichen Raum, 18 Happenings in 6 Parts, 1959 in New York. 85 Vgl. Frank (1988). 86 Vgl. Motte-Haber (1999), S. 57. 87 „Durch die Befreiung des Klanges, durch die freie Intermedialität und -textualität von Objekt, Musikinstrument, Gemälde, Skulptur, durch die theatralische Inszenierung dieser Grenzüberschreitungen, in der alle Materialien und Medien stets alles sein konnten (sonores Material galt als visuell, TV-Apparate waren Musikinstrumente, Musikgeräte Skulpturen, Haareschneiden konnte eine Musikaufführung und Warten [...] bedeuten etc.) in den [...] Happenings, Aktionen und Performances sind die akustischen, visuellen und skulpturalen Elemente der diversen Künste und Medien zu ‚frei flottierenden‘, beweglichen, austauschbaren Elementen eines stets transformierbaren Spiels geworden.“ Weibel (1987), S. 117. 88 Den Begriff übernahm Higgins von dem Dichter Samuel Taylor Coleridge, einem Wegbereiter der englischen Romantik, der ihn bereits im Jahr 1812 nutzte, um Arbeiten zu beschreiben, die konzeptuell zwischen die bekannten Medien fielen. Vgl. Higgins (1984).
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gernd, ein undefinierbares Dazwischen herstelle. Aus dieser unbestimmten Relation der Elemente, die sich nur in der jeweiligen subjektiven Rezeptionserfahrung fixierte, erwuchsen wandelbare und einmalige Sinnkonstellationen, die etablierte Einteilungen und Kategorien entgrenzten.89 So überwanden z.B. die Happenings tradierte künstlerische Räume, indem sie, jenseits von Bühne oder Museum, den gewählten Ort durch Vollzug einer Aktion als künstlerischen Raum definierten, der mit dem Ende des Happenings wieder zum sozialen Raum wurde.90 Waren damit Aussagen verbunden wie ,Kunst ist überall‘ und ,alles ist Kunst‘, so wurde zugleich der inszenierte Charakter des sozialen und öffentlichen Raumes ausgestellt, der sich ebenso konstruktiv generiert wie der Aktionsraum des Happenings. Diese Entgrenzung des künstlerischen Raumes nahm eine permanente Überlagerung von Orten und Räumen in den urbanen Mega-Metropolen der 1990er Jahre vorweg, die sich durch das Internet zusätzlich um virtuelle Räume erweiterten, zwischen denen man permanent ;hin und her switchen‘ kann. Die Happenings und Performances verfügten darüber hinaus über einen interaktiven Charakter, der dem Publikum eine kreative Rolle zwischen unbewusster Einflussnahme bis hin zu bewusster Manipulation der künstlerischen Aktion zuwies.91 Nahm diese Praxis den zukünftigen Internetnutzer vorweg, so erweiterten neue Medientechniken auch die ursprünglich zwischen Akteur und Publikum angelegten Formen der Interaktion.92 Diese neue Interaktivität schuf eine sinnlich-erfahrbare Nähe, forderte zugleich aber auch eine neue Art der Medienkompetenz als Frage nach dem Status und der Realität medialer Bilder und einer damit zusammenhängenden möglichen Reaktion.93 Verwirklichte sich darin die politisch-gesellschaftliche Dimension intermedialer Praktiken, so forderten mediale Bilder die ,traditionellen‘ Künste zu einer Neupositionierung und Neudefinition
89 Vgl. Zuber (2003), S. 236. 90 Vgl. John (2010), S. 145. 91 Vgl. Kwastek (2010), S. 163. Auf die Spitze getrieben wurde das in der aus Happeningund Fluxusbewegung hervorgegangenen Body-Art, zu der z.B. Marina Abramovic gehörte, die mit Performances bekannt wurde, bei denen sich der Künstler bewusst in Gefahr begab oder selbst verletzte und den Zuschauer damit zum Handeln provozierte. 92 So konnten die kybernetische Kunst in den 1950er Jahren und die Videotechnologie in den 1960er Jahren mit der Aufnahme und Manipulation bewegter Bilder spielen. Seit den 1960er Jahren ist die Interaktion zwischen Mensch und Computer technisch möglich. Ein Beispiel dafür ist z.B. das von Joseph Weizenbaum 1966 entwickelte Computerprogramm ELIZA, das einen menschlichen Gesprächspartner simuliert. Seit den 1990er Jahren können Besucher interaktiver Kunstprojekte sowohl akustische als auch visuelle Informationen manipulieren. Vgl. Kwastek (2010), S. 165f. 93 Vgl. Diers (1998), S. 56.
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heraus.94 Beispielhaft dafür ist das Theater der Bilder von Robert Wilson zu betrachten, bei dem sich zwar Anknüpfungspunkte an Wagners Gesamtkunstwerk finden, Raum, Körper, Bild und Musik im Sinne einer Logik des Traumes jedoch völlig eigendynamisch agieren, was zu einer Ästhetik der Interferenz, einem Auseinanderbrechen der Korrespondenzen führt.95 In der Aufkündigung des Bandes zwischen Bedeutung und Bedeutetem gibt es keine dominanten Darstellungselemente und der Zuschauer baut sich aus Bilderwelten selbst sein Stück, in dem die Subjektivität der Wahrnehmung die semantischen Leerstellen füllt, ohne auf ein metaphysisches Modell zu rekurrieren.96 Ziel war nicht die Herstellung eines neuen Ganzen, sondern die Befreiung der Differenzen in der Potenzierung von Bedeutung durch Zeichenbeziehungen, die nur für einen Augenblick Gültigkeit haben und Machtbeziehungen unmöglich machen. Die Bühne transportierte über das Sinnliche keine Botschaften mehr, sondern die Materialität der theatralischen Kommunikation rückte selbst in den Vordergrund und stellte den Körper als konstitutives Element in den Mittelpunkt.97 So rekurrierte das Theater Robert Wilsons, nach Guido Hiß, auf die Idee des Gesamtkunstwerkes im Sinne einer einheitlichen und ganzheitlichen Erfahrung von Welt, um diese als Fiktion zu entlarven, die nur noch medial vermittelt hergestellt werden kann, wobei sich die das Theater lange Zeit bestimmenden Kategorien von Schein und Sein auflösten.98 Insofern aktualisierten intermediale Kunstformen die Auseinandersetzung mit Entwürfen des Gesamtkunstwerks, des Synästhetischen oder dem Körper, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts kursierten, was sich z.B. an einer Reihe von Wiederaufführungen von Werken wie Kandinskys Gelbem Klang oder Skrjabins Prometheus seit den 1960er Jahren,99 aber auch an einer verstärkten wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gesamtkunstwerk oder 94 „Was dieses, Ende der siebziger Jahre vorrangig nordamerikanische [...] Theater uns deutlich machte, war folgendes: Erst die Sinne, die uns als Subjekte in unseren ersten Identitäten konstituieren – nämlich Hören und Sehen – schaffen dank der Öffnung der Bühne auf die Materialität der an der Inszenierung beteiligten Künste den Raum des Theaters: ein Raum, der sich mental im Dazwischen von Hören und Sehen entfaltet und der durch die Entgrenzung des Theaters auf die anderen Künste erst bewußt werden konnte.“ Finter (1998), S. 6. 95 Vgl. Hiß (2005), S. 282. 96 Vgl. ebd., S. 288f. Diese Entautomatisierung der Alltagswahrnehmung und Offenlegung ihrer Mechanismen praktizierten auch Regisseure wie Heiner Müller, Frank Castorf, Einar Schleef, Christoph Marthaler oder die Choreografin Pina Bausch, die Elemente von Happening, Fluxus und Intermedia aufnahmen. Vgl. ebd., S. 291. 97 Vgl. ebd., S. 279. 98 Vgl. ebd. 99 Skrjabins Prometheus wurde seit 1961 achtmal mit Farblicht aufgeführt. Ähnlich erging es Schönbergs Glücklicher Hand, die in den 1960er Jahren neu entdeckt wurde.
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den Synästhesien in den 1980er Jahren ablesen lässt. Verändert hat sich jedoch der mediale Horizont, der auf die historischen Ideen von Gesamtkunstwerk oder des Synästhetischen zurückwirkte und neue Elemente und Zuschreibungen in die Diskurse hineinprojizierte. Statt der Produktion von Kunstwerken rückte die Konstruktion ästhetischer Situationen in den Mittelpunkt und erhob die Kommunikationssituation zum eigentlichen Thema der Kunst. Dabei spiegelten sich, wie schon um 1900, neue kulturelle Wahrnehmungs- und Medienpraktiken von gesamtgesellschaftlicher Relevanz direkt in der künstlerischen Arbeit wider, für die das Synästhetische als Projektionsfläche und Verhandlungsraum fungierte, wobei sich Sphären von Kunst und Nichtkunst durch Entgrenzung und Popularisierung anglichen.100 Hatten bereits Benjamin und Merleau-Ponty die Medien(-techniken) mit dem Sinnendiskurs und dem Synästhetischen verknüpft, so verdichtete sich dieser Zusammenhang in den 1960er Jahren in der Vision einer vernetzten Gesellschaft, prägnant ausformuliert in McLuhans Medientheorie, in der das hierarchische System der Sinne durch die Medien zu einem harmonischen Gleichklang der Sinne aufgebrochen wurde.101 Erklärte McLuhan den Fernsehzuschauer zum Synästhetiker, so verband Higgins Konzepte des Synästhetischen mit intermedialen Kunstformen. Das Synästhetische wurde damit zum Signum einer medialisierten Welt, das auf Räume zwischen verschiedenen Medien abzielt, in und aus denen sich performativ Bedeutung generiert. Theoretisiert wurden diese Prozesse besonders seit den 1980er Jahren im Zusammenhang mit der Digitalisierung als Integration aller Medien und Künste unter dem Schlagwort der Intermedialität, die zugleich einen Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften von der Textualität hin zur Materialität der Kommunikation einläutete.102 Dabei impliziert Intermedialität, Jürgen E. Müller zufolge, sowohl die Materialität der Medien als Apparate als auch die Inter100 Hoffmann/Naumann z.B. ziehen eine Linie von Künstlern wie Klee, Kandinsky, Schönberg über Happening und Fluxus hin zu Lou Reed, Andy Warhol und der experimentellen Rockband Velvet Underground, die direkt zur Punkbewegung der 1970er und 1980er Jahre und auch zur Techno- und House-Music weiterführen. Multiple Künstler, wie Andy Warhol, Glen Matlock von den Sex Pistols, Joe Strummer von The Clash, Patti Smith oder Vivienne Westwood arbeiten zunehmend gleichzeitig im Musikgeschäft und der Performance-Szene und verbanden alles miteinander. Vgl. Hoffmann/ Naumann (2010), S. 54. Ein weiteres Beispiel ist das Musikvideo. Waren die Bands zunächst nur durch Auftritte im Fernsehen zu sehen, so produzierten sie aus Promotionszwecken Videoclips, die sie an die Sender schickten. Daraus entstand 1981 der Fernsehsender MTV, der die gesamte Musik- und Jugendkultur bis in die 1990er Jahre hinein prägte, aber in ihrer ganz eigenen Ästhetik auch auf Künstler wirkte, die z.T. selbst Videos für Musiker produzierten. Vgl. Höller (2009), S. 198. 101 Vgl. Heibach (2004), S. 164. 102 Vgl. Zuber (2003), S. 232. Vgl. Müller, Jürgen (2007), S. 36.
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aktion zwischen Materialien, was letztlich auf die Ambivalenz des Begriffs Medien rückführbar ist. Daraus entsteht eine Konfusion um die Differenz zwischen instrumentellen und ästhetischen Dimensionen von Intermedialität, die z.T. gleichgesetzt werden. So kann sich Intermedialität auf mehrere Ebenen beziehen, die Jürgen Müller als „Ebene der Einbettung von Medien in spezifische multi- und intermediale kommunikative Handlungszusammenhänge (Zeichensysteme)“, „Ebene der intermedialen technischen Gegebenheiten von Dispositiven (technische Geräte)“ und „Ebene der Integration und Transformation von medialen Strukturen eines oder mehrerer Medien in den Kontext eines anderen Mediums (Transferprozesse von einem Medium ins andere)“103 fasste. Besonders die Ebene der Transferprozesse führte wiederum dazu, dass der Synästhesiediskurs in den Intermedialitätsdiskurs einfloss und als dessen Vorläufer betrachtet wird.104 Ist Intermedialität eine Erscheinung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, so werden deren Implikationen kulturhistorisch an den Beginn des 20. Jahrhunderts projiziert und verändern zugleich die Konzeption des Synästhetischen. Synästhesiediskurs und Intermedialitätsdiskurs beeinflussen sich in der Folge gegenseitig, wodurch die Abgrenzung erschwert wird. Volker Roloff versucht in Intermedialität und Medienanthropologie. Anmerkungen zu aktuellen Problemen, Intermedialität aus der Perspektive der Wahrnehmung des Subjekts als Prozess zu fassen, der in alle Richtungen führen kann und fragil ist, „ein Begriff, der als solcher Heterogenes nicht zusammenführt, sondern Zwischenräume, Passagen, Vernetzungen, Diskontinuität, Kontingenz und Bruchstellen verdeutlicht“105. In diesem Verständnis wird eine Abgrenzung des Synästhetischen vom Intermedialen möglich, aus der das Synästhetische als anthropologische Grundlage des Intermedialen in der Wahrnehmung des Subjekts hervorgeht. Beschreibt Intermedialität als Teil der Kulturgeschichte seit den 1960er Jahren ein Verfahren der Transformation und Wechselwirkung von Medien, so bildet das Synästhetische dessen Pendant auf wahrnehmungstheoretischer Ebene des Subjekts. Das Intermediale entpuppt sich als Effekt des Synästhetischen, das als Verhandlungsraum und Projektionsfläche dazu beiträgt, neue mediale Praktiken im menschlichen Wahrnehmen und Denken zu verankern.
103 Zit. nach Heibach (2004), S. 165f. 104 So verstehen z.B. Posner/Schmauks Intermedialität als Versuche, mit dem Werk einer Kunstform Bezug auf das Werk einer anderen Kunstform zu nehmen, es zu kommentieren und in neuen Kontext zu stellen, wie z.B. das Übertragen von Strukturen zwischen den Künsten. Vgl. Posner/Schmauks (2002), S. 5. Und Heibach setzt den Beginn von Intermedialität bei Wagner an, denn hier „findet die Dominanz der Sprache als Code zur Manifestation der Verschmelzung der Sinne ein Ende [...].“ Heibach (2004), S. 172f. 105 Vgl. Roloff (2007), S. 17.
V. Die Eroberung der Kreativität – Synästhesie als Soft Skill der digitalen Kultur
Im Zeitalter einer digitalen Kultur avanciert das Synästhetische zum Modell der Verknüpfung vielfältiger, parallel existierender medialer, virtueller und imaginärer Welten. Entgegen einer Medienkritik, die ein Verschwinden des Körpers hinter Bildschirmen, künstlichen Intelligenzen und Robotern prognostizierte, erweist sich dieser als entscheidende Schnittstelle und Interface der Mensch-Computer-Interaktion. In diesem Rahmen realisiert sich der Synästhesiediskurs seit den 1980er Jahren als Stärkung körper- und sinnenbasierter Wissens- und Erkenntnisstrategien und verbindet leibbetonte Wahrnehmungs- und digitale Medienpraktiken. Das Synästhetische in seinen Ausformulierungen und Konzeptionen fungiert dabei gleichermaßen als Reaktivierung und Akzentuierung einer leiblichen, emotionsgesteuerten Lebenspraxis wie als Zukunftsvision einer totalen, technisch basierten Virtualisierung des Menschen. Die Verwirklichung der digitalen Einheitsutopie impliziert dabei nicht nur Medienkopplungen, sondern schließt den Körper und das Subjekt als Medien selbst mit ein. Über eine Wahrnehmungsform hinaus gerinnt das Synästhetische dabei zur kreativen und performativen Erkenntnisstrategie der Verknüpfung verschiedener Realitätsformen, Informationskanäle und Wissensebenen, die in einem wechselseitigem Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnis die Sinne, den Körper und Emotionen ebenso einbezieht wie abstraktes Denken, Sprache und kulturelle Zeichensysteme. Im April 2014 startete Google den Verkauf seines am Kopf getragenen Miniaturcomputers Google Glass, der eine neue Stufe digitaler Technologie als augmented reality verkörpert. Medial generierte, visuell und auditiv erfahrbare Daten überlagern die Alltagswahrnehmung, indem die Datenbrille Informationen wie die Uhrzeit oder das Wetter, Websites oder Navigationsanweisungen auf einem transparenten Bildschirm direkt im Sehfeld des Nutzers abbildet und akustische Daten über die Schädelknochen an das Gehörorgan leitet. Steuerbar ist das Gerät über einfache Sprachbefehle oder Kopfbewegungen sowie über eine von einem Laser auf die Handfläche des Nutzers projizierte Tastatur. Ausgestattet mit einer Kamera,
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lässt sich mit der ,Brille‘ jeder vom Nutzer gesehene Moment als Foto oder Video aufzeichnen und via Internet an andere Nutzer versenden, was v.a. Datenschützer auf den Plan rief. Abbildung 21: Die Google Glass, Werbefoto
Siehe www.smartcheck.me
Ermöglicht wurden derartige Entwicklungen erst mit der Mobilisierung des Internets durch das kabellose W-LAN, das stationäre Eingangsportale, wie das Modem oder die DSL-Verbindung, erweitert und ablöst und das Netz immer und überall verfügbar macht. Wie dabei der Vorgang des Einloggens oder des Eintritts in die digitale Welt zunehmend verschwindet, so reduziert sich die Distanz zwischen den Medientechniken und dem Körper, indem sie direkt an und in ihn implantiert werden. So hat, laut Wikipedia, Google bereits ein Patent für eine Kontaktlinsenkamera angemeldet, die die Google Glass in Zukunft ersetzen soll.1 Vernetzte Körperimplantate, die eine Verbindung mit digitalen Medien herstellen und nicht nur permanenten Zugriff auf Informationen bieten, sondern auch das Erzeugen und Verbreiten von Inhalten ermöglichen, läuten ein neues Stadium digitaler Medientechnologie ein, das zu neuen Wahrnehmungs- und Körperpraktiken und damit verbunden zu neuen Kommunikationsformen, sozialen Praktiken und Entwürfen von Gemein2 schaft führt. In diesem Kontext stellt das Synästhetische innovative Modelle bereit,
1
Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Google_Glass#cite_note-11 [letzter Zugriff 19.10. 2016]
2
Diese Neustrukturierung der Kultur erahnte Marshall McLuhan bereits 1964: „Wir leben heute im Zeitalter der Information und Kommunikation, weil elektrische Medien sofort und ständig ein totales Feld von gegenseitig sich beeinflussenden Ereignissen erzeugen, an welchen alle Menschen teilnehmen. Nun hat die Welt der öffentlichen gegenseitigen
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die menschliches Wahrnehmen und Denken mit den Technologien verbinden. So ähnelt die Anwendung der Google Glass in erstaunlicher Weise den Beschreibungen sinnlicher Erfahrungen von Synästhetikern, deren Erscheinungen sich auf einem ,Bildschirm‘ vor dem inneren Auge materialisieren, während die normale Wahrnehmung sichtbar bleibt, oder die sich als Farbe über gesehene Buchstaben oder Zahlen legen. Abbildung 22: Zeichnung des Sehfeldes der Synästhetikerin Birgit Fork
Aus: Dittmar (2007), S. 204.
In dieser technisch-medialen Realisierung synästhetischer Wahrnehmungserfahrung wird der Synästhesiediskurs als ein seit dem 19. Jahrhundert an die Medienentwicklung gebundener kultureller Diskurs evident. In der digitalen Kultur offenbart sich das Synästhetische als perzeptuelle, kognitive und mediale Praxis, als soft skill der Parallelisierung und Verschaltung subjektiver wie kollektiver Sinneserfahrungen und Wahrnehmungsstile mit medialen Substraten, die wiederum, der Logik des binären Zahlencodes folgend, problemlos ineinander überführt werden können. Das Synästhetische in seinen Konzeptualisierungen erscheint, wie schon in früheren Phasen, am Ende des 20. Jahrhunderts als Dispositiv neuer Wahrnehmungsmuster,
Beeinflussung die gleiche umfassende Weite des intergierenden Wechselspiels, das bisher nur für unser persönliches Nervensystem charakteristisch war. Das kommt, weil die Elektrizität ihrem Wesen nach organisch ist und bestätigt sie als organisch-soziales Bindemittel durch ihre technische Anwendung im Telegrafen und Telefon, im Radio und in anderen Formen.“ McLuhan (1994), S. 377.
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Wissenspraktiken und Körpertechniken, die digitale Technologien erfordern und befördern. Eine inszenierte ,Wiederentdeckung, des Synästhetischen in den 1980er Jahren spiegelt so letztlich die Verbreitung der digitalen Technologien und die mit ihnen verbundene Aktualisierung von Wissens- und Erkenntnispraktiken, die die gesamte Kultur verändern. Dabei deuteten sich diese gesellschaftlichen Veränderungsprozesse bereits in den 1960er Jahren an, was Künstler der Happening- und Fluxus-Bewegung in der künstlerischen Praxis aufgriffen, wie auch eine Reihe sogenannter ,postmoderner‘ Theoretiker. So formulierte z.B. McLuhan 1964 eine aus Technologien der Elektrizität erwachsende Umwandlung der gesamten Lebensform, in der „Energie und Produktion [...] einer Vereinigung mit Information und Wissen entgegen“ gehen und „Marketing und Konsum“ eins „werden [...] mit Wissenschaft, Erkenntnis und Aufnahme von Information“3. Dieser Wandel hin zu einer Wissensgesellschaft, die mit dem Internet ihr Sinnbild fand, löste mit der Industrialisierung installierte Verhältnisse von Arbeit und Leben, Mensch und Gemeinschaft, Realität 4 und Fiktion, Kunst und Nichtkunst auf und definierte sie neu. Diese bereits in den 1960er Jahren angelegten, medial basierten Umstrukturierungsprozesse der Gesellschaft erlangten mit der Digitalisierung an der Wende zum 21. Jahrhundert den Status sozial- und kulturwissenschaftlicher Debatten. So beschreiben z.B. Soziologen wie Günther G. Voß seit der letzten Dekade des vergangenen Jahrtausends eine Entgrenzung und Subjektivierung der Arbeit, bei der tradierte Dichotomien von Arbeit und Freizeit aufbrechen und der Mensch gefordert ist, seine eigenen Fähigkeiten stetig zu erweitern und zu vermarkten.5 Tritt an die Stelle der Ausbeutung durch Fabrikbesitzer die Selbstausbeutung jedes Einzelnen, so wird kreatives Schaffen im Sinne der Selbstorganisation und Selbstvermarktung mehr und mehr zur Anforderung für jeden Arbeitnehmer.6 Suggeriert das Internet eine Freiheit der 3
Ebd., S. 526.
4
So beschreibt auch McLuhan: „Automation ist Information, und sie macht nun nicht nur den Spezialaufgaben im Bereich der Arbeit ein Ende, sondern auch der Auffächerung im Bereich des Lernens und Wissens. In Zukunft besteht die Arbeit nicht mehr darin, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern leben zu lernen. Das ist ein ganz allgemeines Verhaltensmuster im Zeitalter der Elektrizität. Es beendet die alte Dichotomie von Kultur und Technik, von Kunst und Handel und von Arbeit und Freizeit. Während im mechanischen Zeitalter der Fragmentierung Freizeit die Abwesenheit von Arbeit bedeutete [...], gilt im Zeitalter der Elektrizität gerade das Gegenteil. Wenn das Zeitalter der Information von uns den Einsatz aller Fähigkeiten gleichzeitig verlangt, entdecken wir, daß wir am stärksten das Gefühl empfinden, frei zu sein, wenn wir am intensivsten ,dabei‘, also mit einbezogen sind, ähnlich wie es Künstler aller Zeiten waren.“ Ebd., S. 520.
5
Vgl. Voß, Gerd Günter (1991), (2001), (2005), Voß/Matuschek/Arnold (2007).
6
„Das elektronische Zeitalter [...] befreit den Menschen von der mechanischen und spezialisierten Routinearbeit des vergangenen Maschinenzeitalters. Wie die Maschine und das
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Kommunikation und garantiert die dauerhafte Verfügbarkeit von Information, so ermöglicht es ,Wissensarbeit‘ immer und überall und erzeugt einen Sog medialer Welten als Gefühl umfassender Involviertheit, das v.a. technisch und ökonomisch bestimmt ist. Dieser Zustand des ,Dabei-Seins‘, der in Flatrates und einem dauerhaften Online-Status der Tablets und Smartphones längst Alltagsrealität geworden ist, wird v.a. durch einen synästhetischen Einbezug aller Sinne gewährleistet. Klingeltöne und Vibrationsalarm erscheinen nicht nur als sinnliche Reize, sondern werden mit Bedeutung aufgeladen und verknüpft, indem z.B. das Klingeln des Handys für jeden Anrufer personalisiert werden kann. Als Kopplung von Wahrnehmungs- und Erkenntnisstrategien garantiert das Synästhetische eine Involviertheit des Menschen in multiple, mediale Welten und trägt als soft skill des Subjekts entschieden zu dessen Behauptung und Leistungsfähigkeit im Gefüge mehrfach medialisierter, digitaler Arbeits- und Lebenswelten bei. Aus diesem Grund erlangen die subjektiven Aussagen der Synästhetiker einen neuen Stellenwert und verdichten sich in der Interpretation durch die Forschung zu einem fast stereotypen Bild des Synästhetikers als Ideal eines neuen Menschen. Im Zuge dessen werden eine Reihe von Zuschreibungen reaktiviert, die bereits um 1900 existierten. Besonders häufig fallen dabei die Befunde, Synästhetiker besäßen eine im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung stärkere kreative Begabung, verfügten über eine höhere Intelligenz, ein besseres Gedächtnis sowie eine größere Offenheit und Bereitschaft zum ,Querdenken‘. Damit umgibt den Synästhetiker seit den 1980er Jahren eine Aura, die sich auch in der Populärkultur niederschlägt. Eine Recherche in der englischsprachigen Wikipedia präsentiert den Begriff synaesthesia gleich mehrfach als Bandnamen sowie Album- und Songtitel der Popmusik.7 Selbst in einer Komikfigur, die Alan Moore in Form der über synästhetische und hellseherische Kräfte verfügenden Polizistin Wanda Synaesthesia Jackson für seine Komikserie Top 10, die die Geschichte einer Polizeieinheit in der Stadt Neopolis erzählt, erschuf, verdichten sich Elemente und Konzeptionen des Synästhesiediskurses.8 Die Grenze Auto die Pferde ablösten und sie dem Sport und Vergnügen zuführten, macht die Automation das mit den Menschen. Uns droht plötzlich eine Befreiung, die unsere inneren Kräfte der Selbstbeschäftigung und des schöpferischen Einsatzes in der Gemeinschaft mobilisiert. Das scheint ein Geschick zu sein, das dem Menschen die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft anbietet.“ McLuhan (1994), S. 538 7
Mit diesem Namen gibt es eine kanadische Band um Bill Leeb und Rhys Fulber im Bereich der elektronischen Musik. Popsänger wie Peter Himmelmann (1989) oder Andy Summers (1996) betitelten ihre Alben mit diesem Begriff. Bands wie The Bobs, AFI, The Thrillseekers oder Porcupine Tree veröffentlichten diverse „Synaesthesia“-Songs. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Synesthesia_(disambiguation) [letzter Zugriff 19.10.2016]
8
Die Komikserie entstand in den Jahren von 1999 bis 2001. Moore schuf einflussreiche Comicserien wie V wie Vendetta, Watchmen, From Hell und The League of Extraordina-
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zwischen Faszination und esoterischer Verklärung des Synästhetischen sind fließend, während gleichzeitig neue Medienvisionen wie die Google Glass und der Cyberspace die Idee des Synästhetischen als Transzendierung der Sinne und des Wissens antizipieren.9 Die ansteigende Begeisterung, die das Wahrnehmungsphänomen auslöst, äußert sich über die Popmusik hinaus in einer Reihe von Publikationen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen sowie in unzähligen Dokumentationen und Berichten in Presse, TV und dem Internet, die aufzuzählen den Rahmen hier sprengen würde. Prägnant tritt dabei der rätselhafte und geheimnisvolle Charakter des Phänomens hervor, der v.a. im Bereich empirisch-naturwissenschaftlicher Fächer im Verbund mit neuen wissenschaftlichen Paradigmen und sich ausdifferenzierenden Teildisziplinen immer wieder neue Ansätze und Theorien modelliert, aber auch Indifferenzen produziert. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Kognitions- und Neurowissenschaften, die seit den 1980er Jahren am intensivsten um das Phänomen bemüht sind und es mit Fragen des Gedächtnisses, des Denkens, des Bewusstsein, der Emotion, der Sprache und insbesondere der Kreativität in Zusammenhang bringen. Durchgehend wird in der Synästhesie ein verborgener Mechanismus vermutet, der jedoch nur bei einigen wenigen ins Bewusstsein tritt und die Funktionsweise des ,normalen‘ Gehirns erklären helfen könnte. Gefunden wurde dieser bis heute jedoch nicht.10 Stattdessen stiften sich widersprechende Thesen und experimentelle Befunde Verwirrung um den Begriff, während im Ergebnis kaum Neues im Vergleich zu den Erkenntnissen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Tage gefördert wird.11 So besteht ein Großteil der Synästhesieforschung seit den 1980er Jahren mehr oder weniger in Definitionsversuchen des Phänomens und der Entwicklung geeigneter experimenteller und technischer Untersuchungsmery Gentlemen, die bereits verfilmt wurden. Stark beeinflusst von der Kinematografie und der Literatur baute er in seine Comics Helden der Literaturgeschichte und gesellschaftskritische Themen ein und gilt als Begründer und Hauptvertreter der anspruchsvollen Graphic Novel. 9
Vgl. Dann (1998), S. 16.
10 So konstatiert auch Clausberg: „Im Fahrwasser der florierenden Neurowissenschaften hat in den letzten Jahren auch die Synästhesie-Forschung, nach langen Flauten, wieder mächtigen Auftrieb erfahren. [...] Gleichwohl ist in den Schriften der Fachspezialisten ein beständiges Unbehagen zu spüren.“ Vgl. Clausberg/Bisanz/Weiler (2007), S. 2f. 11 So verweist auch Harrison darauf, dass bisher keine neuen Ergebnisse gewonnen, sondern vielmehr nur die Beobachtungen der klassischen Forschung, die ebenso widersprüchlich waren, bestätigt werden konnten: „Ich habe [...] immer wieder betont, dass ein Großteil der modernen Literatur zum Thema Synästhesie im Prinzip klassische Erkenntnisse wiederentdeckt hat. Moderne neurowissenschaftliche Arbeiten unterscheiden sich von denen des viktorianischen Zeitalters oft hauptsächlich in den Techniken.“ Vgl. Harrison (2007), S. 167.
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thoden, ohne dessen Ursachen klären zu können. Neue bildgebende Untersuchungstechniken zeigten bei der synästhetischen Wahrnehmung zwar eine gesteigerte Hirndurchblutung von Arealen, die an der Verarbeitung von Farbinformationen beteiligt sind, annähernd schlüssig begründen kann die Forschung das bisher aber nicht.12 Aus dieser Situation resultieren verschiedene Entwürfe und Konzeptionen des Synästhetischen, die weniger das Phänomen selbst erhellen, als vielmehr in der Kopplung an kulturelle Diskurse, allen voran an den Mediendiskurs, dessen Potenzial als Projektionsfläche und Denkfigur sowie seinen Modell- und Konstruktcharakter aufscheinen lassen. So installiert sich der Begriff, ausgehend von der neurologischen Forschung, in vielfältigen geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Kontexten und erfreut sich, v.a. im Zusammenhang mit Schlagwörtern einer die neuen Technologien aufnehmenden inter- und multimedialen Kunst, einer unglaublichen Beliebtheit.13 Lassen sich diese wissenschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Bezüge im Anschluss an den Synästhesiediskurs zwischen 1940 und 1980 verstehen, so inszenierte insbesondere die Neurowissenschaft in den 1980er Jahren eine ,Wiederentdeckung‘ des Phänomens und seiner Erforschung im 19. Jahrhundert und blendete die Zwischenzeit kurzerhand aus.14 Insofern treffen seit den 1980er Jahren Synästhesiekonzepte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit Ausformulierungen des Synästhetischen im Kontext intermedialer Wahrnehmungsformen zusammen, was zu einer Vervielfältigung der Spielarten des Begriffes beiträgt. Begründet die Neurowissenschaft selbst ihr neu erwachtes Interesse mit verfügbaren innovativen Untersuchungstechniken, Methoden und Paradigmen, so lässt es sich letztlich auf die den Aufstieg der Kognitionswissenschaften befördernde Analogisierung des menschlichen Gehirns mit dem Computer zurückführen. Medientechniken tauchten in neurowissenschaftlichen Konzeptualisierungen des Synästhetischen der 1980er Jahre zwar zunächst nicht vordergründig auf, schlichen 12 Vgl. ebd., S. 212. 13 „Synesthesia has received much attention in science, art and in particular in the overlapping fields of digital art and multimedia in the last decade […]. Artists and scientists in these fields share a common interest in human perception.“ Ward/Mattingley (2006), S. 130. Vgl. Van Campen (2009a), S. 1, Paetzold (2003), S. 841. 14 „Research on synaesthesia is undergoing something of a renaissance, having initially been a hot topic in psychology and philosophy in the late 19th and early 20th centuries. One hundred years ago investigators failed to define an objective framework within which to characterise the phenomenon, and so interest in the topic waned. With the cognitive revolution and the rapid rise of new experimental techniques in human neuroscience, interest in synaesthesia as a legitimate topic for scientific investigation has been rekindled. Since the 1980s there has been rapid growth in scientific and media interest in synaesthesia, and there is now a sense that real progress is being made.“ Ward/Mattingley (2006), S. 129.
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sich aber über das zugrunde gelegte Modell des Gehirns durch die Hintertür ein. Diese Konstellation zeigt deutliche Parallelen zur Physiologie und Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts und lässt sie als Bezugspunkt evident erscheinen. Zu beiden Zeitpunkten erzeugten medientechnische Innovationen weit greifende Neustrukturierungsprozesse kultureller Ordnungs-, Denk- und Wissensmuster und zwangen den Menschen auf allen Ebenen zu einer Neuverortung und Neudefinition seiner Kompetenzen und Fähigkeiten. Bereits seit den 1960er Jahren trat das Gehirn analog zur sich enorm schnell entwickelnden Computertechnik als informationsverarbeitendes System in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und verhalf den Kognitions- und Neurowissenschaften zum Status neuer Leitdisziplinen. In der Folge entwickelte sich ein Netz neuer Wissenschaften und Methoden, die sich an dem Gleichnis von Gehirn und Computer abarbeiteten und darauf basierend neue Modelle des menschlichen Denkens und Wahrnehmens produzierten. Wirkungsvoll und folgenreich war v.a. die von dem Philosophen Jerry Fodor 1983 entworfene Modultheorie des Geistes, die den klassischen Computer im Kopf einpflanzte und zur Standarderklärung kognitiver Kapazitäten avancierte. Fodor ging davon aus, dass der Geist aus unabhängigen Subsystemen aufgebaut sei, die jeweils nur von einer bestimmten Kategorie von Reizen Input erhielten und nicht von den Aktivitäten in anderen Modulen oder Systemen beeinflusst würden.15 Damit implizierte seine Theorie eine Unterscheidung sinnlicher Daten nach Modularitäten, die die Zuordnung von Informationen zu spezifischen sensorischen Systemen erlaubte, welche diese wiederum an ein zentrales, deutendes und interpretierendes System weiterleiten.16 Galt die Modularität als in der Evolution sich durchsetzende Strategie einer maximal effizienten Informationsverarbeitung und Organisationsstruktur des Gehirns, so unterstützten bildgebende Verfahren Fodors Theorie und begründeten deren Anerkennung als neurologische Realität und Basis der neurowissenschaftlichen Erforschung von kognitiven, kommunikativen und perzeptiven Fähigkeiten.17 In der Vision der Schaffung einer künstlichen Intelligenz verdichteten sich dabei die wesentlichen Grundannahmen des Kognitivismus, der den Geist, die Wahrnehmung und das Denken als Prozesse der Informationsverarbeitung betrachtete, während Lernfähigkeit und Adaption die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen gewährleisten.18 Ganz ähnlich wie Johannes Müllers physiologische Theorie der spezifischen Sinnesenergie im 19. Jahrhundert zementierte die Modultheorie eine 15 Die einzelnen Module im Gehirn ordnete er spezifischen neuralen Architekturen und vorgeschriebenen Operationen zu, die unabhängig von zentralen Prozessen verlaufen und einen schnellen, aber inhaltlich geringen Output liefern. Vgl. Segal (1997), S. 211, Cytowic (2002b), S. 18. 16 Vgl. Dittmar (2007), S. 81. 17 Vgl. Dittmar (2007), S. 82, Cytowic (2002b), S. 19. 18 Vgl. Neumann (1998), S. 141.
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Trennung der Sinne in sensorische Module mit eigener neuraler Architektur. Hinterfragte das Synästhetische bereits im 19. Jahrhundert die Theoriebildung getrennter Sinneskanäle, so problematisierte es in den 1980er Jahren erneut das Konzept der Modularität, indem es sich offensichtlich aus in der Theorie nicht vorgesehenen Verbindungen zwischen den Modulen oder Arealen speiste.19 Versuchten zwar einige neurologische Theorien, das Synästhetische als Zusammenbruch der Modularität oder eine Durchlässigkeit zwischen den Modulen zu beschreiben, um Fodors Modell grundsätzlich zu halten, so boykottierte es die Gültigkeit dieser Modelle und rebellierte gegen eine im Gehirn verankerte Abschirmung und Trennung der Sinne.20 Damit verband sich zugleich eine gegen technische Zukunftsvisionen und die Gleichsetzung von Gehirn und Computer gerichtete Medienkritik, die die zunehmende Fragmentierung und Zerstückelung des Menschen und die Auflösung von Wirklichkeit in multiplen medialen und virtuellen Welten anprangerten.21 Als Gegenentwurf einer ,natürlichen‘, anthropologisch verankerten Verbindung der Sinne, wie es bereits im frühen 20. Jahrhundert entwickelt wurde, erschien das Synästhetische als geeigneter Bezugspunkt für alternative Konzepte. So wurde das Synästhetische auf neurowissenschaftlicher Ebene eingebettet in Fragen, wie ein einheitliches Bewusstsein der Person und ein subjektiv handhabbares Bild von Welt entstehen, für deren Klärung es in seiner subjektiven Ausprägung prädestiniert erschien. Gleichzeitig problematisierte es dabei jedoch die naturwissenschaftlich ausgerichtete Forschung, deren Annahmen und Methoden.22 So generierten sich über das Synästhetische abweichende Modelle des Gehirns, des Denkens und Wahrnehmens, die ein Netzwerk sich beeinflussender und aufeinander bezogener Prozesse formulierten und sich für die Übertragung auf kulturelle Phänomene eigneten. Die Analogie zum Computer wurde dabei nicht aufgegeben, vielmehr wurde das Modell des Computers selbst revidiert und der Idee eines Netzwerkes angepasst, was sich in etwa parallel zur Entwicklung des Internets vollzog. Im Verwerfen eines einfa19 Vgl. Cytowic (2002b), S. 19. 20 Vgl. Segal (1997), S. 217, Harrison/Baron-Cohen (1997), S. 119. 21 So z.B. Hans-Ulrich Reck: „Heute haben wir es im Reich der Sinne mit einem avancierten und extrem maschinell gestützten Verhältnis von Gehirn, Nerven und Maschinen, mit Mischwesen aus Mathematik und Medizin, Informatik und Neurologie zu tun. Die Sinne und ihr Sitz, der Körper, sind zu einer Collage von technischen und organischen Fragmenten geworden. Diese Neuverbindungen gipfeln zunehmend in einem Normalfall des Monströsen. Der Körper wird zum Schlachtfeld einer collagierenden Rekombinatorik von Organik und Technik.“ Reck (1998), S. 246f. 22 „Unwillkürlichkeit und Subjektivität synästhetischer Erfahrung werfen für die empirische Forschung, d.h. für die klinische Psychologie und Neurologie, Validationsprobleme auf – was der geheimnisumwitterten Faszination des Phänomens nicht abträglich gewesen ist.“ Filk/Lommel (2004), S. 11.
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chen Input-Output-Schemas der Informationsverarbeitung rückte die Frage nach der Konstituierung des Subjekts in einem Prozess der permanenten gegenseitigen Bezugnahme verschiedener sensorischer Daten, kognitiver und emotionaler Prozesse in den Vordergrund. Der Fokus lag dabei v.a. auf dem Aspekt, wie die Sinne als Daten- und Informationssammler in ihrem Wechselspiel Wissen produzieren und beeinflussen. Die im Synästhetischen verborgene, implizite Dimension der Ganzheit transformierte sich damit auf die Ebene der performativen Herstellung einer Einheit des Bewusstseins, die als Subjekt bezeichnet werden kann. Aus diesen komplexen Konstellationen gehen Konzeptionen des Synästhetischen hervor, in denen sich vermeintlich gegensätzliche Positionen mischen und einfache dualistische Setzungen unterlaufen werden. Visionen des Synästhetischen bringen künstliche Intelligenzen, Cybernauten, Avatare und virtuelle Subjekte ebenso hervor, wie ein Interesse an nicht erfassbaren und nicht künstlich herstellbaren Körpern, Emotionen, Intuitionen und Imaginationen, das aus der Kritik an einer durch die Übermacht der Medien motivierten Auflösung des Subjekts, seiner Fragmentierung und Dezentrierung erwächst.23 Die Beschwörung einer gesamtsinnlichen synästhetischen Erlebensweise wird dabei gegen eine medialisierte Welt gesetzt, aus der sie eigentlich erst hervorgeht, da mediale Sinneskopplungen synästhetische Wahrnehmungsprozesse erst simulieren und stimulieren. Diese Eigenschaft als Bindeglied zwischen einer medialen „Entwirklichung der Sinne“24, wie sie Oskar Negt pessimistisch formulierte, und der Vision einer Verstärkung des sinnlichen Kontaktes zur Wirklichkeit durch die Offenbarung verschiedener Ebenen von Sichtbarkeiten und Beziehungen zwischen den Dingen mittels neuer Technologien begründet die Faszination des Synästhetischen. So verherrlichte z.B. der Philosoph Max More die technische Erweiterung der Sinne unter Begriffen von enhanced per23 So entwarf z.B. Hans Moravec 1998 eine Zukunftsvision der sinnlich basierten Kopplung von Mensch und Maschine: „Jeder von uns trägt einen Harnisch, der mit optischen, akustischen, mechanischen, chemischen und elektrischen Apparaten alle Sinne und alle Aktivitäten steuert. Die Maschine sendet unseren Augen Bilder, unseren Ohren Töne, lässt die Haut Druck- und Temperaturschwankungen spüren, die Nase Gerüche aufnehmen, den Mund schmecken und gibt den Muskeln Kraft. Telepräsenz wäre dann erreicht, wenn diese In- und Outputs mit einem [...] humanoiden Roboter verbunden wären. Bilder aus den beiden Kameraaugen erschienen auf den Screens unserer Datenbrillen. Wir hörten Geräusche aus seinem Mikrophon [...] Kontakte auf unserer Haut erlaubten uns, mit seiner instrumentenbewehrten Oberfläche zu fühlen und durch seine chemischen Sensoren zu riechen und zu schmecken. Bewegungen unseres Körpers würden den Roboter veranlassen, sich in exakter Synchronie mit uns zu bewegen. [...] Die Illusion, daß wir den Roboter bewohnen, wäre perfekt. Unser Bewußtsein wäre scheinbar in den Roboter übergesiedelt – [...].“ Moravec (1998), S. 328f. 24 Vgl. Negt (1998), S. 499f.
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ception oder enhanced reality als Möglichkeit, neues Wissen zu generieren, das letztlich Körper und Geist wieder zusammenführe.25 Zur Debatte steht dabei erneut die schon um 1900 auftauchende Frage, ob das Synästhetische als evolutionärer Fortschritt eines neuen Sinneswissens oder Rückkehr zu Zuständen undifferenzierten Erlebens zu betrachten sei. Die neurologische Forschung bestätigt beides gleichermaßen. Ebenfalls offen bleibt eine Entscheidung, ob die synästhetischen Kopplungen auf einer sensorischen Ebene oder auf höheren Ebenen der Kognition verortet sind. Als kognitiver Prozess stünde das Synästhetische mit kulturellen und sozialen Lernprozessen und Praktiken wie Spracherwerb, Alphabetisierung usw. in Verbindung, während es als rein sinnlich-perzeptuelles Phänomen Argumente für einen leiblichen, undifferenzierten, präsemantischen und vorkulturellen Weltzugang lieferte. Darin zeigt sich einmal mehr der konstruktive Charakter der Ausformulierungen des Synästhetischen vor dem Hintergrund völlig ungeklärter Ursachen und Mechanismen, wobei die zugrunde gelegten Annahmen und Modelle des Gehirns sowie Untersuchungstechniken und -methoden letztlich die Deutung bestimmen. So betonen Kulturwissenschaftler wie Hartmut Böhme, dass „der Leib, die Sinne und das Gefühl nach wie vor die vorrangigen Modi sind, durch die wir unser In-derWelt-Sein realisieren“, diese Einsicht jedoch „in die Literatur oder die Phänomenologie abgewandert“ sei, „die von den Neuro- und Kognitionswissenschaften nicht einmal als seriöse Wissensformen anerkannt werden“26. Gleichzeitig stünde „[d]em Misstrauen der Wissenschaft gegen die Sinne [...] heute eine ungeheure Ausdehnung kulturell möglicher Erfahrungswelten des Sinnlichen gegenüber“27. Das Verschwinden des Körpers und der Sinne lässt sich jedoch als ein scheinbares identifizieren, denn in ihrer Erweiterung durch Werkzeuge oder Medientechniken 25 „Indem wir das neurowissenschaftliche Verständnis, das jetzt entsteht, anwenden und dieses Wissen mit neuen inneren neurologischen Sinnen kombinieren, werden wir wahrscheinlich ein bislang unbekanntes Bewusstsein erlangen. Mikro- und Nanomaschinen könnten zum Beispiel die jeweiligen Niveaus von Neurohormonen und Neurotransmittern [...] anzeigen, [...]. Solche Informationen über Veränderungen der neuronalen Aktivitäten könnten in visuelle, auditive oder somatische Signale umgewandelt werden, wenn wir in erwünschte oder unerwünschte emotionale oder kognitive Zustände geraten. Mechanismen des ‚Biofeedbacks’ würden uns in die Lage versetzen, unsere Stimmungen und Gedanken zu beeinflussen. [...] Die Technik wird [...] unseren sinnlichen Kontakt mit der Wirklichkeit verstärken, sowohl nach außen wie nach innen. Weit entfernt davon, uns von der Welt abzuschneiden oder uns von uns selbst zu entfremden, werden die neuen Technologien uns differenzierte und illuminierte Sinne schenken.“ More (1998), S. 344f. 26 Böhme, Hartmut (2004), S. 66. 27 Ebd., S. 68. Ähnlich konstatierten Dietmar Kamper und Christoph Wulf bereits 1984 parallel zum Schwinden der Sinne eine Gegenstrategie der kulturellen Inszenierung und Vermarktung des Körpers und der Sinne. Vgl. Kamper/Wulf (1984).
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bleiben sie dennoch Bedingung dafür, dass die äußeren Dinge und medialen Substrate eine Bedeutung für uns annehmen, wie es Polanyi als implizites Wissen oder Plessner als ,exzentrische Positionalität‘ beschrieben.28 Medientechniken werden so durch den Körper überhaupt erst möglich, was durch Fokussierung auf eine Außenwelt verdeckt werde.29 Die sich seit den 1960er Jahren formierende PerformanceKunst, so Sybille Krämer, mache diese Haltung dem Körper gegenüber als diskursiven Akt der Zuschreibung sichtbar, indem sie ihn als entsemiotisiertes Material situativ und performativ in neue symbolische Konfigurationen einbette.30 Die Kunst nahm dergestalt die digitale Kultur des 21. Jahrhunderts vorweg, in der dieser Zusammenhang als grundlegende Existenzform hervortritt, da Datenbrillen, Datenanzüge oder Implantate den materiellen Körper als Träger und Bedingung für Handlungen und Interaktionen eines virtuellen Körpers benötigen.31 In dieser Weise lässt sich das Synästhetische als Dispositiv digitaler Technologie auf ein als implizites Wissen verstandenes synästhetisches Empfinden zurückführen, das, in Übertragung der Funktionsweise unserer Sinne und unseres Denkens auf mediale Welten, die Synästhetisierung der Technik im kulturellen Diskurs anregte und vorantrieb.32 Stellen die digitalen Technologien nicht nur neue Wahrnehmungsmuster, sondern v.a. auch neue Wissensstrategien bereit, so rekurrieren die Konzeptionen des Synästhetischen seit den 1980er Jahren verstärkt auf die Beziehung von sinnlichen, körperlichen, emotionalen und kognitiven Funktionen im Rahmen von Erkenntnis- und Wissensprozessen und nicht mehr nur auf das Verhältnis der Sinne zueinander. Dabei ergeben sich verstärkt Schnittmengen zwischen geistes- und kulturwissenschaftlichen Debatten über den Körper, die Sinne und die Medien und einer neurologisch ausgerichteten Synästhesieforschung. Befördern neue wissenschaftliche Paradigmen der Inter- oder Transdisziplinarität den Austausch zwischen den Wissenschaften und den Künsten, so ist die Art der Verbindung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft um den Begriff der Synästhesie auffällig. Neurologen erwähnen immer wieder zahlreiche mit der Eigenschaft der Synästhesie begabte Künstler und ihre Werke, während Geisteswissenschaftler keine Definition des Synästheti-
28 Vgl. Polanyi (1985), S. 19ff, Plessner (1982), S. 10ff. 29 Vgl. auch Kamper (1998), S. 12. 30 Vgl. Krämer (2001), S. 477. 31 Vgl. ebd., S. 472. 32 In diesem Sinne beschreibt z.B. Volker Roloff die Korrespondenz bzw. Divergenz der Sinne als Schnittpunkt von Medienästhetik und Anthropologie, in dem einzelne „Akte der Sinneswahrnehmung“ zu „Schaltstellen der Selbstbegründung“ des Subjekts als intermedialem Spielort werden, das durch eine Vielzahl von Inszenierungen, Hybridisierungen und Transgressionen geprägt sei, in denen sich der Widerspruch einer Betonung und einem Verschwinden des Körpers und der Sinne auflöse. Vgl. Roloff (2007), S. 18f.
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schen entwerfen, ohne sie mit medizinisch-neurologischen Beweisen zu belegen.33 Es scheint eine gegenseitige Versicherung über das Vorhandensein und die Realität des Phänomens stattzufinden, untermauert durch subjektive Aussagen von Synästhetikern und Künstlern und, im besten Fall, synästhetischen Künstlern. Dabei formt sich das Synästhetische als Verhandlungsraum der digitalen Kultur und ihrer spezifischen Arbeits- und Lebenswelten, Wahrnehmungs- und Wissenspraktiken aus, die sich im Synästhetiker auf der Ebene des Subjekts verdichten. Synästhetische Praktiken unterwandern mittlerweile die gesamte Kultur und befördern im Zeichen einer vermeintlichen Revitalisierung der Sinne ihre kommerzielle Vermarktung. So werden Geräusche von Staubsauger- und Automotoren, die technisch mittlerweile nahezu lautlos funktionieren könnten, nach visuellen Parametern ,designt‘, um Funktionalität oder Benutzerfreundlichkeit zu suggerieren, was letztlich lediglich auf eine Steigerung der Verkaufszahlen abzielt.34 Innovationen im Bereich der Kommunikationstechnologien, wie das iPhone oder die Google Glass, stehen selten im Zeichen einer Intensivierung sinnlicher Erfahrung, sondern dienen zuallererst der Stärkung der Marktposition weltweit agierender Konzerne im Wettbewerb um die Vormachtstellung im Bereich digitaler Technologien. Die Entgrenzung des Synästhetischen in alle Bereiche der Kultur und Gesellschaft geht einher mit der Effektivierung von Mensch-Maschine-Interaktionen, weil es als Multimedia der Sinne, so der Titel eines Artikels von Hinderk M. Emrich,35 als Modell für die Annäherung von Medientechniken an den menschlichen Sinnes- und Wissensapparat operiert.36 Wirken Medientechniken wiederum auf kulturelle Wahrnehmungsmuster und Erkenntnisstrategien zurück, so lässt die Anrufung und Propagierung des Synästhetischen als anthropologische Tatsache diese wiederum als den Eigenschaften der Wahrnehmung entsprechend nachgeahmt erscheinen. Dabei entpuppen sich diese selbst immer wieder als kulturelle Setzungen, die nur aus einer bestimmten historischen, kulturellen und medialen Perspektive fassbar sind. Deshalb sollen die folgenden Überlegungen aufzeigen, wie das Synästhetische als soft skill, Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Wissensstrategie der digitalen Kultur seit den 1980er Jahren in verschiedenen Kontexten ausgearbeitet wird und auf deren spezifische Verfasstheit reagiert.
33 Vgl. Clausberg (2007), S. 57. 34 Vgl. Haverkamp (2004), S. 18. 35 Vgl. Emrich/Trocha (1996). 36 „Im Zeichen der Sinne, die heute nicht mehr vitalistisch gelten, sondern als mediale Sinne anzusprechen sind, geht es nicht um die Aneignung oder Ersetzung von Leben, sondern um die Konzeption von Schnittstellen zwischen Mathematik und Leben, Gehirn und Maschine, Körper und Automaten. Dabei handelt es sich auch um Schnittstellen zwischen Technologie, Wissenschaften und den Künsten.“ Reck (1998), S. 247.
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V.1 V ON LEBENDEN F OSSILIEN UND L EBENSFORMEN . D AS S YNÄSTHETISCHE ALS M ODUS DES W AHRNEHMENS , D ENKENS UND F ÜHLENS Zunächst betrat das Synästhetische als Antithese zum gängigen neurowissenschaftlichen Diskurs in den 1980er Jahren die Bühne. Mehrere Autoren formulierten es programmatisch als weit mehr als einen neurologischen Spezialfall und setzten es als Wahrnehmungs- und Denkmodus, emotionale Erfahrung und Lebensform in viel umfassendere Zusammenhänge. Suggerierten diese Entwürfe eine Reaktivierung archaischer anthropologischer Wissensbestände, so arbeiteten sie, ohne es zu wissen, ein neues Menschenbild einer sich konstituierenden digitalen Kultur aus. Dabei knüpften sie zunächst an historische Befunde an und aktualisierten sie. Bereits 1975 interpretierte der Psychologe Lawrence Marks in On colouredhearing synesthesia. Cross-modal translations of sensory dimensions im Anschluss an Fechner, Bleuler, Anschütz, Werner und von Hornborstel das Synästhetische als bei allen Menschen vorkommende modalitätsübergreifende Dimensionen bzw. intermodale Analogien zwischen den Sinnen.37 Demzufolge war synästhetische Wahrnehmung in seinem Verständnis nicht idiosynkratisch, sondern systematisch, regulär und konsistent von einer Person zur anderen und reflektierte universelle kognitive Eigenschaften und Elemente des Denkens.38 Wie seine historischen Vorgänger suchte er nach allgemein gültigen Gesetzen der Zuordnung und Verbindung zwischen den Sinnesdimensionen und verglich die unzähligen, seit dem 19. Jahrhundert in der Literatur erwähnten Fälle von Farbenhören.39 Nachweisbar erschienen ihm jedoch nur Tendenzen von regulären Korrelationen zwischen visuellen und auditiven Erfahrungen in der bereits bekannten Form, dass die Helligkeit
37 „Synesthesia [...] consists not of random associations between isolated phenomena or qualities on two sensory domains, but rather expresses correlated dimensions or attributes. […] Colored hearing appears to be one embodiment of Hornborstel’s principle.“ Marks (1997), S. 57f. 38 Vgl. ebd., S. 50. 39 Auch seine Ergebnisse ähnelten denen von Anschütz und der Farbe-Ton-Forschung. So stellte er bestimmte Tendenzen bei der Farbauswahl fest (A sei meist rot und blau, E gelb und weiß, O rot und schwarz, U blau, braun und schwarz) und formulierte ein Helligkeitsgesetz der Vokale, nach dem I und E mit den höchsten Frequenzen am hellsten und O und U mit den niedrigsten Frequenzen am dunkelsten seien. Dabei übernahm er auch gewisse methodische Schwachstellen: So ordnete er bei der Analyse der Falldaten die Vokale drei Farbdimensionen zu: blau-gelb, rot-grün und schwarz-weiß. Tauchte nun aber die Farbe Lila für einen Vokal auf, so teilte er dies in Blau und Rot oder bei Orange in Rot und Gelb auf. Vgl. ebd., S. 59ff.
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der induzierten visuellen Empfindung eine direkte Funktion der Tonhöhe des Vokals sei.40 Im Sinne eines Kontinuums gradueller Unterschiede ein und desselben Prozesses erklärte er, wie z.B. Bleuler, die Varianz synästhetischer Erscheinungen von Wahrnehmung bis hin zu Vorstellung oder Assoziation.41 Synästhetisch produzierte Bilder erschienen ihm darum nicht als Spezialphänomen mit eigenen Gesetzen, sondern als Ausdruck allgemeiner sensorischer Korrespondenzen und fundamentaler Eigenschaften von Empfindung, Wahrnehmung und Kognition.42 An Beispielen drogeninduzierter Synästhesien, dem literarischen Schaffen der Symbolisten oder der Farbenmusik etablierte Marks das Synästhetische als elementare Funktion der Produktion von Bedeutung, wie es Osgood mit seinem Konzept der konnotativen Bedeutung vorschlug.43 Marks’ Auffassung unterschied sich jedoch von Osgood insoweit, als er die Dimensionen intersensorischer Korrespondenz nicht als Ergebnis erlernter Zuschreibungen, sondern als generelles Merkmal der Struktur menschlicher Sinne und des Nervensystems verstand.44 Das Synästhetische verkörperte somit den Prozess der Generierung von Bedeutung per se, indem es, der abstrakten und verbalen Kognition vorangestellt, bereits im Moment des Wahrnehmens einen Sinn impliziere.45 Als Modus ikonischer Repräsentation tauche das Synästhetische deshalb besonders häufig in der Kindheit auf und werde in der Entwicklung durch sprachlich-symbolische Repräsentationen ersetzt, die flexibler agierten.46 In diesem Sinne knüpfte Marks auch an den von Wellek, Benjamin und Werner hervorgehobenen physiognomischen Aspekt der Sprache und eine synästhetische Theorie der Sprachentstehung an. Kulturelle Lernprozesse erhielten dabei die Funktion, sprachliche Prozesse an das Wahrnehmungswissen eines multimodalen Raumes anzugliedern und in Metaphern Spuren gesetzmäßiger, synästhetischer Transformationen der Wahrnehmung aufzubewahren, die linguistische und kulturelle Grenzen unterlaufen.47 Marks aktualisierte damit das Synästhetische in der Psy40 Die Klangqualität stünde wiederum in Beziehung zur wahrgenommenen Größe der Photismen. Hohe Töne entsprächen kleinen Photismen, tiefe Töne großen. Auch die Lautstärke beeinflusse die Größe der Photismen. Vgl. ebd., S. 64ff. 41 Vgl. ebd., S. 71. 42 „There are two additional lines of evidence to support the contention that synesthetes translate sensation from one modality to another in basically the same way that nonsynesthetes do and that these translations reflect fundamental properties of sensation and cognition.“ Ebd., S. 72. 43 Vgl. ebd., S. 85. 44 Vgl. ebd., S. 86. 45 „[S]ynesthesia“, so Marks, „is a cross-modal manifestation of meaning in its purely sensory, and in one sens its strongest, form.“ Ebd., S. 89. 46 Vgl. Ebd., S. 89. 47 Vgl. Ebd., S. 87.
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chologie der 1970er Jahre als grundlegenden Wahrnehmungs- und Denkmodus im Sinne Merleau-Pontys. Neurologen, wie z.B. Simon Baron-Cohen und John Harrison, warfen ihm jedoch v.a. ein Unterschätzen der neurologischen Zugänge und hirnanatomischen Gegebenheiten vor, die einen objektiven Beweis für das Phänomen erbringen könnten, an dem es Marks mangelte.48 Diesen Versuch startete der Neurologe Richard Cytowic mit seinem 1982 im Fachjournal Brain and Cognition veröffentlichten Artikel Synaesthesia und dem 1989 erschienenen Buch Synesthesia – A union of the sense, die Aufsehen erregten und die neurowissenschaftliche Community noch mehr empörten als Marks. Denn Cytowic entwickelte das Synästhetische in Opposition zur herrschenden neurowissenschaftlichen Vorstellung eines dominanten und die Computeranalogie protegierenden Kortex und unterstrich dagegen die emotionale Komponente im menschlichen Denken und Handeln. Dabei war sein grundsätzlicher Ansatz gar nicht so neu und revolutionär, wie er damals und vielfach auch heute noch erscheint. Denn Eduard Claparède hatte bereits 1900 eine ganz ähnlich Erklärung vorgelegt, natürlich in anderer Begrifflichkeit. Die Synästhesien definierte Cytowic als ins Bewusstsein vordringende Prozesse des limbischen Systems, dem evolutionär betrachtet ältesten Teil des Gehirns, bestehend aus den hirnanatomischen Strukturen der Amygdala, des Thalamus und Hippocampus, das v.a. für Affekte, Emotionen und die Triebsteuerung verantwortlich gemacht wird. So entwarf er die These, dass bei der synästhetischen Wahrnehmung durch den auslösenden Reiz eine lokale Veränderung des Stoffwechsels Teile des Gehirns voneinander entkopple und eine Deaktivierung der Großhirnrinde verursache, „wodurch normale Prozesse des limbischen Systems freigesetzt, dem Bewusstsein zugänglich und als Synästhesie wahrgenommen werden“49. Nicht nur, dass er die Synästhesien trotz fehlender wissenschaftlich stichhaltiger Beweise in den Status eines neurowissenschaftlichen Forschungsobjektes erhob, er gab ihnen zudem einen Rahmen, der weit in philosophisch-anthropologische Fragestellungen vordrang.50 Cytowics Konzeption des Synästhetischen traf dabei mit einer kulturellen Neubewertung von Emotionalität, Intuition, Sinnlichkeit und Körperlichkeit in den 1980er Jahren zusammen, die Claudia Benthien als Zeichen eines gesellschaftlichen Umbruchs beschreibt.51 Blieb Cytowic bis heute der Neurowissenschaft verpflichtet 48 Vgl. Harrison/Baron-Cohen (1997), S. 110. 49 Cytowic zit. nach Dittmar (2007), S. 204. 50 Vgl. Korb (1995). 51 „Die breit geführte gesellschaftliche Diskussion um ‚emotionale Intelligenz’ oder ‚emotionale Kompetenz’, um nur wenige Schlagworte zu nennen, zeigt an, daß die lange gültige, einseitige Valorisierung von Rationalität oder Affektkontrolle den komplexen Anforderungen einer Gesellschaft im Umbruch nicht mehr allein gerecht werden kann.“ Benthien (2000), S. 9.
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und grenzt kulturelle Dimensionen, literarisch-sprachliche und metaphorische Wendungen oder mystische Interpretationen aus seinem Verständnis des Synästhetischen aus,52 so sind die Parallelen seines Entwurfs zum kulturellen Diskurs so prägnant, dass er nicht losgelöst davon betrachtet werden kann. Widersprach das Phänomen in Cytowics Deutung den bestehenden Gesetzen der Neuroanatomie und Psychologie, so erklärte er diese kurzerhand als unzulänglich. Denn seine Befunde deuteten darauf hin, dass es sich um einen regulären Hirnprozess handle, bei dem sich sensorische Elemente und affektiv-emotionale Komponenten als eine Art Erfahrung verbinden, was jedoch nur bei einer Minderheit zu Bewusstsein komme.53 Dass den Synästhesien bisweilen jegliche Existenz abgesprochen werde, liege, so Cytowic, lediglich an der Unzugänglichkeit subjektiver Erfahrung mit neurowissenschaftlichen Methoden, die sie deshalb als Untersuchungsgegenstand ausschließe.54 Das eigentliche Problem sei also nicht das Phänomen, sondern die Wissenschaft und ihre Gesetze, weshalb eine Theorie der Synästhesie nicht den gängigen Annahmen über Hirnfunktionen anzupassen sei, sondern umgekehrt.55 So entwarf Cytowic mittels des Synästhetischen eine alternative Vorstellung des Gehirns und revidierte das Bild der Wahrnehmung als lineare Aktion, die, im Kortex lokalisiert, Informationen auf einer Einbahnstraße von außen nach innen, von einer Station zur nächsten transportiert, an deren Ende die bewusste Empfindung als fertiges Produkt steht.56 Dagegen modellierte er eine Funktionsweise des Gehirns, bei der, entgegen einer hierarchisch aufgebauten Organisation mit dem Neokortex als oberster Schaltzentrale und Höhepunkt der Evolution, das limbische System als ältester Teil des Gehirns in vielfältigen Strukturen das Verhalten steuert und beeinflusst.57 Der Mensch werde demnach nicht vom Verstand domi52 „Synesthesia [...] is the involuntary physical experience of a cross-modal association. That is the stimulation of one sensory modality reliably causes perception in one or more different senses. Its phenomenology clearly distinguishes it from metaphor, literary tropes, sound symbolism, and deliberate artistic contrivances that sometimes employ the term ,synesthesia‘ to describe their multisensory joinings.“ Cytowic (1995), S. 1. 53 Sein Fazit: „[...] synesthesia is not an idea, but an experience.“ Cytowic (1995), S. 5f. [Herv. i.O.] 54 Vgl. ebd., S. 7. 55 Vgl. ebd., S. 1. 56 Vgl. ebd., S. 7. 57 „Possibly because we have historically held a dichotomy between reason and emotion, we have misunderstood and even minimized the role that emotion plays in our thinking and actions. […] While we think that the neocortex contains our representations (or models) of reality […] it is the limbic brain that determines the salience of that information. […] Though we quickly speak of reason dominating emotion, the reverse is actually true: the limbic brain easily overwhelms thinking.“ Ebd., S. 10f.
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niert, sondern ebenso von seinen Emotionen, die sich in gegenseitiger Wechselwirkung gemeinsam evolutionär weiterentwickelten. Zugleich seien Gehirne nicht passive Empfänger und Verarbeiter von Information, sondern „dynamic explorers“58, die Reize aktiv auswählen und damit den Kontext der Wahrnehmung selbst bestimmen. In diesem Zusammenhang macht Cytowic die Äußerung „we know more than we think we know“59, die sich ziemlich genau mit Polyanis Aussage „wir wissen mehr als wir sagen können“ deckt.60 Als Form impliziten Wissens wurde das Synästhetische bei Cytowic, ganz ähnlich wie schon bei Anschütz, zum Vehikel, ein rational ausgerichtetes Bild vom Menschen und seinen Handlungsmotivationen, wie es die Kognitions- und Neurowissenschaften etablierten, zu hinterfragen und dem verstandesbetonten Denken ein alternatives emotionales Wissen entgegenzustellen.61 Den wesentlichen Beweis für seine Thesen bildete ein Vergleich der regionalen Hirndurchblutung mittels der radioaktiven Xenon-133-Inhalationsmethode während synästhetischer und nichtsynästhetischer Erfahrungen, den Cytowic 1980 an Michael Watson, bei dem Geschmack visuelle Formen synästhetisch hervorrief, durchführte.62 Im Ergebnis zeigte sich eine, im Vergleich zum Ruhezustand, der mit ,an nichts denken‘ definiert war, stärkere Aktivierung der linken Gehirnhemisphäre, eine Reduzierung der Aktivität des Neokortex und eine erhöhte Aktivität im limbischen System während der induzierten synästhetischen Erlebnisse.63 Erbrachte 58 Ebd., S. 10. 59 Vgl. ebd., S. 11. 60 Die Parallele von Cytowics Konzept des Synästhetischen zu Polyanis ,tacit versus explicit knowledge‘ griff 1995 auch der australische Philosoph und Informatiker Kevin Korb auf und betrachtete es unter dem Gesichtspunkt der Konstruktion von Objektivität und Rationalität unter Ausblendung der Bedeutung von Emotionalität und Subjektivität im intellektuellen und wissenschaftlichen Leben. Insofern rückte Korb Cytowics Konzeption des Synästhetischen in die Nähe der Wissenschaftsauffassung von Thomas Kuhn, Paul Feyerabend und philosophischen Ideen von Hubert und Stuart Dreyfus, die die Rolle nicht-linguistischer Skills aufwerteten und damit die Möglichkeit der Schaffung künstlicher Intelligenz auf Basis linguistischer Prozesse bezweifelten. Vgl. Korb (1996). 61 „[…] what we feel about something is more valid than what we think or say about something. Reason is just the endless paperwork of the mind. The heart of our creativity is our direct experience and the salience that our limbic brain gives it.“ Cytowic (1995), S. 11f. 62 Die Versuchsperson inhalierte dabei leicht radioaktives Xenon-133, das sofort ins Blut übergeht, dessen Bewegung und Verteilung im Gehirn dadurch mit einem Helm aus Strahlungsdetektoren aufgezeichnet werden kann. Vgl. Dittmar (2007), S. 68. 63 „In summary synesthesia depends only on the left-brain hemisphere and is accompanied by large metabolic shifts away from the neocortex that result in relatively enhanced limbic expression. The hippocampus is an important and probably obligate node in whatever
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er mit dem Nachweis der Veränderung der Hirndurchblutung einen wissenschaftlich haltbaren Beweis für das Phänomen und seine hirnanatomische Verankerung, so zugleich auch den, dass es nicht im Kortex lokalisiert sei. Angemerkt werden muss jedoch, dass Cytowic die Aktivität des limbischen Systems selbst mit der angewandten Methode auf Grund ihrer technischen Grenzen gar nicht sichtbar machen konnte und nur mittels Subtraktionsmethode aus dem Absinken der Durchblutung des Kortex auf eine stärkere Durchblutung tiefer liegender Schichten des Gehirns schloss.64 In späteren Untersuchungen mit besser auflösenden Geräten bestätigten sich seine Ergebnisse nicht, was zu scharfen Angriffen auf seine Theorie führte. Cytowics These fußte demnach auf einer Interpretation technisch generierter Bilder der Aktivität des Gehirns, bei denen die Parameter und Grenzen der Sichtbarkeit technisch bestimmt sind, was wiederum die Deutung von Phänomenen beeinflusst. Cytowics ,Beweis‘ hebt damit den konstruktiven Akt bei der Konzeption des Synästhetischen und den Einfluss von Vorannahmen und Thesen bei der Interpretation von Untersuchungsergebnissen bildgebender Verfahren hervor. Cytowics Entwurf lässt sich demnach vielmehr als Projektionsfläche eines Neudenkens von Wahrnehmungs-, Wissens- und Erkenntnisprozessen lesen, das an den kulturellen Diskurs und insbesondere an die Medienentwicklung gebunden ist. So aktualisierte er 2002 in dem Artikel Touching tastes, seeing smells and shaking up brain science seine Konzeption des Synästhetischen, in dem er, seinem grundlegenden Ansatz der Rolle emotionaler Elemente treu bleibend, aber neuere Befunde einbeziehend, das Gehirn als „distributed system“65 beschrieb, dessen primäre Eigenschaften die Verteilung von Funktionen über Strukturen eines neuronalen Netzwerkes und die Simultaneität von Aktivität auf verschiedenen, miteinander kommunizierenden Ebenen sind.66 Diese Vorstellung des Gehirns als Netzwerk aus Neuronenverbänden, bei der die Entsprechung von Funktion und Anatomie zugunsten topologischer Beziehungen in multiplen Kartografien aufgegeben wird, exponiert die Bindung an die Entwicklung des Internets in den 1970er Jahren und seine Kommerzialisierung seit den 1990er Jahren, weshalb sie seitdem in den Neuro- und Kognitionswissenschaften verstärkt in Erscheinung tritt. Cytowics Konzeption des Synästhetischen propagierte ein sich in Wechselwirkung mit der Medienneural structures generate the synesthetic experience. […] No matter what technology we use to make socalled ,functionel pictures‘ of the brain at work, we expect some cortical area(s) to ,light up‘. We never expect a decline. It surprises many people – especially those waiting for a machine test before casting their vote whether synesthesia is real or imaginary – to learn that cortical metabolism plummets during synesthesia.“ Cytowic (1995), S. 8f. 64 Vgl. Dittmar (2007), S. 68. 65 Cytowic (2002b), S. 22. 66 Vgl. ebd.
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entwicklung etablierendes neues Modell paralleler und multipler Informationsverarbeitungsprozesse, das sich sowohl in der Hirnforschung als auch in der Informatik installierte. Zunächst gegen die Analogie von menschlichem Gehirn und Computer gestellt,67 entsprach seine Konzeption zwei Jahrzehnte später perfekt neuen Modellen der Mensch-Maschine-Interaktion in Robotern oder virtuellen Welten, die die menschlichen Sinne in Analyse- und Kommunikationsprozessen sensorisch-motorischer Daten medial transformieren und erweitern.68 So macht er bis heute eine Konzeption des Synästhetischen stark, die mehr nach der Interaktion und prozeduralen Verläufen fragt und biologische Komplexitäten, Entitäten, Ganzheiten und mögliche Zusammenhänge mit der Persönlichkeit berücksichtigt. Im Gehirn als verteiltem System, in dem transmodale Neuronenverbände gleichzeitig auf multiplen synaptischen Ebenen agieren, jenseits von Modulen an mehreren Sinnen und kognitiven Funktion teilhaben, miteinander kommunizieren, Erinnerung und Affekt in der Erfahrung integrieren und multimodale Repräsentationen von Welt hervorbringen, löst sich die anatomische Lokalisierung einer Funktion auf.69 Das stellt auf ganz neue Weise die Frage nach der Evidenz technischer Verfahren, die die Funktionsweise des Gehirns und insbesondere die bei der synästhetischen Wahrnehmung ablaufenden Prozesse in ihrer Lokalisation in bestimmten Gehirnregionen sichtbar machen sollen. Gehirnscans mit bildgebenden Verfahren erfassen in diesem Sinne nur stärker aktive Bereiche im Vergleich zu weniger aktiven, was aber nicht heißt, dass dort keine Aktivität stattfinde.70 Im Gegenzug stärkte das Zugänge zum Synästhetischen, die nicht von ausgeprägten, möglichst auffällige neuronale Aktivierungsmuster produzierenden Einzelfällen ausgehen, sondern von einem Kontinuum zwischen Synästhesien, Wahrnehmung, sprachlichen Formen und Metaphern, wie Marks es bereits vorschlug. Insofern erklärte Cytowic synästhetische Metaphern zu 67 So kritisierte Cytowic 1995 die Vorstellung des Gehirns als Computer in der Modultheorie des Geistes, die als Modell dessen Komplexität und Realität reduziere: „We think of our brains, we usually think of a computer, a reasoning machine in our heads that runs things. […] But emotion – which word I use to include irrational, arational, and nonverbal knowledge and cognition – is what actually directs our thoughts and actions.“ Cytowic (1995), S. 11. „The Brodmann areas have conceptually metamorphosed into chips that serve distinct mental functions – grammar, syntax, color, contrast or whatever. Behavior and perception are reduced to the inputs and outputs of a presumed central processor – a concept that divorces human experience from context, history and environment.“ Cytowic (1995), S. 15 68 So fügte er in der 2. Ausgabe des 1989 erschienenen Buches Synesthesia – A union of the sense von 2002 ein neues Vorwort ein, das mit der Überschrift „Becoming a robot“ beginnt. Vgl. Cytowic (2002c). 69 Vgl. Cytowic (2002b), S. 23. 70 Vgl. Cytowic (2002b), S. 23, Dittmar (2007), S. 84.
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Ergebnissen eines in Sprache verkörperten (Sinnes-)Wissens, dessen erkenntnistheoretische Bedeutung bereits eine vorsprachliche, im Körper verwurzelte Existenz aufweise, wie ganz ähnlich bereits Wellek und Benjamin.71 Aus dieser Perspektive deklarierte Cytowic den Synästhetiker zum ,lebenden kognitiven Fossil‘, das die Grundmechanismen unseres Denkens aufzeige.72 In dieser Vorstellung des Synästhetischen als Vorstufe und wesentliches Element von Wissensprozessen tauchte die Idee einer evolutionären ,Ursprünglichkeit‘ wieder im Synästhesiediskurs auf, verlagerte sich jedoch, im Vergleich zum frühen 20. Jahrhundert, von der Utopie einer ganzheitlichen Wahrnehmung auf implizite, in den Synästhesien verborgene Wissensformen. So stellt Cytowic als häufigste Form von Synästhesie nicht wie im frühen 20. Jahrhundert das Farbenhören, sondern die Kopplung sensorischer Qualitäten mit Elementen expliziten, deklarativen, gelernten Wissens, wie Buchstaben, seriellen Ordnungen oder Zahlenreihen, heraus.73 Als bewusst erfahrbare Wissensform müsste, so die Vermutung Cytowics, das Synästhetische wiederum mit Persönlichkeitsmerkmalen in Verbindung stehen, die gleichfalls erklären könnten, warum einige Menschen Synästhetiker seien und andere nicht, wie bereits Anschütz es vermutete. So stellte Cytowic eine Reihe von synästhetischen Merkmalen, Wesenszügen und soft skills zusammen, zu denen, ganz im Sinne der Theosophen, auch eine stärkere Empfänglichkeit für ungewöhnliche Erfahrungen wie Déjà-vus, Hellsehen oder empathisches Heilen, eine hohe Intelligenz und eine sehr gute Erinnerung zählten.74 Frauen und Linkshänder würden unter Synästhetikern dominieren, während möglicherweise ein Zusammenhang mit Homosexualität bestünde, die Cytowics bei etwa 10 Prozent der ihm bekannten Synästhetiker fand,75 was jedoch in anderen Studien nicht bestätigt und revidiert wurde. Verließ sich Cytowic in seinen Erhebungen stark auf die subjektiven Empfindungen und Beschreibungen der Synästhetiker,76 so trug das nicht dazu bei, unter seinen neurowissenschaftlichen 71 „Perceptual similarities, synesthetic equivalences, and metaphoric identities in turn become available to the more abstract knowledge that is embodied in language.“ Cytowic (2002b), S. 24f. „As semiotics have long known, meaning inheres in affect, which the body feels as physical and the mind apprehends as mental. Because metaphor perceives the similar in the dissimilar, it also points to constancy and categorization, features germane to synesthesia.“ Cytowic (2002b), S. 26. 72 Vgl. Cytowic (2002c), S. 10. 73 Vgl. Cytowic (2002b), S. 22. 74 Leichte Schwächen konstatierte er dagegen im mathematischen Bereich und bei der räumlichen Orientierung in Form von Dyskalkulie und Rechts-Links-Verwechslungen. Vgl. Cytowic (2004). 75 Vgl. Cytowic (1995), S. 13. 76 „It might seem impossible at first for science to scrutinize a phenomenon whose ,quality’ must be experienced first-hand.“ Cytowic (1995), S. 3. Vgl. Cytowic (2002b), S. 10.
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Kollegen Anerkennung zu finden, forderten diese doch nach wie vor einen objektiven, wissenschaftlich haltbaren Beweis für die Realität des Phänomens.77 So äußerte sich Cytowic, nachdem es E. Paulesu u.a. 1995 gelungen war, die Realität des Phänomens als Abweichung von der Wahrnehmung eines Nichtsynästhetikers mit einem Positronen-Emissions-Tomografie-Scan nachzuweisen, nicht ganz ohne Schadenfreude. Denn widerlegte dieser zwar Cytowics These einer verstärkten Aktivität des limbischen Systems, so war der vermeintlich objektive Nachweis der Synästhesie in Form eines speziellen Aktivierungsmusters in der Hirnstruktur nicht mit dem Modell der Modularität kompatibel.78 In diesem Zwischenraum der Widersprüche lag und liegt für Cytowic bis heute die Faszination des Synästhetischen, das seiner Meinung nach geeignet scheint, die Dichotomie von subjektiver und objektiver Perspektive, Innen- und Außenwelt, physischer und kultureller Welt zu überwinden.79 Für besonders fruchtbar hielt Cytowic deshalb den Ansatz des deutschen Psychiaters, Psychoanalytikers und Philosophen Hinderk M. Emrich, der das Synästhetische als eine Art Hyperbinding kognitiver und emotionaler Elemente versteht.80 Dabei ist für seine Konzeption des Synästhetischen in Anlehnung an Konstruktivisten wie Humberto Maturana, Niklas Luhmann u.a. ein Modell der Wahrnehmung wesentlich, das dieser einen wirklichkeitserzeugenden Aspekt zuschreibt. Bewusste Wahrnehmung generiert sich demnach durch einen interaktiven Wechselwirkungsprozess zwischen einlaufenden Sinnesdaten und früheren, im Nervensystem gespeicherten Erfahrungen, internen Repräsentationen und Konzeptualisierungen, die durch eine Wahrnehmungszensur miteinander verglichen, korrigiert und aktualisiert werden.81 Ergebnis sei, so Emrich, eine komplexe Illusion von Welt, die 77 „Because a technological focus dominated science in general and medecine in particular, my neurology colleagues unsurprisingly asked what Michael’s […] scan showed. In questioning synesthesia’s reality, they sought a third-person technological verification of a first-person experience. […] Even current functional brain imaging, which is supposed to be anatomically objective, starts with what one wants to verify objectively: the subject’s state of mind.“ Cytowic (2002b), S. 9. 78 „So, the objectivists have finally gotten a machine proof of synesthesia, but it has disappointed their expectations. […] The existence of any physical projection as a basis for synesthesia threatens one of contemporary neuroscience’s widely held concepts, modularity.“ Cytowic (2002b), S. 18. 79 Vgl. ebd., S. 9. 80 Emrich, der als einer der ersten deutschen Forscher der Synästhesierenaissance in den 1980er Jahren gelten kann, ist Mitbegründer der deutschen Synästhesiegesellschaft und beschäftigte sich bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2008 an der Medizinischen Hochschule Hannover mit der Synästhesie und rief dort ein Synästhesiecafé als Anlauf- und Austauschort für Synästhetiker ins Leben. 81 Vgl. Emrich (2000a), S. 13.
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im Alltag durch einen naiven Realismus verdeckt werde und dadurch die Analogie mit dem Computer befördere.82 Insbesondere die neurobiologischen Grundlagen der internen Repräsentationen und Konzeptualisierungen seien dabei bisher ungeklärt, ebenso die Funktionsweise der Wirklichkeitsüberarbeitung, die beim Auftreten widersprüchlicher Daten ein anhand der Interpretationsregeln bisheriger Wirklichkeitserfahrung orientiertes Deutungsschema anlege.83 Krankhafte Zustände wie Wahnvorstellungen oder Halluzinationen resultierten offensichtlich, so Emrich, aus einer Störung dieses Zensursystems, die auch den Synästhesien zugrunde liegen könnte. Anders als bei Psychosen oder Schizophrenie rufe das Synästhetische jedoch keinerlei interne Konflikte hervor und werde als emotional positiv und in Übereinstimmung mit der Realität erlebt, so dass die Einheit des Bewusstseins, des Objektes und der Wahrnehmungsillusion erhalten bleibe.84 In diesem Kontext nimmt das Binding als Verknüpfung z.T. divergenter Wahrnehmungselemente wie Farbe oder Form und mentaler Aspekte, die in verschiedenen Gehirnregionen und systemen zeitversetzt verarbeitet werden, zu einem übereinstimmenden Wahrnehmungsbild eine zentrale Stellung ein.85 Diese Zentrierung von Bewusstseinsaspekten beruhe, Emrich zufolge, auf einer einheitsstiftenden Komponente, die alles Heterogene so miteinander verkettet, dass es als zumindest temporäre Einheit mental handhabbar wird, deren Lokalisierung und Funktionsweise für die Neurobiologie jedoch ein Rätsel darstelle.86 Die Synästhesien erschienen Emrich als Schlüssel zu diesem Problem, da bei ihnen offensichtlich an einer nicht vorgesehenen Stelle des Wahrnehmungssystems eine Integration stattfinde, ein Hyperbinding, das als synästhetische Wahrnehmung vom semantischen Gehalt des Reizes untrennbar sei.87 Dieses Hyperbinding beschrieb Emrich als limbische Brücke, als bewertendes und verbindendes Zwischenglied zwischen kortikalen Arealen, die nicht nur bei Synästhetikern einen elementaren Anteil an der Herstellung einer Einheit des Bewusstseins habe und für die Konstituierung personaler Identität von zentraler Bedeutung sei.88 In Emrichs Version verkörpert das Synästhetische eine „Gefühlstheorie des
82 Vgl. ebd., S. 272. 83 Vgl. ebd., S. 14, Emrich (2000b), S. 272. 84 Vgl. Emrich (2003a), S. 243. 85 Bereits die Gestaltpsychologie der 1920er und 1930er Jahre erkannte, dass eine Gruppierung von Merkmalen notwendig ist, um die Trennung von Figur und Grund zu erreichen, und formulierte daraus die Gestaltgesetze. Neuere Theorien vermuten merkmalssensitive, im Gehirn verteilte Neuronen, die sich durch synchrones ,Feuern‘ zu ,Assemblies‘ verbinden. Vgl. Engel (1998), S. 158ff. 86 Vgl. Emrich (2003a), (2002a), S. 25, (1998), S. 133. 87 Emrich (2003a), S. 246. 88 Vgl. Emrich (2002a), S. 29, (2003b), S. 10.
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Mentalen“89, die sich jedoch mit anerkannten Methoden, insbesondere mit bildgebenden Verfahren, schwer nachweisen lasse, da sich subjektspezifische kortikale Erregungsmuster im Durchschnitt mehrerer Synästhetiker aufheben, Daten eines einzelnen Synästhetikers wiederum nicht aussagekräftig genug sind.90 Jedoch entdeckte Emrich unter Synästhetikern eine, wie er es nannte, Randgruppe von Gefühlssynästhetikern, bei denen keine festen synästhetischen Zuordnungen existierten und die stattdessen mitlaufende emotionale Gefühlszustände von musikalischen und anderen Erlebnissen in eher assoziativen inneren Bildern visualisierten.91 Wurden diese Personen durch den üblichen Synästhesietest, der die Konstanz der Zuordnungen über einen längeren Zeitraum in mehreren Testsituationen belegt, von Untersuchungen ausgeschlossen, so fand Emrich an ihnen einige erstaunliche psychologische Besonderheiten. Diese beschrieb er als besondere innere Festigkeit und Angstfreiheit, eine imposante Konsistenz und Verankerung der Persönlichkeit, eine hohe Selbstreflexivität und mediale Fähigkeiten im Sinne von Hellsehen.92 Nahm diese Bebilderung den Faden von Cytowic und der historischen Synästhesieforschung auf, so markierte sie das Synästhetische als besondere Fähigkeit, Gefühle nicht nur zu haben, sondern sie in einem inneren Gefühlsschema noch einmal zu repräsentieren und sich zu ihnen verhalten, sie modifizieren, ablehnen oder verstärken zu können.93 Die Gefühlssynästhesie stützte damit ein Verständnis des psychischen Lebens als „Sammlung von Singularitäten“94 und zeige, „dass unser auf Wiederholbarkeit ausgerichtetes Selbstbild [...] keine geeignete Metapher ist für unser Selbstsein, weil nämlich das, was wir sind, [...], eine Summe [...] von Nicht-Wiederholbarkeiten enthält, für das unsere Maschinen-Metapher kein Modell darstellt“95. Bewusstsein, Persönlichkeit und sinnhafte Bezüge entstünden demnach erst im Zusammenspiel von Wahrnehmung, Kognition und Emotion in ihrer jeweiligen Kontextualität. Damit partizipierte Emrich mit seinem Entwurf des Synästhetischen und seinem Verständnis des Selbst an Konstruktionsmustern, wie sie die Happening- und Performancekunst als Realisierung des Kunstwerkes in der Wahrnehmung jedes einzelnen Zuschauers bzw. Teilnehmers etablierte und die in der digitalen Kultur zur alltäglichen Lebensweise werden. Realität als erfundene Wirklichkeit wird zur performativ hergestellten Konstruktion des Subjekts, für dessen Beschrei-
89 Vgl. Emrich, (2003a), S. 244. 90 Vgl. Emrich (2002a), S.28f. 91 Vgl. Emrich (1998), S. 129. 92 Vgl. ebd., S. 130. 93 Vgl. ebd., S. 136. Emrich nutzte dafür den aus der angloamerikanischen Psychologie entlehnten Begriff ,Metamood‘. Ebd., S. 35. 94 Emrich (2000b), S. 277. 95 Ebd., S. 280.
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bung sich das Synästhetische als grundlegender Mechanismus der Existenz als perfektes Modell erweist.96 Sind sowohl Emrichs als auch Cytowics Entwurf in ihrer Betonung emotionaler und unbewusster, nicht fassbarer Prozesse gegen die Vorstellung des Gehirns als Computer gerichtet, so formen sie dabei, mehr oder weniger beiläufig und ungewollt, ein neues Menschenbild der digitalen Kultur aus. Vordergründig als Reaktivierung oder Rückgriff auf tiefe und evolutionär frühe Schichten der menschlichen Existenz beschreiben sie die Anpassung des Subjekts an neue parallel und gleichzeitig existierende mediale, digitale und virtuelle Lebenswelten. So deutete Emrich an, dass das Synästhetische durchaus auch als Weiterentwicklung des Wahrnehmungsapparates in Betracht kommen könnte.97 Flammte damit die um 1900 geführte Debatte, ob das Synästhetische Rückschritt oder Fortschritt der Evolution sei, in neuer Gestalt und Begrifflichkeit wieder auf, so interpretierte Emrich die Tatsache, dass viele Synästhetiker aus ihren Fähigkeiten und Eigenschaften kognitive, emotionale oder berufliche Vorteile zogen, ganz im Sinne dieser Fortschrittsthese. So entwarf Emrich das Synästhetische schlussendlich als neue Lebensform, die, obwohl gegen die Reduzierung des Denkens und Fühlens auf Prozesse der Informationsverarbeitung gerichtet, als Wahrnehmungs- und Wissenspraxis in Bezug zu einem durch die digitale Revolution ausgelösten Wandel von Wissenskulturen gedacht werden muss: „Synästhesie im eigentlichen neurobiologischen Sinne ist vermutlich nicht erlernbar. [...] Synästhesie im weiteren Sinne als eine Form innerer Wachheit im Hinblick auf die wechselseitigen Bezüge zwischen Wahrnehmungssystemen und insbesondere die Fähigkeit bildhafter Wahrnehmung eigener Gefühlszustände kann man sich aber sicherlich aneignen. Synästhesie wird damit zu einer Metapher für eine Lebensform, in der es zu einer Steigerung von Kreativität, mentaler innerer Absicherung und innerer Stabilität [...] kommt. Synästhesie als Lebensform beinhaltet demnach, den Gegenständen (und sich selbst) eine neue Form von Multidimensionalität, von Uneindeutigkeit, von Komplexität und Bedeutungsgehalt zuzubilligen – eine Art von Enttrivialisierung –, und damit auch uns selbst einen dem Reduktionismus entgegenwirkenden Aspekt innerer Vielfalt.“98
96 Vgl. Emrich (2000b), S. 277. 97 „Die kognitive Evolution des Menschen ist nach der gegenwärtigen Auffassung der Evolutionsbiologen keineswegs abgeschlossen und es ist denkbar, dass höhere kognitive Leistungen gerade dadurch ‚erobert‘ werden können, dass mehrdimensionale Erlebnis- und Wahrnehmungsräume dadurch konstituiert werden, dass synästhetische Wahrnehmungen im Bewusstseinsapparat auftauchen.“ Ebd., S. 278. 98 Emrich (1998), S. 137.
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In der Aufwertung von emotionalen, intuitiven und körperlich basierten Lebensstrategien gerinnt das Synästhetische zur Verankerung des Subjekts als Ausgangspunkt des Agierens in multiplen medialen Welten, in denen sich Persönlichkeit nicht mehr nur in verschiedene gesellschaftliche und soziale Rollen, sondern darüber hinaus in virtuelle Avatare und Userprofile sozialer Netzwerke aufspaltet. Löst sich das Konzept der Identität im World Wide Web auf, so scheint das Synästhetische ein Modell anzubieten, das die verschiedenen divergenten Aspekte der Wahrnehmung, des Denkens und Fühlens verbindet und in einem konstruktiven Prozess zu einem Bild des Subjekts, der eigenen Person zusammenführt. Die ,Wiederentdeckung‘ des Synästhetischen in den 1980er Jahren lässt sich aus den Äußerungen von Marks, Cytowic und Emrich als ein neues „synästhetisch angereichertes Menschenbild“99 herausschälen, wie Clausberg es nennt, das die Idee der Einheit des Subjekts im Angesicht des medialen Wandels der Kultur und des Wissens neu formuliert. Aus diesem Grund verzichteten die Neurowissenschaften trotz der Spekulativität und Widersprüche der Theorien und der offensichtlichen methodischen und experimentellen Schwierigkeiten bis heute nicht auf die Erforschung des Phänomens. Zu verlockend scheinen die multisensorischen, synästhetischen Fähigkeiten als Simulationen neuer Mensch-Maschine-Kopplungen in Gestalt neuer Computeranwendungen wie den Google Glass, bei denen sich in der Alltagswahrnehmung gleichzeitig verschiedene mediale und virtuelle Realitäten überlagern.
V.2 D AS M YSTERIUM DES ( SYNÄSTHETISCHEN ) G EHIRNS . N EUROWISSENSCHAFTLICHE K ONSTRUKTE Im Anschluss an Cytowic mehrten sich seit den 1980er Jahren in Kombination mit neuen Techniken der Sichtbarmachung von Gehirnprozessen die Versuche, das Synästhetische auf neuronaler und hirnanatomischer Ebene zu lokalisieren und seine Funktionsweise zu entschlüsseln, aus denen jedoch bis heute keine eindeutigen Befunde oder Ergebnisse resultierten. Hervor gingen lediglich Theorien und Thesen gingen daraus hervor, die weniger über die Natur des Phänomens selbst aussagen, sondern vielmehr Vorannahmen über die Funktionsweise des Gehirns spiegeln und sich daher eher als eine der Untersuchung und Theoretisierung vorgelagerte Interpretation des Synästhetischen charakterisieren lassen. Nicht selten verbergen sich dahinter Theorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in neuem begrifflichem Gewand, wobei nicht zuletzt die bereits damals bestehenden Unklarheiten und Widersprüche gleich mit in die aktuelle Debatte importiert werden. Neurowissenschaftliche Theorien der Synästhesie müssen als Konstrukte betrachtet werden, die durch
99 Clausberg (2007), S. 54.
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jeweils gültige wissenschaftliche Paradigmen und Modelle sowie kulturelle und mediale Einflüsse determiniert sind. So ist beispielsweise entscheidend, in welchem Kontext und unter welcher Fragestellung die Synästhesien untersucht werden. Ob die Betrachtung im Zusammenhang mit Wahrnehmungsprozessen, dem Gedächtnis, der Aufmerksamkeit oder dem Bewusstsein erfolgt, bestimmt sich nicht nur durch den einzelnen Forscher, sondern auch durch jeweils aktuelle kulturelle oder wissenschaftliche Diskurse, wie es bereits bei Cytowic prägnant erkennbar war.100 Neuere Theoretisierungsversuche seit der Jahrtausendwende konzentrieren sich verstärkt auf die in den Synästhesien enthaltenen kognitiven Elemente und Erkenntnisprozesse, die direkt an Debatten einer vom medialen Wandel hervorgebrachten Wissensgesellschaft und einer spezifischen digitalen Wissenskultur anschließen. Ebenso bedeutsam und einflussreich für Untersuchungsergebnisse und die daraus abgeleiteten Theorien sind die angewandten Methoden, die selbst diversen wissenschaftsinternen, kulturellen und medialen Entwicklungen unterliegen. So sind z.B. bildgebende Verfahren eine spezifische Methode der Sichtbarmachung des Gehirns, die an technische, aber gleichfalls auch interpretatorische Leistungen gebunden ist. Das Umfeld der neurowissenschaftlichen Untersuchung der Synästhesien ist also durch Konstruktionsprozesse und Setzungen gekennzeichnet, die eine Vielzahl an sich widersprechenden Theoretisierungen hervorbringen, in denen sich der Charakter des Synästhetischen als Projektionsfläche manifestiert. Erschwerend kommt bei dem Versuch, die bei den Synästhesien ablaufenden Hirnprozesse zu finden, zu analysieren und zu erklären, hinzu, dass das Gehirn und seine Funktionsweise bis heute der Forschung mehr Rätsel aufgeben als Erklärungen für menschliches Verhalten und Denken zu liefern. Grundsätzlich geht die Hirnforschung davon aus, dass die einzelnen Sinnesmodalitäten im Kortex in drei Stufen organisiert sind: Der primäre sensorische Kortex ist direkt mit den Sinnesorganen verbunden und gibt Informationen an den sekundären sensorischen Kortex weiter, der sie mit anderen Daten desselben Sinnessystems abgleicht und an einen multimodalen Assoziationskortex weiterleitet, in dem die Signale mehrerer sensorischer Systeme zusammen100 So beschreiben z.B. Ward und Mattingley die Vielfalt der an die Synästhesie gerichteten Fragestellungen: „[...] how synaesthesia relates to theories of intra-modal and crossmodal perception. How different visual attributes such as form and colour are integrated in perception […]. A related reason why many are interested in synaesthesia is that it may shed light on the neural and cognitive substrates of perceptual awareness […]. As such, the study of synaesthesia offers a way of untangling conscious from preconscious processing. […] It may also be used to explore the overlap between perception, imagery and memory. […] Additionally and perhaps relatedly, some believe that synaesthesia may be linked to certain types of mental ability […]. There is no shortage of candidates (e.g., memory, metaphor, musical aptitude, creativity) but there is presently a shortage of empirical data.“ Ward/Mattingley (2006), S. 129f.
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aufen.101 Über den Verlauf des Daten- und Informationsflusses selbst existieren drei verschiedene Modelle: die hierarchische Organisation mit der Folge von Empfindung und komplexer Wahrnehmung, die Unterteilung in funktionale, relativ autonome Einheiten und die parallele Verarbeitung auf allen Ebenen. Die Speicherung von Information wird im Sinne einer Identität materieller und geistiger Prozesse als physische Veränderung in der Gehirnstruktur gedacht. Psychologische Ereignisse lassen sich demnach auf physiologische, diese wiederum auf anatomische, biologische, chemische und physikalische zurückführen, wodurch sich eine Verbindung der Psyche mit dem Körper realisiert. Vor dem Hintergrund der bereits divergierenden theoretischen Vorannahmen über den Aufbau und die Arbeitsweise des Gehirns scheiterte bisher der Versuch, die verschiedenen neurologischen Theorien der Synästhesie zu systematisieren, die, an verschiedenen Punkten von möglichen Strukturen und ablaufenden Prozessen im Gehirn ansetzend, oft nur einen Teil oder eine spezifische Ausprägung und Form des Phänomens in den Blick nehmen.102 So zeigen sich bei der Theoretisierung zwei grundverschiedene Herangehensweisen, indem entweder davon ausgegangen wird, dass das Gehirn von Synästhetikern über einzigartige strukturelle und/oder funktionale Eigenschaften verfügt, oder Synästhesie als allgemeine Gehirnfunktion verstanden wird, die aber nur bei einigen ins Bewusstsein tritt.103 So nahm der britische Psychologe Simon Baron-Cohen, der v.a. für seine Forschungen zum Autismus bekannt geworden ist, eine abweichende Hirnstruktur von Synästhetikern an, die, ausgehend von der Modultheorie des Gehirns nach Fodor, in einem Zusammenbruch der Modularität bestünde, wodurch die funktionale Trennung von Hören und Sehen aufgehoben werde.104 Erinnert das an physiologische Theorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die eine Verbindung von Nervenfasern oder Gehirnarealen unterstellten, so klingt auch Baron-Cohens vermutete Ursache bekannt. Denn diese liege in der individuellen Entwicklung des Gehirns, wobei der Prozess seiner Modularisierung und Differenzierung bei Synästhetikern nur unvollständig stattgefunden habe, so dass die Sinnesmodule durchlässig geblieben sind oder Nervenzellen nicht ausreichend voneinander isoliert würden.105 Diese Ideen 101 Vgl. Dittmar (2007), S. 80. 102 Vgl. Harrison/Baron-Cohen (1997), S. 120, Dittmar (2007), S. 85. 103 Vgl. Dittmar (2007), S. 85. 104 Vgl. Baron-Cohen/Harrison (1997), S. 3, Harrison (2007), S. 14. 105 So sind verschiedene Neuronen durch fettreiches Gewebe (Myelinscheibe) voneinander isoliert, das in bestimmten Hirnregionen erst in der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter voll ausgebildet wird. Für Verbindungen des Hör- und Sehzentrums gibt es Hinweise in Form kurzlebiger Verknüpfungen bei Rhesusaffen und Katzen (erste 2-3 Lebensmonate). Durch Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns konnten bei Babys vor dem dritten Lebensmonat bei akustischer Reizung Signale aus der Sehrinde
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einer auf Grund von ,Fehlbildungen‘ des Gehirns aus der frühkindlichen Entwicklung zurückbleibenden, verstärkten Verbindung und Kommunikation zwischen den Sinnesarealen wurden bereits 1851 von Cornaz geäußert, ließen sich jedoch auch 150 Jahre später mit bildgebenden Verfahren nicht überzeugend aufspüren.106 Zum anderen müssten Individuen mit dysmodularen Sinnen nach Baron-Cohens These einer ,Abnormität‘ oder eines Fehlers in der auf Effizienz ausgelegten modularisierenden Hirnentwicklung Defizite aufzeigen, die sich jedoch nicht belegen lassen.107 Viel deutlicher tritt daher in seiner Theorie die Schwierigkeit hervor, das Synästhetische mit dem Modell der Modularität des Gehirns in Einklang zu bringen. Unterstützt wurden Baron-Cohens Annahmen jedoch durch die Neonatal Synaesthesia Hypothesis von Daphne Maurer aus dem Jahr 1988, die die amodale Wahrnehmung zum Vorläufer der modalen Wahrnehmung in der Entwicklung von Neugeborenen erklärte. Darin behauptete Maurer eine allgemeine frühkindliche synästhetische Entwicklungsstufe bis etwa zum vierten Lebensmonat, in der Sinnesreize in einer ganzheitlichen Wahrnehmung undifferenziert erfahren würden.108 Als anatomische Basis für diese neonatale Synästhesie vermutete Maurer flüchtige Verbindungen zwischen neuronalen Strukturen, die nach und nach abgebaut oder gehemmt würden. Konnte Maurer derartige Verknüpfungen bei neugeborenen Hamstern und Katzen nachweisen, so ließen sie sich beim Menschen bisher weder im lebenden Subjekt noch post mortem finden.109 Dennoch führte Maurer auf diese neonatalen Verbindungen und ihre Überreste alle intermodalen Analogien und auch die nachgewiesen werden. Auf molekularbiologischer Ebene zeigte sich, dass nach dem ersten Lebensjahr eine Vielzahl von Gehirnzellen abstirbt und es zu einer Verschlankung des Gehirns im Sinne einer Effizienzsteigerung kommt. Vgl. Harrison (2007), S. 16ff, Dittmar (2007), S. 85f, Harrison/Baron-Cohen (1997), S. 110f. 106 Lediglich die Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI), mit der die Diffusionsbewegung von Wassermolekülen in Körpergewebe sichtbar gemacht werden kann, hat Hinweise auf solche Bewegungen des Blutes ergeben. Vgl. Dittmar (2007), S. 86. 107 Diesen Widerspruch versuchte Baron-Cohen durch die Schilderung einer Synästhetikerin zu entkräften, die Farben hört, aber auch Töne sieht und dadurch massive Interferenzen, Stress und Reizüberflutung erlebt, so dass sie Situationen meiden muss, die sehr laut und farbenfroh sind: „From this single case, we can advance the following tentative conclusion. Some forms of synaesthesia (but not all) are clearly maladaptive, and this is in line with the evolutionary arguments outlined earlier, in which natural selection favoured individuals whose senses were modular.“ Baron-Cohen (1996). Ist dieser Einzelfall als Beweis sehr dünn, so werden Synästhesien zwischen Sinnesbereichen in beiden Richtungen, also wie hier Farbe-Klang und Klang-Farbe, als äußerst selten beschrieben. 108 Vgl. Maurer (1997), S. 225ff. 109 Vgl. ebd., S. 228.
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Sprachentwicklung zurück. In The shape of boubas. Sound-shape correspondences in toddlers and adults von 2006 versuchte Maurer mit Kollegen deshalb einen universellen, von Einzelsprachen unabhängigen Klangsymbolismus nachzuweisen, der die Ausbildung von Sprache in phylo- und ontogenetischer Entwicklung beeinflusse, wie es schon Wellek oder Benjamin beschrieben.110 Erhielt das Synästhetische mit Maurers Theorie einmal mehr die Zuschreibung, ein ,ursprünglicher‘ Mechanismus zu sein, so erscheint dessen Deutung als universelle Klang-Form-Entsprechung im digitalen Zeitalter besonders attraktiv. Klänge und Geräusche nehmen in der digitalen Kultur einen neuen Stellenwert als Verknüpfungs- und Erkenntniselement in multiplen medialen Kommunikations- und Lebenswelten ein, indem sie z.B. signalisieren: „Sie haben eine neue Nachricht!“, und verstärken als Geräuscheffekte die Involviertheit in künstliche, virtuelle Welten eines Computerspiels oder Films. Universelle, anthropologisch fundierte, für alle Sprachen, Kulturen und Altersgruppen verständliche und gültige Klangsymbole implizieren neue Dimensionen für Steuerungsmechanismen von Mensch-Maschine-Interaktionen und Computeranwendungen und für das Klangdesign globaler, virtueller Räume in verschiedensten Kontexten. Mit der Setzung des Synästhetischen als allgemeinen und notwendigen Entwicklungsprozess wird demnach wiederum die Frage nach überindividuellen Gemeinsamkeiten in den Zuordnungen zwischen den Sinnen virulent, die im Zuge der Digitalisierung einen Mehrwert erhalten. Synästhetiker, so Spector und Maurer, hätten bewussten Zugang zu grundlegenden Übersetzungsprozessen sensorischer Systeme und deren Entwicklung und Differenzierung.111 Gleichzeitig vertritt Maurers Theorie einen regulären physiologischen Prozess einer Trennung der Sinne als
110 Sie vermutete, dass Klang-Objekt-Entsprechungen nicht vollständig arbiträr sind, und griff dafür auf Wolfgang Köhlers ,maluma-takete‘-Experiment aus dem Jahr 1929 zurück. So ließ sie 2,5 Jahre alte Kleinkinder und Erwachsene die Fantasieworte ,bouba‘ und ,kiki‘ zu runden und spitzen Formen zuordnen. Die Kinder wie auch die Erwachsenen wählten dabei ,bouba‘ für die runde und ,kiki‘ für die eckige Form, was Maurer auf eine natürliche Veranlagung dieser Entsprechungen schließen ließ: „The results lend support to the hypothesis that naturally biased sound-shape correspondences influence the development of language in the individual child and may have influenced its evolution across time.“ Maurer/Pathman/Mondloch (2006), S. 320. 111 „The evidence […] suggests that there is a systematic way in which sensory information translates across modalities throughout development that influences what we pick up from the environment. Synesthetes may have conscious access to some of this translation process, the origins of which lie in the initial organization of the sensory neural sysystem. Thus, synesthesia is far more than a quirky phenomenon: It is a window into the very nature of sensory processing and development.“ Spector/Maurer (2009), S. 185.
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Ausdifferenzierung von Modalitäten in Phylo- und Ontogenese.112 Erscheint das Synästhetische damit als Relikt früher evolutionärer und neonataler Entwicklungsstufen, so wird Maurers These in dem Moment problematisch, in dem abstraktere Denk- und Wissensprozesse und erlernte Kulturtechniken wie Rechnen oder Lesen in synästhetische Erscheinungen involviert sind. Deshalb entwickelte Peter Grossenbacher eine alternative Theorie der Synästhesie, die nicht von einer durch außergewöhnliche neuronale Verbindungen zwischen Gehirnarealen oder Modulen veränderten Hirnstruktur ausgeht, sondern Rückkopplungen im Wahrnehmungsprozess annimmt, die bestehende neuronale Verknüpfungen ,umpolt‘.113 Diese sogenannte Feedback-Theorie präsentierte er 1999 in der Zeitschrift Discover. Er ging davon aus, dass sensorische Erfahrungen von Erwartungen, Vorannahmen, Kategorien und Konzepten im Sinne eines inneren dynamischen Weltmodells geleitet werden und sie mitbestimmen, weshalb bei der Erforschung der Wahrnehmung nicht nur die Sinne zu berücksichtigen seien.114 So betonte er, dass die die Synästhesien auslösenden Reize nicht nur sinnlicher Natur seien, sondern häufig mit Denkprozessen und Bedeutungen assoziiert sind, wie Wörter, Buchstaben und Zahlen.115 In seinem Feedbackmodell materialisiert sich das Synästhetische deshalb als Vorgang, bei dem, parallel zum Daten- und Informationsfluss von den Sinnesorganen zum Gehirn, Signale von höheren Verarbeitungsleveln zu den Sinnesorganen zurückgeleitet werden und dort Empfindungen auslösen.116 Bei Nicht-Synästhetikern erfolge dagegen eine Hemmung dieser Feedback-Verbindungen. Entwarf Grossenbachers Theorie das Synästhetische als subjektive Wissensstrategie im Sinne einer doppelten Codierung, bei der erst die Bedeutung einer Empfindung die synästhetische Erscheinung hervorruft, so konnte auch sie nicht eindeutig bestätigt werden.117 Allerdings wurde Grossenbachers An-
112 Cytowic brachte dies auf den Punkt: „Everyone is born synesthetic, only to lose the capacity as the brain matures.“ Cytowic (2002b), S. 18. 113 Vgl. Carpenter (2001). 114 Vgl. Grossenbacher (1997), S. 148f. 115 Vgl. ebd., S. 152. 116 Vgl. Dittmar (2007), S. 87. 117 Der Niederländer A. Aleman vom Medizinischen Zentrum der Universität Utrecht versuchte mit Kollegen, die Feedback-Theorie anhand einer Studie mit der funktionellen Magnetresonanztomographie an einer Frau mit Farb-Wort-Synästhesie nachzuweisen, und fand eine Aktivierung früher sensorischer Ebenen des Wahrnehmungsprozesseses während synästhetischer Erfahrungen, ohne dass diese extern stimuliert wurden. Im selben Experiment mit Nicht-Synästhetikern konnte er diese Aktivierung nicht finden. Vgl. Aleman u.a. (2001). Dagegen zeigte eine PET-Studie einer Farbe-Wort-Synästhesie von Paulesu aus dem Jahr 1995 keine Aktivierung in frühen sensorischen Ebenen,
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satz seit etwa dem Jahrtausendwechsel für eine junge Generation von Neurowissenschaftlern bedeutsam, die den Schwerpunkt v.a. auf die kognitive Dimension und die erkenntnistheoretischen Implikationen der Synästhesien legt. Dazu gehört z.B. die englische Forschergruppe um den Psychologen Jamie Ward, der von einem prinzipiell multisensorischen Charakter der Wahrnehmung ausgeht, in dessen Rahmen das Synästhetische zwar einen Extremfall bilde, aber weder eine versteckte Energie noch ein neuer Sinn sei.118 Statt als Überbleibsel kindlicher Wahrnehmungsverknüpfungen oder Rückkopplung im Datenfluss betrachtet Ward die Synästhesien vielmehr als Ausdruck der Fähigkeit des Gehirns, Systeme und Strukturen zu konstruieren, um Wissen und Informationen zu organisieren, zu kodieren und zu speichern.119 Mit diesem Ansatz nähert sich die Theoretisierung der Synästhesie Modellen einer digitalen Wissensgesellschaft, in der sich Erkenntnisprozesse durch kreatives Verknüpfen verschiedener Informationskanäle, Datenformate und Wissenspraktiken kennzeichnen. Gemeinsam mit Kollegen untersuchte Ward z.B. in mehreren Studien verschiedene synästhetische Kopplungen unter dem Aspekt ihrer jeweiligen Beeinflussung durch Erfahrung, Lernprozesse, semantische Operationen und lexikalisches sowie konzeptuelles Wissen.120 Verschiedene Synästhesieformen zeigten dabei den Einbezug unterschiedlicher Ebenen der mentalen Repräsentation, was Ward zu der Annahme veranlasste, dass jeweils spezifische kognitive Mechanismen involviert seien, während gleichzeitig die Nähe von Gehirnarealen eine Rolle spiele.121 Die Ausformung einer spezifischen synästhetischen Verknüpfung von sinnlichen und kognitiven Elementen schien demzufolge durch mehrere Faktoren determiniert zu sein, zu denen eine gewisse genetische Disposition, kulturellkollektive und individuelle Lernprozesse, v.a. aber subjektive Erfahrung, die verschiedene Wissensformate wie linguistisches oder konzeptuelles Wissen und die
während alle anderen aktivierten Regionen mit den von Aleman gefundenen identisch waren. Vgl. Paulesu u.a. (1995). 118 „I suggest as an alternative account, that nobody retains their infantile synesthesia into adulthood. In contrast we all develop a mature system of linking our senses together and of linking our senses to non-sensory knowledge.“ Vgl. Ward (2008), S. 42. 119 Vgl. ebd., S. 110. 120 An einem Synästhetiker mit Geschmackssynästhesien bei gesprochenen Wörtern zeigte er mit Julia Simner, dass v.a. mit Erfahrung und Lernprozessen verbundene semantische und phonologische Faktoren sowie lexikalisches und konzeptuelles Wissen die synästhetische Geschmacksempfindung beeinflusste. Vgl. Ward/Simner (2003), S. 256. 2005 verglichen Ward und Simner diesen Fall mit einem Grafem-Farbe-Synästhetiker, bei dem nicht der Klang, sondern die Orthografie eines Wortes entscheidend für die synästhetischen Erscheinungen war. Vgl. Ward/Simner (2005a). 121 Vgl. ebd., S. 39.
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Wahrnehmungsumgebung einschließe, zählen.122 Dabei seien jedoch die dahinter liegenden Mechanismen keine nur den Synästhetikern eigenen, sondern bei allen Menschen wirkende Organisationsstrukturen des Gehirns, was wiederum Gemeinsamkeiten von Buchstaben-Farben-Zuordnungen bei Synästhetikern und Nichtsynästhetikern nahe legt, was Ward in der Folge experimentell prüfte und bestätigt fand.123 Erinnern derartige Vergleiche an die Studien von Anschütz aus den 1920er Jahren, so übersehen und ignorieren sie in einer für die Untersuchung notwendigen Vereinfachung ein kleines aber für die Sache wesentliches Detail, in dem sie das komplexe synästhetische Farbensehen auf ein Farbwort reduzieren. Denn Synästhetiker beschreiben ihre Empfindungen meist nicht in simplen Farbwörten wie ,Grün‘, sondern als spezielle Farben mit Struktur, Textur oder Oberflächen, die sie teilweise ,in Natur‘ noch nie gesehen haben. In Fragebögen, die Häufigkeiten und Dominanzen von Zuordnungen eruieren, werden diese individuell ganz verschiedenen Farbund Formeindrücke dann unter einfachen Farbkategorien subsumiert. So sind Aussagen, wie ,A ist meist rot‘ völlig sinnfreie Abstraktionen, die nichts über die eventuell mögliche Identität oder Differenz der Wahrnehmungserfahrung verschiedener Synästhetiker und Nichtsynästhetiker, noch über eventuell vorhandene dominante Zuordnungen aussagen.124 Erübrigt sich damit die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Aussagekraft derartiger Vergleiche, so entlarvt es die Untersuchungsergebnisse 122 Vgl. Simner Glover/Mowat (2006), S. 281. 123 So werteten Ward und Simner mit Kollegen in der Studie Non-random association of graphemes to colours in synaesthetic and non-synaesthetic populations von 2005 historische und aktuelle Fallbeschreibungen über synästhetische Buchstaben-Farbe-Zuordnungen aus und verglichen sie mit Zuordnungen von Nichtsynästhetikern: „This study shows that biases exist in the associations of letters with colours across individuals both with and without grapheme-colour synaesthesia. [...], there were remarkable intersubject agreements, both within and across participant groups (e.g., a tends to be red, b tends to be blue, c tends to be yellow). This suggests that grapheme-colour synaesthesia, whilst only exhibited by certain individuals, stems in part from mechanisms that are common to us all.“ Simner u.a. (2005), S. 1069. Simner fand auch zwischen Synästhetikern Gemeinsamkeiten in Form von Präferenzen in der Buchstaben-Farbe-Zuordnung und extrahierte daraus ein prototypisches synästhetisches Alphabet. Vgl. Simner (2007), S. 23ff. 124 Diese Problematik räumen auch Ward, Simner und Kollegen in ihrer vergleichenden Studie ein: „The range of synaesthetes’ colour responses can be seen by considering the category green as an example, for which its 195 responses comprised 54 different colour descriptions (e.g., pea green, jade green, lime green, lettuce green, blackish green, fir tree green, muddy green, bottle green) compared to only five (green, dark green, lime, emerald and avocado) from the 219 green responses of the control participants.“ Simner u.a. (2005), S. 1073.
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eher als Konstrukte der Forschung. Lediglich der amerikanische Neurowissenschaftler David Eagleman griff diese Komplexität synästhetischer Wahrnehmung ernsthaft auf, indem er 2009 gemeinsam mit Melvin Goodale in Why color synesthesia involves more than color die spezielle Struktur synästhetischer Farben untersuchte. Anzunehmen sei demnach nicht nur eine synästhetische Aktivierung des für Farben verantwortlichen Gehirnareals, sondern auch von Regionen, die Materialeigenschaften kodieren.125 Die meisten Synästhesiestudien konzentrierten sich jedoch, so kritisieren Eagleman und Goodale, auf die Kategorie der Farbe, die zwar am häufigsten in synästhetische Erscheinungen involviert zu sein scheine, was jedoch, so deuten sie es vorsichtig an, auch eine Konstruktion der Forschung sein könnte.126 Farbzuordnungen lassen sich z.B. im Vergleich zu Geschmacksrichtungen unkomplizierter und v.a. auch an Nichtsynästhetikern untersuchen und erfassen. Andererseits bestätigten bildgebende Verfahren eine verstärkte Aktivität in dem für Farbe zuständigen Gehirnareal V4 bei Wort-Farbe-Synästhetikern, dass dieses Gehirnareal V4 jedoch nur für die Kodierung von Farbe zuständig ist, sei wiederum eine rein hypothetische Annahme.127 Ließen sich darüber hinaus, so Eagleman und Goodale, funktionale Areale in individuellen Gehirnen nicht genau abgrenzen und gehen z.T. fließend ineinander über, so würden viele Studien von der Aktivierung weiterer Areale berichten, aber nur das Farbareal zur Diskussion auswählen.128 Das lässt nicht nur eine Kartografie des Synästhetischen im Gehirn grundsätzlich fragwürdig erscheinen. Eagleman unterstellte zugleich funktionelle Unterschiede von Synästhetiker- und Nichtsynästhetikergehirnen, die sich in deutlich unterscheidbaren Aktivierungsmustern niederschlagen, und widersprach damit Wards These von identischen Mechanismen bei Synästhetikern und Nichtsynästhetikern. Diese Unstimmigkeiten fanden Ward, Simner und Kollegen selbst, indem sie einen signifikanten Einfluss der Häufigkeit des alltäglichen Vorkommens eines Grafems bei Synästhetikern feststellten, während Nichtsynästhetiker in der Zuordnung eher nach dem Prinzip der Reihe vorgingen.129 Diese uneindeutigen Ergebnisse lösten Ward, Simner und Kollegen in der Begründung auf, dass Synästhesien zum einen auf allgemeinen kognitiven Prozessen intermodaler Analogien beruhten, zum anderen aber spezifische Verarbeitungsmuster aufwiesen.130 Indem Synästhetiker kognitive 125 Vgl. Eagleman/Goodale (2009), S. 288. 126 Vgl. ebd., S. 288. 127 Vgl. ebd., S. 290. 128 Vgl. ebd., S. 292. 129 „We saw above that controls generate colours in order through the list of letters, […]. In contrast, synaesthetes are sensitive to the frequency of graphemes, and match high frequency graphemes with high frequency colour names, or with more fundamental colour distinctions.“ Simner u.a. (2005), S. 1079. 130 Vgl. ebd., S. 1085.
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Verbindungen durch perzeptuelle Assoziationen ersetzten, zeige sich bei ihnen mehr als eine einfache Erweiterung des normalen Erfahrungsmodus.131 Synästhetisches Wahrnehmen wird auf diese Weise mit Denken gleichgesetzt und als ein Modus der Kognition beschrieben, der gewöhnlich implizit bleibe, bei Synästhetikern jedoch bewusst werde, so Ward und Noam Sagiv.132 Ein neuer Aspekt, den die Gruppe um Ward an dieser Stelle in die Theoretisierung der Synästhesien einbrachte, ist die Aufmerksamkeit. Denn ihre Ergebnisse suggerierten, dass für das ,SichEinstellen‘ der synästhetischen Kopplung von Farben an Grafeme dessen bewusstes Erkennen notwendig sei.133 Ähnlich wie Ward und Kollegen plädieren die australischen Neuropsychologen Jason Mattingley und Anina Rich für eine Konzentration auf kognitive Prozesse hinter den Synästhesien, die damit für Fragen der multisensorischen Integration, der Farbwahrnehmung, des Gedächtnisses und des metaphorischen Denkens relevant sein könnten.134 In der Annahme multipler Routen für die Verarbeitung symbolischer Formen und Farben entwickelten sie ein Modell, das zum einen die Bearbeitung des induzierenden Reizes und zum anderen dessen Repräsentation, die erst zur synästhetischen Erfahrung führe, betrachtet.135 Zwischen diesen beiden Daten- und Informationsflüssen ergäbe sich eine Reihe möglicher Schnittstellen, die bei Nichtsynästhetikern nur rudimentär vorhanden seien.136 Allerdings betonen sie: „We are still a long way from having a model of synaesthesia that explains both its cognitive and biological causes.“137 Und das ist wohl das einzig mögliche Fazit aus den divergierenden neurowissenschaftlichen Beschreibungsund Theoretisierungsversuchen. Beruhen diese größtenteils auf hypothetischen Annahmen, so implizieren sie alle in den Synästhesien verborgene, sich im Unbewussten bewegende Mechanismen, die, über eine Reihe anderer ungeklärter Phänomene hinaus, das Rätsel des Gehirns entschlüsseln könnten. Die Synästhesien treten demnach als Projektionsfläche für die Verhandlung grundlegender Fragen der Hirnforschung in Erscheinung und werden dabei erst generiert und theoretisiert. Im Zuge dessen wird die Konzeptualisierung des Synästhetischen an neue neurowissenschaftliche Erkenntnisse und Modelle angepasst, wobei nicht selten völlig neue Synästhesieformen entdeckt werden. So beschrieben Ward, Banissy und Kollegen 2005 eine neue Synästhesieform, bei der das Beobachten, wie ein anderer Mensch berührt wird, taktile Empfindungen im synästhetischen Betrachter hervorruft, und brachten sie mit der 1992 von Giacomo Rizzolati u.a. veröffentlichen Theorie der 131 Vgl. ebd., S. 1085. 132 Vgl. Sagiv/Ward (2006), S. 268. 133 Vgl. ebd., S. 265, Sagiv/Heer/Robertson (2006), S. 234. 134 Vgl. Mattingley/Payne/Rich (2006), S. 213. 135 Vgl. Rich/Mattingley (2002), S. 48. 136 Vgl. ebd., S. 51. 137 Rich/Mattingley (2002), S. 50.
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Spiegelneuronen und dem Mechanismus der Empathie in Zusammenhang.138 Gaben sie dieser Synästhesieform den Namen mirror-touch-synesthesia, so vermuteten sie eine Überaktivität für Berührung im neuronalen Spiegelsystem, die dazu führe, dass die Grenze zum Bewusstsein überschritten werde.139 Die neurowissenschaftliche Synästhesieforschung antizipiert demnach Modelle des Gehirns und Thesen über seine Funktionsweise und bringt daraus neue Konzeptionen des Synästhetischen hervor. Erscheinen die verschiedenen Synästhesieformen aus dieser Perspektive als Konstrukte, in denen sich kulturelle und mediale Diskurse spiegeln, so spielen die Untersuchungsmethoden und -apparaturen in diesem konstitutiven Prozess eine wesentliche Rolle.
V.3 T RÜGERISCHE E VIDENZEN UND KONSTRUIERTE S ICHTBARKEITEN Das Synästhetische eröffnet einen Raum für Spekulationen, Zuschreibungen und Projektionen, die seine eigene Erforschung und Theoretisierung wesentlich mitbestimmen. Erscheinen die subjektiven Beschreibungen der Wahrnehmungserfahrungen von Synästhetikern seit dem 19. Jahrhundert erstaunlich konstant, so stehen dem widersprüchliche Befunde der psychologischen, neurologischen oder genetischen Erforschung der Synästhesien gegenüber. Diese Differenz zwischen der subjektiven phänomenalen Wahrnehmungserfahrung und der Ebene ihrer theoretischen Beschreibung resultiert aus einem konstruktiven Akt, der mehrfach determiniert ist und bei dem die Untersuchungsmethoden und -apparate selbst das Synästhetische und seine Ausformulierungen erst hervorbringen und konstituieren. Aus einem Zwang des objektiven Nachweises der Realität des Phänomens, seiner Andersartigkeit oder Nichtandersartigkeit und v.a. seiner Zuordnung zu Kategorien der
138 Die Entdeckung der Spiegelneuronen erfolgte 1992 bei Affen, bei denen beim Beobachten von Bewegungen neuronale Erregungen festgestellt wurden, die denen glichen, wenn sie die Bewegungen selbst ausführten. Die funktionale Bildgebung legt nahe, dass das Spiegelsystem nicht nur für Handlungen, sondern auch für Empfindungen und Emotionen existiert und als Grundlage von Empathie beschrieben werden kann. Vgl. Banissy/Ward (2007), S. 815f. 139 Zur Überprüfung ihrer These führten sie eine fMRI-Studie mit einer mirror-touch-Synästhetikerin und 12 nichtsynästhetischen Kontrollpersonen durch. Dabei wurden Scans des Gehirns bei der Betrachtung von Filmen gemacht, in denen Menschen oder Objekte berührt wurden. Wie zu erwarten, fühlte nur die Synästhetikerin beim Anschauen der Videos mit Personen selbst eine Berührung, was durch die Gehirnaktivität bestätigt wurde. Vgl. Blakemore u.a. (2005), S. 1573ff.
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Wahrnehmung, der Kognition, Emotion, des Lernens oder der Genetik kommen eine Reihe spezifischer Untersuchungstechniken zum Einsatz, die Konzepte des Synästhetischen entscheidend beeinflussen. So lässt sich ein neu erwachtes neurowissenschaftliches Interesse an dem Phänomen in den 1980er Jahren mit neuen Techniken der Sichtbarmachung des Gehirns bei der Arbeit in Form bildgebender Verfahren zusammenbringen. Die Fragen, die sich jedoch stellen, sind, was dabei eigentlich sichtbar gemacht wird und wie und warum es evident erscheint. Denn so unterschiedlich die experimentellen Ergebnisse und Theoretisierungen ausfallen, so verschieden sind im Grunde auch die Phänomene, auf die sie sich letztlich beziehen, so dass mehr offene Fragen als schlüssige Antworten existieren. Trotz neuester wissenschaftlicher Techniken scheint die Forschung nicht wesentlich über die Ansätze um 1900 hinausgekommen zu sein. Fokussiert sich im Synästhetischen die Komplexität menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Fühlens, so versucht die Forschung es auf einen verantwortlichen Mechanismus wie z.B. das Lernen zu reduzieren, was sich jedoch immer wieder als unmöglich herausstellt. Diese Vorgehensweise zeigt seit dem 19. Jahrhundert im gesamten Synästhesiediskurs eine erstaunliche Konsistenz. Bereits Binet versuchte beispielsweise, das Synästhetische auf Lernprozesse zurückzuführen, die, obwohl bereits von Binet verworfen, die junge Generation von Synästhesieforschern um Ward und Mattingley erneut in den Blick nimmt. In diesem Zusammenhang tauchte die bereits 1864 von Chabalier geäußerte Vermutung wieder auf, dass Lernsysteme, wie z.B. farbige Buchstaben, einen Einfluss auf die Ausbildung der synästhetischen Zuordnung haben könnten und sich durch Ähnlichkeiten in einer Generation von Synästhetikern nachweisen lassen müssten.140 Gleichzeitig wurde bereits 1883 durch Galton eine genetische Komponente als Häufung von Fällen in einer Familie erkannt, die einen Einfluss von Lerneffekten eher ausschließt.141 Ebenso schwer wie die Lernhypothese lässt sich jedoch auch die genetische Komponente eindeutig festlegen, da, nach Harrison, zwar etwa 25 Prozent aller Synästhetiker mindestens einen Verwandten ersten Grades hätten, der ebenfalls synästhetisch veranlagt sei, die Ausprägung und Formen des Synästhetischen
140 Im Sinne dieser These verglichen Rich, Bradshaw & Mattingley in einer Studie von 2005 Buchstabe-Farbe-Kombinationen australischer Alphabetbücher von 1900 bis 1989 mit den Farben von 150 zwischen 1914 und 1986 geborenen Grafem-Farbe-Synästhetikern, fanden jedoch keine eindeutigen Zusammenhänge. Stellten sie zwar eine gewisse Konsistenz in den Zuordnungen fest, die auch mit Zuordnungen von Nichtsynästhetikern Ähnlichkeit aufwiesen, so zeigten sich keine Übereinstimmungen mit farbigen Buchstaben in den für die Generation in Frage kommenden Alphabet- und Leselernbüchern. Vgl. Rich/Bradshaw/Mattingley (2005). 141 Vgl. Harrison/Baron-Cohen (1997), S. 115.
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innerhalb einer Familie jedoch stark variieren.142 Stichproben für Synästhesiestudien und Umfragebögen stützten zudem die Annahme, dass die genetische Veranlagung für Synästhesie verstärkt an das weibliche Geschlecht gebunden und demzufolge auf dem X-Chromosom lokalisiert sei. Bei einem dominanten Erbgang würde das ein Verhältnis von drei Frauen auf einen Mann ergeben, während in den Umfrageergebnissen durchschnittlich jedoch sechs Frauen auf einen Mann kamen.143 Dagegen konnten Ward und Simner 2005 in der Studie Is synaesthesia an X-linked dominant trait with lethality in males? nachweisen, dass der höhere Anteil an synästhetischen Frauen vielmehr dadurch zustande kam, dass Frauen bereiter sind als Männer, über ihre Wahrnehmungen zu sprechen und sich für Studien zu melden.144 Ergaben systematische Befragungen einen weitaus höheren männlichen Anteil unter den Synästhetikern als Selbstberichte, so hatte die Methodik zu fehlerhaften Aussagen geführt, was sich für die Synästhesieforschung als paradigmatisch erweist. Mit großen Hoffnungen auch für die Synästhesieforschung startete 1990 das internationale Human Genom Project zur Entschlüsselung der menschlichen DNA, auf das jedoch nach dessen Abschluss im Jahr 2001 Ernüchterung folgte. Wie bereits zu vermuten war, gestaltet sich die genetische Verschlüsselung des Synästhetischen nicht nach dem einfachen Prinzip eines Synästhesie-Gens, sondern verteilt sich weitaus komplizierter über mehrere Gene, die bisher nicht eindeutig identifiziert werden konnten.145 Zumindest die Dominanz von Frauen konnte auf Grund der genetischen Daten widerlegt werden. Die verschiedenen Synästhesieformen innerhalb einer Familie hingegen ließen sich schlüssig weder auf genetische, noch auf kulturelle Einflüsse und Erfahrung zurückführen.146 Emrich schloss daraus, dass die Fähigkeit zur Synästhesie zwar angeboren sei, die spezifische Ausprägung jedoch anhand von Erfahrung und Lernen erfolge.147 Die Schwierigkeit scheint seit jeher also v.a. darin zu bestehen, die verschiedenen Elemente und beeinflussenden Fakto142 Vgl. Harrison (2007), S. 168. 143 Vgl. ebd., S. 184f. Diese Differenz versuchte z.B. Cytowic damit zu erklären, dass das Synästhesie-Gen für männliche Nachkommen zu 50 % tödlich sei und diese bereits im Mutterleib sterben, was jedoch mit einer erhöhten Fehlgeburtsrate bei Synästhetikerinnen einhergehen müsste, die nicht mit Daten untermauert werden konnte. Vgl. ebd., S. 187 144 Vgl. Ward/Simner (2005b). 145 So untersuchten Julien Asher und Kollegen mehrere Familien mit Synästhetikern und deren genetisches Material. Dabei zeigten sich verschiedene Orte und multiple Modi auf der DNA, so dass nicht nur ein Weg der Vererbung möglich zu sein scheint. Vgl. Asher u.a. (2009). 146 Vgl. Barnett u.a. (2008). 147 Dittmar (2007), S. 109.
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ren zusammenzubringen, was in einer in Spezialdisziplinen ausdifferenzierten Wissenschaftslandschaft eine besondere Herausforderung darstellt.148 Scheitert die Synästhesieforschung daran, eine einzige schlüssige, beweisbare Erklärung zu finden, wie es Cytowics Thesen der frühen 1980er Jahre noch in Aussicht stellten, so löst sie dieses Problem zunehmend, indem sie die phänomenale Erfahrung der Synästhetiker in verschiedene untersuchbare Formen von Sinneskopplungen aufspaltet, die sich im subjektiven Empfinden nicht voneinander abgrenzen lassen und daher als wissenschaftliche Konstrukte verstanden werden müssen. Schon die Frage nach der Prävalenz synästhetischer Wahrnehmungsformen in der Gesamtpopulation entpuppt sich als Problemfeld, in dem sich gleichermaßen zahlreiche wie verschiedene Schätzungen finden, was schon die historische Forschung kennzeichnete.149 Schwanken die Angaben von Forscher zu Forscher zwischen 1:20 und 1:250.000, so bestimmen v.a. die Art der Datenerhebung und die jeweils zu Grunde gelegte Definition und Form des Synästhetischen die Häufigkeitszahlen.150 Insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Synästhetiker zunächst oft nichts von ihrer besonderen Wahrnehmung wissen und erst darauf aufmerksam werden müssen, dass sie sich von anderen unterscheiden, stellt sich die Frage, wie Umfrageresultate 148 „As such, the nature of the genetic mechanism remains largely unknown. Nevertheless, the way in which gene expression affects brain development and, ultimately, cognition is one of the biggest growth areas in cognitive neuroscience, and synaesthesia may yet prove to be a model system.“ Ward/Mattingley (2006), S. 134. Und auch Barnett und Kollegen glauben: „Synaesthesia thus provides a good model to explore the interplay of all these factors in the development of cognitive traits in general.“ Barnett u.a. (2008), S. 872. 149 So vermutete Galton 1883 für die number forms eine Prävalenz von 1:22,5, Calkins 1895 hingegen eine Häufigkeit von 1:4. Vgl. Simner u.a. (2006), S. 1024. 150 So ging z.B. Cytowic 1989 davon aus, dass nur einer von 250.000 Menschen Synästhetiker sei, was er später selbst auf 1: 100.000, 1995 auf 1:25.000 und 2004 gar auf 1:23 korrigierte. Vgl. Cytowic (1995), Cytowic (2004). Baron-Cohen versuchte durch eine Annonce in den Cambridge Evening News und der Studentenzeitung Varsity genauere Zahlen zu erhalten. Bei einer angenommenen Leserschaft von ca. 55.000 Personen meldeten sich 26 bestätigte Fälle, was einem Anteil von 0,05% entspricht. Vgl. Harrison (2007), S. 171. Rich u.a. fanden ein Verhältnis von 1:1150 bei Frauen und 1:7150 bei Männern. Vgl. Rich/Bradshaw/Mattingley (2005), S. 53. Asher und Kollegen nehmen auf Basis genetischer Daten eine Häufigkeit der Synästhesie von 0,05 % - 1 % an. Vgl. Asher u.a. (2009). Bargary und Kollegen gehen davon aus, dass 4 % der Menschen Synästhetiker sind. Vgl. Bargary u.a. (2009), S. 529. Emrich vermutet eine Prävalenz von ca. 1:500 bis 1:1000. Vgl. Emrich/Zedler/Schneider (2002), S. 33. Sagiv und Ward behaupten für die Grafem-Farbe-Synästhesie Zahlen von 1:360 bis 1:1080. Vgl. Dittmar (2007), S. 25.
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zu bewerten sind und welche Aussagekraft sie eigentlich haben. Die widerlegte Annahme eines höheren Frauenanteils durch Selbstanzeigen beweist bereits die Unzulänglichkeit derartiger Herangehensweisen. Zum anderen werden bei Fragebögen oder Synästhesietests nur Synästhesien erfasst, die bereits bekannt sind und nach denen deshalb auch gezielt gefragt werden kann, während unbekannte Formen wie die erst 2005 ,entdeckte ‘mirror-touch-synesthesia oder schwer zugängliche Formen ohne feste Zuordnungen wie Emrichs Gefühlssynästhesie bereits in die Formulierung der Fragen nicht einbezogen werden können.151 Wie und wonach gefragt wird, Untersuchungsdesign und Erfassungsmethoden bestimmen die Antworten und Testergebnisse ebenso wie die grundsätzliche Auffassung des Phänomens durch den jeweiligen Forscher.152 Mit dem Ziel der Vermeidung sich derartig auswirkender Voreinstellungen und der Gewinnung genauerer Zahlen des Vorkommens führten Simner und Kollegen 2006 die Studie Synaesthesia. The prevalence of atypical cross-modal experience durch. Die groß angelegte Umfrage unter insgesamt 1.690 Menschen in zwei Populationen, Studenten und Besucher eines Museums, ergab dabei, dass etwa ein bis vier Prozent der Bevölkerung Synästhetiker seien und das Farbig-Sehen von Wochentagen die am häufigsten auftretende Form darstelle.153 Auch diese Studie arbeitete jedoch mit Antworten suggerierenden Fragen, die auf bereits existierende, bekannte Synästhesieformen zugeschnitten waren, und muss daher kritisch betrachtet werden. Das Abfragen und Analysieren von einzelnen Synästhesieformen nach deren Dominanz und Häufigkeit erweist sich generell als zweifelhaft, da z.B. bekannt ist, dass 40 Prozent aller Synästhetiker multiple Kopplungen, also mehr als eine Form, besitzen.154 Bei ca. 40 Prozent der Synästhesieformen sind zudem nicht nur die Sinne, sondern auch subjektive Wissenselemente beteiligt, die sich hirnanatomisch und erkenntnistheoretisch bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar umreißen lassen. Prägnantestes Beispiel sind die sogenannten number forms als mentale Visualisierung und Strukturierung von Wissen in Zahlenlinien und Diagrammen.155 Und selbst beim relativ einfach anmutenden Fall des Farbenhörens als Kopplung von Hören und Sehen scheinen kognitive Prozesse zu wirken, wie Simner und Kollegen argumentierten.156 Die Einteilung verschiede151 Vgl. Dittmar (2007), S. 26. 152 „Estimates of the prevalence of synaesthesia have diverged widely. To some extent, this variation may have arisen owing to differences in definitional criteria, […]. Additionally, variation may arise simply from a focus on different subtypes from one study to the next.“ Vgl. Simner u.a. (2006), S. 1024. 153 Vgl. ebd., S. 1028. 154 Vgl. Cytowic (2002b), S. 13. 155 Vgl. ebd., S. 13. 156 „Additionally, even apparently prototypical synaesthesias such as coloured hearing triggered by spoken language have recently been shown to be triggered by abstract cog-
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ner Synästhesieformen nach zwei klar definierten, verbundenen Sinnesmodalitäten lassen sich wie vieles andere als Konstrukte der Forschung erkennen, die den konzeptuellen Charakter des Synästhetischen unterstreichen. Nur so werden die sich historisch und von Forscher zu Forscher wandelnden Dominanzen der Synästhesieformen verständlich. So behauptete die historische Forschung noch das Farbenhören als häufigste Form, während der Anthropologe Sean Day, selbst Synästhetiker und Präsident der American Synesthesia Association, übereinstimmend mit anderen Forschern die Grafem-Farbe-Synästhesie, bei der gelesene, gehörte oder gedachte Buchstaben oder Zahlen farbige Erscheinungen auslösen, als aktuell am meisten zu findende Form beschreibt.157 Seine Daten gewann Day dabei über eine von ihm eingerichtete Synästhesie-Mailingliste, über die ihm Synästhetiker selbst ihre Verknüpfungen mitteilten, die er dann kategorisierte und auswertete.158 Die Synästhesieformen als Konstrukte verstehend, ergeben sich aus der Verschiebung in der Dominantensetzung weniger Hinweise auf das Phänomen selbst, sondern vielmehr Aufschlüsse über die Beziehung seiner Theoretisierung zum kulturellen Diskurs. So verknüpfen sich bei der Grafem-Farbe-Synästhesie nicht mehr zwei Sinne, sondern verschiedene Elemente des visuellen Sinns mit kulturell erlernten Zeichen und Zeichensystemen. Diese Kombination weckt vor dem Hintergrund einer medial organisierten, über Texte und Bildschirme agierenden und mit großen Datenmengen operierenden Wissensgesellschaft Interesse und spiegelt eine bildbasierte Visualisierungstendenz der digitalen Kultur wider. Ein Großteil der Forscher wertet das Sehen als am stärksten in Synästhesien involviert, Geruch und Geschmack hingegen am seltensten.159 Hierbei stellt sich jedoch die Frage, ob diese Einschätzung nicht eher den Schwierigkeiten einer systematischen, experimentellen Untersuchbarkeit von Geschmacks- und Geruchssinn geschuldet ist.160 So zogen Simner und Kollegen nach ihrer großangelegten Eruierung der Prävalenz der Synästhesie und ihren Formen das Resümee, dass die Kopplung von Grafemen und
nitive representations, rather than purely perceptual processing.“ Simner u.a. (2006), S. 1032. 157 Vgl. Weiss u.a. (2001), S. 750. 158 Als zweithäufigste Form klassifiziert Day die Musik-Farbe-Synästhesie, wobei unterschiedliche Auslöser wie Notennamen, Tonhöhe, Tonarten, Klangfarben, akkordische Strukturen oder Musikstile zu finden sind. Auf der Jahrestagung der American Synesthesia Association im Jahr 2004 wurden 152 verschiedene Formen von Synästhesie bestätigt. Vgl. Day (2006), S. 15ff. 159 Vgl. Dittmar (2007), S. 33. 160 So berichtet z.B. Harrison von einem Synästhetiker, der Gerüche mit Formen verband, bei dem sich die Abgrenzung zu assoziativen und schwankenden Zuordnungen von Nichtsynästhetikern als äußerst schwierig erwies. Vgl. Harrison (2007), S. 160.
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Farben lediglich die am meisten von der Forschung untersuchte Form sei.161 In dem Verständnis des Synästhetischen als Ausdruck jeweils relevanter Wahrnehmungsund Medienpraktiken verweist ebenso das Auftauchen bisher ,unentdeckter‘ Formen auf Brüche und Verschiebungen im Sinnendiskurs, die sich in ihnen materialisieren.162 So lässt sich vermuten, dass im Zuge einer Verstärkung der Involvierung des Subjekts in virtuelle Welten in Zukunft der Einbezug von Tast- und Berührungsempfindung, Geschmack und Geruch zur Disposition stehen wird, die deren Status auch im Synästhesiediskurs verändern, während dreidimensionales Kino und Fernsehen der räumlichen Wahrnehmung und der Propriozeption einen neuen Stellenwert und gesteigerte Aufmerksamkeit einbringen.163 Bieten originelle Fälle von Synästhesie eine Herausforderung für die Untersuchungsmethoden und existierenden Theorien, so wird immer wieder versucht, sie als Ausdruck normaler kognitiver und sensorischer Fähigkeiten auf einen Mechanismus zurückzuführen, der beim Synästhetiker nur im extremen Ausmaß vorliegt.164 Nach wie vor kennzeichnet die Synästhesieforschung die Suche nach dem Gemeinsamen zwischen mehreren Synästhetikern und Nichtsynästhetikern, sei es auf hirnanatomischer Ebene oder in den Zuordnungen, das auf allgemeingültige Wahrnehmungsmuster rückführbar ist. Forscher wie Day, Baron-Cohen, Simner oder Emrich erhoben demgemäß Statistiken über die Häufigkeit gleicher oder ähnlicher Farben für Buchstaben, ohne spezielle undefinierbare, martialische Farben zu berücksichtigen, für die Synästhetiker keine Entsprechung und keinen Farbnamen angeben können und die nicht auf klassischen Farbpaletten abgebildet werden können.165 Eine besondere Hoffnung bei der Frage 161 Vgl. Simner u.a. (2006), S. 1028. 162 Hubbard beschrieb z.B. 2008 in The sounds of moving patterns eine neuen Form der Synästhesie, bei der das Sehen von Bewegung auditive Erfahrungen evoziert, was sich direkt mit medialen Wahrnehmungserfahrungen koppeln lässt. Vgl. Hubbard (2008), S. R657. 163 Simner und Ward widmeten sich bereits 2006 einem Fall, bei dem ein Synästhetiker die Wörter schmeckt. Simner/Ward (2006), S. 438. 164 So z.B. Ward und Simner: „[…] we propose a model in which pathways exist between word lemmas and taste centres. […] These pathways may operate in everyone, but be exceptionally active in synaesthetes […] Lexical-gustatory synaesthesia may therefore represent an exaggeration of normal mechanisms that link linguistic thought and sensory perception.“ Ebd., S. 438. 165 Sean Days Suche nach interindividuellen Übereinstimmungen zwischen Synästhetikern führte z.B. zum Vergleich von 255 Synästhetikern mit gefärbten Grafemen, darunter auch historische Beschreibungen. Seine Ergebnisse ergaben: I tendiert zu weiß, gelb, hell; ebenso das e; o tendiert zu schwarz und weiß, a sei oft rot. Vgl. Day (2001). Baron-Cohen und Simner dagegen bezogen sich auf eine von Berlin und Kay 1991 aufgestellte Farbenfolge, die die Wahrscheinlichkeit beschreibt, mit der einzelne Farben in
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nach den Gemeinsamkeiten zwischen Synästhetikern und Nichtsynästhetikern weckten die sogenannten number forms, bei denen erlernte kulturelle Konzepte wie das Alphabet, Wochentage oder Raum- und Zeitangaben auf einem mentalen Zahlenstrahl in gleich bleibender Anordnung räumlich visualisiert werden.166 Diese number forms geben der Annahme Raum, dass möglicherweise alle Menschen über eine Art inneren, mentalen Zahlenstrahl oder ein internes Koordinatensystem als imaginative Vorstellungsleistung verfügen, in das kulturelle Prägungen wie die Schreib- und Zählrichtung einfließen.167 Allerdings bestätigten sich für die number forms die Einflüsse kultureller Faktoren nicht wie angenommen.168 Bleibt die Frage, ob Synästhesien auf Mechanismen reduzierbar sind, die auch bei Nichtsynästhetikern wirken, ungeklärt, so auch die, ob verschiedene Formen und individuelle Unterschiede zwischen Synästhetikern auf eine einzige Erklärung und Theorie rückführbar sind.169 Deshalb wird versucht, den widersprüchlichen Befunden über verschiedene Synästhesieformen hinaus mit weiteren Differenzierungen beizukommen. So unterscheiden z.B. Smilek und Dixon die Synästhetiker nach dem Ort der synästhetischen Erfahrung als Projektoren, die ihre Erscheinungen in den Raum projizieren, und Assoziatoren, deren Erscheinungen sich ,vor dem inneren Auge‘ ereignen.170 Ein ähnlicher Vorschlag von David Eagleman ist die Einteilung in localizers and non-localizers, die beschreiben soll, ob die synästhetischen Farben mit einem Objekt in der Welt verbunden werden oder in separaten Dimensionen existieverschiedenen Sprachen vorkommen, wobei weiß als am häufigsten auftauchende Farbe über schwarz, rot, gelb und grün, blau und braun, orange, violett, grau bis hin zu rosa als seltenste Farbe deklariert werden. Analog dazu beschreiben Baron-Cohen und Simner die Kopplung von häufig in einer Sprache vorkommenden Grafemen mit Farben höherer Wahrscheinlichkeit. Vgl. Dittmar (2007), S. 22. 166 Die Formen dieser in den Raum visualisierten Schemen werden von Synästhetikern ganz verschieden beschrieben, als bogenförmig oder linear, mit Winkeln, dreidimensional nach vorn oder hinten. Gemeinsam ist den Beschreibungen, dass Synästhetiker sich in ihnen umherbewegen, hinein- und herauszoomen oder verschiedene Blickwinkel einnehmen können. Vgl. ebd., S. 55. 167 V.a. David Eagleman plädierte dafür, die synästhetischen number forms als eine Verstärkung der allgemeinen Tendenz, Datenreihen und -sequenzen räumlich zu visualisieren, zu verstehen. Vgl. Eagleman (2009), S. 1266f. Vgl. Dittmar (2007), S. 56. 168 Dies zeigten Jarick und Kollegen an zwei Synästhetikern, deren number forms nicht ihrer kulturell erlernten Schreibrichtung folgten. Vgl. Jarick u.a. (2009), S. 1191. 169 Vgl. Hubbard/Ramachandran (2005), S. 516. 170 Diese zwei Typen unterscheiden sich offenbar bei visuellen Suchtests, bei denen eine Zahl unter anderen zu suchen ist. Die Projektoren finden diese schneller durch die Farbe, die sie direkt auf der Zahl wahrnehmen, was auch als pop-out-effekt beschrieben wird. Vgl. ebd., S. 517.
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ren.171 Hubbard und Ramachandran hingegen unterteilen in ,höhere‘ kognitive und ,niedere‘ sensorische Synästhesien, bei denen divergierende Formen und Ausprägungsgrade zugleich mit verschiedenen Hirnregionen und Verarbeitungsstufen einhergehen.172 Aber auch diese spekulativen und letztlich konstruierten Unterscheidungen werden durch die Erfahrungswelten der Synästhetiker unterlaufen. Denn wie die strikte Trennung von Synästhesieformen durch Mehrfachsynästhetiker aufgehoben wird, so besitzen die meisten synästhetisch veranlagten Menschen sowohl sensorische als auch kognitive Kopplungen und projizieren und assoziieren gleichermaßen auf die unterschiedlichste Weise.173 Damit stellt die Wahrnehmungswelt der Synästhetiker nicht nur die Untersuchungsergebnisse in Frage, sondern bereits die dabei angewandten Methoden. Kommen für eine Synästhesieform wie die Grafem-Farbe-Synästhesie unterschiedliche Auslöser, wie der geschriebene, gelesene, gehörte oder nur gedachte Buchstabe in Frage, was sich zudem nicht einmal genau festlegen lässt, weil der Synästhetiker noch andere sensorische, kognitive und emotionale Elemente mischende Formen hat, wie soll sich dann eine für die Gültigkeit von Studien und deren Ergebnisse vorauszusetzende Vergleichbarkeit der Daten verschiedener Synästhetiker herstellen.174 Dennoch ist es in wissenschaftlichen Studien üblich, Phänomen und Synästhetiker auf eine Form oder einen Typ zu reduzieren, in dem Glauben, damit zu vergleichbaren, aussagekräftigen Daten zu gelangen.175 Ließen sich diese Schwierigkeiten viel eher dahingehend theoretisieren, dass möglicherweise jedes Gehirn, und nicht nur das von Synästhetikern, in Struktur und Funktionsweise einzigartig und nicht mit anderen vergleichbar ist, so arbeitet sich die Synästhesieforschung daran ab, ein einheitliches Protokoll für die Poolbildung synästhetischer Subjekte zu etablieren und Vergleichbarkeit auf methodischem Wege herzustellen. So entwickelte David Eagleman 2007 gemeinsam mit Kollegen die Synesthesia Battery als Sammlung von Fragebogen und verschiedenen Tests, die über das Internet für jeden Forscher abrufbar sind, um eine Ver171 Vgl. Dittmar (2007), S. 45. 172 Vgl. Hubbard/Ramachandran (2005), S. 517. 173 Vgl. Dittmar (2007), S. 38. 174 Die Aussage eines Synästhetikers, das ,I‘ sei rot, kann z.B. heißen, die Form bestimmt die Farbe, so dass die Zahl ,1‘ oder der Kleinbuchtstabe ,l‘ ähnliche Synästhesien auslösen. Die rote Farbe kann aber auch auf das Phonem, also den Klang referieren, wobei Variationen durch unterschiedliche Aussprache entstünden. Die Farbe kann aber auch durch den Inhalt, die Bedeutung oder ein mit dem Buchstaben verbundenes Gefühl bestimmt sein. Vgl. Dittmar (2007), S. 50. Dixon, Smilek und Kollegen beschreiben darüber hinaus eine synästhetische Versuchsperson, bei der der auslösende Reiz selbst nicht anwesend sein muss, in dem z.B. die Rechenaufgabe 4+3 die synästhetische Farberscheinung für die Zahl 7 hervorruft. Vgl. Dixon u.a. (2000), S. 365. 175 Vgl. Harrison (2007), S. 169.
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einheitlichung der Untersuchungsmethoden und die Quantifizierbarkeit persönlicher Berichte zu erreichen.176 Wesentlichstes Instrument dabei ist der Konsistenztest, auch Authentizitätstest oder Test of Genuiness genannt, der von Baron-Cohen entwickelt und 1987 in Hearing words and seeing colors veröffentlicht wurde. Dieser Test, der in zwei Messungen mit zeitlichem Abstand die jeweiligen synästhetischen Zuordnungen abfragt, diagnostiziert Synästhetiker als solche, in dem sie bei den beiden Messungen, selbst wenn mehrere Jahre dazwischenliegen, eine Übereinstimmung von ca. 90 Prozent erreichen, während Nichtsynästhetiker bereits nach einer Woche nur noch etwa 40 Prozent erzielen.177 Zeigt der Konsistenztest zwar, dass es einen Unterschied zwischen Synästhetikern und Nichtsynästhetikern gibt, so nicht, worin dieser besteht. Außerdem gestaltet er sich für Synästhesieformen, die nicht mit Farbzuordnungen, sondern mit Geschmacks- oder Geruchsempfindungen verbunden sind, äußerst schwierig. Jeder Synästhetiker, der Teil einer Studie wird, muss zunächst den Konsistenztest bestehen, womit schon eine Vorauswahl durch die Möglichkeit des Nachweises determiniert wird. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Test, die zur Anwendung kommen, jedoch ebenso wenig eindeutige Ergebnisse hervorbringen. So belegt z.B. eine Variante des Stroop-Tests, bei dem Grafeme in Kongruenz mit der individuellen synästhetischen Farbe und davon abweichend gezeigt werden, wobei sich die Reaktionszeiten für die Nennung des Grafems in der inkongruenten Bedingung deutlich verlängern, einen gewissen Automatismus und die Schnelligkeit synästhetischer Kopplungen.178 Eine Entscheidung darüber, auf welchem Level der Informationsverarbeitung Synästhesie stattfindet, d.h. ob sie sensorischer oder kognitiver Natur ist, bringt er jedoch nicht.179 Ähnlich widersprüchliche Ergebnisse generiert die Methode des Perceptual Grou176 Der Fragebogen und weitere Tests sind unter www.synesthete.org abrufbar. Vgl. Eagleman u.a. (2007), S. 139ff. [letzter Zugriff 24.10.2016] 177 Vgl. Baron-Cohen/ Harrison (1997), S. 5. 178 Bei dem 1935 von J. R. Stroop entwickelten Test werden Farbwörter in abweichender Schriftfarbe gezeigt, wie z.B. das Wort ,rot‘ in grüner Farbe, wobei einmal die Schriftfarbe genannt und einmal das Wort gelesen werden soll. Bei Inkongruenz zwischen Schriftfarbe und Farbwort entsteht eine messbar verzögerte Reaktion. Die Variante des Stroop-Testes für die Grafem-Farbe-Synästhesie wurde 1999 erstmals von Odgaard verwendet. Vgl. Odgaard/Flowers (1999). 179 Dixon, Smilek und Duffy zeigten mit einem Stroop-Test die Rolle von Bedeutung bei der Grafem-Farbe-Synästhesie, indem sie zeigten, dass ein und dasselbe Grafem in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedliche synästhetische Farben hervorruft. Vgl. Dixon u.a. (2006), S. 243f. Dagegen belegten Hubbard und Ramachandran mittels eines Stroop-Experiments die sensorische Natur der Synästhesien, da sich im Experiment die synästhetischen Farben nur durch den Kontrast der gegebenen Grafeme änderten. Vgl. Hubbard/Manohar/Ramachandran (2006).
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ping, auch als Pop-out-Effekt bezeichnet, bei dem z.B. mehrere ,H‘, die ein Dreieck bilden zwischen vielen ,P‘ versteckt sind. In mehreren Studien erkannten Synästhetiker die Dreiecksfigur schneller als Nichtsynästhetiker, da sie die Buchstaben unterschiedlich farbig sahen, was im Sinne eines automatischen Ablaufens der Synästhesien auf Wahrnehmungsebene gedeutet wurde.180 Andere Studien mit visueller Suche stellten dagegen keinen Vorteil für Synästhetiker fest und deuteten das als Notwendigkeit eines mit Aufmerksamkeit verbundenen, bewussten Erkennens der Grafeme für das Eintreten der synästhetischen Kopplung auf höheren Verarbeitungsstufen.181 2009 versuchten Bargary und Kollegen vom Trinity College in Dublin die Frage, ob das Synästhetische auf frühen oder späten Verarbeitungsstufen generiert werde, mittels des sogenannten MCGurk-Effekt zu entscheiden, der die Verarbeitung von visuell und auditiv differierenden Informationen auf kognitiver Stufe beschreibt.182 Erklingt auditiv z.B. das Wort ,bait‘ während gleichzeitig eine Person gezeigt wird, die ,gate‘ sagt, versteht die Versuchsperson in den meisten Fällen das Wort ,date‘ als Integrationsleistung widersprüchlicher Daten. Angewandt auf Synästhesien ist dann relevant, welches Wort im experimentellen Setting die synästhetische Erfahrung motiviert. Lösen das gehörte oder gesehene Wort diese aus, spräche das für Verknüpfungen auf rein sensorischer Ebene. Ist es dagegen das aus beiden zusammengesetzte neue Wort, müsse dem eine kognitive Integrationsleistung vorausgegangen sein. Die Ergebnisse von Bargary und Kollegen ließen darauf schließen, dass sich die synästhetischen Farben eher an den gemischten Perzepten orientierten und die multisensorische Integration demnach vor der synästhetischen Assoziation stattfinde.183 Werden von der Synästhesieforschung immer wieder derartige neue Untersuchungsdesigns entworfen, die tendenziell den Einfluss kognitiver Faktoren wahrscheinlicher aussehen lassen, so finden sich dennoch regelmäßig dem widersprechende experimentelle Ergebnisse. Begründet wird das zumeist mit unterschiedlichen jeweils untersuchten Synästhesieformen, die aber erst als konstruierte Klassifizierung in Folge widersprüchlicher Befunde zu betrachten sind.184 Das grundsätzliche Problem aller erwähnten Untersuchungsparadigmen der klassischen Verhaltensforschung ist, dass sie das synästhetische Ereignis als subjektive Wahrnehmungserfahrung auf ein einfaches Reiz-Reaktions-Schema reduzieren und in seiner Komplexität minimieren. So arbeiten die Studien mit einfachen Zuordnungen, wie ,a ist rot‘, während die synästhetischen Farbzuordnungen differen180 Vgl. Cytowic (2002b), S. 11, Laeng/Svartal/Oelmann (2004), S. 277, Hubbard/ Ramachandran (2005), S. 51. 181 Vgl. Edquist/Rich/Brinkman/Mattingley (2006), S. 223, Gheri/Chopping/Morgan (2008), S. 841, Rothen/Meier (2009), e5037. 182 Vgl. Bargary u.a. (2009). 183 Vgl. ebd, S. 529f. 184 Vgl. Edquist/ Rich,/ Brinkman/ Mattingley (2006), S. 224.
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zierter sind, so dass selbst, wenn zwei Synästhetiker im Experiment die Farbe ,rot‘ auswählen, nicht davon ausgegangen werden kann, dass ihre synästhetische Wahrnehmung identisch wäre. Vielmehr unterlaufen die Synästhesien wissenschaftliche Kriterien von Vergleichbarkeit oder Wiederholbarkeit, in dem die verschiedenen Tests bei jedem Synästhetiker letztlich andere Resultate zu erbringen scheinen, was die anerkannten, objektiven Methoden und Standards jedoch verdecken. Das spiegelt sich auch in der Uneinigkeit der Forschergemeinschaft, welches Untersuchungsformat geeigneter sei, d.h. ob Einzel- oder Gruppenstudien sinnvoller sind. Heben sich in Gruppenstudien individuelle Unterschiede der Synästhetiker auf, besitzen wiederum Einzelstudien wenig Aussagekraft.185 Zur Lösung dieser Schwierigkeiten plädieren eine Reihe von Forschern v.a. für den Einsatz neurowissenschaftlicher Untersuchungstechniken bildgebender Verfahren. Doch auch diese sind nicht frei von Widersprüchen in der Untersuchung des Synästhetischen und werfen eher neue Fragen auf, als dass sie eine Lösung des Rätsels der Synästhesien vorantreiben würden.186 Bestes Beispiel sind die schon erwähnten Versuche Cytowics in den 1980er Jahren, durch den Einsatz bildgebender Techniken die Existenz des Phänomens nachzuweisen, um von seinen Forscherkollegen ernst genommen zu werden. Dabei sind diese Techniken selbst ein Teil des Phänomens, in dem sie ihm einen ,realen‘ und wissenschaftsfähigen Status verleihen.187
185 Hubbard und Ramachandran plädieren in diesem Sinne für eine Kombination beider: „We believe that synesthesia research can profit from using both single-case and group approaches. […] Results from a single case may not generalize to other synesthetes […]. However, a failure to find an effect in a group study should be equally treated with caution. If a sample is composed of several subtypes of synesthetes, the variability in the sample may lead to a failure to find significant results, […] Similarly, if there is only one synesthete in a sample of ten who demonstrates the hypothesized strong manifestations, then a group study will miss a real but rare effect. […] We used a third approach, which might best be termed a ,multiple-case studyʻ approach, to demonstrate that the positive results found for certain synesthetes were not simply statistical artifacts, observable under specific circumstances with specific subjects.“ Hubbard/ Ramachandran (2005), S. 518. 186 So merkt Baron-Cohen an: „Neuroimaging is the best thing we’ve got at the moment, […] but the spatial resolution isn’t good enough to allow us to see whether the individual connections in the brain are cross-wired.“ Baron-Cohen zit. nach Carpenter (2001). 187 So konnte z.B. in einer Stroop-Test-Studie von Elias u.a. im Jahr 2003 nicht zuverlässig zwischen Nichtsynästhetikern mit erlernten Farbe-Ziffer-Verbindungen und Synästhetikern unterschieden werden. Erst in fMRT-Aufnahmen wurden Unterschiede deutlich. Vgl. Dittmar (2007), S. 77.
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Als Techniken der Sichtbarmachung von Hirnstrukturen und -prozessen brachten die bildgebenden Verfahren nicht nur ein gesteigertes Interesse am Synästhetischen hervor, sondern konstituierten das Phänomen überhaupt erst im wissenschaftlichen Diskurs. Die vermeintliche ,Wiederentdeckung‘ der Synästhesien in den 1980er Jahren lässt sich mit ihrer Darstellbarkeit durch bahnbrechende medizinisch-technische Verfahren und Diagnoseinstrumente, die eine neue Art von Bildern des Gehirns bei der Arbeit produzieren, gleichsetzen und kann als deren Folge betrachtet werden.188 Seit etwa den 1970er Jahren konnten Röntgenstrahlen durch bessere Auflösung auch weiches Gewebe darstellen.189 Innerhalb von zwanzig Jahren entwickelten sich bildgebende Verfahren dann von der Abbildung der Hirnstruktur mit Kernspinbzw. Magnetresonanztomografie (MRT) hin zu Aufnahmen des intakten Gehirns in Aktion.190 Positronen-Emmissions-Tomografie (PET) oder funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) wurden euphorisch begrüßt als Fenster in das arbeitende Gehirn, als „königlicher Weg zur Lösung des ewigen philosophischen Problems“191 und versprachen auch neue Einsichten über die Synästhesien.192 Zeigten MRTScans von Synästhetikern keine Unterschiede zur Hirnstruktur von Nichtsynästhetikern, so verhärtete sich die Annahme, das Besondere, die Differenz oder Abweichung müsse in der Funktionsweise des synästhetischen Gehirns liegen, die mit den funktionellen Verfahren der Bildgebung als Vergleich eines Kontroll- oder ,Ruhezustands‘ mit dem aktiven, zu untersuchenden Zustand erfassbar schien. Versuchte 188 „Some researchers, seized with euphoria by the potentialities of new technique, restructed themselves in the study of ,constitutional synesthetesʻ only, using tomography method to trace in minute details their ,movement of thoughtsʻ.“ Vgl. Galeyev (2005), S. 162. 189 Vgl. Harrison (2007), S. 133. 190 Die MRT basiert darauf, dass Protonen in den Kernen von Wasserstoffatomen ein Signal erzeugen, wenn sie in ein Magnetfeld gebracht werden, wobei die Stärke des Signales vom Wassergehalt des Gewebes abhängt. Geben Knochen demnach ein schwaches Signal, Fett ein starkes, so erfasst der MRT-Scanner die Differenz und erzeugt daraus ein Bild des tomografierten Körpers, bzw. Gewebes. 1977 machte Ray Damadian den ersten Ganzkörperscan mit MRT. Vgl. Harrison (2007), S. 134. 191 Kotchoubey (2004), S. 187. „Aus einer [...] Reihe solcher Experimente, in denen eine Verhaltensform nach der anderen getestet wird, entsteht irgendwann das vollständige Bild des Verhältnisses zwischen Gehirn und Geist.“ Ebd. 192 Die PET gründet auf einer radioaktive Markierungssubstanz, die, ins Blut injiziert und über Detektoren am Kopf eines Probanden gemessen, den regionalen Blutfluss im Gehirn sichtbar machen kann. Die fMRT macht den Sauerstoffverbrauch aktiver Gehirnzellen sichtbar, bei dem sich die magnetischen Eigenschaften des Blutes ändern. Vgl. Dittmar (2007), S. 69, Harrison (2007), S. 144, 163.
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Cytowic das an dem Synästhetiker Michael Watson zu zeigen, so unterlag er zunächst einem entscheidenden Denkfehler, der paradigmatisch für die ersten Einsätze der neuen Verfahren in der Hirnforschung war. Denn Cytowic subtrahierte die Messung des Blutflusses im Gehirn im Moment synästhetischer Wahrnehmung von der Messung eines ,Ruhezustandes‘, den er als ,nichts tun, an nichts denken‘ beschrieb, und glaubte damit im Ergebnis die für das synästhetische Erlebnis relevanten Gehirnregionen zu erfassen.193 Setzte er dabei den Ruhezustand mit ,keine Aktivität‘, ,Gehirn leer‘ gleich, so hielt er ihn außerdem für interindividuell vergleichbar, was er später selbst als Fehler zugab.194 Denn der ,Nullzustand‘ entpuppte sich als Illusion, da keine (Versuchs)Person ,an Nichts denken kann‘, sondern möglicherweise Dinge reflektiert, die mit dem Experiment nichts zu tun haben aber die Abbildungen und Darstellungen der Gehirnaktivität beeinflussen.195 Bereits die ersten vermeintlich objektiven, durch bildgebende Verfahren erbrachten Beweise für die Andersartigkeit synästhetischer Hirnprozesse müssen als Produkt der Untersuchungsmethoden gewertet werden und ließen sich auch deshalb später mit besser auflösenden Techniken nicht bestätigten.196 Ging die Hirnforschung daraufhin dazu über als Kontrollzustand den Probanden eine bestimmte Aufgabe zu stellen, die mit der zu untersuchenden Aktivität nichts zu tun hat, so bestehen die methodischen Schwierigkeiten der bildgebenden Verfahren weiterhin. Stellt sich generell die Frage, was die bildgebenden Techniken letztlich erfassen, so werden in der Auswertung individuelle Aktivierungsmuster als Entsprechung bewusster Erfahrungen auf ein hypothetisches Durchschnittsgehirn, das Rechenergebnis statistischer Operationen ist, übertragen. Mit dem Ziel der Vergleichbarkeit gehen dabei, insbesondere bei Gruppenanalysen, einzelne spezifische Datenmuster verloren. Ähnlich problematisch ist die Analyse der Aktivierungen in Bezug auf ihre Lage in bestimmten Gehirnarealen mit spezifischen Funktionen, wofür z.B. die Brodman-Areale genutzt werden.197 Bereits diese Kartografien von Arealen mit bestimmter Funktion und ihrer Lage sind lediglich aus statistischen Daten erhobene normative Modelle. Bis heute ist nicht eindeutig belegt, ob den neurologisch auf Zellebene unterscheidbaren Strukturen, wie sie Brodman beschrieb, tatsächlich spezifische Funktionen entsprechen. Ebenso unklar ist, ob alle Gehirne 193 Vgl. Harrison (2007), S. 138. 194 Vgl. Cytowic (2003), S. 163. 195 Vgl. ebd., S. 164. 196 Vgl. Harrison (2007), S. 137. 197 Diese Brodman-Areale basieren auf um 1900 entdeckten Methoden zur Zellfärbung, die verschiedene Zellstrukturen im Mikroskop sichtbar machten, woraufhin das Gehirn in Bereiche mit divergierenden Zellarchitekturen eingeteilt werden konnte. Korbinian Brodmann veröffentliche 1909 eine Karte der Großhirnrinde mit 47 unterscheidbaren Regionen. Vgl. ebd., S. 150.
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generell eine identische Kartografie aufweisen.198 Damit werden der Erforschung des synästhetischen Gehirns mit bildgebenden Verfahren durch diese selbst bereits theoretische Vorannahmen in Form eines hypothetischen, in funktionelle Areale gegliederten Durchschnittsgehirns unterlegt, dem die jeweiligen Aktivierungsmuster und die vermeintlich mit ihnen verbundene subjektive Wahrnehmung zugeordnet wird. Aus dem Ort der Aktivität wird dabei auf den Inhalt der Erfahrung geschlossen.199 Der erste auf diese Weise erfolgte und als objektiv anerkannte Nachweis des Synästhetischen als Abweichung von der Funktionsweise eines Durchschnittsgehirns gelang Paulesu und Frith 1995 mit PET-Scans mehrerer Synästhetiker.200 Gescannt wurden die Gehirne von sechs weiblichen Wort-Farb-Synästhetikerinnen und sechs nichtsynästhetischen Personen als Kontrollgruppe während sie sich Wörter bzw. Töne über Kopfhörer anhörten. Im Anschluss wurden die Gehirne und deren Aktivierungsmuster ,normalisiert‘, d.h. auf eine vergleichbare, identische Größe herunter- oder hochgerechnet, und Gehirnarealen zugeordnet. Im Ergebnis zeigten die Synästhetiker im Vergleich zu den Nichtsynästhetikern eine bei diesen nicht vorhandene Aktivierung visueller Bereiche, die der Farbverarbeitung zugeschrieben werden.201 Die Erfahrung der Farb-Wort-Synästhesie sei, laut dieser Studie, mit charakteristischen synästhetischen Aktivierungsmustern verbunden, die in einer ungewöhnlichen, durch nachbarschaftliche Lage bestimmten, anatomischen Verknüpfung zwischen Spracharealen und visuellen Arealen gründe.202 Erschien Frith und Paulesus Studie zunächst als endgültiger und eindeutiger Beweis für die Existenz des Synästhetischen als besondere Wahrnehmungsform,203 so resul198 So argumentierte Cytowic: „Because the nineteenth century Brodmann maps that people use to point to this and that spot in the brain differ in absolute coordinates from person to person, fMRI interpretations are probably unreliable when subjects are average in a study, yet this happens routinely.“ Cytowic (2003), S. 165. 199 Vgl. Frith/Paulesu (1997), S. 124. 200 Vgl. ebd., S. 131. 201 War das eigentlich als Farbzentrum angenommene Areal nicht aktiviert oder mittelte sich statistisch gesehen in der Gruppe weg, so jedoch Bereiche, die als an der Integration von Farbe, Sprache und Formen beteiligt vermutet werden, beim Hören von Wörtern normalerweise aber nicht aktiviert sind. Interpretierten Frith und Paulesu das als Grund, warum die synästhetische Farbwahrnehmung nicht mit der normalen Farbwahrnehmung kollidiere, so hieße das zugleich, dass Farbwahrnehmung von mehreren kortikalen Arealen hervorgerufen werden kann. Vgl. Frith/Paulesu (1997), S. 132ff, Harrison (2007), S. 154. 202 Vgl. Frith/Paulesu (1997), S. 123f. 203 So tönten z.B. Harrison und Baron-Cohen: „In any case, the use of PET, […], has allowed us to seek to reconcile the ‚subjective experiences of synaesthetes, with the ‚objective view of scienceʻ.“ Vgl. Harrison/Baron-Cohen (1995), S. 160.
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tierten daraus neue Widersprüche. Zeigten sich z.B. keine überdurchschnittlichen Aktivierungen sensorischer Verarbeitungsstufen, wie eigentlich erwartet, so wendete Emrich ein, dass sich die spezifischen Erregungen in der Studie nicht darstellten, weil sie sich in der Analyse der Daten mehrerer Synästhetiker aufhoben.204 Cytowics Kritik bestand darin, dass bisher nicht bekannt sei, welche der zahllosen kortikalen Areale überhaupt in das Sehen involviert seien und wie sie interagieren, so dass Paulesus Interpretation synästhetischer Aktivierungsmuster auf rein spekulativen Annahmen aufbaue.205 Vor allem regten sich aber Zweifel, ob und in wie weit bildgebende Verfahren tatsächlich die Gesamtheit und Komplexität funktioneller Hirnprozesse abbilden können. Technische Grenzen könnten möglicherweise dazu führen, dass wesentliche Teile davon gar nicht erfasst und abgebildet werden, was die Aussagekraft der technisch generierten Bilder in Frage stellt.206 Als Ergänzung und Überprüfung von Frith und Paulesus PET-Studie führten Julia Nunn und Kollegen deshalb 2002 eine Studie mit der besser auflösenden fMRT-Technik durch, die deren Ergebnisse zwar teilweise bestätigte, aber auch neue und abweichende Resultate erbrachte.207 Lösten sich auch mit dieser Studie die Paradoxien nicht auf, so wiesen Nunn und Kollegen selbst explizit auf die Vorläufigkeit und Relativität der Ergebnisse hin.208 Andere fMRT-Studien weichen wiederum von den Ergebnissen von Nunn und Kollegen ab, was mit verschiedenen jeweils untersuchten Synästhesieformen, der Persönlichkeit der Synästhetiker oder abweichenden Methoden und Versuchsanordnungen begründet wird, wobei einen entscheidenden Einfluss v.a. die jeweils zugrunde gelegte Theorie des Synästhetischen ausübt.209
204 Vgl. Dittmar (2007), S. 69. 205 Vgl. Cytowic (2002b), S. 16. 206 Vgl. Harrison (2007), S. 164. 207 Eine neue Erkenntnis war z.B., dass bei Synästhetikern, die farbige Oberflächen betrachten, nur das Farbareal in der rechten Gehirnhälfte aktiv ist und nicht wie bei Nichtsynästhetikern in beiden, was darauf hindeuten könnte, dass das linke Farbareal durch die Beteiligung an der synästhetischen Erfahrung unempfänglich für die normale Farbwahrnehmung ist. Vgl. Cytowic (2002b), S. 374. 208 „We cannot exclude the possibility that such activation does occur during synesthetic color experiences, but cannot be detected easily using current neuroimaging techniques.“ Vgl. Nunn u.a. (2002), S. 375. 209 So untersuchten Peter Weiss und Kollegen eine Synästhetikerin mit fMRT, die Farben für die Namen von Familienmitgliedern hatte, deren Farbwahrnehmung normale Aktivierungsmuster zeigte, während sich bei den Familiennamen eine Verbindung von emotionalen mit sekundären visuellen Arealen zeigte, was die Forscher als Hyperbinding im Sinne von Emrich interpretierten. Vgl. Weiss u.a. (2001), S. 750. Sperling und Kollegen wiederum glaubten, dass ihre fMRT-Daten einer Grafem-Farbe-Synästhesie für frühe
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Als Hauptfrage der Untersuchung des Synästhetischen mit bildgebenden Techniken kristallisiert sich dabei seine Lokalisierung als Ort im Gehirn heraus, an dem sich die geheimnisvolle, besondere Verknüpfung ereignet. Die verschiedenen Studien finden die unterschiedlichsten beteiligten Hirnareale und unterstützen gleichermaßen die divergierenden Theoretisierungsversuche des Synästhetischen, von der Annahme einer ungewöhnlichen strukturellen Konnektivität über die Feedbacktheorie bis hin zum Hyperbinding.210 Modelle einer besonderen Gehirnarchitektur stehen Annahmen einer spezifischen Funktionsweise gegenüber, die sich Hubbard zu Folge auf die Differenz von „connections versus communication“211 reduzieren lassen. Dabei betont Hubbard, dass fast alle existierenden Neuroimaging-Studien zur Synästhesie mit auditiven oder visuellen Präsentationen linguistischer Stimuli, die synästhetische Farberfahrung hervorrufen, durchgeführt wurden und angenommen werde, dass sich die Daten auf andere Formen übertragen lassen, was jedoch völlig unklar sei.212 Die Widersprüche und Differenzen könnten, so Hubbard, auf ein viel komplexeres Zusammenspiel von anatomischen Strukturen und Funktion hindeuten, das möglicherweise erst mit Techniken der Zukunft erfassbar werde.213 Dabei verkennt Hubbard jedoch die viel tiefliegendere Problematik des Versuchs der Darstellung des Synästhetischen mit bildgebenden Verfahren. Weckten NeuroimagingTechniken die Hoffnung, dem Gehirn bei der Arbeit zuschauen zu können, so registrieren sie letztlich nur einen Anstieg der lokalen Hirndurchblutung, den die Forschung als Hinweis auf erhöhte neuronale Aktivität interpretiert, wie Boris Kotchoubey ausführt.214 Ebenso fragwürdig sei die Logik, eine Veränderung der Hirnsensorische Verarbeitungsstufen des Synästhetischen spreche und es den Halluzination ähnlicher sei als der Farbwahrnehmung. Vgl. Sperling u.a. (2006), S. 295. 210 So resümieren Rouw und Scholte: „[…] current fMRT methods do not allow us to distinguish between these models.“ Rouw/Scholte (2007), S. 792. 211 Hubbard (2007a), S. 194. 212 „Another possibility is that a ,one size fits allʻ approach may fail to capture the variability in synesthetic experiences. Different neural theories have focused on different types of synesthesia, […]. It is quite likely, […], that forms of synesthesia have different architectural substrates.“ Vgl. Hubbard (2007a), S. 194. 213 Vgl. Hubbard (2007b), S. 671f. 214 „Die funktionellen Veränderungen in der PET und fMRT zeigen nicht direkt die Aktivität des Nervengewebes [...], sondern die begleitenden Modifikationen des Stoffwechsels. [...] Die durch ihre Einfachheit so attraktive Idee, dass wir von nun an ein Verfahren besitzen, das wir nur in einer Reihe experimenteller Bedingungen anzuwenden brauchen, um schließlich zu einer langen Liste geistiger Funktionen eine andere ihr parallele Liste der Hirnstrukturen, [...] aufzustellen, erweist sich als [...] unrealistisch [...]. Und zwar auch deshalb, weil es die erste Liste nicht gibt.“ Kotchoubey (2004), S. 188f. [Herv. i.O.]
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aktivität als Funktion und Reaktion auf einen Reiz oder die im Experiment gestellte Aufgabe zu verstehen.215 Die geistigen Funktionen, so Kotchoubey, müssten vielmehr als Konstrukte betrachtet werden, die in der Zuordnung zu einer lokalen neuronalen Aktivität erst aus der Untersuchung selbst extrahiert und operationalisiert werden.216 In diesem Sinne gesteht auch der Neurologe Jeffrey Gray, dass die Beziehung zwischen bewusster Erfahrung und brain event, das mit den bildgebenden Verfahren abgebildet wird, neurowissenschaftlich weitgehend ungeklärt sei.217 In diesem Sinne liefern diese Techniken nicht einfach Beweise für die Realität des Synästhetischen, sondern bringen es erst hervor und bestimmen als technische Apparate dessen Ausformulierung und Definition. Apparativ und mathematisch generierte Bilder konstruieren Evidenzen, die über die wissenschaftliche Argumentation die Möglichkeiten des Diskurses selbst konstituieren.218 D.h. nur die mit bildgebenden Verfahren sichtbar werdenden Daten bestimmen die Konzeption des Synästhetischen. Erweitern diese Techniken einerseits die sichtbaren Bereiche unserer Wahrnehmung, so Dieter Mersch, so beschränken sie sie gleichzeitig durch ihre eigenen technischen Grenzen.219 Die daraus resultierenden bildlichen Daten selbst, seien keine einfachen Abbilder, sondern Ergebnis von Übersetzungsleistungen von Nichtvisuellem ins Visuelle, die einer eigenen Codierung und Zeichenordnung folgen.220 Wird ihnen jedoch eine direkte Abbildfunktion von Gehirnprozessen zugeschrieben, so stellen diese Bilder eine sichtbare, ihre Generierungsprozedur verdeckende Ordnung her, während hinter ihnen nicht im Bild erscheinende Algorithmen liegen. Die bildgebenden Verfahren, so Mersch, zeigen nicht das Gehirn bei der Arbeit, sondern „fußen [...] einzig auf der rechnergestützten Aufbereitung probablistischer Datenmengen, aus denen nicht selten unter Abschneidung extremer Werte und ‚Glättungen‘ etwas sichtbar gemacht wird, das einer graphematischen, 215 Ebd., S. 188. 216 Vgl. ebd., S. 189. 217 Vgl. Gray u.a. (1997), S. 173. Um diese Annahme zu beweisen, müsste getestet werden, ob die Stimulierung einer Hirnregion auch zu der mit ihr in Verbindung gebrachten Erfahrung führt. Esterman versuchte das zu realisieren, in dem er die für die Synästhesien verantwortlich gemachten Gehirnbereiche mittels Transkranieller Magnetstimulation bei zwei Grafem-Farbe-Synästhetikern gezielt störte, um eine Beeinflussung der synästhetischen Erfahrung nachzuweisen, wobei sich jedoch lediglich eine unspezifische Verminderung einstellte. Vgl. Esterman u.a. (2006) S. 1570. 218 Vor dem Hintergrund des ,pictorial turn‘, einer Wiederkehr der Bilder, von der Gottfried Boehm in den 1990er Jahren sprach, bezeichnet Dieter Mersch das als Krisensymptom einer Überproduktion von Bildern mit prekärem Status. Vgl. Mersch (2004), S. 95f. 219 Vgl. ebd., S. 96. 220 Vgl. ebd., S. 106.
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nicht visuellen Spur folgt“221. Daran anschließend stellt Mersch die Frage nach der Beziehung zwischen epistemischem und ästhetischem Status dieser Bilder und dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft.222 Denn beide treffen sich in der hermeneutischen Operation eines Deutens der Bilder, die in der wissenschaftlichen Praxis ebenso durch das Forschersubjekt wie durch historisch spezifische theoretische Vorannahmen und Paradigmen sowie kulturelle und mediale Diskurse determiniert ist.223 Letztlich müsste die entscheidende Frage der Hirnforschung, so Kotchoubey, nicht lauten, wo etwas lokalisiert sei, sondern was dort lokalisiert ist.224 In Erwägung gezogen werden muss dabei die Idee, dass Gehirne möglicherweise durch individuelle Erfahrungen in komplexen Interaktionen zwischen Kultur und Biologie einzigartig geformt werden und verallgemeinernde, normalisierende Kartografien von Strukturen und Funktionen nicht greifen.225 In der Sichtbarmachung des Synästhetischen mittels bildgebender Verfahren offenbart sich demnach ein grundsätzliches Problem neurowissenschaftlicher Forschung und Methodik, die davon ausgehen, dass subjektive Empfindungen objektiv quantifizierbare und zwischen verschiedenen Individuen vergleichbare Zeichen in der Hirnstruktur und -organisation produzieren. Das funktionelle „brain imaging“, so Cytowic, versucht letztlich „the subject’s state of mind“226 zu verifizieren. Dabei sei ungewiss, ob alle Menschen dasselbe sehen oder meinen, wenn sie z.B. ,rot‘ sagen.227 Erhalten subjektive Aussagen bei der Erforschung des Synästhetischen einen besonderen Stellenwert, in dem selbst Daten bildgebender Techniken nicht ohne die Angabe auswertbar wären, ob eine synästhetische Erscheinung im Experiment eingetreten ist oder nicht, so stellt es grundlegende Modelle und Annahmen neurologischer Forschung in Frage. 221 Ebd., S. 106. [Herv. i.O.] 222 Vgl. ebd., S. 97. 223 So resümiert Cytowic: „In fact, the history of synesthesia has been an increasingly unavoidable contradiction of traditional ideas about how the nervous system is organized.“ Cytowic (2003), S. 162. 224 Vgl. Kotchoubey (2004), S. 190. Ähnlich kritisch äußert sich Cytowic in Bezug auf Befunde zur Synästhesie: „Scans mislead us by emphasizing peak probabilities, which we misconture as fixedly anatomical. The answer to synesthesia will not be a ,where‘ but a ,what‘.“ Cytowic (2002b), S. 23. 225 So hat z.B. eine Studie von Stefan Kolesch aus Leipzig gezeigt, dass bei Berufsmusikern beim Hören von Musik ganz andere und größere Hirnbereiche aktiviert sind als bei Nicht-Musikern. Das würde bedeuten das auch andere besondere individuelle Fähigkeiten als Abweichungen in der Gehirnstruktur codiert seien und sich in der Summe Persönlichkeit im Gehirn, seiner Struktur und Funktionsweise manifestieren könnte. Vgl. Weinberger (2006), S. 36. Vgl. auch Ansari (2008), S. 278. 226 Cytowic (2003), S. 165. 227 Vgl. ebd., S. 164.
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Berührt das Synästhetische dabei das Problem des Bewusstseins und den subjektiven Aspekt der Wahrnehmung, so erscheint es wiederum als Schlüsselphänomen in Bezug auf die Dimension des Erlebens, die sich in der Neurowissenschaft als offene Frage der Übersetzung und Vermittlung einer subjektiven Innen- in eine Außenperspektive darstellt.228 In Anlehnung an den Philosophen Thomas Nagel und seine 1974 im gleichnamigen Aufsatz formulierte Frage „Wie ist es eine Fledermaus zu sein?“, warf z.B. Emrich die Frage auf: „Wie ist es, Synästhetiker zu sein?“.229 Synästhetiker, so Emrich, erzeugen virtuelle innere Objekte, die den eigenweltlichen, hermetischen Charakter von Wahrnehmung und ihre Verbindung mit Wissensprozessen, Gedächtnis- und Erinnerungsleistungen bewusst mache.230 Das Synästhetische liefert mit den Widersprüchen seiner Erforschung Hinweise, dass verschiedene Wissensformen, Rationalität und Emotionalität im Gehirn des Subjekts nicht voneinander zu trennen sind, wie es neurowissenschaftliche Konzepte oder die KI-Forschung suggerieren.231 In dieser Unvereinbarkeit mit Kriterien wissenschaftlicher Objektivität, Methoden und Modellen bildet das Synästhetische auch auf dieser Ebene eine Projektionsfläche für kulturelle Problemstellungen.
V.4 F ENSTER ZU D ENKEN , S PRACHE , K UNST UND K ULTUR . V ERVIELFÄLTIGUNG DER P ERSPEKTIVEN UND W AHRNEHMUNGSDESIGN Als Leitdisziplinen einer Wissensgesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlangten die Kognitions- und Neurowissenschaften mit ihren Forschungsbereichen, Themenfeldern und Modellen einen neuen Stellenwert für den kulturellen Diskurs. Über sie wurde daher das Synästhetische einer breiteren Debatte zugänglich. Mit den Widersprüchen und offenen Fragen liefert die neurowissenschaftliche Erforschung des Synästhetischen einen Faden, der in viele Richtungen weiter gesponnen werden kann und eröffnet einen Freiraum, der sich durch Sehnsüchte, Hoffnungen und Ideen besetzen lässt. Neuro- wie Geisteswissenschaften
228 Vgl. Dittmar (2007), S. 63. 229 Vgl. Emrich (1998), S. 127. Thomas Nagel initiierte 1974 die sogenannte ,Qualia-Debatte‘, in der es darum geht, ob eine subjektive Erfahrung wie Bewusstsein, objektiv zu beschreiben ist. Nagel argumentiert dass der Versuch sich vorzustellen eine Fledermaus zu sein, daran scheitert, dass wir nur auf unsere eigenen Erfahrungen zurückgreifen können, was es zwar ermöglicht, sich wie eine Feldermaus zu benehmen, aber das ,Fledermaus-Sein‘ an sich lässt sich nicht erfassen. Vgl. Harrison (2007), S. 228f. 230 Vgl. Emrich (1998), S. 127f. 231 Vgl. Pöppel (2000), S. 23.
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gleichermaßen stilisieren das Synästhetische zum Modell für Kreativität, Sprache, Denken oder Kunst. In der Vervielfältigung der Perspektiven lösen sich disziplinäre Grenzen ebenso auf, wie dualistische Setzungen von Natur- und Geisteswissenschaft, Kunst und Wissenschaft oder Mensch und Technik und kumulieren in einer die Wahrnehmung selbst designenden, synästhetischen kulturellen Praxis. Das Synästhetische markiert dabei eine Strategie der Grenzverwischung und -verschiebung, des Unterlaufens und der Auflösung von Oppositionen. So formulierten die Neurologen Vilayanur S. Ramachandran und Edward M. Hubbard die Synästhesien 2001 als „a window into perception, thought and language“232 und beschrieben sie im gleichlautenden Artikel als siebenmal häufiger unter kreativen Menschen, während jedoch grundsätzlich alle Menschen das Potenzial zu deren Ausbildung besäßen.233 Als universellen Mechanismus erhoben sie das Synästhetische zur Grundlage der Fähigkeit zur Abstraktion und ihrer evolutionären Entwicklung, zum Motor von Sprache und Denken.234 Damit öffneten sie nicht nur ein Fenster, sondern die ganze Fensterfront eines Mehrfamilienhauses, wobei der Ausblick von der jeweiligen Perspektive und dem Standort des einzelnen Fensters abhängt, ebenso wie der Blick von außen durch die offenen Fenster ins Innere des Hauses ein relativer und fragmentierter bleibt. Folgen Ramachandran und Hubbard bekannten Mustern des Synästhesiediskurses und lassen sich auf historische Vorläufer wie Werner, Wellek oder Anschütz zurückführen,235 in dem sie die ,scheinbar‘ individuellen Ausprägungen auf Gemeinsamkeiten reduzieren und deren Erklärung als ,eine Frage der Zeit‘ deklarieren,236 so lösen sie spekulativ eine Reihe von Widersprüchen neurologischer Befunde auf. Ihre These versteht das Synästhetische und seine Zuordnungsregeln als Ergebnis von Evolution und neuraler Hardware in Form von ,Querverdrahtungen‘ zwischen allen möglichen Verarbeitungsstufen, sensorischen Bereichen wie höheren
232 Ramachandran/Hubbard (2001b). 233 „Synaesthesia appears to be more common among artists, poets, novelists and creative people in general. Why? What is the link?“ Ebd., S. 5f. 234 „[…] synaesthesia is no mere quirk in some people’s brains; it has broad implications and may give us an experimental handle on elusive phenomena like metaphor, abstract thinking and the evolution of language.“ Ramachandran/Hubbard (2003a), S. 56f. 235 So interpretieren sie das Synästhetische z.B. als intermodale Analogie: „We all speak of certain smells – like nail polish – being sweet, even though we have never tasted them. This might involve close neural links and cross-activations between smell and taste, which can be thought of as a form of synaesthesia that exists in all our brains.“ Ramachandran/Hubbard (2003b), S. 52. 236 „We believe it is only a matter of time before analogous correlations and patterns emerge for the rules of cross-activation in synaesthesia.“ Ebd., S. 50.
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konzeptuellen Ebenen, die gleichermaßen die Wahrnehmung beeinflussen.237 Bei kreativen Menschen und Künstlern, so ihre Vermutung, seien diese Konzepte und Perzepte verbindenden Querverdrahtungen, möglicherweise auf Grund genetischer Anlagen, weitaus zahlreicher vorhanden.238 Ließen sich auf diese Weise ein anatomischer und genetischer Beleg für Künstlertum erbringen und verschiedene Synästhesieformen und Mehrfachsynästhesien erklären, so konnten Ramachandran und Hubbard diese cross-activations jedoch nicht beweisen. Vielmehr behaupteten sie bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgende Links zwischen verschiedenen Gehirnregionen, die nicht nur auf individueller Ebene wirksam seien, sondern in phylogenetischer Perspektive Kultur und ihre Praktiken, wie Sprache oder die Künste, hervorgebracht hätten. So basiere, laut Ramachandran, die Evolution der Sprache als nicht arbiträres Zeichensystem im Sinne einer „protolanguage“239 auf natürlich zwingenden Verbindungen von Klängen und Objekten sowie körperlichen Erfahrungen der Artikulation, Mund- und Zungenbewegungen und einer Synkinese von Hand- und Mundaktivität.240 Damit stellten sie Verknüpfungen von sensorischen Aktivitäten des Gehirns mit motorisch-körperlichen Prozessen und Bewegungen her, die ebenso an der Entwicklung von Sprache beteiligt seien. Als Beispiel dient dabei der Tanz als Übersetzung eines hörbaren Rhythmus in den Rhythmus der Bewegung.241 Die Urwörter und Urgesten der Menschheit als Beginn einer gattungsspezifischen Kommunikation konstituierten sich demnach aus der Kombination von Bewegungsund Klangmustern mit emotional bedingten Lautäußerungen, die auf die visuelle Erscheinung äußerer Objekte übertragen wurden.242 Wie Welleks „Ursynästhesien“
237 Vgl. Ramachandran/Hubbard (2003b), S. 50. 238 „If concepts are represented in brain maps just as percepts are, then cross-activation of brain maps may be the basis for metaphor and this would explain the higher incidence of synaesthesia in artists, poets and novelists (whose brains may be more cross-wired, giving them greater opportunity for metaphors).“ Ramachandran/Hubbard (2001b), S. 28. 239 Ebd., S. 19. 240 Vgl. ebd., S. 17. 241 „[…] we propose the existence of a kind of sensory-to-motor synaesthesia, which may have played a pivotal role in the evolution of language. A familiar example of this is dance, where the rhythm of movements synaesthetically mimics the auditory rhythm. This type of synaesthesia may be based on cross-activation not between two sensory maps but between a sensory […] and a motor map […].“ Ebd., S. 17. 242 Diesen Prozess bezeichnen die Autoren als synkinetic mimicry, die sich z.B. bei den Personalpronomen finden lasse, in dem bei ,you‘ die Lippenbewegung vom Körper weg in Richtung der anderen zeige, während bei ,me‘ die Lippenbewegung zur eigenen Person hin tendiere: „In this manner a primitive vocabulary of gesture and pantomime
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hob Ramachandrans und Hubbards Ausformulierung des Synästhetischen dessen kulturell wirksame Dimension heraus, die sich auf Denkmuster- und Wissensprozesse ausdehnt. So warfen sie insbesondere die Frage in den Raum, ob das Denken Sprache hervorgebracht oder die Sprache das Denken beeinflusst habe. Als Antwort postulierten Ramachandran und Hubbard anthropologisch verankerte multiple Mechanismen im Gehirn, seinem Aufbau und seiner Struktur, die evolutionär für sehr verschiedene Funktionen vorgesehen waren und als deren Ergänzung und Erweiterung Sprache zu verstehen sei.243 Zu diesen unveränderlichen Funktionen und genetisch veranlagten Mechanismen, die Evolution als Erschließung neuer Einsatzund Gebrauchsmöglichkeit erst hervorbringen, gehöre auch das Synästhetische, das damit wiederum die Zuschreibung einer ,ursprünglichen‘ Fähigkeit erhielt, die, als Option bei allen angelegt, bei Bedarf ausgebildet werden könne.244 Ramachandrans und Hubbards Entwurf des Synästhetischen als Triebwerk der Evolution, kulturell und individuell bedingte Anpassungsleistung, eröffnete, wie bereits Thesen von Cytowic, Emrich oder historischen Protagonisten wie Wellek und Anschütz, größere Spielräume und Zusammenhänge, die tief in kulturphilosophische, anthropologische und künstlerische Kontexte vordringen. Stellten Ramachandran und Hubbard den Bezug zu der Entwicklung von Medientechniken und -praktiken als kulturelle Leistungen selbst nicht vordergründig her, so verbirgt er sich in deren Terminologie und Wortwahl von Links, Bootstrapping, Maps und Syntax. Ihre Thesen verfolgend kann die Entwicklung von Medientechniken als Geschichte kultureller Leistungen der menschlichen Kommunikation betrachtet werden, die auf der Fähigkeit zu synästhetischen Transformationen beruht. Gleichermaßen erscheint das verstärkte Hervorbringen synästhetischer Wahrnehmungsformen wiederum als Anpassungsleistung des Menschen an medial sich wandelnde Umwelten. Und an dieser Stelle überschneiden sich Mediengeschichte, wissenschaftlicher Diskurs und künstlerische und kulturelle Praktiken im Synästhesiediskurs, der deren Abgrenzung und Unterscheidung auflöst und sie in ein permanentes Wechselverhältnis bringt. So ist es kein Zufall, dass das Synästhetische als Thema immer dann besonders intensiv auftritt, wenn wissenschaftliche Ordnungen und Paradigmen selbst zur could evolve through synkinaesia into a corresponding vocabulary of tongue/palate/lip movements [...].“ Ebd,, S. 21. 243 Vgl. ebd., S. 28. 244 Insofern könne das Synästhetische auch den Verlust sensorischen Inputs durch Modifizierung und Reorganisierung bestehender Verbindungen im Gehirn kompensieren. So berichten Ramachandran und Armel von einem retinitis pigmentosa-Patienten, der, mit 40 Jahren erblindet, zwei Jahre später visuelle synästhetische Erfahrungen bei taktilen Reizen an der Hand beschrieb. Vgl. Armel/Ramachandran (1999), S. 293. Das greift wiederum Ansätze der historischen Synästhesieforschung auf, die Erblindete verstärkt als Versuchspersonen auswählte.
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Disposition stehen. Das galt für die Zeit um 1900 ebenso, wie für die 1980er und 1990er Jahre, als die Forderung nach Inter- oder Transdisziplinarität in und zwischen den Wissenschaften laut wurde.245 Bernd-Olaf Küppers beschreibt die Bestrebungen, den Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaft im 20. Jahrhundert zu überwinden, in Anlehnung an Ernst Cassirer, als Versuch das Besondere nicht auf historische Einzigartigkeit zurückzuführen, sondern auf eine einzigartige Stellung im komplexen Beziehungsgeflecht der Wirklichkeit, aus dem sich das Besondere ausdifferenziert.246 Aus dieser Perspektive kristallisiert sich demnach das Synästhetische im Rahmen spezifischer kultureller Konstellationen erst als Besonderes heraus und verweist in seiner individuellen Ausprägung auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Verknüpfung und Transformation von körperlich-sinnlicher Erfahrung, Wahrnehmungs- und Denkprozessen. Sowohl als individuelle und einzigartige Erlebensweise als auch auf diskursiver Ebene wird das Synästhetische, Küppers weiter folgend, zum Grenzfall eines Differenzierungsprozesses, in dem sich das Besondere mit einer bestimmten Funktion in Bezug zum Allgemeinen formiert.247 Die Synästhesieforschung, sowohl natur- als auch geisteswissenschaftliche Disziplinen umfassend, versucht letztlich aus subjektiven Einzelfällen gesetzmäßig beschreibbare Mechanismen zu extrahieren, wobei alle beteiligten Disziplinen ihre eigenen Grenzen überschreiten. Daher kommt es, dass geisteswissenschaftliche Disziplinen sich immer wieder auf neurologische Befunde beziehen, während andererseits die neurologische Forschung genauso bemüht ist, Verbindungen zu philosophischen, geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Fragestellungen herzustellen. Ziel ist dabei immer die gegenseitige Versicherung über die grundsätzliche Existenz allgemeiner Sinnesentsprechungen und den multimodale, multisensorischen Charakter der Wahrnehmung. Paradigmatisch dafür kann die von Linguistik und Literaturwissenschaft geführte Auseinandersetzung mit der synästhetischen Metapher betrachtet werden, die in Kombination mit der psychologisch-neurologischen Forschung zum Ausdruck grundsätzlicher Sprach- und Wahrnehmungsmechanismen und einem Wissen um die Möglichkeit von Referenzen und Analogien in der Welt überhaupt instrumenta-
245 So beschreibt z.B. Olaf Küppers eine Entgrenzung der Wissenschaft jenseits einer Zweiteilung: „Betrachtet man die dualistische Wissenschaftsauffassung von der hohen Warte der modernen Wissenschaften, so lässt sich die strenge Unterteilung der Wissenschaften in Gesetzes- und Ereigniswissenschaften nicht mehr länger aufrechterhalten. Vielmehr ist es in den letzten Jahren verstärkt zu einer Entgrenzung und Überlagerung der Disziplinen gekommen, die die Zweiteilung der Wissenschaften in einem neuen Licht erscheinen lässt.“ Küppers (2000), S. 96. 246 Vgl. ebd., S. 95. 247 Vgl. ebd., S. 97f.
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lisiert wird.248 So betrachtete Sean Day synästhetische Metaphern als kulturelle und linguistische Formungen, die als Schlüsselkonzepte universellen und extrahierbaren Zuordnungsmustern und -regeln gehorchen.249 Weit mehr als nur sprachliche Figur werden (synästhetische) Metaphern in dieser Perspektive zur Verkörperung der Generierung von Bedeutung und Prozessen des Verstehens, zur Denkfigur und Grundlage der Abstraktion.250 Metaphern, und insbesondere synästhetischen Metaphern, seien demnach nicht arbiträr, sondern folgen der Wahrnehmungsrealität und wurzeln in der körperlichen Erfahrung.251 Geht es dabei um die Klärung des Zusammenhangs von Wahrnehmung und Sprache, so werden insbesondere interkulturelle Vergleiche zum Einfluss relevanter biologischer und kultureller Faktoren bedeutsam. Eine Reihe von Untersuchungen lassen sich aufzählen, die anhand von z.B. literarischem Material, die Verankerung synästhetischer Metaphern in der Wahrnehmungserfahrung nachzuweisen versuchen, kulturelle Vergleiche und Ranglisten der Sinne und Häufigkeiten synästhetischer Sinneszuordnungen erstellen und diese mit der Brille neurophysiologischer Befunde und Methoden auswerten.252 So kamen 248 Sabine Gross argumentiert z.B., dass Übereinstimmungen synästhetischer Metaphern in verschiedenen Sprachen, wie ‚schreiende Farbe‘, englisch screaming colo[u]rs, französisch couleurs criardes, spanisch color chillón, italienisch colori stridenti anders nicht erklärt werden könnten. Vgl. Gross (2002), S. 63. 249 Vgl. Day (1996a), S. 1ff. 250 So argumentiert Ning Yu: „This theory holds that metaphor is pervasive and ubiquitous in everyday language and thought, rather than just a rhetorical device of poetic imagination […]. […] human meaning and understanding are embodied, constrained by the kind of body we have and how it functions. […] It is the main mechanism through which abstract concepts are comprehended and abstract reasoning is performed. One cannot think abstractly without thinking metaphorically. […] Metaphorical mappings are not arbitrary, but grounded in the body and bodily experience in the physical and cultural world.“ Yu (2003), S. 19f. 251 Diese Interpretation des Synästhetischen schließt an den Bereich der semantischen Universalienforschung an, deren Beginn Berlin und Kay 1969 mit Basic Color Terms und der Frage nach der Universalität von Farbnamen in verschiedenen Sprachen markierten. Stand dahinter letztlich die Frage, ob Farben von allen Menschen gleich wahrgenommen werden, so galt es zudem zu klären, ob Bedeutung durch Aspekte der Wahrnehmung, der Kognition, der Umwelt oder nur durch arbiträre linguistische Konventionen einer bestimmten Sprache determiniert ist. Dabei stellten Berlin and Kay die Hypothese auf, dass es ein universelles Inventar von elf Basisfarbkategorien gäbe. Vgl. Kay/Regiel (2003), S. 9085ff. 252 So untersuchte Stephen Ullmann bereits 1957 in The principles of semantics französische, englische und amerikanische Poeten des 19. Jahrhunderts und stellte fest, dass der Transfer häufiger vom niedrigeren zum differenzierteren Sinn verlaufe, Tasten am häu-
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z.B. Yeshayahu Shen und Ravid Eisenman zu dem Ergebnis, dass das Verbinden von niederen zu höheren Sinnen über Sprachen und Kulturen hinaus ein generelles Muster beim Gebrauch synästhetischer Metaphern sei, da Geruch, Schmecken und Tasten, als stärker erfahrungsbasiert und körpernah, abstrakte Objekteigenschaften sinnlich konkret erfahrbar machen könnten.253 Unter Vermeidung einer Hierarchisierung und Kategorisierung der Sinne erhob dagegen Carmen Bretones Callejas das Synästhetische zur Grundlage aller Metaphern, die sie als in Sprache eingegangene körperbasierte Wahrnehmungserfahrung und grundsätzliche Verkörperung unseres Denkens versteht.254 Als Transformationen der sensorischen Logik auf das semantische Level seien sie Ausdruck komplexer Szenarien, relativer Bedeutungen und Konzeptualisierungen des Unbekannten und Abstrakten.255 Die prinzipielle Verlinkung der Sinne fuße dabei in der Natur der Wahrnehmung, sei jedoch nur über die jeweils wahrgenommene Bedeutung zugänglich.256 Derartige, z.T. aufwendige und gelegentlich hinterfragbare Analysen synästhetischer Metaphern gewinnen wiederum an Kontur aus der Perspektive der Vermittlung taktil-körperlicher Erfahrung in gängigen Medienpraktiken, die gegenwärtig noch überwiegend mittels Hören und Sehen agieren. Denn Konzepte von virtueller Realität werfen im Sinne der Einbezogenheit v.a. die Frage auf, wie direkte körperliche, haptisch-taktile Erfahrungen, Geruch und Geschmack involvierbar sind.257 Deutungen synästhetischer Metaphern als verkörperte Erfahrung bieten im Sinne einer romantisch-imaginativen Konzeption des Synästhetischen die Aktivierung affektiv-sinnlicher Komponenten mittels Sprache an, die sich zwar vorranging im textuellen Modus realisiert, aber im Sinne einer medialen Einheitsutopie des Digitalen in virtuelle Welten ebenso integrierbar ist. Gleichzeitig finden sich Thesen gegen eine Verwurzelung der Sprache, und damit der sprachlichen Synästhesien, in der körperlichen Erfahrung in Form einer semiotischen Position, die Sprache als arbiträres Zeichensystem versteht und deren kulturelle Determination hervorhebt. Dabei werden die Synästhesien auslösenden Reize zu Zeichen, die als konventionelle, kulturell besetzte Bedeutungsträger, wie Buchstaben und Zahlen, mit Sinn verknüpft sind oder auf diesen verweisen.258 Dafigsten die Quelle und Klang der größte Empfänger synästhetischer Formulierungen sei. Classen erstellte 1993 ein Ranking der in englischen, synästhetischen Metaphern angesprochenen Sinne, nach dem Hören am häufigsten synästhetisch generiert werde, gefolgt von Sehen, Riechen, Schmecken zu Tasten. Vgl. Day (1996a), S. 10f. 253 Vgl Shen/Eisenman (2008), S. 101ff. 254 Vgl. Bretones Callejas (2001), S. 1ff. 255 Vgl. ebd., S. 1ff. 256 Vgl. ebd., S. 8. 257 Spielekonsolen arbeiten bereits mit Vibrationen des Joy-Stick oder Controllers. 258 Vgl. Posner/Schmauks (2002), S. 8.
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hingehend interpretierten Dagmar Schmauks und Roland Posner das zunehmende Interesse am Synästhetischen mit einer steigenden Anzahl, Spezialisation und Komplexität von Zeichensystemen und damit verbundenen Praktiken in der kulturellen Entwicklung, wie Lesen und Schreiben, die sich zwischen den Menschen und die sinnlich erfahrbare Welt schieben würden.259 Diese Reduktion sinnlicher Erfahrungen und die damit verbundene Hierarchisierung und Disziplinierung der Sinne führe zu einer sensorischen Deprivation, einem Verlust realer Empfindungen, der durch aus intellektuellen Projektionen resultierende, synästhetische Sekundärempfindungen ausgeglichen werde.260 William Edmondson steigerte diese verlustrhetorische Konzeption des Synästhetischen als Kompensationsmechanismus mangelnder sinnlicher Erfahrung noch, insofern er es in Farbige Buchstaben: Synästhesie und Sprache als Negation einer wie auch immer gearteten Intersubjektivität der Wahrnehmung oder Objektivität der Kommunikation wertete.261 Die Synästhesien in ihrer individuellen Ausprägung zeigten letztlich nur die Subjektivität von Wahrnehmungswelten und widerlegten die Existenz eines gemeinsamen Zeichensystems oder gemeinsamen Codes von Kommunikationspartnern.262 Sprache sei vielmehr nur Interpretation aus der Perspektive bestimmter Kontexte oder Umwelten, der Akt des Sprechens eine dynamisch und sozial hergestellte Handlung, bei der außersituative Faktoren, Begleitverhalten und Kontexthinweise des Sprechers dem Hörer Deutungshinweise vermitteln.263 Grundlage der Möglichkeit von Kommunikation sei, Edmondson zu Folge, demnach weder die Sprache, noch die Wahrnehmung, sondern die Fähigkeit zum Kontextualisieren von Informationen.264 Paradoxerweise ist diese Deutung des Synästhetischen aus dem Blickwinkel einer medial basierten digitalen Kultur nicht weit von dessen Interpretation als in Sprache verkörperte Wahrnehmungserfahrung entfernt, referiert jedoch nicht auf eine eindimensionale, analoge mediale Ebene, wie den Text, sondern auf Konzepte der Intertextualität und Intermedialität, in denen sich Sinn erst im performativen Verknüpfen verschiedener Bedeutungs- und Repräsentationsebenen herstellt. Der Körper erhält hierbei eine ebenso exponierte Position wie bei der synästhetischen Metapher, jedoch nicht im Sinne leiblicher Erfahrung als Produzent von Bedeutung 259 Vgl. Posner/Schmauks (2007), S. 169. 260 Dabei interpretieren Posner und Schmauks, den schon um 1900 immer wieder geäußerten Befund, dass synästhetische Formulierungen häufiger in primitiven Kulturen zu finden seien, als Beleg dafür, dass in früheren Zivilisationsstufen die Bedeutung der Worte, mit denen Wahrnehmung beschrieben wird, noch nicht auf eine einzelne Sinnesmodalität beschränkt und in Zeichensysteme ausdefiniert sei. Vgl. ebd., S. 169ff. 261 Vgl. Edmondson (2002), S. 51. 262 Vgl. ebd., S. 62. 263 Vgl. ebd., S. 57ff. 264 Vgl. ebd., S. 61.
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für das Subjekt, sondern vielmehr als Zeichenträger und Vermittler von Bedeutung für ein Gegenüber in Kommunikationsprozessen. In der künstlerischen Produktion und Rezeption treffen diese vermeintlichen Dichotomien aufeinander. So entwerfen beispielsweise neuere literaturwissenschaftliche Betrachtungen die Synästhesien als poetisches Stilmittel und Ausdruck individueller Kreativität und Originalität jenseits der Alltagssprache und Wahrnehmungsrealität, die aber permanent auf diese referieren.265 Entfaltet Literatur in ihrer Fiktionalität ein wahrnehmungsüberschreitendes und -unterlaufendes Potenzial von Sprache, Sabine Gross folgend, so erschwert sie automatisierte Wahrnehmungsvorgänge und bringt, auch in Form von Synästhesien, ein neues Sehen der Dinge hervor, das etablierte Muster aufbrechen und gängige Setzungen und Zuschreibungen, wie die Hierarchisierung und Trennung der Sinne unterlaufen und bewusst machen kann.266 Als literarische Stilfigur erhielt das Synästhetische im Diskurs wiederum eine eigene Geschichte, die Peter Utz als Gegenbewegung zum Wahrnehmungsdiskurs der Aufklärung und einer daraus folgenden Sinnendisziplinierung in Form einer utopischen Egalisierung der Sinne im Text beschrieb, die die Ordnung des Diskurses in Frage stelle.267 Brigitte Gustovic entwickelte das Synästhetische dagegen als ein in der Romantik sich etablierendes Modell von Intertextualität, nach dem der Text und sein Sinn sich in der Integration verschiedener Sinnesmodalitäten und mehrerer, mittels literarischer Sprache abgebildeter Dimensionen von Musik- und Bildzi-
265 In diesem Sinne beschrieb Viktor Sklovskij die poetische Funktion sprachlicher Synästhesien: „Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ,Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozess ist in der Kunst Selbstzweck und muss verlängert werden.“ Sklovskij zit. nach Gross (2002), S. 79. 266 Vgl. Gross (2002), S. 79. 267 Vgl. Wanner-Meyer (1998), S. 14. Dabei führt z.B. Wanner-Meyer die bekannte Ahnenreihe von der geistlichen Lyrik des Barock, über die Mystischen Traktate von Jakob Böhme, Athanasius Kirchers Musurgia Universalis, Newtons Optik, Castell, die Romantik und Herder in ihrer Geschichte der Synästhesie. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hätte sie sich zum Ausdruck von Problemen des Subjekts gewandelt und verlor an dessen Ende an Kraft, in dem sie nur noch in Zuständen der Ekstase, Drogenerfahrung als Zusammenspiel der Sinne als harmonisch erfahrbar sei. Im 20. Jahrhundert sei sie ein Modus der Präsentation von Kunstwerken und der Vermischung der Künste. Vgl. Ebd., S. 15, 150ff.
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taten selbst erst konstituieren.268 Damit übertrug Gustovic eine Deutungsperspektive des Synästhetischen als künstlerisches Konzept und Modell von Intertextualität und Intermedialität auf die Romantik, das dem Synästhesiediskurs der 1960er Jahre entspringt und im Rahmen einer digitalen Kultur Relevanz entfaltet. An diesen hier kurz dargestellten Positionen zeigt sich, in wie weit sich die Perspektiven, historischen Bezugnahmen und Projektionen des Synästhetischen im Austausch zwischen den Wissenschaften und Künsten vervielfältigen, aktualisieren und mischen, gebunden an sich ebenso vervielfältigende und multiplizierende Medientechniken und -praktiken, die immer mehr dazu tendieren, sich den ganzen Menschen mit all seinen Sinnen und Emotionen einzuverleiben. So verschieden die Ausformulierungen des Synästhetischen erscheinen, so vereinen sie sich in der Verhandlung, Theoretisierung und Problematisierung eben dieser neuen Wahrnehmungserfahrung des digitalen Zeitalters, die es als ein Imaginäres einer mehrfach medialisierten Kultur hervortreten lassen. Versuche einer strikten Trennung natur-, geistes-, medienwissenschaftlicher und künstlerischer Zugänge sind deshalb fehl am Platz, denn sie verkennen den kulturell determinierten und konstruktiven Charakter aller Entwürfe des Synästhetischen. Dabei wirkt der Synästhesiediskurs mit seinen Ausformulierungen und Konzeptionen auf alle Bereiche kultureller Praxis zurück. Das zeigt sich prägnant in der Arbeit von Michael Haverkamp, der sich als Spezialist für multisensuelle Harmonisierung, Fahrzeugakustiker und Sounddesigner bei den Fordwerken sowohl theoretisch wie praktisch mit audiovisuellen Verknüpfungen und synästhetischem Design beschäftigt. Ausgehend vom Phänomen der Synästhesie und seiner theoretischen Beschreibung entwickelte Haverkamp ein Modell multisensorischer Kopplungen, das für Fragen des industriellen Produkt- und Geräuschdesigns anwendbar ist, wobei der Verkaufswert des Produktes im Vordergrund steht.269 Unter dem Aspekt klangdesignerischer Fragen versteht er die verschiedenen Formen und Dimensionen intersensorieller Verknüpfungen als graduelle Unterschiede, die jedoch mit unterschiedlichen, für praktische Anwendungen bedeutsamen Strategien verbunden sind.270 Das von Haverkamp vorgeschlagene Modell umfasst fünf Ebenen der Sinneskopplungen, die sich nach dem Grad der willentlichen Beeinflussung und bewussten Zuordnung von spontan bis zur bewussten Konstruktion unterscheiden: die Synästhesie, die intermodale Analogie, die Assoziation, Symbol/Metapher und die 268 Vgl. Gustovic (2003). 269 „Geht es jedoch um den Verkaufswert eines Produktes, so lassen sich aus den technischen Merkmalen allein keine hinreichenden Kriterien dafür ableiten. Hier ist die subjektive Bedeutung für den Kunden von maßgeblicher Bedeutung. Zur optimalen Platzierung eines Produktes am Markt ist die Phänomenologie der Wahrnehmungserscheinungen daher von entscheidender Bedeutung.“ Haverkamp (2002), S. 116f. 270 Vgl. Haverkamp (2006), S. 33f.
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mathematisch-physikalische Verknüpfung.271 Dabei können Verbindungen verschiedener Sinnesbereiche im Subjekt unabhängig voneinander auf mehreren Ebenen zeitgleich erfolgen und identische oder widersprüchliche Resultate hervorbringen, die bewusst akzeptiert, kombiniert oder verworfen werden.272 Weist Haverkamp explizit auf den Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse vereinfachenden und schematisierenden Charakter seines Ebenenmodells hin, so ermöglicht es die Integration aller maßgeblichen Strategien, Zuordnungsmuster und Praktiken der Verknüpfung, die unter dem Label des Synästhetischen subsummiert werden, erfasst aber zugleich deren unterschiedliche Fokussierung.273 Für Anwendungskonzepte im Sinne von Produkt- und Geräuschdesign wird das Modell, laut Haverkamp, insofern wirksam, als eine Optimierung der Zuordnung auf allen Ebenen den idealen Vermarktungs- und Verkaufsstatus eines Produktes verspricht, in dem z.B. dessen Form oder Geräusch sowohl gemäß intermodaler Analogie, assoziativ, metaphorisch-symbolisch als auch physikalisch-mathematisch zu ihm passt.274 Das Blinkergeräusch eines Autos sei demnach in Abstimmung mit der Optik des Blinkhebels zu designen oder die Karosseriefarbe dem Motorgeräusch anzugleichen. Als Fundus werden dabei auch künstlerische Kombinationen optischer und akustischer Ereignisse ,angezapft‘ und in die Auswertung einbezogen, um ein möglichst ganzheitliches, alle Sinne ansprechendes Produkt zu generieren, dass in Konkurrenz mit 271 Als intermodale Analogie versteht Haverkamp die Fähigkeit Zuordnungen von Tonhöhe und Helligkeit vorzunehmen, die vom Kontext beeinflusst ist und auf intersensoriellen Eigenschaften basiert, wie sie von Hornborstel und Werner formulierten. Die konkrete, gegenständliche Assoziation beschreibt eine Verbindung verschiedener Sinnesbereiche, die oft zusammen wahrgenommen werden oder in charakteristischen Eigenschaften einander ähneln. Symbol und Metapher sind auditiv-visuelle Verknüpfungen, die unter Bezug auf den symbolischen Gehalt und die Bedeutung, von Geräuschen und visuellen Attributen besonders in Literatur und Kunst entstehen. Hier verortet er auch eine kulturell determinierte Farbsymbolik, die z.B. bei der akustischen Unterstützung von Warnsignalen wichtig ist. Die mathematisch-physikalische Verknüpfung schließlich meint die bewusste, mathematisch und physikalische Setzung der Zuordnung auditiver und visueller Erscheinungen, wie sie z.B. bei der Farblichtmusik zum Einsatz kommt. Vgl. ebd., S. 48ff. 272 So müsse eine künstlerische Zuordnung nicht auf synästhetischem Empfinden basieren und andererseits der Künstler seine möglicherweise vorhandene synästhetische Wahrnehmungen nicht zwangsläufig in das Kunstwerk integrieren. Vgl. ebd., S. 35f. 273 Vgl. ebd., S. 68. 274 „Im modernen Industriedesign kommt der genauen Anpassung des Produkts an die Wünsche des Kunden entscheidende Bedeutung zu. Dazu ist es wichtig, alle vom Kunden wahrnehmbaren Attribute des Produkts möglichst genau auf dessen Erwartungen abzustimmen.“ Haverkamp (2002), S. 115. [Herv. i.O.]
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identischen Produkten anderer Hersteller wiederum Marktvorteile verspricht.275 Lassen sich diese Ideen an die Ästhetik des Bauhauses anschließen, so transformieren sie diese auf eine neue Stufe im kulturellen Diskurs. Denn es geht nicht mehr nur um die Gestaltung von Objekten, Möbeln, Gegenständen oder Autos, sondern, unter dem Label der Nutzerfreundlichkeit, um das menschlicher Wahrnehmung möglichst angenehme und nahe kommende Design von Schnittstellen in MenschMaschine-Interaktionen und technischen Medien, die wiederum Wahrnehmungsmuster und Medienpraktiken prägen. Damit zielt das Ganze letztlich auf das Designen und Optimieren der Wahrnehmung selbst. So könnte, laut Haverkamp, die bisher ungeklärte Bedeutung der synästhetischen Ebene seines Modells ein Reservoir an anthropologischen, elementaren, in unbewussten Bereichen liegenden, visuellen und auditive Grundmusters und -formen mit kognitiver, erkenntnistheoretischer Relevanz aufdecken, die nicht nur bei der Vermarktung von Produkten sondern in einer Vielzahl von praktischen Anwendungen zum Einsatz kommen könnten.276 Als Sichtbarwerden allgemeiner Mechanismen der Wahrnehmung steht das Synästhetische zwischen der Instrumentalisierung als ganzheitliches, leibbasiertes Wahrnehmen und Empfinden und dessen Implementierung in Medientechniken. So nähert sich z.B. Karl Clausberg dem Synästhetischen in der Parallelisierung mit anthropologisch-kulturgeschichtlichen Phänomenen und Diskursen der Aura und des Ausdrucks im Anschluss an Walter Benjamin, Karl Bühler oder Ludwig Klages an, die sich historisch zeitgleich als Problem- und Verhandlungsfelder menschlicher Wahrnehmung und Kommunikation entwickelten.277 Die Synästhesien seien, laut Clausberg, im 19. Jahrhundert für eine Semiotik des Ausdruckshaften und die Einsicht bedeutsam gewesen, dass der Beobachter in seiner kulturellen und körperlichen Verfasstheit als Interpretierender der Zeichen eine Rolle spiele.278 „[D]ie Bedeutung einer Semiotik der Synästhesien“ reiche „aber noch wesentlich weiter: Transmodal-synästhetische Zeichenlehren sind Kernelemente jedweder Bio-Semiotik“ und rücken „ein Forschungsfeld ins Visier, das derzeit unter einem besonders griffigen Generalnenner zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ausgelotet und 275 „Aus Versuchen der Transformation musikalischer Struktur in Farbe und Form [...] kann das beste Vorgehen bei der Ermittlung des zum Fahrzeuggeräusch optimal passenden Designs ebenso abgeleitet werden, wie literarische Vorlagen Hinweise zur verbalen Beschreibung der Schallwahrnehmung liefern.“ Ebd., S. 116. 276 Haverkamp führt z.B. die Visualisierung von Geräuschphänomenen, die musikwissenschaftliche Analyse und die Ausarbeitung musikalischer Notationssysteme an. Vgl. Haverkamp (2006), S. 69. Zu nennen sind aber v.a. digitale Technologien wie die Google Glass. 277 Vgl. Clausberg/ Bisanz/ Weiler (2007), S. 4. 278 Vgl. Clausberg (2007), S. 41.
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verhandelt wird: Verkörperung/Embodiment“279. Embodiment, das Bewusstsein als nicht ohne einen Körper denkbar beschreibt, der sich in ständiger Wechselwirkung mit der Psyche befindet, referiert u.a. auf Ansätze von Jakob Johann von Uexküll, der in seiner Umweltlehre von 1909, Leben als komplexen biologischen, auf Zeichen basierenden Interaktions- und Kommunikationsprozess zwischen Organismus und seiner Umwelt verstand, oder die Leibphänomenologie Merleau-Pontys. Hatte bereits Merleau-Ponty seine Phänomenologie der Wahrnehmung in enger Tuchfühlung mit medialen Praktiken des Films entwickelt, so schließen sich seit einigen Jahren die Kognitionswissenschaften an die Idee der Verkörperung an. Die tradierte Gegenüberstellung von Leiblichem und Technischem löst sich dabei auf und verdichtet sich in gleichermaßen auf ganzheitliches Empfinden und neue Visionen der Mensch-Maschine-Interaktion rekurrierenden Konzeptionen des Synästhetischen. Das Leibliche wird technisch und das Technische leiblich. So entwickelte z.B. Gernot Böhme 2002 ausgehend von Merleau-Ponty und der Idee der Verkörperung in Synästhesie im Rahmen einer Phänomenologie der Wahrnehmung die Synästhesien als Element einer Theorie der Atmosphären, die sich im Rahmen der hier entwickelten Thesen als Anleitung zum Wahrnehmungsdesign virtueller, den Nutzer in seiner Körperlichkeit und Emotionalität einbeziehender Räume lesen lässt. Mit Atmosphären beschreibt Böhme Momente der Unbestimmtheit und vorübergehenden Orientierungslosigkeit in einer neuen Situation, aus denen sich nach und nach ein konkretes Wahrnehmungsbild ergibt.280 Das Synästhetische interpretierte Böhme als konstituierendes Element der Atmosphärenwahrnehmung, als Element des eigenleiblichen Spürens, das, in einer undifferenzierten, vor der Wahrnehmung stehenden Erlebnisweise nach außen ausstrahlt und in die Atmosphäre einfließt.281 Bei der gezielten Provokation von Synästhesien in künstlerischen und ästhetischen Kontexten könnten sich sinnlich spezifische Daten deshalb wechselseitig vertreten.282 Diese Funktionsweise lässt sich ebenso auf künstliche,
279 Clausberg/ Bisanz/ Weiler (2007), S. 12. 280 So beschreibt er z.B. Atmosphären mit gesellschaftlichem Charakter, synästhetischem Charakter (Wärme, Kälte, Helligkeit), kommunikativen Charakter (gespannt, ruhig, feindlich) oder bewegungsanmutenden Charakteren (drückend, weit), die sich auch überschneiden können. Vgl. Böhme, Gernot (2002), S. 46f. 281 Dabei bezieht er sich auf den Philosophen Hermann Schmitz, der 1968 eine Theorie der synästhetischen Charaktere vorschlug, die sinnliche Wahrnehmung, eigenleiblichen Spürens und leibliche Kommunikation verbindet. Vgl. Böhme, Gernot (2002), S. 51ff. 282 Vgl. ebd., S. 55. „[...] in der Erzeugung des Charakters der Kälte kann [...] das Blau durch glatte abweisende Oberflächen ersetzt werden, oder [...] durch versachlichte Umgangsformen oder vielleicht auch nur durch eine bestimmte grelle Beleuchtung mit eingeschränktem Frequenzbereich. Die Kunst [...] des ästhetischen Arbeiters besteht darin,
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virtuelle und medial hergestellte Räume übertragen, die in Anlehnung an synästhetische Mechanismen die leibliche und sinnliche Affizierung des Users garantieren. Der Russe Bulat Galeyev, der zur Synästhesie eine Reihe von Artikeln in Russisch verfasste, die wenig Widerhall in westlichen Forscherkreisen fanden, sieht genau in diesem ästhetische, künstlerische und künstliche Welten generierenden Bereich die eigentliche Domäne des Synästhetischen.283 Synästhesie sei, ihm zu Folge, „die Fähigkeit, in seinem Bewusstsein sichtbare und hörbare Phänomene zu verbinden [...], die jeder besitzt“284, und habe als co-imagination oder co-feeling, als essentielle Operation des Denkens, Element alltäglicher Kommunikation und Form des nonverbalen, metaphorischen Wissens Auswirkungen auf die gesamte Kultur und die Kunst.285 Die Verstärkung der ,Synästhetizität‘ in den Künsten seit den 1980er Jahren betrachtet er dabei als Indikator einer neuen Synthese, die Ergebnis der Computertechnologie und Medienindustrie sei.286 Ähnlich plädierte Cretien van Campen in The hidden sense. On becoming aware of synesthesia für eine kulturelle und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Synästhetischen als soziale und kulturell determinierte Interaktion.287 Im Sinne Merleau-Pontys versteht er das Synästhetische als in der bewussten Wahrnehmung, die die Sinne als getrennt erscheinen lässt, verschwindenden Mechanismus, während Synästhetiker einen versteckten Sinn zwischen den Sinnen als individuelle Fähigkeit entwickelt hätten.288 Durch Training und Konzentration könne sich jedoch jeder seiner synästhetischen Fähigkeiten bewusst werden, in dem er auf sensorische Korrespondenzen achtet, wie z.B. den Rhythmus im Film.289 Mediale Wahrnehmungserfahrungen sind demnach geeignet, synästhetische Erlebnisweisen zu stimulieren, wie es bereits Merleau-Ponty, aber auch Marshall McLuhan prophezeiten. Umgekehrt verdichtet sich im Synästhetidiesen Zusammenhang und die wechselseitige Substituierbarkeit von Erzeugenden zu kennen und sie entsprechend einzusetzen.“ Böhme zit. nach Wohler (2010), S.170f. 283 „Synaesthesia is the essential feature of art thinking, […].“ Galeyev (1999b). 284 Galeyev zit. nach Harrison (2007), S. 235. 285 Vgl. Galeyev (1999b), Galeyev (1999a). 286 Vgl. ebd. 287 „Nonetheless, the wide variety in types of reported synesthesia shows a cultural bias. As far as I know, no synesthete has reported odored-taste synesthesia, since that is common experience in Western culture. […] But Western synesthetes would report colored-smell synesthesia, which is generally uncommon in Western culture. Conversely, the Desana in the Amazon area commonly experience smell in color (,color energies‘), and so they would not report that as an uncommon synesthesia.“ Van Campen (2009a), S. 6f. 288 „Synesthesia is hidden in the senses. To experience it consciously, you will have to explore and go looking for it. [...] Synesthesia operates in the area between the senses.“ Ebd., S. 6f. 289 Ebd., S. 7f.
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schen eine spezifische, medial kompatible Wahrnehmungsform, die, als außergewöhnliche Begabung, von einer Aura und Rätselhaftigkeit umgeben, mystifiziert wird.
V.5 D ER GEBORENE K ÜNSTLER . D AS KREATIVE P OTENZIAL UND SEINE M YSTIFIZIERUNG Hinter den Ausformulierungen des Synästhetischen seit den 1980er Jahren schält sich das Ideal eines neuen Menschen in medialisierten, digitalisierten Welten heraus, für den das Modell des Künstlers in Anschlag gebracht wird. Der synästhetische Künstler, der Kreativität mit Wissen, emotionaler Kompetenz und Empathiefähigkeit paart, wird zur geeigneten Metapher eines users, der Situationen und Spielräume des Realen wie Medialen in wechselnden Identitäten und accounts auslotet. Das Changieren des Synästhetischen zwischen Wissenschaften und Künsten motiviert seit etwa der Jahrtausendwende interdisziplinäre Konferenzen, bei denen Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen mit Künstlern zusammentreffen. Thematisch bewegen sich diese Kongresse, wie schon bei Anschütz, im Spannungsfeld verschiedener Disziplinen und künstlerischen Ansätzen und Praktiken, die ihre jeweiligen Definitionen und Konzeptionen des Synästhetischen präsentieren.290 Anwesend sind bezeichnenderweise immer Synästhetiker, die über ihre fremdartige Welt berichten, häufig in Form eigener künstlerischer Arbeiten, wie Anschütz’ Farbe-Ton-Forschung es bereits praktizierte. In ,Synästhesie-Cafés‘ und im Internet bildet sich eine community heraus, die ihre außergewöhnlichen Erfahrungen mittels digitaler Technik zunehmend Nicht-Synästhetikern vermitteln kann. Fungieren Synästhetiker als ,lebende Beweise‘ für ein Phänomen, das neurowissenschaftlich bis heute fragwürdig und nur im subjektiven Erleben zugänglich ist, so werden mit ihren Vorträgen und Präsentationen ihre kreativen Potenziale in den Vordergrund gestellt. So fand z.B. vom 22. bis 24. Oktober 2010 eine internationale Konferenz
290 So richtete Emrich 2003 die Konferenz Synaesthesia meets Science, Arts and Philosophy an der Medizinische Hochschule in Hannover aus. 2008 gab es die Ausstellung und Konferenz Synesthesia: Art and the Mind des McMaster Museum of Art in Zusammenarbeit mit dem Department für Psychologie der McMaster University in Kanada. Unter dem Titel See this Sound fanden 2009 eine Ausstellung und ein Symposium in Linz statt, die auf der Website http://www.see-this-sound.at [letzter Zugriff 25.10.2016] und in zwei Publikationen dokumentiert sind. Vgl. Daniels/Naumann (2010), Rainer/ Rollig/Daniels (2009). Das ArtLaboratoryBerlin veranstaltete im Juli 2013 die Tagung Synaesthesia. Discussing a Phenomenon in the Arts, Humanities and (Neuro-)Science.
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unter dem Titel Synaesthesie and Kinaesthetics am Zentrum für Literaturforschung in Berlin statt, bei der, neben Vertretern neurologischer Disziplinen, Literatur-, Musik-, Kunst-, Tanz-, Theater- und Medienwissenschaftlern, die synästhetischen Künstlerinnen Kate Hollet und Ditte Lyngkær Pedersen über ihre Arbeit und die Einflüsse ihrer speziellen Wahrnehmung berichteten.291 So widersprüchlich und vielfältig sich die disziplinären Herangehensweisen an das Synästhetische auf dieser Konferenz präsentierten, so konvergierten sie in einem wesentlichen Punkt, der bisher in der Synästhesieforschung kaum Berücksichtigung findet: Alle Beiträge stilisierten das Synästhetische als eine außergewöhnliche Begabung, ein wie auch immer geartetes Reservoir an Kreativität und Sensibilität, was, ohne dass die Vortragenden selbst diesen Bezug herstellten, erst aus der Perspektive einer digitalen Kultur sinnfällig erscheint. Im Synästhetischen verdichten sich Wahrnehmungsund Wissensstrategien, die als soft skills perfekt den Anforderungen an das Subjekt in mehrfach überlagerten und sich durchdringenden Realitäten und multimedialen Environments entsprechen. Für diese Deutung sprechen Gedanken wie die von Jeffrey Gray, der das Synästhetische als eine neue Fähigkeit des Menschen in der Evolution versteht und eine „terra incognita“ visioniert, „deren Erkundung gerade erst beginnt – und die Synästhesie lässt uns ahnen, was dort auf uns wartet“, denn „[l]ogisch betrachtet haben Wort-Farb-Synästhetiker vielleicht nur den ersten Schritt einer evolutiven Entwicklung hinter sich gebracht, durch die es zukünftig ganz normal wird, Wörtern Farbqualia zuzuordnen [...].“292 Dieser Eindruck bestätigt sich auch in den Publikationen über einzelne Fachrichtungen hinaus und wird zudem durch zahlreiche Selbstberichte von Synästhetikern gestützt, die ihre Empfindungen als Bereicherung beschreiben, sowohl in Dimensionen des Erlebens als auch als Wissensform. Insbesondere seit den 1980er Jahren stehen die kreativen außer- und ungewöhnlichen Kopplungen kognitiver und emotionaler Leistungen synästhetischer Subjekte verstärkt im Mittelpunkt. Eine Reihe von Forschern scheint darauf versessen, diese Vermutung durch Enttarnung möglichst vieler Künstler als Synästhetiker nachzuweisen, wobei deren Werke oder Aussagen nicht selten wörtlich genommen werden ohne ihren imaginativen und fiktiven Charakter in Betracht zu ziehen und zu hinter-
291 Vortragende waren u.a. Richard Cytowic, Hinderk Emrich, Karl Clausberg, Sabine Flach, Heinz Paetzold, Wolfgang Ernst, Gabriele Brandstetter, Robin Curtis, Stefan Koelsch u.a. Das Programm ist unter http://www.zfl-berlin.org/veranstaltungen-detail/ items/habitus-in-habitat-iii-synesthesia-and-kinaesthetics.html abrufbar [letzter Zugriff 25.10.2016]. Der dazugehörige Sammelband Habitus in Habitatis III. Synaesthesia and Kinaesthetics ist 2011 erschienen. Vgl. Fingerhut/Flach/Söffner (2011). 292 Gray (2006), S. 29.[Herv. i.O.]
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fragen.293 Dahinter steht nicht selten der Wunsch, mittels des Synästhetischen einen Zugang zum Prozess künstlerischen Schaffens aus neurologischer Sicht zu erhalten.294 Bereits Cytowic machte 1989 in A union of the sense auf den offensichtlichen Zusammenhang der Synästhesien mit Kreativität und künstlerischer Begabung aufmerksam und erwähnte eine Reihe von Künstlern mit, seiner Meinung nach, synästhetischer Veranlagung, wie Olivier Messiaen oder David Hockney.295 Daraus zog Cytowic den Umkehrschluss, dass die synästhetische Wahrnehmung für eine überdurchschnittliche Kreativität ursächlich sein könnte.296 So hätten Künstler, laut Cytowic, eine direktere Wahrnehmung von der Welt, Zugang zu mythischen Dimensionen und wurden in seiner Deutung zu Genies glorifiziert, die Ganzheiten und Einheiten schaffen, Widersprüche auflösen und simultan statt seriell denken.297 293 So sehen Ione und Tyler Kandinskys Synästhesie durch dessen Aussage bestätigt: „The violins, the deep tones of the basses, and especially the wind instruments at that time embodied for me all the power of that prenocturnal hour. I saw all my colors in my mind; they stood before my eyes. Wild, almost crazy lines were sketched in front of me.“ Kandinsky zit. nach Ione/Tyler (2003), S. 224. Hat Kandinsky sehr wahrscheinlich Kenntnis von dem Phänomen Synästhesie gehabt, so ist es praktisch nicht beweisbar und irrelevant, ob er Synästhetiker war. Vielleicht war es zum damaligen Zeitpunkt einfach schick, sich als solcher zu gebären. Iones und Tylers Enthusiasmus geht soweit, den gesamten modernen Tanz auf Kandinskys Synästhesie basieren zu lassen: „One well known collaborative work on this theme was Kandinsky’s musical play ‚The Yellow Clang‘. Conceived with the composer Hartmann and the dancer Sacharoff, this production may well have been a springboard of the modern dance movement, from Isadora Duncan to Serge Diaghilev.“ Ione/Tyler (2003), S. 224. Liegen Duncans Erfolge vor der Veröffentlichung der Textfassung des Gelben Klanges 1912 im Blauen Reiter, die nicht aufgeführt wurde, so tauchen in dem Stück kaum Tanzszenen auf. 294 „With the current explosion of techniques to explore the brain, synesthesia, […], is opening doors that allow us to re-evaluate art, neural wiring, and sensory relationships […] No doubt as more cross-modal research is completed, the cross-disciplinary interplay of ideas and techniques will further enhance neurological history and our understanding of art.“ Ione/Tyler (2003), S. 225f. 295 Zu dieser Vermutung verleiteten ihn Äußerungen der Künstler selbst, wie z.B.: „I try to convey colors through the music; certain combinations of tones and certain sonorities are bound to certain color combinations, and I employ them to this end.“ Messiaen zit. nach Cytowic (1989), S. 263. 296 Vgl. Cytowic (1989), S. 269. 297 „What we see in the contribution of synesthesia to creativity is similar to the universality of all archetypical sources, such as myth.“ Cytowic (1989), S. 264. „For synesthetic artists, [...], I belive, there is an apperception of a connectedness and universal identity, an immediate apprehension without cognition or rational thought for touching a special
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Bereits früher produzierte der Synästhesiediskurs einen Zusammenhang künstlerischer und synästhetischer Wahrnehmungs-, Denk- und Fühlweisen, der im Sinne eines ,primitiven‘, ,ursprünglichen‘ Erlebens und Zugangs zu geheimen, verborgenen Korrespondenzen und imaginären Welten positiv oder negativ interpretiert wurde. Das aktuell gesteigerte Interesse an der Kreativität und Originalität synästhetischer Verknüpfungen als Strategie eines intuitiven Wissens, das für abstrakte Denkprozesse relevant wird, schließt dabei auffällig an mediale, kulturelle und ökonomische Diskurse einer digitalen Wissensgesellschaft an, die das Synästhetische als nützliches und vorteilhaftes Persönlichkeitsmerkmal hervortreten lassen.298 Mehrfach wurde daher intensiv versucht, eine Verkettung des Synästhetischen mit der Kreativität mittels psychologisch-neurologischer Studien nachzuweisen. So führten Rich und Kollegen von 1999 bis 2003 eine Studie an 192 australischen Synästhetikern durch und kamen zu dem Ergebnis, dass 24 Prozent von ihnen einen künstlerischen Beruf ausübten, während es unter Nichtsynästhetikern durchschnittlich nur etwa ein bis zwei Prozent seien.299 Dagegen fanden Ward und Kollegen, die mehrere Synästhetiker mit psychometrischen Kreativitätstest untersuchten, zwar, dass diese sich mehr mit Kunst oder Musik beschäftigten, Hinweise auf eine gemeinsame neurologische oder genetische Basis von Synästhesie und Kreativität ergaben sich jedoch nicht.300 Vielmehr, so argumentierten die Autoren, läge die Affinität von Synästhetikern zum kreativen Schaffen in einer größeren Erfahrung und Bereitschaft, ungewöhnliche Assoziationen im Stile einer besonderen Wissensform herzustellen.301 Damit formulierten sie vielmehr eine Beeinflussung des kreativen Potenzials durch die Wirkung des Synästhetischen auf das abstrakte Denken. Das führt zu der in letzter Zeit immer wesentlicher werdenden Frage, ob das Synästhetitruth […] The point is that we perceive something true, universal, mystic, correct in this art that is the result of the synesthetic vision.“ Ebd., S. 270. 298 So nahm z.B. der Synästhetiker und Sounddesigner Markus Dermietzel seine bei Klangerlebnissen sich synästhetisch im Sichtfeld materialisierenden Formengebilde zum Anlass daraus erweiterte visuelle Klangparameter für softwarebasierte Musikinstrumente zu simulieren. Dafür nutzte er die Synästhesie als ein in der Natur vorkommendes Modell der Visualisierung von Musik bzw. der Verbindung von Klang und (Computer)Grafik in einem natürlichen, nicht künstlichen ,virtuellenʻ Raum. Formen bilden dabei das Interface, um elektronische Klänge zu modulieren, die wiederum die Formen modellieren. Vgl. Dermietzel (2003). 299 Vgl. Rich/Bradshaw/Mattingley (2005), S. 78. 300 Vgl. Ward u.a. (2008). 301 „Synaesthetes may access a different knowledge base insofar as they have atypical experiences and stimulus-driven access to certain ,meaningful‘ associations (e.g. between visual and auditory properties). These atypical experiences may then endow them with a richer knowledge base of associations.“ Ebd., S. 129.
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sche Vorteile im Rahmen von Denk- und Wissensprozessen hervorbringt, die Neurologen zu beweisen suchen. Hatte bereits Lurija 1968 die außergewöhnlichen Leistungen des Gedächtniskünstlers Shereshevski auf dessen Synästhesien zurückgeführt, so lassen, laut van Campen, Resultate aktueller Fall- und Gruppenstudien diesen Zusammenhang sehr wahrscheinlich werden.302 Dieser sei allerdings, so van Campen weiter, im Labor nur schwer zu erfassen, da nicht nur explizites Wissen involviert sei, sondern sich in der Integration von autobiografischen, impliziten Erinnerungen, Gefühlen, Bewegungs- und Körperaktionen ein Wissen ganz eigener Art kreiere.303 So nutzen Synästhetiker ihre Erscheinungen z.B. beim Memorieren von subjektiv relevanten Daten, Namen oder Telefonnummern. In diesem Sinne beschrieb die Synästhetikerin Alexandra Dittmar 2007 in Synästhesien. Roter Faden durchs Leben? ihre emotionalen und mit erfahrungsbasierten Bezügen durchtränkten Synästhesien als Orientierung und Navigationshilfe: „Im Dezember 2004 entstand bei mir während eines Urlaubs in den Alpen der Gedanke, dass Synästhesien orientieren können. Damit ist gemeint, dass sie ein roter Faden im Leben oder auch eine Art ‚Landmarken’ sein können. […] Ich habe bei Synästhetikern mitbekommen, dass sie eine ganz bestimmte Art Wahrheit wissen – und ganz sicher wissen: weil die Welt sagt, dass eine Sache ‚nicht so’ ist, führt das nicht dazu, dass sie tatsächlich ‚nicht so’ ist.“304
Mit dem Begriff der Orientierung verbindet Dittmar die Synästhesien nicht nur mit der Ebene der persönlichen Erfahrung, sondern versteht sie im Sinne eines kulturellen Leitsystems, das sich aus spezifischen Symbolen generiert und Ordnungs- und Deutungsmuster des Wahrnehmens, Fühlens und Handelns vorgibt.305 Insofern verkörpert das Synästhetische für sie einen Sinnhorizont, der wesentliche Funktionen in ihrem alltäglichen Leben und Denken bestimmt.306 Schon Édouard Gruber berichtete 1893 von einem Bariton, der die Nuancen seiner Stimme nach seinen visu302 Vgl. Van Campen (2009b). 303 „They use this sensibility and their synesthetic co-perceptions to ,construct‘ a vivid and almost physically present past. This sensibility affords an increase in the emotional or empathic ability to relive past experiences.“ Ebd., S. 1. 304 Dittmar (2007), S. 13, S. 321. 305 Vgl. ebd., S. 123. 306 Vgl. ebd., S. 134. So beschreibt z.B. Marcia R. Smilack ihren Umgang mit dem Synästhetischen: „Es sagt mir zuerst, dass Bilder sich schneller bewegen als Wörter; es sagt mir zweitens, dass mein Körper seine eigene Sprache hat, die dem Wissen jeder Art vorausgeht. [...]. Meine synästhetische Orientierung [...] gibt mir die Fähigkeit zum Spagat zwischen verschiedenen Ebenen des Bewusstseins, das Mittel, ein Gleichgewicht zwischen Träumen und wachem Leben zu erreichen, und eine Bewusstheit der entscheidenden Momente, wann Kunst am besten das Leben reflektiert.“ Smilack (2007), S. 315.
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ellen Synästhesien unterschied und steuerte, ganz ähnlich wie Johannes Barkowsky 1999 eine synästhetische Musikerin beschrieb, die die richtigen Geigentöne daran erkennt.307 Ein anderer Synästhetiker ersetzte die Tasten seines Laptops durch entsprechende Farben und konnte die Zeichen so schneller tippen, während Crétien van Campen eine Synästhetikerin erwähnt, die an ihren synästhetischen Farben registriert, ob bei einer Gleichung das Rechenergebnis stimmt.308 Synästhetiker mit number forms bewegen sich gedanklich durch ihre räumlich imaginierten Terminkalender, oder schreiten Treppen mit geschichtlichen Jahreszahlen in der Vorstellung ab.309 Bekannt geworden ist auch der als Savant bezeichnete Rechenkünstler Daniel Tammet, der mehrstellige Zahlen visuell als differenzierte ,Landschaften‘ wahrnimmt, was ihm hilft, sie in kürzester Zeit zu multiplizieren.310 In all diesen Fällen agiert das Synästhetische als Wissen codierende Ebene und macht es sinnlich und körperlich erfahrbar.311 Bergen diese willentlich nicht steuerbaren Wissensformen z.T. die Gefahr von Verwechslungen und sind als Lernstrategien und Lernschemata unflexibel, extrem individuell und nur begrenzt mitteilbar,312 so offerieren sie den Synästhetikern ein verlässliches, automatisches Orientierungsmuster und lassen sie Bedeutungen nahezu automatisch, schnell und ohne nachzudenken, erfas307 Vgl. Dittmar (2007), S. 135. Auch die Musikerin Elisabeth Sulzer nutzt die Synästhesien beim Spielen von Musikstücken: „Das Ohr hat die Fähigkeit, Informationen sofort, aber nacheinander aufzunehmen. Das Auge hingegen nimmt gleichzeitig wahr, braucht aber einige Zeit. Auf diese Weise kann ich mir das Auge zu Hilfe nehmen, für etwas, was das Ohr nicht kann.“ Sulzer (2007), S. 239. 308 Vgl. Dittmar (2007), S. 137f. 309 „Ich kann mich jederzeit in einen beliebigen Monat, der meist die Form eines Quaders oder Kastens hat, hineinbegeben und mir ansehen, welche Termine sich bereits darin befinden [...]. Dieses System hilft mir bei meiner Jahresplanung und es ist, als trüge ich den Zeitlauf permanent mit mir. Die Zeit ist somit für mich wie auf Knopfdruck sichtbar und eine ständige Begleiterin.“ Fork (2007), S. 202. 310 Über Tammet, der den europäischen Rekord im Aufsagen der Zahl π hält, wurden bereits Dokumentarfilme wie The boy with the incredible brain (2005) oder Brain man (2005) gedreht. Vgl. Dittmar (2007), S. 139. 311 Auch die Synästhetikerin Jasmin Sinha beschreibt eine zusätzliche Wissensebene: „Man bildet sich Eselsbrücken aus, [...] um sich etwas leichter merken zu können. [...]. Bei Synästhetikern ist es dagegen eher so, dass die Eselsbrücken längst eingebaut sind [...]. Die [...] Verknüpfungen sind schon alle da; sie können nicht geformt oder gesteuert werden.“ Sinha (2007), S. 250. 312 So können z.B. Tage, Buchstaben und Zahlen vertauscht werden, wenn sie durch identische oder ähnliche Farben codiert sind. Farbig gedruckte Buchstaben können wiederum mit den synästhetischen interferieren und ein Erkennen erschweren. Vgl. Dittmar (2007), S. 140ff.
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sen und erinnern.313 Als interne und permanente ,Eselsbrücke‘ und kognitives Instrument repräsentiert das Synästhetische in einer Informations- und Wissensgesellschaft das Modell einer verbesserten, effizienteren Informationsverarbeitung und einer unmittelbaren Vernetzung und Verknüpfung von Daten nach subjektiver Relevanz. Dabei realisieren sich diese optimierten kognitiven Fähigkeiten, und darin liegt das Besondere, erst im Zusammenspiel mit emotionalen Kompetenzen, indem synästhetisch verknüpfte Erkenntnisprozesse mit (positiven oder negativen) Gefühlen und Empfindungen einhergehen.314 Am Fall der mirror-touch-synesthesia einer Frau, die Berührungen empfindet, wenn sie beobachtet, wie ein anderer berührt wird, diskutierten Banissy und Ward ein möglicherweise generell erhöhtes Empathie- und Einfühlungsvermögen bei Synästhetikern, das sie als Erfahrungen und Empfindungen simulierendes Spiegelsystem beschrieben.315 Das bringt eine neue Deutung des Synästhetischen als Simulation eigener Gefühle und Zustände sowie der von anderen im Diskurs hervor, die sich direkt an Konzepte der virtual reality anschließen lässt. Die digitale Technik arbeitet mehr und mehr darauf hin, dass künstlich erzeugte, virtuelle Welten in Computerspielen und Second-Live-Simulationen konkret spürbar werden und den User sowohl emotional als auch körperlich involvieren, wie es die mirror-touchsynesthesia modellhaft vorführt. Die Forderung nach einer immer besseren Grafik fügt sich nahtlos in diese These, insofern Banissy und Ward bei der von der Synästhetikerin beobachteten Berührung von Objekten keine synästhetischen Empfind313 Michaela Supper, die ihre Synästhesie durch einen Schlaganfall z.T. verlor, empfand einen großen Verlust: „Ich fühlte mich, als würde ein Teil meiner Persönlichkeit fehlen, als wäre ich teilweise amputiert! […], aber erst seit ich BEIDE Zustände kenne, bin ich mir bewusst, um was für ein großartiges ORIENTIERUNGSNETZ es sich bei ihnen in Wirklichkeit handelt! [...]. Fällt dieses Orientierungssystem aus [...], dann fühlt sich der betroffene Mensch blind und taub [...]. Er kann zwar dann noch im ‚normalen biologischen‘ Sinn sehen, hören, schmecken usw., aber er braucht länger, um die Eindrücke zu verarbeiten, [...] – eben weil er ein anderes Sinn-System gewohnt ist!“ Supper (2007), S. 306f. [Herv. i.O.] 314 Vgl. Ward (2004), S. 762. 315 „Recent research indicates that people’s ability to empathize with others relies on shared affective neural systems in which common brain areas are activated during both experience and passive observation. […]. These systems may be crucial for empathy because they enable the observer to simulate another’s experience by activating the same brain areas that are active when the observer experiences the same emotion or state.“ Banissy/Ward (2007), S. 815f. Banissy und Ward testeten in diesem Zusammenhang zehn mirror-touch-Synästhetiker auf ,Echtheit‘ und Authentizität und stellten fest, dass diese nicht zwischen einer realen Berührung und einer synästhetischen generierten unterscheiden konnten. Vgl. Banissy/Ward (2007), S. 815f.
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ungen feststellen konnten. D.h. das virtuelle Gegenüber muss als ,einer von uns‘ identifiziert werden, damit ein empathischer, einfühlender Effekt eintritt. Aus medien- und theaterwissenschaftlicher Sicht erschließt das Synästhetische und seine neurowissenschaftliche Konzeptualisierung damit eine Dimension der Nachahmung, Ein- und Mitfühlung als Garant für Eingebundenheit, Involviertheit und Immersion in eine imaginäre Welt, in der zu den gegebenen Wahrnehmungen über Auge und Ohr Geruchs-, Geschmacks- und Tastempfindungen synästhetisch hinzugefügt werden können. Entgegen einer technik- und medienkritischen Positionierung des Körperlichen und Sinnlichen als das Andere digitaler und virtueller Welten bringen diese das Leibliche auf eine neue Art und Weise ins Spiel und in Verbindung mit Wissenspraktiken und -strategien. Bisher ,unentdeckte‘ Synästhesieformen wie die mirror-touch-synesthesia veranschaulichen auf eindrucksvolle Weise die enge Bindung des Synästhesiediskurses an mediale Wahrnehmungspraktiken und markieren ihn deutlich als Projektionsfläche. Das Synästhetische involviert dabei Kreativität gepaart mit Wissen, emotionaler Kompetenz und Empathiefähigkeit, soft skills, die mittlerweile Bestandteil nahezu jeder Stellenausschreibung sind. Hinter dieser Ausformulierung des Synästhetischen verbirgt sich letztlich ein neues Ideal des Menschen als flexibler und kreativer, aber auch körperlich geerdeter, emotional gefestigter Agent in vielfältig medialisierten Welten.
V.6 V ON S IMULATION UND V IRTUALISIERUNG DER W AHRNEHMUNG ZU I MMERSION , I MPLANTATION UND AUGMENTED REALITY Jean Baudrillard beschrieb mit einer Simulationstheorie, die sein gesamtes Werk durchzieht, eine Kultur der Bilder, in der diese die Dinge selbst erzeugen und ersetzen, die dabei zu Simulakren werden.316 Im Anschluss daran interpretierten eine Reihe von Theoretikern, wie z.B. Gernot Böhme, die Digitalisierung als Ablösung der Bilder von ihrer Materialität, die mit der virtuellen Realität eine verselbständigte Wirklichkeit hervorbringen, in die wir selbst leiblich nicht mehr involviert seien, mit der wir nicht mehr interagieren, sondern auf die wir nur noch technisch einwirken.317 Mag diese Sichtweise für eine gewisse Zeit im kulturellen Diskurs Gültigkeit besessen haben, so wird sie längst von der aktuellen Entwicklung überholt. Denn die neuesten digitalen Medientechniken wie die Google Glass schaffen keine künstlichen Welten, die den Körper und seine Materialität ausschließen, sondern machen ihn zur Bedingung der Möglichkeit einer Durchdringung von realer und
316 Vgl. Böhme, Gernot (2004), S. 85. 317 Vgl. ebd., S. 86.
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virtueller Welt. Die Differenz und Gegenüberstellung einer virtuellen und realen Welt wird aufgelöst, weil sich beide als augmented reality permanent überlagern. Der Körper wird dabei zur Schnittstelle, zum Vermittler, indem Medientechniken direkt an ihn gekoppelt oder in ihn implantiert werden. Medientechniken werden identisch mit Körperpraktiken und umgekehrt. Ein neues Repertoire an Gesten und Bewegungen konstituiert sich im Verbund mit neuen digitalen Technologien von Touchscreens und Datenbrillen, die bereits Kinder, ohne Lesen und Schreiben zu können, bedienen. Das Verschwinden des Körpers und der Sinne oder ihre vermeintliche Stillstellung und Virtualisierung entpuppen sich als Trugschlüsse, da sie Bedingung der medialen Existenz werden, was sie eigentlich schon immer waren. Gleichzeitig dringt die digitale Technologie in alle Bereiche vor und formt eine digitale Kultur außerhalb der nichts mehr besteht. Das Synästhetische gewinnt in diesem Kontext als Wahrnehmungsmodell einen neuen Stellenwert, sofern Synästhetiker schon immer diese Form der Überlagerung mehrfacher Wahrnehmungsebenen praktizieren. In der Verknüpfung mit Wissenspraktiken und emotionalen Aspekten suggeriert es eine neue Lebensform der digitalen Kultur, die die Einheitsutopie auf eine neue Art und Weise in Anschlag bringt, wie es Happening und Performancekultur seit den 1960er Jahren andeuten. Als Merkmale des Digitalen und seiner Bilder im Vergleich zu analogen Medientechniken wurden und werden immer wieder angeführt, dass sie keine Realität mehr abbilden oder manipulieren, sondern diese selbst künstlich generieren, während gleichzeitig technische Unterschiede zwischen einzelnen Medien und Techniken im binären Zahlencode verschwinden.318 Als Multimedia der Sinne offeriert das Synästhetische nicht nur ein konstruktives Verknüpfungsmodell für Medien, sondern auch eine performative Strategie für die Kopplung der aus ihnen resultierenden multiplen und parallelen Realitäten und Wirklichkeiten. Das Digitale nicht mehr einer anderen Realität gegenübersetzend, sondern als einzige Realität verstehend, die noch existiert, avanciert das Synästhetische zum einzig möglichen Modus des Wahrnehmens und Denkens. In der Auflösung und Überlagerung multipler Räume 318 „Eine Art Vereinheitlichung greift Platz, die mittels verschiedener Übersetzer [...] alle Dinge erfasst und vergleichbar macht. In ihrer binären Übersetzung wird ein Tausch, ein Austausch möglich (Tondateien werden von Bilddateien gesteuert und umgekehrt). Doch nicht nur wird alles austauschbar (verwechselbar?), die binären Kombinationen erlauben es auch, direkt in sie einzugreifen, sie zu modifizieren und somit aus der Digitalisierung der Dinge den Code eines vollkommen anderen künstlichen Dings zu erzeugen. […] Äquivalenz und Modifikation sind also die beiden Basisoperationen des neuen Regimes. Über die Digital-Äquivalenzen entsteht eine Parallelwelt. Über die Modifikationsstrategien wird diese Welt heteronom, wird also Gesetzen unterworfen, die der ,ersten Natur‘ des Menschen unbekannt sind.“ Ries (2004), S. 29f., vgl. auch Pias (2002), S. 48.
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wird der Körper in seinem ,Dasein‘ zum einzig noch als ,real‘ zu bezeichnendem Ort, an dem digitale und virtuelle Welten mit Realitäten synästhetisch aufeinandertreffen und erhält in seiner Materialität eine neue Tiefendimension. Insofern wird das Synästhetische immer enger an körperlich-emotionale Erfahrungen gebunden. Bereits 1997 entwarf der Psychologe John Waterworth, Professor für Informatik an der schwedischen Universität Umeå, das Synästhetische auf diese Weise als eine Erweiterung des Körpers und der Multimedialität der Sinne sowie wesentliches Element von Mensch-Computer-Interaktionen im Rahmen digitaler Technologien.319 Entgegen der Auffassung von Computern als Denkmaschinen, die dazu dienen Informationen besser und schneller zu verarbeiten, betrachtete er diese vielmehr als ,Wahrnehmungsmaschinen‘, die als Visualisierungstechniken körperlich sensorische Erfahrungen in Wissen übersetzen. Damit verändern digitale Medientechniken nicht mentale Operationen und Problemlösen, sondern die Wahrnehmung und ein Körperwissen dadurch, dass sie neue Einblicke und Einsichten in diese ermöglichen: „The development of new technologies, in particular multimedia systems, virtual realities and cyberspace, has been seen as problematic because of their emphasis on sensation and communication. This trend, away from reflection, away from a focus on thought and understanding, this de-intellectualisation of knowledge, is seen as dangerous. But it is also an opportunity to experience the phenomena more richly before we reflect on their meaning. In doing sensual ergonomics, we are giving normal people the gift of synaesthesia. […] From the perspective of synaesthesia in people, we can start to see multimedia, virtual reality and other recent developments in information technology not as failed attempts to support cognition, but as a promising start to the enhancement of perceptual experience, to broadening the experience of reality of users of these systems. In other words, what we are developing with these new technologies are artifacts that can mimic synaesthesia but that are under the control of their users. I call such technology ,synaesthetic media' […]. They change how information is perceived, by changing the modality of sensations produced by its display.“320
319 „Insofar as people interact with them, computer systems function primarily as sensual transducers, which I term ,synaesthetic media‘, and not as so-called ,cognitive artifacts‘. Synaesthetic media are the result of focusing design efforts on the sensational possibilities of human-computer interaction (HCI). My claim is that such computer tools can serve as powerful supporters of human creativity. Rather than expending more effort on the fruitless quest for ,cognitive artifacts‘, we need to recognise that we are already creating synaesthetic media and to direct our HCI design efforts accordingly.“ Waterworth (1997), S. 327. 320 Ebd., S. 327f. [Herv. i.O.]
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Medientechniken als Praktiken der ,Ent-Intellektualisierung‘ von Wissen als Erfahrung erzeugen Synästhesien für jedermann. In diesen Kontext ordnet sich auch die Entwicklung eines wearable augmented sensory systems von Leonard Foner am MIT Media Lab in Cambridge, publiziert bereits 1999, ein. Foner konzipierte und realisierte den Prototypen eines tragbaren Systems, das die Verklanglichung von Daten nutzt, um die Begrenzung des visuellen Systems zu überwinden und in auditive Dimensionen auszudehnen, indem ein Visor mit Kopfhörern, das Lichtspektrum von Objekten in Klang umwandelte.321 Abbildung 23: Leonard Foners „wearable augmented sensory system“, Darstellungung des Visors
Aus: Foner (1999), S.77.
Foner selbst trug das Gerät über eine längere Zeit und konnte damit optisch nicht unterscheidbaren Materialien, wie z.B. das Original eines Schriftstückes und dessen mittels Farbkopierer technisch erstellte, identisch aussehende Kopie, auf der Basis des Klangs ihres Spektrums identifizieren. Die Grundintention war, durch längeres Tragen des Visors im Sinne eines Trainings der Wahrnehmung künstliche Synästhesien zu erzeugen und unbekannte Erfahrungswelten zu öffnen, die die Sinne 321 Im Lichtspektrum existierende Unterschiede können visuell vom Menschen nicht wahrgenommen werden, transformiert ins auditive System werden sie als klangliche Differenz hörbar. Der Ausschnitt, den der Visor anvisierte, war sehr klein, wodurch eine gezielte Auswahl von Objekten möglich war. Konnte das Gerät zunächst nur 32 Frequenzen gleichzeitig erfassen, so sollte er zunehmend technisch erweitert und durch eine Handbedienungseinheit, mit der die Zielobjekte manuell ausgewählt werden können, und einen Datenhelm, der die Kopf- und Augenbewegung registriert, ergänzt werden. Vgl. Foner (1999), S. 75.
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schärfen und ausdehnen.322 Damit realisierte Foner Vorstellungen der Transformation von Licht in Ton, wie sie physikalische Theoretisierungen des Synästhetischen des ausgehenden 19. Jahrhunderts visionierten. Mittels Übersetzung visueller in auditiver Daten praktizierte er eine synästhetische Erweiterung der Wahrnehmung, die ein ,Mehrwissen‘ aus sinnlicher Erfahrung bereitstellte und technische Zukunftsvisionen wie die Google Glass auch als apparatives Format vorwegnahm. In Bezug auf eine multimediale kommunikative Praxis konzipierte auch der Sprach- und Kulturwissenschaftler Mark Evan Nelson das Synästhetische als Modell einer multimodalen Wahrnehmung, in der sich Bedeutung und Sinn erst im Zusammenspiel verschiedener Medien generiert. Im Anschluss an Roland Barthes Proklamation vom Tod des Autors im Jahr 1977, im Zuge dessen Text zu einem multidimensionalen Raum gerann, in dem sich eine Vielzahl von Schriften verschiedenster Autoren und Ursprünge überblenden und überlagern, versteht Nelson den Prozess der Sinnkonstituierung in multimedialen Kontexten als sich zwischen Bildern, Worten und Klängen performativ herstellende Bedeutungsgefüge, die aus der Interaktion mit technischen und technologischen Umwelten erwachsen.323 Autorschaft liege weniger in den einzelnen Künsten, Materialien und Medien, sondern zwischen ihnen im Herstellen von Bezügen, die semiotische Modi aneinander binden, und realisiert sich in deren Interaktion.324 Dieser Prozess der Verknüpfung in multimedialen Kontexten mit Elementen verschiedener Modalitäten, unterschiedlich organisierten Logiken und erkenntnistheoretischen Implikationen materialisierte sich für Nelson in den Synästhesien, die in der Identität von „sensing and sense-making“325 neue Bedeutungen hervorbringen.326 Das Synästhetische wurde damit zu einem „process of emergence, where meanings presented in two or more co-present semiotic modes, e.g. the visual/pictorial and oral/linguistic, combine in
322 „Instead, it is intended primarily to alert its user to unexpected deviations in visual characteristics of a material from what might have been anticipated, e.g., to make it possible for serendipitous discovery of unusual properties, by virtue of the extended wear possible with this device and the relative unobtrusiveness of the data presented; such uses could have potential as an entertainment medium. […] Seeing through camouflage. Because an object which is painted to match a jungle setting is not painted with the jungle itself, but is instead painted with pigments with different spectra, there can be audible differences in the resulting audio-mapped spectrum. […].“ Ebd., S. 76. Dieses Verfahren revidiert damit Benjamins prognostizierten Auraverlust des Kunstwerks im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. 323 Vgl. Nelson (2006), S. 57. 324 Vgl. Ebd., S. 57. 325 Ebd., S. 59. [Herv. i.O.] 326 Vgl. ebd., S. 59.
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such a way that new forms of meaning may obtain, in the (loosely) gestalt sense of a whole that is irreducible to and represents more than the sum of its parts“327. Einen ganz ähnlichen Entwurf entwickelte der Medienwissenschaftler und Medienanthropologe Manfred Faßler in Randbemerkungen zu Synästhesie und Synpoesis mit Fokus auf die Kultur als Ganzes.328 Sein Verständnis einer synästhetischen Kultur entwirft den Menschen als multisensorisches, offen-reflexives Wesen, das kulturelle Systeme und Praktiken mit verschiedenen Welten, Mustern, Modellen, Grammatiken oder Semantiken im Prozess einer Synpoesis verbinde.329 Wahrnehmen wird so generell zur synästhetischen Praxis, die durch kulturelle und mediale Diskurse sowie durch die individuelle Entscheidung jedes Einzelnen, sich an gängige Kommunikationstechniken anzuschließen, determiniert sei.330 Der Prozess der Synpoesis folge dabei, so Faßler, einer jeweils spezifischen Matrix der Verbindung von Sinnen, Wahrnehmung, Abstraktion, Mediendominanz, ökonomischer und politischer Hierarchisierung, Aufmerksamkeit und Bedeutung.331 Die Sinne selbst und ihre Verknüpfungen untereinander oder mit spezifischen Praktiken werden dabei erst durch die Ebene der Bedeutung, d.h. aus der Perspektive ihrer Einbettung in den kulturellen Diskurs als dynamisches Wechselverhältnis von historisch bestimmten physiologischen und medialen Bedingungen und ihrer Reflexion und Bewertung, zugänglich und erfassbar.332 Besonders seit dem 19. Jahrhundert konstatiert Faßler einen zunehmenden Einfluss der Entwicklung technischer Medien auf die Bestimmung und Ausformulierung der Sinne, die in Parallelität mit dieser perma-
327 Ebd., S. 59. [Herv. i.O.] 328 Vgl. Faßler (2004), S. 85. 329 „[...] jede sinnliche Fähigkeit ist eine kulturelle Leistung und eine kulturelle Praxis. D.h. Sinne werden erst dann mit Bedeutung verbindbar, wenn wir mit den Augen Denken oder mit den Ohren Denken und Fühlen. Ich setze also eine enge Verbindung von Sinnen – Abstraktion – Kognition – Entwerfen [...] an.“ Ebd., S. 85. 330 Vgl. ebd., S. 86. 331 Oper oder Tonfilm z.B. generieren eine je spezifische multisensorische kulturelle Praxis nach nicht identischen Matrices und unterscheidbaren Verdichtungen von Hören und Sehen, Hören und Reflektieren, Lesen und Bedenken. Den Begriff Synpoesis leitet Faßler zum einen aus der Neurophysiologie der Synästhesie als Verbindung nicht von Gehirnarealen, sondern von kulturellen Systemen und Sprachen ab, und zum anderen aus dem Begriff der Autopoiesis. Vgl. ebd., S. 93. 332 So sei beispielsweise Musik eine Verbindung von organischen, physiologischen Bedingungen und anorganischen, kulturellen Bedingungen in Form von Instrumenten, Klangräumen und technischem Equipment, die gemeinsam erst Musik und ihre Hörbarkeit in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext konstituieren. Vgl. ebd., S. 87ff.
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nenten Veränderungen unterworfen werden.333 In diesem Prozess nähern sich, laut Faßler, Kunst und Wissenschaft als zunächst verschiedene kulturelle Praktiken des Denkens, Wahrnehmens und Entwerfens einander an, weil beide gleichermaßen mit medialen Techniken arbeiten und dadurch Entwürfe und erkenntnistheoretische Muster von einem ins andere übertragen werden.334 Im Weiterdenken und Präzisieren von Faßlers Modell vor dem Hintergrund einer allumfassenden digitalen Kultur werden die Sinne und das Synästhetische ohne die Medien nicht mehr beschreibbar, die eine Virtualisierung der Wahrnehmung bedingen, wobei jedoch die Rolle des Körpers in diesem Kontext bei Faßler offen bleibt. In diesem Zusammenhang ist der zunächst eher abwegig erscheinende Ansatz des Zoologen Louis Bec von Interesse, der in Künstliches Leben und Technozoosemiotik des elektrischen Sinns die Synästhesien als Vorstufe und Element eines neuen elektrischen Sinns beschreibt, der „als Resultante kognitiver und interaktiver Verschaltungen zwischen den elektrischen Eigenschaften des Stoffwechsels von Lebewesen und den elektromagnetischen Feldern, die von den technischen Wissenschaften und digitalen Kommunikationstechniken in unsere Umwelt ausgesandt und gesteuert werden“335, erwachse. Ausgangspunkt für Bec ist die Vorstellung einer „technozoosemiotischen Praxis in Gestalt von Schnittstellen und Kommunikationsrelais zwischen verschiedenen, auch außerbiologischen Spezies“336, die sich innerhalb eines „Technobioms“, verstanden als Leben und Technologien verbindenden Raum und Kommunikationsnetz, realisiere.337 Übertragen auf die menschliche Spezies und Kultur fordern demnach technische Apparate deren Anpassungs- und Erfindungsleistung heraus, woraus biologisch-technologische Kopplungen, interaktive und interdependente künstliche Agglomerate entstünden, mit denen völlig neue Wahrnehmungsweisen einhergingen: „Dies hat zur Folge, daß die Kapazitäten der Wahrnehmungsorgane – die Funktionen des Sehens, Hörens, Tastens, Schmeckens und Riechens – über ihre normale Dimension hinaus gesteigert werden. Solche technischen Apparate verbessern nicht nur die Kenntnis der Wahr333 Vgl. ebd., S. 91. 334 „Keine geschlossene Einheitlichkeit von Wissenschaft und Kunst also, [...], sondern [...], eine Einheit in der Komplexität der technologischen, materialen und kognitivreflexiven Beobachtungs- und Beschreibungsgesten. [...] Es ist dasselbe epistemologische Equipment.“ Ebd., S. 93f. 335 Bec (1998), S. 219. 336 Ebd., S. 219. 337 Als Zoologe beschreibt Bec den elektrischen Sinn bei Organismen, die sich in elektrischen Feldern bewegen und ihn zur Orientierung und Kommunikation nutzen, wie z.B. Bakterien, Bienen, Vögel oder eine begrenzte Anzahl von Fischarten. Vgl. ebd., S. 220f.
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nehmungsweisen, sie verändern durch verschiedene Modell- und Simulationstypen auch deren Natur und Eigenschaften. Insbesondere bahnen sie im Zuge der Erforschung digitaler Synästhesien eine neue Gestalt sinnlicher Wahrnehmung an. Gleichzeitig bereiten sie der Untersuchung weniger erforschter Sinne wie der Propriozeption, der Somatognosie [...] oder der somästhetischen Sensibilität [...] den Weg. Diese Apparate können demnach andere Sinne aktualisieren oder hervortreten lassen.“338
Die digitalen Apparate und (Kommunikations-)Techniken schaffen, Becs Argumentation folgend, nicht nur neue Wahrnehmungsmuster, sondern v.a. neue Sensibilitäten, die explizit auf den Körper und seine Verortung im Rahmen virtueller Kommunikationsnetzte ausgerichtet sind. Entgegen einem Verschwinden des Körpers verstärken diese neuen Techniken damit die körperliche Erfahrung, die als elektrischer Sinn zur Schnittstelle von virtueller und ,realer‘ Welt aufsteigt und deren Differenz damit auflöst.339 Dabei lässt Bec die Frage offen, ob der elektrische Sinn Zukunftsmusik menschlicher Existenz oder eine prähistorische, verlorene Fähigkeit, die durch Technologien, Medien und Wissenschaften kompensiert wird, darstellt.340 Am Ende von Becs Vision steht die Generierung künstlichen Lebens in Form eines Energie- und Informationsnetzes, das, direkt mit dem Körper verbunden, diesen zu einer neuen Existenzweise führt und die Kommunikation zwischen Mensch, künstlichen Welten und digitalen Kommunikationsnetzen sicherstellt.341 Der elektrische Sinn verkörpert dabei eine Hyposensorik, die über Nervenzellen nicht nur alle Sinne aktivieren kann, sondern als Universalsprache kompatibel mit der künstlichen digitalen Sprache, dem binären Zahlencode und den Zeichen verschiedenster lebender und künstlicher Spezies ist.342 Das Synästhetische wird bei Bec zum Vorboten dieser Fähigkeiten und diene dazu, den elektrischen Sinn zu schulen und zu befördern, was es v.a. in der Kunst leisten könne, die besonders geeignet sei, neue Verschaltungen von Mensch und digitalen Techniken auszuloten.343 Künstlerische 338 Ebd., S. 220. 339 Vgl. ebd. 340 Vgl. ebd., S. 222. 341 Vgl. ebd., S. 227. 342 „Über die Schnittstelle eines gemeinsamen digitalen Codes und der elektrischen Reizbarkeit, die alle Sinne und kognitiven Aspekte anspricht, können diese Modalitäten somit Informationen austauschen und die etablierte Zäsur zwischen kinetischen beziehungsweise parasprachlichen Signalen und einer grammatikalisch-logischen Sprache widerlegen, ja mehr noch: Sie könnten die Grundlage für ein Kontinuum der Kommunikation zwischen den Lebewesen schaffen.“ Ebd., S. 240. 343 „Unter den technologisch künstlerischen Aktivitäten, die den Entsprechungen zwischen den Modalitäten der Sinneswahrnehmung und den Ausdruckskapazitäten der Syntax der Zeichen nachgehen, versuchen manche einen fundamentalen elektrischen Sinn aufzu-
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Praktiken, so Bec, hätten sich als Sonden, die in die neuen künstlichen Räume und die Welten der digitalen Kommunikation eintauchen, einer Logik der Ausuferung und des Ausprobierens der Grenzen mentaler und neurophysiologischer Lebensfähigkeit verschrieben.344 Ganz ähnlich präparierte schon Anschütz das Synästhetische in der Kunst als Beförderung eines neuen synthetischen Menschen. Damals wie heute war und ist die Kunst, erweitert um performative Inszenierungsstrategien, Experimentierfeld für die Umsetzung dieser utopischen Praxis. Verwirklicht sah Bec diese in Teilen bereits bei dem Performancekünstler Stelarc, der nicht Leben künstlich schafft, sondern das Leben selbst verkünstlicht und virtualisiert.345 Dieser Prozess führt bei Stelarc über den Körper, der mit Technologien zum MenschMaschine-Hybrid erweitert und ausgebaut wird. Derartige künstlerische Praktiken lösen die Grenzen zwischen künstlichem Leben und Realität, zwischen Kunst und Wissenschaft auf und entlarven diese selbst als Konstrukte kultureller Diskurse. So konstatiert Bec: „In einer solchen Rekonfiguration der Kunstdisziplinen bildet sich ein neuer künstlerischer Raum heraus. In ihm fließen Ausdrucksweisen zusammen, die auf die Dispositive der biologischen Verhaltensforschung, auf die propriozeptiven und multisensoriellen Aspekte des Lebens und deren digitale Verarbeitung in Echtzeit zurückgehen. Solche experimentellen künstlerischen Praktiken haben durch ihre Beziehungen mit den Wissenschaften vom Leben, den kognitiven Wissenschaften, den Kommunikations- und den Technowissenschaften ihre eigenen vier Wände verlassen. Im Licht der interaktiven Dispositive hat somit das Leben eine neue Stellung in der Kunst bekommen. Nach den Versuchen Pavlovs und den Skinner-Boxen hat der Körper als perzeptives, energetisches und bioelektrisches System seinen Wahlort im Innern des technologisierten Schauspiels des Lebens, im Kern der virtuellen Realitäten und der synthetischen Welten gefunden, die über Körperrückkopplung ein instrumentelles Kontinuum zwischen der realen und der virtuellen Sphäre herstellen.“346
Der Synästhesiediskurs spiegelt in der Ignoranz disziplinärer Grenzen, der Kopplung von Wissenschaft und Kunst und den multiplen Konzeptionen des Synästhetischen genau diese Entwicklung und tritt als bereits seit dem 19. Jahrhundert existierende Projektionsfläche der Verhandlung medialer Wahrnehmungserfahrungen hervor. Was Bec 1998 noch nicht absehen konnte, ist, dass die den Körper weisen, mit dem sich das Lebendige als ganz eigene expressive Materie neu definieren ließe.“ Ebd., S. 238. 344 Vgl. ebd., S. 239. 345 In den Performances Fractal Flesh, Ping Body oder Parasite verliert der Mensch die Kontrolle über seinen eigenen Körper, der durch externe Agenten, zum Beispiel über einen Touch Screen oder über Informationen aus dem Internet gesteuert wird. 346 Bec (1998), S. 238.
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als Schnittstelle zwischen realer und virtueller Welt installierenden künstlerischen Praktiken den ästhetischen Diskurs überschreiten und zum allgemeinen Handlungsrepertoire aller Menschen in der digitalen Kultur werden. Die Unterscheidung zwischen virtueller und realer Welt wird dabei obsolet, da Handlungen im Internet immer deutlichere Auswirkungen auf das Leben jedes Einzelnen ausüben.347 Die Idee eines second life auf virtueller Ebene, das sich unabhängig vom realen Status der Person frei gestalten lässt, war nur ein kurzer Traum. Bestehen zwar virtuelle Spielräume für imaginäre multiple Identitäten, so überlagern sich digitale und analoge, körperliche Existenzen mittlerweile nahezu ununterscheidbar. Das sogenannte ,Selfie‘, gepostet auf Internetplattformen, lässt sich in diesem Kontext als Personalisierung und Identitätsgebungsprozess der digitalen Existenz interpretieren, der zugleich den Akt der bewussten Selbstinszenierung und Selbsterfindung impliziert. Gemäß Volker Roloff verkörpern die neuen Medien intermediale Spielformen des Imaginären und können als Zeichen einer brüchig gewordenen Souveränität des Subjekts gelesen werden, als dessen Vervielfachung, die jedoch nicht losgelöst von einer realen, körperlichen Existenz funktioniert.348 Im Subjekt fokussieren sich, so Roloff, Verflechtungen der Medien und Theoreme einer neuen Anthropologie im Prozess seiner Medialisierung,349 wobei Virtualisierung und die Betonung körperlicher Erfahrung aufeinander bezogen sind: „Die neuen Formen der Revitalisierung und Inszenierung des Körpers, der Sinne und Emotionen und die Formen der Fragmentierung, Entkörperlichung und Virtualisierung, also die mediale Erweiterung und der Verlust der Sinne sind in dieser medienästhetischen Perspektive aufeinander bezogen, sie bedingen sich – [...] wechselseitig.“350
Beide Tendenzen fügen sich in den Konzeptionen und Ausformulierungen des Synästhetischen zusammen, die Wissen, Emotion und körperliche Erfahrung in einem Prozess modellhaft zusammenführen. Dabei werden tradierte Oppositionen fragwürdig, denn Innen und Außen, das ,Reale‘ und Imaginäre werden in der synästhetischen Wahrnehmung, wie auch in digitalen Kulturen, ineinander verschachtelt und überlagern sich permanent.351
347 Dafür lassen sich unzählige Beispiele heranziehen, die von unbeabsichtigten öffentlichen Partyeinladungen auf Facebook, die zur Versammlung Tausender Menschen vor einem Einfamilienhaus führen, über die Veröffentlichung von globalen Spionagestrategien und daraus resultierenden politischen Krisen, bis hin zum Cybermobbing reichen. 348 Vgl. Roloff (2007), S. 28. 349 Vgl. ebd., S. 17. 350 Ebd., S. 21. [Herv. i.O.] 351 Vgl. ebd., S. 21.
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Konzepte der Interaktivität oder Immersion haben Hochkonjunktur in künstlerischen Kontexten, ebenso wie eine an Merleau-Pontys Theorie des eigenleiblichen Spürens anknüpfende Aufmerksamkeit für den Körper, die sich v.a. in einem erhöhten Interesse an einer Tanz- und Theaterpraxis ausdrückt. Durch den präsenten anwesenden Körper fungieren Theater und Tanz als Vermittler einer spezifischen Materialität und können diesen in Kombination und Interaktion mit Medientechniken und von diesen hervorgebrachten Körperbildern, Wahrnehmungssituationen und kulturellen Ordnungsmuster treten lassen.352 Damit erscheinen sie besonders geeignet, die spezifischen Muster und Praktiken sich überlagernder Welten in der digitalen Kultur und den darin eingebetteten Status des Subjekts und des Körpers zu thematisieren, zu reflektieren und erfahrbar zu machen. In Fortführung der intermedialen Verknüpfungen, die sich seit den 1960er Jahren in der Happening- und Performancekultur als Verbindung von Theater und Tanz mit elektronisch-digitalen Medien etablierten, generiert sich eine kulturelle Ordnung des digitalen Medienzeitalters, die den Körper als Schnittstelle performativer Praktiken der Verknüpfung verschiedensinnlicher und -medialer Elemente in den Blickpunkt rücken.353 Indem sich in theatralen und choreografischen Praktiken Bedeutung, Sinn oder Zusammenhänge erst im Vollzug konstituieren, schließen sie direkt an aktuelle kulturelle Diskurse elektronisch-digitaler Wahrnehmungs- und Medienpraktiken an. Diese Schnittstelle zwischen künstlerischen, kulturellen und medialen Praktiken markiert der Aufstieg des Performativen in das Begriffsrepertoire der Kunst-, Kultur- und Geisteswissenschaften in den 1990er Jahren, die es zur Beschreibung von Interaktions- und Komunikationsprozessen, der Herstellung von Gemeinschaft, Identität und Kultur einsetzen.354 Betont der Begriff des Performativen den Verlauf- und Prozesscharakter der Konstituierung von Sinn und dekonstruiert dabei den Werkbegriff, so ließe sich das Synästhetische als Akt der Verknüpfung von Elementen im Prozess der Sinnkonstituierung fassen. Dass das Synästhetische bis heute nicht ähnlich pra352 „Das Theater und die anderen Künste konfrontieren uns so letztlich mit anderen Körpern, die leben, pulsieren und deren vitale Manifestationen wir über den eigenen Körper, über Augen und Ohren, aufnehmen, um sie als Sinneseindrücke mit unserem Imaginären und unserem kulturellen Gedächtnis zu verarbeiten. [...] Das Theater und vor allem das Performancetheater schlagen uns Räume von und für Subjekte vor, in denen potentielle Identitäten durch neue additive und visuelle Körperbilder in Polyphonien, Polylogen und Choreographien erprobt werden, in denen Bedingungen und Grenzen des Lebens und Möglichkeiten von Identitäten zur Debatte stehen.“ Finter (1998), S. 7. 353 „In der medialen Performance werden die Liveness des Theaters und die Interaktion der Computertechnologie so in Beziehung gesetzt, daß sie im Performativen, d.h. im wirklichkeitskonstituierenden Vollzug von symbolischen Akten, zur Synthese gelangen.“ Leeker (2001), S. 12. 354 Vgl. ebd., S. 12.
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gmatisch instrumentalisiert und theoretisiert wurde wie das Performative oder auch die Intermedialität, mag zum einen in seinen vielfältigen historischen und disziplinären Ausformulierungen, aber auch in seiner utopischen Besetzung eines Ganzheitsversprechens begründet liegen. Aber erst das Performative und Synästhetische gemeinsam beschreiben das Grundprinzip einer neuen kulturellen Ordnung, in der die Grenzen zwischen den Medien, zu denen letztlich auch der Körper gehört, permanent in Frage gestellt und verschoben werden. Körper, Subjekt oder Identität werden zu Feldern kultureller und medialer Einschreibungen, zum Ergebnis von Inszenierung, performativen und synästhetischen Akten, wobei kreative Praktiken der Verknüpfung und Verstellung, wie Maskerade und Spiel, zu elementaren sozialen Mechanismen und Kompetenzen werden.355 Damit ist aber zugleich die kulturelle Ordnung nicht mehr über Sprache und Zeichen fassbar, sondern kann nur noch über das leibliche Erfahren und individuelle Erleben hergestellt werden. Theater-, Tanzund Performancekunst sind daher in besonderem Maße geeignet diese konstruktiven Prozesse, wandelbare Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Ordnungsmuster, sowie die synästhetische und performative Herstellung von Subjekt und Identität erfahrbar zu machen, so Martina Leeker in Das Theater der Zukunft. Von der Schaubude zur Spielwiese? Bemerkungen über das Theater in der „mulitmedialen“ Produzentengesellschaft: „Das Theater dient heutzutage nicht mehr dazu, das Prinzip der Repräsentation hervorzubringen und durchzusetzen. Es hat vielmehr die Aufgabe, Raster zur Bestimmung der graduellen Unterschiede zwischen Repräsentationen, zwischen Inszeniertem und Echtem vorzuführen und zu erproben. Es geht um die psychophysische Integration verschiedener Muster und Wahrnehmungen von Wirklichkeit, darum, die Fähigkeit, diese fühlen und differenzieren zu können, zu schulen.“356
So beschreibt Leeker die Entwicklung des Theaters im 20. Jahrhundert als eine Reorganisation der Wahrnehmung hin zu einem Milieu interaktiver Korrespondenzen, virtueller Realitäten und Verzahnungen, in dem der Körper als Ort von Wirklichkeit und damit als Referenz zur Differenzierung von Wirklichkeiten entworfen werde.357 Das Synästhetische, selbst in der leiblichen Erfahrung verwurzelt, gerinnt dabei 355 Vgl. ebd., S. 13. 356 Leeker (1995), S. 46. 357 Vgl. ebd., S. 46. In alternate reality games, die mit der Frage spielen ,Ist das jetzt echt, oder nicht?‘ und sich seit einigen Jahren auch als Werbestrategie immer größerer Beliebtheit erfreuen, pointiert sich diese Entwicklung. Dabei mischt sich die Lebenswelt der Spieler mit fiktiven Vorgängen über verschiedenste mediale Kanäle – von der Postkarte über das Internet bis hin zu mit Schauspielern inszenierten Begegnungen – und zwingen sie permanent zur Reflexion der eigenen Wahrnehmung.
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zum Modell der Verknüpfung verschiedener Wahrnehmungsebenen und ähnelt den Körper den medialen Bedingungen an. In diesem Prozess wird der Körper selbst zum Medium, was sich insbesondere im zeitgenössischen Tanz nachvollziehen lässt. So beschreibt z.B. Petra Maria Meyer in ihrem Aufsatz Der Körper als Interface zwischen den Medien im Gegenwartstanz die Bühne als besonderen Ort, der unterschiedliche mediale Wahrnehmungsbedingungen herstellen und einander gegenüberstellen kann, wobei die Zeichen nicht von der Materialität und Medialität ihrer präsenten Zeichenträger abgelöst würden.358 Werde der Körper dabei fragmentiert, dekonstruiert, neu zusammengesetzt und in eigentlich unmögliche Haltungen und Bewegungen gebracht, wie es z.B. der Tänzer Xavier Le Roi praktiziert, so wandle er sich zum konstruktiven und experimentellen Projektionsraum sozialer und kultureller Konstellationen und produziere neue, kulturell codierte ZeichenSysteme, die wiederum die Selbstwahrnehmung des Menschen beeinflusse.359 Bei der Kombination des medialen Bühnenkörpers mit Elementen und Bildern technischer Medien in multimedialen Choreografien und Inszenierungen werden die Rolle und die Funktion des Synästhetischen als deren Verknüpfung daher besonders deutlich. Der Künstler Marc Boucher beschreibt in diesem Zusammenhang in Kinetic Synaesthesia: Experiencing Dance in multimedia Scenographies die Rezeptionshaltung einer kinästhetischen Synästhesie als Interaktion zwischen den Medien, tanzendem Körper und projizierten bewegten Bildern, bei der sich visuelle und propriozeptive Erfahrung zu einer Wahrnehmungssynthese der greifbaren Bewegungen des Tanzes und der virtuellen Bewegung des Bildes verbinden, in der sich Unterscheidungen von Figur und Hintergrund in permanent wechselnden Konstellationen und Spannungen auflösen.360 Beispielhaft beschreibt er dafür Merce Cunninghams Choreografie Biped von 1999, bei der handgemalte, animierte Figuren auf eine riesige transparente, die Front der Bühne bedeckende Leinwand und auf Leinwandstreifen im hinteren Raum der Bühne projiziert wurden, während lebende Tänzer sich hinter und zwischen den erscheinenden und verschwindenden Projektionen bewegten.361 Waren die Räume der Tänzer und der Projektionen, ihre Dynamik und das Bewegungsvokabular klar unterschieden, so wurden beide scheinbar zufällig neben-, hinter-, vor- und gegeneinander gestellt. Aus dieser kontrastierenden Kombination erwuchs im Zuschauer synästhetisch eine imaginative dritte Ebene zwischen den monumentalen Bewegungen der Projektionen und denen der Tänzer, auf der beide miteinander interagierten und zusammenfielen.362
358 Vgl. Meyer (2004), S. 286ff. 359 Vgl. ebd., S. 290. 360 Vgl. Boucher (2004). 361 Vgl. ebd. 362 Vgl. ebd.
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Abbildung 24: Szenenfoto aus Merce Cunningham „Biped“
© Stephanie Berger/Courtesy of the Merce Cunningham Trust
Boucher, Leeker oder Meyer referieren mit ihren Ausführungen auf eine Medialisierung des Körpers in Theater und Tanz, die sich als Standard der Verfasstheit des Subjekts und seines Körpers in der digitalen Kultur beschreiben lässt. In diesem Sinne exponiert der Kommunikationswissenschaftler Jens Loenhoff in Über Medialität, Kommunikation, Ästhesiologie und Modalität im Anschluss an Merleau-Ponty den Leib als Kulminations- und Vereinigungspunkt von oberflächlich divergierenden Realitätsordnungen: „Wenn es ferner richtig ist, dass in der Relation zwischen Umwelt und Organismus der Körper dasjenige Medium ist, durch das sich Welt überhaupt erst zeigt, ist diese Relation nicht als eine cartesianische Trennung, sondern nur als ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zu begreifen. Medialität, Leib und Kognition sind folgerichtig nicht als drei getrennte Realitätsordnungen zu verstehen, sondern als Dialektik von drei Bedeutungsebenen, deren Träger der Leib ist.“363
Ganz im Sinne von Polanyis Theorie des impliziten Wissens oder Plessners exzentrischer Positionalität beschreibt Loenhoff den Körper als erstes Medium des Menschen, das konstruktiv in isolierte Funktionen aufgespalten werde, die wiederum als Korrelate in technische Medien implementiert worden seien.364 Damit werden die 363 Loenhoff (2004), S. 24f. 364 Vgl. ebd., S. 26f.
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Medien selbst zu Konstrukten und Abstraktionen von künstlich isolierten Körperfunktionen. Das Synästhetische, und auch das Kinästhetische, als Leistungen des fühlenden menschlichen Organismus werden dabei zu Schlüsselkonzepten des Zusammenspiels von Mensch, seinen medialen Abstraktionen und der Umwelt, wie es Sabine Flach, Jörg Fingerhut und Jan Söffner in dem zur Konferenz Synesthesia and Kinaesthetic erschienenen dritten Band der Reihe Habitus in Habitatis behaupten.365 Als künstlerisches Konzept rückt das Synästhetische damit wieder in die Nähe avantgardistischer und futuristischer Entwürfe einer Fusion von Kunst und Technik. Insofern, so beschreibt es Kai-Uwe Hemken in Die kategorische Interaktion. Von Sehnsüchten der Teilhabe und Mythen der Interesselosigkeit, reaktivieren künstlerische Sehnsüchte einer ,Neue-Medien-Kunst‘ letztlich auch die Utopie einer Verbindung von Kunst und Leben, gesellschaftlicher Praxis und ästhetischer Repräsentation.366 Wie die Dadaisten Kommunikationsformen der Werbung oder der Politik aufgriffen oder einen Gegenstand aus seinem ursprünglichen Gebrauchskontext ins Kunstwerk transferierten, so setze Medienkunst nicht spezifisch künstlerische Technologien jenseits von Verwertungszusammenhängen in neue Kontexte und fordere eine permanente Neudefinition des Verhältnisses von Leben und Kunst heraus.367 Im Rahmen einer Definition von Medienkunst werde dabei, so Hemken, insbesondere die Kategorie der Interaktivität hervorgehoben, die neue ästhetische Erfahrungen und synästhetische Prozesse generiere, bei denen sich das Kunstwerk als Sphäre der komplexen und indifferent angelegten Repräsentation von Realität als permanente Prozessualität ins Leben ausweite.368 Treffen diese Beschreibungen für eine Happening-, Performance- und Medienkunst der 1960er bis 1990er Jahre zu, so ist die Frage, ob und in wie weit das Internet, und insbesondere das Web 2.0 als social media im 21. Jahrhundert, in dem der Nutzer nicht mehr passiver Konsument, sondern Mitproduzent von Inhalten ist, diese Konstellation veränderte. Nahmen interaktive Kunstformen seit den 1960er Jahren dessen Kommunikations- und Wissensstrategien vorweg, so hat die Realität der digitalen Kultur mittlerweile selbst in vielen Teilen den strukturellen Charakter der Happenings und Performances angenommen. So beschrieb der Künstler und Medientheoretiker Roy Ascott interaktive Kunst 1997 als „einen Fluß von Daten (Bilder, Texte, Klänge) und eine Anhäufung von kybernetischen, adaptierbaren – man könnte beinahe sagen, intelligenten – Strukturen, Environments und Netzwerken (wie Performance, Spektakel, persönliche Begegnung und private Erfahrung)“,
365 Vgl. Fingerhut/Flach/ Söffner (2011), S. 9. 366 Vgl. Hemken (2000), S. 54. 367 Vgl. ebd., S. 56. 368 Vgl. ebd., S. 61.
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wobei „der Betrachter diesen Fluß beeinflussen, die Struktur ändern [...] kann“369. Dieses Verfahren, bei dem sich Sinn und Bedeutung innerhalb eines bestimmten Kontextes in der Verknüpfung verschiedener medialer und realer Wahrnehmungsebenen konstruktiv herstellen, ist mit iPhone, Google Glass oder Anwendungen wie Facebook, Twitter und What’s App, die via Internet Fotos, Videos und Texte von jedem und für jeden jederzeit zugänglich machen, zur gängigen sozialen Praxis geworden. Verschwimmt die Grenze zwischen realer und virtueller Welt dabei zusehends auch durch deren Echtzeitcharakter, so ebenso die Unterscheidung von Konsument und Produzent, Künstler und Rezipient, in dem jeder alles gleichzeitig sein kann. Führt Hemken im Anschluss an Ascott aus, dass die Interaktivität in interaktiver Kunst nicht Mittel zum Zweck, sondern der Zweck selbst sei,370 so lässt sich das für die digitale Kultur generell sagen, in der sie zur bevorzugten Kommunikationsform aufsteigt. Bietet das interaktive Kunstwerk in seinem medialen Zustand eine offene Struktur der Möglichkeiten,371 so ist auch dies auf die digitale Kultur des Internets übertragbar, in der deshalb verstärkt Menschenrechte, Datenschutz, Urheberrechte usw. von außen gesetzlich reguliert und überwacht werden müssen. Verwirklicht sich darin eine Utopie der Einheit von Kunst und Leben, die schon die Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwarfen und die in den 1960er Jahren von den Happening- und Performancekünstlern weitergesponnen wurde, so ergeben sich daraus neue soziale und ökonomische Problemstellungen für die Zukunft und v.a. erneut die Frage nach der Definition von Kunst. Wie der abstrakte Film durch die technische Entwicklung des Farb- und Tonfilms eingeholt wurde, so annektierte die digitale Technik mit immer besserer Rechenleistung die Versuche intermedial agierender Künstler der 1960er und 1970er Jahre,372 und ver369 Ascott zit. nach Hemken (2000), S. 71. 370 „In den Konzepten der künstlerischen Interaktivität kommt somit letztlich der Wunsch zum Ausdruck, an dem komplexen kulturellen Fortgang der Gesellschaft aktiv teilzuhaben. Die Forderung der neuen Medien und der Medienkunst nach einer ultimativ gelungenen Verquickung von Kunst und Leben qua Technik gründet sich auf dieses grundsätzliche Bedürfnis [...]“ Hemken (2000), S. 73f. 371 Vgl. ebd., S. 73. 372 Das zeigt sich z.B. am Format des Musikvideos, das, auf künstlerische Praktiken der Visualisierung von Musik Bezug nehmend, bereits in den 1980er Jahren verstärkt computergenerierte Bildwelten integrierte und zur Experimentierplattform für neue filmische, erzählerische und digitale Techniken avancierte. Die Zeit der Musikvideos begann mit der Einführung des Senders MTV im Jahr 1981 und erreichte in den 1990er Jahren ihren Höhe- und zugleich auch Endpunkt mit dem Einzug des Internets. Damit zeigt das Musikvideo beispielhaft, wie sich das Aufkommen neuer Medientechniken auf das Entstehen und Verschwinden von Kunstformen, Formaten und Gattungen auswirkt. Vgl. Keazor/Wübbena (2010), S. 226ff.
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quickte und überführte Kunst in Populärkultur und Kommerz, was das Internet noch potenzierte, wie es Christian Höller 2005 formulierte: „Kaum etwas hat den Charakter von Klang und Bild die letzte Dekade über so geprägt wie der Einsatz elektronischer Produktionsmittel. Analog zur Verbreitung hochkomplexer MusikSoftware, [...], haben digitale Verfahren zur Bildgenerierung in der visuellen Kultur einen immer wichtigeren Stellenwert einzunehmen begonnen. […] Ob in Medienkunst, Designpraxis, Pop- und Clubbing-Kontext, Sound Art oder den immer durchlässigeren Übergangszonen zwischen all diesen Feldern – allseits tun sich elektronisch gestaltete Bild- und Klangräume auf, und dies mit immer tiefgreifender Prägnanz bzw. daraus resultierendem synästhetischen Mehrwert.“ 373
Das Synästhetische lieferte dabei wie in früheren Phasen entscheidende Impulse für neue künstlerische Entwürfe einer Netz-Kunst, Software-Kunst und computergenerierte Bild-Ton-Kopplungen, die Visionen sinnlicher Fähigkeiten und neue medientechnische Möglichkeiten vorwegnehmen und deren Potenzial zur Schaffung intensiver, emotionaler Erlebnisse ausloten. Die Betonung des emotionalen Moments des Synästhetischen steht dabei im Zusammenhang mit einer neuen Auffassung des Körpers, des Subjektes und seiner Wahrnehmung im Kontext virtueller Welten, der sich im Begriff der Immersion verdichtet. Wurde dieser Begriff von Béla Balázs 1938 für den Film etabliert, um das Eintauchen in eine imaginäre Welt zu beschreiben, so findet er seit etwa den 1990er Jahren im Kontext der Diskussion um die Involviertheit in virtuelle Realitäten und den Prozess der Identifikation mit oder der Einfühlung in einen Avatar als Bedingung der Interaktion mit virtuellen Objekten Anwendung. Dieses Eintauchen beschreibt der brasilianische Medienkünstler Sergio Basbaum als eine neue magische, synästhetische Wahrnehmungsform der digital perception: „Digital culture has rendered the world a remarkable acceleration. Those we call environments of immersion are just distinct spaces within a larger environment of a planetary culture in which we are more and more immersed in the instant: the notion of historicity dissolves in the circularity of the synaesthetic instant; the experience of narrative time and contemplative visual space dissolve in sensation. We are, again, in a magic world, where every kind of metaphors and mythical spiritual discourses of our experience emerge […]. These aspects, broadly synaesthetic, of our contemporary experience, are what I call digital perception.“374
Damit formuliert Basbaum eine Remystifizierung der Welt im digitalen Zeitalter, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entworfene Ideen einer ,ursprünglichen‘, ein373 Höller (2005), S. 11. 374 Basbaum (2003), S. 17.
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heitlichen, onto- wie phylogenetisch verankerten, vorsprachlichen Wahrnehmungsweise der Moderne reaktiviert, und zugleich von aktuellen neurowissenschaftlichen Konzepten getragen wird. Synästhetische Transformation von Sinnesdaten und Sinneserfahrungen, so Basbaum, sei das grundlegende Prinzip gängiger Software, die Kategorien wie Linearität, Zeitlichkeit oder Geschichtlichkeit auflöst.375 In diesem Sinne exemplifiziert Axel Stockburger die Rolle des Synästhetischen in digitalen Räumen anhand von Computerspielen, bei denen die Beziehung von Sound und Bild besondere Relevanz für die affektive Positionierung und das semantische Level des Spielers hat und ihm ein permanentes audiovisuelles Feedback seiner Interaktionen liefern.376 Die akustische Ebene erweitere dabei die räumliche Dimension über die Begrenzung des Sehfeldes hinaus und erhöhe den Effekt des Eintauchens durch die Echtheit von Geräuschen.377 Die Entwicklung von Computerspielen bildet seit den 1990er Jahren ein wesentliches Betätigungsfeld von Medienkünstlern und Grafikern, wobei die von ihnen darin entworfenen Designs, Bilder- und Klangwelten und damit verbundene Wahrnehmungsweisen wiederum auf die gesamte Kultur zurückwirken.378 Dabei verändern sie nicht nur die mittlerweile ,traditionellen‘ Medien, wie Film und Fernsehen, und installieren neue Wahrnehmungsmuster, sondern produzieren v.a. Überlappungen verschiedener medialer, virtueller und realer Welten.379 Zeigt sich rückblickend, dass diese Wahrnehmungsmuster bereits in vorangegangenen Techniken enthalten waren, so werden gleichzeitig Strategien und Terminologien, die erst mit der digitalen Technologie hervortraten, diskursiv auf ältere Medientechniken übertragen.380 So erhält z.B. die Immersion als Modell der Einfühlung einen neuen Stellenwert in filmtheoretischen aber auch theaterwissen-
375 „Translation of data of a sense in terms of another ones through the mathematical mode of an algorithm can be found in a vast number of software, interfaces, corporal sensors or environments of immersion, which aspire for different synesthetic registers. As a result, they point to the type of nowness experience that we have just defined. Its nonlinear character stands away from the qualities of verbal thought, its temporariness is circular. Even in virtual reality games, which have narrative aspects, the immersion character of experience is still the most decisive.“ Ebd., S. 17. [Herv. i.O.] 376 Vgl. Stockburger (2010), S. 128. 377 Vgl. ebd., S. 131. 378 Vgl. ebd., S. 133. 379 So zeigte sich bei der Fernsehübertragung der Fußball-WM 2014 in Brasilien die Erklärung der Startaufstellung und Vorstellung der Spieler vor jedem Spiel ganz im Stil von Fußball Computerspielen wie Fifa oder Pro Evolution Soccer. 380 So erscheint insbesondere der Film aus der Perspektive virtueller, digitaler Welten in einem neuen Licht und wird als Trainingsfeld multisensorischer, synästhetischer und imaginärer Wahrnehmungsprozesse betrachtet. Vgl. Curtis, (2010), S. 134.
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schaftlichen Debatten, ebenso wie das Synästhetische selbst.381 Auf diese Weise generiert das Synästhetische in Kombination mit Performativität, Immersion und Interaktivität neue künstlerische Spielformen und kulturelle Praktiken, in denen sich Club- und Eventkultur, Kunst und Populärkultur mit verbessertem Equipment tragbarer Computer und ständig sich weiterentwickelnder Hard- und Software mischen,382 ebenso wie Fortführungen und Erweiterungen traditioneller Kunstformen des Films, der Oper, des Tanzes oder Theaters. Das Synästhetische fungiert seit den 1980er Jahren zugleich als Konzept für eine Virtualisierung der Wahrnehmung wie auch als Modell für eine Medialisierung des Körpers und operiert im Kontext der Anpassung an ein Leben in komplexen medialen Welten. Lotet Kunst diese Räume aus, so überführt sie sie im Anschluss an wissenschaftliche und neurologische Theoretisierungen in Praxis. In der Konsequenz erklärte der belgische Maler, Filmemacher, Synästhesie- und Medienforscher Hugo Heyrman 2005 das Synästhetische als Sprach- und Denkfigur grundsätzlich zur Wurzel jeglicher künstlerischen Praxis und zum Ausdruck der Vernetzung der Existenz.383 Denn letztlich sei Kunst immer Kreation imaginativer und virtueller Welten, die ohne das Synästhetische nicht möglich wäre. Synästhesie, so Heyrman, „seems to be a natural form of virtual reality“384. Synästhetiker selbst betrachtet er als Menschen der Zukunft, in denen sich vor dem Hintergrund der medialen Anforderungen an die Sinne eine neue Fähigkeit verdichte:„In a sense, synesthetes are the people of the future. ,Homo Futuris‘, because with the futuristic, telematic extension of the human senses, everything will become more and more synesthetic – the senses will become ,interactive tele-senses‘. 385 381 Für Robin Curtis unterstützt eine Vermischung der Sinne im Sinne einer alltäglichen Intermodalität der Wahrnehmung im Film die Immersion. Das wiederum könne auch mit dem Begriff der Einfühlung umschrieben werden. Vgl. ebd., S. 143ff. Brian Massumi und Steven Connor beschreiben das Synästhetische im Film als Erfahrungskategorie, die spezifische Konfigurationen und Korrelationen zwischen den Sinnen erzeugt und zur Schnittstelle zwischen Systemen sinnlicher Wahrnehmung, die im Film synchron oder asynchron gestaltet sein können, Zeitformen und Dimensionen auf einer einzigen Oberfläche gerinnt. Vgl. Barker (2010), S. 69ff. Benjamin Whistutz wiederum aktualisiert auf der Basis des Synästhetischen das Konzept der Einfühlung und Imagination des Zuschauers im Theater. Vgl. Wihstutz (2007). 382 Vgl. Alexander (2010), S. 201. 383 Vgl. Heyrman (2005). 384 Ebd. 385 Heyrman (2007). Mit dem Begriff ,telematisch‘ referiert Heyrman dabei auf Vilém Flusser und seine Utopie einer ,telematischen Gesellschaft‘, die im Gegensatz zu den eher pessimistischen Medientheorien Baudrillards und Virilios eine revolutionäre Gesellschaft beschreibt, in der die Medien zum Niedergang von Autoritäten beitragen.
D IE E ROBERUNG
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K REATIVITÄT | 387
Neue digitale Kommunikations- und Informationsformen befördern in der Verbindung von Telekommunikation und Informatik eine Synästhetisisierung und Interaktivierung der Sinne, die Heyrman im Konzept der ,Tele-Synästhesie‘ als Transformation in telematische Strukturen verdichtet.386 In der Übertragung sensorischer Erfahrung ins Digitale wird der grundsätzlich synästhetische Charakter unserer körperlich-sinnlichen Wahrnehmung in die neuen Medien implementiert, die auf diese Weise miteinander verbunden werden.387 Daraus entstünde, so Heyrman, eine Tele-Kultur oder Techno-Kultur, die Bewusstsein, ganz im Sinne McLuhans in elektronische Schaltkreise übertrage, und in permanenten Grenzverwischungen zwischen externalem und internalem Raum und der Ausweitung der Sinne zu TeleSinnen in virtuellen Welten den Cyberspace oder das Internet zum kollektiven Bewusstsein forme.388 Das Interesse am Synästhetischen seit den 1980er Jahren kann ohne digitale Technologien nicht gedacht werden,389 was den Synästhesiediskurs seit dem 19. Jahrhundert als an technisch basierte Medienpraktiken gebunden deutlich hervortreten lässt. Die Einheitsutopie des Synästhetischen erscheint dabei auf einer neuen Ebene als Verknüpfung von Emotionen, Wissen und körperlicher Erfahrung mittels digitaler Technologien, die als augmented reality zugleich archa-
Jede Gesellschaft besteht nach Flusser aus einem Zusammenspiel von Dialogen zum Erzeugen von Information und Diskursen als deren Verbreitung. Befinden sich in einer idealen Gesellschaft beide im Gleichgewicht, so überwiegen in autoritären Systemen diskursive Formen. In der telematischen Gesellschaft dominieren dagegen Dialoge und führen zu einer Informationsflut, die ein Zusammenbrechen der Diskurse und damit der Autoritäten bewirke. Die telematische Gesellschaft ist ein verteiltes Netzwerk aus Menschen und Maschinen ohne Zentren und Machtkonzentrationen und steuert sich selbst kybernetisch und stellt quasi ein ,kosmischen Gehirn‘ dar. 386 Vgl. Heyrman (1997). 387 „[…] our consciousness, our body and senses will be confronted with new experiences, with synaesthetic qualities that are instantaneous and – above all – multi-sensorial as a result of the new media (the proliferation of informatics and of knowledge).“ Ebd. 388 Vgl. ebd. 389 Dem pflichtet auch Bulat Galeyev bei: „Let’s remind that the revival of interest to the psychological problems of synesthesia in 1980-s – […] – has been evoked not only by the emergence of new neurophysiological methods. Synchronically it was stimulated by needs of quick-growing new-media industry – the formation, on the base of computer technologies, completely artificial audio-visual realm (various kinds of multi-, hyper-, inter-media, virtual reality). Man-programmer actually plays a role of Äcreator’ of this new medium, trying to make it most optimal and harmonic form, adapted to human perception. Naturally, designers attention has been turned to synesthesia phenomenon.“ Galeyev (2005), S. 164.
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ische Muster und Zukunftsvisionen verbindet.390 Im Synästhetischen verbinden sich seit dem 19. Jahrhundert die Oppositionen und bringen neue Seinsweise und Vermischungen von subjektiven und kollektiven, realen, imaginären, virtuellen Welten und Körperräumen hervor.
390 So sieht z.B. auch Gernot Gruber in der aktuellen Verbindung der Synästhesie mit der Medienentwicklung die alte Figur der Zwiespältigkeit zwischen Fortschrittsdenken, zunehmender Differenzierung und zugleich der Sehnsucht nach Ureinheit wieder am Werk: „Dieses Dilemma hat auch seine hochaktuelle Ausprägung: Auf der einen Seite steht eine durch die Digitalisierung ermöglichte rationale Konstruktivität im Trennen und Verknüpfen der Sinneswahrnehmungen, auf der anderen [...] die Beschwörung von urtümlichen Einheiten, wie sie zumindest von der Wortprägung her Begriffe wie ‚Urentsprechungen‘, [...], ‚archaisches Wissen‘ oder ‚archetypische Metaphern‘ nahelegen.“ Gruber (2004), S. 105.
VI. Projektionen des Medialen
Mit der hier vorgelegten Analyse entpuppen sich Konzeptionen und Ausformulierungen des Synästhetischen als Projektionen des Medialen. Das Synästhetische fungiert dabei jedoch weniger als Projektionsfläche für Medientechniken als vielmehr für die aus ihnen resultierenden Wahrnehmungspraktiken und Erkenntnisstrategien, die den Körper, die Sinne und das Subjekt mit den Technologien verbinden. Insbesondere aus der Perspektive einer digitalen Kultur wird ein sich im 19. Jahrhundert konstituierender Synästhesiediskurs, der alle Deutungsbereiche des Synästhetischen umfasst, als ein an die Entwicklung technischer Medien gekoppelter, kultureller Diskurs sichtbar, der den Zusammenhang von Wahrnehmungs- und Wissensprozessen und ihren Wandel in der Bindung an Medienumbrüche erfasst. Vor dem 19. Jahrhundert existiert das Synästhetische weder im Denken, noch in philosophischen und wissenschaftlichen Diskursen oder künstlerischen Praktiken. Als Verkörperung von Wahrnehmungsweisen des Medialen verankert das Synästhetische als kulturelles Konstrukt diese in der ,Natur‘ des Menschen. Erst mit dem Auftauchen technischer Medien konstituieren sich daher überhaupt Idee und Begriff eines Synästhetischen, das in einer Zwischenposition Medientechniken und menschliches Empfinden in Wahrnehmungstechniken verknüpft. Ausdruck dessen ist seine dichotomische Doppelbesetzung mit Zukunftsvisionen neuer sinnlicher Fähigkeiten im Lichte innovativer Medientechniken und der Mystifizierung ganzheitlicher Wahrnehmungsformen in der Kritik an einer Technisierung und Medialisierung des Menschen. Der Synästhesiediskurs beschreibt daher eine Spannung und ein Wechselverhältnis zwischen Mensch und Technik und ist zugleich Motor neuer Mensch-Maschine-Interaktionen. Als Imagination stimuliert das Synästhetische wiederum Modelle, sei es auf der Ebene von Vorstellungen des Gehirns, neuen Medientechniken oder der Ästhetik und Kunsttheorie, die sich in kulturellen Praktiken niederschlagen. Diese Prozesse sind bei genauerer Betrachtung bereits auf der Ebene individueller synästhetischer Erfahrungen angelegt, die das Phänomen für eine Instrumentalisierung als Verhandlungsraum medialer Wahrnehmungspraktiken überhaupt erst anschlussfähig machen. Schon eingangs wurde beschrieben, dass Synästhetiker sich
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ihrer speziellen Wahrnehmungserfahrung zumeist bewusst werden, in dem sie von außen auf die Andersartigkeit ihrer subjektiven Erfahrungswelt aufmerksam gemacht werden, wie es z.B. Birgit Fork beschreibt: „Als ich am 31.03.05 beim Fernsehen in einen Bericht über Synästhesie schaltete und sah, wie dort bunte Buchstaben vor den Köpfen der dort vorgestellten Personen dargestellt wurden, dachte ich zuerst: ,Na, das ist aber seltsam. Es gibt Menschen, die bunte Buchstaben vor den Augen haben.‘ Einige Minuten später, [...] stutzte ich und dachte: ,Wieso machen die denn darüber solch ein Aufheben, das ist doch normal. Oder etwa nicht?‘ [...] Mein anfängliches Entsetzen darüber, tatsächlich eine andere Wahrnehmung als die meisten zu haben, schwand nach einer Weile […] Voller Neugier setzte ich mich mit der Thematik und entsprechend auch mit meinen inneren Welten auseinander und beschloss, den 31.03. als meinen zweiten Geburtstag anzusehen, da an diesem Tag ein großer Teil meines Selbst in meinem Bewusstsein ‚geboren wurde’.“1
Diese Schilderung Forks kann im doppelten Sinne als ,Urszene‘ betrachtet werden, die sich modellhaft auf die Konstituierung des Synästhesiediskurses in der Kulturgeschichte übertragen lässt. Denn nicht nur dass sie erst von außen auf die Besonderheit ihrer Wahrnehmungswelt hingewiesen wird, sie wird es zudem durch ein Medium.2 Ebenso war das Auftauchen des Synästhetischen im kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs seit dem 19. Jahrhundert das Ergebnis drastischer Veränderungen der Wissenskultur durch neue Medien und Kommunikationsmittel, die in Fotografie, Film, Telefon oder Phonograph eine künstliche Trennung der Sinne provozierten. Erst im Spiegel dieser neuen Medientechniken trat die Spezifik und Eigenart des gesamtsinnlichen menschlichen Wahrnehmungscharakters bewusst hervor, dem zugleich epistemologische Funktion zukam. Auch auf individueller Ebene schließt sich der Entdeckung ein Erkenntnisprozess an, den Kaluza und Zedler wie folgt beschreiben: „Über die Auseinandersetzung mit dem Synästhesiephänomen findet dann die Identitätsarbeit statt, [...]. Im Prozess werden von den Synästhetikern Eigenschaften und Fähigkeiten bei sich selbst entdeckt, ausprobiert und schätzen gelernt. So wird ein konstruktiver Umgang mit diesen Fähigkeiten gelernt, die zuvor nicht bewusst wahrgenommen oder ambivalent bewertet wurden – [...].“3
1
Fork (2007), S. 199 .
2
Andere Synästhetikern nennen Zeitungsartikel, Radioberichte und das Internet als ,Initia-
3
Kaluza/Zedler (2009), S. 37.
lisierungsmomente‘.
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Ganz ähnlich verursachte die Entdeckung des Synästhetischen um 1900 eine Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Wahrnehmung, die u.a. in kulturelle und künstlerische Praktiken mündete. In dem Moment als die Realisierung technisch medialer Zugänge zur Wirklichkeit und umfassende, durch die Industrialisierung ausgelöste Neu- und Umstrukturierungsprozesse der Kultur den Zugriff auf das Subjekt problematisierten, thematisierte das Synästhetische dessen Stellung in Bezug auf seine individuellen und sinnlich-leiblichen Erfahrungen und deren erkenntnistheoretische Funktion. Dergestalt formierte sich der Synästhesiediskurs über alle Bereiche der Kultur und disziplinäre Grenzen hinweg als Projektionsfläche für die Modellierung von Wahrnehmungsvorgängen, Wissensformen und kulturellen Praktiken, in denen den Sinnen, dem Körper und dem Subjekt eine bis dahin unbekannte Rolle zugewiesen wurde. In dieser Form ist er bis heute wirksam, denn neue Medientechniken stellen nicht nur ungewohnte Anforderungen an die Sinnesorganisation sondern verändern damit einhergehend kulturelle Wissensformen und praktiken ebenso wie Körpertechniken, die dabei identisch werden.4 Im Synästhetischen als Projektionsfläche und Denkfigur materialisieren sich historisch spezifische Konfigurationen von Sinnes-, Körper- und Wissenskulturen, die anthropologische Konzepte mit Medientechniken verbinden. Im Angesicht der technischen Isolierung der Sinne im 19. Jahrhunderte projektierte das Synästhetische auf diese Weise spirituelle, theosophische und mystische Ideen, die den Menschen vom Technologischen abgrenzten ebenso wie Anleitungen zur erneuten künstlichen (oder technischen) Zusammenführung des Getrennten. Die mit dem Synästhetischen heraufziehenden Ganzheits- und Einheitsutopien bilden dabei eine elementare Zuschreibung im Prozess seiner Generierung. Dabei besetzt das Synästhetische Leerstellen, die in der kulturellen Entwicklung zwischen Anthropologie und Technologie aufgerissen werden, während sein konstruktiver Charakter verleugnet wird. Prägnant zeigte sich dieses synthetisierende Verfahren in der nachträglichen Herstellung einer Traditionslinie synästhetischen Empfindens seit den Anfängen unserer Kultur z.B. in den Studien Albert Welleks über Synästhesien in der Geistesgeschichte in den 1920er Jahren. Bis heute werden Synästhesien in dieser Weise als archaische Wahrnehmungs- und Erlebensweise stilisiert, die durch die Zivilisation verdrängt, die Mediengeschichte als Verlustgeschichte erscheinen lassen. Die Analyse zeigte jedoch, dass synästhetische Erlebnisformen nicht zurückgedrängt, sondern als Reaktion und Ausgleich einer medialen Zurichtung der Sinne überhaupt 4
So produzierte die Fotografie ein neues, vermeintlich objektives Sehen und fand als Instrument der Dokumentation Eingang in die wissenschaftliche Praxis, während Touchscreens seit einigen Jahren wieder eine taktile, körperlich-räumliche Komponente in den Wissensdiskurs einspeisen. Derartige Veränderung von Wissensformen und -strategien manifestieren sich immer wieder in durch markante Wendungen ausgerufenen Paradigmenwechseln, wie ,iconic turn‘ oder ,body turn‘.
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erst in einer konstruktiven Logik generiert werden. Das Synästhetische ist demnach der Garant für Mehrsinnlichkeit und umfasst das, was im Mediendiskurs vermeintlich ausgeschlossen wird. Dafür spricht auch, dass erst mit dem Begriff und der Idee eines Medialen, wie sie im Laufe des 20. Jahrhunderts von Theoretikern wie Bela Balázs, Walter Benjamin, Maurice Merleau-Ponty, Marshall McLuhan u.a. ausgearbeitet wurden, das Synästhetische als Denkfigur an Bedeutung gewinnt. Dergestalt stimuliert es zugleich die mediale Erzeugung und Integration immer weiterer sinnlicher Dimensionen bis zur Ununterscheidbarkeit zwischen realer und medial vermittelter Wahrnehmung und der Auflösung ihrer Differenz. Das isolierte Sehen und Hören in Fotografie, Phonograph, Telefon, Radio und Stummfilm wird verbunden in Tonfilm, Fernsehen und Video. Bereits beim Fernsehen keimten erste Ideen eines Geruchsfernsehens auf, während die Beliebtheit von Kochsendungen auf die Involvierung des Geschmackssinns verweist. Die digitale Technik steigert diese Tendenz, in dem sie z.B. in Computerspielen mit Grafik und Animationen auf die Provokation von Berührungsempfindungen und Bewegungserfahrungen abzielt und eine virtuelle Welt immer konkreter und sinnlicher erfahrbar macht, nicht zuletzt dadurch, dass sie dem Körper immer näher kommt und direkt an und in ihn implantiert wird. So ahmt die Medienentwicklung eine von uns für natürlich gehaltene Synthese unserer Sinne nach, die sie damit erst als solche suggeriert und behauptet. Vor dem Hintergrund ihrer zunehmenden Medialisierung und Technisierung versichert sich die westliche Zivilisation mittels immer neuer Medientechniken ihres angenommenen gesamtsinnlichen und leiblich-ganzheitlich angelegten Charakters. Die starke Involvierung der Kunst in den Synästhesiediskurs ist aus dieser Perspektive Zeugnis der Affinität des Synästhetischen zu künstlich geschaffenen Welten und seinen synthetisch-artifiziellen Charakter. Diese Zuschreibungs- und Konstruktionsprozesse offen zu legen, machte sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe, in dem sie, ausgehend von einer anhaltenden Faszination und einer Begriffsverwirrung in Form vielschichtiger Bedeutungsebenen um das Phänomen der Synästhesie die jeweils dahinter liegenden kulturhistorischen Kontexte aufdeckte und sich wandelnde Synästhesiekonzepte zeitlich und topografisch im kulturellen Diskurs verortete. Als Erscheinung der Wahrnehmung verwiesen die Synästhesien dabei auf drei wesentliche Schauplätze: die Wissenschaften, die Modelle der Wahrnehmung und der Sinne auf Basis bestimmter Paradigmen und Methoden entwerfen, die Mediengeschichte als Erweiterung und Produzent von Wahrnehmungsmustern sowie die Kunst als Aisthesis, die Wahrnehmungsprozesse reflektieren und in direkte künstlerische Praxis und körperliche Erfahrung transformieren kann. In gegenseitiger Beeinflussung und Überschneidung produzieren Wissenschaft, Medien und Kunst in ihrer spezifischen historischen Verfasstheit die Definitionen, Konzeptualisierungen und Ausformulierungen des Synästhetischen.
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Erster Hinweis für diese Auffassung war eine allgemein übliche Unterteilung der Synästhesieforschung in eine historische Phase um 1900 und eine aktuelle Phase seit etwa den 1980er Jahren, ohne dass dafür verantwortliche Gründe benannt werden. Verfestigte sich daraus die Idee, dass eine ,Geschichte der Synästhesie‘ durch Brüche gekennzeichnet ist, so entstand die Frage, wodurch diese verursacht werden. Aus der Betrachtung der Literatur zur und über Synästhesie aus den verschiedensten Kontexten seit dem 19. Jahrhundert bestätigten sich anhand der Anzahl erschienener Publikationen zwar Höhepunkte um 1900 und ab den 1980er Jahren, zugleich zeigten sich aber auch in den 1920er und 1930er Jahren sowie um 1960 intensive Auseinandersetzungen mit dem Phänomen. Zum anderen kristallisierte sich heraus, dass sich Brüche nicht nur an den mit den Synästhesien jeweils beschäftigten Disziplinen selbst, sondern v.a. an sich wandelnden Bewertungen, Deutungen und Interpretationen des Phänomens im kulturellen und künstlerischen Kontext festmachen ließen. So zeigte sich um 1900 in vielfältigen Definitionsversuchen ein Ausloten der verschiedenen Bedeutungsebenen im Sinne einer ,Findungsphase‘, während sich die Diskussion in den 1920er Jahren auf eine Anthropologisierung und Ausdeutung als universelle Eigenschaft aller Menschen fokussierte. Als auffälligster Einschnitt erschien ein Verschwinden der Synästhesien aus dem wissenschaftlichen Diskurs ab den 1940er Jahren, dem aber gleichzeitig eine intensive künstlerische Praxis der Verknüpfung von Sinnen, Künsten und Medien in den 1950er bis 1970er Jahren gegenüberstand. In den 1980er Jahren propagierten wiederum die Neuround Kognitionswissenschaften eine Wiederentdeckung der Synästhesie, der eine breite Diskussion in geisteswissenschaftlichen Kontexten folgte. Auffällig war von Anfang an, dass sich im Untersuchungsmaterial parallel dazu Verlagerungen in den jeweils mit Synästhesie assoziierten künstlerischen Formen, Materialien und Medien zeigten. Schienen um 1900 im Anschluss an Wagners Gesamtkunstwerk besonders Literatur und Theater für synästhetische Konzepte geeignet, so zeigten sich in den 1920er Jahren verstärkt filmische Muster. Dominierten in den 1960er Jahren audiovisuelle Kombinationen verschiedener Medien und Medientechniken, wie Video und Fernsehen, während sich gleichzeitig Überschneidungen zur Populärkultur verstärkten, so entgrenzte eine digitale Medienkunst ab den 1980er Jahren synästhetische Kopplungen in Visualisierungen von Musik oder Computerspielen bis in die Alltagskultur. Verhärtete sich dadurch die These, dass die mediale Entwicklung Synästhesiekonzepte wesentlich beeinflusst, so ergaben sich daraus vier historische Phasen für die Analyse und den Aufbau der Arbeit, deren Ergebnisse im Folgenden zusammengefasst werden.
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VI.1 D AS S YNÄSTHETISCHE
IM
W ANDEL
Der Schwerpunkt der Analyse wissenschaftlicher Erklärungsversuche der Synästhesien sowie künstlerischer und kunsttheoretischer Auseinandersetzungen seit dem 19. Jahrhundert lag v.a. darauf, diese auf die Bedeutung und Implikationen hin zu befragen, die sie Phänomen und Begriff jeweils zuschreiben. Daraus ließen sich spezifische Interpretationen des Synästhetischen als kulturellem Konstrukt herausfiltern. Die Konstituierung des Synästhesiediskurses konnte in der Kulturanthropologie der Moderne lokalisiert werden, die die Synästhesien als neues Wahrnehmungsmuster entdeckte. Die erstmalige Beschreibung des Synästhetischen im medizinisch-physiologischen Diskurs ereignete sich dabei nicht nur parallel zum Auftauchen neuer technischer Medien, sondern ebenso just in dem Moment, als die Trennung der Sinne wissenschaftlich-theoretisch verankert wurde. Dabei schwankte die Bewertung des Synästhetischen zwischen einer pathologischen Störung und einer besonderen Begabung. Eine naturwissenschaftlich ausgerichtete, der Evolutionstheorie verpflichtete Physiologie im Stile Max Nordaus oder Cesare Lombrosos, die sich als Ärzte zu Richtern über das Normale und Anormale der Kultur erhoben, klassifizierte die Synästhesien zur Form einer degenerierten Wahrnehmung. Indessen interpretierte eine sich als wissenschaftliche Disziplin neu formierende Psychologie, in Gestalt von Wilhelm Wundt, Theodor Fechner, Theodore Flournoy, Alfred Binet, Eugen Bleuler u.a. im Verbund mit Parapsychologie, Theosophie und Kunst die Synästhesien im Sinne einer gesteigerten Sensibilität und Empfindungsfähigkeit. Diese Zweideutigkeit des Synästhetischen war Ausdruck eines Wandels der Wissenskultur, der sich auf vielen Ebenen zeigte. Eine Psychologisierung des Synästhetischen stand für eine Neubewertung subjektiver Erfahrungen, während neue Techniken der Sichtbarmachung, wie Fotografie, Film oder Röntgenstrahlen es als Vorbote neuer Wahrnehmungsfähigkeiten erschienen ließen. Im Zuge fortschrittskritischer Tendenzen verband es sich darüber hinaus in einem Verständnis der Kulturgeschichte als Verlustgeschichte mit rückwärtsgewandten Ganzheitsutopien einer ,ursprünglichen‘ Einheit der Sinne und versprach deren Wiederbelebung. Erst diese Zuschreibungen zusammen begründeten den Erfolg der synästhetischen Idee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und machten sie für Künstler attraktiv. Prägnant zusammengeführt wurden diese Linien über die Literatur der Romantik, die erste Fallbeispiele lieferte, und Wagners Gesamtkunstwerk, die von der Synästhesieforschung um 1900 in den Kontext des Synästhetischen überführt wurden. Dabei verknüpften sich mythisch angehauchte Einheitsphantasien einer neuen Kultur mit einer auf dem Körper und seiner Physiologie basierenden, synästhetischen Wirkungsästhetik und begründeten eine künstlerische Traditionslinie des Synästhetischen. Vermittelt über eine Korrespondenzästhetik der Symbolisten wurden das Theater und der Tanz im Bestreben einer Remythisierung
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der Moderne zum ersten Experimentierfeld synästhetischer Wirkungen, deren Ergebnis eine Theater- und Tanzreform um 1900 war. In der Referenz auf die kultischen Ursprünge von Theater und Tanz und der Entdeckung ihrer spezifischen Mittel und Wirkungsmöglichkeiten formten Theaterreformer wie Adolphe Appia, Emile Jaques-Dalcroze, Edward Gordon Craig, aber auch Tänzerinnen wie Loïe Fuller die Bühne zum Ort synästhetischer Transformationen, passten sie damit an neue Wahrnehmungs- und Lebenswelten an und machten sie medial anschlussfähig. Ging daraus der Regisseur als neuer genialer synästhetischer Künstlertypus hervor, so wurde insbesondere der bewegte Körper des Schauspielers und Tänzers im Rekurs auf eine natürliche, vorsprachliche Ausdrucksqualität neu bewertet und als synästhetischer Transformator der verschiedenen Bühnenelemente sowie zwischen Bühne und Publikum entdeckt. Dieses gewaltige Umbauprojekt des Theaters und des Tanzes im Zeichen des Synästhetischen machten die Bühne nicht nur für die Avantgarden sondern auch für Projektionen neuer Ideen von Gemeinschaft nutzbar. Dieser Aspekt trat v.a. in den 1920er und 1930er Jahren in den Vordergrund. Das Synästhetische erhielt eine neue anthropologische Qualität in der Weiterentwicklung zur universellen Eigenschaft aller Menschen, die insbesondere in der Farbe-Ton-Forschung von Georg Anschütz aber auch in philosophisch-phänomenologischen Konzepten von Helmut Plessner, Ernst Cassirer oder Merleau-Ponty ausgearbeitet wurde. Zwischen den Polen eines ,Zurück-zur-Natur‘ und utopischen Zukunfts- und Gemeinschaftsvisionen integrierte sich das Synästhetische in die Synthese eines neuen Menschen. In der Aufwertung vermeintlich ,ursprünglicher‘ Eigenschaften im Zuge einer durch die fortschreitende Industrialisierung verstärkten Mensch-Maschine-Opposition wurden pathologische und atavistische Ansätze des Synästhetischen von Psychologie, Ethnologie und Anthropologie positiv umgedeutet. Der Befund eines verstärkten Auftretens bei ,Primitiven‘ und Kindern diente nun als Beweis, dass die Synästhesien als Teil eines ,ursprünglichen‘ Körper- und Sinneswissens im Zivilisationsprozess nur verschüttet wurden und prädestinierte sie, an der Wiederherstellung ganzheitlichen Erlebens mitzuwirken. Diese Anthropologisierung war jedoch v.a. bedingt durch eine neue Dimension der technischen Synthetisierung der Wahrnehmung in Medientechnologien des Films, des Radios und des Fernsehens. Parallel zu den neuen Massenmedien zielte die Installierung des Synästhetischen auf eine Automatisierung und Effektivierung der Wahrnehmung und eine direktere Kommunikation bei der Steuerung und Mobilisierung von Massen. Der Film bildete ein neues Dispositiv der synthetischen Synchronisierung der Sinne, die, mittels des Synästhetischen auf vermeintlich ,ursprüngliche‘, leibliche Wissensbestände zurückgeführt und naturalisiert werden konnten. Als Teil einer Ästhetik der Medien und zugleich neuer Körpertechniken und -praktiken folgte das Synästhetische einer konstruktiven Logik des Zerteilens und Neuzusammensetzens, der Analyse und Synthese, bei der jedoch der Akt des Entwerfens im Verweis auf seine phylo- und ontogenetische Verankerung im Verborgenen blieb. Die
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Verleiblichung des Synästhetischen wurde einer zunehmenden Maschinisierung, Technisierung und Medialisierung der Welt entgegengestellt, deren Ergebnis sie jedoch überhaupt erst war. Dergestalt modellierte das Synästhetische als künstlerische Praxis in technisch-medialen Ausgestaltungen einer Farblichtmusik oder dem abstraktem Film selbst technische Prinzipien der Kopplung von Bild und Ton und darin eingebettete neue Bedeutungen, Sinnstrukturen und epistemologische Kontexte. Als Entwürfe eines neuen Menschen und Gemeinschaftsutopien mit Medientechniken verbindendes Prinzip generierte das Synästhetische entscheidende Schnittstellen zwischen Wissenschaft, Kunst, Technik, Medien und Alltagskultur, die sich z.B. im Bauhaus verdichteten. Wird allgemein argumentiert, dass es zwischen 1940 und 1980 aus mehreren Gründen kein Interesse an den Synästhesien gab, d.h. demzufolge auch keine Konzepte des Synästhetischen generiert wurden, so konnte gezeigt werden, dass es sich vielmehr um dessen Neuformulierung handelte, die erst in den 1980er Jahren gesamtkulturell tragend wurde. War für vorhergehende Versionen des Synästhetischen der, wenn auch konstruierte, Verweis auf eine ursprüngliche Einheit und Ganzheitlichkeit wesentlich, so konnte der Bruch im Synästhesiediskurs vielmehr als Hinweis auf den Verlust von Einheits- und Ganzheitsutopien und deren bewusste Verweigerung in Folge der desaströsen geschichtlichen Ereignisse gedeutet werden. Im Zuge dessen wurden die technische und anthropologische Ebene des Synästhesiediskurses zunächst voneinander entkoppelt, um sie auf eine neue Weise zu kombinieren. Denn eine junge Künstlergeneration um John Cage knüpfte ganz bewusst an die synästhetischen Experimenten der ersten Jahrhunderthälfte an. In Happenings, Performances und Installationen kombinierten sie jedoch verschiedensinnliche Elemente nicht mehr auf der Basis von Entsprechungen oder in Bezug auf eine angenommene Einheit, sondern frei nach dem Prinzip des Zufalls. Einheit oder Ganzheit, Sinn und Bedeutung konstituierten sich damit erst performativ im subjektiven Erleben des Einzelnen. Rekurrierten sie damit zwar auf synästhetische Ganzheitsvisionen und die Idee des Gesamtkunstwerks, so entlarvten sie diese, in dem sie demonstrierten, dass außerhalb des Subjekts keine Ganzheit existiert, auf die verwiesen werden kann. In Gemeinschaftsprojekten mehrerer Künstler verschiedener Gattungen, die das Prinzip eines genialen Künstlers und den Werkbegriff unterliefen, trafen die Materialien, Medien und Künste erst in der Wahrnehmung des Rezipienten zusammen. Als künstlerische Praxis verlagerte sich das Synästhetische dabei hin zu einer Kombination der Medien, prägnant von dem Fluxus-Künstler Dick Higgins als Intermedia bezeichnet. Machten Künstler wie Nam June Paik mit derartigen Verfahren das Prinzip technischer Medien selbst deutlich, die in ihrer Kombination multiple mögliche Welten und Deutungen produzieren, so nahmen sie das Digitale und seine Möglichkeiten der Kombination ,von allem mit allem‘ vorweg, das die Utopie von Ganzheit technisch besetzte. Zugleich lenkten sie den Blick auf die Rolle des Subjekts bei der Produktion von Wissen, während zeitgleich
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Theoretiker wie François Lyotard oder Michel Foucault den Wissensbegriff selbst problematisierten. Die Konstituierung von Wissen, Körper und des Subjekts selbst wurden zu Prozessen, die kulturellen Determinierungen, Einschreibungen und Wahrnehmungsmustern ebenso unterliegen wie subjektive Erfahrungen. Das Synästhetische bezieht sich seitdem nicht nur auf die Verknüpfung verschiedener Medien oder (künstlerischer) Techniken sondern auf den Wahrnehmungsprozess selbst, in dem, jenseits einer wie auch immer beschaffenen äußeren Realität, das Subjekt und seine Welt in intermedialen und synästhetischen Kopplungen erst performativ hergestellt werden. Demgemäß entfalteten die Synästhesien auch eine faszinierende Wirkung im Umfeld der New-Age- und Hippiebewegung, die es in der Tradition theosophischen und okkultistischen Gedankenguts in Kombination mit neuen, bewusstseinserweiternden, psychedelische Zustände hervorrufenden Drogen wie LSD in esoterische Kontexte einbanden. Die künstlerische Praxis der 1960er und 1970er Jahre bereitete auf diese Weise eine ,Wiederentdeckung‘ des Synästhetischen in den 1980er Jahren vor, in der die technische und anthropologische Dimension des Synästhesiediskurses wieder verbunden wurden. Vor dem Hintergrund einer digitalen Medienrevolution seit den 1980er Jahren muss die Rede von einer ,Wiederentdeckung‘ v.a. als Inszenierungsstrategie der Wissenschaft gelten, die zum einen dazu diente, herrschende neurowissenschaftliche Paradigmen wie die Annahme eines dominierenden Kortex zu hinterfragen, und zum anderen bestimmte Zuschreibungen des Synästhetischen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aktualisierte, die auf die Ganzheitlichkeit der Wahrnehmung und eine Einheit der Sinne abhoben. Diese erneute Betonung eines ganzheitlichen und gesamtsinnlichen Charakters zielte jedoch nicht mehr auf utopische Gemeinschaftsentwürfe, sondern auf das Subjekt im Kontext multipler, sich überlagernder medialer, digitaler, virtueller und imaginärer Welten. Wurden bereits um 1900 insbesondere Künstlern synästhetische Fähigkeiten zugeschrieben und als Ausdruck von Intelligenz und Kreativität interpretiert, so verdichtet sich das Synästhetische seit den 1980er Jahren zu einem Persönlichkeitsmerkmal, das die Orientierung und Navigation in mehrfach medialisierten und virtualisierten Arbeits- und Lebenswelten erleichtert. So wird der Synästhetiker immer stärker zum Ideal eines neuen Menschen stilisiert, der sich im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung durch eine stärkere kreative Begabung, ein besseres Gedächtnis und eine größere Offenheit und Bereitschaft zum ,Querdenken‘ auszeichnet. Besonders alternative, emotional betonte Wissensstrategien bewertet das Synästhetische dabei neu. Mit den Kognitions- und Neurowissenschaften hatte sich seit den 1960er Jahren ein Netz von Wissenschaften und Methoden herausgebildet, die sich an der Analogie von menschlichem Gehirn und Computer abarbeiteten und daran orientierte Modelle des menschlichen Denkens und Wahrnehmens entwickelten. Als Gegenreaktion auf ein Verständnis des Gehirns als reine Rechenmaschine etablierte sich die Aufwertung gerade der menschlichen Eigenschaften, die sich nicht mathematisch erfassen und
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formalisieren lassen. Beide Tendenzen spielten jedoch für die Konzeptualisierung des Synästhetischen gleichermaßen eine Rolle. Denn bewiesen neue, auf der Logik der Computeranalogie basierende, bildgebende Verfahren als Techniken der Sichtbarmachung von Hirnstrukturen und -prozessen die Existenz einer synästhetischen Wahrnehmung im wissenschaftlichen Diskurs, so stellten sie zugleich das gängige Modell eines in Areale aufgeteilten, modularen Gehirns in Frage. So stimulierte das Synästhetische alternative Modelle des Gehirns, die gegen eine zentralistische Organisation Netzwerke aus Neuronenverbänden setzten und in dieser Form wiederum die Weiterentwicklung digitaler Technologie hin zum Internet spiegelten. Diese Doppeldeutigkeit des Synästhetischen zieht sich durch seine neurowissenschaftliche Erschließung, in dem Forschungsergebnisse die Synästhesien beispielsweise sowohl auf frühen Verarbeitungsstufen der Wahrnehmung als auch auf höheren kognitiven Ebenen bestätigen, was jedoch verschiedene dahinter liegende Konzeptionen impliziert. Sind Synästhesien durch kognitive Prozesse verursacht, so involvieren sie kulturell geprägte Lernprozesse und Praktiken wie Sprache oder Schrift, während sie als reines Wahrnehmungsphänomen eher als Relikt einer undifferenzierten Welterfahrung, wie sie z.B. beim Neugeborenen vorliegt, daher kommen. Dadurch nimmt das Synästhetische eine interessante Zwischenstellung ein, die es im Rahmen wissenschaftlicher Paradigmen der Inter- oder Transdisziplinarität in den Blickpunkt rückt. Auffällige Verbindungen von Natur- und Geisteswissenschaft, Wissenschaft und Kunst mischen die Bedeutungsebenen und Konzeptionen des Synästhetischen während synästhetische Praktiken, als multisensorische Kopplungen in digitale Technologien eingebunden, verstärkt die Populärkultur unterwandern. Mediaplayer, Datenbrillen, Touchscreens, Computerspiele bis hin zum industriellen Produkt- und Geräuschdesigns partizipieren in dem Anspruch einer möglichst intensiven Involviertheit ihrer Nutzer an synästhetischen Modellen und designen dabei unsere Wahrnehmung selbst. Als Multimedia der Sinne fungiert das Synästhetische als Schnittstelle und Auflösung der Grenze zwischen menschlicher Wahrnehmung und Medientechnik, in dem es als Teil einer Virtualisierung der Wahrnehmung körperlich-sinnliche Erfahrung in mediale Welten integriert und transformiert und zugleich als Element einer Medialisierung des Körpers diesen für digitale Technologien anschlussfähig macht. Internetphänomene wie der GangnamStyle oder der Harlem Shake, die Massen zum Tanzen animieren, weisen dabei auf die Rolle von Körperpraktiken in diesen Prozessen hin. Denn gegen ein Verschwinden des Körpers hinter Monitoren und Robotern betont das Synästhetische als sinnlich-leiblich konnotierte Erfahrung dessen Existenz als Schnittstelle in MenschMaschine-Interaktionen und Möglichkeit, parallel in realen und virtuellen Welten zu agieren und zu empfinden, wie es eine Reihe von Tanz-, Performance- und Medienkünstlern herausstellen, die den Körper selbst in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen.
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VI.2 Ü BERWINDUNG DER D IFFERENZEN Im Ergebnis formiert sich aus den verschiedenen Deutungen des Synästhetischen ein Synästhesiediskurs mit spezifischen Mustern. Historisch wie aktuell schwanken die Ausformulierungen des Synästhetischen nicht nur in Bezug auf Wissenschaft und Kunst, Natur- und Geisteswissenschaft zwischen gegensätzlichen Polen. Stand bereits um 1900 zur Debatte, ob Synästhesien pathologisch oder als Zeichen von Genialität, Rückschritt oder Fortschritt menschlicher Evolution zu beschreiben sind, so setzt sich diese Doppeldeutigkeit in den 1920er Jahren in ihrer gleichzeitigen Verleiblichung und technischen Synthetisierung bis zu Fragen nach dem emotionalen oder kognitiven Gehalt der Synästhesien in aktuellen neurowissenschaftlichen Kontexten fort. Diese, dem Synästhesiediskurs inhärente kontradiktorische Spannung begründet die Faszination des Synästhetischen und lässt es als Denkfigur hervortreten. Eine Reduktion und Verflachung der im Synästhesiediskurs angelegten Paradoxien verfehlt seinen grundsätzlichen Charakter, der darin besteht den widersprüchlichen Positionen zu entsprechen und sie dadurch verbinden zu können. Denn das Synästhetische geht in einer Definition nicht auf und beinhaltet immer ein ,Mehr‘, das im negativen Sinn als begriffliche Fehlentwicklung verteufelt werden kann. Fassbar wird dieser Bedeutungsüberschuss erst in einem Verständnis des Synästhetischen als Projektionsfläche und Verhandlungsraum für Fragen menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Fühlens im Lichte ihrer medialen Beeinflussung und Zurichtung. Stellten neue Kommunikations- und Medientechniken wie die Telegrafie, das Telefon, der Computer oder das Internet Modelle und Begriffe für die Theoretisierung der Wahrnehmung und des Denkens zur Verfügung, so fungierte der Synästhesiediskurs dabei als Vermittler und hatte entscheidenden Anteil an der Entstehung und Formierung neuer wissenschaftlicher Disziplinen wie der Psychologie am Ende des 19. Jahrhunderts oder der Neurologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Abweichungen menschlichen Wahrnehmens zu den Medientechniken betonend, beförderte der Synästhesiediskurs zugleich Modelle für die Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medientechniken. So hebelte er ein telegrafisches Sender-Empfänger-Modell der Wahrnehmung durch Suggerieren mehrerer Empfänger aus, ebenso wie ein am Computer orientiertes Verständnis linearer Prozesse der Informationsverarbeitung durch den Nachweis des Einflusses weiterer, emotionaler und körperlich-erfahrungsbasierter Elemente, die in einem Netzwerk zusammenspielen. Als Versprechung einer Einheit der Sinne gelten die Synästhesien und ihre Erforschung im Allgemeinen als eine Neubewertung der Sinnlichkeit und Aufwertung sinnlicher Dimensionen von Erkenntnis. Doch gerade das zeigt der Synästhesiediskurs nicht, denn Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn bleiben von der Forschung bisher nahezu unberührt. Vielmehr erschloss sich eine Konzentration der historischen Synästhesieforschung auf das Farbenhören über die Medienent-
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wicklung, die Hören und Sehen technisch isoliert und die menschliche Wahrnehmung zu deren Zusammenführung herausfordert. Der Synästhesiediskurs initiiert also vielmehr die Einübung von Wahrnehmungsweisen, die von neuen Medientechniken hervorgebracht und gefordert werden und präformiert damit kulturelle Wahrnehmungs- und Wissenspraktiken. Auch in der Synästhesieforschung seit den 1980er Jahren, in der die Vorrangstellung des Farbenhörens zugunsten einer Grafem-Farbe-Synästhesie durchbrochen wurde, zeigte sich eine Konzentration auf den Sehsinn und eine Erweiterung um Elemente kulturell vermittelter Zeichensysteme, was sich in eine allgemein propagierte Visualisierungstendenz der Mediengesellschaft fügte. Der Synästhesiediskurs verweist mit behaupteten dominanten Synästhesieformen und Sinneskopplungen demnach v.a. auf gängige Wahrnehmungsund Erkenntnispraktiken, während neu entdeckte Synästhesieformen auf deren Veränderung hindeuten. So kann beispielsweise die 2005 erstmals beschriebene mirrortouch-synesthesia als Niederschlag und Vorwegnahme neuer Medienpraktiken des Touchscreens oder iPads gelesen werden, die ein haptisch-körperliches Wissen wieder integrieren und damit zugleich neue Wissensordnungen implizieren. So eröffnete am 24. 9. 2014 das 5G Lab Germany, ein Verbund mehrerer Disziplinen und Forscher an der TU Dresden, mit der Ankündigung des ,taktilen Internets‘ als fünfte Generation des Mobilfunks.5 Diese technische Revolution integriert die haptische Dimension in die digitale Kommunikation und erschließt damit neue Anwendung und Schlüsseltechnologien der Zukunft, die in prägnanter Weise die hier entworfenen Thesen bestätigen und verdichten. Bei der Eröffnung präsentierten die Forscher beispielsweise einen ,haptischen Feedback-Handschuh‘, der sowohl in der Telechirurgie als Kopplung eines weit entfernten Arztes mit einem Roboter, der die Operation vor Ort durchführt, oder in Online-Shops, in denen die Waren damit anfassbar werden, zum Einsatz kommen könnte. Der Synästhesiediskurs bleibt demnach immer an konkrete, sinnlich-körperliche Erfahrung gebunden. Und dieser Bereich ist das Spielfeld der Kunst, die als Experimentierfeld für die Erprobung und praktische Umsetzung neuer Wahrnehmungserfahrungen und medialer Kopplungen der Sinne fungiert. So bewegt sich der Synästhesiediskurs mit seinen Ausformulierungen immer im Dazwischen, zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen menschlicher Wahrnehmung und Medialität, Natur- und Geisteswissenschaft, Körper und Geist und ist v.a. angelegt, Widersprüche zu thematisieren und dualistische Sichtweisen zu überwinden. So referierte bereits die wissenschaftliche Ausformulierung des Phänomens um 1900 auf Fallbeispiele in der Literatur der Romantik und auf Wagners Gesamtkunstwerk als zugleich physiologisches und mediales Wahrnehmungsmodell, während die FarbeTon-Forschung in den 1920er Jahren den Zusammenhang von Wissenschaft, Kunst 5
Siehe www.wir-gestalten-dresden.de/veranstaltungen/eroeffnung-des-dresden-5g-lab-inder-tu-dresden/ [letzter Zugriff 25.10.2016]
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und neuen medialen Formen wie dem Film zum programmatischen Forschungsprogramm erhob. So war es auch möglich, dass sich der Synästhesiediskurs in dem Zeitraum von 1940 bis in die 1970er Jahre oberflächlich ganz auf die künstlerische Praxis verlagerte, die offenbar schneller in der Lage war, Veränderung von Wahrnehmungsmustern und Wissenskulturen in Verbindung mit der digitalen Technologie zu thematisieren und in neuen intermedialen Spielräumen auszuloten, als die wissenschaftliche Theoretisierung. In dieser Zwischenstellung erweist sich der Synästhesiediskurs als Krisensymptom und Seismograph der Veränderung kultureller Ordnungsmuster, deren konstruktiven Charakter er zugleich entlarvt. Seine vielfältigen Verknüpfungen, sein Aufleben und seine Intensivierung unter Paradigmen der Inter- oder Transdisziplinarität, wie auch das Ringen um jeweils eindeutige fachspezifische Definitionen der Synästhesie sind Ausdruck dessen. Der Synästhesiediskurs operiert auf der Grenze und schöpft sein Potenzial aus der Differenz zwischen Wahrnehmungspraxis und wissenschaftlichen Modellen der Wahrnehmung, der Sinne und des Körpers, die er permanent in Frage stellt. Nicht nur das Synästhetische selbst wird dabei historisch jeweils neu konstruiert, sondern damit auch Modelle der Wahrnehmung, des Fühlens und Denkens. Der Synästhesiediskurs holt dabei seit dem 19. Jahrhundert immer wieder das zurück, was der kulturelle Diskurs auszugrenzen oder zu verbergen scheint, sei es der Körper, sinnliche Erfahrung oder implizites Wissen, um es über die wissenschaftliche Theoretisierung und die künstlerische Praxis gleichermaßen wieder einzubeziehen. Das wirft einen alternativen Blick auf die neuere Mediengeschichte, der nicht nur nach Medientechniken, sondern vordergründig nach den mit ihnen einhergehenden Wahrnehmungspraktiken und deren Welt veränderndem Status fragt. Dieser innovative Zugriff auf die Kulturgeschichte seit der Moderne macht jenseits fachspezifischer Diskurse die Schnittstellen von Wissenschaft, Kunst, Medien, Alltagskultur sowie sozialen und kommunitären Praktiken erfassbar. Ergebnis ist nicht nur eine Neubetrachtung der Synästhesiedebatte, sondern die Überwindung von Ansätzen, die eine gesamtsinnliche Wahrnehmungs- und Erlebensweise gegen die mediale Disziplinierung und Hierarchisierung der Sinne ins Feld führen, die selbst als Konstrukte betrachtet werden müssen. Ist das Synästhetische als Denkfigur weit mehr als spezielles Wahrnehmungsphänomen oder ästhetische Strategie, so ermöglicht dieses Verständnis ein Neudenken von Bereichen und Themenfeldern, in denen Synästhesie als Begriff selbst bisher gar nicht auftauchte. Ging es hier explizit um die Herausarbeitung des Synästhetischen als historisch spezifische Konzepte, die sich in einem Synästhesiediskurs beschreiben lassen, so bedingte dieser Anspruch eine eher grobe Linie. Konzentrierte sich die Analyse insbesondere auf Material, das bereits mit Synästhesie und der Synästhesieforschung assoziiert ist, um dieses neu zu deuten und eine behauptete ,Geschichte der Synästhesie‘ zu hinterfragen und als Synästhesiediskurs umzuformulieren, so konnten viele sich eröffnende Untersuchungsfelder nur angerissen wer-
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den. So ließen sich die Theater-, Musik-, Literatur- und Kunstgeschichte seit Wagners Gesamtkunstwerk im Lichte des hier formulierten Synästhesiediskurs beschreiben und auf spezifische Modelle des Synästhetischen hin befragen, was hier nur punktuell geleistet werden konnte. Insbesondere die Geschichte des modernen Tanzes als Verhandlung von Körperpraktiken, ebenso wie die Filmgeschichte als Wahrnehmungsschule bieten aus der entwickelten Perspektive interessante Untersuchungsfelder. Zugleich erscheint eine Vermischung und Verbindung der Künste seit dem 19. Jahrhundert in neuem Licht, denn jenseits gattungs- und medienspezifischer Fragestellungen werden die Künste zu Orten, an denen Wahrnehmungsmodelle, Wissensformen und damit in Verbindung v.a. das Subjekt in konkreter ästhetischer Praxis, also im Erleben selbst, verhandelt werden. Fragen nach der gegenseitigen Beeinflussung von Künsten werden als Vorläufer und Teil einer viel umfassenderen in der Wahrnehmung verankerten Mediensynthese erkennbar. Vor allem aber erlaubt das hier Entwickelte einen Zugriff auf neue Spiel-, Kunst-, Wahrnehmungs- und Lebensformen der digitalen Kultur, in der sich in sozialen Netzwerken, Computerspielen, alternate reality games künstliche, virtuelle und reale Welten überlagern und die Grenzen von Fiktion und Realität auflösen. Aktuellstes Beispiel ist der Trend des Handy-Spiels Pokémon go, in dem an realen Orten virtuelle Pokémons und Objekte versteckt sind, die nur durch das körperliche Tatsächlich-vor-Ort-Sein ,eingefangen‘ werden können. Die gegenseitige Durchdringung von Kunst und Leben, Virtualität und Physikalität werden in der digitalen Kultur nicht mehr als Gegensätze, sondern als sich bedingende Faktoren der Existenz sichtbar, ein Verhältnis, das sich aus der Perspektive des hier beschriebenen Synästhesiediskurs bereits als ein seit dem 19. Jahrhundert angelegtes offenbart. Das ermöglicht die Rückführung aktueller Fragen von Immersion oder Embodiment, die die Rolle der emotionalen, sinnlichen und körperlichen Involviertheit bei der Verknüpfung künstlicher und realer Welten beleuchten, auf bereits in der Theatergeschichte etablierte Diskurse der Nachahmung, Einfühlung oder Verkörperung, die dabei wiederum aus einer neuen Perspektive thematisiert werden könnten. Der Körper gewinnt in seiner Materialität dabei eine neue Relevanz und wird zur entscheidenden Schnittstelle einer digitalen Kultur. So realisiert sich Telepräsenz als durch digitale Technologie ermöglichtes Sich-vor-Ort-Fühlen, das vom Grad der Immersion und Identifikation mit einem Avatar oder Roboter abhängt, erst vollständig, wenn alle fühlbaren Reize virtueller Welten tatsächlich als Empfindungen körperlich spürbar werden. Das taktile Internet nähert sich mit der technischen Echtzeitübertragbarkeit haptischer und motorischer Daten einen weiteren Schritt menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten und ihrer Synästhetik an. Bleibt abzuwarten, wann der erste Duftgarten im Internet eröffnet!
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Danksagung
An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, denen zu danken, die diese Arbeit und deren Veröffentlichung begleitet und ermöglicht haben. Für die langjährige inhaltliche, fachliche und freundschaftliche Betreuung danke ich Frau Prof. Dr. Inge Baxmann. Dass Sie immer an mich geglaubt haben, selbst wenn ich es nicht mehr tat, hat mir sehr viel Kraft gegeben. Ebenso geht mein Dank an Frau Prof. Dr. Gerda Baumbach. Insbesondere in der Phase von Rigorosum und Verteidigung waren Sie eine große Bereicherung und Unterstützung. Für fleißiges und sicher nicht immer einfaches Korrekturlesen bedanke ich mich bei Antje Esk und Beate Gruß. Allen Freunden danke ich für stundenlanges Zuhören und Mitleiden. Zu tiefstem Dank verpflichtet bin ich meinen Eltern Gabriele und Karl-Heinz Rühle – ohne euch wäre all das nicht möglich gewesen. Der allergrößte Dank gilt jedoch Dir, Sebastian, für die Geduld und das Ertragen so mancher Tiefpunkte. Lieber Max, lieber Franz, liebe Elsa, danke, dass ihr mir immer wieder gezeigt habt, dass es noch viel wichtigere Dinge gibt.
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