Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft: Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst [1. Aufl.] 9783839416884

Kunstforschung, künstlerische Forschung oder kunstbasierte Forschung sind derzeit populäre Begriffe - spekuliert werden

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Table of contents :
Inhalt
Künstler und Wissenschaftler als reflexive Praktiker - Ein Vorwort
Zum Unterfangen einer ästhetischen Wissenschaft - Eine Einleitung
Die Organisation anderer Wissenspraktiken
Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten
Das Kuratieren von Kunst und Forschung zur Kunstforschung
BlingCrete: Materialentwicklung als transdisziplinärer Forschungsprozess
Klassisch kritisch
Künstlerische Forschung und akademische Forschung
Kunst und Forschen. Arbeit am Partikularen
Modellierungen ästhetischer Wissensproduktion in Laboratorien der Kunst
IRRTUMsFORSCHUNG - Sprechen Sie mit uns, sonst sprechen wir mit Ihnen!
Wie kann Forschung künstlerisch sein?
2 x scheitern Die Kunst der Theorieproduktion /eine Theorie der Kunstproduktion
Grau | Grün - Die Kunst der Theorie
Methods of Artistic Research - Kunstforschung im Spiegel künstlerischer Arbeitsprozesse
Entwurf - Technik - Diagrammatik
Methodische Imagination - Kreativitätstechniken, Geschichte und künstlerische Forschung
Transfer-Diskurse. Zu Künstlerpositionen, Kreativindustrien, Kreativität, Innovation, Ästhetik und Diagrammatik
Design Fiction: Theorie als Praxis des Möglichen
Künstlerisches Denken und Handeln
Körperlichkeit des Denkens
Ästhetik als Wissenschaft sinnlicher Erfahrung
Mit Kopf und Körper - Zu einer möglichen Leiblichkeit in der klassischen Mechanik
Philosophie als Performance
Post Artistic Research
Biografien
Dank
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Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft: Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst [1. Aufl.]
 9783839416884

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Martin Tröndle und Julia Warmers (Hg.)

Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft

Martin Tröndle und Julia Warmers (Hg.)

Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Verlag und Autoren haben sich nach besten Kräften bemüht, die erforderlichen Reproduktionsrechte einzuholen. Für den Fall, dass etwas übersehen wurde, sind wir für Hinweise dankbar, die uns helfen, das Versäumnis zu beheben. Design Patricia Reed | leakystudio.com Lektorat Eva Schauerte, Karoline Weber Korrektorat Alexandra Redmann Druck Majuskel Medienproduktion GmbH Wetzlar ISBN 978-3-8376-1688-0 Gefördert durch die Wüstenrot Stiftung

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Jean-Baptiste Joly und Julia Warmers

Künstler und Wissenschaftler als reflexive Praktiker – Ein Vorwort

ix

Martin Tröndle

Zum Unterfangen einer ästhetischen Wissenschaft – Eine Einleitung

xv

Die Organisation anderer Wissenspraktiken Wolfgang Krohn

Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten

001

Karen van den Berg, Sibylle Omlin und Martin Tröndle

Das Kuratieren von Kunst und Forschung zur Kunstforschung

021

Heike Klussmann und Thorsten Klooster

BlingCrete: Materialentwicklung als transdisziplinärer Forschungsprozess

049

Klassisch kritisch Henk Borgdorff

Künstlerische Forschung und akademische Forschung

069

Hannes Rickli

Kunst und Forschen. Arbeit am Partikularen

091

Elke Bippus

Modellierungen ästhetischer Wissensproduktion in Laboratorien der Kunst

107

Mari Brellochs

IRRTUMsFORSCHUNG – Sprechen Sie mit uns, sonst sprechen wir mit Ihnen!

127

Julian Klein im Gespräch mit Martin Tröndle

Wie kann Forschung künstlerisch sein?

139

2 x scheitern Die Kunst der Theorieproduktion /eine Theorie der Kunstproduktion Maren Lehmann

Grau | Grün – Die Kunst der Theorie

151

Martin Tröndle

Methods of Artistic Research – Kunstforschung im Spiegel künstlerischer Arbeitsprozesse

169

Entwurf – Technik – Diagrammatik Claudia Mareis

Methodische Imagination – Kreativitätstechniken, Geschichte und künstlerische Forschung

203

Adelheid Mers

Transfer-Diskurse Zu Künstlerpositionen, Kreativindustrien, Kreativität, Innovation, Ästhetik und Diagrammatik

243

Simon Grand

Design Fiction: Theorie als Praxis des Möglichen

267

Ursula Bertram

Künstlerisches Denken und Handeln

293

Körperlichkeit des Denkens Gernot Böhme

Ästhetik als Wissenschaft sinnlicher Erfahrung

319

Lydia Schulze Heuling

Mit Kopf und Körper – Zu einer möglichen Leiblichkeit in der klassischen Mechanik

333

Jens Badura

Philosophie als Performance

345

Hagen Betzwieser

Post Artistic Research

357

Biografien

359

Dank

367

Jean-Baptiste Joly und Julia Warmers

und

Künstler Wissenschaftler als

Praktiker –

ein

reflexive

Vorwort

Künstlerische Forschung, Artistic Research, und die damit einhergehenden verschiedenen Begriffsabwandlungen sind zu vielfach zitierten ebenso wie hinterfragten Schlagwörtern geworden, die Eingang gefunden haben in die Reflexion und Praxis von Kunsthochschulen, wissenschaftlichen Instituten sowie von (europäischen) Politikleitlinien zur Kultur und Kreativwirtschaft. Sie führen zur Gründung von neuen Instituten, Journals, Gesellschaften, Förderprogrammen usw. Zugleich stehen Natur-, Sozial- wie Geisteswissenschaftler und auch Künstler kritisch bis ablehnend den Begriffen, Formen und Programmen künstlerischer Forschung gegenüber. Doch lässt sich überhaupt von der wissenschaftlichen und der künstlerischen Forschung sprechen? Gemeinsam ist den Ansätzen von Artistic Research, jenseits ihrer Diversität, der Perspektivwechsel von einer retrospektiven Betrachtung des künstlerischen Werks – des wissenschaftlichen Ergebnisses, wirtschaftlichen Produkts – auf den vorgelagerten (Schaffens-, Forschungs-, Produktions-)Prozess. Anders gefragt, und dies erscheint zentral: Was sind die Parameter für die Entstehung ästhetischer Erfahrungen, neuer Wissenskulturen, wirtschaftlicher Innovationen? Hieraus lässt sich die Bedeutung der Beiträge aus der Wissenschaftsgeschichte, Kunsttheorie, Philosophie sowie Ökonomie für die einzelnen Praktiken ablesen. Aber auch die Akteure selbst – aufgrund eines bewussten Umgangs mit Material, Techniken, Traditionen und

Jean-Baptiste Joly und Julia Warmers

Medien sowie der Fähigkeit zur Selbstreflexion – gelten häufig gemäß Donald A. Schön als reflective practicioner.1 In den Künsten haben dieser Dialog zwischen Denken und Handeln sowie der Fokus auf den Prozess an sich eine lange Tradition, angefangen in den 1920er Jahren im Bereich der Lehre, als sich als Erweiterung des Angebots der traditionellen Akademien Schulen gründen, die – wie beispielsweise das Bauhaus in Weimar oder Wchutemas in Moskau – neue Traditionen zu etablieren versuchen und neue Formen des Transfers von Wissen praktizieren. Ab den 1960er Jahren macht sich besonders in Europa und Nordamerika bei den Künstlern der Nouveaux Réalistes, der Fluxus-Gruppen und PopArt eine Entwicklung der Kunst bemerkbar, der viele Künstlerhäuser ihre Existenz verdanken: Der Entstehungsprozess von Kunst rückt in den Mittelpunkt des künstlerischen Interesses und verdrängt das Kunstwerk selbst in die Rolle eines einfachen Artefakts. Das Mitte der 1970er Jahre in Paris gegründete Centre Pompidou ist europaweit die erste Institution, die sich zur Aufgabe stellte, diesen Entstehungsprozess einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Auch wenn das Centre Pompidou diesen Gedanken nach einigen Jahren gänzlich verwirft, so hat es eine unaufhaltsame Bewegung in Gang gesetzt, die von anderen Kulturinstitutionen, das heißt von neu gegründeten x Künstlerhäusern, aufgenommen wird. In dieser Tradition stehend versteht sich die Akademie Schloss Solitude in Stuttgart mit ihrem Stipendienprogramm, mit dem Aufenthaltsstipendien an Künstler aus allen Kontinenten vergeben werden. Doch ist mit einem neuen Verständnis von künstlerischer Forschung mehr gemeint – und dies versucht der vorliegende Band mit dem Begriff »ästhetische Wissenschaft« einzulösen –, nämlich die Zusammenführung ästhetischer Erfahrungen und Erkenntnisse mit anderen Kontexten wie den wissenschaftlichen. In diesem Sinne etabliert die Akademie Schloss Solitude im Jahr 2002 das Programm art, science & business, das sich zum Ziel gesetzt hat, den Dialog zwischen Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft zu fördern. Bei der Gründung des Programms steht in erster Linie die Erforschung anderer Strategien im Vordergrund, mit denen ästhetische Erfahrungen und Diskurse insbesondere außerhalb des Kunstkontextes übermittelt werden können. Ästhetische Erfahrungen und Erkenntnisse – so ließe sich die Formulierung weiter fassen im Sinne einer aísthesis – werden dabei nicht allein auf die Künste angewandt, sondern inkludieren den Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis, der ebenfalls ästhetischer Natur ist. Verwiesen sei hier beispielhaft auf Hans-Jörg Rheinberger, der als Metapher für 1. Schön: Reflective Practicioner (1983). ein Experimentalsystem das Bild eines im Bau

Vorwort

befindlichen Labyrinths verwendet 2 und das Umherirren des Wissenschaftlers, das unwägbare Forschen in Rekurs auf George Kubler mit dem Suchen des Künstlers vergleicht: Jener »arbeitet im Dunkeln und wird nur von den Tunnels und Schächten früherer Werke geleitet, während er einer Ader folgt in der Hoffnung, auf eine Goldgrube zu stoßen.«3 Mit der Zusammenführung von Künstlern und Wissenschaftlern geht es um die Ermöglichung eines Transfers von Wissen und Erfahrung zwischen den Disziplinen, um die Gewinnung neuer Wissenskulturen und Synergien aus Kreativität, Erfindungsgeist und Management. Die Vernetzung soll nicht über die disziplinären Spezifika hinwegtäuschen oder ihre notwendigen Abgrenzungen aufheben, vielmehr möchte sie die gleiche kulturelle Bedingtheit aufzeigen und fruchtbar machen zur Aufwerfung gemeinsam generierter Fragen und zur Förderung prospektiven, alternativen Denkens. Dass bei solchen inter- und insbesondere transdisziplinären Prozessen, bei denen Paradigmen verworfen und neu aufgestellt werden, Komplexität reduziert werden muss und die Souveränität der Akteure gewahrt bleiben soll – um nur einige problematische Parameter zu benennen –, die Fähigkeit zur Integration der Differenz sowie die Fähigkeit zur Empathie eine zentrale Rolle spielen, verdeutlicht ihre Fragilität. Gexi mäß Richard Sennett ist eine gelungene Kommunikation beziehungsweise Kooperation dialogisch-empathisch, insofern in der Diskussion die unterschiedlichen Positionen weiterhin bewahrt werden (Dialog) und anstelle einer Imitation, trotz oder gerade aufgrund dieser Unterschiede, eine gegenseitige Anerkennung erlangt wird (Empathie).4 Dies im Rahmen einer »ästhetischen Wissenschaft« einzufordern, bildete den Ausgangspunkt für einen Workshop, der am 24.-25. September 2010 auf Initiative des ehemaligen art, science & business Stipendiaten Martin Tröndle von der Zeppelin University, Friedrichshafen an der Akademie Schloss Solitude stattfand und mit dem fragenden Titel »Artistic Research als Ästhetische Wissenschaft?« auf den offenen Ausgang der Diskussion hinleiten wollte. Diese Publikation geht auf den Workshop zurück, bei dem Künstler und Wissenschaftler mit Vorträgen zur theoretischen Einbettung von Artistic Research und Präsentationen von Praxisbeispielen künstlerischer Forschung mitwirkten. Für diesen Band wurden die Beiträge um weitere Aufsätze ergänzt, und der englischsprachige Essay von Henk Borgdorff 2. Vgl. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge (2001), S. 76. wurde ins Deutsche übertragen. Sicherlich 3. George Kubler, zit. n. ebd., S. 77. kann kein Anspruch auf eine vollständige Sennett in einem Vortrag an der Erfassung der Formen von und Stimmen zu 4. Richard Akademie Schloss Solitude, Stuttgart, Artistic Research erhoben werden. Vielmehr 10.02.2011.

Jean-Baptiste Joly und Julia Warmers

umfasst die Publikation analytische und historische Einordnungen sowie jüngste Beispiele inter- sowie transdisziplinärer Kollaborationen mit Beiträgen, die sich ergänzen, aufeinander beziehen sowie auch konträr zueinander stehen und letztlich mit offenem Ausgang zu einer weiteren Diskussion um künstlerische Forschung anregen wollen.

Literatur Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001 Schön, Donald A.: Reflective Practicioner. How Professionals Think in Action. New York 1983

xii

Zum

Martin Tröndle

Unterfangen einer ästhetischen eine

Wissenschaft –

Einleitung

Dieser Band folgt nicht der gängigen Unterscheidung von aísthesis und nóesis, also der Differenz von sinnlicher Erfahrung und geistiger Reflexion, stellt nicht die Trennung des Logischen und des Ästhetischen in den Vordergrund oder versucht, das eine gegenüber dem anderen supérieur zu halten, sondern er fragt nach den Bedingungen eines produktiven Miteinanders durch die Verwindung von Wissenschaft und Kunst. Die mit der Etablierung von Wissenschaft und Kunst eingeführten Differenzen zur Trennung dieser beiden Beobachtersysteme werden hier – zumindest temporär und versuchsweise – wieder ausgeführt, um experimentell zu anderen Beobachtungen zu gelangen. Ein Blick in den aktuellen kunsttheoretischen Diskurs zeigt: Dieser epistemologische Trick ist en vogue, denn Kunstforschung, künstlerische Forschung oder kunstbasierte Forschung sind derzeit populäre Begriffe – spekuliert werden darf jedoch, was mit ihnen gemeint sei. Verfolgt man die internationale Diskussion zu art research, artistic research, art based research, research through /with /about arts, sensual and embodied knowledge etc., so lassen sich eine ganze Reihe von Konzepten ausmachen. Zumindest zwei sollen genannt sein, die das Themengebiet, um das es hier gehen soll, eingrenzen. Zum ersten wird »künstlerische Forschung« als eine der Werkproduktion immanente Tätigkeit angesehen, um neue Objekte oder Prozesse zur ästhetischen Rezeption und deren Verhandlung im

Martin Tröndle

xvi

Kunstsystem zu erzeugen. Künstlerische Forschung wäre das, was Künstler seit jeher tun, um durch Recherche und Experiment die Grenzen ihrer Disziplin zu verschieben; gleich, ob es sich um neue Notationsweisen, Materialbehandlungen oder Sinnaufladungen handelt. Künstlerische Forschung bezeichnet somit den Prozess oder ein Merkmal, die »Meisterwerke« auszeichnen, nämlich exemplarisch neue Wege in der Produktion oder Rezeption von Kunst erprobt zu haben. »Kunst« wird damit spartenübergreifend als Fortschrittsgeschichte konzipiert und künstlerische Forschung als fortschrittsleitendes Prinzip verstanden – eine Konzeption, die insbesondere an den europäischen Kunsthochschulen im Rahmen der neu entstandenen Promotionsprogramme verfolgt wird. Mit dem Schlagwort der »Verwissenschaftlichung der Kunst« lässt sich ein zweiter, aktueller und künstlerisch geprägter Forschungsbegriff fassen. Gemeint sind künstlerische Arbeiten, bei denen vor allem feldforschend oder dokumentarisch vorgegangen wird und die dem Bereich der »kritischen Ästhetik« zugeordnet werden können. Diese Definitionen sind gleichwohl wenig hilfreich, wenn es um Forschung und nicht um Kunst geht. In dem vorliegenden Band soll Kunstforschung nicht per se als künstlerischer Prozess, sondern als »ästhetische Wissenschaft« betrachtet werden – als ein Prozess, der das spezifische Wissen und die Kompetenzen von Künstlern nutzt, um sie in anderen Kontexten als dem Kunstsystem zur Anwendung zu bringen: Künstlerische Kompetenzen und Arbeitsweisen werden mit wissenschaftlichen verwunden, um problemorientiert neues Wissen zu generieren. Es ist kein »Forschen über Kunst«, was in den Zuständigkeitsbereich der Kunstwissenschaften fällt, noch ein »Forschen mit Kunst«, was genuin die künstlerische Produktion charakterisiert. Zentral sind vielmehr Formen der sinnlichen Erkenntnis in einem wissenschaftlichen Kontext zur Generierung neuen Wissens. Im Sinne der angestrebten Problemorientierung steht dabei weniger der wissenschaftliche Wahrheitsbegriff zur Diskussion als vielmehr der Begriff der Nützlichkeit. Es geht auch um das Verhältnis epistemischer und ästhetischer Erkenntnistechniken, insbesondere jedoch um das Potenzial und die Transformation ästhetischen Handelns außerhalb des Kunstfeldes. Die Fabrikation von anderem Wissen, was ein allein wissenschaftliches oder künstlerisches Vorgehen nicht vermocht hätte, findet im Forschungsprozess als soziale Praxis selbst statt. Die experimentelle Komponente der Kunstforschung sowie die Materialisierungspraktiken betonen ihren Entwurfscharakter und ermöglichen die Erfahrung der Konstruktion von Wissen. Davon, wie theoretisch riskant und forschungspraktisch anspruchsvoll die Versuche sind, eine ästhetische Wissenschaft zu konzeptualisieren,

Einleitung

zeugen die höchst verschiedenen Perspektivierungen aus Wissenschafts- und Kunsttheorie, Philosophie, Kunstpraxis, Ökonomie und Kultursoziologie in diesem Band. Unter der Überschrift Die Organisation anderer Wissenspraktiken wurden drei Beiträge zusammengestellt, die insbesondere die Arbeitskultur transdisziplinärer Kunstforschung zum Thema haben. Wolfgang Krohns wissenschaftstheoretische Einordnung eröffnet das Feld, der Beitrag von Karen van den Berg, Sibylle Omlin und Martin Tröndle zur experimentellen Besucherforschung im Museum sowie der folgende zur experimentellen Materialforschung von Heike Klussmann und Thorsten Klooster reflektieren die Andersartigkeit der Wissensproduktion in Forschungsteams, die mit Wissenschaftlern und Künstlern besetzt sind. Mit dem Titel Klassisch kritisch eröffnet sich ein Blick auf das Thema der Kunstforschung aus künstlerischer Perspektive. Die Kunsttheoretiker Henk Borgdorff und Elke Bippus skizzieren künstlerische Forschung insbesondere als kritische Kunstpraxis und künstlerischer Erkenntnismodus, während die Künstler Hannes Rickli, Mari Brellochs und Julian Klein die experimentelle Produktion neuer Wissensformen reflektieren und von ihrer Zusammenarbeit mit Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaftlern berichten. Um die Methodenfragen in der künstlerischen Forschung näher zu untersuchen und theoretisch zu fundieren, geht unter der Kapitelüberschrift 2x scheitern Maren Lehmann der Kunst der Theorieproduktion nach, und Martin Tröndle versucht sich in einer Theorie der Kunstproduktion. Techniken von Entwurf – Technik – Diagrammatik diskutieren Claudia Mareis, Adelheid Mers, Simon Grand und Ursula Bertram in ihren Beiträgen. Die Designtheoretikerin Claudia Mareis gibt einen historischen Überblick zu Entwurfstechniken, die Künstlerin Adelheid Mers diskutiert aktuelle diagrammatische Techniken am Beispiel von Entscheidungsfindungsprozessen in der Stadtentwicklung. Auf den Entwurfscharakter als das »Unternehmerische« der Kunstforschung bezieht sich der Ökonom Simon Grand und übersetzt dies konkret in die Entwurfsmethode des Design Fiction. Den Transfer künstlerischen Denkens in außerkünstlerische Felder sucht auch die Künstlerin Ursula Bertram, die non-lineares Denken und künstlerische Praxis mit Führungskräften und Entrepreneuren übt. In drei Beiträgen verhandeln die Philosophen Gernot Böhme und Jens Badura sowie Lydia Schulze Heuling Aspekte der Körperlichkeit des Denkens. Das Konzept von Ästhetik als Erkenntnisform exemplifiziert Gernot Böhme an historischen Positionen bei Alexander

xvii

Martin Tröndle

Gottlieb Baumgarten, Johann Wolfgang von Goethe und Alexander von Humboldt mit den zentralen Begriffen der Stimmung, der Atmosphäre und des Totaleindrucks sowie der Wahrnehmung der eigenen Leiblichkeit in der Präsenzbeziehung zum Wahrgenommenen. Als Physikerin und Performerin untersucht anschließend Lydia Schulze Heuling die Rolle des eigenen Körpers in Bezug auf die Wahrnehmung und damit auch künstlerische und wissenschaftliche Erkenntnispraktiken. Mithilfe der Performance als ästhetische Praxis unternimmt Jens Badura den Versuch, exploratives Denken in Erscheinung zu bringen. Es geht ihm um Inszenierungsformate philosophischen Denkens, die andere Formen des Nachvollzugs erlauben. Die thematischen Klammern unter denen die Beiträge stehen ergeben einen losen Parcours korrespondierender Positionen. Die Unterschiedlichkeit der Positionen in ihrer Herangehensweise an Theorie und Praxis einer ästhetischen Wissenschaft, bis hin zur Widersprüchlichkeit, macht deutlich, dass das Feld der Kunstforschung nur im Plural und heterogen gedacht werden kann. Diese disziplinäre und methodische Offenheit sollte sie sich bewahren, denn darin liegt ihre Stärke. xviii

Die anderer

Wissenspraktiken

Wolfgang Krohn

Forschung

in

und

Künstlerische wissenschaftliche

transdisziplinären Projekten

Transdisziplinarität Es gibt Forschungsprojekte, an deren Ausgangspunkt die Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Problemlage steht und deren Zielsetzung ein strategischer Beitrag der Wissenschaft zur Entwicklung und Umsetzung einer Problemlösung ist. Obwohl diese Funktion von Forschung beinahe selbstverständlich erscheint, sind die Abweichungen gegenüber der akademischen wie auch der industriellen Forschung erheblich. Sie rechtfertigen den Versuch einer neuen Namensgebung – ergeben hat sich nach einem Vorschlag, den bereits in den 1970er Jahren der Planungstheoretiker Erich Jantsch gemacht hat, der Begriff der »Transdisziplinarität«.1 Es ist ein unglücklicher Begriff, weil er einerseits indirekt an dem in der modernen Wissensordnung kaum noch präzise definierbaren Disziplinenbegriff festhält und andererseits nicht den Bezug zu lebensweltlichen Problemlagen eröffnet. Aber er ist nun einmal in der 1. Jantsch: »Towards Interdisciplinarity and Transdisciplinarity« (1972). Welt und hat eine erfolgreiche Ent2 2. Zur maßgeblichen Literatur über transdisziplinäre wicklung genommen. MissverständForschung zählen: Balsiger: Transdisziplinarität nisse lassen sich vermeiden, indem man (2005); Pohl, Hirsch Hadorn: Gestaltungsprinzipien für die transdisziplinäre Forschung (2006); sich nicht am Begriff, sondern an den Hirsch Hadorn u. a.: Handbook of Transdisciplinary mit der transdisziplinären Forschung Research (2008); Bergmann, Schramm: Transdisziplinäre Forschung (2008); Bergmann u. a.: Methverbundenen Merkmalen orientiert. oden transdisziplinärer Forschung (2010); FrodeAn sie lässt sich auch das Thema dieses man, Thompson Klein, Mitcham: The Oxford Beitrags anschließen: Es geht um die Handbook of Interdisciplinarity (2010).

Wolfgang Krohn

Erkundung des Kooperationspotenzials von wissenschaftlicher und ästhetischer Forschung im Bereich transdisziplinärer Projekte. Im Folgenden werde ich die wichtigsten Merkmale transdisziplinärer Forschung skizzieren. Komplexität: Gesellschaftlich-lebensweltliche Probleme sind selten auf einzelne Schlüsselfaktoren reduzierbar, sondern verknüpfen Aspekte, die man sozialen, technischen und ökologischen Forschungsfeldern zuordnen kann. Komplex sind die Probleme nicht nur durch die Anzahl der Faktoren, sondern auch durch deren nicht-lineare Wechselwirkungen. Forschung steht vor der Alternative, entweder nach Maßgabe disziplinärer Vorgaben eine radikale Vereinfachung vorzunehmen und damit allerdings ihre soziale Einbettung preiszugeben, oder einen hohen Aufwand bei der Integration von Spezialgebieten zu betreiben. Transdisziplinarität ist die Entscheidung für die zweite Alternative. Integration von Spezialwissen: Die moderne Wissenschaft ist so aufgefaltet, dass für praktisch jeden Aspekt eines komplexen Problems ein Spezialgebiet adressiert werden kann, auf dem bereits ein gewisser Bestand an Wissen, Technik und methodischer Anwendungserfahrung vorhanden ist, an den die Erzeugung neuen Wissens anschließen kann. Wie lässt sich dieser Tatbestand erläutern? Ein 2 grober Ansatz ist die Vermutung, dass alle wissenschaftlichen Spezialzeitschriften jeweils einen solchen Wissenskern repräsentieren. Deren Anzahl liegt bei 8.000 bis 9.000 mit einer durch E-Publishing angetriebenen steigenden Tendenz. 3 Bei einer solchen Abschätzung ist es nicht gerade unwahrscheinlich, dass für viele Aspekte komplexer Problemstellungen Wissensbasen bestehen, an die angeschlossen werden kann. Dies besagt natürlich nicht, dass die Analyse, Modellierung und Lösungen solcher Probleme abrufbar seien, sondern nur, dass für deren kompetente Bearbeitung bereits Vorarbeit geleistet ist. Ein weiterer Gesichtspunkt hinsichtlich der Verfügbarkeit von Spezialwissen ist der Tatbestand, dass das gegenwärtige Wissenschaftssystem eine sehr hohe Feinkörnigkeit oder Auflösungskraft gewonnen hat. Man könnte sagen: Die Welt ist wissenschaftsverpixelt. Auch damit soll nicht gesagt sein, dass es keine Fragestellungen mehr gibt, über die noch nie jemand geforscht hat. Im Gegenteil ließe sich sogar behaupten: Je höher die Feinauflösung ist, desto mehr Punkte können benannt werden, die noch nicht untersucht sind. Aber für jeden solcher Punkte existiert eine reichhaltige Wissenschaftsumgebung mit spezialisierten Publikationen und Forschern. Dies ist die epistemologische Basis transdisziplinärer Forschung. Die Integration von Spezialisten in ein 3. Vgl. Björk, Roos, Lauri: »Scientific Journal Publishing« (Stand: 10.05.2011). gemeinsames methodisches Vorgehen beim

Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten

Verstehen und Modellieren eines komplexen Gegenstandes erweist sich als Schlüsselaufgabe transdisziplinärer Kommunikation und Kooperation.4 Heterogene Akteure: Lebensweltliche Problemlagen verlangen in der Regel nicht nur wissenschaftliche Spezialisten, sondern auch nicht-wissenschaftliche Kenner, die Erfahrungswissen aus Beobachtung und Praxis vor Ort besitzen.5 Das können Laien sein, häufig genug aber auch professionelle Experten, die ein sehr genaues lokales Wissen besitzen, ohne als Forscher tätig zu sein. Hinzu kommen in vielen Projekten die Interessen von »Stakeholdern«, die Vorgaben aus Politik und Verwaltung sowie Wertvorstellungen von Vertretern sozialer und ökologischer Bewegungen. Transdisziplinäre Forschungsprozesse sind daher häufig mit Verhandlungssystemen verbunden, in denen heterogene Akteure interagieren und Abstimmungen über die Randbedingungen von Projekten erzielen müssen. Forscher sind dann nicht nur als Spezialisten ihres Faches, sondern vielmehr als professionelle Spezialisten und Konfliktmanager gefragt, ohne zwangsläufig dafür Kompetenz und Talent mitzubringen.6 Real-experimentelle Innovationen: Viele transdisziplinäre Forschungsprojekte werden in Auftrag gegeben, weil Wissen für innovative Lösungen erwartet wird. Es mag sich dabei um Projekte aus 3 den Bereichen der Gesundheitsvorsorge, der ökologischen Sanierung, der Stadt-, Verkehrs- und Infrastrukturentwicklung, der Energieversorgung, der Reform des Justizvollzugs oder der Schulreform handeln. Jedoch besitzt das auf solche Nachfrage hin generierte Wissen selten einen Status des bereits Erprobten und Bewährten. Und selbst wenn dies der Fall wäre, ist die Anwendung auf eine neue Problemkonstellation mit Unsicherheiten belastet. Typischerweise sind die Ergebnisse daher in Formen wie Entwicklungspfade, Szenarien, Zukunftsmodelle oder Wahrscheinlichkeitsprognosen gebracht, die schon in ihrer Terminologie auf die Risiken der Unvollständigkeit und Ungewissheit des Wissens hinweisen.7 Transdisziplinäre Forschungen, die in Innovationsprojekte eingebunden 4. Darauf konzentrieren sich Bergmann u. a.: Methoden transdiszisind, tragen deshalb oftmals real-experimentelle plinärer Forschung (2010). Züge. Die Erprobung und situationsangemessene 5. Vgl. Böhle: »Wissenschaft und ErAusformung des in einem Projekt erzeugten und fahrungswissen« (2003). Eine breiin eine Problemlösung eingebundenen Wissens te Diskussion lösten Harry Collins and Robert Evans aus: »The Third finden mindestens zum Teil erst in der AnwenWave of Science Studies« (2002). dungsphase statt. Sie verlegen den historischen 6. Beispiele der praktischen ModelOrt der Forschung, den geschützten Raum des lierung finden sich in Renn: »The Challenge of Integrating DeliberaLabors, wenigstens teilweise in gesellschaftliche tion and Expertise« (2004). Reformvorhaben, in denen Wissenserzeugung 7. Vgl. Krohn: »Das Risiko des (Nicht-) und Innovationsstrategie verbunden sind. Bereits Wissens« (2003).

Wolfgang Krohn

1969 hat der amerikanische Pragmatist Donald T. Campbell die einflussreiche Formel »Reforms as Experiments« 8 geprägt. Es gibt allerdings verbreitete Widerstände gegen die Vorstellung, dass auf diese Weise Menschen zu Versuchskaninchen von Modernisierungsprojekten werden, nicht zuletzt wegen des Missbrauchs der medizinischen Forschung im Nationalsozialismus. In jüngerer Zeit setzt sich jedoch die Einsicht durch, dass in vielen Bereichen, in denen Forschung und Innovation ineinander spielen, real-experimentelle Praktiken ihre besonderen Qualitäten haben können.9 Legitimation und Akzeptanz: Wenn und soweit transdisziplinäre Projekte im offenen Innovations- und Reformraum der Gesellschaft stattfinden, bricht eine klassische Bedingung der Forschungslegitimation ein. Freiheit der Forschung im Sinne eines uneinschränkbaren Verfassungsrechts wird gewährt, weil nach allgemein anerkannter Lesart wissenschaftliche Erkenntnis als solche nicht schaden kann. Die Risiken von experimentellen Irrtümern und Fehlschlägen sind ebenfalls unschädlich, solange sie auf das Labor und den theoretischen Diskurs begrenzt sind. Diese kategoriale Trennung zwischen Wissenschaft und Anwendung hat historisch viel zur Dynamisierung der Forschung beigetragen, auch wenn sie kontrafaktische Züge trägt. Denn tatsächlich haben fragwürdige Theorien oft bereits 4 in ihrem Frühstadium unter aktiver Beteiligung der Wissenschaftler gesellschaftliche Wirkungen entfaltet (wie etwa der Sozialdarwinismus oder die Psychoanalyse), und ebenso wurde die experimentelle Praxis häufig in die Anwendungsfelder hineingezogen (besonders in der Medizin und an vielen Schnittstellen von Wissenschaft und Technik). Bei transdisziplinären Innovationsprojekten wird allerdings nun öffentlich anerkannt und bekannt, dass fehlendes Wissen teilweise erst im Verlauf des Innovationsprozesses beschafft werden kann. Dafür Akzeptanz zu gewinnen, ist nicht immer leicht und verlangt öffentliche Zugänglichkeit und Transparenz der Planung und Einführung, ein sorgfältiges Monitoring und Eingriffsreserven für Korrekturen. Es deutet sich hiermit ein neues Beziehungsgefüge zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit an, welches als charakteristisch für die sich herausbildende Wissensgesellschaft gilt. Besonders auf europäischer Ebene hat ein Suchprozess nach den geeigneten Institutionen begonnen, mit denen öffentliche Akzeptanz 8. Campbell: »Reforms as Experiments« (1969). und politische Legitimation errungen 9. Vgl. Groß, Hoffmann-Riem, Krohn: Realexperiwerden können.10 mente (2005); Krohn: »Realexperimente (2008). Es drängt sich die Frage auf, was 10. Eine derartige Institution, die als Expert Group on Science and Governance von der Europäischdiese Veränderungen in der Beziehung en Kommission eingesetzt wurde, legt folgenden zwischen Wissenschaft und GesellBericht vor: Wynne u. a.: Taking the European schaft mit Ästhetik oder künstlerischer Knowledge Society Seriously (2007).

Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten

Forschung zu tun haben. Eine ausführliche Antwort hierauf ist an dieser Stelle schwierig, ein zentraler Gesichtspunkt sei aber vorweg genannt: Transdisziplinäre Forschungsprojekte schließen nicht nur Wissenslücken, sondern werfen Gestaltungsaufgaben auf. Komplexe Probleme besitzen selten einfache Lösungen, vielmehr verlangen sie nach Lösungsstrategien, in denen die genannten Faktoren der Wissensintegration, der Abstimmung unter heterogenen Akteuren, der laufenden Beobachtung und Optimierung berücksichtigt werden. Eine schnell anwachsende Literatur belegt, dass die Entwicklung dieser Strategien sowohl im Sinne neuer Forschungsmethoden als auch als Aufgaben eines neuen Forschungsmanagements in den letzten Jahren in Gang gekommen ist.11 Es ist diese Zentralität der Gestaltung, die in meinen Augen einen Brückenschlag zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung nicht nur zulässt, sondern verlangt. Sicherlich ist von Seiten der künstlerischen Forschung nicht zu erwarten, dass sie sich vollständig auf den Begriff der »Gestaltung« festlegen lässt; das wäre nicht einmal wünschenswert. Nicht jedes Streben nach künstlerischer Erfahrung zielt darauf, Objekte oder Werke zu schaffen, die den Gebrauchswert einer Problemlösung besitzen. Dieselbe Einschränkung gilt für die wissenschaftliche Forschung, die ja bei Weitem nicht nur aus transdisziplinären Projekten besteht. Die Einladung, zu den genannten komplexen Gestaltungsaufgaben gemeinsam und durch die systemischen Grenzen von Wissenschaft und Kunst hindurch beizutragen, schließt andere Varianten der künstlerischen Forschung nicht aus. Nicht allzu unbescheiden ist allerdings die doppelte Behauptung, dass in den Konstellationen transdisziplinärer Forschung ein besonderer Bedarf an spannungsreicher Kooperation und eine große Aussicht auf spektakuläre Erfolge bestehen. Bevor ich hierauf mit Begriffen und Beispielen eingehe, möchte ich den Gestaltungsbegriff in seiner wissenschaftstheoretischen Bedeutung betrachten.

Wissenschaftstheoretischer Exkurs: Nomothetisches und idiografisches Wissen Transdisziplinäre Projekte stellen Forschung vor die ungewohnte Aufgabe, sich um die konkrete und umfassende Lösung eines spezifischen Vorhabens zu bemühen. Die gewohnte Aufgabe der Forschung ist dagegen, einen Vorgang aus seinen zufälligen Umständen herauszulösen und in ihm kau- 11. Vgl. neben den bereits genannten: Frodeman, Thompson Klein, Mitcham: sale Zusammenhänge zu entdecken, die von The Oxford Handbook of Interdisciplinaallgemeiner Gültigkeit für ähnliche Vorgänge rity (2010).

5

Wolfgang Krohn

sind. Man kann diesen Gegensatz an einem Beispiel erläutern, das in jüngerer Zeit ein gewisses Gewicht bekommen hat: die Erschaffung neuer Seen in einer Landschaft, die durch Braunkohletagebau tiefschürfend verändert worden ist und nun durch Gewässer, die es dort nie gegeben hat, ökologisch und ökonomisch saniert werden soll. Jede solcher Konstruktionen muss auf die spezifischen geologischen Gegebenheiten, die Ablagerungen, das Grundwasser, die Zuflüsse, die Pflanzenökologie der Ufer, die Nahrungsbedingungen des pflanzlichen und tierischen Lebens im Wasser Rücksicht nehmen. Sie sind daher Unikate und müssen als Unikate behandelt werden. Natürlich können an ihnen auch Kausalzusammenhänge erkannt werden, die dann unter Laborbedingungen überprüft werden, um als verallgemeinertes Wissen an anderer Stelle Verwendung zu finden. Aber diese »andere Stelle« ist wiederum ein Unikat. In der Wissenschaftstheorie ist die Spannung zwischen dem Eigenrecht des Einzelfalls und seiner Nutzung als Exemplar einer Verallgemeinerung bereits am Ende des 19. Jahrhunderts von dem Neu-Kantianer Wilhelm Windelband und seinem Schüler Heinrich Rickert behandelt worden. Im Kern behaupten sie, dass es in den Wissenschaften zwei unabhängige Erkenntnisideale gebe, die in grober Näherung die Arbeit der Naturwissenschaften von jener der 6 Geisteswissenschaften trenne. Windelband erfindet zu ihrer Benennung die Begriffe der »Nomothetik« und der »Idiografie«. Im damaligen Kontext geht es den Autoren darum, den von dem Ansturm der Naturwissenschaften in Bedrängnis gebrachten Kultur- und Geschichtswissenschaften eine neue Legitimationsbasis zu verschaffen, die sie von dem naturwissenschaftliche Credo befreien soll, dass alle Wissenschaft letztendlich der Erkenntnis von allgemeingültigen Gesetzen verpflichtet sei. Die Kultur- und Geschichtswissenschaften sind in wissenschaftstheoretischer Betrachtung trotz ihrer ehrwürdigen Tradition in die eigentümliche Rolle eines Juniorpartners geraten, dem es noch nicht gelungen sei, die Grundlagen für eine erfolgreiche statistische und kausaltheoretische Analyse ihrer Objekte zu schaffen. Gegen das nomothetische Erkenntnisideal, das sie nicht in Frage stellen, setzen Windelband und Rickert das Ideal des idiografischen Verstehens einer besonderen historischen Konstellation oder kulturellen Gegebenheit, die es in ihrem Eigenwert zu erfassen gelte. Einen Gegenstand in seiner »Einmaligkeit und nie wiederkehrenden Individualität«12 zu erschließen, setzt nach Rickert voraus, das Wertvolle dieses Gegenstandes im Blick zu haben. Damit sind vor allem hochrangige Kulturgüter gemeint. Im heutigen Kontext problemorientierter Forschung 12. Rickert: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1924), S. 8. wird häufig eher der eingetretene oder

Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten

drohende Wertverlust thematisiert. Nach Rickert besteht »nicht nur ein notwendiger Zusammenhang der generalisierenden mit der […] wertfreien Betrachtung der Objekte, sondern auch ein ebenso notwendiger Zusammenhang der individualisierenden mit der wertverbindenden Auffassung der Objekte«.13 Während das nomothetische Erkenntnisideal dazu zwingt, betrachtete Gegenstände nach ihren Ähnlichkeiten zu sortieren und von den Unähnlichkeiten zu abstrahieren, leitet das idiografische Ideal dazu an, die Unterschiede herauszuarbeiten, die zur jeweiligen Besonderheit beitragen. In der folgenden Tabelle sind einige Kennzeichen, die die Arbeit unter dem Vorrang des einen oder des anderen Ideals unterscheiden, eingetragen. Auf die am Ende angeführten ästhetischen Ideale werde ich zu sprechen kommen.

Nomothetisches Ideal

Idiografisches Ideal

Generalisierung

Individualisierung

Reduktion von Komplexität durch Abstraktion

Erhöhung von Komplexität durch Vollständigkeit

wertfrei

wertbeladen

Ähnlichkeit zwischen Objekten wichtig

Differenz zwischen Objekten wichtig

kontingente Bedingungen schränken Geltung ein

kontingente Bedingungen erhöhen Geltung

Nutzen des Wissens steigt mit Generalisierung (deduktives Modell)

Nutzen des Wissens steigt mit Spezifikation (expertives Modell)

ästhetisches Ideal: Eleganz

ästhetisches Ideal: Fülle

In grober Näherung, so habe ich gesagt, sortieren diese Erklärungsideale die Wissenschaften einerseits in Natur- und Technikwissenschaften, andererseits in Geistes- und Kulturwissenschaften. Jedoch weist bereits Windelband deutlich darauf hin, dass bei genauerer Betrachtung beide Erkenntnisideale in allen Wissenschaften vertreten sind, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichten und Funktionen. Viele Gegenstände können »zum Objekt einer nomothetischen und daneben auch einer idiographischen Unter- 13. Ebd., S. 58. suchung gemacht werden.14 « Er führt dafür 14. Windelband: »Geschichte und NaturBeispiele an, die noch heute zu denken geben. wissenschaft« (1907), S. 145.

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Jede einzelne Sprache der Welt ist in Entstehung und Entwicklung ein einmaliger Fall, den vollständig zu verstehen einen großen historischen und ethnografischen Aufwand erfordert. Andererseits dient jede Sprache als Exemplar der Sprachtypenforschung. Jede einzelne Tier- und Pflanzenart in ihrer Entstehung zu rekonstruieren, verlangt idiografische Methodik. Diese Singularität gibt es auch im großen Maßstab: Das gesamte organische Leben auf der Erde ist eine einmalige »Entwicklungsgeschichte«, für die kaum eine Chance besteht, sie jemals mit Entwicklungen auf anderen »Weltkörpern« zu vergleichen. In demselben Sinne hält Windelband die geografische Gestalt der Erde für das Ergebnis einer einmaligen Geschichte, auch wenn die einzelnen Erscheinungen für die Beobachtung von Gesetzmäßigkeiten einzelner Formationen herangezogen werden können. Da diese Beispiele leicht vermehrt werden können, erscheint letztlich die Unterscheidung als Grenzziehung zwischen den wissenschaftlichen Kulturen ungeeignet. Stattdessen entscheidet die unterschiedliche Erkenntnisabsicht – »die eine sucht Gesetze, die andere Gestalten«. 15 Obwohl Windelband sich mit der Frage befasst, welchem Erkenntnisideal ein höherer »Erkenntniswert« im »Kampf um den bestimmenden Einfluß auf die allgemeine Welt- und Lebensansicht des Menschen« 16 zukomme, geht es ihm letztlich um deren produktives Zusammen8 spiel – und damit wären wir wieder bei unserem Ausgangsthema. Moderne Wissenschaft kann gestaltend in die Lebenswirklichkeit eingreifen, gerade weil die kausalgesetzlichen Ressourcen in immer größerem Umfang und genauerer Feinauflösung zur Verfügung stehen. Jedoch ergibt sich ein solcher Gestaltungsprozess nicht beliebig und von selbst aus der Anwendung von Wissen auf bestimmte Rahmenbedingungen, sondern durch die Erarbeitung eines konkreten, situationsgerechten und vollständigen Modells und meist auch durch dessen Ausprobieren und Anpassen unter Realbedingungen. Windelband möchte mit »Gestaltung« besonders das beschreibende Verstehen komplexer Konstellationen erfassen, die der rekonstruktiven Bemühungen Wert sind. Ich benutze diese Kategorie im Kontext von Projekten, in denen maßgeschneiderte Lösungen für komplexe Probleme erarbeitet werden sollen. Jedoch sieht bereits Windelband die Nähe zum künstlerischen Gestaltungsprozess, wenn er von den »Bildern« spricht, die ein Historiker schafft, von dem »Reichtum ihrer eigenartigen Ausgestaltungen« 17 und von der »Verwandtschaft des historischen Schaffens mit dem ästhetischen und dies der historischen Disziplinen mit den belles lettres«.18 15. Ebd., S. 150. Es passt ausgezeichnet in dieses Bild, dass der Historiker 16. Ebd., S. 152. Theodor Mommsen 1902 – in Konkurrenz zu Leo Tolstoi – 17. Ebd., S. 151. den Literaturnobelpreis für seine Römische Geschichte verliehen 18. Ebd., S. 150.

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bekam. Es war genau die ästhetische Eleganz seiner Darstellung, die der Preußischen Akademie der Wissenschaften den Mut gab, ihn vorzuschlagen. Im Schreiben der Akademie heißt es: »Alles aus seiner Feder zeigt das lebhafte, scharfe Gepräge einer geistreichen Individualität, eines künstlerischen Stilisten, eines vergegenwärtigenden Bildners […].« 19 Die Laudatio drückt es ähnlich aus: »Selten fühlt man so lebhaft wie beim Studium von Mommsens ›Römischer Geschichte‹, dass Clio eine der Musen war. […] So groß ist die Kraft der historischen Wissenschaft, wenn sie zugleich große historische Kunst ist.« 20 Dieses ästhetische Prinzip des »vergegenwärtigenden Bildners« ist grundsätzlich nicht nur in historiografischen Rekonstruktionen bedeutsam, sondern in allen idiografisch angelegten Analysen der Kultur- und Sozialwissenschaften. Darüber hinaus, das war der Ausgangspunkt dieses Beitrags, ist es in allen pragmatisch angelegten Projekten wirksam, in denen es um die Erfassung und Lösung komplexer Probleme geht. Die Beziehung, welche die Muse Clio zwischen Wissenschaft und Kunst stiftet, ist in der Zeit um 1900 vermutlich noch durch die aufwendige Historienmalerei und den historischen Roman, vielleicht auch bereits durch die sozialkritische Romanliteratur geprägt. Bekanntlich ist es Émile Zola, der das sich über Jahrzehnte erstrecktende Romanwerk Die Rougon-Macquart gewöhnlich unter die Konzeption des roman éxperi9 mentale stellt. In der gleichnamigen Programmschrift von 1880 erklärt Zola »den Schauplatz der Literatur zum Labor, in das der Schriftsteller seine Personen versetzt, um Verhalten und Charakterentwicklungen angesichts der kontrollierten Eingriffe (provocations) des Erzählers zu beobachten und narrativ zu protokollieren«.21 Im Gegensatz zur Arbeit im naturwissenschaftlichen Labor kommt es auf dem »Schauplatz Literatur« nicht auf die reduktionistische Abstraktion an, durch die alle Romanfiguren langweilig, weil einfach und berechenbar wären. Natürlich spielt in der Ästhetik der Wissenschaften auch das entgegengesetzte Prinzip, die Eleganz der theoretischen Axiomatik und der idealen Versuchsanordnung, eine Rolle. Die Literatur zum Thema Ästhetik und Wissenschaft konzentriert sich hierauf und verkennt damit in der Regel, wie groß die Distanz zwischen dem künstlerischen Schaffen der Gegenwart und den als Muster der Eleganz herausgestellten Theorien und Experimenten ist. 22 Dort jedoch, wo konkrete Gestaltungsaufgaben die Wissenschaft 19. Zit. n. Schlange-Schöningen: »Ein ›golddazu zwingen, in ihren Modellierungen ener Lorbeerkranz‹ für die ›Römische Geschichte‹« (2005), S. 215. und Interventionen mit verqueren Grö20. Ebd., S. 219. ßen, Widerständen und Überraschungen Krause, Pethes: »Zwischen Erfahrung und umzugehen, steht sie der künstlerischen 21. Möglichkeit« (2005), S. 8|f. Forschung nicht nur nahe, sondern kann 22. Hierzu Krohn: »Schönheit trifft Wahrheit?« von ihr lernen und mit ihr kooperieren. (2010).

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Forschen und Lernen Was und wie lernt man, wenn Forschung nicht nur auf Verallgemeinerung, sondern auch auf die verstehende Durchdringung und Gestaltung eines besonderen Falls oder Werkes gerichtet ist? Diese Frage ist spannend sowohl für die wissenschaftliche als auch die künstlerische Forschung. Eine induktionistische Antwort würde dabei zu kurz greifen. Zwar lässt sich immer sagen, dass jeder Fall exemplarisch für ähnliche Fälle steht und daher für eine Typenbildung herangezogen werden kann. Wenn es aber zugleich darum geht, die Unterschiede zu ähnlichen Fällen festzuhalten und die unverwechselbare Besonderheit, also das Idiografische, herauszuheben, kann der Lerneffekt, den eine solche Forschung besitzt, gerade nicht mit der induktiven Verallgemeinerung erfasst werden. Elke Bippus etwa schreibt: »Künstlerische Forschung […] fügt sich nicht den Kriterien der beweisführenden Wiederholbarkeit, der Rationalität und Universalisierbarkeit. […] Künstlerische Forschung operiert wie Kunst im Singulären, sie setzt auf das Denken und den forschenden Prozess« 23.So berechtigt das Insistieren auf die Singularität des künstlerischen Werkes ist, so fragwürdig wäre es, den Begriff der »künstlerischen Forschung« so exklusiv zu formulieren, dass diese ihren Wert nur noch in der Selbst10 manifestation ihres Prozesses besitzt, und jeder kognitive Ertrag, der darüber hinausgeht, als »unkünstlerisch« abgewiesen würde. Es wäre ein Forschen ohne Lerneffekte. Eine solche Verwendung des Forschungsbegriffs wäre nicht von vornherein abwegig. Forschen im Alltag hat häufig diese Selbstgenügsamkeit, wenn etwa die verzweifelte Suche nach abgelegten Autoschlüsseln oder Lesebrillen endlich auf das Objekt und die damit verbundene Erleichterung führt. Höchst selten werden dabei Lerneffekte hinsichtlich der Ordnungssystematik oder Suchmethodik angestrebt. Dennoch tritt, je unangenehmer die Suche verläuft, desto klarer vor Augen, dass es angeraten wäre, sich gelegentlich auch um solche Effekte zu bemühen. Zwar ist richtig, dass die klassische Wissenschaftstheorie dem Verallgemeinerungsprinzip einen einseitigen Tribut zollt – mit der Exposition des idiografischen Erklärungsideals soll dieser Beitrag dem entgegenwirken. Im Gegenzug wäre es aber auch schwerlich mit künstlerischer Forschung vereinbar, sich grundsätzlich gegen die Verallgemeinerung von Wissen über das Gelingen eines Werkes hinaus zu sperren. Was man durch Forschung (über Gegenstände) lernt und (an Fähigkeiten) erlernt, das mag unter der idiografischen Orientierung immer an die Manifestation im Werk gebunden bleiben. Zugleich aber hinter23. Bippus: »Zwischen Systematik und Neugierde« (2010), S. 23. lässt das Gelernte Spuren in den Beständen des

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Wissens und Könnens. In der Wissenschaftstheorie ist das Problem im Zusammenhang mit der methodologischen Einordnung sozialwissenschaftlicher Fallstudien diskutiert worden. Fallstudien besitzen ihren Wert zunächst in ihrer idiografischen Struktur: Sie erschließen ein Segment der Wirklichkeit, indem sie eine Vielzahl von Phänomenen zur Kenntnis nehmen, eigene Beobachtungen mit kommunikativen Auskünften abgleichen, die Beziehungen zwischen institutionellen und kognitiven Elementen interpretieren und psychisches Empfinden auf soziales Verhalten beziehen – kurz: Es werden sämtliche Erfahrungsquellen herangezogen, was das Forscherleben schwer machen kann. Clifford Geertz hat dafür den gängig gewordenen Begriff der »dichten Beschreibung« geprägt. 24 Solche Fallstudien können nicht zu Elementen einer quantitativen Generalisierung werden, dennoch sind sie auch über den Horizont der Studie hinaus ertragreich. Auf der Objektebene schärfen sie den Sinn für das Wahrnehmen von Unterschieden und Ähnlichkeiten. Diese Schulung hat sich die Harvard University in ihren professionellen Ausbildungsprogrammen von Juristen, Ökonomen und Ärzten zunutze gemacht. Ausgehend von dem Axiom, das kein Rechtsfall, kein Unternehmen und kein Patient einem jeweils anderen wirklich gleicht, legt die Ausbildung hohen Wert darauf, durch eine sogenannte Case Study 11 Method die Fähigkeit für die Wahrnehmung von Unterschieden zwischen verwandten Fällen zu schulen. Damit schafft die professionelle Ausbildung ein Gegengewicht zu der Tendenz der akademischen Ausbildung, über das Abstrahieren von Ähnlichkeiten den Bezug zur konkreten Wirklichkeit zu verlieren und diese mit theoretischen Gebilden wie eine »typische« Krankheit, ein »typisches« Innovationsproblem oder eine »typische« Kündigungsklage zu ersetzen. Aber natürlich funktioniert ein solches Erlernen des Unterscheidens nur, wenn die Bereitschaft zum Vergleichen ebenfalls geschult wird. Es kann also nicht darum gehen, gegen die Verallgemeinerung zu optieren, sondern darum, im Vergleichen das Verallgemeinern und Spezifizieren wechselseitig voranzutreiben.25 Tatsächlich erringen Wissenschaftler auf Gebieten, die sie durch Fallstudien erschließen, eine Art von Kompetenz, die der von professionellen Experten vergleichbar ist. Sie haben einen geschärften diagnostischen Blick, verfügen über Analogien und Metaphern für die Kommunikation über verschiedene Fälle, verstehen sich methodisch auf die geschickte Anlage von Analyse und be- 24. Geertz: Dichte Beschreibung (2003). sitzen nicht zuletzt einen Wissensfundus 25. Zur Harvard Case Study Method vgl. Garvin: »Making the Case« (2003); zum allgemeinfür das Spezialgebiet, in dem die Fälle en Wert von Fallstudien in der Forschung verortet sind. Auch wenn dieser Fundus vgl. Flyvbjerg: »Five Misunderstandings About Case-Study Research« (2006). zu einem Teil aus implizitem Wissen, zu

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einem anderen aus skills besteht, wird zumindest im akademischen Kontext ein nicht unerheblicher Anteil in deskriptivem, dekontextualiertem und daher kommunizierbarem Wissen bestehen. Dies alles sollte mit angemessenen Modifikationen auch für die künstlerische Forschung gelten. In der wissenschaftstheoretischen und -methodologischen Literatur ist ein Ende der Auseinandersetzungen über die Beziehungen zwischen quantitativer und qualitativer Forschung nicht in Sicht. Das ist vermutlich ein erfreulicher Tatbestand. Denn in ihm drückt sich die fruchtbare, wenn auch nicht definitiv festzulegende Wechselwirkung zwischen der idiografischen und nomothetischen Sicht auf die Wirklichkeit aus. Auch wenn die künstlerische Forschung ins »Werk« drängt, sollte sie sich diesen Wechselwirkungen mit verallgemeinerungsfähigem Wissen nicht verwehren. Zumindest kann sie in Projekten partizipieren, die zur Kommunikation zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung einladen.

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Ausgangspunkt war der Begriff der »Gestaltung« als eine Brücke zwischen Forschung, die auf Verallgemeinerung zielt, und Forschung, die den Fall erfassen soll. Der Begriff verträgt dabei zwei ästhetische Konnotationen, die für transdisziplinäre Kooperation genutzt werden können: Reflexion und Design. Wenn im Kontext von Projekten wissenschaftsbasierte Wirklichkeitsgestaltung unvermeidlich ist, dann ist eine Reflexion auf die Qualität der Gestaltungsziele und die Art der faktischen Gestaltungsprozesse unvermeidlich. Hier bieten sich der künstlerischen Forschung Einfluss- und Beteiligungsmöglichkeiten, die ich nach einigen Gesichtspunkten ordnen möchte. Der normative Grundsatz dahinter ist schnell formuliert, aber seine Durchführung führt in die offenen Fragestellungen der Theorie(n) künstlerischer Forschung. Die normative Forderung lautet: Wenn wissenschaftsbasierte Wirklichkeitsgestaltung schon unvermeidlich ist, dann sollte sie den Ansprüchen einer »guten« Gestaltung genügen. Medialität: In der wissenschaftlichen Praxis wird man traditionell in höchst einseitiger Weise darin geschult, mit der Medialität von Forschung, also ihrer Bindung an Sprache und Text, Instrument und Körper umzugehen. Leitend ist dabei das ästhetische Ideal der Invisibilisierung des Medialen. In dem markanten Gründungsmotto der Royal Society »Nullius in verbi« wird bereits im 17. Jahrhundert ausgesprochen, dass eine der experimentellen Erkenntnis verpflichtete

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Wissenschaft einer Rhetorik der »Sachlichkeit« zu genügen habe, die die entdeckten »nackten Tatsachen« ohne sprachlichen Schmuck zur Schau stellt.26 Die beste wissenschaftliche Ausdrucksweise ist diejenige, die ein Hörer oder Leser gar nicht wahrnimmt, weil er durch sie hindurch sofort auf den Referenten des Gesagten verwiesen wird, ebenso wie eine Brille umso besser ist, je weniger man sie selbst sieht, sondern durch sie hindurch das scheinbar unbeeinflusste Gesehene. Die »Transparenz« der Sprache nimmt die Metapher des Sichtmediums auf. Jedoch ist die Rhetorik der Anti-Rhetorik selbstverständlich auch eine Stilform, die erlernt werden muss. Wahrscheinlich ist das Interesse innerhalb der Wissenschaft begrenzt, die Vorteile dieses Stils preiszugeben und stattdessen Forschung in barocken Redeaufbauten, gereimten Versen, vieldeutigen Metaphern oder verzwickten Sprachspielen auftreten zu lassen. Aber an den Grenzen zwischen Autor und Publikum – vom engsten Fachkreis bis zur populären Audienz – wird Wissen immer und unvermeidlich auf unterschiedliche Weise medial gestaltet. Die Invisibilisierung des Mediums ist ein Beispiel dafür, kein Gegenbeispiel. Diese ästhetische Dimension der Wissenschaft absichtsvoll zu handhaben, sie in Wirkungen vorzuführen, zu verfremden und zu analysieren, ist ein Gegenstandsbereich der ästhetischen Forschung 13 und kann einer ihrer Beiträge in transdisziplinären Projekten sein. Die Invisibilisierung des Medialen betrifft auch keineswegs nur die Sprache, sondern ebenso alles Bildliche. Der Mythos von der dokumentarischen Objektivität fotografischer und filmischer Abbildung ist mühsam durch Bildästhetik entkräftet worden und hat inzwischen der medialen Gestaltung des Wissens in bildgebenden Verfahren Platz gemacht. Auch die experimentelle Instrumentalität des Wissens umgab diese Aura der Invisibilisierung: Man misst Temperatur am Thermometer und vergisst umstandslos die Veränderung der gemessenen Temperatur durch die Wärmeabgabe an das Thermometer. Erst die Arbeiten von Hans-Jörg Rheinberger rücken den lebendigen Zusammenhang zwischen instrumenteller Entwicklung und Gestaltung des epistemischen Objekts in das Zentrum des Interesses.27 Selbst die Medialität des Forschers wird üblicherweise aus der Präsentation des Wissens herausgenommen: Wie er sich selbst verändert, wenn er seine Gegenstände modifiziert, soll als Privatsache gelten und ist allenfalls gut für die Memoiren. Insbesondere Johann Wolfgang von Goethe hat dieses Ausblenden der Wechselseitigkeit des Bildungsprozesses zwischen Forscher und 26. Zu diesem Topos und seinem historischen Kontext vgl. Krohn: »Francis Bacons literaErforschtem aufgebracht. Heute ist gar nicht rische Experimente« (2009). von der Hand zu weisen, dass wissensbasier- 27. Vgl. Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift (1992). te Weltveränderungen auch die Akteure

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stark verändern. Forscher sind keine neutralen Medien, die neues Wissen generieren, registrieren und anwenden – sie sind Betroffene ihres eigenen Handelns. Die Medialität des Wissens zu erforschen und in Projekten zur Geltung zu bringen, ist eine originär ästhetische Aufgabe der künstlerischen Forschung von wissenspolitischer Wichtigkeit. Ob sie damit als ein Kooperationspartner immer erwünscht ist oder eher als Störenfried ausgegrenzt wird, ist eine andere Frage. Subjektivität: Es wird häufig herausgestellt, dass künstlerische Forschung ihre eigene Domäne nicht in der Konkurrenz für bestimmte Gegenstandsbereiche aufbauen soll, sondern in der Qualität der Forschungstätigkeit, die Julian Klein den »Modus der künstlerischen Erfahrung« nennt.28 Das wichtigste Merkmal dieses Modus ist die explizite Einbettung der Erkenntnis in das Erlebnis. Diese Einbettung besteht anthropologisch unauflöslich bei jeder Erkenntnis, also auch bei jeder wissenschaftlichen. In den Gepflogenheiten wissenschaftlicher Kommunikation gilt es jedoch als anzüglich oder unanständig, darüber viele Worte zu verlieren. Robert Root-Bernstein hat allerdings erstaunlich viele Belege – vor allem bei Nobelpreisträgern – dafür gesammelt, wie relevant die ästhetischen Erlebnisqualitäten gerade mit der Kreativität der Forschung verbunden sind. 29 Als Physiologe vermutet er, dass Kunst und Wissenschaft letztlich einen gemeinsamen 14 Grund in einer »creative aesthetic« haben, der allerdings geradezu krampfhaft in den Ausbildungsgängen, Handbüchern, Dokumentationen und Publikationen geleugnet wird.30 Von diesen Ressourcen der Forschung ist in den Ausbildungsprogrammen der Universitäten wenig sichtbar, geschweige denn, dass sie kultiviert würden. Der Nobelpreisträger William Lipscomb kommentiert: »if one actually sets out to give as little help as possible to both aesthetics and originality in science, one could hardly devise a better plan than our educational system«. 31 Hinsichtlich der wissenschaftstheoretischen Einordnung dieser subjektiven Seite der Forschung gibt es viele offene Fragen, die höchst spannend zu diskutieren sind. So wichtig es ist, die Erkenntnisqualität des subjektiven Erlebens offensiv ins Spiel zu bringen, so relevant ist zugleich dessen Bezug auf die Kommunikation des Wissens – sei es durch die Perfomance, durch die Manifestation im Objekt oder durch Repräsentation im Text. Für ein Projekt der künstlerischen Forschung oder auch für ein 28. Klein: »Was ist künstlerische Forschung?« transdisziplinäres Projekt, an dem künstleri(2010), S. 25. sche Forschung beteiligt ist, muss es explizit 29. Vgl. Root-Bernstein: »Sensual Chemistry« (2003). um die Beziehungen zwischen Erlebnis und 30. Ders.: »The Sciences and Arts Share a Gestalten des Wissens gehen. Es geht also Common Creative Aesthetic« (1996). um mehr als nur die leicht nachvollziehbare 31. Zit. n. Curtin: The Aesthetic Dimension of Formel aller spezifischen Erkenntnis in Science (1982), S. 19.

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das weitläufige Erleben; es geht auch darum, das spezifische Erleben im Modus der besonderen wissenschaftlichen Erkenntnismodalitäten – etwa dem Experimentieren oder Modellieren – zur Geltung zu bringen. Von spezieller Bedeutung ist darüber hinaus, dass das erlebte Wissen auch auf der Seite der Rezeption zum Klingen gebracht wird – gleichgültig, ob es sich um die Resonanz bei Fachleuten oder Laien oder um ein stärker an Wissenschaft oder Kunst orientiertes Publikum handelt. Aus der Perspektive der Werksorientierung künstlerischer Forschung erscheint dies eher selbstverständlich und öffnet auch den Blick auf die vielen Visualisierungsprojekte in Mathematik (»Kunst für die Wissenschaft«), Molekularbiologie und Nanowissenschaften. Mit Blick auf transdisziplinäre Kooperationen ist der Grundgedanke allerdings nicht die Assistenz bei der visuellen Inszenierung von Ergebnissen, der man bei allem schönen Schein kritisch gegenüberstehen sollte, sondern der Beitrag künstlerischer Forschung zu der Reflexion und Ausgestaltung subjektiver Erlebnisqualitäten von Erkenntnis. Irritation: Autonome Kunst setzt auf Mehrdeutigkeit, Überraschung, Verstoß, Provokation, Verführung und Verfremdung – in der Wissenschaft bestenfalls in Ausnahmezuständen, beispielsweise unter notarieller Aufklärung, möglich. Seit Thomas Kuhns nachhaltigem 15 Einfluss auf die Geschichtsschreibung, Theorie und Soziologie der Wissenschaften ist von dem klassischen Bild einer der Rationalität verpflichteten Wissenschaft und in ihren Forschungsprogrammen akkumulativ fortschreitenden Disziplinen nicht viel übrig geblieben. Dennoch bleibt Paul Feyerabends Slogan des anything goes aus der Kunstentwicklung der 1970er Jahre, was er war: eine künstlerische Irritation. Nach wie vor sind Irritationen aus dem Standardreservoir künstlerischer Werke im Standardreservoir wissenschaftlicher Veröffentlichungen höchst selten, weil sie ihr Publikum nicht fänden. Die Irritation, die dem Wissenschaftler willkommen ist, spricht zwar einerseits seine Neugier an; denn Neugier ist ein Grundzug des Selbstverständnisses moderner Wissenschaft, die nicht auf Bestandswahrung, sondern Veränderung der Wissensordnung setzt. Andererseits erlischt die Neugier rasch, wenn eine Irritation nur mit harter Inkonsistenz im Bestand anerkannten Wissens unterzubringen ist – zu Recht oder Unrecht. 32 Vor diesem Hintergrund erscheint das Kunstschaffen als sehr viel sprunghafter und dynamischer als die wissenschaftliche Produktion, auch wenn für alles, was geschieht, Kunstwissenschaftler Vorläufer und Folgen benennen können. Es scheint, dass es die künstlerische Forschung an dieser Stelle besonders schwer hat, die Ambiguität zwischen 32. Vgl. Cruse: »Wissenschaft und Kunst« Kunst und Wissenschaft auszuhalten. Als an (2006).

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Wissensproduktion orientierter Forschung kann sie sich nicht leicht dem Druck entziehen, zur Beständigkeit, Bewährung und Verlässlichkeit der Erkenntnis beizutragen – auch unterhalb ihrer nomothetischen Wiederholbarkeit, Vorhersagbarkeit und Beweisbarkeit. Als am Werk orientierte Praxis sucht sie die Irritation. Einige Theoretiker der künstlerischen Forschung tendieren dahin, ihr die »Arbeit an der Differenz von künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung« 33 zuzumuten, anstatt vorschnell von einer Übereinstimmung der Anliegen auszugehen. »Künstlerische Forschung greift die Inanspruchnahme des Erkenntnismonopols vonseiten der Wissenschaft […] an«, schreibt Bippus. 34 Dies könne sie nur leisten, wenn sie den Modus der Andersartigkeit beibehält. Würden mögliche Kooperationen, auf die hier ja immer der Blick gerichtet sein soll, dadurch behindert? Kooperationen schließen immer Kompromisse ein, jedoch besteht der kooperative Gewinn nicht im Kompromiss, sondern in der Koordination heterogener Komponenten. Daher bemisst sich der Wert des Beitrags künstlerischer Forschung danach, wieweit es ihr gelingen kann, mit Irritationen jenes Erkenntnismonopol anzugreifen, ohne die Kommunikation preis zu geben. 16

Szylla und Charybdis

Diese drei Kategorien zur Kompetenz künstlerischer Forschung, die zur Kooperation mit wissenschaftlicher Forschung beitragen können, sind vermehr- und differenzierbar. Um aber der grundsätzlichen Frage nach Eigenständigkeit und Kooperationsfähigkeit richtungweisende Antworten zu geben, mögen sie genügen. Künstlerische Forschung ist noch auf der Suche nach ihrer Identität, und es wäre sicherlich kein Schaden, sondern ein weiteres Merkmal, wenn sie sich damit lange beschäftigte. Es wird nicht gerade einfach sein, zwischen Szylla und Charybdis hindurch zu navigieren. Szylla lädt verführerisch ein, möglichst nahe entlang der institutionellen Gestade der anerkannten Forschung zu navigieren, damit der akademische Anspruch als ein auf Erkenntnis angelegter Forschungsprozess berechtigt erscheint. Dies jedoch wird schief gehen, denn die Erkenntnisideale künstlerischer Forschung können und sollten andere sein und müssen mit Selbstbewusstsein vertreten werden. Charybdis lockt mit der gegenläufigen These, dass künstlerische Forschung den Wirkungsradius des künstlerischen Werkes nicht überschreiten darf, sondern, wenn sie denn Kunst bleiben will, allein dessen Anspruch auf Authentizität und Originalität zu genügen hat. Es wäre dann jedoch nicht mehr einsichtig (von 33. Bippus: »Zwischen Systematik und Neugierde« (2010), S. 21. der Einsicht in die fragwürdige Anpassung an 34. Ebd., S. 22. institutionelle Zwänge wie dem Bologna-Prozess

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abgesehen), warum die spezifische Differenz zwischen künstlerischer »Forschung« und künstlerischer Produktion überhaupt gebildet wurde. Einerseits darf sich künstlerische Forschung also nicht von der Wissenschaft vereinnahmen lassen oder sich deren Bedingungen in einem Selbstanpassungsprozess unterwerfen, sondern muss diese mit ihren eigenen Ansprüchen, neuen Methoden, Begriffen und Erkenntnisidealen bereichern und modifizieren. Andererseits ist sie gezwungen, diese im Kontext und in der Vernetzung mit anderen Forschungsfeldern zu behaupten; sie darf nicht in eine selbstgenügsame Esoterik abgleiten. Die Befähigung künstlerischer Forschung zur interdisziplinären Kommunikation und transdisziplinären Kooperation beruht letztendlich darauf, was sie anderen zu sagen und zu bieten hat.

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Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten

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und

Das

Kuratieren von Kunst Forschung zur

Kunstforschung Wozu Kunstforschung? Dieser Beitrag untersucht anhand des Schweizerischen Nationalforschungsprojektes eMotion – mapping museum experience, wie Kunstforschung die künstlerische Forschungspraxis transdisziplinär mit wissenschaftlichen Forschungsmethoden verbindet und damit die Praxis des Forschens verändert. Innerhalb der Tradition einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Künsten interessiert immer wieder die Frage, welche Erkenntnisformen in der Kunst – und nur in der Kunst – zu gewinnen sind. Was vermittelt künstlerische Praxis, was kann durch wissenschaftliche Forschung nicht vermittelt werden? Worin besteht die epistemologische Leistung der Kunst? Der Philosoph Hans-Georg Gadamer führt in diesem Zusammenhang den Begriff der »Emanation« in die Debatte ein und bezeichnet damit das Potenzial der Kunst, einen Erkenntnisüberschuss hervorzurufen. Gadamer beschreibt es als charakteristisch für die Kunsterfahrung, dass sie sich immer weiter entfalte, je mehr man sich auf sie einlasse. Dies begründet er nicht zuletzt damit, dass es sich in der Kunsterfahrung immer auch um die durch das Werk angestoßene Selbstreflexion des Wahrnehmenden handele und das Kunstwerk dadurch einen Wahrnehmungsüberschuss evoziere.1 Dieses für die Künste kennzeichnende »Mehr«, dieser »Zuwachs an Sein« wird darüber hinaus aber auch durch die Evokation möglicher 1. Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode (1986), S. 145. anderer Wirklichkeiten, eines fiktiven

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»Als-ob«, erzeugt.2 Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser bezeichnet diesen der Kunsterfahrung eigenen Möglichkeitssinn wie auch die spezifische Deutungsoffenheit künstlerischer Erzeugnisse als »Appellstruktur«.3

Abb. 1: Steven Greenwood and 30 others: Paths.

Für den besagten Wahrnehmungsüberschuss der Künste hat sich die Wissenschaft immer wieder interessiert. So entstehen in den USA bereits in den 1960er Jahren gezielte institutionelle Verbindungen 22 zwischen Kunst und Wissenschaft. 1967 gründet György Kepes das Center for Advanced Visual Studies am Massachusetts Institute for Technology in Cambridge. Solche Gründungen entstehen, weil zahlreiche Wissenschaftler und Künstler dieser Zeit von einer synergetischen Verbindung zwischen Kunst und Technologie überzeugt sind. Ein Beispiel hierfür ist der Fluxus-Künstler George Brecht, der von 1950 bis 1960 als Chemiker und Ingenieur arbeitet, zugleich aber auch beim Komponisten John Cage in der New School of Social Research Kurse besucht. Brecht betont, dass die Visualisierung von Erkenntnisprozessen ein gleichzeitig rational-philosophisches wie auch rein intuitives Verstehen ermögliche, und beschreibt damit eine Grundhaltung, die für die Kollaboration zwischen Kunst und Naturwissenschaften in dieser Zeit ausschlaggebend ist.4 Eine in ähnlichem Geist entstandene, institutionalisierte Kollaboration findet sich am Xerox Palo Alto Research Center. Hier arbeiten seit den 1970er Jahren erfolgreich Künstler mit Ingenieuren und Programmierern 2. Auf die politische Sprengkraft, die aus diesem fiktiven Blick erwachsen kann, verwies zuletzt vor alzusammen.5 Weitere Beispiele lassen lem der französische Philosoph Jacques Rancière: sich anschließen: Seit 2004 exis»Denken zwischen den Disziplinen« (2008). tiert beispielsweise in der Schweiz 3. Vgl. Iser: Die Appellstruktur der Texte (1971). das artists-in-labs Programm, das 4. Vgl. Fischer: George Brecht: Events (2005). 5. Vgl. Harris: Art and Innovation (1999). Künstler gezielt über mindestens

Das Kuratieren von Kunst und Forschung zur Kunstforschung

neun Monate einen Projektplatz in Wissenschaftslabors anbietet. In der Selbstbeschreibung heißt es hierzu: Das Programm unterstützt KünstlerInnen, Folgen und Implikationen des wissenschaftlichen Forschens in Bezug auf die Gesellschaft zu kommentieren und künstlerisch zu reflektieren[,] und unterstützt deren Innovationspotential im Bereich der Erarbeitung oder Nutzung neuer Tools und Anwendungen wissenschaftlicher Errungenschaften oder Erkenntnisse. Das Programm vermittelt zwischen Kunst und Wissenschaft in der Öffentlichkeit und befördert das Verständnis der jeweiligen Verfahren.6 Und nicht zuletzt versucht auch das Programm art, science & business der Akademie Schloss Solitude zu einer produktiven Verbindung dieser Feldlogiken beizutragen. In dieser »Kooperationsgeschichte« von Kunst und Wissenschaft scheinen zumeist jedoch die Natur- und Technikwissenschaften die Initiatoren zu sein. Erstaunlich ist, dass sie offenbar weitaus weniger Berührungsängste mit den Künsten empfinden als die Sozial- und Geisteswissenschaften. Die Diskussion zur gezielten disziplinübergreifenden Zusammenarbeit mit den Humanities startet denn auch 23 deutlich verzögert und nimmt ganz unterschiedliche Formen an. Während in den 1980er und 1990er Jahren vermehrt von einer Verwissenschaftlichung der Künste die Rede ist,7 haben sich in den letzten Jahren unter dem Label Artistic Research neue Modi der Interaktion und Kooperation von Kunst und Wissenschaft herausgebildet. Dabei werden neben der Weiterentwicklung einer forschenden Kunstpraxis verschiedene Ansätze aus dem Bereich der Kreativitäts- und DesignForschung auf die wissenschaftliche Forschung übertragen – auch hier nicht zuletzt, um den besagten Überschuss produktiv nutzbar zu machen.8 Ähnlich wie in der Entwicklung anderer Disziplinen wird im Anschluss an die Herausbildung der künstlerischen Forschung vor allem deren Bezug zum wissenschaftlichen Feld diskutiert. Dabei sind sowohl die Akademisierung als auch die Kanonisierung von Methoden und Themen Gegenstand der Debatte. Aber auch der Zugang von Kunstschaffenden selbst zu diesen neuen Forschungspraktiken wird kritisch beleuchtet.9 Bleibt 6. http://artistsinlabs.ch/lang/de/program, (Stand: der Künstler Kunstschaffender, wenn 10.05.2011). er forscht, oder wird er zu etwas ande- 7. Vgl. Janssen, Wansing: ErSchöpfungen (1997). rem? Wird er Teil der Scientific Com- 8. Vgl. Bühlmann, Wiedmer: Pre-Specifics (2008). Vgl. außerdem die Beiträge von Claudia Mareis munity? Kann man diese Forschung und Simon Grand in diesem Band. allein betreiben, oder muss man sie 9. Vgl. Scheuermann, Ofosu: »Zur Situation der künin interdisziplinären Arbeitsgruppen stlerischen Forschung (Bern)« (2010).

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organisieren? Worin besteht der Mehrwert eines solchen Vorgehens? Welche Schwierigkeiten lädt man sich damit auf? Wie gestalten sich kunstforschende Arbeitsprozesse?

Die Frayling’sche Variation Will man die Kooperationsmodi zwischen künstlerischer Praxis und wissenschaftlicher Forschung kurz charakterisieren, um davon ausgehend den Begriff der »Kunstforschung« zu beleuchten und auch eine Einordnung des im Folgenden beschriebenen Projektes zu ermöglichen, so lassen sich grob drei Modelle unterscheiden. Angestoßen hat eine solche Kategorisierung Christopher Fraylings Dreischritt: »research into, through and for art«,10 der bis dato aktuell ist und stetig variiert wird.11 Auch wir kommen nicht umhin, den bisherigen Kategoriesystemen ein weiteres hinzuzufügen, das sich an die bisher bestehenden anlehnt, diese aber doch um eine entscheidende Komponente erweitert. Auch dieser Versuch spiegelt nichts anderes als den typischen Verlauf eines Kanonisierungsprozesses wider: die Erweiterungen und Spezifizierungen in der Disziplinfindung und Abgrenzung eines Feldes im Entstehen. Insofern kann auch dieses Kategoriensystem weder Vollständig- noch Endgültigkeit behaupten:

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a) »Forschen in der Kunst«, auch als »Kunst als Forschung« oder »Kunst durch Forschung« benannt, wird derzeit im Diskurs von Künstlern und den Vertretern der Kunsthochschulen als künstlerische Forschung (Artistic Research) bezeichnet. Ziel der Forschung ist die Herstellung neuer Kunstwerke oder ästhetischer Prozesse, durch die die Künstler Forscher sind, oder anders gesagt: das Bild des Künstlers als Forscher herrscht. Der Forschungsprozess ist dabei zumeist ein individueller und der Adressat ist das Kunstsystem; also Publikum, Ausstellungsräume, der 10. Frayling: »Research in Art and Design« (1993/1994). öffentliche Raum, Kunstmessen und die 11. Vgl. Borgdorff: »Die Debatte über ForKunstkritik. Im Vorwort zu dem umschung in der Kunst« (2009); Dombofangreichen Band Kunst und künstlerische is: »0-1-1-2-3-5-8« (2009); Schenker: »Künstlerische Forschung« (Stand: Forschung formulieren Corina Caduff und 10.05.2011). Tan Wälchli: »›Künstlerische Forschung‹ 12. Caduff, Wälchli: »Vorwort« (2010), S. 12. ist eine neue Kunstpraxis, bei der KünstÄhnlich argumentieren Hannula, Suoranta, Vadén: Artistic Research (2005); lerinnen und Künstler als Forschende Lesage, Busch: A Portrait of the Artist as agieren und ihre Resultate in Form von a Researcher (2007); siehe auch den Beitrag von Henk Borgdorff in diesem Kunstprodukten darstellen.«12 Band.

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b) In die Konzeption von Kunstforschung als »Forschen über Kunst« fallen traditionellerweise Kunstwissenschaft, Kunsttheorie, die empirische Ästhetik, Kunstsoziologie und teilweise die Kultursoziologie.13 Es geht allgemein gesprochen um die Beobachtung und Analyse von Kunst, Kunstproduktion und Kunstrezeption. Der Zugang dieser Forschung bewegt sich zwischen historisch reflektierenden, philosophischen, empirischen, psychologischen und kritisch-analytischen Ansätzen. Ziel der Forschung ist das Wissenschaftssystem. Dabei verläuft der Forschungsprozess zumeist monodisziplinär; Ergebnisse der Forschung sind Texte, die Foren der Forschung sind Publikationen und Tagungen. c) »Forschen durch Kunst« wird teilweise auch als »Kunstforschung« oder »angewandte Kunstforschung« bezeichnet. Die hier vertretene Konzeption schließt an die Position von Mats Rosengren an, der die Kunstforschung akademisch verankert und ihr die Rolle einer Methodik zuschreibt, die insbesondere die Subjektivität des Wissens betont und reflektiert.14 Das Selbstverständnis einer solchermaßen verstandenen künstlerischen Forschung ist eher transdisziplinär und anwendungsori25 entiert.15 Aufgrund der Komplexität real-weltlicher Probleme, die sich meist nicht an die engen Grenzen wissenschaftlicher oder künstlerischer Disziplinen halten, wird davon ausgegangen, dass der Forschungsprozess nicht durch eine Person aus einer Disziplin geleistet werden kann, sondern transdisziplinär angegangen werden muss, und dass das Ergebnis nicht zwangsläufig ein Kunstwerk sein soll, sondern vornehmlich im Wissenschaftssystem wahrgenommen wird. Künstler forschen mit Wissenschaftlern, der Forschungsprozess verläuft im Team, die Ergebnisse sind Texte, Bilder, Klänge, Prozesse. Die Foren sind Publikationen und Tagungen, gegebenenfalls aber auch Ausstellungsräume. Der maßgebliche Unterschied zu Frayling liegt bei dieser letztgenannten Kategorie im Forschungsprozess und dem -ergebnis: Eine dieserart konzipierte Kunstforschung verbindet transdisziplinär die künstlerische Forschungspraxis mit wissenschaftlichen Forschungsmethoden und verändert damit die soziale Praxis des For- 13. Vgl. Borgdorff: »Die Debatte über Forschung in der Kunst« (2009), S. 29. schens selbst. Sicherlich lassen sich neben diesen dreien weitere Kategorien finden, wie beispielsweise das »Forschen für Kunst«, also der

14. Vgl. Rosengren: »Kunst + Forschung ≠ künstlerische Forschung« (2010), S. 118 ff. 15. Vgl. Schenker: »Künstlerische Forschung« (Stand: 10.05.2011), S. 6. 16. Vgl. Dombois: »0-1-1-2-3-5-8« (2009).

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Bereich der Konservierung von Kunstwerken oder die Material- und Verfahrenstechnik.16 Man denke an die Wirkung der Acrylfarben für die Entwicklung der Malerei, den Farbfilm oder den Einfluss der elektronischen Tonerzeugung auf die Praxis der Komponisten. Aber auch an spartenspezifische Diskussionen zum Beispiel in der (klassischen und zeitgenössischen) Musik, wo derzeit Artistic Research als kritisch-forschende Auseinandersetzung mit Werken, ihrer Entstehungsgeschichte und deren Interpretation diskutiert wird. Ähnliche Diskussionen beziehungsweise Reflexionen über Stücke und deren Ausführung finden zeitgleich im Bereich des zeitgenössischen Tanzes statt.17 Dabei geht es nicht nur um die Reflexion der Interpretationspraxis als kritische Interpretation und eine Veränderung der Interpretationspraxis durch dieses kritische Handeln. In beiden Bereichen scheint durch, dass das Reflektieren und Schreiben darüber, was bei der Erarbeitung eines Stückes passiert und für was dieses Stück und seine Interpretation stehen sollen, dem Künstler respektive den Ausführenden eine Autonomie über ihre Arbeit wiedergibt, die ansonsten an Kunstkritiker abgetreten wird. Darüber hinaus kann diese Reflexion auch zu einer Veränderung der Interpretationspraxis an sich führen.18 Bei diesem Überblick zeigt sich, dass Fraylings Dreiteilung die 26 terminologische Bestimmung dessen, was Artistic Research sein soll, nicht vollständig umschreibt. Das Feld ließe sich sicher sehr viel weiter ausdifferenzieren. Auch wird hier offenbar, dass der Begriff »künstlerische Forschung« keineswegs ein fest umrissenes Set an Praktiken und disziplinären Bezugsfeldern bezeichnet, sondern vielmehr in steter Erweiterung begriffen ist. Zusätzliche Verwirrung stiftet der Begriff Research, der im Englischen deutlich geringer auf wissenschaftliche Forschung (Scientific Research) gerichtet ist als im Deutschen. Artistic Research könnte ebenso als künstlerische Recherche übersetzt werden, ohne einen Bedeutungsverlust zu erleiden. Umso erstaunlicher ist, dass der Begriff solch eine Karriere erfährt. So ist denn auch zu vermuten, dass dies eher auf Fraylings spielerische Begriffsverwendung zurückgeht denn auf definitorische Schärfe. Und das wiederum 17. Siehe die ELIA-Tagung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst, April 2011, zu gibt Anlass, diese viel zitierte KategorisieKompositionspraktiken und deren Forscrung zu hinterfragen und nochmals auf die hungscharakter Germán Toro-Pérez, im Bereich Tanz Katarina Elam, Anna Petrodrei Teildefinitionen einzugehen: nella Fredlund, Cecilia Roos und Cecilia Sjöholm.

18. Wie zum Beispiel auf der Tagung »The Art of Artisitc Research« an der Musikhochschule Olso, Mai 2011, in den Vorträgen von Ian Pace, Tanja Orning u. v. a., siehe auch Journal of Music & Practice.

Zu a) In der aktuellen, kunsttheoretisch geprägten Diskussion, die in dem Bonmot »All good art has become through research« pointiert wird, könnte gefragt werden, warum wir

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nicht weiter von Kunst sprechen, sondern nun den Forschungsbegriff bemühen, wenn künstlerische Forschung, wie behauptet, nichts weiter als die Produktion von (innovativen und gehaltvollen) Kunstwerken meint. Die Motivation der Kunsthochschulen, den Begriff der »künstlerischen Forschung« zu benutzen, um damit PhDwürdig zu sein und im globalen Wettbewerb unter dem Druck der Bologna-Reform zu bestehen, ist zunächst nachvollziehbar. Gleichwohl ließe sich im Anschluss hieran fragen: Müssten Michelangelo, Dürer, Bach, Mozart, Goethe, Schubert, Schönberg, Stockhausen, Beuys und viele andere nun nicht mehr Künstler, sondern Forscher genannt werden, weil sie qualitativ Neues geschaffen haben? Dass künstlerische Forschungspraxis im Sinne einer Kultur-, Material- und Formrecherche existiert, ist unbestritten. Allerdings scheint fraglich, ob dies tatsächlich ein neues Phänomen ist oder ob sich diese Momente und Qualitäten der künstlerischen Praxis nicht in jeder Epoche europäischer Kunst seit der Renaissance wiederfinden.19 Welchen Mehrwert bringt es also, wenn wir den Forschungsbegriff derart auf die Kunst anwenden? 20 Angesichts des Hypes um den Begriff der »Kunstforschung« und des politischen Drucks des Bologna-Prozesses scheint eine solche Infragestellung institutionell jedoch kaum noch zulässig. Dass man es hier mit politisch geprägten Motivationen zu tun hat, zeigt sich deutlich 27 in zahlreichen Diskussionen sowie den hochpreisigen institutionellen Mitgliedschaften der Society of Artistic Research, die 2010 in Bern gegründet wurde.21 Zudem sind die Förderprogramme im Bereich Kunstforschung zu attraktiv, als dass man sich erlauben könnte, sich als Antragsteller davon auszuschließen (Schweizerischer Nationalfond [SNF], Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung [FWF] etc.). Ebenso profitieren Kunsttheoretiker von der neuen Begrifflichkeit, weil sie ihnen neue Kunstkommunikationskanäle und Einflusssphären im Kunstfeld eröffnet.22 Bei aller Betriebsamkeit auf Seiten der Kunsthochschulen scheint jedoch auch eine gewisse Skepsis gegenüber der Überführung künstlerischer Forschungs- 19. Vgl. Baecker: »Kunstformate (Kulturrecherche)« praxis in eine Wissensgenerierung unter (2009), S. 93 f. dem Titel der »künstlerischen Forschung« 20. Zu dieser Frage vgl. auch Malterud: »Gibt es Kunst ohne Forschung?« (2010); Toro-Perez: angebracht.23 »Zum Unterschied« (2010); Cobussen: »Der Eindringling« (2010).

Zu b) Auch ist fragwürdig, warum sich Kunstwissenschaft, Kunsttheorie, empirische Ästhetik, Kunstsoziologie und Kultursoziologie neu unter dem Begriff der »Kunstforschung« (»Forschen über Kunst«) subsumieren lassen sollten. Vor dem Hintergrund der

21. Vgl. http://www.jar-online.net, (Stand: 10.05.2011). 22. Vgl. http://www.artandresearch.org.uk, (Stand: 10.05.2011). 23. Siehe hierzu zum Beispiel die Bände Caduff, Siegenthaler, Wälchli: Kunst und künstlerische Forschung (2010); Bippus: Kunst des Forschens (2009); Holly, Smith: What Is Research in the Visual Arts? (2008); Baumann: Remote Sensing (2002).

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wissenschaftsgeschichtlichen Ausdifferenzierung der Disziplinen ist dies wenig nachvollziehbar, zumal der Erkenntnisgewinn einer solchen Subsumierung unklar bleibt. So gesehen ließe sich diese Interpretation des Begriffs in der Frayling’schen Kategorisierung wohl ohne Verlust ad acta legen. Denn wenn (angewandte) Kunstforschung tatsächlich etwas Neues bezeichnet, etwas qualitativ anderes, das bisher weder allein in der »Forschung« noch der »Kunst« so zu finden ist, sollte es sich bei dem Begriff wohl um ein Hybrid zweier Praktiken handeln – dies zumindest ist ein Vorschlag, um das Feld produktiv zu erweitern. Trotz der Kritik an der Begriffsgenese scheinen sich derzeit zwei Praxisfelder zu etablieren: Zum einen entwickelt sich für dokumentarische oder recherchebasierte Kunstformen der Begriff der »künstlerischen Forschung«, wie oben ausführlich beschrieben. Zum andere kommt der Begriff der »(angewandten) Kunstforschung« für multidisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen mit Wissenschaftlern und Kunstschaffenden ins Spiel, 24 die weit über die üblichen art-and science-Kollaborationen 25 hinausgehen. Gerade von den letztgenannten Kollaborationen verspricht man sich einen theoretisch-reflexiven und praxisorientierten Mix, der neue Zugänge zu Forschungsfeldern eröffnet – und zwar sowohl aus der Perspektive der künstlerischen Praxis als auch aus jener der Wissenschaft. Von den beteiligten Künstlern erhoffen sich Wissenschaftler und Praktiker dabei nicht nur einen sensuell-ästhetischen Erkenntnismehrwert. Die eingangs erwähnte erfahrungs- und wahrnehmungsreflexive Kompetenz wie auch das reflexive Vorgehen bei der Genese von Bildern, bei Visualisierungsverfahren und Sonifikationen scheinen ebenso gefragt. 26 Umgekehrt ist es für die beteiligten Künstler attraktiv, in einem dialogischen Prozess Themen zu entwickeln und ihre eigenen Arbeitsansätze und technischen Möglichkeiten zu erweitern und zu überprüfen.

Setting: eMotion – mapping museum experience Das Forschungsprojekt eMotion, das aus dem oben beschriebenen Impuls heraus gegründet wurde, versucht, 24. Vgl. die Beiträge von Heike Klussmann, Thorsten Kloosdas Erleben von Ausstellungsbeter; Julian Klein und Mari Brellochs in diesem Band. suchern in einem Kunstmuseum 25. Vgl. Henk Borgdorff in diesem Band. aufzuzeichnen.27 Die Wirkung 26. Vgl. Hannes Rickli in diesem Band. von räumlichen Ordnungen sowie 27. Wie diese Kollaboration vor sich ging und warum wir einzelnen Objekten wird dabei glauben, hier qualitativ andere Forschungsprozesse als die uns bekannten wissenschaftlichen oder künstlein Daten und diese wiederum in rische entwickelt zu haben, und worin dieses Neue und eine Sicht- und Hörbarkeit überAndere besteht, soll nachfolgend am Beispiel dieses Projekts ausgeführt werden. führt. Bei dem Projekt, das im

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Kunstmuseum St. Gallen stattfand, geht es darum, jene »Präsenzeffekte« beziehungsweise jene Momente des Erspürens von Raum und Materialität zu beleuchten, die Hans Ulrich Gumbrecht unter dem Begriff »Präsenzkultur« dem kognitiven Verstehen und Interpretieren einer »Sinnkultur« entgegensetzt.28 Diese Präsenzeffekte, welche in der ästhetischen Theorietradition vielfach als der eigentliche »Stoff« einer inkommensurablen Kunsterfahrung gelten, sollen durch neuartige bildgebende Verfahren, Erhebungs- und Darstellungsmethoden zugänglich gemacht werden. Hierfür wurde nicht nur die räumliche Lokalisierung der Besucher aufgezeichnet, sondern auch eine Messung der Herzrate und des Hautleitwerts. Methodisch ergänzt wurden diese Datenerhebungen durch sozialwissenschaftliche wie psychologische, elektronisch gestützte Fragebögen und experimentelle Umhängungen einzelner Werke. Eine Sonifikation und eine multimediale Installation am Ende der Ausstellung präsentierten den Besuchern erste Ergebnisse direkt im Anschluss an den Besuch. Beteiligt waren aber auch die Mitarbeiter des Kunstmuseums: Der Direktor und Kurator richteten eine Ausstellung eigens für eMotion ein und wirkten wesentlich an der Erarbeitung experimenteller Settings, Umhängungen und Neuordnungen mit. Der Künstler Nedko Solakov erarbeitete zusätzlich die Intervention A lable level (2009) für die Ausstellung, die einem der experimentellen Tests diente. 29 Es kann an dieser Stelle nicht näher auf die Diskussion der Ergebnisse eingegangen werden, 29 was hier allerdings beleuchtet werden soll, ist die Rolle der Künstler und Forscher in diesem Kontext. Fragt man nach dem genuin künstlerischen Part innerhalb des Projektes, so besteht dieser im Wesentlichen in einer Erarbeitung von unterschiedlichsten Visualisierungen und klanglichen Übersetzungsleistungen. Diese fanden nicht nur Eingang in eine interaktive Installation am Ende der Ausstellung, sondern bestehen darüber hinaus auch in der Erstellung bildgebender Verfahren, die ihrerseits als Basis für eine bildanalytisch-interpretative Auswertung dienen. Den beteiligten Künstlern ging es also nicht primär darum, Kunstwerke zu schaffen, sondern darum, künstlerische Methoden der interaktiven Visualisierung und Sonifikation für die Museumsforschung nutzbar zu machen, um so die Bedingungen des Ausstellens und Zeigens besser erforschen zu können. Das experimentelle Setting sei im Folgenden näher beschrieben, um den Modus der Kooperation etwas deutlicher zu machen: Besucher, die an dem Forschungsprojekt 28. Vgl. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik teilnehmen wollten, erhielten am Ein(2004). gang einen Datenhandschuh, der ihnen 29. Eine umfangreiche Projektbeschreibung sowie Texte und Beiträge finden sich unter http:// von Projektmitarbeitern angelegt wurde. w w w.mapping-museum- experience.com, Die Probanden gingen mit dem eigens für (Stand: 10.05.2011).

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eMotion entwickelten Datenhandschuh in die Ausstellung, der mithilfe von Sensoren das Raumverhalten (Pfade, Verweildauer, Gehgeschwindigkeit) der Besucher exakt aufzeichnen konnte (einmal pro Sekunde auf 15 cm Genauigkeit). Zudem wurden zwei physiologische Marker abgenommen: die Herzrate und der Hautleitwert. Empfangen wurden die Daten von einem in den Museumsräumen dafür installierten drahtlosen Netzwerk. Diese Datenmassen (sie belaufen sich auf mehrere Terrabyte) wurden von zwei Programmier- und Datenbankspezialisten in einem zentralen Server mit verschiedenen Formeln pro Besucher berechnet und gespeichert. Diese »Rohdaten« stellten wiederum das Material für die künstlerischen Umsetzungen von Steven Greenwood (Visuals) und Chandrasekhar Ramakrishnan (Sound), die von weiteren Programmierern, Designern und einem Interface Developer unterstützt wurden. Das Projekt hat mit seiner Vorlaufphase und der noch nicht abgeschlossenen Auswertungsphase eine Laufzeit von circa fünf Jahren. Die Erhebungsphase fand von Juni bis August 2009 im Kunstmuseum St. Gallen statt.

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Abb. 2: Blick in die Installation.

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Künstlerische Arbeit und der Status der Bilder Die Aufgabe der am Projekt beteiligten Künstler bestand darin, ton- und bildgebende Verfahren im Dialog mit anderen beteiligten Forschern zu entwickeln. Das Datenmaterial sollte darüber hinaus durch eine künstlerisch-ästhetische Transformation so übersetzt werden, dass sowohl für die Besucher wie auch für die Wissenschaftler eine direkte Erfahrung von Wirkungseffekten des Museums und seiner Exponate möglich wurde. Entstanden ist dabei eine Medienkunst-Installation am Ende des Ausstellungsparcours, in der die Besucher die Aufzeichnung ihres eigenen Gangs durch das Museum ansehen konnten. Über eine eher dienstleistende Rolle hinaus war es aber zunächst der Medienkünstler Greenwood, der das physiologische tracking und mapping als Forschungspraktik in das Projekt einbrachte. Zwar war von Beginn an gedacht, die Positionsortung der Besucher aufzuzeichnen, jedoch vorerst nicht, physiologische Daten zu erheben und diese an die Positionsortung zu koppeln. Auch waren es zunächst die Künstler, die Überlegungen zu möglichst vielfältigen Formen der Darstellung der Daten anstellten. So verdankt sich gerade die für das Projekt letztlich entscheidende Idee, das Erheben physiologischer Feld-Daten (in der Installation) in Echtzeit sicht- und hörbar zu machen, den beteiligten Künstlern. Ähnliche Verfahren waren bis dahin noch nie realisiert worden. Durch den künstlerischen Experimentierwillen ist somit eine neue Technologie entstanden, die nach dem Ende des Projekts im Rahmen eines Spin-offs für andere Anwendungsfelder nutzbar gemacht werden soll. Die künstlerische Umsetzung der Forschungsresultate durch Greenwood und Ramakrishnan dient dazu, die Wirkung der jeweiligen Disposition in Tonsequenzen und Monitorbildern hör- und sichtbar zu machen und eine verdichtete Analyse der flüchtigen Momente von Kunstrezeption zu liefern. Positus Musarum (Stellung der Musen) nennt Ramakrishnan seine Klanginstallation, welche die erfassten Informationen in Ton umwandelt. Die Daten der Besucherdurchgänge steuern musikalische Parameter wie Tonhöhe, Lautstärke und Dauer. Ramakrishnans Klanginstallation steht für eine Form der sinnlichen Transformation und liefert eine zusätzliche Umsetzung der technischen Daten, die vorerst nicht für konkrete Auswertungen nutzbar gemacht wurde. Seine Installation nutzt die Eigenlogik des Klangs, die sich von der des Bildes unterscheidet, um die Momente der Ausstellungserfahrung zu verwandeln.

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Zu den visuellen Elementen zählte etwa die Möglichkeit für Ausstellungsbesucher, die am Forschungsprojekt teilgenommen hatten, in der Ausstellung ihren Rundgang nochmals als Video abspielen zu können und diese Grafik dann ausdrucken zu lassen. So entstanden 352 individuelle Grafiken. Wie diese aussahen, zeigt ein Ausschnitt aus dem Rundgang der Besucherin Nr. 6 (Abb. 3): Der Pfad der Besucher durch die Ausstellungsräume wird durch eine schwarze Linie repräsentiert (je schneller die Teilnehmer gehen, desto heller wird die Linie). Bei Signifikanzen der Herzrate wird ein gelber Marker gesetzt, bei denen der Hautleitfähigkeit ein orangefarbiger – die Größe der Marker ergibt sich aus der Stärke der Reaktionen. Die »Wirkbereiche« der Werke wiederum sind in Grün dargestellt. Werke, die eine Werkgruppe bilden, sind durch eine gestrichelte Linie zusammengefasst (Abb. 3).

32 Abb. 3: Steven Greenwood: Besucher Nr. 6. Screen, 2009

Wollte man Greenwoods Blätter als medientechnisch hergestellte Zeichnung begreifen, als eine Form von Maschinenkunst, so könnte man diese auch kunstgeschichtlich einordnen, etwa vor dem Hintergrund des psychischen Automatismus eines André Masson.30 Dass auf Greenwoods Blättern vor allem erspürte Effekte der ästhetischen Wahrnehmung aufgezeichnet werden, die sich der direkten Geste des Zeichners entziehen, mag dabei einen 30. Vgl. Buchholz, Wolbert: André Masson (2003). besonderen konzeptionellen Reiz dar31. Vgl. Berger: Gegen die Abwertung der Welt stellen. Auch ließen sich hier durchaus (2003), S. 53. kunstwissenschaftliche Vorläufer nen32. Bourriaud: Relational Aesthetics (2002). nen: John Berger – selbst Grenzgänger 33. Vgl. Frieling, Daniels: Medien Kunst Netz 2 (2005); Tribe, Reena: New Media Art (2006). zwischen Kunst und Theorie – hat 34. Um die Jahrtausendwende wird es dann ruhiger bereits bei den Zeichnungen von Edum den Einsatz dieser Technologie, bis es vor gar Degas aus dem 19. Jahrhundert einigen Jahren vor allem im information design wieder vermehrt Interesse findet. Im Oktober bemerkt, in welchem Maße das Mo2010 lud Hans-Ulrich Obrist gar zum map madell einen Effekt auf den Akt des rathon in die Serpentine Gallery, um die Kartografien des 21. Jahrhunderts und die dadurch Zeichnens hat. Das Sujet, der Gegenentstehenden Bilder auf und über die Welt zu stand, wird nicht nur abgebildet, er übt diskutieren. auch einen ästhetischen Reiz auf den 35. Vgl. Gau, Schlieben: »Verbindungen zwischen Zeichnenden aus, der auf einer ganz einer forschenden Kunst« (2009), S. 54.

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anderen sinnlichen Ebene in den Zeichenakt einfließt.31 Im Anschluss an solche Überlegungen kann man sich fragen, inwieweit ein interikonischer Vergleich der Grafiken von Greenwood gewissermaßen einen Habitus des Sujets erkennen lässt, konstituiert doch das Verhalten und Empfinden der Besucher zuallererst die individuelle Zeichnung. Sehr viel stärker knüpft Greenwood mit seiner Bildpraxis jedoch an jüngere partizipative Strategien im Kunstfeld an, die daran interessiert sind, das Beziehungsgefüge zwischen Urheber, Werk und Betrachter neu auszuloten – gemeint sind jene Kunstformen, die Nicolas Bourriaud unter dem Begriff »Relational Aesthetics« zusammenfasst. 32 So war es für den Künstler zum Beispiel wichtig, dass die Blätter von den Besuchern mit nach Hause genommen werden konnten, was man als gängige Praxis kooperativer Medienkunst betrachten kann. So gesehen sind die Grafiken zunächst nicht nur wissenschaftliches Material, sondern darüber hinaus auch ästhetische, formal gestaltete, individuelle Objekte, die durchaus Reflexionen über den Status dessen, was wir Kunst nennen, in Gang bringen. Doch wäre es irreführend, die 352 Grafiken als Werk-Serie zu betrachten. Für Greenwood schien es eher konsequent, dass die Grafiken weder als Exponate genutzt noch durch ihn signiert wurden. Als Serie erlangen sie erst in der nachfolgenden wissenschaftlichen Auswertung Bedeutung. Dies gilt insbesondere für die Mappings, also jene Grafiken, welche die Daten mehrerer Besucher in einer Überlagerung darstellen und weitgehend erst nach Ablauf der Ausstellung und eigens für die unterschiedlichen Auswertungen produziert wurden. Das Mapping ist als Arbeitspraxis innerhalb der zeitgenössischen Medienkunst eine durchaus gängige Methode,33 die in den 1990er Jahren als GPS-Tracking und Live-Tracking bereits einen Höhepunkt erlebt.34 Hier scheint es besonders naheliegend, diese Methode in Forschungszusammenhänge zu übertragen. 35

Abb. 4: Steven Greenwood and 30 others: Mapping Experience.

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Nun ließe sich fragen, inwieweit sich die Grafiken von eMotion, die aus dem Mappingverfahren entstehen, auch als Erzeugnisse betrachten lassen, die aus einem Zeichenakt hervorgebracht werden. Zunächst lassen sich die Linien im Wesentlichen als Geste und als Spur eines handelnden Subjekts lesen – hierin wären die eMotionGrafiken durchaus vergleichbar etwa mit den radikal reduzierten Zeichnungen von Norbert Kricke. Doch hat im Falle der Mappingtechnologie der Herstellungsprozess eine konzeptionell vollkommen andere Bedeutung. Es kann als ein Charakteristikum des Mappings gelten, dass hier konkret gewusst wird, was gemessen wird. Auch spielt das Verhältnis von Simultaneität und Sukzessivität im Mapping eine andere Rolle. Es ist in der Rezeption jederzeit bewusst, dass es sich bei dem Mapping um die Aufzeichnung einer Spur handelt und nicht um die Herstellung einer Form oder Komposition. Die Blätter als kompositorische Gebilde zu erachten und dementsprechend nach ästhetischen Gesichtspunkten zu beurteilen, wäre insofern widersinnig, als man sie immer auf konkrete Verhaltensweisen eines Akteurs zurückbezieht und genau vor diesem konkreten Hintergrund analysiert und deutet. Es sollte vermieden werden, das Hintergrundwissen um die Hervorbringung gewissermaßen auszublenden und einen rein ästhetischen Blick einzunehmen. Während ein ästhetischer Blick auf ein Artefakt vor allem auf das eigene Vernehmen achtet, mithin reflektiert, wie hier gesehen wird, und das Artefakt als Sediment einer Anschauungsweise im willentlichen Gestaltungsakt ansieht, ist dies in den vorliegenden Mappings prinzipiell nicht der Fall. Gleichwohl können bei der visuellen Umsetzung bildgebender Verfahren wie diesem ästhetische Gesichtspunkte eine Rolle spielen – etwa Farbentscheidungen, Strichdicke und Ähnliches. Gestalterische Entscheidungen bemessen sich hier jedoch an anderen Kriterien – etwa nach Fragen der Übersichtlichkeit und der Auswertbarkeit. Entsprechend folgt die Produktion der Grafiken denn auch einer ganz anderen Logik als die Kunstproduktion.

Zur Entstehung der Displays Bei Kartografien von Messdaten muss es darum gehen, die Datenlage anhand von Mustererkennung auswerten zu können. Die Analyse wird hier im Vergleich zu einem Sample geführt, welches für die Versuchsanlage als Normalfall konstruiert wird. Die Mustererkennung geht davon aus, dass Abweichungen von einem Normsatz Auffälligkeiten liefern, die dann interpretiert werden können. Auch in der Auswertungsphase

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von eMotion werden Kartografien unter diesem Gesichtspunkt analysiert. Zum einen wird bei Mappings nach Ähnlichkeiten und Abweichungen in den Mustern gesucht, zum anderen werden Mappings selbst hypothesengeleitet erzeugt und diese dann analysiert. Ähnliches gilt für die Videoanalysen. Auch hier ist es das Ziel, der Möglichkeit zur Bildung von Typologien nachzugehen. Das heißt, dass die Grafiken somit nicht unter ästhetischen Kriterien, sondern dem Gesichtspunkt der Andersartigkeit oder Auffälligkeit gelesen werden. Im Verlauf des Forschungsprojektes war die Entwicklung sowohl der Mappings als auch der Sonifikation größtenteils ein kollektiver Prozess, der sich gleichermaßen an ästhetischen, wissenschaftlichen und technischen Qualitäten und nicht zuletzt dem individuellen Vermögen der beteiligten Künstler, Grafiker, Programmierer und Wissenschaftler orientierte. Erste Entwürfe wurden erstellt und mit dem Projektleiter aus wissenschaftlicher und ästhetischer Perspektive diskutiert, teils verworfen oder weiterentwickelt. Prototypen der Darstellungsformen wurden anschließend mit den Programmierern auf ihre technische Machbarkeit hin geprüft und weitere Programmierer als Visualisierungsspezialisten hinzugezogen. Nicht zuletzt waren auch der Museumsdirektor, der Kurator und der Leiter des Einrichtungsteams des Museums an der Gestaltung der multimedialen Installation beteiligt. Wo die Installation gezeigt werden könnte und was von den Besuchern wie gesehen und gehört werden kann, wurde über mehrere Monate in der Projektgruppe intensiv diskutiert und entwickelt. Dass auch der Kostenrahmen und das Zeitbudget des Projektes auf die Entstehung einzelner Displays Einfluss nahmen, versteht sich von selbst. Die Materialität und Ästhetik der stehenden und bewegten Bilder und der Sonifikation wurden zudem von den verwendeten Programmiersprachen mitdeterminiert, so dass auch hierdurch der wissenschaftliche Auswertungsprozess beeinflusst wurde. Bildgebende Verfahren, aber auch komplexe statistische Auswertungen geben Realitäten vermeintlich exakt wieder. Diese empirische Evidenz ist jedoch in hohem Maße konstruiert. Wie dargestellt, ist nicht bloß die Entwicklung der Tracking- und Physiologie-Instrumente zum Abnehmen der Daten im Feld »gemacht«, auch das Prozessieren dieser »Rohdaten« zu »brauchbaren« Daten, aus denen sich Informationen generieren lassen, unterliegt einem wissenschaftlichen und ästhetischen Konstruktionsprozess: Nach der Feldforschungsphase wurden ein halbes Jahr lang wiederum ausschließlich Formeln entwickelt, getestet und diskutiert, verworfen oder verändert, die aus der immensen Datenmenge, unter ausgehandelten Prämissen im Forscherteam, für das Team »relevante« Informationen zeigen. Die

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Art und Weise der Konstruktion von wissenschaftlich erzeugten Wirklichkeiten muss daher als Beobachtung ständig mitlaufen, um Kurzschlüssen vorzubeugen. Bereits zu Beginn der wissenschaftlichen Auswertungsphase arbeiteten Greenwood und Ramakrishnan an der Weiterentwicklung unterschiedlicher Darstellungsweisen. Dieses Verfahren verlief über mehrere Monate explorativ. Auf eigene Initiative oder Anregung des Projektleiters experimentierten sie mit unterschiedlichen Berechnungsformeln, Klangqualitäten, Stichdichten, einer unterschiedlichen Anzahl von Personen, die »gemappt« werden sollen etc. Ein Beispiel verdeutlicht, wie sichergestellt wurde, dass Grafiken und Sounds lesbar und interpretierbar werden und wie die Bildgestaltung die Interpretation in bestimmte Richtungen lenkt: Die folgende Abbildung zeigt den Grundriss des Museums mit Raum 4. Die Werke sind violett dargestellt, ein ausführlicher Wandtext erscheint als lila T, die Solakov-Intervention ist hellblau. Grau-schwarz sind die Weglinien der Besucher. Die gelben und orangen Marker zeigen deren physiologische Reaktionen. Abgebildet sind 30 zufällig ausgewählte Besucher. Die Bildtafeln befinden sich je rechts vom Werk und sind nicht dargestellt. 36

Abb. 5: Steven Greenwood and 30 others: Paths and Physiological Reactions of 30 Museum Visitors in Space 4.

Bei den drei gezeigten Grafiken (Abb. 1, 4 und 5) handelt es sich jeweils um dieselbe Situation. Immer sind dieselben 30 Besucher in Raum 4 zu sehen. Abbildung 1 zeigt einen Ausschnitt der Grafik und nur die Pfade der Besucher, Abbildung 4 dieselbe Grafik, diesmal mit physiologischen Markern, und Abbildung 5 die gesamte Grafik, gerahmt von dem Grundriss. Der Vergleich der drei Abbildungen macht deutlich, dass sich das, was sich aus den Grafiken »lesen« lässt, durch die Darstellungsweise maßgeblich verändert.

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Innerhalb der Wissenschaftsforschung und der Bildwissenschaften wird verschiedentlich hervorgehoben, dass Bilder die Wirklichkeit nicht einfach nur objektivierend abbilden, sondern ihrerseits codieren.36 Als Modelle, Visualisierungen, Graphen oder Indizes machen sie nicht einfach nur sichtbar, sondern führen auch neue Codierungen ein, deren Realitätsgehalt und Aussagekraft es wiederum kritisch zu reflektieren gilt.37 Was den wissenschaftlichen Umgang mit Bildern jedoch kategorial von der künstlerischen Bildpraxis unterscheidet, das sind vor allem zwei Aspekte: zum einen der Interpretationsspielraum und zum anderen die vollkommen andere Arbeitsteiligkeit im Umgang mit den Bildern. Während künstlerische Bilder möglichst vieldeutige Ausdeutungen ermöglichen, zielen wissenschaftliche Bilder auf eine Eindeutigkeit. Im Bildgebrauch unterscheiden sich künstlerische Bilder von wissenschaftlichen zweitens insofern, als sie nicht zu dem Zweck entstehen, von ihren Urhebern selbst interpretiert und ausgewertet zu werden. Dies ist bei wissenschaftlichen Bildern anders: Sie werden zu dem Zweck hergestellt, etwas Konkretes zu zeigen. Sie sind »Instrumente« und »Bilder zum Verbrauch«, 38 die ihren Zweck erfüllt haben, wenn sie einen Zusammenhang verdeutlichen können – »wissenschaftliche Bilder sind deiktisch«. 39 Das Interesse an künstlerischen Bildern hingegen hält an; sie entziehen sich sowohl 37 der Eindeutigkeit als auch dem Verbrauch. Genau diese Unterschiede in der Bildverwendung wurden im Rahmen des Projektes deutlich. So wundert es nicht, dass beispielsweise die Künstler sich an der Bildinterpretation und Auswertung nicht beteiligten. So wie die Künstler sich auf die neue Form der Bildverwendung einstellen mussten, entwickelten sich für diejenigen Forscher, die es nicht gewohnt sind, mit Bildern umzugehen, erst durch unzählige Bildvergleiche, die ständige Überprüfung bestimmter Phänomenhintergründe und schließlich den Abgleich mit anderen Daten – wie etwa den Befragungen – nach und nach robustere Deutungsmuster. Für alle aber galt es gleichermaßen, aus einer Fülle von visuellen Informationen und deren Relation zu anderen Daten nicht nur Erfahrungswerte zu gewinnen, sondern hierin auch Strukturen zu erkennen und daraus in einem ständigen 36. Vgl. etwa Heintz, Huber: Mit dem Auge denken (2001). Auch einige Beteiligte im Austausch Schlüsse abzuleiten. Projekt haben bereits zu der Rolle von BilGenauso wie die Bilder auf ihren Kondern im Rahmen naturwissenschaftlicher struktionscharakter hin diskutiert wurden, Untersuchungen gearbeitet, siehe Berg, Priddat: »Bilder der Wirtschaft« (2009). geschieht dies auch im Rahmen des Auswertungsprozesses, aber mit herkömmlichen 37. Vgl. etwa Ratsch, Stamatescu, Stoellger: Kompetenzen der Bilder (2009). statistischen Methoden. Die Zusammenar- 38. Boehm: »Zwischen Auge und Hand« (2001), beit verlangt von allen Beteiligten, sich auf S. 49. den Nachvollzug von statistischen Formeln 39. Ebd.

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einzulassen und zu prüfen, welche Formeln welchen Berechnungen zugrunde liegen, welche »Evidenzen« dadurch womöglich erzeugt werden können und welche nicht. Dabei geht es immer wieder darum, sich innerhalb des Auswertungsprozesses auf einen gewissen experimentellen Dilettantismus einzulassen. Eine Voraussetzung für das Gelingen dieser Arbeit jenseits der üblichen disziplinär verfassten Felder ist die Etablierung eines Forschungsmanagements. Schnell zeigte sich, wie bedeutsam ein solches Management für das Projekt ist – nicht nur, weil Ergebnisse und Zeitplanungen weniger vorhersehbar sind und es gilt, methodisch-theoretische Kompetenzen immer wieder neu zu vergemeinschaften, sondern auch, weil die Sozialität einer solchen Forschergruppe in einem längeren Prozess zuallererst konstituiert werden muss und die Autorschaft der Forschung anders gelagert ist, als dies vor allem die Künstler, Geistes- und Sozialwissenschaftler gewohnt sind. Eine weitere Schwierigkeit, die sich vor allem in der Unterscheidung zwischen nicht-kunstbezogenen Beteiligten und Künstlern und Kunstwissenschaftlern abzeichnete, war der unterschiedliche Umgang mit Vieldeutigkeit. Auf beides sei deshalb näher eingegangen. 38

Experimentelle Differenzproduktion Im Gegensatz zur Wissenschaft, die im Zuge der Erkenntnisproduktion Eindeutigkeit herstellen möchte, operiert die Kunst – das wurde auch im Rahmen von eMotion deutlich – in einem spekulativen »Als-ob-Modus«. Erkenntnis ergibt sich eher durch Deutungsoffenheit in der Aktivierung des Möglichkeitssinns des Betrachters denn durch eine deutungsgeschlossene Darstellung oder Eindeutigkeit fordernde Interpretation. Dass in dieser spezifisch künstlerischen Perspektivierung ein besonderer Vorteil liegt, stellt zugleich eine Schwierigkeit wie auch eine echte Qualität dar, die von der epistemologischen Forschung längst erkannt wird. Alfred Nordmann fasst dies wie folgt: Wir haben es [...] nicht mit dem Triumph der Technowissenschaften über die Geisteswissenschaften und die Künste zu tun [...]. Stattdessen beobachten wir den Triumph des Theaters über die Wissenschaft. Dies ist auch der Triumph der Performativität über die Historizität, der Erfahrung des Kräftespiels über die Wiederholbarkeit der wirklichen Verhältnisse, der hingebungsvollen Teilhabe über kritisch-distanzierte 40. Nordmann: »Experiment Zukunft« (2009), Darstellung.40 S. 21.

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So ist es im Projekt eMotion auch die von Niklas Luhmann beschriebene Paradoxie der »Erwartung der Überraschung«,41 die es attraktiv erscheinen lässt, Künstler und Wissenschaftler gemeinsam an der Fragestellung der Wirkung von Kunst arbeiten zu lassen. Doch spielt noch ein zweiter, ganz anderer Aspekt eine Rolle: Bei der Produktion von Erkenntnis im künstlerischen Modus gibt die Materialität nicht nur wesentliche Rahmenbedingungen vor, in denen sich die Bedeutungsproduktion abspielen kann;42 die Materialisierung kann hier – etwa beim Erschaffen der Medieninstallation für eMotion, aber auch bei einer Tanzperformance – zugleich Ausgangspunkt und Ziel sein. Folgen wir Hans-Jörg Rheinberger, so verhält sich dies in den Wissenschaften ähnlich – und doch anders: »Der Wissenschaftler kommt mit etwas in Berührung, er beginnt, damit zu interagieren und es zu gestalten. Im Ganzen betrachtet ist die Wissenschaft eine kulturelle Unternehmung mit einer eigenen Materialität«43. Rheinberger spricht von »Praktiken der Theoriebildung« und Erkenntnisprozessen, die durch die Auseinandersetzung mit dem Material geschehen und nicht rein kognitiv stattfinden.44 Hierin, so könnte man meinen, stimmen künstlerische und wissenschaftliche Fabrikation von Erkenntnis überein. Doch besteht dabei zugleich ein Unterschied. Während Rheinberger sich mit seinen 39 Überlegungen im Wesentlichen auf die naturwissenschaftliche Laborforschung bezieht, herrscht im Kunstfeld – und zwar sowohl im (geistes-)wissenschaftlich-reflexiven Teil wie auch in der künstlerischen Praxis selbst – ein anderes Paradigma der Selbstreflexion. Materialisierungspraktiken, bildgebende Verfahren und jegliche Modi der Formwerdung sind in der Kunst nicht nur Mittel zum Zweck, sie reflektieren in der künstlerischen Praxis stets ihre eigene Anschauungsweise – darin besteht eines ihrer Ziele. Kunstbilder sind seit der Neuzeit immer auch Bilder über Bilder beziehungsweise Bilder, die ihren Status als Bild thematisieren. Dies ist ähnlich und analog in der rezeptionsästhetischen Praxis, die stets eine Wahrnehmung der Wahrnehmung selbst ist.45 Genau dieses wahrnehmungsbezogene Reflexionswissen – und letztlich weniger die künstlerische Heuristik des »Als-ob-Modus« – ist es, die sich das Team von eMotion zur Herausbildung einer neuen Form von Sicht- 41. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (1999), S. 71. barkeit in der Kunstwahrnehmung im Museum zunutze macht. Vor dem Hintergrund, 42. Vgl. Martin Tröndle in diesem Band. dass sich das Forschungsprojekt auf das Re- 43. Krauthausen, Nasim: »Papierpraktiken im Labor« (2010), S. 140. zeptionsverhalten in einer Kunstinstitution 44. Vgl. Maren Lehmann in diesem Band. bezieht, wäre es sogar seltsam, genau dieses 45. Vgl. hierzu Seel: »Ästhetik und AistheReflexionswissen auszuklammern. tik« (1997).

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Autorschaft und Schnittstellenmanagement Gleichwohl bedeutet der in eMotion praktizierte transdisziplinäre Ansatz, bei dem Psychologen, Sozialwissenschaftler, Kunstwissenschaftler, Kulturwissenschaftler mit Künstlern und Technikern gemeinsam arbeiten, zugleich, dass die eigenen Feldlogiken verlassen werden müssen, und das wiederum hat auch für den Umgang mit Autorschaft Konsequenzen. So ist es bemerkenswert, dass der Medienkünstler Greenwood bei dem Projekt auf sein Selbstverständnis als künstlerischer Urheber der Grafiken hin befragt sehr zurückhaltend reagiert. Dies scheint insoweit mehr als nachvollziehbar, als sich die Grafiken weder als »Werke« im klassischen Sinn einem Autor zuschlagen lassen noch als Artefakte zu verstehen sind, die im engeren Sinne aus einer künstlerischen Schaffensstrategie heraus entwickelt werden. Auch sind sie nicht als Objekte für eine am Kunstfeld orientierte Rezeption gedacht. Vor allem für die beteiligten Künstler birgt dies zugleich eine gewisse Gefahr. Wenn sich die Balance zwischen Beauftragung und Selbstbeauftragung empfindlich verschiebt und die künstlerischen Spielräume, die notwendig sind, um unabhängig mit dem Material umzugehen, durch die anderen Forschenden und deren Kompatibili40 tätsforderungen ständig begrenzt werden, so widerspricht dies einem auch heute noch, allen Postulaten zum Trotz,46 vorherrschenden Verständnis künstlerischer Autonomie. Konkret gesprochen: Greenwood muss damit umgehen, dass seine Grafiken eher Grundlagen für wissenschaftliche Auswertungen sind und weniger als künstlerische Artefakte gelten.47 Dennoch aber hielt er an seinen ästhetischen Ansprüchen bei der grafischen Gestaltung und Einrichtung der Installation fest, zumal sich diese im Rahmen der Installation als museumstauglich erweisen musste. Diese Ambivalenz auszuhalten, kann für Künstler in Forschungszusammenhängen herausfordernd sein. Die Entwicklung des Datenhandschuhs, die Tracking-Technologie, die Datenbankarchitektur, die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern und Programmierern 46. Vgl. Barthes: »Der Tod des Autors« (2000). stellen sehr viel eher den Hintergrund 47. Die Zurückhaltung gegenüber einem emphader Genese dieser Grafik dar als Artischen Begriff von Autorschaft ist allerdings beitsstrategien des Kunstfeldes und die für die Arbeitspraxis innerhalb der Medienkunst nicht ganz unüblich. Das Zurücktreten ihnen zugehörige Konstruktion von Auhinter ein apparatisches Dispositiv und die torschaft.48 Insofern lässt es sich auch als Verweigerung der künstlerischen Signatur auf den Blättern ist dort durchaus verbreitet, charakteristisch für das eMotion-Projekt macht eine Anerkennung im Kunstfeld aber beschreiben, dass sich die Idee von Augleichwohl schwierig. torschaft in diesem Rahmen weitgehend 48. Vgl. Caduff, Wälchli: Autorschaft in den Künsverflüssigt, sich also nicht von jener ten (2007).

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Autorschaft im Sinne subjektiver Verantwortung sprechen lässt, die für das Kunstfeld nach wie vor kennzeichnend ist.49 Treffender scheint es zu sein, das Vorgehen als Aushandlungsprozess zu schildern, der von dem Projektleiter moderiert wird. Wesentliche Aufgabe der Projektleitung ist unter diesen Bedingungen das »Schnittstellenmanagement«, das heißt die Sicherstellung, dass die einzelnen Spezialisten nicht nur »ihre Arbeit« tun, sondern ihre Arbeitsleistung auch anschlussfähig zu anderen bleibt. Das bedeutet zum Beispiel, die verschiedenen technischen Spezialisten der Tracking-Technologie, die Datenbankbauer und die Programmierer der Displays in Ton und Bild dafür zu sensibilisieren, dass sie kommunizieren, unter welchen Bedingungen sie welche Daten produzieren, damit Displays und ihre Entstehung transparent bleiben.

Transaktionskosten, Meta-Kultur und kochende Kuratoren Die Mehrheit der Programmierer und Designer von eMotion sind Künstler, andere »nur« Datenbankspezialisten. Zwischen diesen beiden Gruppen gibt es im Projekt eine kulturell bedingte Zweiteilung: 41 Die aus der (Medien-)Kunst kommenden Programmierer sind eigenverantwortliches Arbeiten in Stresssituationen (im Hinblick auf die breit angekündigte Eröffnung) gewohnt. Die Datenbankspezialisten erledigen ihre Arbeit, kümmern sich jedoch wenig um deren Anschlussfähigkeit, was immer wieder zu technischen Problemen führt. Die kunstsozialisierten Programmierer hingegen haben weniger Probleme, über die Grenzen ihres Arbeitsbereiches hinauszublicken und ihre Arbeitsleitung integrationsfähig zu halten. Zudem zeigt sich eine weitere Teilung des Teams, die auch bis zur Auswertung kaum zu überwinden ist: Auf der einen Seite befinden sich die Künstler und Programmierer, auf der anderen die Geistes- und Sozialwissenschaftler. Zwischen diesen zu vermitteln und das notwendige gegenseitige Verständnis von Forschungsfragen und Hypothesenbildung herzustellen und mit den technischen Entwicklungen der letzten Jahre in Einklang zu bringen, war und ist die zentrale Herausforderung des Projekts. Dass wissenschaftliche Untersuchungen weder von sozialen Interaktionen noch von Artefakten unbeeindruckt bleiben, wird seit einigen Jahren verstärkt ins Bewusstsein gerückt. Gerade die jüngere soziologische Wissenschaftsforschung und die historische Epistemologie haben den Blick für den Zusammenhang 49. Vgl. Groys: »Die Politik der Autorenzwischen institutionsspezifischen sozialen schaft« (2001).

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Praktiken und Wissensgenese geschärft. So macht gerade Bruno Latour darauf aufmerksam, dass Artefakte und materielle Objekte als »Aktanten« eine aktive Rolle bei der Hervorbringung von Wissen spielen, und es wird ein gewandeltes Verständnis von Wissensproduktion und Sozialität entwickelt.50 Forschung wird demnach nicht nur als von soziokulturellen Faktoren beeinträchtigtes Tun, sondern selbst als soziokulturelle Praxis beschrieben. Dabei sind Räume, Objekte, Dinge, soziale Umfelder, Machtfragen und Aufmerksamkeitsökonomien der Wissensgenese nicht äußerlich, sondern jeder Wissensform und Forschungsaktivität immer schon eingeschrieben. Dies hatte auch im Rahmen von eMotion Folgen und brachte wiederum ganz eigene neue Rollenmodelle und Verhaltensmuster hervor. Um dem transdiziplinären Anspruch des Forschungsprojektes auch in der Auswertung gerecht zu werden, soll das Verfassen der einzelnen Beiträge jeweils in einem Team von mindestens zwei Personen unterschiedlicher disziplinärer Herkunft realisiert werden. Idee dabei ist, in jedem Beitrag eine methodische und theoretische Perspektivierung des Untersuchungsgegenstandes zu evozieren, die sich ebenso in einer multiplen wissenschaftlichen Autorschaft niederschlägt.51 Erst beim Schreiben der Beiträge zeigt sich jedoch, dass die diversen theoretischen Verortungen, die unterschiedlichen 42 methodischen Kompetenzen, der Sprachduktus, die Veröffentlichungslogiken wie auch die disziplinäre Sozialisierung der Autoren teils kaum überwindbare Hürden in der Zusammenarbeit ausbilden, was den Auswertungsprozess zwar durch die Multiperspektivierung – wie beabsichtigt – bereichert, jedoch zugleich extrem verlangsamt beziehungsweise teilweise sogar erschwert oder verhindert. Die Kooperation über die eigenen Disziplingrenzen hinaus erzeugt unter den Wissenschaftlern Unsicherheit, denn man begibt sich, sobald man den Kosmos seiner theoretisch-methodischen Disziplin verlässt, auf ein heikles Parkett. Diese Unsicherheit kann nur produktiv werden, wenn sie als Chance verstanden wird, den eigenen Habitus und Modus der Wissensproduktion in Frage zu stellen. Diese Offenheit im Team zu erzeugen, um eine habituelle Osmose in Gang zu setzen, war und ist Teil des Forschungsmanagements. Es geht dabei letztlich um die Ausbildung einer gemeinsamen Meta-Forschungskultur, in der disziplinäre Grenzen nicht gänzlich eingebüßt werden. 50. Vgl. Latour: »Eine Soziologie ohne Objekt?« Insbesondere Wissenschaftler, die es (2001); ders.: »Gabriel Tarde und das Ende nicht gewohnt sind, in Teams zu arbeides Sozialen« (2001); Knorr-Cetina: »Das naten, tun sich damit schwer, Autorschaft turwissenschaftliche Labor« (1988). zu teilen und andere Vorgehensweisen 51. Vgl. zum Beispiel Tröndle u. a.: Is this Art? (2011). 52. Vgl. ebd. als die vertrauten anzuerkennen: Die

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Transaktionskosten der Multidisziplinarität sind hoch. Das zeigt sich nicht zuletzt auch beim Verfassen dieses Beitrages, der mehrere Monate zwischen den drei Autoren rotierte und mannigfach überschrieben wurde. Da solch ein Vorgehen für alle Beteiligten arbeitsreich und anstrengend ist, erhält die soziale Moderation und Motivation des Teams besondere Bedeutung. Regelmäßige mehrtägige Forschungsmeetings und gemeinsam verbrachte Abende sind Voraussetzung, um das Aufeinander-Zubewegen in Gang zu halten. Transdisziplinär angelegte Kunstforschungsprojekte benötigen insofern ein anderes Forschungsmanagement als disziplinär weitgehend homogenisierte Forschergruppen. Wissensproduktion, das zeigt sich in eMotion deutlich, ist ein sozialer Akt. Dies anzuerkennen und die Differenzen produktiv zu nutzen, erfordert die Rolle eines »Wissenschaftskurators«, der das eingeübte wissenschaftliche und künstlerische Einzelkämpfertum zu überwinden versucht 52 – zuweilen durch simple Dinge wie gemeinsames Kochen in privaten Wohnungen.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1, S. 22: Steven Greenwood and 30 others: Paths. BeamerProjektion, 2009, eMotion – mapping museum experience, Ausstellung im Kunstmuseum St. Gallen © eMotion Abb. 2, S. 30: Blick in die Austellung, 2009, eMotion – mapping museum experience, Ausstellung im Kunstmuseum St. Gallen © eMotion Abb. 3, S. 32: Steven Greenwood: Besucher Nr. 6. Screen, 2009, eMotion – mapping museum experience, Ausstellung im Kunstmuseum St. Gallen © eMotion Abb. 4, S. 33: Steven Greenwood and 30 others: Mapping Experience. Projektion, 2009, eMotion – mapping museum experience, Ausstellung im Kunstmuseum St. Gallen © eMotion Abb. 5, S. 36: Steven Greenwood and 30 others: Paths and Physiological Reactions of 30 Museum Visitors in Space 4. Screen, 2009, eMotion – mapping museum experience, Ausstellung im Kunstmuseum St. Gallen © eMotion

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Heike Klussmann und Thorsten Klooster

BlingCrete: Materialentwicklung

als

transdisziplinärer Forschungsprozess

Grenzflächen bedingen lebensweltliche Reali- »God made the bulk, the surface tät: Sie definieren und katalysieren Prozesse des was invented by the devil.« Lebens in der Ausprägung zellulärer Membra(Wolfgang Pauli, Quantenphysiker, 1900–1958) nen, in Form der Haut oder des Immunsystems oder als Definition ökologischer Lebensräume. Phänomene an materiellen Grenzen spielen in vielen Bereichen eine wichtige Rolle, ob sicht- und nutzbar in der Alltagskultur oder dem Blick entzogen wie in den angewandten Naturwissenschaften, in der nanotechnologischen Materialforschung oder auf der Ebene biotechnischer und chemischer Prozesse (Katalyse, Filtration, Elektrophorese). Eine Verbindung zur Kunst zeigt sich in den materialen Erscheinungsformen von Oberflächen und ihren medialen Repräsentationen von Fotografie, Film und digitalen Bildmedien. Konzeptionen von Grenze scheinen in Marcel Duchamps Wortschöpfung des Inframince auf, das die beinahe nicht wahrnehmbare Trennung (oder simultane Verzögerung) zwischen zwei angrenzenden Ereignissen oder Zuständen beschreibt.1 In der Architektur benennen Begriffe wie »Fassade« und »Hülle« vielschichtige Zusammenhänge (Abb. 1). Mit seiner Aussage vom Haus als zweiter Haut, die unser Sensorium erweitert, bringt Michel Serres vielleicht am deutlichsten den Topos von der Kleidung beziehungsweise Gebäudehülle 1. Inframince ist nach Duchamp das »Mögliche, das das Werdende einschließt; der Übergang vom als bedeutende synthetische Extension einen in das andere findet im Inframince statt«. zum Ausdruck, die hilft, uns mit unZit. n. Hanimann: INFRA-MINCE (1986), S. 135. serer Umwelt in Beziehung zu setzen.2 2. Vgl. Benthien: Haut (2001), S. 38.

Heike Klussmann und Thorsten Klooster

Konzepte von Membran und Oberfläche stehen hier für die potenzielle Offenheit eines Systems; Konzepte von Grenze für seine Geschlossenheit. Tatsächlich definiert im Wesentlichen die Permeabilität der Hülle die möglichen Beziehungen zur Umwelt. Über diesen Kopplungsgrad bestimmt sich unsere prinzipielle Lebensfähigkeit unabhängig vom Stand der Technik, Kultur und Naturbeherrschung: Wir erhalten uns selbst als geschlossene Systeme, indem wir offene Systeme sind.3

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Abb. 1: BlingCrete beschreibt Wechsel des Augenmerks von den Eigenschaften (der appearance) eines Materials zur Performance von Oberflächen

Das thematische Spektrum der Vorrede ist in Bezug auf das Projekt BlingCrete von Bedeutung, das im Rahmen eines transdisziplinären Forschungsprozesses an der Universität Kassel entwickelt wird. Es vereint Expertisen aus den Bereichen Bildende Kunst, Architektur, Interaktions- und Produktdesign, Experimentelle Physik und technologische Materialforschung. Es ist zunächst ein Vorhaben, das sich der Verwirklichung einer Materialidee, nämlich einem Licht reflektierenden Beton, widmet. Der auch als Reflexbeton bezeichnete neue Werkstoff vereint in technischer Hinsicht die positiven Eigenschaften von Beton (Brandsicherheit, Festigkeit und Baumethodik) mit der Eigenschaft der Retroreflexion. Retroreflektierende Oberflächen werfen einfallende Lichtstrahlen (Sonnenstrahlung oder Kunstlicht) präzise in Richtung der Lichtquelle zurück. Das optische Phänomen wird durch Mikroglaskugeln erzeugt, die in das Trägermaterial Beton eingebettet werden. Die Idee für den Werkstoff entstand in der künstlerisch experimentellen Arbeit mit Licht reflektierenden Materialien aus dem Straßenbau, deren leichte 3. Vgl. Reichholf: Stabile Ungleichgewichte (2008), S. 137. Entflammbarkeit eine dauerhafte Verwendung 4. Parkhaus – Stadt im Regal. Ausstellung in Innenräumen ausschließt. Berichtenswert im Parkhaus Behrenstraße 17–20, ist in dieser Hinsicht die Schilderung des Berlin-Mitte, 04.–18.05.1997.

BlingCrete: Materialentwicklung als transdisziplinärer Forschungsprozess

Lösungswegs als Darstellung eines Transferprozesses, der schon aus technischer Sicht einer durch die Thematisierung von Grenzen initiierten Kommunikation bedurfte, um die Zielsetzungen zu erreichen. Die Zusammenführung von Glas und Beton in einem Werkstoffverbund ist aber auch aus anderen Gründen wesentlich, vereint BlingCrete mit dieser Kombination doch zwei der materialästhetisch denkbar gegensätzlichsten Positionen, die mit gleichsam axiomatischen Diskursen in den Bildenden Künsten und der Gestaltung in Beziehung stehen. Wir möchten zeigen, wie sich BlingCrete aus der Analyse und der kreativen Interpretation solcher Antagonismen von der Ebene der Bildenden Kunst über den Weg der Materialentwicklung zu einem Experimentalsystem fortschreibt, das in gleicher Weise künstlerische wie wissenschaftliche Fragestellungen katalysiert und den Dialog darüber befördert. Die inhaltlichen Facetten des Begriffs »Oberfläche« definieren hier einen interdisziplinären Verhandlungsraum, in dem sich das Projekt entfaltet. BlingCrete ist eine Materialentwicklung und der Prototyp eines transdisziplinären Forschungsprozesses.

BlingCrete – konzeptuell Das BlingCrete-Projekt beginnt als Reihe von künstlerischen Experimenten mit Licht reflektierenden Materialien und der Erforschung des spezifischen Phänomens der Retroreflexion in Vorbereitung einer künstlerischen Intervention im Stadtraum (Abb. 2).4 Wir können das Phänomen der Retroreflexion im Alltag erleben, etwa wenn wir uns im Auto einer Baustelle, einer Gefahrenstelle oder einem Zebrastreifen nähern und in einem bestimmten Moment die Licht reflektierenden Fahrbahnmarkierungen hell aufleuchten sehen: Für einen Moment überstrahlen sie fast die Umgebung, um im nächsten Augenblick des Vorbeifahrens wieder mit der Oberfläche des Straßenbelags zu verschmelzen.

Abb. 2: Steg von Heike Klussmann: 60 Meter lange Installation mit retroreflektierender Oberfläche

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BlingCrete ist also zunächst ein aus der Position der Kunst initiiertes Austauschverfahren, in dem das spezifische Wissen und die Arbeitsmethoden der wissenschaftlichen Disziplinen genutzt werden, um sie in künstlerischen Kontexten zu platzieren und zur Anwendung zu bringen – und vice versa. Der Prozess beginnt in der Bildenden Kunst und untersucht das visuelle Potenzial der Retroreflexion als eine durch Licht induzierte Bewegung einer Form, die sich auf eine andere Form hinzu bewegt. Diese Bewegung ist das wahrnehmbare Intervall zwischen Aktion und Reaktion, das anderenfalls unbemerkt bliebe. Zweidimensionale Streifen retroreflektierenden

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Abb. 3: Wie an einem endlosen Band durch den Raum gezogen, bilden die flächigen, retroreflektierenden Streifen die Skulptur Yellowesk von Heike Klussmann.

BlingCrete: Materialentwicklung als transdisziplinärer Forschungsprozess

Materials verbinden sich mit gegebenen räumlichen Situationen zu einer Skulptur, die dazu anregt, den Raum als Bildraum neu zu denken. Was als gegenständlich angesehen wird, erscheint plötzlich als flüchtiges Phänomen. Arbeiten wie die Skulptur Yellowesk oder Ratiobau zeigen eine die Wahrnehmung beeinflussende, illusionistische Wirkung der Retroreflexion in Bezug auf gesetzte räumliche Grenzen (Abb. 3). Man weiß, dass etwas gesehen wurde, doch es bleibt die Unsicherheit, ob das Wahrgenommene eine Sinnestäuschung oder eine Vermittlung konsistenter Wirklichkeit ist. Es zeigt sich, dass retroreflektierende Oberflächen keinen statischen energetischen Zustand repräsentieren, sondern stattdessen einen fließenden Übergang zu formulieren erlauben und die Architektur gleichsam in Bewegung versetzen (Abb. 4). In der Logik des Sichtbaren ist BlingCrete die Konzeption einer subtilen Oberfläche, die zwischen Materie und Licht vermittelt und indirekt auf die Beziehung zwischen Masse und Oberfläche verweist. An der Schwelle zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit offenbart BlingCrete die Widersprüche materieller Repräsentanz. Das Forschungsprojekt nimmt diesen Faden auf und generiert aus solchen Beobachtungen weiterführende Fragestellung und Neuformulierungen von Grenzbereichen. Die Motivation liegt zunächst bei der Entwicklung und erst in zweiter Instanz bei der Wirkung dieser Grenzbereiche. Mit Magnetic Patterning (siehe unten) entfernen wir uns schließlich von dem Spektrum des Sichtbaren und gelangen in den unsichtbaren Bereich nanoskaliger elektromagnetischer Felder.

Abb. 4: Die Studie für die U–Bahn Wehrhahnlinie Düsseldorf veranschaulicht die Potenziale von BlingCrete als Konzeption von Oberflächen, die dynamische energetische Übergange zu formulieren erlauben und die gegebene Architektur gleichsam in Bewegung versetzen.

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Heike Klussmann und Thorsten Klooster

BlingCrete – technisch Konzepte von Oberfläche und Grenze sind für die Entwicklung des Materials in mehrfacher Hinsicht bestimmend. Ein Beispiel ist seine technische Konzeption. BlingCrete verfolgt in dieser Hinsicht die Strategie des Funktionsdesigns von Oberflächen als »Belebung von Materialien«, die dem Zweig der technologischen Materialforschung der angewandten Naturwissenschaften entlehnt ist. BlingCrete adaptiert gleichsam die nanotechnische Strategie der »Dünnen Schichten«, die hinsichtlich der Funktionalisierung von Oberflächen auf der Makroebene eine Schlüsseltechnik ist.5 Das Projekt verortet sich zudem in dem für das Design und die Architektur zunehmend wichtiger werdenden Bereich der Neuen Materialien. Es ist also auch ein Projekt des Technologietransfers, das einer Kommunikation bedarf, um seine Zielsetzungen zu erreichen.

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Abb. 5: Das optische Phänomen der Retroreflexion wird durch Mikroglaskugeln erzeugt, die mittels spezieller Matrizen zu 51 Prozent in Beton eingebettet werden. So positioniert, brechen sie die einfallenden Lichtstrahlen genau in Richtung der Lichtquelle.

In die zuvor unspezifisch strukturierten Oberflächen von Betonbauteilen und -elementen werden im Herstellungsprozess mithilfe von speziell entwickelten Matrizen Glaskugeln von durchschnittlich 3 mm Durchmesser zu 51 Prozent eingebettet (Abb. 5). So positioniert brechen sie die einfallenden Lichtstrahlen und lenken sie genau in Richtung der Lichtquelle zurück, von der sie ausgesendet 5. Vgl. Klooster: Smart Surfaces (2009), wurden. Da die Dichtigkeit des Zementsteins S. 76–82. für die Festigkeit des Bauteils und den Ver6. Vgl. Fehling, Schmidt, Stürwald: Ultra High Performance Concrete (2008). bund von Betonmatrix und Glasperlen von

BlingCrete: Materialentwicklung als transdisziplinärer Forschungsprozess

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Abb. 6: Die Materialkombination von Glas und Beton lässt über den gleichsam dauerhaft integrierten Dialog mit dem Licht die besondere entmaterialisierende Ästhetik entstehen, die nicht ohne Weiteres in den üblichen Kategorien von schwer und leicht beschrieben werden kann.

Bedeutung ist, werden für BlingCrete neuartige, UHPC (Ultra High Performance Concrete) genannte,6 hochfeste Betons weiterentwickelt. Das Werkstoffverhalten wird durch die Zugabe nanoskaliger, Hohlraum minimierender Partikel verbessert. Die Minimierung der Hohlräume im Inneren führt zu einer Optimierung des Haftungsverbunds der Bestandteile der Betonstruktur und damit zu einer hohen Festigkeit des Werkstoffs. Im Ergebnis entsteht eine neue Materialkombination, die über den gleichsam dauerhaft integrierten Dialog mit dem Licht die besondere entmaterialisierende Ästhetik entstehen lässt (Abb. 6). Auf der Ebene der materialwissenschaftlichen Forschung repräsentiert BlingCrete somit ein neues Genre von Materialien mit eigener Wirkungslogik, die nicht ohne Weiteres in den üblichen Kategorien von schwer und leicht oder von Form und Konstruktion beschrieben werden kann.

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Abb. 7: Die BlingCrete-Oberfläche wird in Abhängigkeit von den Positionen von Oberfläche, Lichtquelle und Rezipient aktiviert. Sie wechselt von einem passiven in einen aktiven Zustand.

Die BlingCrete-Oberfläche wird in Abhängigkeit der Positionen von Oberfläche, Lichtquelle und Rezipient aktiviert. In einem bestimm56 ten Moment kann die Reflexionswirkung wahrgenommen werden. Sie setzt die Bewegung mit einer als Zustand erlebbaren (Material-) Eigenschaft in Beziehung, die sich weder durch Objekte der Wahrnehmung und Handlung des Subjekts noch durch Materialfaktoren separat übersetzen lässt. Das über das Material vermittelte physikalische Phänomen der Retroreflexion erlaubt einen beweglichen Schnitt durch das eine, veränderliche Ganze. Der Beton (die Oberfläche) wechselt von einem passiven in einen aktiven Zustand (Abb. 7). Dabei ist es unerheblich, ob es sich um Tageslicht oder gezielt positioniertes Kunstlicht handelt. Es können auch mehrere Lichtquellen unterschiedlicher Farbigkeit und Position im Raum auf die Oberfläche ausgerichtet werden.7 Das hier angewendete Konzept der Funktionalisierung der Oberfläche ist, wie oben erwähnt, der technologischen Materialforschung entlehnt. Diese spricht –vordergründig 7. Die Eigenschaften von BlingCrete eröffnen vielfältige nüchtern – von der Funktion einer Gestaltungsmöglichkeiten in der Architektur und in verOberfläche. Als solche gilt beikehrstechnisch sicherheitsrelevanten Bereichen. Potenzielle Anwendungen sind beispielsweise die baulich spielsweise die Schutzfunktion, dauerhafte, sicherheitstechnische Kennzeichnung von man kann aber auch von der EnerGefahrenstellen (Treppenstufen, Bordsteine, Bahnkante) sowie die Gestaltung baulich integrierter Leitsysteme gie erzeugenden Funktion, von und neuartiger Flächenbauteile (Fassade, Boden, DeLicht erzeugenden oder Klima recke). Aufgrund seiner Haptik kann BlingCrete auch für taktile Blindenleitsysteme genutzt werden. gulierenden Oberflächen sprechen.

BlingCrete: Materialentwicklung als transdisziplinärer Forschungsprozess

So haben wir zur Orientierung unserer Arbeit eine Gliederung in die Themenbereiche »Nano«, »Energie«, »Licht«, »Klima« und »Information« entwickelt. Ebenso sinnfällig wie sie die technologischen Ausprägungen ordnen, umschreiben die Begriffe die für Forschung und Gestaltung zeitgemäßen Anwendungsperspektiven. Aus dieser Übereinstimmung ergeben sich die für Oberflächen tragfähigen Entwicklungs- und Designstrategien. Wir untersuchen die Möglichkeiten der »Belebung« von Materialien, indem wir konzeptuell und technisch bei den Oberflächen ansetzen. BlingCrete verortet sich in dieser Hinsicht im Bereich aktueller Entwicklungen, die mit dem Terminus der »Intelligenten Oberflächen« zusammengefasst werden können. Die Designtheoretikerin Ramia Mazé beschreibt diese Entwicklungen als den Wechsel des Augenmerks von den Eigenschaften (appearance) eines Materials hin zur Performance von Oberflächen: »As structural, chemical and computational properties are integrated at nano-, micro- and macro-scales, even the most traditional material might become more dynamic.«8 Augenblicklich ist die Materialforschung auf der Molekularebene angekommen, auf der elektrostatische Naturkräfte über die im Makroraum relevante Schwerkraft und Massenkraft dominieren.9 Viele neue Materialien sind daher gleichermaßen durch ihre optischen und physikalischen Makro-Eigenschaften wie durch Skaleneffekte von Mikro und Nano bestimmt: »Thus the sea change we sense is subtle and subversive because it is occurring below the surface of visible artifacts.«10 Mit dem italienischen Materialforscher Ezio Manzini können wir von einer Technologisierung der Werkstoffe sprechen, die es den Gestaltern in zunehmendem Maße erlaubt, Verhalten vorherzubestimmen, anstatt es zu berücksichtigen.11

Magnetic Patterning In der weiteren Entwicklung interessieren uns Möglichkeiten und Strategien, Oberflächen nach bestimmbaren Prinzipien zu strukturieren und in reziprok interdependenten Prozessen zu funktionalisieren und zu gestalten. Die Fragestellung ähnelt im Grunde jenem Anliegen der Nanotechnologie im Umgang mit den kleinsten Teilchen 8. Mazé: Occupying Time (2007), S. 35. 9. »Miniaturization is beneficial for enhancing mechaMethoden der Kon-trolle und der nical stability, increasing mechanical resonance gezielten Anordnung von Atomen, frequencies, increasing lifetime and increasing the efficiency of actuating forces in direct comparison to Molekülen und Partikeln zu entwithose forces causing material fatigue.« Hillmer u. a.: ckeln. Hier stehen sich zwei Ansätze »Sun Glasses for Buildings« (2008), S. 135. gegenüber: das gezielte Positionieren 10. Mori: Immaterial / Ultramaterial (2002), S. XIV. einzelner Partikel (ihre Platzierung 11. Vgl. Manzini: The Material of Invention (1989).

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nach dem Bausteinprinzip) und die methodische Generierung von Partikelfeldern. Ein neuerer Ansatz ist das sogenannte Magnetic Patterning, also die Strukturierung mittels magnetischer Kraftfelder.12 Wir haben uns zunächst daran erinnert, dass sich in der Physik vieles oder alles um die Prinzipien von Welle und Teilchen dreht. Der Welle-Teilchen-Dualismus ist eine paradoxe Denkfigur, die unter anderem das Wesen von Licht erklären soll. Sie beschreibt Teilchen als eine durch Messungen bestimmbare Aufenthaltswahrscheinlichkeit von Quanten, deren Ausbreitung mithilfe von Wellen beschrieben werden muss. Die Phänomene von Wellen sind gleichsam dimensionsübergreifend, sie treten im Gegensatz zu anderen Naturkräften in vergleichbarer Weise im Nano-, Mikro- und Makro-Bereich auf. Ähnliches gilt für den Magnetismus.

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Abb. 8: Rasterelektronenmikroskop-Aufnahme eines mittels magnetischer Streufelder manipulierten Partikelfeldes. Magnetic Patterning dient in der Nanodimension dem Transport und der gezielten Anordnung von Teilchen.

Abb. 9: Processing-Simulation eines magnetisch strukturierten Partikelfeldes von Mikroglaskugeln in einer Betonmatrix

BlingCrete: Materialentwicklung als transdisziplinärer Forschungsprozess

Magnetic Patterning dient in der Nanodimension dem Transport und der gezielten Anordnung von Partikeln (Abb. 8). Wir sind damit auf Methoden der Ausnutzung magnetischer Effekte aufmerksam geworden, die wir benutzen, um in der Makrodimension mit Mikround Nano-Partikeln eine Matrix zu beeinflussen. Simulationen von Partikelfeldern mithilfe verschiedener Algorithmen und PrototypingVerfahren ermöglichen es uns, mehr über diese Kräfte zu lernen. Wir untersuchen auch die Möglichkeiten der Generierung schwach strukturierter Muster und unspezifischer Partikelformation (Rauschen, Abb. 9). In einem nächsten Schritt werden die simulierten Verfahren auf das System von Betonmatrix und Mikroglaskugeln angewendet. Letztere werden dazu in einem eigens entwickelten Verfahren magnetisiert. Das Vorgehen generiert Modelle von eigener struktureller Logik, Ästhetik und Funktion, die das Verhältnis von Material und Form nicht im üblichen Sinne der Vervollkommnung thematisieren. Auch im Grunde widerstreitende Kräfte dürfen gestaltwirksam werden. Ergebnisse sind installative Objekte, parametrische Echtzeitsimulationen, Bilder (Abb. 10) und Videosequenzen, aber auch Materialmuster und Bauteile. Dem Ansatz ist eine wissenschaftliche Methodik eigen, die der Annahme folgt, Kräfte seien nur an ihrer Wirkung erkennbar. Die Ergebnisse veranschaulichen 59 Naturkräfte als sich auf den Zustand von Oberflächen auswirkende Transformationsprozesse. Es zeigt sich darüber hinaus, dass BlingCrete mit seinen Komponenten von Matrix und Mikroglaskugeln ein einfaches, aber konsistentes und umfassend parametrisierbares Modell darstellt, das auf der Makroebene bestimmte Konzepte und nanodimensionale Prozesse der technologischen Materialforschung und Experimentellen Physik simulieren und veranschaulichen kann. Mehr noch: Der Dialog zwischen den am Projekt beteiligten Disziplinen orientiert sich zunehmend an Denkfiguren und Doppelbödigkeiten der Experimentellen Physik, die sich schon im Bohr’schen Atommodell offenbaren, welches, obwohl es in mancherlei Hinsicht als veraltet gilt, immer noch über der Eingangstür der modernen Physik 12. Für unseren Kontext bestimmend sind die Arbeiten hängt.13 Handlungen auf der Ebene der Projektgruppenmitglieder Arno Ehresmann und Dieter Engel, Gruppe Experimentalphysik der Materialentwicklung zeitigen stets 4 im Institut für Physik an der Universität Kassel. Veränderungen im diskursiven Modell Vgl. zum Beispiel Engel u. a.: »Manipulation of Magnetic Nanoparticles« (2007). und umgekehrt. Auf der Diskursebene führt die Thematisierung von Maß- 13. Eine der wesentlichen und besonderen Doppelbödigkeiten ist hier schon klar erkennbar. Atome, stabsebenen (Nano, Mikro, Makro), aus denen sich doch Materie konstituiert, bilden sich im Grunde aus Nichts: »Alle Atome bestebei denen es sich im Grunde um wishen im Wesentlichen aus leerem Raum, in dem senschaftliche Dimensionsebenen hanwinzige Wellenpakete umherschwirren.« Landelt, im Austausch von Experimenteller dua: Am Rand der Dimensionen (2008), S. 41.

Heike Klussmann und Thorsten Klooster

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Abb. 10: Magnetic Patterning: Szenarien der Umsetzung

Physik, Bildender Kunst und Gestaltung zu neuen Fragestellungen. Es sind Setzungen, Bedeutungsebenen und Implikationen wie diese, die zeigen, wie sich BlingCrete von einem Kunstprojekt über die Ebene einer Materialentwicklung zu einer Versuchsanordnung fortschreibt, die in gleicher Weise künstlerische wie wissenschaftliche Fragestellung katalysiert und den Dialog darüber befördert.

BlingCrete – prozessual Mit dem eingangs zitierten Satz von den teuflischen Oberflächen zieht der Physiker und Nobelpreisträger Werner Pauli ein Resümee seiner Forschungen zur Physik der Oberflächen. Pauli fügt der Quantenmechanik, der Theorie, die das Zusammenspiel und Wirken der Elementarteilchen erklärt, das Konzept des Spins von Elektronen hinzu. In der Welt der Physik erklärt das Pauli-Prinzip den Aufbau

BlingCrete: Materialentwicklung als transdisziplinärer Forschungsprozess

der Elektronenhüllen von Atomen und die Solidität der Materie: Treffen zwei Atome aufeinander, durchdringen sie sich nicht, weil sich dafür ihre Orbitale überlagern und zwei Elektronen den gleichen Platz teilen müssten.14 Paulis Ausspruch weist auf den Umstand hin, dass Atome an der Oberfläche und an den Grenzflächen von Materie andere Eigenschaften haben. Sie stehen in Kontakt mit drei verschiedenen Arten von Atomen: denen in der Masse unter sich, den gleichgearteten neben sich und den Atomen in der Interaktion mit der angrenzenden Phase. War das Thema der Oberfläche zu Projektbeginn das Sujet, so ist es im Verlauf des Prozesses zur Dialogebene geworden. Das Konzept der Oberfläche ist in der technischen Forschung, in den Künsten und Geisteswissenschaften gleichermaßen bedeutend und erschließt disparate Inhalte. Aufgrund dieser Vielschichtigkeit ist es aus unserer Sicht geeignet, aktuelle Entwicklungen in verschiedenen Disziplinen zusammenzuführen. In unserem Erfahrungsalltag sind die Dinge, die uns umgeben, aus Materie aufgebaut. Auf den ersten Blick bilden Oberflächen deren Grenzen, sie scheinen das Innenleben der Dinge zu verschließen. Doch schon die Naturphilosophen der Antike haben ein Bewusstsein für die Hintergründigkeit dieser Wahrnehmung. Materie, so spekulieren sie, sei keineswegs ein Kontinuum, sondern beste61 he aus kleinen, letzten Bausteinen, die átomos, also unteilbar sind. Neue technologische Entwicklungen an und jenseits der Grenze des Sichtbaren versprechen einer an ihre Grenzen stoßenden Makrowelt die Urbarmachung neuer Parallelwelten in der Physik, Chemie und Biologie. In den angewandten Naturwissenschaften überlagern zunehmend Grundlagenwissenschaften und anwendungsorientierte ingenieurwissenschaftliche Strategien einander. Diese neue Praxis folgt dem Diktum von »making is knowing«. Vor diesem Hintergrund eröffnen die Begriffe von »Membran«, »Oberfläche« und »Grenze« einen interdisziplinären Verhandlungsraum. Auf der Prozessebene wird die Entwicklung von BlingCrete beispielsweise als ein Austauschverfahren begriffen, in dem das spezifische Wissen und die Arbeitsmethoden der künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen genutzt werden, um sie in jeweils anderen Kontexten als dem eigenen zu platzieren, zur Anwendung zu bringen und Reibung zu erzeugen. In einem investigativen und imaginativen Prozess werden unterschiedliche Felder im Dialog mit den anderen Disziplinen eröffnet. Das gemeinsame Forschungsinteresse richtet sich sowohl auf das Initiieren und Nutzen wechselseitiger Impulse zur Erarbeitung konkreter Ergebnisse als auch auf die Untersuchung Rolf Landua beschreibt Elektronen aufgrvon Arbeitsprozessen (Vorgehensweise und 14. und ihres Eigendrehimpulses als »antisoProduktion) in Kunst, Wissenschaft und ziale Teilchen«. Ebd., S. 40.

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Technik, ihre inhärenten Ähnlichkeiten, Parallelentwicklungen und Verschiedenheiten. Uns interessiert, ob neue Beziehungen hergestellt, Lösungen und Verfahren gefunden oder Fragestellungen aus einer anderen Perspektive betrachtet werden können. Die Stärke künstlerischen Handelns liegt im Spannungsverhältnis zwischen autonomem Vorgehen und einer Auseinandersetzung mit den realen Bedingungen unserer Welt. Gerade im Dazwischen – das heißt, nicht im Faktischen aufzugehen und auch nicht Fluchtpunkt einer anderen imaginierten Welt zu sein – sehen wir eine besondere Qualität unserer Arbeit. Die konkrete Intervention in ganz spezifischen Zusammenhängen bestimmt unser Agieren und stellt die Selbstverständlichkeit von Anschauungsmustern in Frage, die mit Begriffen wie »Erfindung«, »Experiment«, »Kunst« und »Technologie« verbunden sind. Ihre Bedeutung und Bestimmung erhalten sie erst in Aushandlungsprozessen, die mit wechselnden Richtungen, Überschneidungen und Abgrenzungen an einen Kontext gebunden sind. Es geht darum, eine andere Möglichkeit der Wahrnehmung zu eröffnen, eine Form offener Diskontinuität zu schaffen, mit Positionen zu spielen und Systeme zu verflüssigen. 62

Literatur Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse. 2. Aufl., Reinbek 2001 Engel, Dieter u. a.: »Manipulation of Magnetic Nanoparticles by the Strayfield of Magnetically Patterned Ferromagnetic Layers«, in: Journal of Applied Physics, Bd. 102, 013910 (2007), unpaginiert Fehling, Ekkehard / Schmidt, Michael / Stürwald, Simone: Ultra High Performance Concrete (UHPC). Proceedings of the Second International Symposium on Ultra High Performance Concrete. Kassel 2008 Hanimann, Joseph: »INFRA-MINCE oder das Unendliche Dazwischen. Zu einem Begriff aus dem Nachlaß Marcel Duchamps«, in: Pantheon, Bd. 44 (1986), S. 134–140 Hillmer, Hartmut u. a.: »Sun Glasses for Buildings Based on Micro Mirror Arrays: Technology, Control by Networked Sensors and Scaling Potential«, in: Technical Digest (2008), S. 135–139 Klooster, Thorsten: Smart Surfaces: Intelligente Oberflächen und ihre Anwendung in Architektur und Design. Basel 2009

BlingCrete: Materialentwicklung als transdisziplinärer Forschungsprozess

Landua, Rolf: Am Rand der Dimensionen. Gespräche über die Physik am CERN. Frankfurt am Main 2008 Manzini, Ezio: The Material of Invention. Cambridge, MA 1989 Mazé, Ramia: Occupying Time: Design, Technology, and the Form of Interaction. Stockholm 2007 Mori, Toshiko (Hrsg.): Immaterial / Ultramaterial: Architecture, Design, and Materials. Cambridge, MA, New York 2002 Reichholf, Josef H.: Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft. Frankfurt am Main 2008

Abbildungsverzeichnis Abb. 1, S. 50: Thorsten Klooster mit onlab: Layer principle, Linoprint, 2009 Abb. 2, S. 51: Heike Klussmann: Steg. Installation, retroreflektierende Straßenmarkierung, Mai 1997, Parkhaus – Stadt im Regal, Ausstellung im Parkhaus Behrenstraße 17–20, Berlin-Mitte, Foto: Silke Helmerdig Abb. 3, S. 52: Heike Klussmann: Yellowesk. Skulptur, 1998, loop – raum für aktuelle Kunst, Berlin, Foto: Silke Helmerdig Abb. 4, S. 53: Heike Klussmann mit netzwerkarchitekten: Studie für die U–Bahn Wehrhahnlinie Düsseldorf. 2006 Abb. 5, S. 54: Heike Klussmann, Thorsten Klooster: Macro Mock-up. Glas und Beton, Oktober 2010, Membranes, Surfaces, Boundaries – Creating Interstices, Ausstellung Aedes Architekturforum Berlin, Foto: Boris Trenkel Abb. 6, S. 55: Heike Klussmann, Thorsten Klooster: Concave Mock-up. Glas und Beton, Oktober 2010, Membranes, Surfaces, Boundaries – Creating Interstices, Ausstellung Aedes Architekturforum Berlin, Foto: Clemens Winkler. Abb. 7, S. 56: Heike Klussmann, Thorsten Klooster: BlingCrete – Changing from a passive to an active state. Computersimulation, 2010

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Heike Klussmann und Thorsten Klooster

Abb. 8, S. 58: Arno Ehresmann, Dieter Engel: Magnetic Patterning / Colloidal Transport. Ausschnitt aus Videosequenz, Oktober 2010, Membranes, Surfaces, Boundaries – Creating Interstices, Ausstellung Aedes Architekturforum Berlin Abb. 9, S. 58: Heike Klussmann, Thorsten Klooster, Clemens Winkler: BlingCrete / Magnetic Patterning of Concrete. Parametrisches editierbares Computermodell, Ausschnitt aus Videoaufzeichnung, 2010 Abb. 10, S. 60: Heike Klussmann, Thorsten Klooster: BlingCrete / Magnetic Patterning of Concrete – Mapping. Computersimulation, 2010

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Klassisch

kritisch

Henk Borgdorff

Forschung

und

Künstlerische akademische Forschung

Künstlerische Forschung weist sowohl historische als auch systematische Affinitäten zu einer Reihe philosophischer und naturwissenschaftlicher Forschungstraditionen auf.1 Eine erst noch in Angriff zu nehmende Historiografie künstlerischer Forschung dürfte zeigen, dass es von der Renaissance bis zum Bauhaus stets Forschung gab, die in und durch künstlerische(n) Praktiken erfolgte. Die Tatsache, dass diese Forschung rückblickend häufig nicht als »akademische Forschung« bezeichnet werden kann, sagt möglicherweise weniger über die Forschung selbst aus als über das, was wir derzeit unter »akademisch« verstehen. 2 Der Bereich der Kunst ist seit Langem mit dem der akademischen Welt verflochten, von der Praxis der artes in den spätmittelalterlichen Klosterschulen bis hin zum heutigen postmodernen Abschied von der Trennung der Lebensbereiche der Kunst, des Wissens und der Moral, die die Moderne seit dem 18. Jahrhundert kenn- 1. Dieser Artikel ist Teil des englischsprachigen Aufsatzes »The Production of Knowledge in Artistic Research« zeichnete. Im aktuellen Kunstdiskurs (2010). hat sich der Bereich des Ästhetischen 2. Die Historiografie muss sich in zweierlei Hinsicht in Bewieder mit dem Erkenntnistheoretischeidenheit üben. Die normative Struktur der heutigen akademischen Welt sollte weder ein Maßstab für die schen und dem Ethischen verbunden. Evaluierung der Vergangenheit sein noch für VorausDas Hervortreten der künstlerischen sagen darüber genutzt werden, wie intellektuelle und künstlerische Anstrengungen in der Zukunft bewertet Forschung entspricht diesem Trend, werden. Aktuelle Entwicklungen innerhalb der akadie Fähigkeiten des menschlichen demischen Welt wie diejenigen, die mit der Kommerzialisierung der akademischen Forschung oder dem Geistes einander nicht mehr unterAufkommen hybrider transdisziplinärer Forschungsprozuordnen, weder theoretisch noch gramme verbunden sind, zeigen, dass das Gebäude institutionell. der Wissenschaft ständig neu konstruiert wird.

Henk Borgdorff

Ich werde in diesem Aufsatz zunächst eine Reihe von Vergleichen zwischen der künstlerischen Forschung und der Forschung in den Geistes- und dabei vor allem den Kultur- und Kunstwissenschaften, der philosophischen Ästhetik, der qualitativen sozialwissenschaftlichen Forschung sowie der Technologie- und naturwissenschaftlichen Forschung anstellen. Danach werde ich untersuchen, welche Konsequenzen es haben wird, wenn man die künstlerische Forschung als eine Form der akademischen Forschung begreift.

Affinitäten mit und Unterschiede zu anderen akademischen Forschungstraditionen Geisteswissenschaften Es gibt eine offensichtliche Verwandtschaft zwischen künstlerischer Forschung und der Forschung in der Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, in den Theater- und Tanzwissenschaften, der Komparatistik, der Architekturtheorie, den Film- und Neue Medienwissenschaften ebenso wie der Forschung in den Kulturwissenschaften oder der Kunstsoziologie. In allen diesen akademischen Disziplinen oder Pro70 grammen ist Kunst (die Kunstwelt, -praxis oder -werke) Gegenstand systematischer oder historischer Forschung. Ein breite Palette begrifflicher Bezugssysteme, theoretischer Perspektiven und Forschungsstrategien wie Hermeneutik, Strukturalismus, Semiotik, Dekonstruktion, Pragmatismus, kritische Theorie und Kulturanalyse, die man unter dem Oberbegriff »Großtheorien unserer Kultur«, zusammenfassen könnte, kommt dabei zum Einsatz. Für das Studium seiner Forschungsgegenstände verfügt jeder dieser Ansätze über seine eigenen spezifischen Instrumente: Ikonografie, Musikanalyse, Quellenstudium, Ethnomethodologie, Akteur-Netzwerk-Theorie und so weiter. Wichtig für einen Vergleich mit der künstlerischen Forschung ist, dass diese Bezugssysteme, Perspektiven und Strategien sich den Künsten im Allgemeinen mit einer gewissen theoretischen Distanz nähern. Dies gilt sogar für Bereiche wie die Hermeneutik, die anerkennt, dass die Horizonte des Interpretierenden und des Interpretierten zeitweise miteinander verschmelzen können, oder die Kulturanalyse, dort, wo die Theorie ein Diskurs ist, »der zur gleichen Zeit dazu veranlasst werden kann, sich auf das Objekt zu beziehen, wie das Objekt dazu veranlasst werden kann, sich auf ihn zu beziehen«.3 Offenkundig lassen sich die Trennlinien nicht immer eindeutig ziehen und jegliche Abgrenzungen werden immer teilweise künstlich sein. Doch in 3. Bal: Travelling Concepts in the Humanities (2002), S. 61.

Künstlerische Forschung und akademische Forschung

der gerade erwähnten Forschungsagenda scheint der »interpretative«, verbal-diskursive Ansatz gegenüber den stärker praxis-geprägten Forschungsstrategien vorzuherrschen. Und genau hier handelt es sich um ein charakteristisches Merkmal künstlerischer Forschung: Die experimentelle Praxis des Machens und Spielens durchzieht die Forschung auf Schritt und Tritt. In dieser Hinsicht hat künstlerische Forschung mehr mit technischer Designforschung oder mit partizipativer Aktionsforschung zu tun als mit Forschung in den Geisteswissenschaften. Die Verwandtschaft mit den Geisteswissenschaften spiegelt sich häufig in ihrer institutionellen Nähe wider. Forschungszentren und -gruppen sowie einzelne Forscher, die in den Künsten praxisbasierte Forschung betreiben, sind häufig in kunst- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten und Fachbereichen angesiedelt. Finanziert wird ihre Forschung häufig von geisteswissenschaftlichen Forschungsgremien und Leistungsträgern (und dies erklärt teilweise auch den leidenschaftlichen Charakter der Abgrenzungsdebatte zwischen Kunstwissenschaftlern und Künstler-Forschern). Außerhalb der traditionellen Universitäten, in professionellen Kunsthochschulen, kann sich die künstlerische Forschung freier entwickeln, obwohl sie auch hier in einem separaten Fachbereich für Kunsttheorie und/oder Kulturwissenschaften untergebracht sein kann. Die Bedeutung von Interpretation, Theorie und Reflexion bei der Künstlerausbildung kann gar nicht stark genug betont werden, genauso wie technische künstlerische Fertigkeiten ein sine qua non sind. Doch der Schwerpunkt künstlerischer Forschung liegt auf der konkreten kreativen Praxis. Die Forschung zielt darauf ab, einen substanziellen, vorzugsweise innovativen Beitrag zur Entwicklung der Praxis zu liefern, einer Praxis, die ebenso sehr mit Geschichten, Glaubensüberzeugungen und Theorien gesättigt ist, wie sie auf geübtem Expertenhandeln und implizitem Verständnis beruht.

Ästhetik Eine ergiebige Quelle für das künstlerische Forschungsprogramm ist die philosophische Ästhetik, die das in der Kunst verkörperte nicht-begriffliche Wissen seit dem 18. Jahrhundert untersucht hat. Ich werde drei Beispiele aus dieser Tradition hervorheben: die Emanzipation der sinnlichen 4. Eine ausführlichere Rekonstruktion der philosophischen Ästhetik Erkenntnis bei Alexander Gottlieb Baumgarten, im Bezug auf die künstlerische den kulturellen Wert der ästhetischen Idee bei Forschung würde auf FragenImmanuel Kant und den Erkenntnischarakter der komplexe Georg Wilhelm Friedrich Hegels, Martin Heideggers, 4 Kunst bei Theodor W. Adorno. Der Zweck meiJean-François Lyotards und anner kurzen Überblicksdarstellung ist zu zeigen, derer zurückgreifen.

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dass das Thema des nicht-begrifflichen Inhalts in der Kunst nicht aus dem Nichts aufgekommen ist, sondern bereits in den vergangenen Jahrhunderten auf vielfältige Weise durchdacht worden ist. Baumgarten bezeichnet es als analogon rationis, die Fähigkeit des menschlichen Geistes, analog zur Vernunft, zu einem klaren, aber rein sinnlichen Wissen über die Wirklichkeit zu gelangen. Große Kunst ist hervorragend geeignet, dieses vollkommene sensorische Wissen zum Ausdruck zu bringen. In unserem Kontext liegt die Bedeutung von Baumgartens Ansichten in seiner Betonung der sinnlichen, erfahrungsbezogenen Wissenskomponente in der künstlerischen Forschung.5 In der Kunstforschung und Ästhetik nach Baumgarten treten die Verbindungen zur Erkenntnistheorie und Wahrnehmung weniger deutlicher hervor. Das Thema des sinnlichen, nicht-diskursiven Wissens hat in unserer Zeit, speziell in der Forschung, die sich dem Geist und der Wahrnehmung auf eingebettete, inszenierte und verkörperte Weise annähert, wieder stärker um sich gegriffen.6 Kants kritische Untersuchung dessen, was man heute als den nicht-begrifflichen Inhalt ästhetischer Erfahrung bezeichnet, gipfelt in seiner legendären Definition der ästhetischen Idee als 72

eine, einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen in dem freien Gebrauch derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, der also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzudenken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.7

Kant schreibt diesem nicht-begrifflichen Bereich des Künstlerischen, der sich bei Baumgarten auf sinnliche Erkenntnis beschränkt hat, größere kulturelle Bedeutung zu. Ein Kennzeichen künstlerischer Produkte, Prozesse und Erfahrungen besteht darin, dass in der und durch die Materialität des Mediums etwas präsentiert wird, das die Materialität übersteigt. (Kant identifiziert hier eines der Bindeglieder, das die Welten der Vorstellungskraft und der reinen Vernunft mit der »intelligiblen Welt« verknüpft – eine Transzendenz, die später Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum »sinnlichen Scheinen der Idee« erhebt. Nach der linguistischen und der pragmatischen Wende in der Philosophie zählt nun ein naturalisiertes 5. Vgl. Kjørup: Another Way of Knowing (2006). Verständnis dieser Transzendenz, 6. Hinsichtlich eines Überblicks über diese Agenda der Kognitionswissenschaft siehe Kiverstein, Clark: wobei dabei alles davon abhängt, was »Introduction« (2009) in einer speziellen, diesem wir unter »naturalisiert« verstehen.) Thema gewidmeten Ausgabe von Topoi. 7. Kant: Kritik der Urteilskraft (2003), § 49, S. 205 f. Künstlerische Forschung konzentriert

Künstlerische Forschung und akademische Forschung

sich sowohl auf die Materialität der Kunst, in dem Maße, in dem diese das Immaterielle möglich macht, und auf die Immaterialität der Kunst, in dem Maße, in dem diese in die Kunstwelt eingebettet, in kreativen Prozessen inszeniert und in dem künstlerischen Material verkörpert ist. Die Bedeutsamkeit von Kants Analyse liegt zum Teil in der von ihm in seiner Kritik der Urteilskraft getroffenen Unterscheidung zwischen Urteil über Kunst und Geschmacksurteil. Das in der »Analytik des Schönen« analysierte Geschmacksurteil konzentriert sich auf die formalen Aspekte der Schönheit, darunter Interesselosigkeit und Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Das Kunsturteil geht über das Geschmacks- oder das ästhetische Urteil hinaus, weil es sich auf den kulturellen Wert der Kunstwerke sowie auf ihre Schönheit konzentriert. Dieser kulturelle Wert besteht in ihrer Fähigkeit, dass sie »etwas zum Nachdenken übrigbleiben« lassen und »den Geist zu Ideen stimm[en]«.8 Dies ist die Eigenschaft, kraft derer die Kunst dem Denken Nahrung bietet und sich selbst von einer rein ästhetischen Befriedigung unterscheidet. Der Inhalt der ästhetischen Erfahrung wird hier spezifischer als das identifiziert, was das Denken gewissermaßen in Gang setzt, oder als das, was zum Nachdenken einlädt. Künstlerische Praktiken sind daher performative Praktiken in dem Sinne, dass Kunstwerke und kreative Prozesse etwas mit uns machen, uns »in Gang setzen«, unser 73 Verständnis und unsere Sicht der Welt, auch in einem moralischen Sinne, verändern. Uns begegnet dieser performative Aspekt der Kunst in der künstlerischen Forschung in dem Maße, in dem sie die konkrete Äußerung dessen, was uns bewegt und engagiert, mit sich bringt. Die in der künstlerischen Forschung zum Ausdruck kommende Fähigkeit der Kunst, zu uns zu sprechen, ist auf faszinierende Weise im Werk Adornos gegenwärtig. Der kulturelle Wert der Kunst beruht hier auf ihrem »Erkenntnischarakter«, vermittels dessen die Kunst die verborgene Wahrheit über die düstere gesellschaftliche Realität enthüllt. Während sich bei Baumgarten der nicht-begriffliche Inhalt der Kunst von dem expliziten rationalen Wissen befreit und uns bei Kant der nicht-begriffliche ästhetische Inhalt zum Nachdenken einlädt, schreibt Adorno diesem Inhalt eine noch stärkere Valenz zu, insofern es das einzige Ding ist, das, da es sich antithetisch zur gesellschaftlichen Realität verhält, dazu imstande ist, die utopische Perspektive einer besseren Welt aufrechtzuerhalten und an das ursprüngliche, wenn auch gebrochene Glücksversprechen zu erinnern. Wie niemand nach ihm reflektiert Adorno die Auseinandersetzung der Kunst mit der Welt und mit unserem Leben. Selbst wenn wir uns von seiner Dialektik und seiner Geschichtsphilosophie distanzieren, muss jede in die zeitgenössische Kunst und Kunstkritik eingeschlossene Auseinandersetzung 8. Ebd., § 53, S. 222; § 52, S. 219. seinem Vermächtnis Rechnung tragen.

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Der Erkenntnischarakter der Kunst beruht auf ihrer Fähigkeit, genau jenes Nachdenken darüber, wo wir stehen, zu offerieren, das durch die diskursiven und begrifflichen Verfahren der wissenschaftlichen Rationalität den Blicken entzogen wird. Bemerkenswert an Adorno ist, dass Gedanken und Begriffe nach wie vor immer benötigt werden; Gedanken und Begriffe, die sich sozusagen selbst in einer Weise um ein Kunstwerk versammeln, dass das Kunstobjekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens selbst zu sprechen beginnt. Hierin könnte ein Schlüssel für die Erkundung der Beziehung zwischen dem Diskursiven und dem Künstlerischen in der künstlerischen Forschung liegen.9

Sozialwissenschaft Im Diskurs über Wissen in der künstlerischen Forschung betonen manche Beobachter jene Typen des Wissenserwerbs und der -produktion, die auf Modelle der naturwissenschaftlichen Erklärung, quantitativen Analyse und empirischen logischen Deduktion zurückgehen, die wir in den exakten Wissenschaften ebenso antreffen wie in jenen Formen der Sozialwissenschaft, die sich naturwissenschaftlicher Methoden bedienen. Im Gegensatz zu dieser Tradition der Erklärung 74 und Ableitung steht die akademische Tradition, die (vor allem seit dem Aufstieg der Verstehenden Soziologie) soziale und kulturelle Phänomen zu »verstehen« versucht. In den letzten 100 Jahren hat sich, inspiriert von der Hermeneutik, ein qualitatives Forschungsparadigma entwickelt, das auf vielfältige Weise die Richtung der derzeitigen sozialwissenschaftlichen Forschung bestimmt. Aus ihrer Sicht sind verstehende Interpretation und praktische Teilnahme relevanter als logische Erklärung und theoretische Distanz. Die künstlerische Forschung weist eine gewisse Verwandtschaft mit einigen dieser Forschungstraditionen auf. Vor allem in der ethnografischen und in der Aktions-Forschung wurden Strategien entwickelt, die für Künstler in ihrer praxisbasierten Forschung nützlich sein können; hierzu zählen teilnehmende 9. Vgl. Adorno: Negative Dialektik (1966), S. 36; Beobachtung, performative Ethnovgl. Borgdorff: »Holismus, Wahrheit, Realismus« (1998), S. 300 ff. Die Debatte über die Beziegrafie, Feldforschung, autobiografihung zwischen dem Diskursiven und dem Künstlesches Erzählen, dichte Beschreibung, rischen, zwischen dem Verbalen und dem Nachweisbaren konzentriert sich häufig auf die Frage, Reflection-in-Action und kooperative ob der Forschungsprozess schriftlich dokumentiert werden sollte und ob sich die ForschungserRecherche. Die häufig kritische und gebnisse verbal interpretieren lassen. Eine dritte engagierte ethnografische ForschungsOption ist möglicherweise interessanter: eine diskursive Annäherung an die Forschung, die strategie erkennt die wechselseitige nicht die Stelle des künstlerischen »Räsonierens« einnimmt, sondern stattdessen das, was in der Durchdringung der Subjekte und Obkünstlerischen Forschung gewagt wird, »imitiert«, jekte der Feldforschung an. Angesichts suggeriert oder darauf anspielt.

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der Tatsache, dass die eigene künstlerische Praxis des Künstlers das »Feld« der Untersuchung ist, könnte sie als ein Modell für einige Arten der Forschung in den Künsten dienen. Insofern die Aktionsforschung darauf abzielt, die Praxis zu verwandeln und zu verbessern, weist sie Affinitäten zur künstlerischen Forschung auf, da letztere nicht nur danach strebt, unser Wissen und Verständnis zu steigern, sondern auch daran interessiert ist, die künstlerische Praxis weiterzuentwickeln und das künstlerische Universum mit neuen Produkten und Praktiken zu bereichern. Künstlerische Forschung ist untrennbar mit der künstlerischen Entwicklung verknüpft. In der Intimität der experimentellen Studiopraxis kann man den Lernzyklus in der Aktionsforschung erkennen, wo Forschungsergebnisse unmittelbaren Anlass zu Veränderungen und Verbesserungen bieten. Das ist auch an der konkreten Reichweite und Wirkung der Forschung zu erkennen. Künstlerische Forschung liefert neue Erfahrungen und Einsichten, die sich auf die Kunstwelt, aber auch darauf beziehen, wie wir die Welt und uns selbst verstehen und uns darauf beziehen. Künstlerische Forschung ist daher nicht nur in künstlerische und akademische Kontexte eingebettet und konzentriert sich nicht nur auf das, was in kreativen Prozessen inszeniert und in Kunsterzeugnissen verkörpert wird, sondern setzt sich auch damit 75 auseinander, wer wir sind und wo wir stehen. Die »Praxiswende« in den Geistes- und Sozialwissenschaften erhellt nicht nur die konstitutive Rolle der Praktiken, Aktionen und Interaktionen. Mitunter repräsentiert sie sogar einen Wechsel von text- zu performanzzentrierter Forschung, wodurch die Praktiken und Produkte selbst die materiellen-symbolischen Ausdrucksformen werden, im Gegensatz zu den von der quantitativen und qualitativen Forschung benutzten numerischen und verbalen Formen. Auch künstlerische Forschung passt in dieses Bezugssystem, da künstlerische Praktiken den Kern der 10. Vgl. Haseman: »A Manifesto for Performative Research« (2006). Ob künstlerische Forschung ein neuForschung im methodologischen es Paradigma darstellt, lässt sich nicht hier und jetzt Sinne bi lden und au ßerdem entscheiden. Michael A. R. Biggs und Daniela Büchler weisen zu Recht darauf hin, dass die »Kriterien, die Teil des materiellen Ergebnisakademische Forschung per se definieren«, erfüllt werses der Forschung sind. Diese den müssen, unabhängig davon, ob die Forschung Ausdehnung der qualitativen unter einem neuen oder einem bereits existierenden Paradigma durchgeführt wird: Biggs, Büchler: »Eight sozialwissenschaftlichen ForCriteria for Practice-Based Research« (2008), S. 12. schung unter Einbeziehung der Ich pflichte Søren Kjørup darin bei, dass das Kennzeichen künstlerischer Forschung »eine spezifische PersForschung in der und durch die pektive auf bereits vorhandene Aktivitäten« ist, eine künstlerische(n) Praxis hat einige »neue Perspektive, [die] längerfristig Folgen für die Richtung haben wird, in der sich die Kunst entwickeln Beobachter veranlasst, von einem wird«. Und in der sich die akademische Welt entwineuen, eigenständigen Paradigma ckeln wird, möchte ich hinzufügen. Kjørup: »Pleading 10 for Plurality« (2010), S. 41. zu sprechen.

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Die methodologischen und erkenntnistheoretischen Fragen der künstlerischen Forschung werden auch in den zentralen Schriften behandelt, die sich auf die auf den Künsten basierende Forschung in der Tradition der Schule nach Elliot W. Eisner beziehen.11 Bei ihrer Untersuchung der Rolle der Kunst in der pädagogischen Praxis und der menschlichen Entwicklung bedienen sich diese Sozialwissenschaftler der Erkenntnisse der Kognitionspsychologie, um vor allem in der Primar- und Sekundarausbildung die Bedeutung der künstlerischkognitiven Entwicklung des Selbst zu betonen.

Wissenschaft und Technologie Kunstpraktiken sind technisch vermittelte Praktiken. Ob es sich um die akustischen Kennzeichen von Musikinstrumenten, die physikalischen Eigenschaften von Kunstmaterialien, die Struktur eines Gebäudes oder die digitale Architektur einer virtuellen Installation handelt – Kunstpraktiken und -werke sind materiell verankert. Künstlerische Praktiken sind aber auch auf einer abstrakteren Ebene der Materialität technisch vermittelt: Man denke an die Kenntnis des Kontrapunkts in der Musik, der Farbe in der Malerei, des Schneidens in der Filmproduktion oder körperlicher Techniken im Tanz. 76 Technisches und materielles Wissen sind daher unverzichtbare Bestandteile in der beruflichen Ausbildung und Praxis von Künstlern. Forschung, die sich auf diese technische und materielle Seite der Kunst konzentriert, um Anwendungen zu verbessern, kann man zu Recht als angewandte Forschung bezeichnen. Das in exploratorischer, technologischer und wissenschaftlicher Forschung erlangte Wissen wird in künstlerischen Verfahren und Produkten in die Praxis umgesetzt. Dies ist Forschung, die im Dienst der künstlerischen Praxis durchgeführt wird. Im Vergleich hierzu ist die Kunstpraxis in der künstlerischen Forschung nicht nur die Bewährungsprobe für Forschung, sondern spielt auch in methodologischer Hinsicht eine entscheidende Rolle. Mit anderen Worten: Abgesehen davon, dass sie neue oder innovative Kunst erzeugt, wird die Forschung in der und durch die Produktion von Kunst durchgeführt. Die Grenze zwischen angewandter Forschung in den Künsten und künstlerischer Forschung ist dünn und ziemlich künstlich, so wie auch die Trennlinie zwischen künstlerischer Forschung und Performance Studies oder Ethnografie als artifiziell erscheinen mag. In der Praxis von Künstlern, ja selbst in ihrer Ausbildung, ist eine sol11. Vgl. Eisner: »On the Differences between Scientific and c he Unter sc heidu ng n ic ht Artistic Approaches« (1981); Knowles, Coles: Handbook of the Arts in Qualitative Research (2008). immer nützlich; die Realität

Künstlerische Forschung und akademische Forschung

ähnelt eher einem Kontinuum, das Spielraum für eine Vielzahl von Forschungsstrategien bietet. Doch wie bereits weiter oben gesagt, ist der methodologische Pluralismus lediglich eine Ergänzung des Prinzips, dass die künstlerische Forschung in der und durch die Produktion von Kunst stattfindet. Um der begrifflichen Klarheit willen vertrete ich in diesem Fall die Auffassung, dass das, was in der Praxis manchmal nicht mehr gilt, in der Theorie dennoch weiter nützlich sein kann. Vor allem in der Welt des Designs und der Architektur scheint das methodologische Bezugssystem der angewandten Forschung angemessen. Viele der Ausbildungsprogramme in diesen Bereichen haben starke Verbindungen zu den technischen Universitäten oder sind sogar Teil davon. Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als ob man sich entscheiden müsse – entweder eine Ausrichtung an der Kunst oder an der Wissenschaft, am Ingenieurwesen oder der Technologie. In der Praxis streben die meisten Designakademien und Architekturschulen eine fruchtbare Verbindung von beidem an. »Forschung durch Design« ist der künstlerischen Forschung ebenbürtig; auch dort ist die Auseinandersetzung über die methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der Forschung noch in vollem Gange.12 Ein künstlerisches Experiment in einem Studio oder Atelier kann 77 nicht einfach mit einem kontrollierten Experiment in einem Labor gleichgesetzt werden. Gleichwohl kann man in vielen künstlerischen Forschungsarbeiten eine Affinität zu Gebieten wie dem Ingenieurwesen und der Technologie erkennen, die Methoden und Techniken verwenden, die einen Ursprung in der wissenschaftlichen Forschung haben. In diesem Fall dienen der empirische Zyklus von Beobachtung, Theorie und Entwicklung von Hypothesen, Vorhersage und Überprüfung sowie das Modell des kontrollierten Experiments als ein idealer Typus in dem häufig willkürlichen Kontext der künstlerischen Entdeckung (so wie derartige Prinzipien oft auch in der empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung angewandt werden). Werte, die der wissenschaftlichen Rechtfertigung innewohnen – darunter Reliabilität, Validität, Reproduzierbarkeit und Falsifizierbarkeit –, sind auch in der künstlerischen Forschung relevant, sofern sie von dem wissenschaftlichen Modell inspiriert ist. Wenn künstlerische Forschung technologische oder naturwissenschaftliche Attribute hat, scheint die Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Wissenschaftlern nur natürlich zu sein, da Künstler in der Regel nicht dafür ausgebildet sind, diese Arten von Forschung durchzu- 12. Siehe et wa die Diskussionen über Forschung durch Design auf der PhD-Design-Mailing-List, führen. Das Know-how aus diesen http://www.jiscmail.ac.uk/lists/phd-design. html, (Stand: 10.05.2011).. beiden Welten zusammenzubringen,

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kann zu innovativen Befunden und inspirierenden Einsichten führen. Doch die Kooperation zwischen Künstlern und anderen Forschern beschränkt sich nicht auf Gebiete wie Technologie, Ingenieurwesen und Produktdesign. Forschung in anderen Bereichen kann der Kunstpraxis ebenfalls dienen oder produktive Verbindungen mit der Kunst bilden. Man denke an die Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Philosophen, Anthropologen oder Psychologen ebenso wie Wirtschaftswissenschaftlern und Rechtsgelehrten; Projekte mit Künstlerbeteiligung werden auch auf Gebieten wie den Biowissenschaften, der künstlichen Intelligenz und der Informationstechnologie durchgeführt.13 Grob gesagt kann multidisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Wissenschaftlern zwei verschiedene Formen annehmen: Entweder dient die wissenschaftliche Forschung der Kunst oder erhellt diese, oder die Kunst dient dem, was sich in der Wissenschaft abspielt, oder erhellt es. Derzeit gibt es vor allem ein großes Interesse an dieser letzteren Form. Die Annahme ist, dass die Künste imstande sein werden, die Verfahren, Ergebnisse und Implikationen der wissenschaftlichen Forschung auf ihre eigene einzigartige Weise zu verdeutlichen. Bio-Art ist ein Beispiel hierfür; diese Kunstform, bei der sich Künstler biotechnologische Verfahren 78 wie Gewebe- und Gentechnik zunutze machen, stützt sich stark auf die wissenschaftliche Forschung und wirft zugleich häufig ein kritisches Licht auf die ethischen und sozialen Folgen der Forschung in den Biowissenschaften. In der Auseinandersetzung über Forschung in den Künsten werden diese und andere Arten der Zusammenarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft oft zu Unrecht mit der in diesem Aufsatz untersuchten künstlerischen Forschung zusammengeworfen. Obwohl der Begriff »Kunst und Wissenschaft« auf den ersten Blick eine Annäherung implizieren mag, repräsentiert er, wenn überhaupt, eine erneute Inkraftsetzung der Trennung zwischen dem Bereich der Kunst und dem der Wissenschaft, zwischen dem Künstlerischen und dem Akademischen, zwischen dem, was Künstler, und dem, was Wissenschaftler tun. Natürlich gibt es daran nichts auszusetzen, man kann es nur mit Beifall aufnehmen, dass diese oft voneinander isolierten Sphären und Kulturen einander jetzt in Projekten begegnen, bei denen die Menschen voneinander lernen und kritische Konfrontationen stattfinden können. Doch solche multidisziplinären Forschungsprojekte müssen nach wie vor als Kooperation zwischen verschiedenen Disziplinen zu einem bestimmten Thema verstanden werden, wobei die theoretischen 13. Hinsichtlich einer detaillierten Übersicht siehe Wilson: Prämissen und Arbeitsmethoden Information Arts (2002).

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der Disziplinen intakt bleiben. Der Wissenschafter operiert auf seiner Seite, der Künstler auf einer anderen. Selbst wenn sich Künstler rechts und links bei Wissenschaftlern bedienen, sind die ästhetische Bewertung des Materials, die künstlerischen Entscheidungen, die bei der Schaffung des Kunstwerks getroffen werden, und die Art und Weise, wie die Resultate präsentiert und dokumentiert werden, in der Regel disziplinenspezifisch. Nur sehr selten führt solch multidisziplinäre Forschung zu einer wirklichen Hybridisierung der Bereiche. Auch wenn die künstlerische Forschung nicht völlig im Widerspruch zu diesen Formen der Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft steht, sollte sie dennoch als eine selbständige akademische Forschungsform betrachtet werden. Das Wissenschaftsmodell kann hier nicht der Maßstab sein, ebenso wenig wie die künstlerische Forschung den Standards der Geisteswissenschaften genügen könnte.

Künstlerische Forschung als akademische Forschung Selbst wenn man akzeptiert, dass Kunstwerke auch Formen von 79 Wissen oder Kritik verkörpern und dass dieses Wissen, diese Kritik in den künstlerischen Praktiken und kreativen Prozessen inszeniert werden, und darüber hinaus, dass das Wissen und die Kritik in den größeren Kontext der Kunstwelt und der akademischen Welt eingebettet sind, dann bedeutet dies jedoch nicht, dass man das, was Künstler tun, als Forschung im emphatischen Sinne deuten kann. Forschung ist »Eigentum« der Wissenschaft, sie wird von Personen durchgeführt, die die »wissenschaftliche Methode« beherrschen, und zwar in Einrichtungen, die der systematischen Anhäufung von Wissen und seiner Anwendung gewidmet sind, wie etwa Universitäten oder industrielle und staatliche Forschungszentren. In der Tat kann man das, »was Künstler machen«, nicht automatisch als Forschung bezeichnen. Bei der Auseinandersetzung über künstlerische Forschung drehen sich die Diskussionen häufig um die Unterscheidung zwischen Kunstpraxis an sich und Kunstpraxis als Forschung.14 Kaum jemand würde behaupten, dass alle Kunstwerke und künstlerischen Praktiken das Ergebnis von Forschung im emphatischen Sinne dieses Wortes sind. Ich werde mich hier auf die Frage beschränken, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit künstlerische als akademi- 14. Vgl. Borgdorff: »Die Debatte über Forschung in der Kunst« (2009); sche Forschung bezeichnet werden kann. Ich ders.: Artistic Research within the werde zeigen, dass künstlerische Forschung Fields of Science (2009).

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sowohl die Interessen der Praxis als auch diejenigen der akademischen Welt mit einbezieht.15 In der akademischen Welt herrscht weitgehend Einigkeit darüber, was unter Forschung zu verstehen ist. Kurz gefasst läuft es auf Folgendes hinaus: Forschung findet dann statt, wenn eine Person die Absicht hat, eine originale Untersuchung durchzuführen, um damit unser Wissen und Verständnis zu erhöhen. Sie beginnt mit Fragen oder Themen, die im Kontext der Forschung relevant sind, und verwendet Methoden, die für die Forschung angemessen sind und die Validität und Reliabilität der Forschungsergebnisse sicherstellen. Ein zusätzliches Erfordernis ist, dass der Forschungsprozess und die -ergebnisse auf angemessene Weise dokumentiert und verbreitet werden. Diese Beschreibung der akademischen Forschung lässt Raum für eine große Vielfalt von Forschungsprogrammen und -strategien, unabhängig davon, ob diese sich aus der Technologie und Naturwissenschaft, den Sozial- oder den Geisteswissenschaften herleiten und ob diese auf ein Grundverständnis des Untersuchungsgegenstands oder eher auf eine praktische Anwendung des erlangten Wissens abzielen. Auch künstlerische Forschung fällt unter diese Charakterisierung der akademischen Forschung. Wir wollen uns nun die verschiedenen Komponenten dieser Beschreibung genauer ansehen.16

Absicht Forschung wird in der Absicht durchgeführt, unser Wissen und unser Verständnis der fraglichen Disziplin oder Disziplinen zu erweitern und zu vertiefen. Künstlerische Praktiken tragen zunächst zur Kunstwelt und zum künstlerischen Universum bei. Die Produktion von Bildern, Installationen, Kompositionen und Aufführungen erfolgt nicht primär zur Mehrung unseres Wissens (obwohl mit der Kunst stets Formen der Reflexion verwo15. Vgl. Biggs, Büchler: »Communities, Values, Conventions ben sind). Dies verweist auf and Actions« (2010). Biggs und Büchler plädieren für eine bedeutende Unterscheidung ein Gleichgewicht zwischen akademischen und künstlerischen Werten. Unter starker Verkürzung des Sachverhalts zwischen Kunstpraxis an sich würde ich die These vertreten, dass im britischen Diskurs und künstlerischer Forschung. bislang die akademischen Werte vorherrschten, während Künstlerische Forschung ist auf dem europäischen Kontinent der Schwerpunkt mehr auf den künstlerischen Werten lag. Bei ihrer Analyse der bestrebt, in der und durch die Werte, die im Bezug auf die beiden Gemeinschaften – die Produktion von Kunst nicht Praxis und die akademische Welt – durch sinnvolle und potenziell bedeutsame Handlungen demonstriert werden, nur zu dem künstlerischen scheinen Biggs und Büchler »künstlerische Praxis« und Universum, sondern zu dem, »akademische Forschung« als Konstanten aufzufassen, während tatsächlich unsere Begriffe davon, was künstwas wir »wissen« und »verlerische Praxis und akademische Forschung sind, durch stehen«, beizutragen. Damit das im Entstehen begriffene »Paradigma« der künstlerischeForschung bereichert werden. geht sie in zweierlei Hinsicht

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über das künstlerische Universum hinaus. Erstens reichen die Forschungsergebnisse über die persönliche künstlerische Entwicklung des jeweiligen Künstlers hinaus. In Fällen, in denen die Wirkung der Forschung auf das eigene Werk des Künstlers beschränkt bleibt und keine Bedeutung für den umfassenderen Forschungskontext hat, kann man zu Recht fragen, ob dies als Forschung im eigentlichen Wortsinn gelten kann. Zweitens verfolgt die Forschung ausdrücklich die Absicht, die Grenzen der Disziplin zu verschieben. So wie der Beitrag der sonstigen akademischen Forschung darin besteht, neue Tatsachen oder Beziehungen aufzudecken oder neues Licht auf vorhandene Fakten oder Beziehungen zu werfen, trägt auch künstlerische Forschung dazu bei, die Grenzen der Disziplin durch die Entwicklung innovativer künstlerischer Praktiken, Produkte und Einsichten zu erweitern. In einem materiellen Sinn hat Forschung also Auswirkungen auf die Entwicklung von Kunstpraxis und in einem kognitiven Sinne auf unser Verständnis dessen, was diese Kunstpraxis ist.

Originalität Künstlerische Forschung beinhaltet originale Beiträge, das heißt, das Werk darf nicht bereits vorher von anderen ausgeführt worden sein und 81 sollte neues Wissen oder neue Einsichten zu dem bereits vorhandenen Wissensbestand hinzufügen. Auch hier müssen wir zwischen einem 16. Eine ontologische, erkenntnistheoretische und methodologische Untersuchung der künstlerischen ForOriginalbeitrag zur Kunstpraxis schung bei Borgdorff: »Die Debatte über Forschung und einem Originalbeitrag zu dem, in der Kunst« (2009), S. 44, führt zu folgender Definition: »Künstlerische Praxis gilt als Forschung, was wir wissen und verstehen, wenn ihr Zweck darin besteht, unser Wissen und sprich zwischen künstlerischer und Verständnis durch die Durchführung einer ursprünglichen Untersuchung in und mittels Kunstobjekten und akademischer Originalität, unterkreativen Prozessen zu erweitern. Kunstforschung scheiden.17 Doch künstlerische und beginnt mit der [Thematisierung] von Fragen, die im Forschungskontext und in der Kunstwelt relevant akademische Originalität sind eng sind. Forscher verwenden experimentelle und hermemiteinander verwandt. Im Regelfall neutische Methoden, die das in spezifischen Kunstwerken und künstlerischen Prozessen eingebettete führt ein originaler Beitrag in der und verkörperte implizite Wissen offenbaren und künstlerischen Forschung zu einem artikulieren. Forschungsprozesse und -ergebnisse werden auf angemessene Weise dokumentiert und originalen Kunstwerk, da die Rein der Forschungsgemeinde und breiteren Öffentlichlevanz des künstlerischen Ergebkeit verbreitet.« nisses eine Bewährungsprobe für 17. Dies ist vor allem eine theoretische Unterscheidung, mit der das Originalitätsprinzip verdeutlicht werden die Angemessenheit der Forschung soll. Wie bei anderen Abgrenzungen und Dichotomien muss es frei im Licht der Vielfalt der Praxis ist. Doch der Umkehrschluss gilt gedeutet werden. Es ist wichtig, jegliche allzu enge nicht: Ein originales Kunstwerk Verbindung mit dem von der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts vertretenen frühromantischen Originaist nicht zwangsläufig das Ergebnis litätsprinzip zu vermeiden, das noch immer in vielen von Forschung im emphatischen Köpfen als eine Art implizites Paradigma herumspukt. Sinne. In der konkreten Praxis der

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künstlerischen Forschung muss man von Fall zu Fall entscheiden, auf welche Weise und in welchem Maße die Forschung zu originalen künstlerischen und akademischen Ergebnissen geführt hat.18 Bei jeder Forschungsarbeit dieser Art ist es wichtig zu realisieren, dass sich am Anfang nur schwer feststellen lässt, ob sie letztlich zu einem originalen Beitrag führen wird. Es ist eine inhärente Eigenschaft der Forschung, »dass man nicht genau weiss, was man nicht weiss«.19 Folglich sind leitende Intuition und Zufallsinspirationen für die Motivation und Dynamik der Forschung genauso wichtig wie methodologische Vorschriften und diskursive Rechtfertigungen. Dass man neues Wissen zu dem bereits vorhandenen beiträgt, ist charakteristisch für die ergebnisoffene Natur jeder Forschungsarbeit.

Wissen und Verständnis Wenn künstlerische Forschung eine »originale Untersuchung ist, die mit dem Ziel durchgeführt wird, Wissen und Verständnis zu erlangen«,20 dann stellt sich die Frage, um welche Formen von Wissen und Verständnis es dabei geht. Traditionell liegt der Schwerpunkt der Erkenntnistheorie auf »propositionalem« Wissen, also Faktenwissen, Wissen über die 82 Welt, Wissen, dass dieses und jenes der Fall ist. Davon unterschieden wird Wissen als »Fertigkeit«, also Wissen darüber, wie man etwas macht, wie man handelt, wie man etwas durchführt. Eine dritte Form des Wissens kann man als »Vertrautheit« bezeichnen: Bekanntsein mit und Aufgeschlossenheit für Personen, Bedingungen oder Situationen. In der Geschichte der Erkenntnistheorie wurden diese Formen von Wissen auf vielfältige Weise thematisiert, von Aristoteles’ Unterscheidung zwischen theoretischem Wissen, praktischem Wissen und Weisheit bis zu Michael Polanyis Gegensatz von explizitem und implizitem Wissen. 21 Hinsichtlich der Beziehungen zwischen den drei Wissenstypen gibt es unterschiedliche Auffassungen, 18. Siehe Pakes: »Original Embodied Knowledge« (2003) die auch in der Debatte über hinsichtlich einer detaillierteren kritischen Analyse des Originalitätsprinzips in der künstlerischen Forschung. künstlerische Forschung zu beob19. Rheinberger: »Man weiss nicht genau was man nicht achten sind. Manchmal liegt das weiss« (2007), S. 30. Das vollständige Zitat lautet: »Das Hauptgewicht auf propositionaGrundproblem besteht darin, dass man nicht genau weiss, was man nicht weiss. Damit ist das Wesen der lem Wissen, manchmal auf WisForschung kurz aber bündig ausgesprochen.« Vgl. auch sen als Fertigkeit und manchmal Dallow: »Representing Creativeness (2003), S. 49, 56. auf dem Verständnis als einer 20. So der von der Research Assessment Exercise verwendete Form des Wissens, bei der sich Wortlaut (Übersetzung aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider); bezüglich der vollständigen RAE-Definitheoretisches Wissen, praktition von Forschung aus dem Jahre 2006 siehe: http:// sches Wissen und Vertrautheit www.rae.ac.uk/pubs/2006/01/, Stand: 10.05.2011 überschneiden können. 21. Vgl. Planyi: Personal Knowledge (1958).

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Im Fall der künstlerischen Forschung können wir dem Duo »Wissen und Verständnis« die Synonyme »Einsicht« und »Verstehen« hinzufügen, um zu betonen, dass eine perzeptive, rezeptive und verstehende Auseinandersetzung mit dem Thema häufig wichtiger für die Forschung ist als ein »erläuternder Zugriff«. Außerdem ist eine solche Untersuchung auch bestrebt, unsere Erfahrung im umfassendsten Sinne des Wortes zu steigern: das Wissen und die Fertigkeiten durch Handeln und Praxis, und das Begreifen durch die Sinne. In der Debatte über den Status der erfahrungsbezogenen Komponente künstlerischer Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, ob diese Komponente nicht-begrifflich und daher nicht-diskursiv ist oder ob es sich um eine kognitive Komponente handelt, die definitiv im »Raum der Gründe« angesiedelt ist.22 Die Auseinandersetzung zwischen erkenntnistheoretischem Fundamentalismus und Kohärenztheorie, die vor allem propositionales Wissen betrifft, spielt in der Debatte über künstlerische Forschung überhaupt keine Rolle. Doch viele Beobachter betrachten Wissen nicht primär als »begründete wahre Überzeugung« oder »gerechtfertigte Behauptbarkeit«, sondern als eine Form der Welterschließung (eine hermeneutische Perspektive) oder der Welterfassung (eine konstruktivistische Perspektive). 83

Fragen, Themen, Probleme Die Anforderung, dass am Beginn einer Forschungsarbeit genau definierte Fragen, Themen oder Probleme stehen sollen, steht häufig im Widerspruch zum tatsächlichen Verlauf der Ereignisse in der künstlerischen Forschung. Das Formulieren einer Frage impliziert das Abstecken des Raums, in dem sich eine mögliche Antwort finden lässt. Doch häufig ähnelt Forschung (und nicht nur künstlerische Forschung) einer ungewissen Suche, bei der sich die Fragen oder Themen erst im Verlauf der Reise herauskristallisieren und sich überdies oft verändern können. Abgesehen davon, dass man häufig nicht genau weiß, was man nicht weiß, weiß man auch nicht, wie man den Raum abgrenzen soll, in dem sich die potenziellen Antworten befinden. In der Regel ist künstlerische Forschung nicht hypothesengeleitet, sondern entdeckungsgeleitet, 23 wobei der Künstler eine Suche auf der Grundlage von Intuitionen, Vermutungen und Ahnungen angeht und möglicherweise unterwegs auf einige unerwartete Themen oder überraschende Fragen stößt. Vgl. Biggs: »Learning from Experience« Im Lichte der tatsächlichen Dynamik 22. (2004). der derzeitigen akademischen Forschung 23. Rubidge: »Artists in the Academy« (Stand: 10.05.2011), S. 8. ist das vorherrschende Format für das

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Forschungsdesign (wie sie in den Anforderungen an Förderungsanträge zum Ausdruck kommt) im Grunde unangemessen. Vor allem in der künstlerischen Forschung und ganz im Einklang mit dem kreativen Prozess sind das implizite Verständnis des Künstlers und seine angehäufte Erfahrung, Sachkenntnis und Sensibilität bei der Erkundung unbekannten Geländes entscheidender für das Erkennen von Herausforderungen und Lösungen als die Fähigkeit, die Untersuchung abzugrenzen und bereits in einem frühen Stadium Forschungsfragen in Worte zu fassen. Letzteres kann eher Last als Segen sein. Wie wir gesehen haben, können Forschungsarbeiten,, die in der und durch die Kunst durchgeführt werden, können sich an der Wissenschaft und Technologie oder eher an Interpretation und Sozialkritik orientieren, und sie können sich dabei einer Vielfalt methodologischer Instrumente bedienen. Ebenso können die von der Forschung behandelten Themen und Fragen variieren: angefangen von solchen, die sich ausschließlich auf das künstlerische Material oder den kreativen Prozess konzentrieren, bis hin zu solchen, die andere Lebensbereiche berühren oder deren locus und telos sogar dort angesiedelt ist. Der Gegenstand der Forschung ist gewissermaßen im künstlerischen Material oder im kreativen Prozess eingeschlossen, oder im transdisziplinären Raum, der die künstlerischen Praktiken mit sinnvollen Kontexten verbindet. Die Forschung ist also bestrebt, den häufig nicht-begrifflichen Inhalt zu erkunden, der in der Kunst verkörpert, im kreativen Prozess inszeniert oder in den kontextuellen Raum eingebettet wird.

Kontext Kontexte sind sowohl in der Kunstpraxis als auch in der künstlerischen Forschung konstitutive Faktoren. Künstlerische Praktiken stehen nicht für sich allein, sondern sind immer situiert und eingebettet – Kunstwerke und künstlerische Aktionen erlangen ihre Bedeutung im Austausch mit relevanten Umwelten. Forschung in den Künsten wird naiv bleiben, solange sie dieses Eingebettetsein und diese Verortung in der Geschichte, in der Kultur (Gesellschaft, Wirtschaft, Alltagsleben) sowie im Diskurs über Kunst nicht anerkennt und sich ihnen nicht stellt; hierin liegt der Vorzug der relationalen Ästhetik und aller konstruktivistischer Ansätze in der künstlerischen Forschung. Kontexte spielen in der künstlerischen Forschung aber auch auf andere Weise eine Rolle. Die Relevanz und Dringlichkeit der Forschungsfragen und -themen wird teilweise innerhalb des Forschungskontexts bestimmt, wo das intersubjektive Forum einander ebenbürtiger

Künstlerische Forschung und akademische Forschung

Personen den Stand der Forschung definiert. Dieses formal eingesetzte oder auf abstrakte Weise verinnerlichte normative Forum beurteilt, welchen potenziellen Beitrag die Forschung zu dem aktuellen Korpus des Wissens und Verstehens leisten wird und in welcher Beziehung die Forschung zu anderer Forschung in diesem Bereich steht. Jede künstlerische Forschungsarbeit muss ihre eigene Bedeutung gegenüber dem akademischen Forum rechtfertigen, welches, wie das künstlerische Forum, dem Forscher sozusagen über die Schulter schaut.

Methoden Ich habe oben den besonderen Charakter der künstlerischen Forschung unter dem Gesichtspunkt der Methodologie kommentiert. Diese ist innerhalb des Forschungsprozesses durch den Gebrauch der Kunstpraxis, – des künstlerischen Handelns, Schöpfens und Spielens – innerhalb des Forschungsprozesses gekennzeichnet. Experimentelle Kunstpraxis ist ein wesentlicher Bestandteil der Forschung, so wie die aktive Beteiligung des Künstlers eine wesentliche Komponente der Forschungsstrategie ist. Hierin liegt die Ähnlichkeit zwischen künstlerischer Forschung und laborbasierter technischer Forschung 85 ebenso wie ethnografischer Feldstudien. Die sprunghafte Natur der kreativen Entdeckung, bei der unsystematisches Sich-treibenLassen, Zufallsfunde, überraschende Inspirationen und Hinweise einen integralen Bestandteil bilden, ist so beschaffen, dass sich eine methodologische Rechtfertigung nicht leicht kodifizieren lässt. Wie bei vielen anderen akademischen Forschungsarbeiten ist damit das Durchführen unvorhersehbarer Dinge verbunden, und dies impliziert Intuition und ein gewisses Maß an Zufälligkeit. Forschung ist mehr ein Auskundschaften als das Abschreiten eines sicheren Weges. 24 Ein Großteil künstlerischer Forschung beschränkt sich nicht auf eine Untersuchung der materiellen Aspekte der Kunst oder ein Erkunden des kreativen Prozesses, sondern gibt vor, weiter in den transdisziplinären Raum auszugreifen. Experimentelle und deutende Forschungsstrategien durchschneiden einander hier also in einem Unterfangen, dessen Zweck darin besteht, die Verbundenheit der Kunst zu dem, wer wir sind und wo wir stehen, zum Ausdruck zu bringen. Ein Großteil der heutigen bildenden und darstellenden Künste setzt sich kritisch mit anderen Lebensbereichen wie Gender, Globalisierung, Identität, Umwelt oder Aktivismus auseinander, aber auch philosophische oder psychologische 24. Der theoretische Physiker Robbert Dijkgraaf in Themen können in künstlerischen Foreinem Interview: Balkema, Slager: »Robbert Dijkgraaf« (Stand: 10.05.2011), S. 31. schungsprojekten behandelt werden.

Henk Borgdorff

Der Unterschied zwischen künstlerischer Forschung und der Sozial- oder Politikwissenschaft, kritischer Theorie oder Kulturanalyse besteht in der zentralen Stellung, welche die Kunstpraxis sowohl im Forschungsprozess als auch im Ergebnis der Forschung innehat. Dies unterscheidet Forschung in den Künsten von der in anderen akademischen Disziplinen, die sich mit denselben Themen auseinandersetzen. Bei der Beurteilung dieser Forschung ist es wichtig, im Auge zu behalten, dass der spezifische Beitrag, den sie zu unserem Wissen, Verständnis, unserer Einsicht und Erfahrung leistet, darin besteht, wie diese Themen durch Kunst artikuliert, zum Ausdruck gebracht und kommuniziert werden.

Dokumentation, Verbreitung

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Das akademische Gebot, den Prozess und die Befunde der Forschung auf angemessene Weise zu dokumentieren und verbreiten, wirft im Zusammenhang mit der künstlerischen Forschung eine Reihe von Fragen auf. Was bedeutet »angemessen« in diesem Zusammenhang? Welche Formen der Dokumentation würden einer Forschung gerecht, die von einem intuitiven schöpferischen Prozess und implizitem Verständnis geleitet wird? Welchen Wert hat eine rationale Rekonstruktion, wenn sie weit von dem tatsächlichen, häufig sprunghaften Verlauf der Forschung entfernt ist? Welches sind die besten Möglichkeiten, über nichtbegriffliche künstlerische Befunde Rechenschaft abzulegen? Und wie gestaltet sich die Beziehung zwischen dem Künstlerischen und dem Diskursiven, zwischen dem, was präsentiert und zur Schau gestellt, und dem, was beschrieben wird? Auf welches Publikum zielt die Forschung ab und welche Wirkung hofft sie zu erzielen? Und welche Kommunikationskanäle eignen sich am besten, um Forschungsergebnisse ins Rampenlicht zu rücken? Fragen wie diese sind in der Debatte um praxisbasierte Forschung in den kreativen und darstellenden Künsten und im Design in den letzten 15 Jahren Gegenstand anhaltender Auseinandersetzung gewesen, nicht zuletzt im Kontext akademischer Studiengänge und Förderprogramme, die für ihre Zulassungs- und Beurteilungsverfahren klare Antworten verlangen. Da künstlerische Forschung sich sowohl an das akademische Forum als auch an das Forum der Künste richtet, müssen die Dokumentation der Forschung sowie die Präsentation und Verbreitung der Befunde den gängigen Standards in beiden Foren genügen. Für gewöhnlich aber wird eine doppelblind rezensierte akademische Fachzeitschrift nicht das geeignete Publikationsmedium sein; die materiellen und diskursiven Ergebnisse der Forschung würden sich vorrangig an die Kunstwelt und den Kunstdiskurs richten, der über

Künstlerische Forschung und akademische Forschung

die akademische Welt hinausgeht. Eine diskursive Rechtfertigung der Forschung wird allerdings unter Berücksichtigung des akademischen Diskurses notwendig, während die künstlerischen Befunde auch die Kunstwelt werden überzeugen müssen. Dennoch muss der diskursive Raum der Gründe nicht auf den der traditionellen akademischen Schriften begrenzt bleiben. Der Künstler kann auch andere, vielleicht innovative Formen der Diskursivität verwenden, die dem künstlerischen Werk näherstehen als ein schriftlicher Text, etwa ein künstlerisches Portfolio, das die künstlerische Beweisführung nachzeichnet, oder Argumente, die in Partituren, Drehbüchern, Videos oder Schaubildern kodiert sind. Entscheidend ist die Überzeugungskraft der Dokumentation im Hinblick auf beide intersubjektive Foren. Bei all dem bleibt Sprache ein hochfunktionales, komplementäres Medium, um anderen gegenüber zu verdeutlichen, worum es bei der Forschung geht, vorausgesetzt man vergisst nicht, dass es immer eine Lücke zwischen dem Zur-Schau-Gestellten und dem In-Worte-Gefassten gibt. Genauer gesagt: In Anbetracht der Tatsache, dass die Bedeutung von Worten häufig auf ihren Gebrauch in der Sprache beschränkt bleibt, ist hier eine bestimmte Bescheidenheit hinsichtlich der performativen Leistung materieller Ergebnisse angebracht. 25 Die schriftliche, verbale oder diskursive Komponente, die das ma87 terielle Forschungsergebnis begleitet, kann in drei Richtungen verlaufen. 26 Viele Menschen setzen den Akzent auf eine rationale Rekonstruktion des Forschungsprozesses, um zu klären, wie die Ergebnisse zustande kamen. Andere verwenden Sprache, um einen verstehenden Zugang zu den Befunden, materiellen Erzeugnissen und Praktiken bereitzustellen, die von der Forschung erbracht wurden. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, etwas in und mit der Sprache auszudrücken, das als eine »Verbalisierung« oder »begriffliche Mimesis« des künstlerischen Ergebnisses verstanden werden kann. Die Begriffe, Gedanken und Äußerungen »fügen sich selbst« um das Kunstwerk herum »zusammen«, so dass das Kunstwerk zu sprechen beginnt. 27 Im Gegensatz zu einer Deutung des 25. Sprachbasierte schöpferische Praxis (Poesie, Prokünstlerischen Werks oder einer sa) stellt diesbezüglich eine Herausforderung dar. Rekonstruktion des künstlerischen Hier ist die performative Leistung der Kunst mit dem Spiel der Bedeutung von Wörtern verbunden und Prozesses geht letztere Option mit auf unauflösbare Weise miteinander verflochten. einer Emulation oder Nachahmung 26. Ich lehne es ab, hier irgendein numerisches Verdes in der Kunst verkörperten nichthältnis zwischen Verbalem und Materiellem zu diskutieren. Jede allgemeine Vorschrift der Anzahl begrifflichen Inhalts oder einer von Wörtern, derer es für einen künstlerischen PhD Anspielung auf diesen einher. bedarf, wird dem Thema nicht gerecht. Eine angeÜbersetzung aus dem Englischen von Nikolaus G. Schneider

messene und zweckmäßige Beziehung zwischen beiden muss für jedes künstlerische Forschungsprojekt separat bestimmt werden. 27. Vgl.

Henk Borgdorff

Literatur Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt am Main 1966 Bal, Mieke: Travelling Concepts in the Humanities: A Rough Guide. Toronto 2002 Balkema, Annette W. / Slager, Henk: »Robbert Dijkgraaf«, in: Mahkuzine: Journal of Artistic Research, Nr. 2 (2007), S. 31–37. Stand: 10.05.2011, http://www.mahku.nl/research/mahkuzine2. html Biggs, Michael A. R.: »Learning from Experience: Approaches to the Experiential Component of Practice-Based Research«, in: Karlsson, Henrik (Hrsg.): Forskning-Reflektion-Utveckling. Stockholm 2004, S. 6–21 Ders. / Büchler, Daniela: »Eight Criteria for Practice-Based Research in the Creative and Cultural Industries«, in: Art, Design and Communication in Higher Education, Nr. 7/1 (2008), S. 5–18

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Dies.: »Communities, Values, Conventions and Actions«, in: Biggs, Michael A. R. / Karlsson, Henrik (Hrsg.): The Routledge Companion to Research in the Arts. London, New York 2010, S. 82–98 Borgdorff, Henk: »Holismus, Wahrheit, Realismus. Adornos Musikphilosophie aus amerikanischer Sicht«, in: Klein, Richard / Mahnkopf, Claus-Steffen (Hrsg.): Mit den Ohren denken. Adornos Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 1998, S. 294–320 Ders.: »Die Debatte über Forschung in der Kunst«. in: Rey, Anton / Schöbi, Stefan (Hrsg.): Künstlerische Forschung – Positionen und Perspektiven. Zürich 2009, S. 23-51 Ders.: Artistic Research within the Fields of Science. Bergen 2009 Ders.: »The Production of Knowledge in Artistic Research«, in: Biggs, Michael A. R. / Karlsson, Henrik (Hrsg.): The Routledge Companion to Research in the Arts. London, New York 2010, S. 44–63 Dallow, Peter: »Representing Creativeness: Practice-Based Approaches to Research in Creative Arts«, in: Art, Design & Communication in Higher Education, Nr. 2/1–2 (2003), S. 49–66 Eisner, Elliot W.: »On the Differences between Scientific and Artistic Approaches to Qualitative Research«, in: Educational Researcher, Nr. 10/4 (1981), S. 5–9

Künstlerische Forschung und akademische Forschung

Haseman, Brad: »A Manifesto for Performative Research«, in: Media International Australia Incorporating Culture and Policy, Nr. 118 (2006), S. 98–106 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hamburg 2003 Kiverstein, Julian / Clark, Andy: »Introduction. Mind Embodied, Embedded, Enacted: One Church or Many?«, in: Topoi, Nr. 28 (2009), S. 1–7 Kjørup, Søren: Another Way of Knowing. Bergen 2006 Ders.: »Pleading for Plurality: Artistic and Other Kinds of Research«, in: Biggs, Michael A. R. / Karlsson, Henrik (Hrsg.): The Routledge Companion to Research in the Arts. London, New York 2010, S. 24–43 Knowles, J. Gary / Coles, Ardra L.: Handbook of the Arts in Qualitative Research. London 2008 Pakes, Anna: »Original Embodied Knowledge: The Epistemology of the New in Dance Practice as Research«, in: Research in Dance Education, Nr. 4/2 (2003), S. 127–149 Polanyi, Michael: Personal Knowledge: Towards a Post-Critical Philosophy. London 1958 Rheinberger, Hans-Jörg: »Man weiss nicht genau, was man nicht weiss: Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen«, in: Neue Zürcher Zeitung (05.05.2007), S. 30 Rubidge, Sarah: »Artists in the Academy: Reflections on Artistic Practice as Research« [2004]. Stand: 10.05.2011, http://www. ausdance.org.au/resources/publications/dance-rebootedinitializing-the-grid/papers/Rubidge.pdf Wilson, Stephen: Information Arts: Intersections of Art, Science and Technology. Cambridge, MA 2002

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Kunst

und

Hannes Rickli

am

Arbeit

Forschen.

Partikularen

Zur Ausstellung Videogramme Anhand eines virtuellen Rundgangs durch die Ausstellung Videogramme im Helmhaus Zürich möchte ich einige Aspekte des Verhältnisses von Kunst und Forschen beleuchten.1 Die Ausstellung zeigt in zehn Installationen vorgefundenes audiovisuelles Material aus Laborzusammenhängen der Verhaltensbiologie (Videogramme) und liefert in Audiointerviews mit Forschungspersonen sowie kurzen Texten Informationen zu dessen Herstellungsumständen. Dass die epistemische Praxis von Biologen und ihre Bild- und Klangproduktion Gegenstand meiner eigenen Kunstpraxis sind, erschwert und erleichtert dabei zugleich die Differenzierung zwischen Kunst und Wissenschaft. Ich bemühe mich in meiner Arbeit, in der Skizzierung dieses speziellen Verhältnisses Entsprechungen und Unterschiede im Gebrauch von Begriffen und den damit verbundenen Auffassungen kenntlich zu machen. Die Ausstellung kann aus mehreren 1. Dieser Text bezieht sich auf meine Ausstellung Richtungen betrachtet werden: als moVideogramme im Helmhaus Zürich (06.09.– 25.10.2009) und erschien zuerst unter Rickli: nografische Einzelausstellung in einer »Kunst und Forschen« (2011). Die Ausstellung Kunstinstitution, als Präsentation von präsentierte die Ergebnisse der im Rahmen des Forschungsprojekts »Überschuss. Videogramme Ergebnissen einer künstlerischen Studie des Experimentierens« erarbeiteten Studie im Beim Rahmen eines interdisziplinären reich Bildende Kunst in Form von Medieninstallationen. Diese Studie war eine von insgesamt fünf Forschungsprojekts oder als Einrichtung im Projekt durchgeführten Parallelstudien, vgl. eines Raumes zur Verhandlung von h t t p://w w w.if c a r.c h/in d ex .p h p?i d =187, (Stand: 10.05-2011). Schnitt- und Bruchstellen zwischen den

Hannes Rickli

Systemen Kunst und Wissenschaft. Jede dieser Betrachtungsweisen rückt etwas andere Aspekte in den Vordergrund. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Möglichkeiten anbieten, Kategorien wie Kunstwerk und Forschungsergebnis, Atelier, Labor oder Autorschaft zu befragen. Die Modi, in denen dies geschieht, sollen an einzelnen Werken und einer Raumübersicht erörtert werden. In einem der beiden Nebensäle, die den großen Ausstellungsraum flankieren, beginnt der Parcours mit der Videoprojektion Schwarzbäuchige Fruchtfliege #1, first tests (Abb. 1), deren Bild sich über die ganze Wandbreite erstreckt. Das im Vergleich zum CinemascopeFormat des Kinos noch breiter gedehnte Bild zeigt Flüge einzelner Fruchtfliegen der Gattung Drosophila melanogaster. Die Zeitlupe von 1.000 Bildern pro Sekunde lässt jeden Flügelschlag des auf etwa 5 cm vergrößerten Insekts erkennen, das so zu einem kleinen Vogel mutiert. Der Auftritt der Drosophila, die als Individuum in einer kinoähnlichen Situation das Panorama durchquert, markiert die Wichtigkeit der Rolle, die sie als Pionierin der Genomik und der modernen Biologie einnimmt. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen ohne Ton erinnern an die Serienfotografien des Physiologen Étienne-Jules Marey am Ende des 19. Jahrhunderts, den Vorläufern des Kinos. Die vorgeführte Verschränkung von Film und Biologie verkörpert ein 92 spezifisches Verhältnis von Medium und Wissensproduktion respektive Wissensform. 2 Die kleine Serie von Insektenflügen wurde in einer frühen Phase während der Entwicklung der Versuchsanordnung zu Test- und Kalibrierungszwecken aufgenommen. Sie waren Teil des Automatisierungsprozesses eines digitalen Systems, das Bilder aufnimmt, in Echtzeit auswertet und als Teil derselben Operation gleich wieder verwirft. Steuert die Drosophila in ihren »letzten« Bildern auf eine möglicherweise bildlose Zukunft wissenschaftlicher Forschung unter vollständig digitalisierten Bedingungen zu? Im 165 m 2 großen Hauptsaal sind acht Arbeiten installiert (Abb. 2–3). In Form von zwei Vertikalprojektionen, zwei Wandprojektionen und drei Monitorarbeiten sind Videos zu sehen. An einer der Längswände ist eine LED-Schriftanzeige montiert. Die Raumatmosphäre wird bestimmt durch ein akustisches Rauschen, das aus einem von der Decke herabhängenden Lautsprecher ertönt und sich mit nicht verständlichen Sprachfetzen einer Installation im zweiten Nebenraum mischt. Die vertikale Videoprojektion in der Raummitte reflektiert je nach Position im Loop bläuliche oder gelbrötliche Farben an die weißen Wände und die Decke, deren Tönung auch vom weiß gestrichenen Boden aufgenommen wird. Dadurch ändert sich periodisch die Farbstimmung 2. Vgl. Hediger: »Ist Lebenswissen filmisch?« (2011), S. 136 ff. des gesamten Raumes. Im Nebeneinander

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der verschiedenen Bilder, Klänge und der sich ebenfalls bewegenden roten und grünen LED-Schriften sind verschiedene Zeitformen erfahrbar: hochfrequentes Flimmern (Schwarzbäuchige Fruchtfliege #2, dot in tunnel); zeitweilig statische Bilder (Honigbiene); regelmäßige Strömungsbewegungen (RemOs1); der Takt der Uhr in der Schriftanzeige (Afrikanischer Buntbarsch #1, Mirrorserver); punktuelle akustische und visuelle Ereignisse (Roter Knurrhahn); verlangsamte menschliche Gesten (Gemeine Stechmücke, Ormia); von der Überwachungssoftware in Zeitraffer abgespeicherte Registrierungen von Fischbewegungen in Aquarien (Afrikanischer Buntbarsch #2, Videoinsight). Die vier Installationen RemOs1, Roter Knurrhahn, Honigbiene und Varroa, deren Ausgangsmaterial über einen Zeitraum von fast 20 Jahren entstanden ist, weisen eine Dominanz der Kreisform im Bildauf bau auf. Die runde Form kommt entweder durch das Videoaufnahmesystem zustande oder liegt im räumlichen Auf bau des Versuchs begründet: Bei den ersten beiden Installationen beschneidet etwa das Röhrengehäuse das Gesichtsfeld der Kamera (RemOs1), oder eine Vorsatzlinse zur Verstärkung des Weitwinkels ist vor das Kameraobjektiv montiert und verzerrt orthogonale Raumkanten tonnenförmig (Roter Knurrhahn) (Abb. 5). Bei den beiden anderen Installationen ist die Arena zur Aufzeichnung von Orientierungs93 experimenten rund gebaut, um Schattenwürfe in Raumecken als Orientierungshilfen zu vermeiden (Honigbiene), oder die Testzone ist mit Geruchsstoff kreisförmig markiert (Varroa). Die Kameras der drei letztgenannten Versuchsanlagen sind zentral über dem Untersuchungsgebiet platziert und richten eine Übersichtsperspektive ein. Die Auslegeordnung im großen Saal, das räumliche Nebeneinander von Installationen und die Gleichzeitigkeit ihrer seriellen Zeitstrukturen lassen Gemeinsamkeiten und Differenzen der verschiedenen videografischen Ausgangsmaterialien hervortreten. Operationen des Auslegens und Vergleichens sowie räumliche Umsetzungen in die Ausstellungssituation sind Methoden und Instrumente, mit denen die Materialität der Laborvideos praktisch erforscht werden kann. So stellt sich etwa die Frage, ob die Kreisförmigkeit von Versuchsanordnungen und -bildern als Nachklang des »Spektatoriums« gelesen werden könnte, einer Einrichtung zur Vorführung physiologischer Experimente in den 1890er Jahren. Das Spektatorium ist rund geformt wie das Auge, um auf »direkte visuelle Anschauungen«3 zu verweisen. Oder korrelieren sie mit den rundförmigen Projektionen von Filmen in physiologischen Labors des 19. Jahrhunderts und im frühen Kino Anfang des 20. Jahrhunderts? Oft setzen die Filmpioniere runde Lochblenden ein, 3. Johann Nepomuk Czermak, zit. n. Vöhringer: »Runde Filmbilder« (Stand: 10.05.2011), S. 4. um bestimmte Details hervorzuheben.

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Man könnte fragen, ob sich heute noch Reste einer alten Vorstellung nachweisen lassen, wonach der wissenschaftliche Sinn das Auge ist, das sich Übersicht verschafft? Die Schriftarbeit Afrikanischer Buntbarsch #1, Mirrorserver gibt eine Liste sämtlicher Bewegungen digitaler Dateien und Ordnerstrukturen des Computernetzwerks des Labors in Austin, Texas wieder, die während eines Jahres aufgezeichnet wurden. Die Namen der bearbeiteten Dateien verorten die Laborarbeit in einem geografischen Raum, der sich von Kigoma am Tanganjikasee über Sambia, Sansibar, Tokio, Konstanz, Basel nach Bern spannt. Ebenso zeichnen sie einen sozialen Raum, in dem wir den Arbeitsspuren der Undergraduate students Jacki, Kim und Dagan folgen. Wie greift das Instrument des Computers in die Prozesse des Forschens ein? Wie formt er Vorstellungen von Konzepten wie Übersicht oder Objektivität? Um neue Fragen hervorzubringen, hat sich im Laufe meiner Forschungen nach und nach ein Geflecht, bestehend aus dem Zusammenspiel von Beobachtungen, Gesprächen, Methoden, Instrumenten, theoretischen Auseinandersetzungen und manuellen Praktiken sowie impliziten Wissens gebildet, das ich in Analogie zur Laborsprache »Experimentalsystem« nennen möchte. Als ein solches bezeichnen die Biologen ihre kleinste vollständige Arbeits94 einheit. Ein Experimentalsystem muss so eingerichtet sein, dass es in der Lage ist, Antworten auf noch unbekannte Fragen zu geben.4 Während die Auswertung experimentell erzeugter Rohdaten im Fortlauf der wissenschaftlichen Tätigkeit darin besteht, aus ihnen das Lokale, Subjektive und Partikulare herauszureinigen, um verallgemeinerbare, stabile Ergebnisse zu erhalten, kehrt mein eigenes Forschungsinteresse die Zielrichtung um: Es sucht im Rohmaterial der Wissenschaftler nach den konkreten Umständen ihrer Erkenntnisproduktion, nach den Eigenheiten von partikularen Räumen, Lichtverhältnissen, Tieren und nach der Individualität von Personen. Wahrnehmbar werden diese in der Materialität der Anordnungen, in den Zurichtungen von Instrumenten, Handlungen und Objekten. Um solche Grundkonstellationen sichtbar zu machen, experimentiere ich mit dem audiovisuellen Ausschussmaterial, das mir bei Laborbesuchen von den Experimentatoren überlassen wird. Die vorläufigen Ergebnisse meiner Untersuchungen – Kunstwerke, Ausstellung und die theoretischen Diskurse des parallel zur Ausstellung veranstalteten Symposiums Latente Bilder zum Thema des Gebrauchsfilms – gehen als Zwischenschritte wiederum in mein Experimentalsystem ein. Nach Hans-Jörg Rheinberger ist 4. Vgl. Rheinberger: Experimentalsysteme das Experimentalsystem eine Einrichtung (2006), S. 25. zur Materialisierung von Fragen.5 In den hier 5. Vgl. ebd.

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vorgestellten Untersuchungen reflektiert es darüber hinaus nicht nur den biologischen, sondern auch den künstlerischen Kontext, in dem die Arbeiten exponiert sind. Wie sich im Kunstraum entstehende Fragen über die Systemgrenzen von Kunst und Wissenschaft hinweg überkreuzen, möchte ich am Beispiel der Vertikalinstallationen Roter Knurrhahn, Honigbiene und Varroa beschreiben. In einer Art archäologischem Unterfangen versuche ich, die Umstände der Entstehung eines Videogramms zu rekonstruieren, um dabei etwa zu lernen, wie der Eigensinn des Mediums Video am Prozess der Herstellung einer wissenschaftlichen Tatsache beteiligt ist. Dies geschieht nicht in der Nachinszenierung einer Laborsituation, sondern in der Umkehrung des bild- und tongebenden Verfahrens. Im Kunstraum nimmt der Projektor die ursprüngliche Kameraposition ein und wirft das Bild von oben auf ein Podest, das in Länge und Breite sowie in der Höhe ab dem Boden der ursprünglichen Arbeitsfläche in der Versuchsanordnung entspricht. Diese Maßnahme bringt abgebildete Fische, Insekten, Milben, Menschen, Geräte und Räume in die Dimension unserer Alltagswahrnehmung. Anders als die Wissenschaften, die aus den videografischen Rohmaterialien nur wenige Bruchteile an relevanten Daten durch Filterungen und Verstärkungen herauspräparieren, lasse ich sie in ihrer ästhetischen Fülle bestehen. Dabei tritt neben der Materialität und Ästhetik des wissenschaftlichen Experimentierens vor allem seine Zeitlichkeit in den Fokus: Wiederholungen, Pausen, Umbauten, Kalibrierungen der Anlagen. Auf Selektionen und Montagen wird deshalb verzichtet. Dies führt beispielsweise bei der Honigbiene zu einer Abspieldauer von über 37 Stunden oder beim Roten Knurrhahn zu einer Liveübertragung von Audio- und Videosignalen aus Helgoland in den Zürcher Ausstellungsraum. Im Kunstkontext soll der Modus des ungefilterten, möglichst nicht interpretierenden »Zeigens« von vorgefundenem Material aus einer anderen Bildkultur Fragen bezüglich bestehender Werk-, Interpretations- und Autorenkategorien auslösen. Zuschreibungen zu Readymade, found footage oder appropriation art entziehen sich die Arbeiten tendenziell, da etwa die notwendig populären Herkünfte der verschobenen Artefakte sowie deren Umformung oder Abstrahierung durch den Künstler fehlen. Stattdessen – so zumindest die Hoffnung meines Forschens – können die nie vollständig kontrollierbaren Widerstände zwischen materiellen und konzeptionellen Komponenten, die sich in allen Herstellungsprozessen auch außerhalb wissenschaftlicher Laboratorien ereignen, wahrnehmbar gemacht werden. Erst die genuin künstlerische Operation, Widerstände und Störungen produktiv zu wenden, macht sie über Kulturgrenzen hinweg verhandelbar.

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Abb. 1: Schwarzbäuchige Fruchtfliege #1, first tests

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Abb. 2: Ausstellungsansicht Helmhaus Zürich, Saal 2. Vorne: Roter Knurrhahn; Mitte: Honigbiene; hinten: RemOs1; links: Gemeine Stechmücke, Ormia; rechts: Afrikanischer Buntbarsch #1, Buntbarsch #2

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Abb. 3: Ausstellungsansicht Helmhaus Zürich, Saal 2. Vorne: Roter Knurrhahn; hinten rechts: Schwarzbäuchige Fruchtfliege #2; hinten links: Varroa

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Abb. 4–5: Roter Knurrhahn

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1. Hannes Rickli, Spurenkugel — ein Schreibspiel. Baden 1996.

Abb. 6: Genealogie Netzwerk und Archiv Videogramme: Auf der linken Seite werden Besuche in Laboratorien und Begegnungen mit Forschungspersonen chronologisch aufgelistet. Die Linien geben Verbindungen zwischen Personen und anschließend zu dem Forschungsprojekt Überschuss an. In der rechten Spalte sind Eingänge von Archivalien vermerkt.

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Zum Forschungsprojekt Überschuss. Videogramme des Experimentierens Das Forschungsprojekt Überschuss 6 untersucht einen Korpus audiovisueller Aufzeichnungen von Messkameras und -mikrofonen (Videogramme), die mir seit 1992 von Verhaltensbiologen nach der Datenauswertung überlassen wurden. Da die Materialien im Laufe der Forschungen nicht weiter verwendet und aus dem Forschungsprozess ausgesondert werden, zirkulieren sie in keinen Diskursen, weder in der Biologie noch in der Bildforschung oder der Kunst. In Zusammenarbeit mit den Bildproduzenten dreier Partnerlaboratorien auf Helgoland, in Austin und Zürich analysiert das Projekt in fünf parallel geführten Studien in den Bereichen Bildender Kunst, Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftssoziologie sowie Medien- und Kunstwissenschaft die videografischen Reste und diskutiert deren ästhetische Produktivität und Potenziale. Ihr beiläufiger Status innerhalb des Forschungsprozesses sowie ihr indexikalischer Charakter machen die audiovisuellen Selbstregistrierungen zu mehrdeutigen »Spuren« des Experimentierens, deren Zeichenüberschüsse durch die Verschiebung in den Kunstbereich neue Bedeutungen herstellen und verhandelbar machen. In dieser Wendung haben die Videogramme, 101 so lautet die Hypothese, das Potenzial, »alternative« Geschichten über die Erkenntnisproduktion im Labor zu entfalten, die die Wissenschaft selbst ausblendet und die daher in der offiziellen Kommunikation nicht erscheinen: die materielle, technologische, soziale sowie die leibliche, räumliche, zeitliche, kurz: die ästhetische Verfasstheit des Experimentierens, das im Widerstreit der Dinge, Medien, Menschen und Tiere die beobachteten Phänomene – in unserem Fall die tierische »Natur« – nicht abbildet, sondern erst hervorbringt. Die Forschungen zu audiovisuellen Ausschussmaterialien aus Experimentalsystemen gehen auf Laborbesuche der frühen 1990er Jahre zurück, bei denen ich die Experimentatoren bei ihrer Arbeit beobachtete, Gespräche führte und erste Artefakte von Experimentierprozessen sammelte. Aus diesen Begegnungen ergab sich im Laufe der Zeit ein Netzwerk von Beziehungen. Diese sowie die unsystematisch zusammengetragene Sammlung von Videosequenzen, Auswertungsprotokollen, Notizen und Fotodokumentationen bilden die Basis des Forschungsprojekts Überschuss (Abb. 6). In einem ersten Schritt des Forschungsprojekts wurde das Archiv digitalisiert und überarbeitet. Die Mit6. Ausführliche Informationen zum Forschungsarbeitenden erhielten auf DVD komprojekt finden sich unter http://www.ifcar. pilierte, mit Visionierungsprotokollen ch/index.php?id=187, (Stand: 10.05.2011)..

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versehene Videoausschnitte sowie aus soziologischer Perspektive hergestellte narrative Interviews mit den Leitern der drei Partnerlaboratorien zu ihrem Mediengebrauch. Vor dem Hintergrund dieser Daten wählten sie entsprechend ihren Neigungen und Fachinteressen einen eigenen Untersuchungsansatz. Einblicke in die Laborwelt erhielten sie bei Arbeitstreffen am Institut für Neuroinformatik, an der Universität und ETH Zürich sowie auf Helgoland. An diesen Treffen nahmen jeweils auch die anderen Biologen teil. Sie dienten einerseits dem Verständnis des spezifischen Herstellungskontextes der untersuchten Materialien vor dem Hintergrund der biologischen Fragestellung. Andererseits wurden bildtheoretische Aspekte erörtert, etwa, »wann« ein Datum zum Bild übergeht und damit als »epistemisches Ding«7 der Wissenschaft zum »ästhetischen« Ding der Kunst wird. Ein dritter Workshop fand am Ende der Analysephase in Zürich statt, wo die provisorischen Ergebnisse projektintern diskutiert wurden. Außerhalb der Arbeitstreffen organisierten die Mitarbeitenden und Partnerlaboratorien bilaterale Kollaborationen unterschiedlicher Ausprägungen. Das Projekt Überschuss erzielte Ergebnisse auf verschiedenen Ebenen: 102

. Forschungsgegenstand Videogramme: Eine Buchpublikation fasst die fünf Parallelstudien zusammen und enthält eine umfassende Darstellung des bearbeiteten Bildkorpus.8 . Fachdiskurse: Das Projekt regte in Kooperation mit dem Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum das erste, ausschließlich dem Thema des »Gebrauchsfilms« gewidmete, interdisziplinäre Symposium mit internationalen Teilnehmern aus den Bereichen Film-, Medien- und Kunstwissenschaft, Wissenschaftsforschung, Biologie und Bildende Kunst an.9 Das Format der Ausstellung sowie die einzelnen Exponate eröffneten im Kontext der Kunst Möglichkeiten, Kategorien wie Herstellungsprozesse, Werk, Interpretation oder Autorschaft neu zu verhandeln.

. Projektintern: Im Verlauf der Arbeitszusammenkünfte konnte beobachtet werden, wie sich nicht nur das Verständnis der Bildinterpreten dem Labor gegenüber veränderte, sondern auch dasjenige der Biologen gegenüber ihrer eigenen Medienpraxis und gegenüber derjenigen der anderen Laborpart7. Vgl. Rheinberger: Experimentalsysteme (2006), S. 27. ner. Fassten sie zuvor ihren Einsatz 8. Rickli: Videogramme (2011). instrumenteller Medien rein funk9. Latente Bilder – Erzählformen des Gebrauchsfilms, Collegium Helveticum, Zürich, 10.–12.09.2009, http:// tionell auf, indem sie die von ihnen www.ifcar.ch/index.php?id=15&sub=51&lang=d, avisierte Datenebene fokussierten, (Stand: 10.05.2011).

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trat zunehmend der Doppelcharakter der Produkte hervor. Die zur Datenerhebung hergestellten Signaturen spiegelten in einer zweiten, von der ursprünglichen Absicht abgekoppelten Betrachtungsweise nicht Daten wider, sondern die materiellen und ästhetischen Umstände ihrer Herstellung. Dies führte zu einer Art »ästhetischer« Distanz, die es ermöglichte, die eigene Praxis zu reflektieren und zu diskutieren. Umgekehrt erwies sich die lange Vorlaufzeit des Projekts und die damit einhergehende Vertrauensbildung zwischen dem Künstler und den Biologen als produktiv, indem sich dieses Verhältnis auf die Mitarbeitenden der anderen Disziplinen, die normalerweise nicht in direktem Kontakt stehen, übertragen ließ. Daraus ergeben sich über das Projekt hinausgehende Kooperationen. Zur positiven Bilanz des Projekts Überschuss trug wesentlich bei, dass während allen Arbeitsphasen die Differenzen zwischen den beteiligten Disziplinen präsent waren und thematisiert wurden. So wurde auch in der Darstellung der Ergebnisse in der Buchpublikation auf Synthetisierungen und Hybridisierungen von Wissensformen verzichtet. Die einzelnen Studien entwerfen ein polyperspektivisches Bild des Forschungsgegenstandes und seiner Herkunftswelten und schaffen gleichzeitig Anschlüsse an ihre Fachdiskurse, womit sich die Reflexionen auch in Zukunft und unabhängig vom Projekt nachhaltig weiter entfalten können.

Literatur Hediger, Vinzenz: »Ist Lebenswissen filmisch?«, in Rickli, Hannes (Hrsg.): Videogramme. Die Bildwelten biologischer Experimentalsysteme als Kunst- und Theorieobjekt. Zürich 2011, S. 136–153 Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Frankfurt am Main 2006 Rickli, Hannes (Hrsg.): Videogramme. Die Bildwelten biologischer Experimentalsysteme als Kunst- und Theorieobjekt. Zürich 2011 Ders.: »Kunst und Forschen. Arbeit am Partikularen«, in: ders. (Hrsg.): Videogramme. Die Bildwelten biologischer Experimentalsysteme als Kunst- und Theorieobjekt. Zürich 2011, S. 108–111

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Hannes Rickli

Vöhringer, Margarete: »Abstract: Runde Filmbilder im physiologischen Labor und im frühen Film« [2009]. Stand: 10.05.2011, http://www.ifcar.ch/medien/veranstaltungen/ Abstracts_Lat_Bilder.pdf

Abbildungsnachweise Abb. 1, S. 96: Schwarzbäuchige Fruchtfliege #1, first tests. Videostills, Highspeedvideo, s/w, ohne Ton, 34 Sek., Loop, Wandprojektion 170 x 510 cm: Flugsteuerung bei Drosophila melanogaster, Institut für Neuroinformatik, ETH und Universität Zürich, 2007, Aufnahmen und Kooperation: Steven N. Fry Abb. 2–3, S. 97–97: Hannes Rickli: Videogramme. Ausstellungsansicht Helmhaus Zürich, Saal 2, 06.09.–25.10.2009, Fotografie: Roman Keller

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Abb. 4, S. 99: Roter Knurrhahn. Livestream via AXIS-Server aus Helgoland, Video, s/w, Ton, Lautsprecher, Vertikalprojektion 205 x 276 cm: Akustische Kommunikation bei Trigla lucerna, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung Helgoland, Aufnahmen und Kooperation: Philipp Fischer, Fotografie: Roman Keller Abb. 5, S. 99: Roter Knurrhahn. Videostills, 31.8.–24.10.2009 Abb. 6, S. 100: Hannes Rickli: Genealogie Netzwerk und Archiv Videogramme. Grafik: Jonas Vögeli, in: Hannes Rickli: Videogramme. Die Bildwelten biologischer Experimentalsysteme als Kunst- und Theorieobjekt. Zürich 2011, S. 293

Elke Bippus

Modellierungen

in

Laboratorien

der

ästhetischer Wissensproduktion

Kunst

Der Begriff der »Ästhetik« erfährt angesichts der seit Jahrzehnten zunehmenden Ästhetisierung der Lebenswelt eine Renaissance – oder besser: eine notwendige Neubetrachtung. Die Reformulierung des Begriffs der »Ästhetisierung« und die Befragung der Funktion des Ästhetischen in den Feldern der Politik, der Religion oder der Erkenntnis sind für die Neubewertung des Ästhetischen 1 ebenso signifikant wie die Wiederaufnahme und Relektüre von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica. 2 In diesem Zusammenhang steht auch die Frage nach einer ästhetischen Wissenschaft, die Martin Tröndle explizit mit künstlerischer Forschung verknüpft.3 Um den Bezug von Ästhetischem und Epistemischem zu klären, scheint die Rückkehr zu Baumgartens Bestreben einer Gleichberechtigung von sinnlicher Erkenntnis und Logik in der Wissenschaft unumgänglich: Nach Baumgarten unterscheidet sich die Ästhetik als »scientia cognitionis sensitivae […] 1. Vgl. Menke: Kraft (2008), insbes. Kapitel IV; Brombach, Setton, Temesvári: »Ästhetisierung« (2010). von der Logik dadurch, daß sie 2. Das neu erwachte Interesse an der Aesthetica wird sinnliche Kenntnis, die unteren u. a. daran deutlich, dass erst 2007 die erste vollständige Übersetzung erschien und nunmehr für 2011 eine weitere, Erkenntniskräfte zu ihrem Geunabhängig davon entstandene angekündigt ist. genstand hat«.4 3. Vgl. hierzu die Ankündigung der Tagung Artistic Research Die Rede von einer ästhetials Ästhetische Wissenschaft?, 24./25. September 2010, Akademie Schloss Solitude, Stuttgart. schen Wissenschaft im Kontext künstlerischer Forschung ist aller- 4. Baumgarten: »Aesthetica« (1983), S. 79, 82. Baumgartens Theorie spielte dementsprechend auch auf der Tagung Ardings gerade aufgrund der in der tistic Research als Ästhetische Wissenschaft? eine Rolle, vgl. den Beitrag von Gernot Böhme in diesem Band. Aesthetica formulierten Hierarchie

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der Erkenntnisvermögen ambivalent, hat sie doch die Dichotomie von Kunst und Wissenschaft seit Baumgarten maßgeblich mitbestimmt.5 Die Frage nach einer ästhetischen Wissenschaft sollte deshalb neben den Reformulierungen des Ästhetischen aktuelle Wissenschaftstheorien 6 einbeziehen und die Kriterien einer ästhetischen Wissenschaft in Auseinandersetzung mit künstlerischer Forschung entwickeln. Eine kritische, offene und zugleich komplexe Annäherung erscheint mir angesichts der Institutionalisierung von künstlerischer Forschung geboten. Denn die mit ihr einhergehende Akademisierung hindert den Prozess, Forschung von einer wissenschaftlichen Engführung zu emanzipieren und damit auch die einsetzende Entwicklung, verschiedene Weisen der Wissensproduktion in ihrer Relevanz anzuerkennen und zu respektieren.7 Im Folgenden werde ich einige Dispositive künstlerischer Forschung 8 aufzeigen, die Ordnungen der Wissenschaft. Michel Foucault bestimmt Dispositive als »Strategien von Kräfteverhältnissen, die Arten von Wissen unterstützen und von diesen unterstützt werden«.9 Angesichts des Indifferentwerdens der gesellschaftlichen Felder von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst, die sich in der Moderne ausdifferenziert haben, drängt sich die Frage auf, ob ästhetische Strategien das Dispositiv »Wissen« überhaupt subversiv durchkreuzen (können). Gleichwohl ist gerade für eine künstlerische Forschung von Interesse, 108 welche Funktion, welchen Spielraum ästhetische Strategien innerhalb dieses Dispositivs einnehmen 5. Mit Baumgarten ist das Sinnliche zwar als erkenntnisund entwerfen. Dieser Frage theoretische Kategorie aufzufassen, die Vorstellung der möchte ich anhand des VerEigengesetzlichkeit des Sinnlich-Ästhetischen hat aber wie die Autonomisierung der Kunst dazu beigetragen, hältnisses von Produktion, Ästhetik vom Wissen zu scheiden, sie mit dem Subjektiven Vermittlung und Aneignung zu verbinden und zum Therapeutikum des Verstandes zu machen. Kunst und Wissenschaft standen fortan in einem von Wissen nachgehen. Auf Konkurrenzverhältnis. Vgl. Mersch, Ott: »Tektonische VerKategorien der künstlerischen schiebung zwischen Kunst und Wissenschaft« (2007). Forschung – als Research in the 6. Vgl. beispielhaft Daston, Galison: Objektivität (2007). Arts 10 verstanden – übertragen, 7. Die anfängliche Phase der Debatten und Klärungen von Möglichkeiten künstlerischer Forschung, durch die festgegilt es in diesem Sinne, das fügte und vermeintlich unumstößliche disziplinäre VorstelVerhältnis von Kunstproduklungen und Konzepte herausfordert wurden, wird seit geraumer Zeit zunehmend von Tendenzen der Kanonisierung tion, Werk und Rezeption zu und Disziplinierung eines künftigen Faches »Künstlerischer untersuchen. Die folgenden Forschung« geprägt. Mit dieser Entwicklung wird der Überlegungen beschäftigen sich Suchraum kontroverser und heterogener Positionierungen zugunsten der Festlegung von Standards und Kriterien mit diesem Verhältnis und verschlossen. seinen Implikationen für die 8. Künstlerische Forschung bestimme ich nicht disziplinär. Wissensproduktion und befraIm Gegenteil – ob sich ein Wissen als szientistisch oder künstlerisch apostrophiert, ist keine Frage der Disziplin, gen mithin die Wissenschaft sondern des Darstellungsmodus. Vgl. Bippus: »Zwischen selbst. Ich beziehe mich dabei Systematik und Neugierde« (2010). auf Atelierdarstellungen und 9. Foucault: »Das Spiel des Michel Foucault« (2003), S. 395. Poststudiopraxen, das heißt 10. Borgdorff: The Debate on Research in the Arts (2006).

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auf Arbeitsorte und Werkstätten, die ich – wissenschaftlichen Laboren vergleichbar – als Experimentalsysteme11 fasse, also zunächst »als Orte der Emergenz […], als Strukturen, die wir uns ausgedacht haben, um nicht Ausdenkbares einzufangen«.12

Experimentalsysteme der Kunst Atelierbilder sind in ihrer Repräsentation von Produktionsabläufen, -techniken und Arbeitsteilungen für die Rekonstruktion sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Zusammenhänge und Hierarchien aufschlussreich.13 Sie können aber ebenso dazu beitragen, die künstlerische Tätigkeit, also den kreativen Akt, als Rätsel der Schöpfung in Erscheinung zu bringen. Mit dem Atelierbild lässt sich »der Geniekult feiern« oder ein »künstlerisches Manifest« formulieren, »das Informationen über Positionen und Absichten vermittelt«.14 Allerdings ist das Atelier längst nicht mehr jener abgeschlossene, private beziehungsweise semi-private Ort, an dem sich das Werk am nächsten war.15 In Anbetracht aktueller avancierter Kunstproduktionen und Praxen in Kunst wie Wissenschaft ist die Vorstellung vom Atelier als geschlossene Einheit von Werk und 109 Künstler, aber auch die stereotype Oppositionsbildung von künstlerischem Atelier und wissenschaftlichem Labor nicht mehr aufrecht zu erhalten. Das Atelier ist nicht 11. Zum Experimentalsystem vgl. Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift (1992). Der Begriff des »Experimentalmehr nur Schnittstelle zwischen systems« erlaubt, institutionelle, technische wie gesellPrivatem und Öffentlichem, an der schaftliche Rahmungen einzubeziehen. die entstandenen Werke erstmals 12. Ders.: »Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen« (2006), S. 2. einer kunstinternen Öffentlich16 13. Vgl. Diers, Wagner: »Topos Atelier« (2010), S. VII. keit zugänglich werden. Es ist vielmehr von den Strukturen des 14. Ebd., S. VIII. Kunstsystems durchdrungen: Das 15. Dieser Typ von Atelier erfuhr im 20. Jahrhundert sozusagen seine Musealisierung, indem Künstler ihr Atelier Studio »Raumexperimente« des selbst ausstellten, so etwa Constantin Brâncusi oder Kurt Schwitters. Vgl. Diers: »Atelier/Réalité« (2010), S. 4 ff. Künstlers Olafur Eliasson beschäf16. »Das Atelier, erster Rahmen des Werkes, ist in der Tat tigt beispielsweise ein Team von ein Filter, der einer doppelten Auswahl dienen soll: Die über 35 Personen: Handwerker, erste trifft der Künstler außerhalb des Blicks der anderen, die zweite treffen die Ausstellungsorganisatoren Techniker, Architekten, Künstler, und Kunsthändler anschließend für den Blick der andeKunsthistoriker, Archivare, Köche ren.« Buren: »Funktion des Ateliers« (1995), S. 157. und Verwaltungspersonal. Die 17. »They work with Eliasson to experiment, develop, produce, and install artworks, projects, and exhibitions, as vormals dem Atelier externen Täwell as archiving, communicating, and contextualising tigkeiten der Archivierung, Konhis work. Additional to the artworks realised in-house, textualisierung und diskursiven Eliasson and his studio contract structural engineers and other specialists, and collaborate with curators, cultural Anbindung werden nunmehr vom practitioners, and scientists.« http://www.olafureliasson. 17 studiointernen Betrieb realisiert. net/studio.html, (Stand: 10.05.2011).

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Der Künstler ist – wie Wolfgang Ullrich es nennt – der Kunde, er lässt seine Werke von Spezialisten ausführen und wirkt selbst nicht mit den Händen, sondern mit dem Kopf.18 Derartig arbeitende Künstler verlassen sich »auf das Know-How der Dienstleister« und neigen, so Ullrich weiter, zu »gewagteren Ideen, als wenn sie auf sich allein gestellt wären«.19 Auch die konventionellen Vorstellungen vom wissenschaftlichen Labor sind zu revidieren, wenn man dem Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger folgt, der in seiner 2005 erschienenen Publikation Iterationen davon spricht, dass das, was »sich in den ›hyperrealen‹ Räumen des modernen Labors ereignet, […] den Produktionen des Ateliers näher [steht] als man zumeist annimmt«. 20 Die Veränderungen der Produktionsweisen in Wissenschaft und Kunst sollen zum Anlass genommen werden, das Atelier beziehungsweise Poststudiopraxen bildender Künstler als Experimentalsysteme, also kleinste funktionale Einheit der Forschung zu betrachten. Untersucht werden einerseits solche Atelierdarstellungen, die das material Produzierende sowie die soziale, institutionelle und epistemische Rahmung der künstlerischen Tätigkeit reflektieren. Andererseits werden Poststudiopraxen vorgestellt, welche die Produktion mit den Bedingungen des Ausstellens und des Diskurses verschränken.

(Labor-)Reflexionen des epistemologischen Feldes Das Gemälde Las Meninas (Abb. 1) von Diego Velázquez hat umfangreiche künstlerische wie kunsthistorische Auseinandersetzungen ausgelöst. Mit Michel Foucaults Analyse des Bildes in Die Ordnung der Dinge 21 wurde das Wissen desselben – im Unterschied zu seiner repräsentativen Funktion – in den Diskurs eingetragen. Das 1656 entstandene, großformatige Gemälde, das sich heute im Museo del Prado in Madrid befindet, zeigt einen großen Raum des Alcázar von Madrid, der Hauptresidenz von König Philipp 18. Vgl. Ullrich: »Der Künstler als Kunde« (Stand: 10.05.2011). IV. von Spanien. Gezeigt ist 19. Ebd., S. 5. Deshalb erscheinen nach Ullrich auch einige Werke kaum mehr als das Ergebnis einer Problemlösung. Der Velázquez’ Studio, das ihm Topos vom unschuldigen Auge, das umso authentischer sieht, auf Anweisung des Regenten je besser es von Sehkonventionen, Wissen und Erfahrung abstrahiert, ist vom Topos der unschuldigen Hand abgelöst. Die zugewiesen wurde. Zu sehen Konzepte werden unabhängig von Handwerkstechniken und sind mehrere, überwiegend Materialeigenschaften entwickelt. Vgl. ebd., S. 11. identifizierbare Personen des 20. Rheinberger: »Alles, was überhaupt zu einer Inskription führen kann« (2005), S. 24. Nach Rheinberger gehorchen beispanischen Hofes: Im Mittelde Produktionsorte einer Bewegung, ohne letzte Bedeutung punkt befindet sich die fünfund »einzigartige, kanonische, definitive oder endgültige ›Interpretation‹«. Ebd., S. 25. jährige Königstochter Marga21. Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge (1986), S. 44 ff. rita, umgeben von Hoffräulein,

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Abb. 1: Diego Velázquez: Las Meninas. 1656

einem Wächter, zwei sogenannten Hofzwergen und einem Hund. Links von ihnen steht Velázquez, der gerade an einer großen Leinwand arbeitet und seinen Blick aus dem Bild zum Ort des Betrachters hin richtet. Im Hintergrund hängen einige Gemälde und ein Spiegel, der die Oberkörper des vor dem Bild stehenden Königspaars reflektiert. Mit der bildnerischen Reflexion seiner materialen, historischen und institutionellen Rahmung und der mit ihr einhergehenden Episteme, werde ich nur einen Aspekt des komplexen Bildes hervorheben. Velázquez’ Bild zeigt in seiner Repräsentation des Hofes epistemische wie technische Dinge, welche die Grundlagen der Darstellung bil- 22. Die Episteme der Repräsentation lässt sich definieren als das Wissen, das sich aus der Emanzipation der Zeichen den: Palette, Leinwand, Blicke, von der Ähnlichkeit ergibt. Das Zeichen formiert sich als Spiegel, Bilder. Das Bild legt, reine, von aller Ähnlichkeit unabhängige Repräsentation. In der Trennung von der Ähnlichkeit entfalten die nundies hat Foucault herausgearbeimehr willkürlichen Zeichen ihren wahren kognitiven Sinn, tet, die in der Klassik wirksame ihr epistemisches Potenzial. »An der Schwelle des klassischen Zeitalters hört das Zeichen auf, eine Gestalt der Wissensformation offen: die EpiWelt zu sein, und es ist nicht länger mit dem verbunden, 22 steme der Repräsentation. Die was es durch die festen und geheimnisvollen Bänder der Ähnlichkeit oder der Affinität markiert.« Ebd., S. 92. epistemischen Formationen sind

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den jeweiligen Zeitgenossen nicht bewusst, da sie das »Denken und seine Strukturen« 23 erst ermöglichen. Allein im Nachhinein werden sie durch vergleichende Forschungen rekonstruierbar. Velázquez’ Darstellung einer Ateliersituation zeigt nach Foucault das Bild als Repräsentation und damit, von wo aus Erkenntnisse und Theorien möglich gewesen sind, nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat, auf welchem historischen Apriori und im Element welcher Positivität Ideen haben erscheinen, Wissenschaften sich bilden, Erfahrungen sich in Philosophien reflektieren, Rationalitäten sich bilden können, um vielleicht sich bald wieder aufzulösen und zu vergehen. 24

Vom Altelier als Laboratorium zur Ausstellung als Laboratorium Das Atelierbild von Velázquez zeigt einen Arbeitsraum, ein Laboratorium,25 in dem die sinnlichen Qualitäten der Dinge und deren Gruppierung wissensbildende Dimensionen entfalten. Es zeigt aber auch, dass 112 das Bild nur sichtbar wird, wenn der Betrachter eine bestimmte Position einnimmt, die von den Fluchtli23. Schnädelbach: Erkenntnistheorie zur Einführung (2002), nien des Bildes bestimmt wird. S. 46. 24. Foucault: Die Ordnung der Dinge (1986), S. 24. Dasjenige, was die Repräsenta25. Laboratorium stammt von lat. laborare: arbeiten, sich tion begründet, verschwindet: anstrengen, abmühen, leiden an. Während »Labor« den »Dieses Sujet selbst, das gleichArbeitsort betont, akzentuiert »Laboratorium« die Tätigzeitig Subjekt ist, ist ausgelassen keit. 26. Ebd., S. 45. worden. Und endlich befreit von 27. Eine Laborwissenschaft löst die von ihr untersuchten Obdieser Beziehung, die sie anketjekte aus deren natürlicher Umwelt heraus und »bringt sie tete, kann die Repräsentation sich in die kulturelle Welt des Labors, um sie dort gemäß der eigenen Bedingungen zu manipulieren. Sie muß diese als reine Repräsentation geben.« 26 Objekte auch nicht nehmen, wie sie sind, sondern kann Das Atelierbild repräsentiert das für sie alle möglichen reduzierten und partiellen Objekte Experimentalsystem der Kunst substituieren. Schließlich muß eine Laborwissenschaft nicht dann auf Dinge eingehen, wenn sie stattfinden«. als ein geschlossenes UntersuLabore implizieren »eine Rekonfiguration des Systems chungssystem, als reine Repräder ›Selbst-Anderen-Dinge‹ […]. Die Laborstudien legen nahe, daß das Labor ein Mittel ist, um die Welt-bezogensentation. Hierdurch ist es mit der auf-Akteure so zu verändern, daß die Symmetrie zwiLaborwissenschaft vergleichbar, schen Wissenschaftlern und Objektwelt zugunsten der ersteren verändert wird.« Knorr-Cetina: Die Fabrikation die mit Objekten unabhängig von Erkenntnis (2002), S. XIV. Die Rekonfiguration des von Raum und Zeit kunstgerecht Phänomenfeldes ist die Grundlage für die häufig langhantiert und das Phänomenfeld wierige Forschungsarbeit, die zu Entdeckungen führt. Wobei Entdeckung hier ein Herausschälen von etwas rekonfiguriert, ohne die Akteure Neuem durch Prozesse des Differenzierens, der konstelins Spiel zu bringen.27 lativen Verschiebung oder des Re-Arrangements meint.

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Velázquez’ Bild hat Antworten auf Fragen geben können, die von seinen Zeitgenossen noch nicht klar formulierbar waren. In diesem Sinne gleicht es einem Experimentalsystem, als »Maschine zur Herstellung von Zukunft«.28 Dargestellt sind Elemente der bildlichen Repräsentation, in denen sich ein für eine bestimmte Zeit anerkanntes Wissen verkörpert und in denen sich etwas verfangen kann, »von dem man nicht genau weiß, was es ist, und auch nicht genau, wann es kommt«.29 Wie ein Experimentalsystem begrenzt eine Repräsentation immer auch ein Thema und bestimmt, welche Gegenstände integrierbar sind. Experimentalsysteme und bildliche Repräsentationen bedingen gleichermaßen die Fragen und Antworten, die möglich werden. Las Meninas vermittelt die für seine Zeit übliche Engführung vom Werk und dem Künstler als Schöpfer. Das Öffentlichwerden des Werks fügt – dieser Logik entsprechend – dem Bild eine andere Realität hinzu, die niemand vorhersehen kann und die nicht eingrenzbar ist. Kennzeichnend für diese Veränderung ist in der Malerei der Moderne der Wandel des Verhältnisses von Bild und Betrachter. Nicht das Bild positioniert den Betrachter, sondern dieser bringt es durch seinen Blick hervor. Das Bild selbst wird zum Objekt in einem bestimmten Raum und verunklärt als solches die reine Repräsentation. Im 20. Jahrhundert führt die räumliche, 113 zeitliche und kulturelle Verschränktheit eines Werks zu einem neuen Typus von Poststudioarbeiten, den sogenannten ortsspezifischen Werken. Diese dynamisieren nicht nur das Verhältnis von Künstler, Werk und Rezeption, sondern hinterfragen etwa durch ihre Produktionsweise explizit eine rein kunstimmanente wie repräsentative Sichtweise. Bleibt man im Vergleichsspiel der Laboratorien von Kunst und Wissenschaft, dann ähnelt die Poststudiopraxis der Arbeit solcher wissenschaftlicher Labore, die Peter Galison als »Netz« 30 charakterisiert. Diese Laboratorien sind stets im Fluss, vielgestaltig und in ständiger Umgestaltung. Laboratorien als Netze verstanden verknüpfen »lokale [...] Verfahren mit fremden« und kombinieren »frühere Ziele mit neuen«. 31 Sie »bewegen sich, indem neue materielle Formen von Mischsprachen entstehen, indem Arbeitsverfahren auf neue Weise kombiniert werden«. 32 Solche Formen der Kombination und 28. Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift (1992), S. 25. Hybridisierung lassen sich 29. Rheinberger: »Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen« in der zeitgenössischen Kunst (Stand: 10.05.2011), S. 2. etwa in archivarischen Praxen 30. Nach Peter Galison war das Laboratorium zu verschiedenen Zeiten »eine Wunderkammer, ein Parlament, ein Heimgewerfinden, womit eine Konkretibe, eine Fabrik, ein Kloster, und jetzt ist es in der Hauptsache sierung des Labortyps »Netz« ein Netz«. »Peter Galison im Gespräch« (2001), S. 465. im Feld der Kunst vorgenom- 31. Ebd., S. 469. men werden kann. 32. Ebd.

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Das Archiv als installatives Laboratorium Mit installativen Arbeiten, Objekten und Texten untersucht Renée Green die westliche Kultur und kombiniert eine teilhabende und eine außenstehende Position. Ihr Vorgehen und ihre künstlerischen Produktionen lassen sich vor allem mit poststrukturalistischen und -kolonialistischen Theoriebildungen seit den späten 1980er Jahren sowie mit hybriden Identitätsmodellen und afroamerikanischer Kulturkritik in Beziehung setzen. In der Installation Import/Export Funk Office aus dem Jahr 1992 (Abb. 2) wurden zehn Stahlregale so zusammengestellt, dass sie einen offenen, an ein Archiv erinnernden Raum bilden.33 Das Archiv versammelt akustische, visuelle und diskursive Medien. 34 Eine große Zahl der ausliegenden Medien, welche die Besucher aus den Regalen nehmen und einsehen beziehungsweise abspielen können, stammen aus der Sammlung des Kulturtheoretikers Diedrich Diederichsen, mit dem Green auch die zu sehenden Videointerviews gemacht hat. In ihrer Mehrstimmigkeit – auf der Produktionsebene ist mit Green, Diederichsen und all jenen Akteuren der Interviews und Schriften gleichsam ein Autorenkollektiv tätig – wird die Installation zu einem Interarchiv, 35 das versucht, festgefügte Modelle von Autorschaft aufzulösen. Die Installation, als Archiv betrachtet, kann 114 als Aussagesystem im Sinne Foucaults verstanden werden. Es bildet »das Gesetz dessen […], was gesagt werden kann«. Anders gesagt ist es »das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen«. 36 Das Archiv bildet gleichsam das Experimentalsystem eines kulturellen Wissens; in ihm sind wie bei 33. Zu Renée Green und ihrer Arbeit vgl. Mönteinem (natur-)wissenschaftlichen Experimann: Kunst als sozialer Raum (2002), mentalsystem »die Wissensobjekte und die insb. S. 133 ff. […] Bedingungen ihrer Hervorbringung 34. Audio- und Videotapes mit Hip-Hop-Musik und Interviews zu kulturtheoretischen Theunauflösbar miteinander verknüpft«. 37 men, »schwarzer Musik« und ihrer interkulturellen Rezeption; weiterhin Publikationen zur Black Theory und Black Culture von Wissenschaftlern, Schriftstellern, Filmemachern und Kritikern sowie Zeitschriftenartikel.

35. Vgl. Bismarck u. a.: Interarchive (2002). Green interessiert sich für die Lücken in Archiven und für die Unzulänglichkeit derselben: Ihr geht es um Ordnungsprinzipien und darum, etwas zu »finden, was nicht gesucht wurde«. Green: »Überleben« (2002), S. 486. 36. Foucault: Archäologie des Wissens (1981), S. 187 f. 37. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge (2001), S. 8. 38. Michalka: »Installationen« (2006), S. 10.

Das Ausstellungs-Display als Laboratorium 2006 präsentierten Julie Ault und Martin Beck in der Wiener Secession die Ausstellung Installation (Abb. 3). Diese war einerseits an eine Retrospektive angelehnt, insofern sie Produktionen aus verschiedenen Schaffensphasen über einen Zeitraum von 15 Jahren zeigte, die individuell und

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Abb. 2: Renée Green: Import/Export Funk Office. 1992

auch gemeinsam entstanden waren. Da die Arbeiten jedoch zusammen mit denen anderer Künstler präsentiert wurden, gewann die Ausstellung andererseits den Charakter einer Gruppenshow. Durch den Titel Installation war zudem zu vermuten, es handele sich um eine Themenausstellung. Auch mit der Präsentation der Fotoarbeit Untitled (Natural History) von Felix Gonzáles-Torres aus dem Jahr 1990 rückt das Künstlerpaar das »dynamische Zusammenspiel von künstlerischen Vorgaben, Umfeldbedingungen und Rezeptionsmechanismen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung«. 38 Ault und Beck verlagern ihren Fokus von klassischen Produktionsformaten zu präsentations- und kommunikationsorientierten Praktiken. Die Ausstellung war dementsprechend intermedial und multidisziplinär angelegt: Sie schloss Texte und Objekte in verschiedenen Medien ebenso mit ein, wie sie die kritische historische und

Abb. 3: Julie Ault, Martin Beck: Installation. Im Vordergrund: Corita Area, zusammengestellt von Julie Ault, 2006

systematische Auseinandersetzung mit kunst-, kultur- und gesellschaftsrelevanten Diskursen voraussetzte. 39 Kennzeichnend für die Arbeitsweise von Ault und Beck ist, dass sie – Green vergleichbar – Forschung sowohl zur Ermöglichung als auch zur Untersuchung von Kunst nutzbar machen und beide Formen zusammen mit der Recherchebewegung selbst als integrierte Bestandteile ihrer künstlerischen Praxis verstehen. Dementsprechend setzt der überwiegende Teil der gezeigten Arbeiten eine kulturwissenschaftliche Recherche voraus. So beschäftigt sich Ault beispielsweise auf der Basis intensiver Archivrecherchen seit 1998 mit künstlerischen, religiösen, gesellschaftlichen und politischen Arbeiten der katholischen Ordensschwester Corita Kent. In der Wiener Ausstellung rückte Ault die Nutzung von Kents ästhetischem Material für öffentliche Veranstaltungen und Feiern in den Mittel39. »Mit dieser Verdichtung unterschiedlicher Methoden, punkt. Sie präsentierte die Arbeiten Wissensformen und Materialien exemplifiziert«, so in Form von Diasequenzen, aber Beatrice von Bismarck, »Installation eine spezifische Form forschender Praxis, die […] sich in einem eiauch als designte und informierende genständigen und zugleich wechselseitig produkMöblierungen des Ausstellungstiven Verhältnis zu anderen Formen der Forschung versteht und zugleich ihrerseits der konkurrierenden raums, indem sie die Abbildungen Inanspruchnahme sowohl von künstlerischer als auf farbig-geometrische Sitzgeauch von wissenschaftlicher Seite ausgesetzt ist.« legenheiten drucken ließ. Durch Bismarck: »Zeit/Raum-Forschung« (2009), S. 173 f.

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ihre räumliche Inszenierungspraxis produzieren Ault und Beck ein experimentelles Zusammentreffen von Materialien, Personen, Erinnerungen, Kontexten, Diskursen oder auch Methoden sowie Recherche- und Wissensproduktionen. Die Produktion von Wissen wird hierdurch mit körperlichen und diskursiven Bewegungen gleichermaßen verknüpft.40 Ault und Beck betonen die Unabgeschlossenheit ihrer Forschungen, indem sie diese einer ständigen Neubefragung aussetzen. Etwa dann, wenn sie ihr Material in verschiedenen Ausstellungen neu gruppieren und kontextualisieren, oder wenn sie Status und Funktion ihrer Ausstellungselemente verändern, so dass StrucTube vom Exponat zum zweckdienlichen Gerüst werden kann (Abb. 4).41 Die Künstler leuchten den Raum zwischen Ästhetik und politischer Repräsentation aus; so beispielsweise in dem 16 Meter langen Wandbild Information (Abb. 3, 4), das die Definition und Darstellung von Armut in den USA untersucht. Die Farbgrafik lehnt sich an gängige Visualisierungen von erhobenen Daten an, die Auswahl und Kombination der Informationen sowie die mehrfachen Schichtungen verweisen dabei zugleich auf Grenzen der Lesbarkeit: Information ist mehr als zweck-orientiertes Wissen. Durch die 117 Ästhetik, durch den Kontext und durch die Kombination von Informationen, deren mögliche Zusammenhänge sich nur 40. Vgl. ebd., S. 185. Wissenschaftliche Methodik und Wissen fließen dabei nicht nur im Sinne eines transindirekt erschließen, werden die disziplinären Austauschs in die künstlerische Praxis ein. Vielmehr wird, indem sich künstlerische und wisBetrachterInnen in ein pragmasenschaftliche Verfahren wechselseitig kritisch perstisch unbestimmtes Verhältnis pektivieren, die Vermittlungs- und Präsentationsweise als konstitutives Moment erkennbar. Dieses bestimmt zu den Daten versetzt, die Arbeitsformen als spezifische und grenzt sie voneinMechanismen der Darstellung ander ab, so dass hier von künstlerischen Praxen gesprochen werden kann, die sich von herkömmlichen unterstrichen und das Publiwissenschaftlichen Methoden unterscheiden. kum mit seiner eigenen Rolle 41. Martin Beck hat das modernistische Ausstellungssysim Prozess der Interpretation tem StrucTube von George Nelson in seiner Entwick42 lung neuer Ausstellungsdisplays untersucht und dabei konfrontiert. Die Ausstellungselemente gewinnen den Status epistemischer Dinge,43 die durch eine irreduzible Verschwommenheit und Vagheit charakterisiert sind.44 Durch ihre Mehrfachcodierung – als Möblierung, Informationsträger und ästhetisches Objekt – lösen die ausgestellten Phänomene Verstehensprozesse in der Reflexion auf

insbesondere deren visuelle und räumliche Dispositive reflektiert. Beck: »Souveränität und Kontrolle« (2009). In seiner künstlerischen Arbeit expandable, portable, viewable hat Beck StrucTube rekonstruiert. 42. Michalka: »Installationen« (2006), S. 13. 43. Zu den epistemischen Dingen vgl. Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift (1992), insbes. Kap. IV: »Das ›epistemische Ding‹ und seine technischen Bedingungen«, S. 67–86. 44. Die Verschwommenheit ist nach Rheinberger unvermeidlich, da das epistemische Ding »paradox gesagt, eben das verkörpert, was man noch nicht weiß. […] als Wissenschaftsobjekt [ist es] überhaupt erst im Prozeß seiner materiellen Definition begriffen«. Ebd., S. 70.

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ihre hermeneutischen, formalen und materialen Aspekte hin aus.45 Im wissenschaftlichen Feld sind epistemische Dinge erfolgreich, wenn eine stabile Umgebung garantiert ist, »die man als Experimentalbedingungen oder als technische Dinge bezeichnen kann«.46 Dann können sie Prozesse des Umdefinierens und das »Spiel der Möglichkeiten« unvorhersehbarer Konstruktionsprozesse auslösen. Die Bedingungen und technischen Dinge eines Experimentalsystems sind zwar mit den Kulturtechniken einer künstlerischen Praxis vergleichbar, allerdings nutzen Wissenschaftler sie »in einem anderen Modus der Kontextualisierung, nämlich als ›ein Werkzeug zum (symbolischen) Operieren mit diesen Gegenständen‹«.47 Die Darstellungsstrategien von Ault und Beck verunmöglichen geradezu ein ausschließlich symbolisches Agieren mit den präsentierten Dingen. Indem die Ausstellung zum Laboratorium wird, ist das »Spiel der Möglichkeiten« der Erkenntnisgewinnung einem unkontrollierbaren Bezugssystem ausgesetzt. Die Ausstellung als Labor ist tatsächlich »Hauptsache ein Netz«.48 Das heißt jedoch nicht, dass es nicht wichtig sei zu wissen, was als Laboratorium gilt und wer als Experimentator fungiert.49 Das dynamische Labor von Ault und Beck entwirft eine ästhetische Wissensproduktion, welche einerseits an Spezialisten – Kuratoren, Kunstkritiker, Galeristen – 118 adressiert ist und dem Register des Kunstsystems entsprechend genutzt werden kann. Zugleich sind Relationen hergestellt, die über kunstsystemimmanente Fragen im engeren Sinne hinausweisen und insbesondere mit soziologischen und politischen Themen verknüpft sind. In seinen außerakademischen Schnittstellen bricht Installation zudem die Hierarchie zwischen forschenden »Spezialisten« und rezipierenden »Laien« auf. Die Labore von Green, Ault 45. Die Strategie der Überdeterminierung ist auf verschiedenen Ebenen feststellbar: So bringt das Spiel mit verund Beck stellen kritische Wissenschiedenen Ausstellungsformaten die »Ausstellung« ins sproduktionen dar. Sie sind nicht Bewusstsein, die Vervielfältigung der jeweils eigenen Rollen und Handlungsformen dezentriert die künstleausschließlich der Logik des rische »Autorschaft« und die Mehrfachcodierung der Kunstsystems entsprechend als präsentierten Elemente figuriert das »Werk« als Produkt eines bedeutungsstiftenden und sich vervielfältigenden Kunstobjekte zu betrachten, sonProzesses. Zu Verstehensvollzügen, die materiale, fordern gewinnen auch im Kontext male und hermeneutische Aspekte einbeziehen, vgl. epistemischer Fragestellungen Sonderegger: »Wie Kunst (auch) mit der Wahrheit spielt« (2002). an Relevanz. Die Verschränkung 46. Die epistemischen Dinge werden von den Experimentalvon Produktion, Werk und Rebedingungen »eingefasst und dadurch in übergreifenzeption wird konstruktiv, indem de Felder von epistemischen Praktiken und materiellen Wissenskulturen eingefügt«. Rheinberger: Experimendie künstlerischen Forschungen talsysteme und epistemische Dinge (2001), S. 25. in kein Endprodukt oder -werk 47. Gramelsberger: »Epistemische Praktiken des Forschens« führen, das auf seine interpre(2009), S. 99. tatorische Erklärung durch den 48. »Peter Galison im Gespräch« (2001), S. 465.

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Abb. 4: Julie Ault, Martin Beck: Installation. Im Vordergrund: expandable, portable, viewable von Martin Beck, 2004–2006

Spezialisten wartet. Als Teil einer konstellativen Anordnung werden sie zum Ausgangspunkt von Forschungen und Sinnbildungsprozessen eines gesellschaftlichen Labors. Die Bedeutsamkeit der vorgestellten künstlerischen Arbeiten liegt darin, dass diese sich auch sinnlichvisuell artikulieren und hierdurch Repräsentation und Performanz verbinden. Repräsentation wird als ein Prozess der Sichtbarmachung erkennbar und Forschen als ein Hervorbringen und Konfigurieren von epistemischen Dingen, die sich an das Denken richten. Gerade hierdurch lassen die angesprochenen Beispiele (das Atelierbild, das installative Laboratorium, die Ausstellung als Laboratorium) auch die jeweilige räumliche, zeitliche und kulturelle Verwurzelung von Forschung evident werden. Diese lokale Verflochtenheit, von der auch die wissenschaftliche Arbeit tangiert ist und welche die Frage nach der Transportierbarkeit von einer Lokalität zu anderen aufwirft,50 scheint 49. Zur Veränderung des Labors als Netz sagt Galison: »Erst kürzlich sind Deep-Space-Daten in der Kunst unkompliziert. Dies liegt online zugänglich gemacht geworden, und Studenten haben sie durchforstet, um bislang daran, so meine These, dass mit jedem unentdeckte Supernovae zu finden. Welche Transport eine andere lokale VerwurArt von Laboratorium ist das, und wo ist es lokalisiert? Ich denke, es wäre ein Irrtum, ein Lazelung erfahrbar und kein Anspruch boratorium in irgendeiner Hinsicht für etwas Ergeltend gemacht wird, eine von der starrtes zu halten, als gäbe es eine Definition, Form gänzlich unabhängige Informadie es ein für allemal erfaßt.« Ebd., S. 466. tion zu vermitteln. Die Exponate oder 50. Vgl. ebd.

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Gegenstände sind nicht allein symbolisch eingesetzt, sondern auch ästhetisch und semantisch lesbar. Ihre Bedeutung ist dabei nicht an ihnen selbst objektivierbar noch an einem vorgängigen Referenten. Sie ereignet sich vielmehr in spezifischen institutionellen, historischen und sozialen Verkettungen und durch ein Aufeinandertreffen von Akteuren. So adressieren die Diagramme des Ausstellungsteils Information bei der Erstpräsentation der Arbeit im Weatherspoon Art Museum im amerikanischen North Carolina die Besucher mit und in ihrem eigenen Lebensumfeld. In der Ausstellung der Wiener Secession ist dieser konkrete Bezug weniger evident. Nach Matthias Michalka führt dies zur »Verstrickung des Publikums in einen Interpretationsprozess, der die Bedeutung und Funktionslogik von Repräsentation sowohl modellhaft anhand politisch relevanter Unterschiede in der Darstellung gesellschaftlicher Parameter als auch performativ, das heißt konkret an sich selbst demonstriert«. 51 Mit meinen Beispielen habe ich eine Reihe erstellt, in der das materielle und experimentelle Arrangement des Ateliers in ein Bild, in die Installation und schließlich in die Ausstellung und deren Architektur transferiert wird. Mit diesem Transfer korrespondiert ein Wandel des Werkverständnisses: Wird die Werkentstehung im 120 Atelierbild von Velázquez auf seiner materiellen Ebene eng an die Artikulation durch den Künstler geknüpft, so vermittelt sich das Archiv Greens in der Heterogenität seiner Materialien aus vielfältigen Zusammenhängen und verschiedenen Autoren als Produkt einer Sammlungs- und Kooperationspraxis zwischen Personen. Installation von Ault und Beck erscheint als heterogener Verhandlungsraum, in dem das Ineinandergreifen der beteiligten Akteure – Werk, Rezeption, Diskurs – herausgehoben ist. Das Künstlerpaar setzt Form und Inhalt als relationale Bedeutungsdimensionen ein und lässt die Ausstellung zum Labor eines sinnlichen und analytischen Die Verschränkung von Kommunikationssystems werden.52 Form und Inhalt sowie die Explikation der Pluralität von Bedeutung und Funktion eines Gegenstandes bilden ein dynamisches Beziehungsgeflecht, das die Notwendigkeit und Tragweite der Kontextualisierung, die sozusagen eine »stabile Umgebung« und Perspektivierung durch einen Experimentator schafft, offenbar werden lässt. Installation agiert gegen die durch die Strukturen der Kunstwelt aufgezwungene oder konventionalisierte und internalisierte Passivität des Publikums beziehungsweise die klassische Aufteilung von Produzent und Rezipient. 51. Michalka: »Installationen« (2006), Außerdem richtet sie sich gegen eine HierS. 13. 52. Vgl. ebd., S. 15 f. archie von primärem und sekundärem Status

Modellierungen ästhetischer Wissensproduktion in Laboratorien der Kunst

von Werk und Diskurs; Präsentation und Produktion von Wissen greifen experimentell ineinander. Solche Praxen der Poststudioproduktion bilden das Modell eines Experimentalsystems kollektiv-konstellativer Forschungsund Wissensbildungsprozesse. Anders gesagt: Vor der Folie ihrer ästhetischen Praxen betrachtet, entwerfen die hier vorgestellten künstlerischen Forschungen eine Theorie der Wissensproduktion, die nicht jener der Vermittlung eines positivierbaren (Wissens-) Gegenstandes entspricht, sondern sich als Theorie einer geteilten Wissensproduktion beschreiben lässt. Eine Herausforderung, die sich durch derartige Theoriebildungen einer ästhetischen Wissenschaft stellt, liegt in der Entwicklung von Formaten einer ästhetischen Verhandlung, welche die Kunst nicht als Objekt begreift, über das gesprochen und diskutiert wird, 53 sondern sie zum Subjekt eines Denkens werden lässt. 54 Eine ästhetische Wissenschaft ist – orientiert sie sich an der Ästhetik – immer auch wissenskritisch. Sie ist eine phänomengeleitete Untersuchung, bestenfalls eine Poetik. Sie »interessiert sich demnach für die Regeln und Verfahren, nach denen sich ein Äußerungszusammenhang ausbildet und abschließt und die Darstellung diktiert, in denen er sich seine performative Kraft sichert«. 55 Sie greift stets über ihre disziplinäre Engfüh121 rung hinaus und bedroht hierdurch ihre gesicherten Methoden, Kompetenzen und Wissenshorizonte. Sie importiert Theorien aus anderen Umständen und fremden Disziplinen und ist so betrachtet keine feste Disziplin.56 Ob es ange53. Diese Anordnung von betrachtendem (Wissensichts dieser Aspekte sinnvoll ist, schafts) Subjekt und betrachtetem (Kunst-)Gegenstand macht das Werk meist verbal verfügbar. von einer ästhetischen Wissenschaft Künstlerische Forschung wird aber gerade dann zu sprechen, bleibt abzuwägen. Eine interessant und zeichnet sich als eigenständige solche ist zumindest aufgefordert, Wissensform ab, wenn die Unbestimmbarkeit und die Unschärfe des Verhältnisses zwischen sich der mit neuen Formen und ForWerk und Diskurs produktiv gewendet werden, maten zusammenhängenden »Gefahr« das heißt, wenn die Spannung zwischen Faktizität und Possibilität eines Kunstwerks nicht der Dezentrierung von Wissenszugunsten einer Harmonisierung in Deckung produktion zu stellen, wenn sie sich gebracht, sondern genutzt wird, um seinen Möglichkeitsraum auszuloten. nicht allein auf fertige Produkte oder vertraute Darstellungsweisen wie den 54. Formate sind notwendig, damit Wissen in kollektiven Objektivierungsprozessen hervorgebracht wissenschaftlichen Aufsatz oder das werden kann, bei denen es gerade nicht um das Ideal der interdisziplinären Synthese geht. Einen Kunstwerk verlassen und konzentriemöglichen Verhandlungsort hat der Künstler ren möchte. Denn dieses Vertrauen in Eran Schaerf entworfen. Vgl. Schaerf: »Palaver« (2008). Bekanntes und Bewährtes birgt die 55. Vogl: »Einleitung« (1999), S. 13. »Gefahr«, neue und vielversprechende 56. Hierin ist sie der ästhetischen Theorie vergleichEntwicklungen zu übersehen. bar wie sie jüngst Knut Ebeling charakterisiert hat. Vgl. Ebeling: »Jenseits der Schönheit« (2009).

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Literatur »Peter Galison im Gespräch mit Barbara Vanderlinden, Okwui Enwezor, Oladélé Bamgboyé und Kobe Matthys«, in: Obrist, Hans Ulrich / Vanderlinden, Barbara (Hrsg.): Laboratorium. Köln 2001, S. 465–470 Baumgarten, Alexander G.: »Aesthetica« [Aesthetica, 1750], in: ders.: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Hamburg 1983, S. 79–83 Beck, Martin: »Souveränität und Kontrolle«, in: Bippus, Elke (Hrsg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich, Berlin 2009, S. 109–123 Bippus, Elke: »Zwischen Systematik und Neugierde. Die epistemische Praxis künstlerischer Forschung«, in: Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen – Wissenschaft trifft Kunst, Heft 23 (2010), S. 21–23 Bismarck, Beatrice von u. a. (Hrsg.): Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld. Köln 2002 122

Bismarck, Beatrice von: »Zeit/Raum-Forschung: Ausstellung. Zu Julie Aults und Martin Becks Wiener Installation«, in: Bippus, Elke (Hrsg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich, Berlin 2009, S. 173–187 Borgdorff, Henk: The Debate on Research in the Arts. Bergen 2006 Brombach, Ilka / Setton, Dirk / Temesvári, Cornela (Hrsg.): »Ästhetisierung«. Der Streit um das Ästhetische in Politik, Religion und Erkenntnis. Zürich 2010 Buren, Daniel: »Funktion des Ateliers«, in: ders.: Achtung! Texte 1967–1991. Dresden, Basel 1995, S. 152–167 Daston, Lorraine / Galison, Peter: Objektivität. Frankfurt am Main 2007 Diers, Michael: »Atelier/Réalité«, in: ders. / Wagner, Monika (Hrsg.): Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform. Berlin 2010, S. 1–20 Ders. / Wagner, Monika: »Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform«, in: dies. (Hrsg.): Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform. Berlin 2010, S. VII–X

Modellierungen ästhetischer Wissensproduktion in Laboratorien der Kunst

Ebeling, Knut: »Jenseits der Schönheit. Sieben Thesen zum Verhältnis von philosophischer Ästhetik und ästhetischer Theorie«, in: Sachs, Melanie / Sander, Sabine (Hrsg.): Permanenz des Ästhetischen. Wiesbaden 2009, S. 163–179 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens [L’Archéologie du Savoir, 1969]. Frankfurt am Main 1981 Ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, 1966]. 6. Aufl., Frankfurt am Main 1986 Ders.: »Das Spiel des Michel Foucault« [Le jeu de Michel Foucault, 1977], in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. III, Frankfurt am Main 2003, S. 391–429 Gramelsberger, Gabriele: »Epistemische Praktiken des Forschens im Zeitalter des Computers«, in: Bippus, Elke (Hrsg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich, Berlin 2009, S. 91–107 Green, Renée: »Überleben: Grübeleien über archivarische Lakunen. Bearbeitungen, erneute Lektüren und neue Lesarten. Einführung in den folgenden, laufenden Prozess des Hinzufügens«, in: Bismarck, Beatrice von u. a. (Hrsg.): Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld. Köln 2002, S. 484–490 Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft [The Manufacture of Knowledge. An Essay on the Constructivist and Contextual Nature of Science, 1981]. 2. Aufl., Frankfurt am Main 2002 Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt am Main 2008 Mersch, Dieter / Ott, Michaela: »Tektonische Verschiebung zwischen Kunst und Wissenschaft«, in: dies. (Hrsg.): Kunst und Wissenschaft. München 2007, S. 9–31 Michalka, Matthias: »Installationen«, in: Julie Ault & Martin Beck. Installation. Köln 2006, S. 7–21 Möntmann, Nina: Kunst als sozialer Raum. Andrea Fraser, Martha Rosler, Rirkrit Tiravanija, Renée Green. Köln 2002 Rheinberger, Hans-Jörg: Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg an der Lahn 1992 Ders.: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001

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Ders.: »Alles, was überhaupt zu einer Inskription führen kann«, in: ders.: Iterationen. Berlin 2005, S. 9–29 Ders.: »Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen« [2006]. Stand: 10.05.2011, http://www.cogitofoundation.ch/ pdf/2006/061025DieKunst_dasUnbekannte.pdf Schaerf, Eran: »Palaver. Ein Verhandlungsraum für ein einzelnes Kunstwerk«, in: Dombois, Florian / ders.: Palaver. Bern, Berlin 2008, unpaginiert Schnädelbach, Herbert: Erkenntnistheorie zur Einführung. Hamburg 2002 Sonderegger, Ruth: »Wie Kunst (auch) mit der Wahrheit spielt«, in: Kern, Andrea / dies. (Hrsg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik. Frankfurt am Main 2002, S. 209–238 Ullrich, Wolfgang: »Der Künstler als Kunde. Wenn der schöpferische Prozess delegiert wird«, Radiobeitrag in: SWR 2 Essay (30.11.2009). Stand: 10.05.2011, http://www.swr.de/ swr2/programm/sendungen/essay/-/id=659852/nid=659852/ did=5536188/11mg9eq/index.html 124

Vogl, Joseph: »Einleitung«, in: ders.: Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 7–16

Modellierungen ästhetischer Wissensproduktion in Laboratorien der Kunst

Abbildungsverzeichnis Abb. 1, S. 111: Diego Velázquez: Las Meninas. Öl auf Leinwand, 276 x 318 cm, 1656, Museo del Prado, Madrid Abb. 2, S. 115: Renée Green: Import/Export Funk Office. Installation, 1992, Sammlung MOCA, Los Angeles, Geschenk von Wilhelm und Gabi Schürmann © Galerie Christian Nagel, Köln/Berlin Abb. 3, S. 116: Julie Ault, Martin Beck: Installation. Ausstellungsansicht, im Vordergrund: Corita Area, zusammengestellt von Julie Ault, 2006, Secession, Wien, Foto: Werner Kaligofsky Abb. 4, S. 119: Julie Ault, Martin Beck: Installation. Ausstellungsansicht, im Vordergrund: expandable, portable, viewable von Martin Beck, AluminiumröhrenAusstellungssystem (2004–2006), 2006, Secession, Wien, Foto: Werner Kaligofsky

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Ihnen!

mit

sonst

mit

IRRTUMsFORSCHUNG – Sprechen Sie uns, sprechen wir »Woran arbeiten Sie? Wurde Herr Keuner gefragt. Herr Keuner antwortete: Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor.« (Bertolt Brecht)

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»Irrtumsforschung« ist der Titel eines ergebnisoffenen 2 Projekts, das in unterschiedlicher Dichte von Mai 2007 bis Dezember 2009 in einem Projektraum in Berlin stattfand und von dem wir nicht wissen, ob es bereits an seinem Ende angekommen ist.3 Es widmete (oder widmet) sich anhand der Schlüssel- 1. Brecht: Geschichten von Herrn Keuner (1971), S. 13. termini »Irrtum« und »For- 2. Ausführungen zu den Begriffen Ergebnis, Forschung und Experiment folgen weiter unten im vorliegenden Text. schung« der Erforschung 3. Das Projekt Irrtumsforschung wird von der Gesellschaft für künstkünstlerischer Praxen, lerische Forschung Berlin (GfKFB) getragen, die 2006 von Mari Prozesse und Methoden. Brellochs gegründet wurde und mit einem ersten Team 2007 ihre Arbeit im Projektraum des Kunstvereins Flutgraben e.V. in Berlin Unter der Vorgabe, diese in aufnahm. Die GfKFB versteht sich als eine Kommunikations- und Einzel- und Gastprojekten Arbeitsplattform – als Labor. Ihre Arbeit gilt den Modellen, Spielzu ermitteln, benennbar zu feldern, Verwicklungen, Fragen und Fragmenten, die sich aus der Erforschung künstlerischer Praxis ableiten. Sie ist ein Netzwerk, machen und zu vergleichen, fiktionales Testfeld und Diskussionsplateau einer »neuen Gesellarbeitet Irrtumsforschung schaft«. Die GfKFB funktioniert nach dem Prinzip der Open Source. Alle Angaben sind permanent-vorläufig. Das Team, die Projekte, spezifische künstlerische die Abläufe und Texte werden immer wieder den aktuellen, sich Qualitäten heraus und verändernden Rahmenbedingungen angepasst. Die GfKFB ist bewusst keine eingetragene Gesellschaft im Sinne des bürgerbenennt mögliche Implikalichen Rechts. Sie beschäftigt sich mit künstlerischer Forschung tionen, die den Zugriff auf zur Ermittlung visionärer Gesellschaftsbezüge und -entwürfe. Die künstlerische Bearbeitung und (Nicht-)Auswertung des Materials gesellschaftlich relevante zum Projekt erfolgt 2010/2011; eine erste Publikation ist in BearbeiThemen und Felder durch tung und die Webseite under construction (http://www.gfkfb.net). genau diese Methoden und Der GfKFB geht es nicht um Ergebnisse – im Gegenteil.

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Praxen rechtfertigen. Dabei gilt es, das künstlerische Primat sowohl der Praxis gegenüber der Theorie als auch des Prozesses gegenüber dem Ergebnis nicht zu verletzen, also von der Praxis auf die Praxis zu schließen. »Auf dem Weg sein«, »Scheitern« und »in die Irre gehen« stellen zentrale Arbeitsmodi dar.4 »Irrtum« vollzieht sich als Prozess: Aufrichtigkeit und Konsistenz des Handelns lassen bei ein und derselben Person die Feststellung des Irrtums bezüglich einer Sache x erst zu einem bezüglich der Handlung oder Behauptung von x späteren Zeitpunkt zu. Die Behauptung von x bei gleichzeitigem Meinen, dass x falsch sei, heißt nicht »Irrtum«, sondern »Lüge«. Anders ausgedrückt: »Irrtum« ist eine Bezeichnung 1. für eine mit der Überzeugung der Wahrheit verbundene falsche Behauptung und 2. für eine aus der Annahme der Richtigkeit fehlgeleitete Handlung.5 Diese Struktur erinnert an ein Try-and-Error-Verfahren, welches in der Regel als frustrierend und lähmend empfunden wird und lediglich in der (freien) wissenschaftlichen Forschung sowie der freien Kunst Anwendung findet: Annahme, Planung, Test, Scheitern, Feststellung, Annahme, Planung, Test, Scheitern. Allerdings scheint nur die Kunst beziehungsweise die prozessorientierte, ergebnisoffene künstlerische Forschung 6 diesem Prinzip bis in die letzte Konsequenz zu folgen, 128 während wissenschaftliche Forschung am Ende zumeist dennoch einer allgemeingültigen »Wahrheit« verfällt. Eine darüber hinausweisende, radikalisierende Auffassung des Begriffs »Irrtum« besteht darin, den Irrtum nicht als Aspekt der Wahrheit, sondern umgekehrt die Wahrheit als Aspekt des Irrtums zu verstehen: »Welcher Art könnte eine Erkenntnis sein, die nicht mehr auf die Wahrheit einer Öffnung zur Welt bezogen wäre, sondern einzig auf das Leben und sein Umherirren? Und wie wäre ein Subjekt nicht im Verhältnis zur Wahrheit, sondern vom Verhältnis zum Irrtum zu denken?«7 Oder man folgt einer Auf4. Um der komplexen Aufgabe dieses Vorhabens Rechfassung vom Irrtum als innerem nung zu tragen, wurden im Zeitraum 2007–2009 insBeweggrund: »[Die Wahrheit ist] gesamt 129 Kuratoren, Künstler und Wissenschaftler in den Projektraum der GfKFB eingeladen, um mit ihren die Art von Irrtum, ohne welche jeweiligen Projekten und Initiativen vor Ort an der Irreine bestimmte Art von lebendigen tumsforschung zu partizipieren. Die entstandenen Szenarien reichten von Einzel- und Gruppenperformances Wesen nicht leben könnte.«8 Beüber geleitete und freie Workshops, kuratierte und thezieht man diese Vorschläge nicht matische (Gruppen-)Ausstellungen, Lectures, Filmvorführungen, gemeinsames Kochen, Essen und Arbeiten, nur auf einzelne Ha nd lungen Konzerte, Tanz, interdisziplinäre Kooperationen, Interund Vorgä nge, sondern auf ventionen, Veranstaltungsreihen, Interaktionen, Tierbesuche beziehungsweise Tierversuche, internetbasierte komplexe Interpretationssysteme Readings bis zum Reenactment und Sleep In. von Sachverhalten oder Wirklich5. Abgeleitet von dem Eintrag zu »Irrtum« in der Enzyklokeitssegmenten, drängt sich auf, pädie Philosophie und Wissenschaftstheorie II (1984), »dass an der Wurzel dessen, was S. 298.

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wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern die Äußerlichkeit des Zufalls«.9 Und dass »es hinter den Dingen ›etwas ganz anderes‹ gibt: nicht deren geheimes, zeitloses Wesen, sondern das Geheimnis, dass sie gar kein Wesen haben oder dass ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren konstruiert wurde, die ihnen fremd waren«.10 Weder die Kunst noch die Wissenschaft wären so gesehen in der Lage, konsistente Abbildungen oder Aussagen beziehungsweise Wahrheiten zu generieren oder zu ermitteln, die ihre Berechtigung aus mehr bezögen als einer (vorläufig) gelungenen Interpretation. Die Fokussierung auf die Figur des Irrtums ermöglicht der künstlerischen Forschung den Zugang zu künstlerischen Prozessen auf unterschiedlichen Ebenen: Der Irrtum kann Lotse sein, der in das Innere der Prozesse führt und die künstlerische Arbeit aus sich selbst heraus denkbar und verstehbar macht: nicht vom Ergebnis oder vom Werk her, sondern ausgehend von den Irrwegen, den Verwerfungen und den Abwegen. Irren wird damit als ein positiver Arbeitsmodus verstanden, als ein Vorgang der (schnellen) Bewegung. Das »-tum« des Irr-tums verweist dabei auf unser Denken und Handeln als großes, weites Feld, als Irrgarten, als Gebilde oder Gebäude im Abbruch. Außerdem hilft die Vorgabe des Irrtums in transdisziplinären 129 Kollaborationen dabei, den offenen, anti-teleologischen Prozess, die Akzeptanz für Scheitern, Unwägbarkeiten, Verwirrungen und Verirrungen zu stärken und den Humor Der Begriff der »künstlerischen Forschung« oder bei der Arbeit im Projekt zu fördern. 6. »Kunstforschung« kann nur vage bleiben, wenn Differenzen, die durch implizite und der zugrunde liegende Kunstbegriff nicht klar ist. Eine solche Klärung aber sprengt die Möglichkeiexplizite gegenseitige Unterstellungen ten dieses Textes; eine endgültige Klärung widerund Überzeugungen in den Disziplinen spräche zudem unserem offenen Arbeitsansatz. Nur soviel sei knapp angedeutet: Ein Kunstbegriff, gespeist werden, stehen zur spielerischen der sich an einem Kunstsystem orientiert, das den Disposition. Ziele können, müssen aber Kunstmarkt und dem von ihm abhängigen Kunstbetrieb die Definitionsmacht überlässt, kann hier nicht erreicht werden. Kursänderunkeine Verwendung finden. Das Primat der Form, gen, Unterbrechungen, Friktionen und des Werkes und des schöpferischen Genius ist für unsere Sichtweise unbrauchbar, wie Theodor Eruptionen im Irrgarten des gemeinsaW. Adorno sagt: »[…] manches was Kunst war, men Forschens sind erlaubt. Gerade die ist es nicht länger«. Adorno: Ästhetische Theorie interdisziplinäre Differenz intrinsisch (1980), S. 12. Daran anschließend kann eine Arbeitsthese lauten, dass nunmehr im Prozess und aktiver Wahrheitsbegriffe hemmt in in der künstlerischen Praxis die Kunst zu suchen vielen Fällen die Zusammenarbeit. Ist ist und dass das Kunstobjekt, Kunstwerk oder Kunstprodukt ein Derivat der künstlerischen Arbeit der Irrtum selbst jedoch im Vorhinein darstellt, das bisher tendenziell über- beziehungsals wesentliche Arbeitsform und essenweise falsch bewertet wurde. tieller Bestandteil des Projekts ausge- 7. Agamben: »Wahrheit als Irrsal« (2004), S. 8. wiesen, können diese Komplikationen 8. Nietzsche: Sämtliche Werke (1980), S. 506. bereichernd genutzt und fruchtbar 9. Foucault: Schriften in 4 Bänden (2002), S. 172. 10. Ebd., S. 168 f. integriert werden.

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Umgangssprachlich gehen wir davon aus, dass eine Korrespondenz zwischen der behaupteten Wahrheit und dem von ihr bezeichneten Gegenstand besteht, eine Art schlichte Übereinstimmung und direkte Bezogenheit. Unter der Vorgabe sehr einfacher Bedingungen steht dies für (fast) alle fest und es herrscht verblüffende Einigkeit: »Wenn es schneit, dann ist es wahr, dass es schneit«. Sobald wir es aber mit komplexeren Interpretationen von Wirklichkeit und kulturellen Zusammenhängen zu tun haben, scheinen die Vertreter aus Kunst und Wissenschaft der einfachen Übereinstimmung von Gedanke, Erkenntnis, Aussage, Gegenstand und Welt nicht mehr zu vertrauen – es herrscht Skepsis vor. Bei Wissenschaftlern hauptsächlich aufgrund der Erfahrung, dass die Welt in der Analyse leicht zerfällt, zwischen den Fingern zerrinnt, sich unter dem Mikroskop in ihre Partikel zerlegt und auflöst. Künstler tendieren eher zur Skepsis aus »subjektiven« Gründen, da die Welt, die Wirklichkeit und der Gegenstand ihrer Betrachtung, also ihre Erfahrung mit dem Gegenstand und die innere Referenz der Erfahrung, sich im Laufe der Auseinandersetzung immer komplexer aufblähen beziehungsweise übermächtig und unergründlich werden. In der Skepsis scheint man sich zuerst noch sehr gut begegnen zu können, betrachtet man aber die Reaktionen auf die jeweilige disziplinäre Brüchigkeit und Unzulänglichkeit der vorgängigen Wahrheitsbegriffe, ergeben sich Fluchtmechanismen in entgegengesetzter Richtung: Wissenschaftler flüchten mittels ihrer Versuchsanordnungen, Experimente und Settings in die Pragmatik einer Sichtweise, die einer Funktionalisierung sowie einer wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Verwertbarkeit Vorschub leistet. Als berechtigt und notwendig gilt, sich kohärent auf bestehende Systeme und Theorien zu beziehen. Die Forschung »funktioniert«, wenn logische Geschlossenheit, Stringenz und klare Kontextualisierung bereits bestehender Theorien und Ergebnisse gewährleistet sind. Künstler hingegen zeigen die Tendenz, durch noch stärkere Subjektivierung die Flucht nach vorn anzutreten – die eigene Erfahrung wird zur wesentlichen (einzigen) Referenz und die Problematik von Wahrheit, Richtigkeit und Wirklichkeit wird politisch oder performativ interpretiert. Die persönliche und einer eigenen »Logik« folgende Position steht dabei im Kontext ihres Verständnisses von Kunstbegriff, Kunstsystem und Rezeption. Im Dialog miteinander hebeln sich diese Divergenzen gegenseitig aus, zumal in der Kunst die Neigung besteht, jedem Konsens und jeder Diskurspragmatik prinzipiell zu widersprechen, um die Selbst- und Eigenständigkeit der individuellen künstlerischen Position zu untermauern. Selten wird vorab des Dialogs die eigene, aktuelle Position im Feld der Wahrheit und Wirklichkeit geklärt. Noch seltener wird

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beachtet, dass »Wahrheit« nicht nur ein Begriff ist, der die Gegenstände als solche meint, sondern auch Fragen zum richtigen Handeln innerhalb des eigenen Wissens- und Disziplinkontextes und die Kommunikation darüber betrifft. So gehen nicht nur die jeweiligen Wahrheits-, Kunst- und Wissenschaftsbegriffe zwischen Künstlern und Wissenschaftlern wild durcheinander, sondern auch die Kommunikation gerät zwischen ihnen in die Irre. »Die Irre ist nichts, in das der Mensch, wie in eine Grube, zuweilen fällt; er geht immer in die Irre, die als Un-wahrheit, dem Wesen der Wahrheit eignet und untrennbar mit der Offenheit des Daseins verbunden ist.«11 Als eine Arbeitsthese des Projekts Irrtumsforschung gilt daher: Wer nicht(s) wissen will, sollte forschen.12 Die künstlerische Forschung wird

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Abb. 1: Julien Maire: Digit. Gesellschaft für künstlerische Forschung Berlin, 2007. Der Medienkünstler und Performer Julien Maire sitzt an einem Schreibtisch, vor ihm ein Blatt Papier, seine flache Hand gleitet über das DinA4-Format. Unter seiner Hand entstehen Textzeilen, Textfragmente und Zeichen, es wird ein Blatt nach dem anderen beschrieben.

dabei im Unterschied zu der traditionell kunsthistorischen Auffassung von Kunst oder künstlerischer Tätigkeit als originäre künstlerische Praxis verstanden. Von dem vorherrschenden Verständnis, dass künstlerische Forschung wis- 11. Martin Heidegger, paraphrasiert nach Agamben: »Wahrheit als Irrsenschaftliche Forschungsmethoden und deren sal« (2004), S. 13. Ästhetik adaptiert, grenzt sich der Arbeitsansatz 12. Vgl. auch die gegenteilige Aussage bei Florian Dombois: »[…] wer nicht des Projekts bewusst ab. Künstlerische Forwissen will, sollte nicht forschen«. schung kann nicht nur nicht der Erzeugung von Dombois: »Kunst als Forschung« Wahrheitswerten, sondern sollte auch nicht der (Stand: 10.05.2011), S. 23.

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Abb. 2–3: Julien Maire: Digit. Blätter 5_14-11-2007 und 6_14-11-2007

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Erzeugung von konsistenten Wirklichkeiten und Wissensproduktionen dienen – vielmehr trägt sie zu der Zerstörung von Wissen und Wissensstrukturen, dem Auf brechen von festgeschriebenen Wahrheiten und Grenzziehungen bei. Statt um eine Einübung von Wissen geht es ihr um das Verlernen. Das künstlerische Experiment kann ohne Verluste an sich selbst und seiner Überzeugungskraft auf eine intersubjektive Vergleichbarkeit und eine Verifikationsmatrix verzichten. Es wird vielfach vorausgesetzt, dass die Begriffe des »Experiments« und der »Forschung«, die in den Naturwissenschaften zugrunde gelegt werden, die Begriffe von »Experiment« und »Forschung« bestimmen sollten, über die sich auch die künstlerische Forschung oder Kunstforschung legitimieren muss. Jedoch führt »die derzeitige Hegemonie einer bestimmten Definition von Forschung, die für sich beansprucht, maßgeblich für die Wahrheit und Relevanz auch anderer Forschungsbereiche zu sein, [...] zu einer homogenisierenden Wertung, welche letztendlich andere Zugänge der Wissensgenerierung ausschlägt«.13 Es ist zumindest tendenziell ungeklärt, ob erhobene Ansprüche auf die intersubjektive Nachprüf barkeit und Wiederholbarkeit des wissenschaftlichen Experiments nicht einen ähnlichen Wissenschaftsmythos darstellen wie im Fall der Genieforschung oder der zwingend originellen Formfindung in den Künsten. Richard Feynman bemerkt zur Wissenschaft lakonisch: »Die Naturwissenschaft setzt notwendig voraus, dass gleiche Umstände immer auch gleiche Auswirkungen haben. Nun, dem ist nicht so.«14 Die Diskussion um Platzierungen innerhalb des akademischen Kontextes und der damit einhergehenden Mittelvergabe gerät allzu leicht in eine Frontstellung von konservativen und einengenden Positionen. Irrtumsforschung schlägt dagegen vor, für die künstlerische Forschung einen Experimentbegriff der »Kontingenz« einzuführen: Kontingenz ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist. Was also so, wie es ist (war, sein wird) sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände am Horizont möglicher Abwandlungen.15 Ein solcher Forschungsansatz, der nicht nur ergebnisoffen ist, sondern auch in Bezug auf Vorannahme, Versuchsanordnung, Arbeitsthese, Arbeitsverlauf 13. Schlieben, Gau: »Verbindungen zwischen einer forschenden Kunst« (2009), S. 54. und Arbeitsprotokoll flexibel und während 14. Zit. n. Hey, Walters: Das Quantenuniverdes gesamten Verlaufs (und darüber hinaus) sum (1990), S. 33. konsequent wandlungsfähig bleibt, würde, 15. Luhmann: Soziale Systeme (1993), S. 152.

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so die Vermutung, auch den Innovationsverlust in Kooperationen vermindern. In dem auf Intersubjektivität zielenden Ausgleichsprozess institutionalisierter Wissenschaft gehen subjekthafte und damit auch innovative aus der Fähigkeit von Einzelnen erwachsene Erkenntnis, die sich bezüglich der Erkenntnisimpulse, Wahrnehmungen, Denkfiguren und Weltdeutungen deutlich von Durchschnittswissen abheben, leicht verloren. Echte Erkenntnisinnovation richtet sich stets gegen den intersubjektiv abgestimmten Kanon vorhandenen Wissens.16 Es stellt sich zudem – vor allem, wenn wir der Arbeitsmatrix des Irrtums, des Zufalls und der Kontingenz folgen – die Frage nach Wissenswertem oder eben Nicht-Wissenswertem des (gemeinsamen) Experiments. Was wird als Erkenntnisgewinn, oder im Sinne des radikaleren Irrtumsverständnisses, als Befreiung von bisher lästigen Wahrheiten erfahren? Bezöge sich dies auf die Erfahrung der Prozesse, auf Teile, Verläufe, Zustände oder Stillstände der Prozesse, oder auf die Bewegungen, Reaktionen oder gar Zusammenbrüche der Teilnehmer selbst? Und ließen sich jene Entwicklungen befriedigend beschreiben und vermitteln? Oder befindet man sich beim 134 Versuch der Beschreibung nicht bereits im nächsten Experiment, im nächsten offenen Verlauf? Da die Prozesse, welche die Einzelprojekte und Experimente zu dem machen, was sie sind, nur in der Realzeit ihres Ablaufes erlebt oder erfahren werden können – und dies zudem von jedem Teilnehmer in je verschiedener Weise –, kann es kein befriedigendes Nacherleben, keine befriedigende Reproduktion oder Dokumentation geben. Es gibt keine erschöpfende und (er)klärende Nacherzählung, selbst wenn zitiert werden kann. Diese Fragen führen weiter zur Frage nach den Ergebnissen der Forschung: Was ist ein Ergebnis? Was hat sich ergeben? Sicherlich, es »ergibt« sich Vieles: Ereignisse, Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse und Einsichten sowie Verwirrungen, Komplikationen, Irrtümer und die jeweiligen Formate und Verläufe künstlerischer Praxis und Präsentation. Wichtig ist aber, dass im Begriff des »Ergebnisses« mehr mitschwingt und mehr gesagt ist als die Bezeichnung faktischer Resultate.17 Am Synonym 16. Bechmann: Wissenschaft (Stand: 10.05.2011), S. 5. »Resultat« erscheint uns der »Salto« 17. Beispielsweise klingt im »Ergebnis« auch »Gabe« spannend, die Luftrolle, der freie mit: Verben wie abgeben, überreichen, zustande Überschlag, der Sprung und Kopfkommen und überbringen werden angesprochen. sprung von ursprünglich lateinisch 18. Was wiederum an den »Salto mortale« denken lässt, jenen lebensgefährlichen, artistischen Kunstsprung saltus: das Springen, der Sprung.18 (aus gleichbedeutend it. salto mortale, wörtl. der Irrtumsforschung hat letztlich Todessprung).

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keine Ergebnisse im Sinne einer Rechnung oder einer Gleichung zum Ziel und orientiert sich ebenso wenig an einem pragmatischen Forschungsbegriff, der sich den Gesetzen von Funktion, Nutzen und Verwertbarkeit verpflichtet. Künstlerische Forschung erlaubt, die Dinge flüssig, bewegt und veränderlich zu halten. Etymologisch kann »Resultat« (von lateinisch resultare) auch auf das Zurückspringen und den Widerhall bezogen werden. Das kommt unserem Begriff vom »Forschungsergebnis« entgegen: Das »IrrtumsforschungsEcho« wurde zur Grundlage einer Reihe von neuen Projekten, die in offener Reaktion auf das vorherige Jahr der Irrtumsforschung ab 2008 durchgeführt wurden. Und wiederum markieren diese keine Versuche einer Fixierung validierbarer Ergebnisse.19 Essentiell für die Arbeit künstlerischer Praxis und Forschung ist ihre eigene Selbstreflexivität. Sie stellt eine Voraussetzung für das große Interesse an künstlerischer Tätigkeit in anderen Disziplinen und gesellschaftlichen Feldern wie zum Beispiel der Wissenschaft und Wirtschaft dar. Aus diesem objektiv hermetischen und schwer zugänglichen, anscheinend nur subjektiv betretbaren Zirkel entstehen in der Kunst Zugriffe, die so in anderen Disziplinen nicht oder nur schwer möglich sind, dort aber interessante Bereicherungen und Veränderungen, Brüche und Verwerfungen ermöglichen. In ihm 135 liegt tief begründet, warum Kunst nicht falsifizierbar ist, und daraus folgen weitere kunsttypische freie und unfreie Arbeitsmethoden. So können wir sagen, dass einer der großen Vorteile künstlerischer Forschung oder Kunstforschung gerade darin liegt, dass mit ihnen und in ihnen frontal auf das Nicht-Wissen und die Wissenszerstörung zugegangen werden kann. Eine Annäherung an die formalen, bürokratischen und epistemischen Voraussetzungen des Wissenschaftsbetriebs ist dabei eher unproduktiv. Die künstlerische Praxis ermöglicht es, unsere noch immer verhärtete Vorstellung von dem, was Wissen ist und wie damit akademisch umgegangen wird, aufzubrechen und zu überwinden, so dass es zu fruchtbaren gemeinsamen Arbeitskonstellationen kommen kann, auch in inter-, trans- und nondisziplinären Kooperationen, Kollaborationen, Komplizenschaften und Konfrontationen. Wenn daher ohne einen Versuch der Gleichschaltung die künstlerische Forschung in den Kanon der akademisch anzuerkennenden Disziplinen aufgenommen würde, könnten von dieser Disziplin Impulse ausgehen, die einengenden Interessen der akademischen Wissensproduktion aufzubrechen. Dazu wäre es allerdings notwendig, diese Disziplin mit denselben Mitteln und Möglichkeiten auszustatten, die in die Eintragungen zu den Begriffen anderen Bereichen der Forschung selbstver- 19. Vgl. »Ergebnis«, »Resultat« und »Salto« in: ständlich sind. Dies würde ein Begegnen auf Duden (1963).

Mari Brellochs

gleicher Augenhöhe ermöglichen und viele Mythen und Vorurteile, die auch unsere Texte noch durchgeistern, auflösen – und zugleich neue Irrtümer produzieren helfen.

Literatur Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1980 Agamben, Giorgio: »Wahrheit als Irrsal«, in: Kiesow, Rainer Maria / Schmidgen, Henning (Hrsg.): Das Irrsal hilft. Berlin 2004, S. 7–14 Bechmann, Arnim: »Wissenschaft – die Suche nach Wahrheit in paradigmatischen Festungen. Zum Wissenschaftsbegriff« [2004]. Stand: 10.05.2011, http://www.bibliothek.zukunftszentrum.de/020_bb/bb_081.../BB_085.pdf Brecht, Bertolt: Geschichten von Herrn Keuner. Frankfurt am Main 1971

136

Dombois, Florian: »Kunst als Forschung. Ein Versuch, sich selbst eine Anleitung zu geben« [2006]. Stand: 10.05.2011, http:// www.kug.ac.at/fileadmin/media/dschule_k/Dokumente/ KunstAlsForschung.pdf, S. 21–29 Duden. Bd. 7: Eine Ethymologie der deutschen Sprache, Mannheim, Wien, Zürich 1963 Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie II. Mannheim, Wien, Zürich 1984 Foucault, Michel: Schriften in 4 Bänden [Dits et Écrits]. Bd. 2: 1970–1975, Frankfurt am Main 2002 Hey, Tony / Walters, Partick: Das Quantenuniversum. Heidelberg 1990 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt am Main 1993 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 11: Nachgelassene Fragmente April−Juni 1885, München, Berlin, New York 1980 Schlieben, Katharina / Gau, Sønke: »Verbindungen zwischen einer forschenden Kunst und einer Kunst der Forschung«, in: Rey, Anton / Schöbi, Stefan (Hrsg.): subTexte 03, Künstlerische Forschung – Positionen und Perspektiven. Zürich 2009, S. 52–78

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1, S. 131: Julien Maire: Digit. Performance, 2007, Gesellschaft für künstlerische Forschung Berlin, Foto: Julien Maire / Mari Brellochs Abb. 2–3, S. 132: Julien Maire: Digit. Blätter 5_14-11-2007 und 6_14-11-2007, 2007, Gesellschaft für künstlerische Forschung Berlin, Scans: Julien Maire / Mari Brellochs

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Wie

kann

Julian Klein im Gespräch mit Martin Tröndle

künstlerisch

sein?

Forschung

Martin Tröndle: Sie sind Direktor des Instituts für künstlerische Forschung am Radialsystem V in Berlin. Am Exzellenzcluster Languages of Emotion der Freien Universität Berlin haben Sie zudem in der Arbeitsgruppe Ästhetische Modulation affektiver Valenz mitgearbeitet, einem interdisziplinären Forschungsprojekt, das sich mit der Frage beschäftigt, wie negative Emotionen in der Kunst häufig Vergnügen bereiten können. In einer Selbstbeschreibung findet sich folgende Kurzdarstellung: In einer Reihe von psychologischen Experimenten werden wir den Effekt der ›ästhetischen Modulation affektiver Valenz‹ anhand der negativen Emotionen Ekel, Traurigkeit und Ärger empirisch zu untermauern versuchen. Gegenstand der Untersuchung werden so unterschiedliche künstlerische Praktiken wie Fotografie, Film, Theaterperformance und Kunstinstallation sein. Dabei erheben wir behaviorale und physiologische Maße. Neben Fragebögen und peripherphysiologischen Messungen kommen auch neurowissenschaftliche Methoden (fMRT) zum Einsatz.1 Welche Funktion hatten Sie in diesem Zusammenhang, und können Sie das Projekt bitte näher beschreiben? Julian Klein: Diese Arbeitsgruppe ist ein Beispiel für Kooperationen, die von Seiten wissenschaftlicher Diszi- 1. Languages of Emotion: »Ästhetische Modulaplinen angestoßen wurden. Die zunächst tion affektiver Valenz« (Stand: 10.05.2011).

Julian Klein im Gespräch mit Martin Tröndle

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psychologisch motivierte Frage, wie es möglich ist, dass uns auch negative Emotionen faszinieren, befriedigen und erfreuen können, schien sich den Wissenschaftlern besser mithilfe künstlerischer Kompetenzen untersuchen zu lassen. Und so wirkte unser Team des Instituts für künstlerische Forschung von Beginn an bei Konzeption, Umsetzung und Auswertung der Studien mit. Meine Funktion war die des künstlerischen Leiters und Regisseurs. Gleiches gilt auch für die Arbeitsgruppe Rhythmus am selben Cluster, in der wir vor allem mit dem Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Constance Scharff zusammenarbeiten. Dort untersuchen wir die Rolle des Rhythmus als Emotionsträger in den Gesängen von Singvögeln im Vergleich zu unserem menschlichen musikalischen Höreindruck. In beiden Fällen entstand zunächst ein wissenschaftliches Programm, in das künstlerische Fragen und Strategien zwar erst in zweiter Linie einbezogen wurden – was aber natürlich nicht heißt, dass wir diese dann weniger wichtig genommen hätten. In dem Projekt ging es beispielsweise um die Frage, ob, wann und wie wir auch das Gefühl von Ärger genießen können.2 Dazu produzierten wir eine einstündige Theateraufführung, in deren Verlauf ein Schauspieler dem Besucher vorgibt, ein psychologisches Experiment durchzuführen. Eigentliches Ziel war jedoch, den Ärger der Besucher zu provozieren. Als Maß für die Verärgerung wurden immer wieder der Gefühlszustand erfragt und der Blutdruck gemessen. Zusätzlich zu den Theaterbesuchern haben wir als fiktive Agentur per Annonce Probanden zu einer Studie gesucht, die dieselbe Prozedur unter der Behauptung erlebten, dass es sich um eine »normale« psychologische Studie handele. Uns hat interessiert, ob und wie sich das emotionale Erleben der beiden Besuchergruppen unterscheidet. Dieses Experiment zur »Lust am Ärger« stellt ein Beispiel von mehreren Studien der Arbeitsgruppe dar. Wie muss man sich diese Zusammenarbeit vorstellen: Wer stellte das Team zusammen, welche Kompetenzen wurden darin vereint und wer gab den Impuls für solch ein Vorhaben?

2. Julian Klein / a rose is: zynk – Brain Check. Sopiensæle, Berlin 2010. Vgl. auch Klein: »Emotionstheater?« (2010). Vollständige Liste der Mitwirkenden und Mitautoren der Aufführung und der Studie: Julian Klein, Thomas Jacobsen, Valentin Wagner, Alexandra Deutschmann, Arndt Schwering-Sohnrey, Claus Erbskorn, Natalie Schramm, Henrike Beran, Barbara Gstaltmayr, Johannes Bohn, Mira Shah, Nele Lensing, Daniela Schönle, Julian Hanich, Mareike Vennen, Philipp Eckart, Winfried Menninghaus.

Die beiden Initiatoren waren ein Natur- und ein Geisteswissenschaftler: der Psychologe Thomas Jacobsen und der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus. Die beiden baten zunächst mich, ihrer geplanten Arbeitsgruppe beizutreten. Wir haben

Wie kann Forschung künstlerisch sein?

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Abb. 1–5: Julian Klein / a rose is: zynk – Brain Check. Sophiensæle, Berlin 2010. Eine Produktion im Auftrag des Instituts für künstlerische Forschung Berlin und der Arbeitsgruppe Ästhetische Modulation affektiver Valenz des Exzellenzclusters Languages of Emotion der Freien Universität Berlin.

dann zu dritt das weitere Vorgehen geplant und unsere Forschungsfragen konkretisiert. Wir haben die an der Freien Universität vorgesehenen Stellen für das Projekt mit wissenschaftlichen Mitarbeitern und die nötigen künstlerischen Produktionen mit Mitwirkenden unseres Instituts besetzt. Es entstand ein Team aus Psychologen, Literatur- und Kunstwissenschaftlern, bildenden und performativen Künstlern sowie der künstlerischen Produktionsleitung.

Julian Klein im Gespräch mit Martin Tröndle

Zu welchen Prozessen führten diese unterschiedlichen disziplinären Sozialisierungen, theoretischen Orientierungen und methodischen Gewohnheiten in der Zusammenarbeit?

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Anders als in unseren anderen Projekten gingen wir in diesem Fall ungewöhnlich arbeitsteilig vor.3 Dazu gab es immer wieder konzeptionelle und planerische Besprechungen in großer Runde. Für die vorbereitende Recherche und experimentelle Konzeption waren aber die Psychologen und für die künstlerischen Recherchen und Entwürfe das künstlerische Team maßgeblich verantwortlich. In der Phase der Umsetzung lag die Leitung dann bei uns, um die Auswertung kümmerten sich die Psychologen. Die Veröffentlichung der künstlerischen Ergebnisse in Form einer Aufführung im Radialsystem lief unter unserer Regie, und die noch ausstehende abschließende wissenschaftliche Publikation wird maßgeblich von den Psychologen betreut. Die Geisteswissenschaftler im Team waren jeweils beratend und hinterfragend sowie als ausführende Performer mit dabei. Als Einziger der Arbeitsgruppe war ich an allen Teilen des Projekts gleichermaßen beteiligt, sowohl an der wissenschaftlichen Konzeption und Nachbereitung als auch an der künstlerischen Gestaltung und Umsetzung. Wie wurden Forschungsfragen, aber auch das Setting entwickelt, mit dem diese Fragen untersucht werden sollten? Welche Rolle hatten die künstlerischen, geistes- und naturwissenschaftlichen Perspektiven? Hat sich während dieser Zusammenarbeit eine gemeinsame Forschungskultur gebildet?

Nein, für solche Fragen ist dieses Projekt sicher das falsche Beispiel. Hier ging es nicht wirklich um künstlerische Forschung, sondern um wissenschaftliche Forschungsfragen, die lediglich mithilfe künstlerischer Methoden und Kompetenzen experimentell untersucht worden sind. Dabei ist aber im Groben jeder Mitwirkende in der eigenen Disziplin verblieben, ohne dass es zu einer gemeinsamen Perspektive gekommen ist – und das ist in anderen Projekten durchaus von Nachteil. In diesem Fall aber war das kein größeres Problem, weil einerseits das Forschungsprogramm klar genug vorformuliert war und ich durch meine Scharnierposition andererseits auch oft vermitteln konnte. Wir als Künstler haben den Psychologen im Wesentlichen nur geholfen, ihre Frage zu beantworten, ob und wie es möglich ist, Lust am eigenen Ärger zu empfinden. Die Untersuchung beziehungsweise die Ergebnisse wären ohne diesen Einsatz künstlerischer 3. Zu weiteren Projekten siehe: http://julianklein.de. (Stand: 10.05.2011). Methoden nicht in gleicher Weise

Wie kann Forschung künstlerisch sein?

möglich gewesen. Das gesamte Projekt war dennoch nur in der Phase seiner Experimente genuin künstlerisch. Ganz anders hingegen verlief die Zusammenarbeit mit dem Team aus Verhaltensbiologen um Constance Scharff – hier haben wir nicht nur von Beginn an die Forschungsfragen gemeinsam entwickelt, so dass diese gleichermaßen musikalisch wie biologisch motiviert waren; wir mussten daraufhin auch zwangsläufig spezifische Methoden konzipieren und entwickeln, um diese Fragen untersuchen zu können. Hier hat sich daraufhin tatsächlich so etwas wie ein eigener Stil entwickelt, wenn ich auch nicht gleich von einer »Kultur« sprechen möchte. Was war Ihre Rolle in dem Projekt? Sie selbst sind Wissenschaftler und Künstler, haben sowohl Komposition als auch Mathematik und Physik studiert. Ist diese Doppelkompetenz, nämlich in einem künstlerischen und einem wissenschaftlichen Fach ausgebildet zu sein, gewinnbringend oder gar notwendig, um solche Projekte zu leiten? In jeder interdisziplinären Zusammenarbeit ist es hilfreich, wenn nicht sogar notwendig, dass man sich ein Stück weit in die anderen Fächer hineindenkt oder ernsthaft einarbeitet. Andernfalls tendiert eine solche Kooperation meiner Erfahrung nach dazu, auf der Ebene eines dialogischen Informationsaustauschs zu bleiben – was an sich oft schon produktiv ist, aber eher weniger zu wirklich neuen Methoden oder gar Erkenntnissen führt. Man muss vielleicht nicht gleich ein ganzes Studium investieren, auch wenn es sich manchmal so anfühlt: Unsere Arbeit an dem akustischen EEG-Gehirnmodell Brain study lief beispielsweise über insgesamt fünf Jahre, unsere Zusammenarbeit mit Taxonomen am Museum für Naturkunde Berlin dauerte von Beginn bis Ende des Projekts vier Jahre, und seit 2008 betreiben wir nun drei Jahre lang hauptsächlich künstlerische Emotionsforschung, und dies nicht nur zusammen mit dem Cluster Languages of Emotion. Da ist es gar nicht vermeidbar, dass man sich eine gewisse Expertise auf den beteiligten Gebieten aneignet, auch wenn am Ende keine Abschlussprüfung ansteht. Die Intensität dieser Einarbeitung unterscheidet sich aber phasenweise gar nicht so sehr von einem Zweit- oder Drittstudium und dem Besuch von Lehrveranstaltungen. Darüber hinaus hilft mir meine mathematische Ausbildung auch oft dabei, mir die Fachbegriffe der Naturwissenschaftler zu erschließen. Die langen Laufzeiten solcher Projekte haben meiner Erfahrung nach sehr mit der Komplexität der Forschungsfragen und der interdisziplinären Teamzusammenstellung zu tun. Insbesondere Planung, Durchführung

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Julian Klein im Gespräch mit Martin Tröndle

und Auswertung erfordern sehr unterschiedliche Kompetenzen, gegen deren Fliehkräfte man ständig operieren muss. Wie verläuft die Auswertung der Feldforschungsphase bei Ihnen: Wer bearbeitet die erhobenen Daten, wertet sie aus, diskutiert sie? Wie werden sie perspektiviert, und kann die transdisziplinäre Perspektive beibehalten werden? Wir werten die gewonnenen Daten dreifach aus, zunächst einmal statistisch mit experimentalpsychologischen Methoden und ebenso qualitativ mit Konzepten der Theater- und Performativitätstheorie. Diese Ergebnisse diskutieren wir gemeinsam in der Arbeitsgruppe und auch in öffentlichen Vorträgen. Sie werden dann publiziert in disziplinären Formaten wie dem Artikel »Emotionstheater? Anmerkungen zum Spielgefühl«4 oder einer naturwissenschaftlichen Publikation, die demnächst in einem psychologischen Journal erscheinen soll. Als dritte Auswertung haben wir die Produktion einer Aufführung geplant, die das untersuchte Phänomen erfahrbar macht und gleichzeitig reflektiert.

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Ich möchte nochmals auf den Begriff der »künstlerischen Forschung« zurückkommen. Sie schreiben in dem Aufsatz »Was ist künstlerische Forschung?«, dass Kunst ein Modus von Wahrnehmung sei, daher müsse auch künstlerische Forschung der Modus eines Vorgangs sein.5 Können Sie präzisieren, wie dieser Modus und dieses Konzept der Wahrnehmung sich in ihrem Projekt auswirkten und wie sie dieses Potenzial der sinnlichen Erkenntnis wirksam machten? Welche Prozesse löste der künstlerische Anteil im Forschungsprojekt aus? Kam es zu »anderen« Prozessen der Wissenserzeugung?

Zunächst würde ich unterscheiden zwischen ästhetischer und künstlerischer Forschung. Die rein ästhetische Forschung nutzt das Erleben der eigenen Wahrnehmung für ihr Erkenntnisinteresse. In diesem Fall ist es die Beobachtung an uns selbst, dass wir negative Emotionen und Empfindungen bisweilen als positiv erleben. Die Erkenntnis, dass ein solch vermeintlich paradoxes Erleben möglich und sogar alltäglich ist, können wir rein deskriptiv und explizit durch Messen, Befragen und Beobachten gewinnen, aber auch durch das eigene Erleben qualitativ validieren: Nur wenn wir es selbst bereits erlebt haben, können wir wissen, wie es sich anfühlt, in trauriger Musik zu baden, von ekelhaften Gerüchen angezogen zu sein, das Schwindelgefühl, die Schwerelosigkeit oder Schmerzen zu genießen, oder uns allzu gerne erschrecken zu lassen. Künstlerische Forschung stützt sich darüber hinaus auf 4. Klein: »Emotionstheater?« (2010). unsere künstlerische Erfahrung, zum Beispiel 5. Vgl. ders.: »Was ist künstlerische auf das Gefühl, sich selbst in einer Situation wie Forschung?« (2010).

Wie kann Forschung künstlerisch sein?

von außen wahrzunehmen, oder das plötzliche Bewusstsein, sich in einem bestimmten Rahmen zu befinden. Zwischen diesen Erlebensmodi besteht durchaus ein kontinuierlicher Übergang, den ich in dem Band per.SPICE! Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen genauer beschrieben habe. 6 Im Fall des Theaterexperiments zur Lust am Ärger war der Anteil des Künstlerischen lediglich in den Experimenten selbst maßgeblich, durch die wir uns als Arbeitsgruppe einer Universität in die Rolle einer Künstlergruppe auf Theater- und Kunstfestivals begeben haben. Dafür hatten wir uns eigens ein Pseudonym zugelegt: zynk. In diesem Rahmen spielte beispielsweise ein »echter« Psychologe einen Performer der fiktiven und gleichzeitig realen Theatergruppe zynk, der den wissenschaftlichen Mitarbeiter einer fiktiven psychologischen Forschungsagentur spielt. Gleichzeitig hatte er als Bedingung für unser »echtes« Doppelblind-Experiment für die korrekte Vorbereitung und Anonymisierung der Besucher gegenüber den anderen Performern zu sorgen. Dieses absichtsvolle Betreten von spezifischen und miteinander oszillierenden Rahmungen, in denen jeweils eigene Regeln gelten, ist ein Merkmal des »künstlerischen Modus«. Die Wissenschaftler mussten daher genauso wie die Schauspieler mit mir als Regisseur ihre Rollen entwickeln und proben, obwohl diese Rollen mit ihrer tatsächlichen Funktion nahezu identisch waren – sie mussten sie aber glaubhaft als Schauspieler ausführen, was den entsprechenden Aufwand an Vorbereitung und Probenarbeit erforderte. Die Erkenntnisgewinnung fiel in diesem Fall, anders als ich es sonst gewohnt bin, nicht mit der künstlerischen Phase zusammen. Auf die Frage der Rahmung gehen noch weitere Beiträge in diesem Band ein,7 sie ist neben dem Prozessualen sicher ein Signum dessen, was derzeit unter dem Begriff diskutiert wird. Weiter interessiert mich, dass Sie künstlerisches Wissen als »sinnlich« und »körperlich« bezeichnen und den Begriff embodied knowledge benutzen. Wie wird dieses Wissen in Ihrem Projekt wirksam, und wie wurde es erzeugt? 8 Ich möchte lieber davon sprechen, dass hier Erkenntnis in Form von künstlerischer Erfahrung induziert wurde, nämlich ders.: »Zur Dynamik bewegvor allem auf Seiten der Gäste unseres Theaterex- 6. Vgl. ter Körper« (2009). periments. Das jedenfalls entnehme ich den Befra- 7. Vgl. beispielsweise den Beitrag gungen, die wir im Anschluss durchgeführt haben. von Karen van den Berg, Sibylle Omlin und Martin Tröndle in Einige der Theaterbesucher berichteten uns beidiesem Band. spielsweise, dass sie sich zwar bewusst waren, eine 8. Vgl. Klein: »Was ist künstlerische Inszenierung zu besuchen, sich aber trotzdem – und Forschung?« (2010).

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Julian Klein im Gespräch mit Martin Tröndle

ich möchte behaupten: vielleicht gerade deswegen – vollkommen auf die Situation einlassen konnten, der sie dort ausgesetzt waren. Sie haben sich selbst in der Rolle einer Testperson erlebt, die unter Druck gesetzt und permanent an dem Abrufen ihrer Leistung gehindert wird, und dieses Erlebnis als sehr positiv und ihre Erfahrung als erkenntnisreich beschrieben. Und just diese Erfahrung innerhalb des Rahmens eines Spiels ist letztendlich eine künstlerische Form der Erkenntnis. Es besteht ein Unterschied darin, ob ich weiß, dass Menschen in derartigen Situationen in bestimmter Weise reagieren oder bestimmte Erlebnisweisen berichten, oder ob ich sinnlich erfahren habe, wie es sich anfühlt, wenn ich mich in einer solchen Situation befinde. Solche Arten von Erfahrungen kann mir niemand vermitteln oder abnehmen, ich kann sie jeweils nur selbst körperlich, das heißt unter Einsatz meiner und durch meine Körperlichkeit erleben und erfahren – das ist mit dem Begriff embodied knowledge gemeint. Ein Wissen, das sich in diesem Sinne nur erfahren lässt, benötigt auch eigene Formen der Erforschung, des Diskurses und der Publikation – eben künstlerische. Hierin liegt das zusätzliche Potenzial, wenn Forschung künstlerisch wird. 146

Literatur Klein, Julian: »Zur Dynamik bewegter Körper. Die Grundlage der ästhetischen Relativitätstheorie«, in: ders. (Hrsg.): per.SPICE! Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen. Berlin 2009, S. 104–134 Ders.: »Was ist künstlerische Forschung?«, in: Gegenworte, Heft 23 (2010), S. 24–28 Ders.: »Emotionstheater? Anmerkungen zum Spielgefühl«, in: Forum Modernes Theater, Bd. 25, Heft 1 (2010), S. 77–91 Languages of Emotion: »Ästhetische Modulation affektiver Valenz. Die Lust am Ekelhaften, Traurigen und Ärgerlichen in der ästhetischen Erfahrung«. Stand: 10.05.2011, http://www. languages-of-emotion.de/de/aesthetische-modulation.html

Wie kann Forschung künstlerisch sein?

Abbildungsverzeichnis Abb. 1–5, S. 141: Julian Klein / a rose is: zynk – Brain Check. Filmstills, Gäste: J.B. / U.B. / T.L. / H.B., Herr Behle: Arndt Schwering-Sohnrey / Claus Erbskorn; Kamera: B. Derksen / H. Meyer, Konzept, Regie, künstlerische Leitung: Julian Klein, 2010, Sophiensæle, Berlin

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Die

Kunst

der

2 scheitern

Theorieproduktion / eine

Theorie

der

Kunstproduktion

Maren Lehmann

Die

der

Kunst Theorie Der folgende Beitrag geht von der Anunter dem Meer,1 über den Wolken 2 nahme aus, dass es sich bei Theorien (Weiter oben wäre eine Brücke gewesen.3) immer und ausnahmslos um Formen von Artistic Research handelt, weil Theorien nichts anderes sind als Suchbewegungen, die sich unwahrscheinlicher Perspektiven bedienen. Ihre Artistik (und ihre Kunst) liegt im Verzicht auf stabile, sichere Positionen zugunsten einer tentativen, explorativen Verknüpfung instabiler, unsicherer Ereignisse; der Preis für diesen Verzicht ist eine für jeden auf Positionalität und Sicherheit kaprizierten Beobachter unverständliche, im Wortsinne habituelle Nervosität. Es ist diese Nervosität, die durch die Unterscheidung grau | grün bezeichnet wird, dem »Code« theoretischer Forschung.4 Im Rahmen dieses Codes steht der Grauwert (das Dunkle, Düstere) für die Sinnlosigkeit der Festlegung auf eine Position, die nicht stabil ist, also für die konstitutive Unsicherheit der Theorie beziehungsweise die Unentscheidbarkeit der Frage, ob ihre basalen Festlegungen tragfähig sind oder nicht. Der Grünwert dagegen (das Helle, Heitere) steht für die vielversprechende, daher reizvolle Variabilität der Möglichkeiten, die in eben diesem 1. Jean Paul: »Des Feldpredigers Schmelzle Reise« (1975), S. 39, Anm. 107. Ungewissen liegen. Theorie sucht nach 2. Luhmann: Soziale Systeme (1984), S. 13. diesen Möglichkeiten, aber sie hält sie nicht fest, und sie misstraut ihnen im- 3. Klee: »Schöpferische Konfession« (1987), S. 61. mer. Sie findet – und erst das macht 4. Vgl. Hüser: »Frauenforschung« (1996), S. 250. 5. Von der Aufgabe des Theoretikers, sich laufend ihren besonderen Reiz aus – vor allem »ab[zu]stauben«, spricht Niklas Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften (1997), S. 27. »Staub«:5 brüchige Architekturen. Ihr

Maren Lehmann

Raum ist die Stadt, also das Nervöse, 6 ihre Zeit der Morgen,7 also das Unbestimmte, oder der Anfang (»Aller Anfang ist leicht« 8). Ihr Interesse gilt dem Grauen, der Unentscheidbarkeit jeder positionalen Frage, weil nur diese Unentscheidbarkeit Fluchtchancen ins Grüne gewährt. Daraus ergeben sich einerseits bestimmte Konsequenzen für die Zuordnung von Theorien zu wissenschaftlichen Disziplinen. Denn Theorien besiedeln die Grenzen der Disziplinen und treffen sich dort, im Niemandsland dieser Grenzen, mit anderen nichtoder undisziplinierten Beobachtern wie etwa der Kunst, aber zum Beispiel auch der Religion. Von jenen Beobachtern lassen sie sich dann unter Umständen weit weniger einfach unterscheiden als von den Disziplinen, denen sie wissenschaftlich zugewiesen werden. Und es ergeben sich andererseits Konsequenzen für die Ausdrucksoder Beschreibungsformen der Theorie. Denn als Suchbewegung in brüchigen Architekturen wird Theorie zwar scharf unterscheiden, zugleich aber der Wahrnehmung stets den gleichen Rang wie der Reflexion einräumen müssen; in dieser Hinsicht ist sie eine Form der Beobachtung von Wahrnehmung im Medium der Wahrnehmung, und sie ist der Kunst darin dezidiert verwandt, dass sie der Reflexion (dem Verstand, der Vernunft sowie dem Wissen) eben 152 gerade keinen höheren Rang einräumen kann als dem Wahrnehmen und der Sinnlichkeit. Das ist nichts anderes als ein Ausdruck ihrer Präferenz für Instabilität.9 Im Ergebnis wird sie stets zwischen Wahrnehmung und Reflexion oszillieren; insofern ist sie unruhiger und nervöser als jede andere Beobachtungsform. Ihre Nervosität ist nichts anderes als eine spezifische Sensibilität, die sich in ihren eigenen Beschreibungen dieser Suchbewegungen niederschlagen und wiederfinden lassen müsste: als Beschreibung der Oszillation von Wahrnehmung und Reflexion, als Beobachtung der »Kommunikation über Wahrnehmung«10 und als Kommunikation über diese Beobachtung. Um der Oszillation zwischen Wahrnehmung und Reflexion beziehungsweise zwischen Wahrnehmung und Beobachtung kommunikativ Herr werden zu können, ist Theorie – und darin unterscheidet sie sich von der Kunst – verwiesen auf eine einzige Ausdrucksform: das Schreiben, die 6. Vgl. Simmel: »Die Großstädte und das GeistesSchrift. Die Kunst der Theorie kann leben« (1995). demnach nur darin liegen, im Medium 7. Vgl. ebenfalls für die Stadt (die »Grauzonenlandschaft«) Grünbein: Grauzone morgens (1988). der Schrift (auf Papier) jene Nervosität 8. Luhmann: Soziale Systeme (1984), S. 184. und jene Unruhe zu bewahren, die er9. Vgl. ders.: Die Kunst der Gesellschaft (1995), forderlich ist, um die Unterscheidung S. 13. von Wahrnehmung und Beobachtung 10. Vgl. Baecker: »Die Adresse der Kunst« (1996), nicht zur Entscheidung zu machen, oder S. 96 ff.

Grau | Grün – Die Kunst der Theorie

anders gesagt: um die Unbestimmtheit, die sich aus der Oszillation dieser beiden Seiten ergibt, zwar wieder und wieder zu bestimmen, aber durch diese Bestimmung dennoch nichts als die Unbestimmtheit zu pflegen (die Leichtigkeit ginge sonst verloren). Gelänge dies, so die These, gelänge also die Bestimmung des Unbestimmten um der Unbestimmtheit willen, dann läge genau darin auch die Kunst der Theorie. Das Medium dieser Kunst ist, wie erwähnt, die Schrift. Die Farbe dieser Kunst – und also: dieser Schrift – ist die Farbe des Unbestimmten, des Nebels, des Staubs: die »Aschfarbe« Grau.11 Die Form dieser Kunst also ist der Variantenreichtum der Schrift, die flüchtige Farbigkeit des Grau. Die Vermutung hinter den folgenden Überlegungen zu Farbe und Architektur der Theorie ist, dass sich diese Schrift (die Kunst der Theorie) in einer spezifischen Diagrammatik von Beobachtung und Wahrnehmung (grau | grün) zeigt, und zwar nicht nur und womöglich nicht einmal in erster Linie in den gedruckten Texten der Theorie, sondern auch und vielleicht sogar vor allem in deren mitlaufenden Skizzen, Notizen, Kritzeleien, Bebilderungen und so weiter: in ihren »Sudeleien« (Georg Christoph Lichtenberg),12 in ihrem »Gelaber«.13 Die Vermutung ist darüber hinaus, dass sich diese »Sudeleien« in Paratexten14 des Gedruckten wiederfinden 153 wie etwa dem »Noten-Souterrain« der Anmerkungen unter einer »durch das ganze Buch streichende[n] Teilungslinie«,15 dem »Geflecht von Querverweisen«,16 Paragrafen und Glossen, Kapiteln und »Über«-Schriften, allen nur denkbaren figurativen Notizen und Zeichnungen,17 einer auf Notationen zurückgreifenden Poesie der Mathematik oder, damit nah verwandt, einer Poesie der Interpunktion, des sich selbst unterbrechenden Textes, der eine komplexe »Grammatik zweiten Grades«18 ermöglicht. Wir werden diese Frage hier unter dem Stichwort der Architektur diskutieren und im Hin- 11. Leon Battista Alberti, zit. n. Gage: Kulturgeschichte der Farbe (1993), S. 117; vgl. ebd., S. 117 ff. tergrund vermuten, dass Paratexte 12. Vgl. dazu Campe: »Vorgreifen und Zurückgreiein Versuch sind, eine Verstädterung fen« (2010). der Theorie zu erreichen, weil sich 13. Vgl. Goetz: Loslabern (2009). auf diese Weise Schrift und Kalkül 14. Vgl. Stanitzek: »Texte, Paratexte, in Medien« (2004). zu einer spezifisch nervösen Beweg15. Jean Paul: »Des Feldpredigers Schmelzle Reise« lichkeit verknüpfen lassen. Die Kunst (1975), S. 10. der Theorie – das ist ihre Form, mit 16. Kammer: »Das Werk als Entwurf« (2010), S. 32 dem Augenblick auszukommen und (am Beispiel von Arthur Schopenhauer). ihn, diese vollkommene Askese, als 17. Vgl. Lehmann: »Soziologie als ›Unverständliche Wissenschaft‹« (2011); dies.: »Draw a distinction!« Möglichkeit vor Augen zu stellen; es (2011) sowie Krauthausen, Epple: »Zur Notation ist ihre Form zu schreiben. topologischer Objekte« (2010). 18. Schlaffer: Das entfesselte Wort (2007), S. 19.

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Farben Die Differenz von Kunst und Theorie in einer spezifischen Farbenlehre zu sehen, bietet sich an, seit die Ausdifferenzierung der Kunst selbst als Differenz von disegno und colore unter dem Namen Theorie und in Form der Schrift reflektiert wird; sicher nicht zufällig fällt das Auftreten dieser Reflexion mit der Erfindung des Buchdrucks zeitlich genau zusammen.19 Die Beobachter schwanken über Jahrhunderte zwischen diesen beiden Möglichkeiten wie zwischen Verstand und Gefühl, und immer wieder taucht dabei die Möglichkeit auf, die Abstraktion der Linie ebenso als Form einer Unterscheidung zu verstehen wie die Einheit aller Farben, welche wiederum als eine Unterscheidungstheorie gelehrt wird, die sich in Begriffe der Entsprechungen und Komplemente kleidet. Die vollkommen abstrakte Linie begegnet der perfekten, alle Farben enthaltenen Farbe in nichts anderem als dem Grau. Grau ist die in Nüchternheit auftretende Möglichkeit sowohl des Gefühls – dafür steht die Farbe – als auch des Neuanfangs – dafür steht die Linie. Das kann auch fade werden. Johann Wolfgang von Goethe schreibt daher über »die Deutschen«, die »nichts Positives anerkenn[en], und in steter Verwandlung begriffen [sind], ohne jedoch zum Schmet154 terling zu werden«: »Jeder, der sich fühlt, fängt von vorn an; und wer hätte nicht das Recht, sich zu fühlen?«, ergänzt aber – ganz der Diplomat, der er immer war – sofort: »Verzeihen Sie mir, daß ich so grau sehe; ich thue es, um nicht schwarz zu sehen; ja manchmal erscheint mir dieses Gemisch farbig und bunt«. 20 Grau sehen, um nicht schwarz sehen zu müssen – und dabei womöglich, wieder Goethe, schwarz gehen, um grau sehen zu können (für sich selbst ist jeder blind): »Gebildete Menschen haben einige Abneigung vor Farben [...] aus Unsicherheit des Geschmacks, die sich gern in das völlige Nichts flüchtet. Die Frauen gehen nunmehr fast durchgängig weiß und die Männer 19. Vgl. die Auszüge aus Albertis »Über die Malerei« in Gage: Kulturgeschichte der schwarz.«21 Dabei erinnert weiß an die Farbe (1993), S. 117 ff. Möglichkeit der Varianz (es steht, wenn 20. Goethe: Brief (1835), S. 38. Den Hinweis man Wilhelm Müller glauben darf, für das verdanke ich Hüser: »Frauenforschung« (1996), S. 251, Anm. 37. so »liebe« wie »böse« Grün 22) und schwarz 21. Goethe: »Zur Farbenlehre« (1885), S. 177, an die Möglichkeit »republikanische[r] Pkt. 841. Gleichheit«23 (und, wieder mit Müller, für 22. Müller: »Die liebe Farbe« sowie »Die böse Farbe« (1994), S. 58 f. das Vergessensein: denn das »Blümlein 23. Goethe: »Zur Farbenlehre« (1885), S. 177, Vergißmein« ist »schwarz, schwarz«24). Pkt. 841. Die »Poesie der Indifferenz« (Stephen 24. Müller: »Das Blümlein Vergißmein« (1994), Holmes25) aber – und das ist nichts anS. 60. deres als die Poesie des offenen Anfangs 25. Holmes: »Die Poesie der Indifferenz« (1987).

Grau | Grün – Die Kunst der Theorie

und der Unbestimmtheit der Zukunft, also die Poesie des flüchtigen Ereignisses und der brüchigen Architektur – ist weder weiß noch schwarz, sondern blass, bleich, grau. Deshalb entflieht die Theorie als an Beweglichkeit interessierter Beobachter der scharfen Alternative und der festlegenden Position (das Grün, könnte man sagen, jagt, das Grau flieht 26); beides macht sie unruhig, und sie sucht daher so entschieden wie möglich die Unentscheidbarkeit – zugunsten der Möglichkeit von Varianz und Gleichheit. »Vier Hauptfarben«, notiert Jean Paul völlig unberührt von den Farbenlehren seiner Zeit und ganz konzentriert auf die Schriftform der Kunst, kennzeichneten die griechische Dichtung: »Die erste ist ihre Plastik oder Objektivität«, »die zweite [...] das Ideale oder das Schöne«, »heitere Ruhe ist die dritte Farbe«, und »die vierte Hauptfarbe [...] ist sittliche Grazie«.27 Alle diese Farben seien verloren. Die erste Farbe sei verloren wegen der nicht wiederbringlichen Inzidenz von Gelegenheit und Sinnlichkeit, die sich mit dem Gegenstand »selbstvergessen« »verwechselt und vermischt«, ihn aber nie »verschlingt und nur sich« – als ein unversehrt exklusives Anderes – »zeigt« 28 und damit überhaupt niemals mehr im engeren Sinne »objektiv«, nämlich: Objekt ihrer selbst (gelegentlich und sinnlich eins mit ihrem Objekt) werden kann. 29 Die zweite Farbe sei verloren 155 wegen der nicht wiederbringlichen Verwobenheit von »Ahnen und Götter[n]« in »ein glänzendes Gewebe«, die eine »gemäßigte[...] Zone aller Verhältnisse« eingerichtet und es erspart hatte, »das Beschriebene wieder zu beschreiben und 26. Vgl. für die Jagd im Grünen: Müller: »Die liebe Farbe« (1994), S. 58 (»Mein Schatz hat’s also das Schöne zu verschönern« und Grün so gern / ... / Mein Schatz hat’s Jagen so dabei dem Allgemeinen zu misstrauen gern«); für die Flucht im Fluge: Lehmann: »Vorwort« (2011), S. 7. und dem Zufälligen anheimzufallen. 30 27. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (1974), S. 71, Die dritte Farbe sei verloren wegen der 74, 77 und 79, §§ 17–20. nicht zu heilenden Ersetzung der Ge28. Und welches sich nach Jean Paul als ein »Nichtgenwart durch die Zukunft, des »far Ich« »an[schwärzt] und [...] ein[schwärzt]«, ebd. niente der Ewigkeit« durch die »ewige 29. Vgl. ebd., S. 72 f. Jagd« – durch eine »Unruhe« also, eine 30. Ebd., S. 75. In der Annahme, die griechischen Statuen hätten »die Farbenzier verschmähen« »Qual des Strebens«, der allenfalls und »sich nur mit der Farbe ihres Stoffs bekleinoch eine »trübe Ruhe« möglich ist, den« können (ebd.), lag Jean Paul allerdings falsch. Vgl. seine Bemerkung: »Das Schöne [...] die sich in ihren lichtesten Momenten verknüpfte alle [...] – Der Mensch war inniger in nach der Ruhe der Griechen wie nach den Dichter eingewebt als dieser in jenen [...]. Die Dichtkunst war nicht gefesselt in die Mauern einer »Reliquie des verlornen göttlieiner Hauptstadt eingesargt, sondern schwebte chen Ebenbildes« sehnt. 31 Die vierte fliegend über ganz Griechenland und verband durch das Sprechen aller griechischen MundFarbe schließlich sei verloren wie das arten alle Ohren zu einem Herzen [...].« Ebd., Paradies; Sittlichkeit wird zu einem S. 69. Entscheidungsproblem und kann zwar 31. Ebd., S. 78 f. Jean Paul verweist hier auf Blaise noch in verstandesmäßiger, aber nicht Pascal und Friedrich Schlegel.

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mehr in traumwandlerischer Sicherheit erreicht werden, 32 und so inszeniert sich die Poesie, die noch bleibt, auf »besudelten Bühnen«. 33 Was bleibt, ist in der Tat »graue Theorie«; denn die entwirft das verlorene arkadische Paradies durch »Papierarbeit«,34 durch Beschreiben des Beschriebenen, durch »Sudeln« und »Labern« auf nicht-weißen Blättern, gekleidet in verwaschenes Schwarz. Denn alle diese Verluste und Verlorenheiten hält die Theorie in Form ihrer Differenzen fest, ohne die Seiten dieser Differenzen noch zu Alternativen stabilisieren zu können. Sie gibt das Schwarz-Weiß auf und rettet dadurch das Verlorene ins Unentscheidbare; sie sieht – wir haben Goethe bereits mit diesem luziden Hinweis zitiert – »grau, um nicht schwarz sehen zu müssen«. Jean Paul ergänzt, lakonisch wie immer, man habe ohnehin nichts als die Rettungsinsel der Unterscheidung: Es ist »eigentlich [...] schon unnütz«, aber doch immerhin möglich, »die ewig wechselnden Farbenspiele« der verlorenen Welten, »d.h. ein großes, vielgegliedertes, ewig anderes blühendes Leben [...] gleichsam am Kreuze zweier Hölzer festzuheften«: »plastische oder romantische Poesie« einerseits, »objektive und subjektive [Poesie]« andererseits; oder noch deutlicher: »gerade und [...] krumme Linien« einerseits, Simultaneität und Sukzessivität andererseits.35 »Aus dieser atomistischen Dürre« sei tatsächlich nichts, und eben deshalb sei aus ihr doch alles »für das dynamische Leben zu 156 gewinnen«.36 Niklas Luhmann nennt dieses Kreuz: »Anschauung«.37 Man kann sein Argument mit Friedrich Schleiermacher stützen, der mit seiner Formulierung der »Anschauung des Unendlichen« 38 ganz explizit eine Theorie der Theologie entwirft, deren Bezugsproblem beziehungsweise deren Gegenstand 32. Schopenhauer merkt an, das Gehirn stünde eine Kommunikationsform ist, die der »wie eine Mauer« zwischen den Seelen Beglaubigung durch Wahrnehmung nicht und den Dingen: Schopenhauer: »Über das bedarf (Selig sind, die nicht sehen und doch Sehn und die Farben« (1986), S. 195. glauben), die aber – deshalb? – zwischen 33. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (1974), S. 81. Wahrnehmung und Kommunikation 34. Kammer: »Das Werk als Entwurf« (2010), oszilliert. Man kann es aber auch – mit S. 27. einigen Umwegen allerdings, die weniger 35. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (1974), S. 85. die »Mauern des Gehirns« als die wüsten 36. Ebd., S. 85. In der Tat gilt also: »2 x 2 = Polemiken betreffen, mit denen er seine grün«. Foerster: 2 x 2 = grün (1999). Bei Umgebung überzieht – mit Arthur SchoDirk Baecker: »grau ≠ grau, wenn grau = penhauer stützen. Entscheidend ist dafür x (grau, grün)«. Baecker: »Rechnen lernen« (2004), S. 280, Vgl. ders.: »Die Theorieform nicht so sehr seine Differenzierung zwides Systems« (2000), S. 232. schen Verstand und Vernunft und die dar37. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft aus abgeleitete Präferenz für den Verstand (1995), S. 16 f. als Verkörperung eines gewissermaßen 38. Vgl. Schleiermacher: Über die Religion (2001); Cramer: »Anschauung des Universums« symbiotischen, »unmittelbar[en]« Verste(2000) sowie Scholtz: »Schleiermacher und hens von Hintergründen und Ursachen, das die Kunstreligion« (2000).

Grau | Grün – Die Kunst der Theorie

er als Anschauung bezeichnet, als »über den ganzen Leib verbreitete[...] Fähigkeit, zu fühlen«.39 Entscheidend ist auch nicht seine gleichwohl luzide geschriebene Vorrede zum Problem der Theorie als einer Anschauungsform, in der sich die wahrgenommenen »Fakta« der Welt zu vernetzten »Data« »organisieren«40 (in diesem Sinne verspricht er, von Goethes Farbempirie, die eine bloße Datensammlung sei, zugunsten einer Farbtheorie abzuweichen). Entscheidend ist vielmehr seine Übersetzung des »Kreuzes« bei Jean Paul in eine Unterscheidungstheorie des Wahrnehmens, in einen Kalkül aus »Brüchen«.41 Diese Übersetzung ist entscheidend, weil sie auf die Möglichkeit der Diagrammatik der Theorie verweist, die, wenn sie schreibt, immer auch rechnet – weil sie immer aktiv unterscheidet und dabei beides anschaulich macht.42 Schopenhauer bestimmt nämlich die Wahrnehmung (das Sehen) als »Tätigkeit der Retina«, und zwar im Falle des Weiß als »volle Tätigkeit« (Licht, höchste »Energie«), im Falle des Schwarz als »Untätigkeit« (Finsternis, Fehlen jeder »Energie«) und im Falle der Farben als »teilende« Tätigkeit.43 Das Grau (Halbschatten) bezeichnet insofern zunächst nichts anderes als den Verzicht auf diese teilende Tätigkeit, eine perfekt abstrakte (»intensive«) Differenz. Von Farben kann folglich nicht im Sinne dieser perfekten Abstraktion, sondern nur im Sinne einer energetisch fließenden »qualitative[n] Bipartition« gesprochen werden, einer komplementären »Dualität«,44 die sich nach den Helligkeits- beziehungsweise Energiewerten der Farben ordnen lasse und in der Oszillation der energetischen Gleichwertigkeit von Rot und Grün ihre Vollkommenheit erlange. Schopenhauer notiert dafür folgendes »Schema«: 45

Schwarz 0

Violett

Blau

Grün

Rot

Orange

Gelb

Weiß

1/4

1/3

1/2

1/2

2/3

3/4

1

»das −«

»das +«

»der negativen Seite [gleich]« »der positiven Seite [gleich]« Dem grauen Halbschatten des SchwarzWeiß, dieser vollkommenen Abstraktion (0/1), entspricht demnach in einem zeitlichsukzessiven Fluss 46 von komplementären, qualitativ bestimmten, weil asymmetrischen Brüchen (Violett/Gelb sowie Blau/Orange als −/+ -Variante) der qualitativ unbestimmte, weil oszillierende Bruch des Schemas selbst (Rot/Grün), eine schwebende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, für die Schopenhauer

39. Schopenhauer: »Über das Sehn und die Farben« (1986), S. 204, 206. 40. Ebd., S. 198 f. 41. Ebd., S. 230. 42. Darin besteht, Luhmann folgend, »Die Praxis der Theorie« (1991). 43. Schopenhauer: »Über das Sehn und die Farben« (1986), S. 221 ff. 44. Ebd., S. 234. 45. Ebd., S. 233, 236, vgl. 240. 46. Vgl. ebd., S. 234.

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ausdrücklich auf das Problem der (Farben-)Blindheit hinweist (»er sah [...] nur [...] Nuancen von Grau«).47 Er schreibt nicht weniger als eine »Elektropoetologie«48 der Farbe, und er entwirft mit der Zuspitzung des Anschauungsproblems auf die 0/1-, die −/+- und die 1/2/1/2-Unterscheidung eine Theorie des rechnenden Schreibens und des schreibenden Rechnens, eine Diagrammatik der Anschauung, die über die Farbenlehre des Buchdrucks hinausgeht, auf eine Farbenlehre der Digitalität voraus verweist und die tatsächlich als Kunst zumindest jener Theorie in Frage kommt, die den Bruch (sic!) zwischen Buchdruck und Computer anschaulich machen will. Man muss also nicht nur darauf vertrauen, dass die Blätter an »des Lebens goldner Baum« sich schon »grün« färben werden, wenn man nur zu unterscheiden begänne.49 Die Theorie muss die Farbe ihrem Gegenstand lassen können; nicht zuletzt darin ist sie asketisch, nüchtern, kühl, eben: blass, grau. Sie lässt leben, bleibt aber selbst »zeitlos«, »blind«, »untätig«, mithin »farblos«, »seelenlos«, wie »tot«.50 Sie »schweigt« von der Farbe, weil sie diese – wenn sie nicht schwiege – in ein schmutziges Gewäsch ziehen würde,51 weil sie den »Modularisierungsreichtum von grün« ersticken würde.52 Stattdessen schreibt sie, und wenn sie schreibt – Schopenhauer führt es vor –, dann rechnet sie auch. Ihr schreibend-rechnendes Schweigen ist ein 158 Versuch (und ihr einziger), »die black box [...] aufzuklären«, 53 also jenen Hintergrund, vor dem dieser Reichtum überhaupt erst sichtbar werden kann. So folgert auch Itten: 47. Ebd., S. 267. »Es ist ratsam für die Prüfung jeder 48. Gamper: Elektropoetologie (2009). Farbe, diese vor einem neutral grau49. Goethe: »Faust« (1885), S. 278 (bekanntlich als en Untergrund zu betrachten«.54 Sie Hinweis, dass die Unruhe »tausendfach aus schweigt (rechnet und schreibt) aber einem Punkte zu kurieren« sei, ebd.). auch, weil ihre Wahrnehmungsform 50. Itten: Kunst der Farbe (1987), S. 27. 51. Wenn sie farbig sein will, »dann wird es«, wie nicht das Hören, sondern das Sehen Luhmann feststellt, »unvermeidlich dilettantisch«. ist; selbst das Lesen ihrer Schrift sieht Luhmann: »Die Soziologie und der Mensch« vom Akustischen ab, und selbst das (1995), S. 274. 52. Itten: Kunst der Farbe (1987), S. 89. Begreifen ihrer Begriffe sieht von allem 53. Baecker: »Die Theorieform des Systems« (2000), Haptischen ab. Alles leibhaftige Fühlen S. 232. Vgl. auch Glanville: »The Form of Cyberkühlt zur Form einer Differenz ab und netics« (1979). residiert in einem allerdings endogen 54. Itten: Kunst der Farbe (1987), S. 30. immer unruhigen Bruch.55 Die Theorie 55. Die Nervosität der Anschauung ist, wie Schopenhauer zeigt, eine Frage der oszillierenden, quaentwirft diese Differenz als Varianz in litativ sukzessiv asymmetrisierten Differenz und grau. damit eine Frage des Beobachters beziehungsTheorie ist nach all diesen Farbweise der Kommunikation – schreiben, rechnen – über Wahrnehmung, nicht eine Frage der lehren zwar wie die Kunst KommuWahrnehmungsvariante als solcher. nikation über Wahrnehmung.56 Aber 56. Vgl. Baecker: »Die Adresse der Kunst« (1996), anders als die Kunst ist sie im Kontext S. 96 ff.

Grau | Grün – Die Kunst der Theorie

dieser Kommunikation eingeschränkt auf eine spezifische Wahrnehmungsvariante, das Sehen; sie operiert, mit Friedrich Kittler formuliert, im »optischen Medium«.57 Sie ist Kommunikation über Schrift (»Papierarbeit«), genauer: ein Schriftkalkül; sie sucht das Flüchtige im Flüchtigen, die verlorenen Farben, und als solche speist sie sich tatsächlich aus der von Jean Paul vermuteten Oszillation von Lust und Qual, von Helligkeit und Finsternis. Sie rechnet mit dem Schönsten wie mit dem Schlimmsten, sie sieht grau, weil sie weiß nicht sehen kann und schwarz nicht sehen will. Aber ihre »Ruh’ ist hin«.58 Theorie ist Passion.59

Exkurs: Narziss und Echo Vielleicht kann die mythische Tragödie von Narziss, der nur sehen kann, und Echo, der »Nymphe des Schalls«,60 als lichteste Beschreibung des Problems gelten, das Theorie so schmerzlich wie lustvoll an die Kunst verweist und ihr – was der Mythos nicht tut – das Schreiben empfiehlt, um diesen Schmerz zu lösen und diese Lust zu ernüchtern. Das Problem beginnt vermutlich nicht erst an dem Punkt, da klar wird, dass Narziss nur sich selbst genießen kann (auch wenn dieser 159 Selbstgenuss – ein böser Fluch, der Narziss die Buße für die Gewalt auferlegt, die seiner Mutter widerfahren war – zur ersten verlorenen Farbe der Griechen nach Jean Pauls Darstellung gehören wird). Und es beginnt wohl auch nicht erst an dem Punkt, an dem klar wird, dass er Echo, die diesen Selbstgenuss nur bestätigen kann, als »difference which makes no difference« 61 nicht – niemals – bemerkt beziehungsweise sie im Moment des Bemerkens flieht (auch wenn in dieser »no difference« die verlorene paradiesische Lage gefunden werden kann oder hätte gefunden werden können, und dies um so mehr, da ja Echo selbst einem nicht minder bösen Fluch unterliegt, der ihr für das Erzählen von »1001« Geschichten und damit für die Produktion von grüner Varianz auferlegt wird 62). Das Problem liegt insoweit zwar in der Differenz von Kommunikation und 57. Kittler: Optische Medien (2002). Bewusstsein, also in der Abgründigkeit der 58. Goethe: »Faust« (1885), S. 312. »Kluft zwischen ihrem [Echos] Bewusst59. Baecker u. a.: Theorie als Passion (1987). sein und dem Bewusstsein des Narziss« 63 60. Ovid: Metamorphosen (1986), S. 72. und in dem dahinterliegenden Handicap, 61. Bateson: Steps to an Ecology of Mind dass das Bewusstsein nicht kommunizieren (2000), S. 459. und die Kommunikation weder denken 62. »Um nicht zu sterben«: Hüser: »Frauenforschung« (1996), S. 275. noch fühlen noch eben wahrnehmen kann. 63. Baecker: »Die Unterscheidung zwischen Aber es liegt nicht in der Unmöglichkeit der Kommunikation und Bewusstsein« (1992), Kommunikation, denn es findet schließlich S. 219.

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ganz deutlich Kommunikation statt, und zwar Kommunikation über Wahrnehmung: Sie sieht ihn, »erglüht« und folgt ihm, muss aber auf ein Wort von seiner Seite warten, ohne anders denn wiederholend auf dieses Wort reagieren zu können: »Was er sprach, dasselbe vernahm er«.64 Für Narziss macht Echo »nur Geräusche«.65 Die Kommunikation findet statt, kommt aber über den Moment nicht hinaus. Ihr Anfang ist zugleich ihr Ende. Was stattfindet, ist eine Art NichtKommunikation, die Narziss zum Rückzug auf sich selbst und Echo zum Verschwinden in der Körperlosigkeit zwingt. Beide fühlen nichts – seine Seite glänzt dafür zu sehr, ihre ist dafür zu farblos – und leiden daran furchtbar. Womöglich nicht die Liebe, jedoch vielleicht die Kunst und nach allem Vorigen sicherlich die Theorie müsste mit diesem Kollaps der Zeit im Ereignis 66 umgehen können. Erforderlich ist der geschilderte Schopenhauer'sche Kalkül der Anschauung, weil er es erlauben würde, das Ereignis des im Anfang schon beendeten Verstehens in einen energetischen Fluss von Brüchen zu übersetzen, ihm also wieder Zeit zu verschaffen – und weil er es erlauben würde, den Umstand der Unvereinbarkeit der Wahrnehmungsformen in eine Differenz der Anschauungsformen zu übersetzen und das Ereignis als oszillierende Gleichzeitigkeit von Möglichkeiten zu erhellen und dadurch zeitlich 160 zu dehnen. Beide, Narziss und Echo, müssten allerdings schreiben, um mit der Wahrnehmung des anderen rechnen zu können. Auf Papier.67 Narziss könnte dann das für ihn indifferente Dasselbe, das bloße Geräusch, mit dem Echo ihn peinigt und das er nicht hören kann, sehen; im optischen Medium würde es für ihn einen Unterschied machen, der die tödliche Langeweile 64. Ovid: Metamorphosen (1986), S. 73. der Replikation durchkreuzt – und 65. Baecker: »Die Adresse der Kunst« (1996), S. 97. überdies genau den Unterschied, den Die Parallele zu dieser Tragödie ist der Tod das spiegelnde Wasser nicht zu machen des Kindes aufgrund der Wahrnehmungsblockaden zwischen ihm und seinem Vater in vermag; er wäre davon erlöst, im »GlanGoethe: »Der Erlkönig« (1885). ze« seiner selbst zu ertrinken.68 Statt auf 66. Und was sonst sollte der Ausdruck ›Bruch‹ bedas Wasser wie in sich selbst zu starren, zeichnen? hätte er »im Wasser operieren«69 und 67. »Demnach könnte auch der Gehörnerv sehn und der Augennerv hören, sobald der äußeschwimmen lernen können; er wäre ein re Apparat beider seine Stelle vertauschte.« rechnender Schreiber geworden, ein Schopenhauer: »Über das Sehn und die Farben« (1986), S. 206. Vgl. für die »formale« »qualitativ tätiger«, die Wogen fortTransponibilität von Farben mit »abstrakten während »teilender« Beobachter. Echo Dingen wie Zahlen oder Buchstaben« Klee: »Schöpferische Konfession« (1987), S. 64. dagegen brauchte, wenn sie schreiben 68. »Vom Glanze wird in dieser ganzen Betrachwürde, nicht ins Wasser gehen. Ihr tung als etwas ihren Gegenstand nicht AngeProblem war zwar, dass ihr Gebiet ein hendem abgesehn.« Schopenhauer: »Über Gelände ist, das Narziss wie eine Wüsdas Sehn und die Farben« (1986), S. 221. 69. Siegert: Passagen des Digitalen (2003), S. 54. te vorkommt, weil es nicht spiegelt.

Grau | Grün – Die Kunst der Theorie

Aber sie könnte diesen Spiegel (das Wasser) auf Papier inszenieren, vollkommen trocken. Sie würde sich zwar mitteilen, auch in der von Narziss so verachteten Replikation – denn die wäre jetzt eine Varianz zwischen Schwarz-Weiß beziehungsweise 1/0, eine Varianz in grau –, aber eben nicht mehr reden. Sie müsste sich auf einen Wechsel von der Sukzession (»1001 Geschichte«) in die Oszillation (Rot/Grün) einlassen, und das könnte sie, wenn sie seine im Wasser erarbeiteten qualitativen Teilungen als abstrakte Brüche auf Papier notieren würde. Sie – ihre Schrift – wäre der Halbschatten, in dem er – sein Kalkül – farbig leuchten kann; sie wäre insoweit eine intensiv tätige, die Wogen fortwährend glättende Beobachterin. An ihr lernt er, sich zu bewegen, ohne zu fliehen (rechnen); an ihm lernt sie, zu warten, ohne zu verbittern (schreiben). Erforderlich ist nur, und das ist wohl tatsächlich eine Kunst, sich auf die Kommunikation unter solchen Bedingungen einzulassen; aber das – was sonst – ist das Problem der Theorie. »Man muss«, wie Robert Delaunay schreibt, »sehen wollen«.70 Gelingt das, dann wird aus seinem Rechnen eine Form des Schreibens, und aus ihrem Schreiben eine Form des Rechnens; sie beide erarbeiten anschaulich »weniger und weniger über mehr und mehr« sowie »mehr und mehr über weniger und weniger«.71 Beide hätte das nervös gemacht; beide hätte es – gerade weil es die Flüche gelöst hätte – aus der Ruhe gebracht. Aber beider Nervosität wäre nichts anderes als die Unruhe der Theorie selbst.

Architekturen Der Raum der Theorie, hatten wir oben vermutet, ist die Stadt, weil die Stadt die Unruhe erträgt und nachgerade präferiert. Das zeigt sich zum einen darin, dass ihre Architektur eine Verschachtelung von Flächen ist, die beschriftet, besudelt, vollgelabert sind (jedes Graffito ist nichts Geringeres als eine These zur Theorie der sozialen Unruhe).72 Die Stadt bildet insoweit keine zu vernachlässigende Variante der Verschriftung von Wahrnehmungen in der Kunst der Theorie; sie ist vielmehr selbst ein Kalkül der Anschauung, insofern jedenfalls, als in ihr die auf ihre Flächen geschriebenen Zeichen im Staub wie im Wasser »operieren«. Wer in die Stadt eintaucht, schafft die Vereinigung von Narziss und Echo und löst deren Kommunikationsproblem definitiv: In ihr sind 70. Delaunay: »Über das Licht« (1987), S. 58. Wasser und Papier, Rechnen und Schreiben, 71. Foerster: »Die Gesetze der Form« Bewegen und Warten eins: »eine Woge«.73 Und (1993), S. 11. zumindest Jean Baudrillard geht so weit, darin 72. Vgl. Baudrillard: Kool Killer (1978). eine vollkommen neue, selbst das Ökonomische 73. Ebd., S. 24.

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und damit auch das Politische 74 ablösende Abstraktion bis zur völligen »analytische[n]« Indifferenz zu sehen, die eine Vernetzung ohne jede Farbigkeit schafft: nur noch gestreute, zerstreute Halbschatten aus Schwarz-Weiß, 0/1, +/−, nur noch Grau, die »variable Geometrie« 75 einer merkwürdig belebten »Ruine« 76 (denn diese mit sich selbst im Medium der Schriftzeichen rechnende Stadt unterscheidet auch innen und außen nicht mehr). Wenn diese Vernetzung des Abstrakten auf dem Wege der indifferenten Beschriftung aller Flächen als die Form verstanden werden kann, in der sich die Stadt gegenüber ihrer eigenen Unruhe zu behaupten versucht, dann ist die Stadt selbst dann, wenn die dadurch noch möglichen Architekturen allenfalls noch »Ruinen« dieses Versuchs sind (fallengelassene Anfänge, verlorene Möglichkeiten, verfallende Zukünfte), eine Kunstform der Theorie im Sinne der Veranschaulichung von Wahrnehmung. Geben wir Baudrillard recht in der Vermutung, die Stadt habe sich in ihr Medium, das »Urbane«, hineinziehen lassen,77 so können wir doch auch bemerken, dass sie sich – indem sie schreibt – »sichtbar [macht]«;78 sie schwimmt in ihrem Medium, sie rechnet mit sich selbst auf jeder sich bietenden Fläche; das heißt: Die Stadt ist die Theorie der Urbanität. In luzidem Vorausgriff auf Luhmanns Definition des Geldes als ein »Dividuum[s] par excellence, das sich jeder In-Dividualität an162 passen kann«,79 bestimmt Georg Simmel die Stadt als Kommunikationsmedium – als Äquivalent des Geldes einerseits und des Verstandes als »anpassungsfähigste unserer inneren Kräfte« andererseits. 80 Wir haben bereits bei Schopenhauer gesehen, dass mit dem Verstandesbegriff eine Anschauungsform angesprochen sein könnte, die der Vermittlung durch Begriffe nicht bedarf und dennoch auf Unterscheidungen beruht – eine Anschauungsform, 74. Für Schopenhauer waren Theorien noch wie Staadie Kausalität in Nervosität und vice ten organisiert, gerade nicht »wild«. Vgl. Schopenhauer: »Über das Sehn und die Farben« versa übersetzt. Wie Schopenhauer (1986), S. 198. Vgl. für »das Hervorbrechen diese Form »eine intellektuale« nennt, wilder Wandmalereien« Baudrillard: Kool Killer (1978), S. 23. die von »der bloßen Empfindung« wie 75. Ebd., S. 20. »dummer« »Schmerz oder Wohlbeha76. Simmel: »Die Ruine« (1997). gen« unverwechselbar unterschieden 77. Baudrillard: Kool Killer (1978), S. 22. sei,81 so kennzeichnet Simmel die Ver78. Klee: »Schöpferische Konfession« (1987), S. 60: fasstheit des städtischen Beobachters »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern als »intellektualistische« »Steigerung macht sichtbar.« des Nervenlebens« im Unterschied zum 79. Luhmann: Soziale Systeme (1984), S. 625. ländlich-ruhigen »Gemüt«.82 Er reformu80. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben« (1995), S. 117. liert zunächst in ökonomisch-politischer 81. Schopenhauer: »Über das Sehn und die Farben« Metaphorik, wenn er »Geldwirtschaft« (1986), S. 204. und »Verstandesherrschaft« in der 82. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben« Form »reine[r] Sachlichkeit« verknüpft83 (1995), S. 117, 116.

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und diese – die Assoziation von »Leben« oder auch »Seele« (Atem, anima) mit »Farbe« ist ihm vertraut – als bis zur völligen Indifferenz ausgeblichene Farbigkeit beschreibt. Der ökonomische »Tauschwert, der alle Qualität und Eigenart auf die Frage nach dem bloßen Wieviel nivelliert«,84 entspricht genau Schopenhauers Komplementärfarbenkalkül. Und Simmels Beobachtung, dass ein solcher Kalkül in politischer Hinsicht »mit den Menschen wie mit Zahlen rechnet, wie mit an sich gleichgültigen Elementen«, 85 lässt sich offensichtlich auf dessen 1/0- beziehungsweise Positiv/Negativ-Dividuation abbilden. Die Form der Stadt oszilliert zwischen Indifferenz und »Präzision«, zwischen Unbestimmtheit und »Unzweideutigkeit«; sie rechnet, und dieses Rechnen ist die Ressource (»der nährendste Boden«, die »Natur«) ihrer selbst.86 So sehr sie durch Indifferenz gekennzeichnet ist, so gefährdet ist sie für den Fall des auch nur »minutenhaften« Fehlens von Präzision: 87 Sie würde sofort und »auf lange hinaus zerrütte[n]«, sie würde »zu einem unentwirrbaren Chaos zusammenbrechen«.88 Aber worin könnte dann der »Reiz der Ruine«,89 die die Stadt ist, liegen? Es müsste, und damit schließen wir, auch der Reiz der Theorie sein. Denn all dies kann ja nur heißen, dass jeder Moment, ja buchstäblich jeder Augenblick der Stadt ebenso wie der Theorie die Möglichkeit des Zusammenbruchs verkörpert. Sie besteht aus ver163 bautem Staub, und das heißt: Sie besteht nicht, sie ist instabil. Ihre Brüchigkeit 83. Ebd., S. 118. aber ist genau ihr Reiz. Sie ist ein Meer, 84. Ebd. in dem man »operieren« kann; 90 sie lässt 85. Ebd. dem einzelnen Platz; sie ist das einzige 86. Ebd., S. 119. 87. Ebd., S. 121. »für alle gleichmäßig Präzisierbare«, sie 88. Ebd., S. 120. Es lohnt sich vielleicht, darauf »muss« ihre Ordnung und ihr Leben hinzuweisen, dass Simmel in der Sprache von Ovids Metamorphosen schreibt, wenn er auf »färben« »oder vielmehr [entfärben]«.91 den Rückfall der Ordnung – des Kosmos, des Und wenn man Simmels Metapher des »Ganze[n]« – ins »Chaos« anspielt, der dro»Nährbodens« und der »Natürlichkeit« hen würde, falls der Versuch scheiterte, »die Welt in ein Rechenexempel zu verwandeln«. ernst nimmt und sich an Ittens Leben/ Ebd., S. 119 (Hervorhebung ML). Tod-Farblehre erinnert, dann muss man 89. Simmel: »Die Ruine« (1997), S. 126. sagen: Das basale Element, der Baustein, 90. Baecker: »Bauen, Ordnen, Abreißen« (2009), der calculus der Stadt ist die »präzise« S. 195, Anm. 1. 91. Simmel: »Die Großstädte und das GeistesleDifferenz von Boden (Erde) und Staub, ben« (1995), S. 120, 122 (zu »einer gleich92 grün und grau, Leben und Tod. Man mäßig matten und grauen Tönung«, S. 121). muss, um in ihr zu überleben, nicht Vgl. zum Problem der »Bewegungsfreiheit«. Ebd., S. 127. nur sehen wollen, sondern auch sehen können, man muss das »Unendliche« 92. Simmel wird nur an einer einzigen Stelle, fast beiläufig und doch drastisch, in dieser Frage in der schieren Plötzlichkeit anschauen deutlich: Der Verstand, die rechnende Anschauung, sei »ein Präservativ des subjektikönnen. Oder genauer: Nicht »man«, ven Lebens gegen die Vergewaltigungen der sondern die Stadt (und die Theorie) Großstadt«. Ebd., S. 118.

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selbst muss dies wollen und können. Deshalb schreibt sie sich, wir haben Baudrillard bereits zitiert, in ihrem eigenen Kontext unablässig auf; jede Wand und jede Straße ist ihr »grüner Tisch«, blackboard oder Papier – sie ist ein so präziser wie vor jedermanns Augen mit dem Jetzt verschwimmender Kalkül,93 eine »verzweigt[e]«94 Schrift, nicht nur »rekursives Schreiben«,95 sondern abstrakter, kühler, blasser, »blasierter« noch,96 sie ist re93. Vgl. ebd., S. 123 (»Verschwommenheit«). kursives Rechnen.97 Ihr bleibt, 94. Ebd., S. 118. könnte man daher sagen, nichts 95. Kammer: »Das Werk als Entwurf« (2010), S. 29. als die »Theorieform«,98 um 96. Vgl. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben« (1995), S. 121 ff. sich vor dem in jedem Moment 97. Vgl. Baecker: »Bauen, Ordnen, Abreißen« (2009). möglichen Zusammenbruch 98. Baecker: »Die Theorieform des Systems« (2000). Vgl. ders.: zu »retten«.99 Jeder Baustein ist »Zeit und Zweideutigkeit im Kalkül der Form« (2002). zwar Bruchstück oder »Staub99. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften (1997), S. 28. korn«,100 aber jede Notiz ist 100. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben« (1995), zugleich auch Bilanz. S. 129.

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Methodsof Artistic Research – im

Kunstforschung Spiegel

künstlerischer Arbeitsprozesse Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen! pointiert Sigmar Polke im Titel eines seiner Werke – und gibt damit nicht zuletzt den Blick darauf frei, dass eine methodologische Diskussion jenseits technischer Handwerklichkeit in den Künsten kaum geführt wird. Ohne auf die bisher in diesem Band stark gemachten (wissenschafts-)soziologischen und (wissenschafts-)kritischen Positionen zu rekurrieren oder einem rein anwendungsorientierten Zweck-Nutzen-Kalkül verfallen zu wollen, soll im Folgenden auf den Prozess künstlerischen Arbeitens fokussiert werden, um daraus Hinweise zur methodischen Konzeption einer ästhetischen Wissenschaft ableiten zu können. Denn falls der Idee einer ästhetischen Wissenschaft – als transdisziplinäre Verwindung künstlerischer und wissenschaftlicher Erkenntnispraktiken – gefolgt werden soll, wird die im Diskurs bisher breitflächig ausgeklammerte Frage zu den künstlerischen Arbeitsprozessen methodologisch basal. Zwar existieren einige Publikationen zu Methodenfragen in der künstlerischen Forschung, sie kommen jedoch über 1. Vgl. Gray, Malins: Visualizing Research bloßes Anwendungswissen (im Bereich der (2004); Hannula, Suoranta, Vadén: Artistic Research (2005); Barrett, Bolt: Practice Bildenden Kunst) kaum hinaus.1 Was aber as Research (2007); Holly, Smith: What zeichnet ästhetisch-materialbasierte WisIs Research in the Visual Arts? (2008); McNiff: Art-Based Research (2009). senspraktiken jenseits des Handwerklichen

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methodisch aus? Wie lässt sich der Arbeitsprozess theoretisch fassen? Was impliziert dies für eine ästhetische Wissenschaft? Induktiv nähert sich dieser Beitrag daher den Begriffen »Forschung« und »Methode« im Kontext künstlerischen Schaffens, um danach zu fragen, wie diese in einem Wissenschaftskontext zur Anwendung gebracht werden könnten. Zentral wird dabei das Werk: nicht der vieldiskutierte Werkbegriff, sondern der wenig beachtete Werkprozess. 2 Es geht also darum, wie aus Etwas beziehungsweise Nichts ein Werk wird, jedoch nicht, wie aus einem Werk ein Kunstwerk wird. Es geht um den poietischen Prozess der Werkentstehung, nicht um die soziale Konstruktion »Kunst«. Kunst, so die Prämisse, ist die autopoietische Kommunikation des Kunstsystems über ein Werk, das poietisch hergestellt wurde. 3 Der Schritt vom Werk zum Kunstwerk ist demnach kein künstlerischer, sondern ein sozialer.4 Um zu verstehen, wie aus Etwas oder Nichts ein Werk wird, soll die Selbstorganisationstheorie herangezogen werden, welche fachübergreifend danach fragt, wie natürliche und soziale Systeme ihre Ordnung ausbilden.5 Diese systemtheoretische Perspektive hat den Vorteil, dass wir das Werk ohne seine »Bedeutung«, frei von Interpretationen, Vermutungen, (kunst-)historischen Einordnungen und 170 Zuschreibungen betrachten können. Dabei ist klar, dass beides nicht völlig unabhängig vonein2. Der Beitrag beruht auf unstrukturierten empirischen Beobachander gedacht werden kann: tungen und zahlreichen Gesprächen mit Künstlern während Materialität (und selbst wenn meines Aufenthaltes an der Akademie Schloss Solitude. In den wöchentlichen internen Präsentationen der Arbeiten der es sich lediglich um die AusStipendiaten diskutierten wir u. a. künstlerische Arbeitsproarbeitung eines Konzeptes zesse und Methoden künstlerischer Forschung. Dabei war für mich als Wissenschaftler interessant, dass Künstler aller handelt) ist eine notwendige Sparten wenig bis nichts über ihr methodisches Vorgehen Bedingung für Werke, aber oder ihre Arbeitsprozesse aussagten. Dies war Anlass, ihre sie ist als Merkmal – wie eben Arbeitsprozesse zu untersuchen. Methodisch werden also systemtheoretische Überlegungen von einer teilnehmenden erwähnt – nicht alleine hinreiBeobachtung im Rahmen einer Feldforschung ergänzt. chend für Kunst-Werke.6 3. Vgl. Treml: »Ästhetik der Differenz« (1993). Prägnant ließe Analog zu Bruno Latours sich die Theorie der Autopoiese von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela wie folgt definieren: Systeme reEntwicklung einer neuen theoproduzieren die Elemente, aus denen sie bestehen, mithilfe retischen Konzeption der Soder Elemente, aus denen sie bestehen. Autopoiese bedeutet Selbsterhaltung durch Selbst-Erzeugung. Vgl. Maturana, Vaziologie, die er Compositionism rela: Der Baum der Erkenntnis (1987). Der Begriff »poietisch« nennt, bei der die Interaktion hingegen bezeichnet ein Wissen, das auf das Herstellen ausgerichtet ist (beispielsweise Technik, Ästhetik, Rhetorik, Pädvon Menschen und Dingen agogik), im Unterschied zum praktischen, auf das Handeln und die Materialität der Dinge ausgerichteten und zum theoretischen, »reinen« Wissen. stärker berücksichtigt werden, 4. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (1999). Vgl. auch George Dickie, der in seiner Institutionstheorie den Netzsteht auch hier die Dinghafwerkcharakter von Kunst in den Vordergrund rückt und damit tigkeit im Vordergrund, und die verschiedenen Bedeutungen von »art« und »work of art« damit die Zeitlichkeit der herausstellt: Dickie: Introduction to Aesthetics (1997).

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Interaktion zwischen Künstler und dem werdenden Werk. Denn die bisherigen Perspektivierungen, in denen zum Beispiel Semiotik, Semantik, Kritik, Ästhetik und Autorschaft zentrale Begriffe sind, greifen als Theoriekonzepte deutlich zu kurz, um die Werkentstehung zu verstehen.7 Von Kunsttheoretikern wird der folgende Ansatz zumeist mit dem Argument kritisiert, dass diese Perspektive »Kunst« auf ihre materiellen Aspekte reduziere und die Aussage oder Bedeutung des Werkes ausblende. Das ist richtig, der Blick befreit das Werk von kunsttheoretischen Zuschreibungen, den kunstdiskursüblichen Bedeutungs-Praktiken und Theorie-Einsprengselungen. Er erlaubt es somit, sich der Sache selbst zuzuwenden. Genau darin besteht sein Wert.

Höhere Wesen befahlen: der Künstler und sein Werk Zwar existiert die Vorstellung vom »Künstler« seit der Antike – die Bildhauer signieren teils ihre Skulpturen –, doch zieht man daraus zunächst keine Konsequenz.8 Erst während der Renaissance kommt es zu einer Aufwertung der Künste, und der Status des Künstlers wandelt 171 sich vom Handwerker zu einem aus sich selbst heraus erschaffenden Subjekt, das mit den Schlagworten wie Individualität, Authentizität, Originalität und Kreativität be- 5. Die Selbstorganisationstheorie hat zentrale Erkenntnisse aus der Biologie in ihr Theoriekonzept übernommen, was vorschrieben wird. Anthony Ashschnell zu biologistischen Vorwürfen führen kann. Die Evoley Cooper Earl of Shaftesbury lutionstheorie beschäftigt sich per se mit dem Entstehen des Neuen, ihr Theoriekonzept ist daher auch für Prozesse der (1671–1713) stellt die Rolle des künstlerischen Produktion nützlich, also für die Kunsttheorie Künstlers heraus und setzt dabrauchbar. Theoriebildung und empirische Forschung zur mit den Beginn des modernen evolutionsbiologischen Ästhetik kommen fast ausschließlich aus dem englischsprachigen Raum. Vgl. zum Beispiel MorGeniekultes.9 Eberhard Ortland ris: The Biology of Art (1962); Dissanayake: What Is Art for? konstatiert in seiner begriffsge(1988); The Journal of Aesthetics and Art Criticism (2004). Der geisteswissenschaftliche Transfer hat erst in jüngster schichtlichen Rekonstruktion, Zeit auch in Deutschland begonnen, vgl. hierzu Grammer, dass in den Debatten seit der Voland: Evolutionary Aesthetics (2003) sowie Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit (2007). Zur IdeengeRenaissance zwei Erklärungsschichte eines naturwissenschaftlichen Ästhetikbegriffs vgl. modelle für das »ZustandekomWilke: »Landscape revisited« (1993). men des Unwahrscheinlichen«, 6. Diese spartenübergreifende Perspektive kann nicht jedem Einzelwerk gerecht werden, und es ist offensichtlich, dass die Werkentstehung, diskutiert es hier ebenso nicht darum gehen kann, eine umfassende werden: zum einen die InspiraDarstellung anzustreben. Vielmehr soll eine Collage entstetionslehre, also das Zurückfühhen, die zugunsten einer allgemeinen Beschreibung künstlerischer Arbeitsprozesse auch Lücken enthalten darf. ren des Genies auf einen göttli7. Vgl. Latour: »Die Versprechen des Konstruktivismus« (2003), chen Einfluss; zum anderen die S. 190 f. Psychologie des Ingeniums, also 8. Vgl. Zembylas: Kunst oder Nichtkunst (1997), S. 24. das Vermögen, aus sich selbst 9. Vgl. ebd.

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heraus zu schöpfen.10 Der Begriff »Genius« (im Altgriechischen sowohl Schutzgeist, Schicksalsmacht und Fruchtbarkeitsspender) beinhaltet beide Begriffsdeutungen. In der Kritik der Urteilskraft fasst Immanuel Kant 1790 die Diskussion seiner Zeit zusammen und erklärt »schöne Kunst« schlicht für die Leistung des Genies: Man sieht daraus, daß Genie 1. ein Talent sei, dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen: nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden kann; folglich, daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse. 2. daß, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Produkte zugleich Muster, d. i. exemplarisch sein müssen; mithin, selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, anderen doch dazu, d. i. zum Richtmaße oder Regel der Beurteilung dienen müssen. 3. daß es, wie es sein Produkt zustande bringe, selbst nicht beschreiben oder wissenschaftlich anzeigen könne, sondern daß es als Natur die Regel gebe; [...] 4. daß die Natur durch das Genie nicht der Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vorschreibe [...].11 Mit dem Geniebegriff Kants wird in der Kunstphilosophie bis ins 20. Jahrhundert darauf verwiesen, dass Kunst die Leistung begnadeter 172 Einzelner ist und die Werkentstehung damit in die Unerklärbarkeit entrückt. Auch auf Seiten des Künstlers besteht lange wenig Interesse, Licht ins Dunkel der Werkentstehung zu bringen oder sie gar zu erklären. Künstler müssen die »Mystik« des Vorgangs wie auch ihre Sonderrolle in der Gesellschaft verteidigen, um die Position des Einzigartigen und Einmaligen zu behaupten, die schlussendlich über das Singularitätspostulat auch die Wertschätzung für Kunst erst ausmacht. Zugespitzt lässt sich sagen, dass sich die Idee des schöpferischen Genies in engem Zusammenhang mit der Geschichte der Künste als Teil und Motor dieser Geschichte entwickelt.12 Zwar gerät der Begriff in die Kritik, wird als »spätromautisch«, veraltet und konservativ bezeichnet und als Erkenntnis verhindernd verpönt,13 allerdings können die folgenden kunstsoziologischen, semiotischen, psychologischen, rezeptionstheoretischen, (de-)konstruktivistischen sowie institutionell-kritischen Versuche, das Kunstwerk zu erklären, wenig zu einer 10. Vgl. Ortland »Genieästhetik« (2004). Vgl. hierzu auch Produktionstheorie beitragen, die Luhmann: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst« (1986), S. 632 ff.; Gumbrecht: »Schwinauch bei einem sich stetig erweidende Stabilität der Wirklichkeit« (1986), S. 749 ff. ternden Kunst- und Werkbegriff 11. Kant: Kritik der reinen Vernunft (2004), S. 764. weiterhin aktuell und damit rele12. Vgl. Ortland: »Genieästhetik« (2004), S. 264. vant ist. Es erstaunt daher nicht 13. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (2001), S. 270 ff. wenig, dass bis heute Theorien sowie 361 ff.

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ästhetischer Produktivität kein fester Bestandteil der philosophischen Ästhetik sind, obwohl der Gegenstand der Ästhetik immer ein Ergebnis der Gestaltung eines Werkes ist, sei es auch noch so konzeptionell oder epherm.14 Obwohl seit Aristoteles’ Poetik diskutiert wird, was ein Werk (in diesem Falle der Dichtkunst) auszeichnet,15 gibt es kaum Literatur hierzu. Seit wenigen Jahren wächst das Interesse am Werkentstehungsprozess und der Materialität.16 Der Kunstsoziologe Ulf Wuggenig bringt dieses neue Interesse in Reaktion auf Roland Barthes auf den Punkt: »Den Tod des Autors {wieder} begraben«.17 Im Mittelpunkt der Diskussion stehen neuerdings auch Begriffe wie »Design« und »Kunstforschung«, »künstlerische Forschung« und »künstlerische Methoden«.18 Entwurf wird zur Methode, um Unsichtbares und Flüchtiges erfahrbar und gleichzeitig produktiv zu machen, Entwurfskompetenzen und wissenschaftlicher Diskurs sollen in einem forschenden Prozess zusammengeführt werden.19

Werkentstehung als Systembildung Aus diesem Grund soll versucht werden, der Thematik eine weitere 173 Perspektive hinzuzufügen und den Prozess ästhetischer Produktivität aus der Warte der Selbstorganisationstheorie zu betrachten, geleitet von der Hoffnung, mit diesem 14. Vgl. Hofmann: »Materialverwandlung« (2000). theoretisch geschärften Blick 15. »Denn wie manche mit Farben und mit Formen, indem sie Ähnlichkeiten herstellen, vielerlei nachahmen – die eibrauchbare Schlussfolgerungen nen auf-grund von Kunstregeln, die anderen durch Übung für die Kunstforschung ableiten – und andere mit ihrer Stimme, ebenso verhält es sich auch bei den genannten Künsten: sie alle bewerkstelligen zu können: Das griechische die Nachahmung mithilfe bestimmter Mittel, nämlich mit Wort systema bedeutet eine Zuhilfe des Rhythmus und der Sprache und der Melodie, und zwar verwenden sie diese Mittel teils einzeln, teils sammenstellung; ein System ist zugleich.« Aristoteles: Poetik (1982), S. 5. etwas Zusammengestelltes, ein 16. Andreas Haus, Franck Hofmann und Änne Söll stellen un20 geordnetes Ganzes. Diesen terschiedliche Strategien ästhetischer Prozesse vor, z. B. Vernichtung, Verwandlung, Verrottung, De-Komposition, Systembegriff auf Werke anUmdeutung, Aufladung, und diskutieren den Zusammenzuwenden, fällt nicht schwer. hang von Materialästhetik und ästhetischen Theorien. Vgl. Haus, Hofmann, Söll: Material im Prozess (2000). Ein Bild oder beispielsweise ein Musikstück zeichnet sich da- 17. Wuggenig: »Den Tod des Autors begraben« (Stand: 02.04.2011); vgl. auch Barthes: »Der Tod des Autors« durch aus, dass seine Elemente (2000). (Farben, Flächen, Töne, Klänge, 18. Vgl. Michel: Design Research Now (2007); Bühlmann, Wiedmer: Pre-Specifics (2008); Hannula, Suoranta, Rhythmen, Bewegungen) in eiVadén: Artistic Research (2005); Jonas: Design – System – ner bestimmten Ordnung zueinTheorie (1994). ander stehen. Das Werk ist eine 19. Siehe http://www.idk.ch und http://www.makingcrafting designing.com, (Stand: 10.05.2011). Form, die durch eine bestimmte Ordnung der formgebenden 20. Vgl. Krieger: Kommunikationssystem Kunst (1997), S. 12.

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Elemente und ihren Beziehungen zueinander besteht. Hier wird die These vertreten, dass die Form des Werkes eine geordnete Ganzheit ist, die aufgrund der Organisation ihrer Ordnung emergente Eigenschaften besitzt. Wolfgang Krohn und Günter Küppers definieren Emergenz als die Bildung »neuer Seinsschichten [...], die in keiner Weise aus den Eigenschaften einer darunter liegenden Ebene ableitbar, erklärbar oder voraussagbar sind. Daher werden sie als ›unerwartet‹, ›überraschend‹ usw. empfunden«.21 Emergenz wirkt auf die Systemelemente so, dass diese ohne äußeres Zutun ihr Verhalten in einer Weise organisieren, dass sich für das Ganze eine bestimmte Ordnung ergibt. 22 In der Systemtheorie wird die Entstehung einer emergenten Qualität durch einen Phasensprung erklärt. Im Griechisch bedeutet phasis Erscheinungsform – durch den Phasensprung ändert sich also die Systemqualität und wird dem System eine neue Gestalt gegeben. Emergenz beantwortet damit die Teil-Ganzes-Problematik neu: Das Ganze, hier: das Werk als System, ist nicht nur mehr oder weniger als die Summe seiner Teile, sondern etwas anderes. Das Werk ist nicht aus den Farben, Formen oder Tönen ableitbar, sondern seine Gestalt bildet die spezifische Organisation dieser Dinge. Christian von Ehrenfels prägt im Jahr 1890 den Gestaltbegriff und verdeutlicht ihn am Beispiel von Me174 lodien, die durch Gestaltqualitäten charakterisiert sind, die zusätzlich zu den summativen Eigenschaften (Töne, ihre Relationen und Zeitmaße) hinzukommen. 23 Gestaltqualitäten geben der Ganzheit in Form der Melodie eine bestimmte Eigenart (wie zum Beispiel den Eindruck des Fröhlichen, Trauri21. Krohn, Küppers: Emergenz (1992), S. 389. gen, Erhabenen etc.), die nicht in 22. Dieses Phänomen wird in Chemie und Physik, wo Ilya den Elementen selbst (den Tönen) Prigogine »dissipative Strukturen« und Hermann Haken oder ihren Relationen liegt. 24 Die Emergenzbildung nachweisen, entdeckt. Prigogine erkennt, »dass unter gewissen Bedingungen nicht-lineascheinbar naive Frage: Warum re Interaktionen in einem ›Netzwerk‹ fern von einem kann ein Ton »falsch« sein?, lässt [...] Gleichgewicht zur Emergenz von (neuen) Ordnungsmustern führen können. [...] Ordnung entsteht so sich erst mit Blick auf die Organi›spontan‹ aus den Fluktuationen heraus, sobald die sation der Ganzheit beantworten. Interaktionen eine gewisse Schwelle überschreiten«. Zit. n. Probst: Selbst-Organisation (1987), S. 21. Er wird als falsch empfunden, da 23. Vgl. Ehrenfels: »Über Gestaltqualitäten« (1890). er nicht in das Gefüge der organi24. Vgl. ebd.; außerdem Arnheim: Anschauliches Denken sierten Ordnung »passt«. 25 (1996). Die Erfahrung, dass die In25. Vgl. zum Gestaltbegriff allgemein Lockhead, Pomerantz: terpretation einer Melodie (oder The Perception of Structure (1991); aus prozessorientierter Perspektive Marg: Rhythmus und Rausch (1997); eines komplexen Musikstücks) in der Musikwahrnehmung Dowling, Harwood: Music nicht nur darin besteht, die vorgeCognition (1986); Spitzer: Musik im Kopf (2005); Höllwerth: Musikalisches Gestalten (2007); in der gebenen Tonhöhen in vorgegebenen Bildwahrnehmung Arnheim: Anschauliches Denken Zeitmaßen (Metrik, Rhythmik, (1996); produktionstheoretisch Motte-Haber »ÄsthetiTempo) zu exekutieren, ist geläufig. sche Erfahrung« (2004).

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Vielmehr verlangt die Wiedergabe vom Interpreten, die Gestalt der Musik freizulegen. Dafür bedient er sich zahlreicher Interpretationsmittel (Phrasierung, Klangfarbe, Tongestaltung etc.), um das im (Noten-)Text angelegte Beziehungsgefüge zu verdeutlichen. Die Töne der Werktextur bilden die Form, die emergente Eigenschaft jedoch muss vom Interpreten erschlossen werden. Adam Smith beschreibt bereits 1777 in seiner nicht veröffentlichten Ästhetik, dass und wie die Töne und Rhythmen sich zueinander in Verhältnis setzen, bis sich am Ende die vielen transitorischen Momente zu einem großen Ganzen fügen. Ein geglücktes Instrumentalstück bezeichnet er als »complete in itself«. 26 Der auf historische Aufführungspraxis spezialisierte Dirigent Nikolaus Harnoncourt spricht davon, ein Musikstück trotz der unvollständigen formalen Notation zum »Leben« zu erwecken. 27 Der Ausführende muss über das Verständnis der Organisation des Ganzen, Phrase für Phrase, durch Rückgriffe auf Gespieltes und Vorgriff auf zu Spielendes eine Einheit erschließen. Dies gilt genauso für eine Lautenkomposition des 17. Jahrhunderts von John Dowland wie für ein Orchesterwerk des 20. Jahrhunderts. In einem Werk Helmut Lachemanns zum Beispiel kann ein Geräusch wie Kratzen, Scharren oder Reiben »richtig« (»die Gestalt zum Klingen bringen«) oder »falsch« ausgeführt sein. Der Musiker oder das Ensemble muss die Organisation des Werkes mit Sinn erfüllen. Sinn bezeichnet dabei die werkspezifischen Kriterien, nach denen zwischen Passendem und Unpassendem unterschieden wird, und durch diese Relationierung der Dinge zueinander ergeben sich Interpretationsräume. Eine gelungene Interpretation legt die Gestalt des Werkes als »sinnlichen Sinn« 28 frei.

Weder »Muse« noch »Genie«: die Selbstorganisation des Werkes Bei der Unterscheidung von Ordnungen lassen sich grundsätzlich zwei Modelle ausmachen. Das erste, eher mechanisch geprägte Modell, besteht darin, Ordnungen nach einem vorgefertigten Plan im Detail zu konstruieren und die Teile zielgerichtet nacheinander zusammenzufügen. Die Ordnung, die Organisation der einzelnen Teile zueinander, folgt einem ge- 26. Zit. n. Seidel: »Nachahmung der Natur« (2004), S. 149 f. wissen Bauplan, einer Gebrauchsanleitung. 27. Vgl. Jantsch: Die Selbstorganisation des Sowohl Teile als auch Endprodukt sind im Universums (1992), S. 390. Voraus bekannt. Jemand fügt die einzelnen 28. Vgl. Boehm: »Bildsinn und SinnesorgaTeile zusammen. Das zweite Modell der ne« (1980).

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Ordnungsentstehung sind die spontanen Ordnungen, ihr Vorbild ist der selbstorganisierende Organismus. Spontane Ordnungen sind »natürlich« entstandene oder gewachsene Ordnungen, man findet sie in allen biologischen, psychischen und sozialen Strukturen wieder.29 In Kurzform unterscheiden sich konstruierte und spontane Ordnungen darin, ob sie durch Fremd- oder Selbstorganisation zustande gekommen sind. Eine weitere These lautet daher, dass die Organisation der Ordnung von (Kunst-)Werken durch Selbstorganisationsprozesse vonstatten geht. Das Ordnungsprinzip beschreibt Hermann Haken:

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Es handelt sich hier also um das Phänomen der Selbstorganisation, wo ohne direkte Einwirkung von außen her ein System spezielle räumliche, zeitliche oder funktionale Strukturen hervorbringen kann. [...] Durch das Zusammenwirken können also spontan geordnete Strukturen oder geordnete Funktionsabläufe entstehen. [...] Jenseits dieses Zustandes kommt es zur Ausbildung von einem oder mehreren sogenannten Ordnungsparametern, die die Ordnung des Systems einerseits beschreiben, andererseits aber wieder den einzelnen Teilen des Systems Befehle erteilen, wie sie sich zu verhalten haben, um den Ordnungszustand aufrechtzuerhalten. Es kommt hier zu einer Art von zirkularer Kausalität. Einerseits werden die Ordnungsparameter durch die einzelnen Teile des Systems erst geschaffen, andererseits bestimmen sie aber dann das Verhalten der einzelnen Teile. Die Ordnungsparameter können materieller oder ideeller Natur sein. [...] Beim Auftreten geordneter Zustände aus ungeordneten heraus kommt es zu einem Umschlag von Quantität in Qualität. Der geordnete Zustand besitzt Systemqualitäten, die vorher bei den einzelnen Systemen nicht vorhanden waren. 30

In Selbstorganisationsprozessen bei der Werkentstehung entwickelt sich ein spezifischer Ordnungsmechanismus, der die Relationierung der Elemente des Werkes und 29. Das Modell der selbstorganisierenden Ordnung hat in zahlreichen Disziplinen Anklang gefunden, vgl. im damit seine Gestalt prägt. Den Recht Hayek: Freiburger Studien (1994); in der UrbaUnterschied zwischen einer konnistik Teichmann/Wilke: Prozeß und Form (1996); in struierten (»aufgeräumten«) Ordder Psychologie Tschacher: Prozessgestalten (1997); in der Biologie Riedl: Strukturen der Komplexität nung, also einer, die »rationalen« (2000); in der Organisationstheorie Rieter: »MechaKriterien entspräche, und einer nistische und organismische Ansätze« (1992); in der Soziologie Luhmann: Soziale Systeme (1984); allgedurch Emergenzbildung, also mein Haken: Erfolgsgeheimnisse der Natur (1984). durch Selbstorganisation, spontan 30. Haken: »Über das Verhältnis der Synergetik zur Therentstandenen Ordnung, verdeutlicht modynamik« (1990), S. 19 f. Ursus Wehrli.31 31. Vgl. Wehrli: Kunst aufräumen (2002).

Abb. 1: Joan Miró: L’or de l’azur (1967)

Abb. 2: Ursus Wehrli: Joan Miró – L’or de l’azur, aufräumen

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Wehrlis Projekt und Buch Kunst aufräumen zeigt die Absurdität, die sich entwickelte, würde man die Organisation der Ordnung nach »rationalen« Kriterien wie Größe, Farbe oder Form vornehmen. Dabei geht es nicht um ein bloßes Geordnetsein, was zum einfachsten Strukturniveau führt, sondern um eine Ordnungsausbildung, die eine gegenseitige Differenzierung evoziert: Wehrlis Gegenüberstellung macht deutlich, dass die Gestalt eines Werkes von der Organisation der Ordnung abhängt und dass die jeweils gefundene Ordnungsorganisation sich allein an werkinternen Kriterien ausrichtet – und nicht nach äußerlichen. Niklas Luhmann nennt dies die »Selbstprogrammierung der Kunstwerke«. 32 Als Werk gelingen heißt demnach, jeweils im Einzelfall der Organisation der Ordnung des Werkes gerecht zu werden. Das Werk bestimmt in gewisser Weise also seine Ordnung selbst: Es organisiert sich selbst. Die Regeln zur Erarbeitung des Werkes liegen im Werk. Zugespitzt lässt sich sagen: Nicht der Künstler schafft das Werk, sondern das Werk schafft sich durch den Künstler. Wie aber soll man sich vorstellen, dass das Werk seine Ordnung selbst ausbildet, dass also Selbstorganisation entsteht? Ein gelungenes oder »stimmiges« Werk zu schaffen, ist eine außerordentlich schwierige Aufgabe, denn die Organisation der 178 Ordnung im Werk muss so beschaffen sein, dass sich eine emergente Qualität ausbildet. Die Bildung solch einer emergenten Ebene – ein nicht vorhersehbarer evolutionärer Sprung in der Systembildung –, ist lange Zeit nicht erklärbar. Wie soll plötzlich etwas Neues entstehen, das nicht kausal oder rational erklärt werden kann? 33 In der Kunst bemühte man, um dieses nicht vorhersehbare Phänomen zu beschreiben, das »Genie«. »Genie« steht nach Luhmann deshalb für die »Unwahrscheinlichkeit des Entstehens«.34 Systemtheoretisch handelt es sich hingegen bei der Werkentstehung um die selbstorganisierte Ausbildung einer emergenten Ebene durch einen oder mehrere Phasensprünge und die damit einhergehende Ordnungsbildung: »Kunst demonstriert deshalb immer die beliebige Erzeugung von Nicht-beliebigkeiten oder die Zufallsentstehung von Ordnung«. 35 Diese »spezifisch zufällige« Ordnungsentstehung macht die Einmaligkeit und die Nicht-wiederholbarkeit des Werkentstehungsprozesses aus. Auf die Frage, was ihn inspiriert, 32. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft antwortet der Maler Jörg Immendorff zum (1999), S. 395. Werkentstehungsprozess: 33. Vgl. Willke: Systemtheorie I (2000), S. 130. 34. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (1999), S. 361. 35. Ebd., S. 506.

Wir können uns verabschieden von der Vorstellung, dass irgendeine Muse mich küsst. Dieses Polke-Bild fand ich immer gut:

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Höhere Wesen befahlen. [...] Anders sind Entscheidungen nicht erklärbar, die mir zufließen im malerischen Prozess, ohne dass er chaotisch oder aktionistisch wäre. Es ist aber nicht so, dass die Methode des einen Bildes für die nächste noch Gültigkeit hat. Inspiration geschieht immer wieder neu. Sonst wäre man geneigt, bei erfolgreichen Werken die gleichen Kräfte nochmal zu beschwören. Das funktioniert nicht. 36 Systemtheoretisch interpretiert sind die von Immendorff und Sigmar Polke beschriebenen »Höheren Wesen« keine mystischen oder göttlichen Wesen, sondern die emergente Ausbildung einer selbstorganisierenden Ordnung im Prozess der Werkentstehung.

Repetition und Differenz Betrachtet man die Werkentstehung als System, also als ein Netzwerk von Prozessen, lassen sich folgende Überlegungen anschließen: Durch die »Setzung« einer Idee in Form eines Themas oder Motivs entwickelt sich dieses zunehmend selbstorganisierend. Das Thema oder Motiv wirkt als Attraktor des Systems »Werk« und organisiert seine Ordnung, kann aber auch seine Eigenschaften durch neu hinzukommendes Material verändern, im Sinne einer zirkulären Kausalität. Die nun entstehende Ordnung entscheidet mit über den Einbau weiterer Elemente, sprich den Verlauf des Werkes. Der Werkerschaffende prüft durch die Variation des Materials und die Selektion von Variationen und Stabilisation (Einbau der selektierten Variationen), wie die Struktur der Ordnung weiter ausgebaut werden kann. Der Selbstorganisationsprozess verläuft nicht zielgerichtet, sondern entwickelt sich rekursiv aus dem Kontext: Er wirkt also immer wieder auf sich selbst ein. Der Künstler schafft zwar das Werk, muss sich aber, je weiter er fortschreitet, dem werkimmanenten Selbstorganisationsprozess beugen. Erich Jantsch schildert den Prozess des Schreibens folgendermaßen: Ordnung [...] ist nicht von vornherein etabliert. [...] Ein Satz wird niedergeschrieben; er ist noch frei wählbar. Aber er zieht sofort weitere Sätze nach sich, die ihn in Frage stellen. Bildet eine Folge solcher Sätze ihrerseits eine gewisse Ordnung aus – wir können sagen, eine Ungleichgewichtsstruktur –, so wird sie ihrerseits wieder in Frage gestellt und evolviert zu einer neuen Struktur. Der Autor fühlt sich ohne sein eigenes Zutun ständig über viele solcher Insta- 36. Immendorff: »Ich sehe nicht wofür ich mich entschuldigen müsste« (2004), S. 15. bilitätsschwellen weitergetrieben, ohne

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je Beständigkeit zu erreichen. [...] Man muß die Dinge für sich sprechen lassen. Der Künstler ist bestenfalls Katalysator. 37 Ähnlich äußert sich auch Umberto Eco zu seiner Erfahrung im Schreibprozess – und hier zum Problem der Namensfindung für die Figuren. Als ich den Namen wählte, habe ich jedoch überhaupt nicht daran gedacht, dass Jorge von Burgos der Mörder wäre. Das ist er sozusagen von selbst geworden, denn ein Roman erwächst aus eigenem Antrieb, die Figuren gehorchen einer Art Eigenlogik, die den Erzähler dazu zwingt, ihnen zu folgen. 38 Der Schriftsteller Benjamin Lauterbach erklärt in einer Präsentation (September 2008, Akademie Schloss Solitude) seine Arbeitsweise beim Entwickeln von Texten. Anstoß für seine Arbeiten können »beliebige« Dinge sein, beispielsweise das Sujet einer Postkarte, das bestimmte Assoziationen auslöst. Mit dieser ersten Idee beginnt er eine ausführliche Recherchephase zu dem Thema, sammelt eine Vielzahl von Bildern, Zeitdokumenten und bereist gegebenenfalls die Gegend, in der die Geschichte spielen soll. Während dieser Materialsammlung verdichtet sich seine Geschichte zunehmend, und dann beginnt, wie er sagt, »der Text sich zu schreiben«. 180 Eckhard Lobsien beschreibt das Wiederholungsprinzip ästhetischer Sprache als »eine mehr oder minder Vergegenwärtigung« von früheren Leseinhalten, als Anlagerung und Reminiszensen an das jeweils aktualisierte Textstück«. 39 »Die erinnernde narrative Wiederholung ist nicht der Übergang eines Elements A von einem ersten Kontext in einen anderen; sie ist Kontextbildung selber«.40 Das Wiederholte bekommt durch den neuen Kontext eine neue Gestalt. »Was wiederholt wird, wird dadurch, daß es wiederholt wird, herausgehoben aus seinem Zusammenhang, um es mit anderem, Neuem aktuell zu verbinden« 41.Und an anderer Stelle: »Werden gewinnt den Sinn von Wiederholung, wenn etwas im Prozeß zu dem wird, was es ist, ihm Selbstverborgen, an sich schon ist, und zugleich erhält dabei die Wiederholung die Bedeutung 37. Jantsch: Die Selbstorganisation des einer Offenbarung«.42 Die Metamorphose ist Universums (1992), S. 386. ein konstitutives Integral der Wiederholung. 38. Eco: »Kein Hund ist treuer als der von Baskerville« (2004), S. 16. Villwock nennt sie eine Antwort auf den 39. Lobsien: Wörtlichkeit und WiederhoBestand von Widersprüchen. Wende, Umlung (1995), S. 23. schwung und Übergang sind die Momente 40. Ebd., S. 251. der Entscheidung, die der Wiederholung 41. Villwock: »Wiederholung und Wengegenüberstehen.43 Die Wiederholung hebt, de« (1998), S. 16. indem sie wieder erscheint, die Zeitachse 42. Ebd., S. 15. 43. Vgl. ebd., S. 16. scheinbar auf und führt die Nicht-Linearität

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ins Werk. Wiederholung als Prinzip ist sowohl für die Entwicklung einer dynamischen Symmetrieanlage als auch für den rekursiven Charakter des Werkentstehungsprozesses elementar.44 Dieses Aus-sich-heraus-Entwickeln wird insbesondere in der Musik deutlich. Da diese zeitgebunden ist, muss der Komponist oder der Improvisierende zunächst eine Form, also beispielsweise ein Motiv, ein Thema, eine rhythmische oder harmonische Wendung erkennbar machen. Diese geschieht zumeist durch Wiederholung; dafür hat die musikalische Notation ihre eigenen Zeichen entwickelt, die Wiederholungszeichen .45 Denn es muss zuerst eine Form gesetzt werden, damit die Abweichung von dieser als Abweichung erkannt und die bestehende Form zu ihr in Relation gesetzt werden kann. Die Abweichung und ihre Relation zur bestehenden Form geben dem Werk eine neue Gestalt, die dann über weitere Abweichungen, also Ausdifferenzierungen des Werkes bestimmen. Durch die Abweichung vom Muster entsteht ein Ungleichgewicht, welches das Muster und seine Abweichung in ein Spannungsverhältnis setzt und eine Bewegung zu etwas hin erzeugt. Inkompatible Gesichtspunkte werden aufeinander bezogen und entwickeln erst in ihrem Zusammenwirken eine Einheit.46 Der Zufall spielt bei der Werkentstehung eine wichtige Rolle, aber 181 es ist nicht der willkürliche Zufall, sondern der evolutionär notwendige Zufall.47 Der Werkentstehungsprozess verläuft phasenförmig, aus einem zufälligen (»ent-deckten«) oder absichtlichen (»er-fundenen«) Anfang. Zu Beginn greift das nur locker verbundene Material in dem sich bildenden System auf sich selbst zurück, um aus dem Ausgangsmaterial zu entwickeln. Der Prozess verläuft nicht linear, sondern rekursiv und kumulativ, das heißt, das jeweils Vorausgegangene bildet den Ausgangspunkt für die nächsten Möglichkeiten der Ausdifferenzierung des Werkes. Je weiter das Werk in seinem Entstehungsprozess 44. Vgl. zum Wiederholungsprinzip auch Hilmes, Mathy: Dasselbe noch einmal (1998). fortschreitet, desto spezifischer wird die 45. Man denke auch an Wiederholungsformen 48 Zufälligkeit (»gerichtete Evolution« ). wie die Ketten- und Rondoformen. Es ist jetzt nicht mehr alles möglich, 46. Vgl. Mainzer: »Symmetrie und Symmetriebrechung« (1996), S. 188 ff. Zur Werkanalyse sondern nur noch das, was zur sich ausund Musikgeschichtsschreibung aus der Perbildenden Ordnung »passt«. spektive der Selbstorganisation vgl. ausführDie Vorstellung von der Werkentlich Dadelsen: »Entropie und Systemsprung im musikalischen Organismus« (1993). stehung als Ordnungsprozess, der über 47. Vgl. Treml: »Ästhetik der Differenz« (1993), entropische Prozesse zu Formen ausgeS. 58. prägter Komplexität führt, vertritt auch 48. Probst: Selbst-Organisation (1987), S. 22. Dader (Kunst-)Psychologe und Gestaltthebei wirkt der Zufall, jedoch wird die Wirkung des Zufalls mit zunehmender Organisationsoretiker Rudolf Arnheim. »Strukturthehöhe des Werkes eingeengt, und seine Evolumen« eines Werkes (beispielsweise ein tion läuft in gerichteten Bahnen.

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musikalisches Motiv oder ein Thema) versteht er als eine »dynamische Kräftekonfiguration« und nicht als bloße Anordnung statischer Formen.49 Er beschreibt die Ordnungsausbildung als einen entropischen Prozess einer bezugsweisen Differenzierung, die dann zum Stillstand kommt, wenn die wirkenden Kräfte so verteilt sind, dass sie einander ausgleichen: »Jeder Teil bestimmt seine Form in Beziehung zu all den anderen, und daraus ergibt sich eine klar definierte Ordnung, in der alle Teilkräfte einander derart die Waage halten, daß keine auf eine Änderung des Beziehungsnetzes drängen kann«.50 Im Mittelpunkt stehen dabei nicht statische Vorstellungen von Symmetrie – quasi als Apfelmännchen –, sondern dynamische Systeme und deren komplexe Strukturausbildung. Asymmetrie oder Störungen müssen dabei nicht zwangsläufig punktuell gedacht werden, sie können auch Eintrübungen, Verfremdungen oder De-Kontextualisierungen sein. Im Verlauf der Evolution der Künste führt dies zu einer steigenden Komplexität der Ordnungsausbildung, da Werke sich im Kontext der Künste an vorangegangenen messen lassen müssen und die Formparameter zur Erzeugung von Abweichungen erweitern.51 Die Arbeiten des Konzeptkünstlers Ecke Bonk, der mehrmals auf der Documenta und Biennale in Venedig vertreten war, zeigen dieses Experimentieren zwischen Chaos und Ordnung auf exemplarische 182 Weise. Der Typosoph Bonk versucht, als Künstler naturwissenschaftliche Welt- und Denkmodelle nach dem Motto »ohne wissenschaft keine kunst / ohne kunst keine wissenschaft« sinnlich erfahrbar zu machen. Die künstlerische Erforschung von Zufall, Nonkausalität und Determinismus ist steter Bestandteil seiner Arbeit. In Chaosmos Soundings I / Das Observatorium (Kunstverein Heidelberg, 2011) geht es um das Hörbarmachen der allgegenwärtigen, jedoch für den Menschen nicht wahrnehmbaren kosmischen Strahlung und den atomaren Zerfall – der zufälligste aller Zufälle.52 Dieses Sein von Ordnung in Unordnung (»Chaosmos« als Hybridisierung von Chaos und Kosmos) wird auditiv erfahrbar gemacht. Die Experimentalanlage: Ein Konzertflügel steht auf einer Bühne im Ausstellungsraum, daneben 49. Arnheim: Entropie und Kunst (1979), S. 51. ein Geigerzählerrohr, ein Computer 50. Ebd., S. 54. am Boden und etwas Verkabelung. 51. Für einen historischen Überblick zum Begriff des Wie von Geisterhand erklingen ein»Chaos in der Ästhetik« vgl. Theisen: »Chaos – Ordzelne Tonfolgen aus dem Flügel. Der nung« (2000); zahlreiche Beispiele finden sich auch in dem Ausstellungskatalog Weibel: Jenseits Vorgang: Der Geigerzähler erfasst von Kunst (1997), in dem die Werkentstehung aus die Strahlung im Raum, gibt dies als unterschiedlichen Perspektiven diskutiert wird. Signal an ein Computerprogramm 52. Ecke Bonk. Heidelberger Kunstverein, 09.04.– 15.05.2011, http://www.hdkv.de/ausstellungen/ weiter. Der Computer verarbeitet programm_ausstellungen_eckebonk.htm, (Stand: das Signal mithilfe eines hierfür 10.05.2011).

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entwickelten Algorhythmus, durch den die Tastatur eines Konzertflügels mechanisch bedient wird. Die so erzeugte sehr langsame Tonfolge kreiert eine sonderbare Klangsphäre mit nahezu meditativem Charakter. Sie entsteht hochgradig zufällig, wird jedoch geordnet durch den Algorhythmus, der die Tonfolge, deren Länge und Intensitäten bestimmt. Der Algorhythmus selbst ist dabei das zentrale Stück der Arbeit, denn er erzeugt die Wirkung im Raum, und ihn gibt Bonk nicht preis.53 Dem Einwand, dass Referenzwerke des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise die Readymades Duchamps oder 4’33 von John Cage keine Form im Sinne einer vom Künstler hergestellten Ordnung transportieren – das Readymade wird nicht gemacht, in 4’33 erklingt keine Musik –, kann damit entgegnet werden, dass diese Werke nicht weiter hintergehbare Grenzfälle der Ordnungsausbildung darstellen, und genau über diese Funktion als Referenzwerke erreichen sie ihre Berühmtheit.

Vom Innen und Außen Die Kognitionswissenschaften folgen der Vorstellung, dass Geistes183 funktionen wie zum Beispiel Denken, Erinnern oder Kategorisieren im Wesentlichen durch abstrakte Informationsverarbeitung geprägt ist. Im Bild der Computer-Metapher ist Kognition die »Software«, die auf der »Hardware« des Gehirns läuft.54 Analog gehen die meisten kunstwissenschaftlichen Vorstellungen von einer geistigen, schaffenden Tätigkeit beim Prozess der Werkentstehung aus. Der Künstler hat eine Idee und setzt diese dann im jeweiligen 53. Er verweist dabei auf den mystischen AnMaterial um. Diese Auffassung ist nicht teil des Werkes sowie die Autorschaft des Künstlers am Werk und rekurriert auf Marcel falsch, jedoch verkürzt. Sie gründet auf Duchamps A bruit secret, 1916. Unveröffentder angenommenen Dualität von Geist lichter Vortrag des Künstlers an der Zeppelin University, Friedrichshafen, 31.03.2011. und Körper, bei der entwerfende, kreati54. Vgl. Tschacher: »Wie Embodiment zum Theve Vorgänge der Kognition zugerechnet ma wurde« (2006). werden und dem Körper dabei nur eine 55. Mit dem Begriff »Embodiment« sind nicht untergeordnete Rolle zugeteilt wird. Künstler gemeint, die sich in besonderer Weise mit dem Körper oder Körperlichkeit auseinDas Modell der Kognition als abandersetzen (Bruce Nauman, Rebecca Horn, strakte Informationsverarbeitung hat Dan Graham, Stelarc), siehe zum Beispiel die Ausstellung The Embodiment of Art in der Tate sich innerhalb der vergangenen JahrModern, London im Jahr 2000. Vgl. auch zehnte entscheidend gewandelt und Wulf: »Der mimetische Körper« (2000). führt zum Konzept des Embodiment 55 56. Vgl. Varela, Thompson, Rosch: The Embodied Mind (1991); Varela, Shear: The View als einem neuen Paradigma in der Kogfrom within (1999); Gallagher: How the Body nitionswissenschaft.56 Embodiment beShapes the Mind (2005); Storch u. a.: Embodeutet, dass Kognition unmittelbar vom diment (2006).

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Körper beeinflusst ist; entsprechend findet Kognition auch sinnesspezifisch statt. Embodiment versteht Wahrnehmung und Bewusstsein als ein Zusammenspiel zwischen Körper und Umwelt. Der Vordenker des Embodiment-Konzepts, Shaun Gallagher, geht sogar noch einen großen Schritt weiter. Für ihn entsteht der Geist gewissermaßen aus den Bewegungen des Körpers in der Umwelt: »Für mich ist der Geist keine Substanz, die man an einem bestimmten Ort festmachen könnte. Der Geist ist vielmehr so etwas wie die Summe der Erfahrungen meiner Körperbewegungen. Er entwickelt seine Gestalt aus meinen Bewegungen in der Welt heraus«.57 Das Konzept Embodiment liefert eine für den Werkentstehungsprozess neue und folgenreiche Perspektive: Die Werkentstehung verläuft nicht linear vom Einfall über den Entwurf, als »geistiger Prozess«, zur darauf folgenden Gestaltung im Material ab, sondern es werden die psychisch-physische Interaktion bei den Entscheidungsprozessen während der Werkentstehung und das implizite, verkörperte »Handlungswissen« relevant. Dabei wechseln sich bei der Werkentstehung Phasen konzeptueller kognitiver Tätigkeit und Phasen handwerklicher sinnlicher Tätigkeit ab. Die Materialhaftigkeit sowie das körperliche und emotionale Ausgesetztsein spielen eine wesentliche Rolle; auch und gerade bei den konzep184 tuellen, planerischen Schritten sind die sinnliche Auseinandersetzung mit dem Material und die eigene emotionale Reaktivität von Bedeutung.58 Durch das Zusammenfallen von ausgeführter und empfundener körperlicher Tätigkeit im Handlungsfluss ergeben sich fortwährend Spannung und Antrieb, die zu neuer Musterbildung führen. Die Konzentration liegt dabei ganz auf dem Prozess des »Machens« – bei dem die Grenze von Innen und Außen verschmilzt. Der Künstler geht gleichsam im Prozess auf, das entstehende Werk zwingt ihn immer mehr in seine Umlauf bahn. 57. Gallagher sieht selbst Sprache und Schrift als eine Der Werkentstehungsprozess führt »Verkörperung« an: »Für mich gibt es nichts, was nicht dabei über eine Kaskade von verkörpert ist, noch nicht einmal Theorien schließe ich aus. Erzählungen werden natürlich sprachlich vermöglichen Mustern, von denen fasst. Aber wenn Sie mich fragen: was ist Sprache? viele gleich wieder verworfen werIn einem gewissen Sinne ist Sprache eine motorische Vervollkommnung des Körpers. Es gibt Lautsprache, den, zu neuen SpannungsverSignale mit den Händen, Gesten, das sind zunächst hältnissen, welche die MusterKörperbewegungen. Die voll entwickelte Sprache hebt das zwar auf ein höheres Niveau, aber die sprachbildung weiter antreiben. Dabei lichen Äußerungen, die daraus entstehen, haben ihre ist das sinnliche Erleben des Wurzeln in den körperlichen Erfahrungen und ich bin davon überzeugt, dass man sich nie völlig davon löst.« Materials Voraussetzung für den Zit. n. Hubert: »Körper im Kopf« (Stand: 02.04.2011), künstlerischen Schaffensprozess: unpaginiert. gleich ob das Material mit den 58. Vgl. Tschacher: »Wie Embodiment zum Thema wurde« Händen be-griffen und geformt (2006).

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wird, oder der Körper selbst das Material ist (wie im Tanz), oder eine virtuelle Repräsentation des Materials stattfindet – nämlich wenn der Komponist sein Werk im Kopf beim Komponieren »hört«. Erst das grounding, also die Verkörperung und die physische Erfahrbarkeit des Mediums, treibt den Prozess des künstlerischen Forschens nach der jeweils optimalen Ordnungsorganisation voran. Dieses Korrespondieren von Werk und Person im Schaffensprozess macht die koreanische Tänzerin Min Kyoung Lee zum Ausgangspunkt ihres Werkes. Sie stellt in ihrer Tanzperformance Did She Dance on Stage (UA, Juli 2008, Akademie Schloss Solitude) Fragen über den Tanz und versucht, ihnen im Medium Tanz nachzugehen. Min beginnt mit ausgewählten Thesen wie: Tanz kann passieren oder auch nicht; Tanz ist zunächst ein Experiment, und erst dann kann man Bedeutungen damit transportieren. Was macht Tanz aus? Welche Erfahrungen und Gefühle löst Tanz beim Beobachter, dem Publikum aus? Die Wechselwirkung von Geist, Körper und Raum wird durch die Experimentreihe (im Sinne einer Handlungsaufforderung) a bis e herausgeschält, die sie nacheinander in ihrer Perfomance auf die Rückwand projiziert und dann tänzerisch durchprobiert: 185

DID SHE DANCE ON STAGE I start with this proposition that dance is the ›movement of the desire to move‹. I also propose that dance is an event, something that either happens or doesn’t. So when I say I search for dance, I am searching for the movement of this desire. I will try following only movement desires WKDWDUHXQLGHQWL¿DEOHWRPHDQGDYRLG IROORZLQJFOHDUO\LGHQWL¿DEOHGHVLUHV7KLVLV QRWWRIROORZVSHFL¿FVKDSHVEXWWROHWLWV impulse shape my movement in an undetermined way. ,WU\WREUHDNGRZQWKHIRUPRIGDQFHLQ RUGHUWRPDNHWKHH[SHULHQFHRIGDQFH UHFRJQL]DEOHE\\RXDQGPHDWWKHVDPHWLPH as it happens.

Martin Tröndle )ROORZLQJWKH8QLGHQWL¿DEOH0RYHPHQW'HVLUHV a. Stillness as medium ,NHHSVWLOOXQWLO,UHFRJQL]HDQLPSXOVHWR move. I cooperate in the manifestation of the PRYHPHQWE\JRLQJZLWKWKHLPSXOVHIRUDV long as it is felt. E0RYHPHQWDVPHGLXP ,NHHSPRYLQJFRQWLQXRXVO\FKDQJLQJ postures. I try to feel the direction of the desire in each moment of change and integrate it in the constant changes. c. Direction & stillness as medium ,LPDJLQHDGLUHFWLRQLQVSDFH,NHHSVWLOO until I recognize the desire to move into that proposed direction. G0HGLXPDVPHGLXP " ,GRVRPHWKLQJ,VWDUWPRYLQJ¿UVWDQGDYRLG IROORZLQJDQ\VSHFL¿FVHWWLQJ,WU\DQGVHH if a desire to move emerges out of the activity itself. 186

H(VVHQFHDVPHGLXP " I constantly determine and change the medium. I try to navigate through desire to desire IRUPRYLQJDQGVLPXOWDQHRXVO\IRU¿QGLQJWKH medium.

Der Titel ist Programm: Did She Dance on Stage? Entsteht das »movement of this desire«? Findet Gestaltbildung statt (»follow specific shapes«), und kann sie sich dieser überlassen (»I try and see if a desire to move emerges out of the activity itself«)? Mit diesem experimentellen Vorgehen erforscht Min durch künstlerische Mittel den Werkentstehungsprozess im Medium Tanz und untersucht die körperlichen und geistigen Momente der Tanzperformance.

Forschen im Modus der Kunst Intelligenz bezeichnet eine Eigenschaft von Kognition, nämlich das Denkvermögen, also die Fähigkeit zum Erfassen und Herstellen von neuen Bedeutungen, Beziehungen und Sinnzusammenhängen. Das Konzept Embodiment geht davon aus, dass Intel59. Vgl. Tschacher: »Wie Embodiment ligenz verkörperte Intelligenz ist, sie also nicht zum Thema wurde« (2006).

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ohne das Interface Köper intelligent sein kann. Dem folgt auch die Artificial Intelligence und die Robotik, die lange (und vergebens) versucht haben, künstliche Intelligenz körperunabhängig zu entwickeln.59 Das Konzept der verkörperten Intelligenz hat für Künstler Bedeutung: Künstler haben – so die hier vertretene These – eine besondere Form von Intelligenz entwickelt, »künstlerische Intelligenz«. Sie gibt zum einen die Fähigkeit, die Wechselwirkung von innerer und äußerer Repräsentation extrem zu verdichten und den Gestaltungsimpulsen, die sich im Prozess ergeben, zu folgen. Zum anderen fällt in ihr die jahrelange körperliche Erfahrung mit der Reflexion über das Medium zusammen und führt so bei der Suche nach neuen Ordnungsausbildungen zu einer besonderen Fähigkeit der Musterbildung. Künstlerische Intelligenz kann als die Fähigkeit bezeichnet werden, neue Musterbildungen hervorzubringen, mit denen »sinnlicher Sinn« erzeugt werden kann, das heißt Sinn, der nicht nur reflektierend (wie dieser Text), sondern körperlich erfahren werden kann. Im Embodiment nennt man dies symbol grounding. Beim künstlerischen Schaffensprozess geht es nicht darum, eine formale Syntax zu etablieren, also die Objekte oder Dinge allein durch äußerliche Regeln im Sinne eines technischen Vorgehens logisch miteinander zu verknüpfen, sondern der künstlerische Forschungsprozess verläuft durch das Material und führt so zu einer semantischen Ordnung, die dadurch bestimmt wird, der Ordnung des Materials durch seine spezifische Organisation Bedeutung zu geben. Das Kunstwerk bildet seinen eigenen Kontext. Es versucht, Form und Kontext in Einheit zu bringen, die Einheit der Differenz zu sein. Die Kunstform zieht alle Verweisung ein, und was sie wieder abstrahlt, ist nur ihre eigene Bedeutung. [...] Die Differenz von Form und Kontext dient dazu, an der Form Weltbezüge sichtbar zu machen und so die Welt in der Welt zum Erscheinen zu bringen.60 Das Werk spiegelt nicht die Welt wider, sondern konstruiert sie, als Re-entry (George Spencer-Brown) erschließt das Werk eine Welt, in der es selbst erscheint. Der Kontext des Werkes ist all jenes, auf was es durch Zitieren, Dekomponieren, Verkürzen, Abstrahieren, das Placement etc. verweist: Ein Kunstwerk sein heißt, dass ein System von Unterscheidungen – gleichsam autopoetisch – zustande gekom- 60. Luhmann: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst« (1986); men ist. Ein Gegenstand ist ein Kunstwerk, vgl. auch ders.: Die Kunst der Gesellweil er zeigt, dass es sich um ein konstruierschaft (1999), S. 499 ff. tes System von Unterscheidungen handelt 61. Krieger: Kommunikationssystem Kunst (1997), S. 16. und sonst nichts. [...] Das Kunstwerk bildet

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somit ein kleines semiotisches System, wie eine Sprache, worin es wieder vorkommt – wir können über die Sprache nur in der Sprache reden. Deswegen können Kunstwerke nur in und durch sich selbst verstanden und kritisiert werden. Denn im Kunstwerk erhält jedes Zeichen eine Bedeutung nur aus den Relationen, die es mit allen anderen Zeichen eingeht. [...] Wenn wir ein Kunstwerk interessant, spannend, schön oder gelungen finden, dann bewundern wir es als die sich darin manifestierende Tätigkeit des Konstruierens. Dies ist die Form der Fiktion. 61 Bei David J. Krieger ist die Fiktionsleistung dieser Formverweise semiotisch, quasi noch entkörperlicht gedacht; einen Schritt weiter geht Adrienne D. Chaplin mit ihrem Konzept der evolutionstheoretischen Ästhetik. Sie rekurriert auf Maurice Merleau-Ponty, um den Vorgang des groundings bei der Werkentstehung zu beschreiben:

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For Merleau-Ponty, this unity of the mental and the physical in perception is exemplified in a work of art. Just as expressions and gestures of the body are indistinguishable from what they are perceived as expressing, so works of art or music cannot be separated from what they express. In a picture, ›the idea is incommunicable by means other than the display of colors‹ and in a piece of music ›[t]he musical meaning of a sonata is inseparable from the sounds which are its vehicle.‹ There is no ›idea‹ behind the work of art. The painter thinks with his brush and paints. A paint brush or musical instrument functions like a walking stick for a blind person, that is, as a ›bodily auxiliary, an extension of the bodily synthesis.‹ Both language and painting are rooted in the primordial, expressive gestures of the human body. I do not have a body, ›I am my body.‹ 62

Experimentelle Materialforschung zur Produktion von Sinnüberschuss Wer Forschung betreibt hat einen Erkenntnisfortschritt zum Ziel. Forschung lässt sich allgemein als Suchen nach Erkenntnissen über sich oder die Welt beschreiben.63 62. Chaplin: »Art and Embodiment« (Stand: 02.04.2011), Das Ziel der wissenschaftlichen unpaginiert; mit Zitaten aus Merleau-Ponty: Phenomenology of Perception (1962). Forschung ist die Hervorbrin63. Vgl. Brohl: »Displacement als ortsbezogene künstlerische gung von Theorien mit immer Forschungspraxis« (2008). größerer Reichweite,64 in der 64. Vgl. Radnitzky: »Wert« (1992), S. 384. möglichst umfassenden Beschrei65. Vgl. Seiffert: »Wissenschaft« (1992), S. 391. bung eines Phänomens zeigt sich 66. Brenne: »Künstlerisch-Ästhetische Forschung« (2008), S. 7. ihre Nützlichkeit. Ergebnisse der

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wissenschaftlichen Forschung sind Aussagen über Etwas, sie müssen überprüfbar, das heißt nachvollziehbar sein. Dazu ist die Methode, wie man zu diesem Ergebnis kommt, zu dokumentieren. Sie baut auf das Prinzip der Intersubjektivität und bringt damit unweigerlich eine Entkörperung mit sich.65 Ausgangspunkt der künstlerischen Forschung sind das Subjekt und seine Wahrnehmung. Der Begriff der »künstlerischen« oder »ästhetischen Forschung« beschreibt die Auseinandersetzung mit sinnlichen Qualitäten eines Gegenstandes oder Prozesses, es kommt phänomenologisch die Sache selbst zur Sprache.66 Der Prozess ist grundsätzlich ergebnisoffen, die Methode richtet sich nach der Materialität des Gegenstandes. Künstlerische Forschung verlangt keine logische oder lineare Verknüpfung des Erforschten. Wie der Künstler auf sein »Ergebnis« – eine spezifische Ordnungsausbildung – kommt, ist für die Beobachtung zunächst irrelevant, das Werk muss als Einzelfall funktionieren und überzeugen. Allerdings legt auch der Künstler seine »Methode« offen. Die Methode kann beispielsweise darin liegen, Musik mit zwölf Tönen zu komponieren, und das Material ein Streichquartett sein. Das Werk überzeugt, weil es auf bestimmte Weise mit der gewählten Materialität umgeht und sie gegebenenfalls auf exemplari189 sche Weise methodisch neu organisiert. Diese Neuorganisation der Materialität in Bezug auf die thematische Kontextualität des Werkes macht den Forschungscharakter der Kunstforschung aus. Im Gegensatz zur Wissenschaft geht es in der Kunst also nicht darum, gefundene Methoden möglichst oft zu replizieren, um so Anschlussfähigkeit herzustellen, sondern Methoden neu zu erfinden oder zumindest zu modifizieren. (Hier ließe sich an Thomas Kuhns Wissenschaftstheorie anschließen und man käme zu dem Schluss, dass die wahren Wissenschaftler, also nicht die Kreuzworträtsel lösenden, immer künstlerische Anteile in ihrem Arbeitsprozess haben.) In beiden sozialen Systemen, dem Wissenschafts- wie auch dem Kunstsystem, wird die Leistung des Einzelnen diskursiv verhandelt und in einem ausdifferenzierten Prozess geprüft. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Forschungsarbeiten, die sich zumeist in schriftlichen Dokumenten niederschlagen, wird das Ergebnis der künstlerischen Forschung durch das Material und dessen Ordnung transportiert. Künstlerische Forschung bedeutet aus formalästhetischer Perspektive Forschen mit und durch das Material, um es in neue Ordnungen zu bringen. So wie der Wissenschaftler die »Welt« mit einer möglichst allgemeinen Methode beobachtet und sie in Theorien zu beschreiben versucht, beobachtet der Künstler die »Welt« aus einer individuellen Warte. 67. Vgl. Böhme: Aisthetik (2001).

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Der Künstler schafft durch ein feines Spiel mit Nuancen sinnlicher Wahrnehmung Unterscheidungsmöglichkeiten, welche die Wissenschaft nicht anbieten kann. Künstlerische Forschung bildet durch Forschung mit dem und durch das Material ein symbol grounding, das Symbolisches aisthetisch 67 erfahrbar macht und dadurch Sinn anders generiert. Für Merleau-Ponty verhält sich die Wissenschaft zur erfahrbaren Welt wie die Geografie zur Erfahrung eines Menschen in Städten, Wäldern und Bergen. Der Künstler schafft für Merleau-Ponty hingegen mit seiner Arbeit für den Beobachter einen körperlichen, direkten Zugang zur Erfahrung des Einzelnen. Diese Verschmelzung von Materialität und Information, das symbol grounding, das nur körperlich empfunden werden kann, macht den Kern des Konzepts künstlerischer Forschung aus einer formalästhetischen Perspektive aus. Der künstlerische Forschungsprozess ist geprägt durch implizites und explizites Wissen, durch die Ausbildung, die kulturelle Umgebung und das Können, also die Fähigkeit, mit der Materialbearbeitung umgehen zu können (dem eigenen Körper, der Erzähltechnik, der kompositorischen Satztechnik und Ähnlichem). All diese Faktoren fließen in den Prozess ein und bestimmen die ständige Interaktion zwischen Material und Bearbeiter. Die auftretenden Muster 190 und Gestalten nimmt der Bearbeiter sinnlich wahr und bringt diese Erfahrung wieder in den Prozess ein. Diese permanente Evolution von auftauchenden und evolvierenden Gestalten kann man sich am besten als eine Aneinanderreihung von Experimenten vorstellen, wobei jedes Ergebnis zu einem neuen Experiment führt. Es gibt keine »Auswertungsphase« wie bei einer wissenschaftlichen experimentellen Anordnung und auch keine Veränderung einzelner Parameter bei verschiedenen Durchführungen des Experiments. Vielmehr bleibt das Werk bis zu seiner »Fertigstellung« Experiment.68 Dabei ist nicht die Nachvollziehbarkeit der »Versuchsanordnung« von Interesse – wie es von einem wissenschaftlichen Experiment gefordert würde –, sondern allein die Stimmigkeit der Gesamtheit. Das Experiment und das Ausschlussverfahren bestimmen somit zu weiten Teilen den Schaffensprozess. In der Kumulation dieses Prozesses steigt die Komplexität des Werkes, da sich nun immer mehr interne Verweisungszusammenhänge ergeben. Es entstehen Symmetrien, die gebrochen werden, Ungleichgewichte, die ausbalanciert werden, und kritische Kippmomente, die über das Gelingen des Werkes als Ganzheit entscheiden. 68. Und nach Eco und anderen lässt sich auch der Der Schweizer Künstler Jürg Stäuble Rezeptionsprozess als Experiment fassen, was hier jedoch nicht interessiert. beschreibt seine Werkentstehungspro69. Eine Werkübersicht findet sich unter http:// zesse folgendermaßen:69 www.juergstaeuble.ch, Stand: 10.05.2011.

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Beim Erarbeiten und Erweitern des eigenen Fundus für die künstlerische Arbeit, sammeln sich diverse Materialien an, entstehen Ideenskizzen, Denkmodelle und Arbeitsproben. In einem andauernden Klärungs- und Verdichtungsprozess werden gewisse Elemente auf die Seite gelegt, andere weiterverfolgt und wenige konkretisiert. Einzelne Ergebnisse kippen in einen »Zustand«, den ich als Kunst bezeichnen würde. In meiner eigenen Arbeit bin ich mir dieses Kippmoments sehr bewusst und die Grenze zwischen Kunst und nicht Kunst ist mir meist sehr klar. Argumentative Begründungen hingegen sind oft schwierig. [...] Zwischenresultate aus dem Arbeitsprozess, denen ich den Status eines Kunstwerks noch nicht zuerkennen würde, weisen oft ähnliche Eigenschaften auf wie abgeschlossene Kunstwerke. Selbst Abschnitte und Abfallprodukte aus dem Herstellungsprozess können künstlerischen Arbeiten sehr nahe kommen ohne dass ich sie als Kunst bezeichnen würde. Oft bilden diese Zwischenprodukte und Reste eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung der künstlerischen Arbeit.70 Künstler arbeiten ihr Leben lang daran, ihre Kompetenzen zu diesem intuitiven Wissen und Handeln zu destillieren. Sie richten sich nicht nach Regeln und Anleitungen, den Hilfsmitteln, mit denen Anfänger isolierte Fakten und Informationen verknüpfen würden. Vielmehr »fühlen« sie, wann sie richtig liegen, das heißt, sie haben ihr methodisches Wissen verkörpert.71 Künstlerische Forschung ist embodied. Die Künstlerin Nadja Schöllhammer (Präsentation an der Akademie Schloss Solitude, August 2008) pointiert: »Ich denke mit den Händen«.

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So what? Was kann aus dieser Analyse des Werkentstehungsprozesses für unsere Fragestellung gewonnen werden? Was bedeutet dies für eine Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst zu einer möglichen ästhetischen Wissenschaft?72 Zumindest folgende Punkte sind bei einer Methodenkonzeption zu bemessen: Künstlerische Arbeitsprozesse verlau- 70. Der Text stammt aus einem nicht-veröffentlichten Workshop-Papier, vorgetragen im April fen weder »rational« noch linear, und sie 2006 an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel. sind auch nicht planbar. Sie sind durch 71. Tschacher: »Wie Embodiment zum Thema Selektion, Variation und Stabilisation wurde« (2006), S. 14. gekennzeichnet. Sie greifen rekursiv auf 72. Vgl. die Beiträge von Karen van den Berg, sich selbst zurück, um aus dem AusSybille Omlin, Martin Tröndle; Wolfgang Krohn; Adelheid Mers u. a. in diesem Band. gangsmaterial zu entwickeln und sind in

Martin Tröndle

hohem Maße embodied, evolutionär und sprunghaft. Das Scheitern ist notwendige Voraussetzung, um das experimentelle Vorgehen zum Erfolg zu führen. Diese Nicht-Planbarkeit macht die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Künstlern schwer und erfordert ein hohes Maß an Moderation in dem Forschungsprozess. Die entstehende Unsicherheit muss im Forschungssetting produktiv verwunden werden. In Arbeitsteams, in denen Wissenschaftler und Künstler sich gemeinsam einer Fragestellung annehmen, ist daher eine Kultur der gegenseitigen Akzeptanz zu etablieren, um durch »produktive Missverständnisse« Erkenntnisfortschritte erzielen zu können. Damit diese Prozesse in Gang kommen können, braucht es Rahmenbedingungen, die hohe Freiheitsgrade zulassen, und viel Zeit. Die im Forschungsprozess beteiligten Künstler sowie Wissenschaftler müssen den Mut haben, ihre disziplinären Grenzen und Standardisierungen im Forschungsprozess zu überwinden und sich auf Unbekanntes im Vorgehen einzulassen. Damit der Schritt von der Inter- zur Transdisziplinarität gelingt, muss der Grad der Integration der beteiligten Disziplinen erhöht werden. Das Nebeneinander wird durch das Miteinander durch die gemeinsame Entwicklung problemorientierten Forschungssettings und dementsprechend auch problemorientierten Methodeninstrumentariums abgelöst. Dieser 192 qualitative Sprung zu einem hybriden Vorgehen entsteht jedoch nur bei einer hohen Interaktionsdichte der Akteure. Notwendig ist in Kunstforschungsprozessen ebenso eine hohe Konzentration auf den Prozess und das Zulassen der inhärenten Logik des »Machens«. Nur durch die Möglichkeit einer selbstorganisierenden Entwicklung werden Singularität und damit Originalität im Forschungsprozess möglich. Der Prozess der Kunstforschung ist in hohem Maße verkörpert. Möchte man Kunstforschung in einem wissenschaftlichen Kontext nutzen, muss man mit Personen zusammenarbeiten, die über die Techniken der Verkörperung, also Künstler, verfügen. Deren Methoden sind nicht wie die Methoden der Wissenschaftler mehr oder weniger einfach erlernbar, sondern individuell verkörpertes Erfahrungswissen. Die Materialwahl beeinflusst die Strukturbildung. Sie begünstigt oder verhindert bestimmte Dinge, legt also schon im Vorhinein fest, was eher möglich ist und was nicht. In einem Forschungsteam könnten daher durchaus zwei oder mehr Künstler sich desselben Phänomens annehmen und es in unterschiedlichen Materialien bearbeiten. Erst danach wird man sehen, worin sich die Bearbeitungen unterscheiden und worin ihr epistemologischer Mehrwert im Unterschied zueinander, aber auch zu konventionellen 73. Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis (2002), S. 270. wissenschaftlichen Methoden liegt. Ist durch

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Klang etwas anders erfahrbar als durch ein Bild? Zeigt sich in der Bewegung anderes als mit einem statischen Verfahren? Was lässt sich durch die ästhetisch materialisierten Ergebnisse anderes sehen, als beispielsweise durch mathematisch-statistische, quantitative sozialwissenschaftliche oder phänomenologische Methoden? Die spezifische Organisation der Ordnung, die eine bestimmte Differenzierung evoziert und durch die sie neues Wissen ermöglicht, erzeugt den Mehrwert der »Kunstforschung«. Wenn wir wissenschaftliches Handeln als »interpretative Rationalität« 73 fassen, die die Welt symbolisch vermittelt, wird es zwingend, die Künste mit den Wissenschaften zu verwinden. Eine aisthetische Wissenschaft mit künstlerisch geprägten Forschungs- und Repräsentationsmodi zu konzipieren, ist sicher gewagt, jedoch Erkenntnis fördernd, und darum sollte es ja gehen.

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Abbildungsnachweise Abb. 1, S. 177: Joan Miró: Das Gold des Azurblau. 1967 © Successió Miró / VG Bild-Kunst, Bonn 2011 Abb. 2, S. 177: Ursus Wehrli: Joan Miró – L’or de l’azur aufräumen © Ursus Wehrli, in: ders.: Kunst aufräumen. Zürich 2002 © 2004 KEIN & ABER Verlag Zürich, Berlin

Entwurf – Technik –

Diagrammatik

Claudia Mareis

Kreativitätstechniken, Geschichte

künstlerische

und

Methodische Imagination – Forschung

Der methodologische Status von kreativen Techniken, von künstlerischen Praktiken generell, als Modi der Wissensproduktion stellt eines der Kernthemen in der laufenden Debatte zu Artistic Research als ästhetische Wissenschaft dar.1 Wenn Tätigkeiten wie Aufzeichnen, Skizzieren oder Notieren als epistemische Verfahren »an der Entfaltung von Gegenständen des Wissens teilhaben«, wie Christoph Hoffmann schreibt, 2 dann ist für die künstlerische Forschung von Interesse, ob und inwieweit diese Verfahren für Entwurfs- und Erkenntnisprozesse systematisierbar sind. Besonders ergiebig lässt sich diese methodologische Dimension der künstlerischen Forschung mit Blick auf die im vorliegenden Band adressierte transdisziplinäre Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst diskutieren. Exemplarisch wird sie im vorliegenden Text anhand von Kreativitätstechniken und in Hinblick auf ihre interdisziplinäre historische Genese untersucht. Ein produktiver Einstiegspunkt in diese Diskussion ist der Topos des Neuen respektive 1. Methodenfragen in der künstlerischen Forschung werden beispielsweise in folgenden Publikadie Frage, ob und vor allem wie neues tionen diskutiert: Gray, Malins: Visualizing Wissen und Innovationen vermittels beResearch (2004); Hannula, Suoranta, Vadén: Artistic Research (2005); Barrett, Bolt: Practistimmter Techniken systematisch erzeugt ce as Research (2007). werden können. Bereits bei kursorischer 2. Hoffmann: »Festhalten, Bereitstellen« (2008), Betrachtung lassen sich (wohlbekannte) S. 7.

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epistemologische und ästhetische Narrative sowie Interdependenzen zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Diskursen ausmachen. Unbestritten gilt »das Neue« sowohl in der Geschichte der Wissenschaften als auch der Künste als zentraler sinnstiftender und handlungsleitender Topos – wenngleich er in beiden Feldern auf unterschiedliche Weise und im Verlauf ihrer Genese unter wechselnden Vorzeichen diskutiert wurde. Als Forschung wird gemeinhin (und meist unzureichend) die systematische Suche nach neuen Erkenntnissen im Gegensatz zu zufälligen Entdeckungen beschrieben. 3 Maßgebliche Wissenschaftshistoriker aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie George Sarton sehen den Schlüssel zum Erfolg der westlichen modernen (Natur-)Wissenschaften in der konsequenten Anwendung einer systematischen experimentellen Methodik, die zur Genese neuer Erkenntnisse führen soll.4 Diese Sichtweise wird bis heute außerhalb und (teils) innerhalb der Wissenschaften perpetuiert, wenngleich sie aufgrund ihrer erstens teleologischen und zweitens eurozentrischen Färbung in neueren wissenschaftshistorischen Texten problematisiert wird.5 Der Erfolg, den man der modernen Wissenschaft aufgrund der Entdeckung und »Erfindung« von neuem Wissen zuschreibt, gibt bis heute Anlass zu kontroversen, oft 204 sehr grundlegenden Überlegungen zum Status und Charakter »des Neuen«. Während beispielsweise Helga Nowotny, Peter Scott und Michael Gibbons den ambivalenten, »herausfordernden Charakter« von wissenschaftlich-technischen Neuerungen und die durch sie erzeugte Infragestellung etablierter Strukturen adressieren, betont Boris Groys vor allem die stabilisierende Wirkung »des Neuen« im Hinblick auf gesellschaftliche Archivierungs- und Ordnungssysteme.6 Jede Innovation sorge, so seine These, für Wachstum, Aktualität, Stabilität und Effektivität des valorisierten kulturellen Gedächtnisses sowie der hierarchisch aufgebauten Institutionen, die dieses Gedächtnis verwalten und seine Funktionen gewährleisten.7 Beide Betrachtungsweisen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eint indes die Frage nach den konkreten Verfahren, Techniken und 3. Oxford Dictionaries führt zum Beispiel folgende Definition für research an: »the systematic invesMethoden, vermittels derer das tigation into and study of materials and sources vielbesagte Neue »entdeckt«, erzeugt in order to establish facts and reach new conclusions«. http://oxforddictionaries.com, (Stand: oder vielmehr sogar ausgehandelt 10.05.2011). werden soll, sowie nach der mit 4. Vgl. Sarton: The Life of Science (1948), S. 161 f. diesen Praktiken einhergehende Sta5. Vgl. Elshakry: »When Science Became Western« bilisierung oder Destabilisierung von (2010), S. 107. Wissensbeständen. 6. Vgl. Groys: Über das Neue (2004). 7. Vgl. ebd., S. 64.

Methodische Imagination – Kreativitätstechniken, Geschichte und künstlerische Forschung

Für die Künste wird der Topos des Neuen im 20. Jahrhundert namentlich im Zuge der Avantgarde-Bewegungen der Moderne virulent. Als wichtigstes Kapital des avantgardistischen Künstlers, Designers oder Architekten gilt seine gestalterische Neuerungskraft. Astrit Schmidt-Burckhardt hält dazu fest: »Gefragt waren Ausdrucksformen, die sich von allen bisherigen unterschieden und abgrenzten. Wichtiger als das Original wurde die Originalität«8. Allerdings kann SchmidtBurckhardt nachweisen, dass der »radikale Traditionsbruch«,9 den die künstlerische Avantgarde für sich beansprucht, an bestehende künstlerische Genealogien anknüpft. Außerdem werde im Verlauf der Zeit und mit zunehmender Forderung nach immer neuen »Kunst-Ismen« der propagierte Bruch mit der Tradition selbst zu einer Tradition in der Kunst – ein Phänomen, das sie mit Harold Rosenberg als »the tradition of the new« bezeichnet.10 Auch in der künstlerischen Forschung steht gegenwärtig die Genese von neuem Wissen im Zentrum der Anstrengungen. Die australische Swinburne University of Technology beispielsweise, die einen PhD in Design anbietet, schreibt in ihren Regularien: »Doctor of Philosophy (PhD) is a research degree that focuses on the generation of new design knowledge through scholarly investigation, using practices and processes central to design.«11 205 Doch es gibt auch Gegenstimmen, die den Anspruch, immer neues Wissen zu produzieren, problematisieren. James Elkins, der sich mit den neuen Doktorandenprogrammen in den Künsten und im Design kritisch auseinandersetzt, interpretiert die angestrengte Suche nach neuem Wissen dahingehend, dass diese nicht allein epistemischen Interessen folge, sondern »the initial impetus behind the terms research and new knowlegde [is] purely economic«.12 Auf ähnliche Weise erinnert auch Tom Holert an die Zwänge eines »kognitiven Kapitalismus«, mit denen sich die künstlerische Forschung gegenwärtig konfrontiert sehe.13 Zu vermuten ist, dass sich in dem Postulat, künstlerische Forschung solle neues (künstlerisches, kreatives) Wissen generieren, tradierte Topoi 8. Schmidt-Burckhardt: Stammbäume der des Neuen sowohl aus Wissenschaft und Kunst (2005), S. 15. Kunst vermischen und es von marktwirt- 9. Ebd., S. 1. schaftlichen und bildungspolitischen Inno- 10. Vgl. Rosenberg: The Tradition of the New (1994), S. 9–11. vationsinteressen angeleitet wird. Ungeachtet 11. http://www.swinburne.edu.au/design/ dessen, wie kontrovers der Status von neuem research/research - pro grams.php, Wissen in der künstlerischen Forschung (Stand: 10.05.2011). (Hervorhebung CM). ausgehandelt wird, sind in den einschlägigen 12. Elkins: »On Beyond Research and New Debatten stets die konkreten methodischen Knowledge« (2009), S. 112. Verfahren bedeutsam, vermittels derer das 13. Holert: »Art in the Knowledge-Based »Neue« systematisch produziert werden soll. Polis« (2009), S. 10.

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Kreativitätstechniken und künstlerische Forschung

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Ausgangspunkt der folgenden Erörterungen ist die Beobachtung, dass im Kontext der künstlerischen Forschung zunehmend Bestrebungen auszumachen sind, kreative, das heißt (vermeintlich) genuin künstlerische oder gestalterische Techniken und Darstellungsverfahren als Wissenstechniken oder sogar Forschungsmethoden aufzufassen und sie für die Belange der künstlerischen Forschung zu instrumentalisieren. Als geeignete »empirische Methoden«14 werden unter anderem Kreativitäts- und Ideenfindungstechniken wie Brainstorming, Pinnwand-Moderationen, Szenario-Techniken oder die Verwendung von sogenannten Morphologischen Tabellen angeführt (Abb. 1). Diesen Techniken wird attestiert, sie könnten am Anfang eines kreativen Prozesses Ideen erzeugen, auf die »man mit logisch-strukturierter Systematik nicht gekommen wäre«.15 Der Akzent dieser Lesart liegt mithin auf der oppositionellen Rolle, die Kreativitätstechniken gegenüber analytischen oder logischen wissenschaftlichen Methoden einnehmen sollen. Diese Rollenverteilung bringt jedoch mit sich, dass auf der Ebene der jeweiligen Methoden und Praktiken eine polarisierende Dichotomie von Kunst (oder Design) versus Wissenschaft konstruiert wird, in der Kunst über Zuschreibungen wie dem »Schöpferischen« oder dem »Irrationalen« stabilisiert wird,16 während Wissenschaft einseitig als Naturwissenschaft verstanden und auf (längst problematisierte und differenzierte) Attribute wie »Objektivität« oder »Rationalität« reduziert wird.17

Abb. 1: Beispiel für eine Morphologische Tabelle als Technik zur Ideengenerierung

Methodische Imagination – Kreativitätstechniken, Geschichte und künstlerische Forschung

Mögliche Gründe für eine derartige Positionierung der künstlerischen Forschung (nämlich in Opposition zu wissenschaftlicher Forschung) sind in ihren institutionellen Anfängen zu suchen. In Europa werden in den 1970er und 1980er Jahren, zunächst in Großbritannien und Finnland, bildungspolitische Umstrukturierungen an Kunsthochschulen zum Anlass genommen, darüber nachzudenken, wie ein eigenständiger Modus der künstlerischen Forschung beschaffen sein könnte und wie sich dieser von der »akademischen« Forschung abgrenzen könnte. Als paradigmatische Setzung gilt seither, künstlerische Forschung als praxisbasierte Alternative zu einer angeblich praxisfernen wissenschaftlichen Forschung zu verstehen.18 Es verwundert kaum, dass diese Setzung ihrerseits auf bestimmten polarisierenden, oft verkürzten und karikierenden Vorstellungen von Kunst und Wissenschaft gründet. In seinem programmatischen und mittlerweile redundant zitierten Text zur Forschung in Kunst und Design von 1993/1994 hält Christopher Frayling, späterer Rektor am Royal College of Art in London, fest, dass wissenschaftliche Forschung gemeinhin mit folgender Bedeutung assoziiert werde: »[…] obscure corners of specialised libraries, where solitary scholars live; white-coated people in laboratories, doing esoteric things with test-tubes; universities rather than colleges; arms length, rather 207 than engagement; artyfacts, rather than artefacts; words rather than deeds.«19 Forschung in Kunst und Design werde demgegenüber, so Frayling weiter, auf eine viel pragmatischere Weise verstanden als etwas »what artists, craftspeople and 14. Vgl. Brandes, Erlhoff, Schemmann: designers do all the time«, als »deeds not Designtheorie und Designforschung (2009), S. 129–191. words« – Taten statt Worte. 20 Der Akzent, den Frayling und mit ihm zahlreiche andere 15. Ebd., S. 166. Gau, Schlieben: »Verbindungen zwifür die künstlerische Forschung setzen, liegt 16. Vgl. schen einer forschenden Kunst und eiklar auf der künstlerischen Praxis und auf ner Kunst der Forschung« (2009), S. 54. den mit ihr assoziierten Handlungs- und 17. Zu einer wissenschaftshistorisch fundierten Kritik am Objektivitätsbegriff vor allem Erkenntnispotenzialen. Auch für vgl. Daston, Galison: Objektivität die Designforschung wird Entsprechendes (2007); zur poststrukturalistischen Kritik am Rationalitätsbegriff vgl. postuliert: […] it could be argued that the main aspects of the practice-based approach are leading towards the definition of a designerly way of researching which is comparable with but distinct from research in the sciences or the humanities since it advances knowledge partly by means of design practice. 21

beispielsweise Foucault: »Raum, Wissen und Macht« (2005); siehe auch Lyotard: Das postmoderne Wissen (2005).

18. Ausführlicher zu diesem Aspekt: Mareis: Design als Wissenskultur (2011), S. 54–68. 19. Frayling: »Research in Art and Design« (1993/1994), S. 1. 20. Ebd. 21. Saikaly: »Approaches to Design Research« (Stand: 10.05.2011), S. 15.

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Was indes genau unter die ausladende begriffliche Klammer von »künstlerisch-gestalterischer Praxis« fallen soll, bleibt in vielen Fällen unklar. Auch wird meistens marginal zur Kenntnis genommen, dass nicht allein künstlerische Forschung sich aus ihren Praktiken heraus konstituiert, sondern dass zweifelsohne auch die wissenschaftliche Forschung (falls diese trennscharfe Unterscheidung denn überhaupt produktiv ist) auf einem mehr oder weniger systematisierten Set von sozialen, ästhetischen und epistemischen Praktiken beruht. 22 Dessen ungeachtet speist sich bis dato ein wichtiges, jedoch meines Erachtens unzureichendes Narrativ der künstlerischen Forschung hartnäckig aus der Vorstellung, Wissenschaft hätte einzig mit logisch-abstrakten Ideen, Zahlen und Texten, nicht aber mit produktiven Praktiken und konkreten Materialien zu tun. Ein Blick auf die Methoden, die in der künstlerischen Forschung zum Einsatz kommen, wie zum Beispiel Kreativitätstechniken, legt jedoch nahe, dass eine solche trennscharfe Unterscheidung zwischen »kreativen« künstlerischen Verfahren einerseits und »rationalen« wissenschaftlichen Methoden andererseits unhaltbar ist. Gerade ihre methodische Legitimierung betreffend oszillieren Kreativitätstechniken auf unentschiedene Weise zwischen intuitiven und analytischen Kreativitäts- und Wissenskonzeptionen. Sie zielen anscheinend glei208 chermaßen darauf ab, Kreativitäts- und Ideenfindungsprozesse auf systematische Weise anzuleiten und zu instrumentalisieren, wie sie auch vermeintlich unbewusste, »innere« Erkenntnisräume fruchtbar zu machen versuchen. Vermittels Kreativitätstechniken sollen, so lautet eine Formel ihrer Anwender, »implizite Wissensstrukturen visualisiert, mentale Prozesse veranschaulicht und Vorstellungsräume« genutzt werden.23 Diese Ambivalenz kann nicht nur bei Kreativitätstechniken beobachtet werden, sondern sie gilt insgesamt mit Blick auf die zahlreichen koexistierenden Kreativitätskonzepte und -debatten unserer Zeit. 24 Ulrich Bröckling resümiert, dass Kreativität gemeinhin als etwas betrachtet werde, das erstens jeder besitze (ein anthropologisches Vermögen), zweitens etwas sei, von dem man nie genug haben solle (eine verbindliche Norm), von dem 22. Vgl. dazu etwa Latour: Science in Action (1988); man drittens nie genug haben könSchatzki, Knorr-Cetina, Savigny: The Practice Turn in Contemporary Theory (2001). ne (ein unabschließbares Telos) und 23. Seifert: »Cognitive map, Mnemo-Technik und Mind welches viertens durch methodische Mapping« (2005), S. 32. Anleitung und Übung gesteigert 24. Historische Überlegungen zu Kreativitätskonzepten werden könne (eine erlernbare Komfinden sich bei Joas: Die Kreativität des Handelns (1996); für kritische Überlegungen vgl. Osten: Be petenz). Aus dieser Einschätzung Creative! (2002); Raunig, Wuggenig: Kritik der ergibt sich für ihn eine paradoxe Kreativität (2007); Althans u. a.: Kreativität: Eine Zeitstruktur, die das »immer schon« Rückrufaktion (2008).

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mit dem »erst noch« zusammenzieht: »Kreativ ist man von Geburt an, und wird doch sein Leben lang damit nicht fertig«, so Bröckling. 25 Dieses »Kreativitätsparadoxon«, in dem Kreativität (vergleichbar wie Intelligenz) zugleich als naturgegebene anthropologische Konstante sowie als das Ergebnis einer (künstlerischen) Kultivierung verstanden wird, findet sich auch auf pragmatischer Ebene wieder – im Umgang mit Kreativitätstechniken sowie in den ihnen attestierten Potenzialen. Es wäre indes verkürzt und wenig sinnvoll, die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten, mit denen Kreativitätskonzepte oft behaftet sind, auf eine »unsaubere« Begriffsklärung zurückführen zu wollen. Sinnvoller scheint es stattdessen, sie als Ergebnisse ambivalenter diskursiver Einschreibungen und disziplinärer Aushandlungsprozesse lesbar zu machen, die zwar nicht linear oder kausal nachvollziehbar sind, aber, so die These dieses Textes, einer interdisziplinären Vorgeschichte von Kreativitäts- und Ideenfindungstechniken geschuldet sind.

Zu einer Vorgeschichte von Kreativitätsund Ideenfindungstechniken Kreativitäts- und Ideenfindungstechniken stellen einen festen Bestandteil gegenwärtiger Alltagskultur dar. Als rhetorische und methodische Konzepte sind sie längst ins kollektive Fachwissen vieler zeitgenössischer Berufs- und Wissenschaftsfelder sedimentiert. Sie kommen in Design- und Werbeagenturen, in Management und Verwaltung, in Schreibkursen oder im Schulunterricht zur Anwendung, ebenso sind sie in den Ingenieur- und Designwissenschaften zu finden, in der angewandten Psychologie – oder eben in der künstlerischen Forschung. Die methodische Bandbreite dieser Techniken umfasst populäre, meist einfach zu exerzierende Verfahren wie Mindmaps, Brainstormings oder Flipchart-Moderationen und reicht hin bis zu komplexen Erfindungsalgorithmen wie etwa der TRIZ (russisch: Theorie des erfinderischen Problemlösens), die vor allem in den Ingenieur- und Betriebswissenschaften zu Anwendung kommt (Abb. 2). 26 Die große Popularität dieser Techniken wird durch den Umstand kontrastiert, dass sie sowohl aus geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive als auch aus Sicht der Kreativitätspsychologie mit dem Stigma Kreativitätstechniken (2002), der Populär- oder Pseudowissenschaftlich- 25. Bröckling: S. 20. keit behaftetet sind und so kaum je zum 26. Vgl. Altschuller: Innovation Algorithm (2007). Gegenstand ernsthafter wissenschaftlicher

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Betrachtungen werden. 27 Ebenfalls finden sich kaum historische Studien zur Genese von Kreativitätstechniken, sieht man von vereinzelten anekdotischen Bemerkungen ab. Dieser Befund verdichtet sich bei der Sichtung der Literatur zu Kreativitätstechniken. Es zeigt sich, dass Kreativitätstechniken zwar massenweise in Form von Ratgeberliteratur distribuiert werden,28 dass ihnen jedoch ein 27. Zu dieser Kritik siehe Sternberg, Lubart: eklatanter Mangel an Historisierung und »The Concept of Creativity« (2009), S. 5. wissenschaftlich-kritischer Theoriebildung 28. Als neueres Beispiel dient Knieß: Kreativigegenübersteht. tätstechniken (2006).

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Abb. 2: Contradiction Matrix aus der Theorie des erfinderischen Problemlösens (TRIZ)

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Historisch betrachtet, treten Kreativitätstechniken um die Mitte des 20. Jahrhunderts, namentlich in der Kriegs- und Nachkriegszeit, in markanter Weise in Erscheinung. Doch ist die Vorgeschichte ihrer Entwicklung weitaus älter, und die sie historisch prägenden Einflüsse umfassen weitläufige Wissensbestände aus Mystik, Religion, Philosophie, Kunst, Mathematik, antiker Rhetorik oder Gedächtniskunst. Systematische Heuristiken zur Genese von neuen oder vielmehr umfassenden Aussagen und Problemlösungen werden bereits seit Jahrhunderten für religiöse, scholastische, wissenschaftliche, technische

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und künstlerische Belange genutzt. Eine eingehende Darstellung der verschiedenen Ansätze, Techniken und Traditionslinien zur systematischen Erzeugung von Kreativität, Ideen und Imagination würde den Umfang dieses Aufsatzes bei Weitem sprengen, zumal eine solche Historiografie sich mit dem schier unlösbaren Problem konfrontiert sieht, dass das Konzept der Kreativität, in der Weise, wie es uns heute geläufig ist, nur mit Vorbehalt auf ältere verwandt erscheinende Konzepte und Phänomene rückprojiziert werden kann. Im deutschsprachigen Raum beispielsweise lässt sich entlang des Terminus des »Schöpferischen« seit dem 16. Jahrhundert eine komplexe Begriffskarriere nachzeichnen, die um 1800 einhergeht mit der Konfiguration eines »genialen«, autonom schöpfenden (in der Regel männlichen) Künstlersubjekts 29 und sich dann in der herausbildenden kapitalistischen Gesellschaftsform des 19. Jahrhunderts mit Konzepten von »Eignung« und »Eigentum« verbindet.30 Bröckling verweist überdies auf die persistente historische Zuschreibung, dass es die creatio ex nihilo, die Schaffung von etwas völlig Neuem »ins Leere« und »ins Undefinierte« hinein, nur als »göttlichen Akt« gebe.31 Entsprechend fand die historische Generierung von neuen Ideen, sofern das Konzept des »Neuen« überhaupt dahingehend geltend gemacht werden kann, unter anderen (meist religiösen) Vorzeichen statt als heute und verfolgte andere, zum Beispiel rhetorische oder missio212 narische Zwecke. Schließlich scheint die »Notwendigkeit, kreative von nicht-kreativen Formen des Zeitvertreibs zu unterscheiden«, bestimmten kulturellen, namentlich westlichen Vorstellungen »von Zeit und menschlicher Handlungsfähigkeit« zu entsprechen.32 Unter Berücksichtigung dieser Schwierigkeiten sollen im Folgenden dennoch kursorisch einige historische Aspekte aufgriffen werden, die mit Blick auf die uns heute bekannten Kreativitätstechniken von Interesse sein dürften. Ein methodisches Verfahren der Ideenfindung bietet bereits die klassische Rhetorik an. Das erste von insgesamt fünf Produktionsstadien der Rhetorik wird als inventio 29. Vgl. Christadler: »Kreativität und Genie« (2006); bezeichnet, »die Lehre vom Finden der Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens (2004). Argumente und Beweise«.33 Die inven30. Vgl. Osten: Be Creative! (2002), S. 1–4. tio stellt die Basis für den Aufbau einer 31. Bröckling: »Kreativität« (2004), S. 139. Rede dar und dient der systematischen 32. Färber u. a.: »Kreativität« (2008), S. 7. Auffindung von thematischen und in33. Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheohaltlichen Aspekten und Argumenten. rie (2004), S. 665. Insgesamt umfasst die klassische Rhetorik folgende Produktionsstadien: Wichtigster methodischer Bestandteil inventio, dispositio, elocutio, memoria, actio. der rhetorischen inventio ist die Topik, Vgl. als weiterführende Literatur Knape: Allein erlernbares regelgeleitetes Fragesysgemeine Rhetorik (2000); Ueding: Klassische Rhetorik (2011); Steinbrink, Ueding: Grundriß tem zur Erschließung eines darzustelder Rhetorik (2005). lenden Themas oder Gegenstandes.34 34. Vgl. Spörl: Basislexikon Literaturwissenschaft Der Ausdruck »Topik« (griech. tópos, lat. (2006), S. 79 f.

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locus: Ort) verweist auf die Vorstellung eines Gegenstandes als räumliches Gebiet, das nach verschiedenen Topoi, also Orten, abgesucht werden kann.35 Man könnte die rhetorische Topik demnach sinnbildlich als einen »Fundort« für Beweise und Argumente bezeichnen.36 Wegweisend bei dieser Suche sind sogenannte Argumentationstopoi oder Suchformeln, die von Cicero in De Inventione noch zusätzlich in Sach- und Personentopoi unterschieden werden.37 Es handelt sich dabei um mehr oder weniger umfassende Kataloge von Fragen und Mitteln zur Argumentation, wie etwa der Hexameter »quis, quid, ubi, quibus, auxiliis, cur, quomodo, quando«.38 Die Kunst des richtigen Fragens, die ars quaerendi, stellt nicht nur innerhalb der klassischen Rhetorik eine wichtige Fertigkeit zur Erstellung einer Rede dar, sondern gilt bis heute häufig als Ursprung des Forschens und wichtiges Instrument der Wissensbewältigung und -strukturierung. Für den Philosophen Rudolf Boehm etwa ist die Topik unmittelbar an die Suche nach philosophischer »Wahrheit« geknüpft. Die zur Bestimmung eines Sachverhalts zutreffende Frage, die »Triftigkeit der Frage«, und deren »richtige« Beantwortung stehen für ihn im Zentrum wissenschaftlichen Forschens.39 Im Gegensatz zu dieser philosophischen Bestimmung betonen jüngere Forschungen zur Topik deren Flexibilität und strukturelle Eigendynamik und sprechen ihr 213 für den Zeitraum des 13. bis 17. Jahrhunderts eine maßgebliche Rolle bei der kulturellen Bewältigung, Einordnung, Strukturierung und bisweilen der Genese ganzer Wissenskomplexe zu.40 Doch nicht nur in den Wissenschaften, auch auf populärer Ebene sind systematisierte Fragenkataloge bis heute weit verbreitet. So finden sich Techniken zur regelgeleiteten Befragung eines Gegenstandes in zeitgenössischen Trainingsbüchern der Rhetorik wieder.41 Ebenso haben sie sich im 20. Jahrhundert ins implizite Wissensreservoir vieler Kreativitätstechniken eingeschrieben, so etwa in die sogenannte Osborn-Checkliste des populären Kreativitätsautors Alex F. Osborn (Abb. 3). Dieser propagiert den systematischen Einsatz von Fragenkatalogen zur Beförderung kreativer Ideen mit dem 35. Vgl. ebd., S. 79. Nünning: Metzler Lexikon LiteraturHinweis darauf, Fragen seien »creative acts of 36. und Kulturtheorie (2004), S. 665. 42 intelligence«. Bemerkenswert ist, dass Osborn 37. Vgl. ebd. sich nicht – was naheliegend scheint – auf die 38. Ebd. klassische Rhetorik als Inspirationsquelle seiner 39. Boehm: Topik (2002), S. 7 f. Technik bezieht, sondern das US-amerikanische 40. Vgl. Frank, Kocher, Tarnow: Topik und Tradition (2007). Militär anführt, das während des Zweiten Welt41. Vgl. dazu etwa Bartsch u. a.: Trainingskriegs strategische Probleme vermittels eines buch Rhetorik (2005), S. 30 ff. festgelegten Fragenkatalogs systematisch bear42. Osborn: Applied Imagination (1957), beitet habe.43 Ende der 1940er Jahre, etwa zeitS. 263. gleich als Osborn seine Schriften veröffentlicht, 43. Vgl. ebd., S. 262.

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postuliert auch der Kommunikations- und Politikwissenschaftler Harold D. Lasswell die bis heute oft zitierte Lasswell-Formel (»Who says what in which channel to whom with what effect?«) als basales Modell der Massenkommunikation.44

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Abb. 3: Kreisförmige Variante der Osborn-Checkliste

Eine weitere historische Technik, die mit der rhetorischen Topik aufs Engste verbunden ist und die sich vielfach auch in heutigen Imaginations- und Kreativitätstechniken 44. Lasswell: »The Structure and Function of Comwiederfindet, ist jene der klassischen munication in Society« (1960), S. 117. Gedächtniskunst, der Mnemonik oder 45. Als interdisziplinären Überblick vgl. Berns: GeMnemotechnik.45 Frances A. Yates, die dächtnislehren und Gedächtniskünste (2003). die Geschichte der Gedächtniskunst in46. Vgl. Yates: Gedächtnis und Erinnern (2001), tensiv beforscht hat und auf die ich mich S. 12. Zur Gedächtniskunst siehe im Weiteim Folgenden vornehmlich beziehen ren auch Carruthers: The Book of Memory werde, fasst deren allgemeine Prinzipien (1990); dies.: The Craft of Thought (1998) sowie dies., Ziolkowski: The Medieval Craft folgendermaßen zusammen:46 Zuerst of Memory (2002). wird dem Gedächtnis eine Reihe von Or47. Vgl. Yates: Gedächtnis und Erinnern (2001), ten, loci, eingeprägt (in der Regel handelt S 12. es sich dabei um architektonische Orte), 48. Vgl. ebd., S. 20.

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diese werden dann mit einer Reihe von Bildern, imagines, versehen, mit deren Hilfe die einzelnen Stationen einer Rede memoriert werden sollen. Durch das imaginative Abschreiten der erinnerten Orte und das Abnehmen der dort auf bewahrten Bilder kann es dem antiken Redner mit einiger Übung gelingen, frei sprechend selbst lange und komplexe Reden detailgetreu zu halten (Abb. 4).47 Die Technik eines künstlichen Gedächtnisses wird in den rhetorischen Schriften, etwa in Ciceros De Oratore, oft mit dem (inneren) Beschreiben von Schreibtafeln aus Wachs verglichen.48 Yates weist darauf hin, dass der Ausdruck »Mnemotechnik« insofern verkürzt sei, da dieses Verfahren nicht lediglich auf einigen »praktikablen Prinzipien« gründet, sondern weit darüber hinaus höchst anspruchsvolle »innere Techniken« beschreibt, »die auf visuelle Eindrücke von unglaublicher Intensität zurückgehen«.49 Die Bilder, welche die Gedächtnisleistung befördern, sollen denn vorzugsweise auch von besonders auffallender, grotesker oder schauerlicher Qualität sein.

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Abb. 4: Gedächtnissystem nach Giordano Bruno: De umbris idearum. Paris 1582

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Unter dem Namen Loci- oder Assoziationsmethoden gelten Mnemotechniken bis heute als produktive Gedächtnis- und Lernstrategien, die dabei helfen sollen, sich an komplexe Wissensbestände zu erinnern.50 In der Psychoanalyse, etwa in Carl G. Jungs Traumanalysen,51 in der Psychotherapie, beispielsweise beim »Neurolinguistischen Programmieren«,52 oder in der Hirnforschung gilt die Fähigkeit, innere Bilder zu erzeugen, zu memorieren oder zu bearbeiten als wichtiger (wenngleich nur selten kulturhistorisch reflektierter) Bestandteil von therapeutischen und diagnostischen Verfahren.53 Naheliegend finden imaginative Verfahren auch Eingang in Bereiche der kommerziell genutzten Kreativitätstechniken. In der sogenannten Synektik (griech. synechein: verknüpfen), einem mehrstufigen, gruppenbasierten Verfahren, das in den 1960er Jahren unter anderem durch William Gordon entwickelt wird, nimmt die Imaginationskraft einen hohen Stellenwert ein.54 Unter anderem geht es in der Synektik darum, vermittels örtlicher und zeitlicher Verfremdungen überraschende neue Gedankenverbindungen herzustellen. Demgegenüber und in diametraler Lesart können sogenannte Gedanken- oder Gedächtnislandkarten, wie sie etwa seit den 1970er Jahren unter der Bezeichnung Mindmaps kommerziell verwendet werden, als Versuche verstanden werden, innere Vorstellungsräume zu veräußerlichen und sie visuell 216 zu veranschaulichen.55 Bei der Betrachtung von Mnemotechniken und Gedächtnislandkarten als Wissenstechniken ist jedoch zu berücksichtigen, dass die damit angeleiteten kognitiven und 49. Ebd., S. 13. materialen Verfahren nicht auf eine 50. Exemplarisch dazu Rost: Lern- und Arbeitstechniessentialistische Weise (etwa als »reiken für das Studium (2010), zur Loci-Methode S. ne« oder »unmittelbare« Abbildung 51, zu Mnemotechniken S. 64 ff. von Gedanken oder Inhalten) zu ver51. Exemplarisch: Hüther: Die Macht der inneren Bilder (2004). stehen, sondern durch zeithistorische 52. Zur historischen Entwicklung vom Neurolinguiskulturelle, beispielsweise stilistische tischen Programmieren siehe Walker: Abenteuer Einflüsse geprägt sind. Außerdem Kommunikation (2004). werden, wie Christoph Hoffmann 53. Vgl. Jung: Traumanalyse (1991). konstatiert, Wissensbestände im 54. Vgl. Schlicksupp: Ideenfindung (2004), S. 130 f, S. 141 ff. Vgl. grundlegend Gordon: Synectics Akt des Aufzeichnens nicht einfach (1961). bewahrt und übermittelt, sondern 55. Diese Annahme ist dahingehend zu ergänzen, dass über spezifische Möglichkeiten, Ersich die visuelle Struktur von Mindmaps an den Strukturen von Baumdiagrammen orientiert und fahrungen und Überlegungen auch somit die Genealogie dieser spezifischen Wisneu angeordnet.56 Es gilt mithin, die sensdarstellung bei der Analyse zu berücksichtigen wäre. Vgl. dazu Macho: »Stammbäume, Freikonkrete Ausübung des Verfahrens heitsbäume und Geniereligion« (2002); Siegel: sowie wechselnde visuelle und materiTabula (2009), S. 57–63. ale Einflüsse zu beachten. Yates macht 56. Vgl. Hoffmann: »Festhalten, Bereitstellen« (2008), mit Blick auf die antike Mnemonik S. 7.

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darauf aufmerksam, dass »eine Kunst, die die zeitgenössische Architektur für ihre Gedächtnisorte und die zeitgenössische Kunst für ihre Gedächtnisbilder verwendet«, zwangsläufig einem stilistischen Wandel unterworfen sei.57 Entsprechend lässt sich auch für heutige Kreativitäts- und Imaginationstechniken folgern, dass die Modi ihrer Darstellung sowie die ihnen zugrunde liegenden Denkmodelle weder stabil noch statisch sind, sondern erstens von einer komplexen visuellrhetorischen Diskursgeschichte durchzogen werden und sich zweitens im Akt ihrer Anwendung immer wieder aufs Neue realisieren. Neben der klassischen Gedächtniskunst entwickelt der 1235 auf Mallorca geborene Ramon Llull (lat. Raimundus Lullus) in seinen Büchern die ars magna, eine Kunst des systematischen Kombinierens von Begriffen respektive Prinzipien, die für ihn auf göttlichen »Ersten Ursachen« gründeten.58 Am übersichtlichsten dargestellt findet sie sich wohl in seinem Werk Ars brevis von 1308 (einer Kurzdarstellung der Ars generalis ultima).59 Lullus’ »große Kunst«, die hier nur sehr unzulänglich dargestellt werden kann, folgt anfänglich missionarischen Absichten und wurde, so das Narrativ, durch eine Vision des gekreuzigten Christus initiiert.60 Wissenschaftshistorisch anzunehmen ist, dass Lullus’ Werk, neben christlichen Einflüssen, namentlich vom Wissen und von den Techniken der Kabbala, der arabischen 217 Astronomie, Astrologie und Mathematik geprägt ist, 61 ebenso flossen neu-platonische Ideen ein.62 Im Verlauf seines Lebens entwickelt und verfeinert Lullus zahlreiche ineinandergreifende systematische Verfahren – Kreisfiguren, Tabellen und Bildsysteme –, die seine Lehre veranschaulichen und ihre Verbreitung pragmatisch unterstützen sollen. Mittels einer »logischen Maschine«, substanziell bestehend aus vier kombinatorischen Figuren, die teils vermittels drehbarer Scheiben mechanisierbar sind, will er in 57. Yates: Gedächtnis und Erinnern (2001), S. 5. den scholastischen Debatten seiner Zeit 58. Weiterführende Literatur: ebd., S. 162–184; 63 »allein mit rationes necessariae« WahrBadia, Bonner: Ramon Llull (1988); Bonner: Doctor Illuminatus (1999). heit von Lüge unterscheiden und Wider59. Lullus: Ars brevis (1999). sprüche in Textauslegungen nachweisen 64 60. Vgl. Fidora: »Einführung« (1999), S. X. (Abb. 5). Die vielleicht bekannteste der kombi- 61. Zum historischen Hintergrund und zu Lullus’ Kentnissen der arabischen Kultur vgl. Bonner: natorischen Figuren besteht aus drei und Doctor Illuminatus (1999), S. 16. mehr konzentrischen, zum Teil bewegli- 62. Vgl. Yates: Gedächtnis und Erinnern (2001), S. 164. chen Scheiben, auf denen die Buchstaben B bis K notiert sind und durch deren 63. Fidora: »Einführung« (1999), S. XII. Drehung vielfältige (vorgegebene) Buch- 64. Zu den vier Figuren vgl. Lullus: Ars brevis (1999), S. 7–23. stabenkombinationen erzeugt werden 65. Vgl. ebd., S. 21–23; vgl. auch Yates: Gedächtkonnten (Abb. 6).65 Den Buchstaben, nis und Erinnern (2001), S. 168. in Lullus’ Worten »Alphabet«,66 liegt 66. Lullus: Ars brevis (1999), S. 5.

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Abb. 5: Raimunds Lullus: Erste Figur (A-Diagramm)

eine Tafel (tabula generalis) mit entsprechenden »ersten« Prinzipien, Fragen, Subjekten, Tugenden und Lastern zugrunde.67 Diese stellen die Grundelemente von Lullus’ Kombinatorik dar und werden mittels festgelegter Regeln und kombinatorischer Figuren zu »neuen« Aussage-Kompositen verknüpft und syllogistisch ausgelegt. Die Logik wird dadurch, wie Wolfgang Ernst schreibt, »zu einer ars inveniendi«; »Mechanisierbarkeit« meint, »etwas logisch-formal wie technisch durchzuführen – eine Theorie im medialen Vollzug«.68 Lullus’ Kombinatorik stellt nicht zuletzt ein übergeordnetes Verfahren dar, mit dem Begriffe aus seinen Büchern aufgefunden und miteinander verknüpft werden können. Die ars combinatoria, wie Gottfried Wilhelm Leibniz Lullus’ Kunst später nennen sollte,69 kann laut Yates als eine frühe »Methode des logischen Erforschens«70 bezeichnet werden und findet Eingang in die wissenschaftlichen Metho67. Zu den Prinzipien vgl. ebd., S. 25. dendebatten des 17. Jahrhunderts.71 68. Ernst: »Barocke Kombinatorik als Theorie-Maschine« Mit Blick auf die Genealogie von (Stand: 10.5.2011), S. 1. Vgl. ders.: »Ein medienarKreativitätstechniken gilt Lullus’ chäologisches Schicksal« (2008), S. 36. ars magna als Ausgangspunkt einer 69. Leibniz: »Dissertatio de arte combinatoria« (1990). Traditionslinie der algorithmischen 70. Yates: Gedächtnis und Erinnern (2001), S. 171. Heuristik – wenngleich anzumerken 71. Vgl. ebd., insb. Kapitel 17, S. 336–352.

Methodische Imagination – Kreativitätstechniken, Geschichte und künstlerische Forschung

Raimunds Lullus: Vierte Figur (Kombinationsfigur)

ist, dass die Vorstellung einer linearen Traditionslinie kaum haltbar ist und algorithmische Verfahren bereits vor Lullus bekannt sind – namentlich ist etwa der muslimische Gelehrte al-Hwarizmi zu erwähnen, der im 9. Jahrhundert lebt.72 Der Lullismus weist zwar einige Überschneidungen mit der oben vorgestellten Gedächtniskunst auf, doch unterscheidet er sich in vielerlei Hinsicht auch deutlich davon.73 Yates sieht die größten Unterschiede von Lullus’ Methoden zur Mnemonik in den folgenden drei Aspekten:74 Erstens entstamme der Lullismus nicht der klassischen rhetorischen, sondern der philosophischen Tradition des augustinischen Platonismus. Dieser erhebe den Anspruch, »erste Ursachen« zu kennen, dignitates dei, auf die sich auch alle Künste von Lullus beziehen (und der dieser platonischen Ausrichtung der Renaissance näher zu stehen scheint als dem scholastischen Mittelalter). Zweitens gebe es in seiner Lehre nichts, was den Bildern in der klassischen 72. Vgl. Chabert: »Introduction« (1999), S. 2. Zu Gedächtniskunst entspreche. Vielmehr den Schriften al-Hwarizmis Folkerts: Die älteste lateinische Schrift (1997). verwendet Lullus ein Buchstabensystem zur Kodierung seiner Begriffe und führt 73. Vgl. Yates: Gedächtnis und Erinnern (2001), S. 163. so in seine Verfahren »eine beinahe al74. Nachfolgend zusammengefasst nach ebd., gebraische oder wissenschaftliche Note« S. 163 f.

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ein.75 An anderer Stelle (mit Bezug auf Petrus Ramus) bezeichnet Yates die Abwendung von den Bildern prägnant als einen »inner iconoclasm«.76 Drittens, und dieser Punkt ist entscheidend, bringt Lullus »Bewegung ins Gedächtnis« durch die Option, dass »die Figuren, auf denen seine Begriffe in einem Buchstabensystem angeordnet sind, nicht statisch, sondern drehbar« sind.77 Lullus Techniken sind nicht einzig als Hilfen erdacht, um Themen und Gegenstände auswendig zu lernen und aus dem Gedächtnis abrufbar zu machen, vielmehr führt die kombinatorische Methode »etwas Neues ins Gedächtnis ein«.78 In der Renaissance avanciert der Lullismus zu einer, wie Yates schreibt, »modischen Philosophie« und wird insbesondere mit den Aspekten einer hermetisch-kabbalistischen Tradition assimiliert.79 Im 17. Jahrhundert wird die Gedächtniskunst von einflussreichen Denkern wie Francis Bacon, René Descartes, Leibniz oder Athanasius Kircher aufgenommen80 und macht eine weitere Umwandlung durch: Die Gedächtniskunst »wandelte sich von einer Methode zum Auswendiglernen der Enzyklopädie des Wissens, der Widerspiegelung der Welt im Gedächtnis, zu einem Hilfsmittel, die Enzyklopädie und die Welt mit dem Ziel zu erforschen, neues Wissen zu entdecken.«81 Yates untersucht, wie die Gedächtniskunst im 17. Jahrhundert als ein Faktor »beim Entstehen der wissenschaftlichen Methode« bedeutsam 220 wird, und sie erkennt Interdependenzen »zwischen der Geschichte des Gedächtnisses und der Geschichte der Methode«.82 Die Anfänge methodischen Denkens sind demnach mit dem Wissen und den Praktiken der Gedächtniskunst eng verwoben. Bereits in der Kabbala und im Lullismus findet der Ausdruck »Methode« Verwendung; im 17. Jahrhundert stellt er sich dann – im Gegensatz zu einem mathematischen Methodenverständnis – als ein »Gemisch aus Lullismus, Hermetik, Kabbala und der Gedächtniskunst« dar.83 Die beiden »großen Künste« 75. Ebd., S. 164. der Antike und des Mittelalters, klassische 76. Zit. n. Krois: »Ars Memoria, Philosophy and Culture« (2002), S. 152. Rhetorik und Lullismus, verwandeln sich 77. Yates: Gedächtnis und Erinnern (2001), nicht zuletzt durch ihre Rezeption in der S. 164. Renaissance zu einem zentralen Bestand78. Ebd., S. 171. teil des emergenten wissenschaftlichen 79. Ebd., S. 173. Methodendiskurses. John Michael Krois 80. Siehe weiterführend dazu Berns, Neuber: verwendet für die Charakterisierung der Das enzyklopädische Gedächtnis der Frühen Neuzeit (1998). Gedächtniskunst in der Renaissance den 81. Yates: Gedächtnis und Erinnern (2001), Ausdruck »Weltanschauungen«, und zwar S. 336 (Hervorhebung CM). im folgenden Sinne: »They offered an 82. Ebd. overview of the order of the world and the 83. Ebd., S. 337. security which such an overview provides, 84. Krois: »Ars Memoria, Philosophy and Culture« (2002), S. 152. putting everything in its place.«84

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Dieser enzyklopädischen Sichtweise entsprechend, lässt sich beispielsweise Leibniz in seinem Frühwerk Dissertatio de arte combinatoria von 1666 von Raimundus Lullus’ ars magna inspirieren.85 Obwohl er sich später von diesem »Werk eines Jünglings« 86 distanziert und Lullus auch nicht in allen Punkten kritiklos folgt, so strebt er doch zeitlebens danach, vermittels systematischer Methoden wie der Kombinatorik oder Syllogistik zu neuen wissenschaftlichen »Wahrheiten« zu gelangen. Damit entspricht Leibniz, trotz aller Originalität, einem gewissen Zeitgeist und Interesse an kombinatorischen Ansätzen. Nur drei Jahre nach Erscheinen der Dissertatio de arte combinatoria legt der Jesuit Kircher sein Werk Ars magna sciendi sive combinatoria vor.87 Nennenswert ist mit Blick auf kombinatorische Verfahren auch Leibniz’ (unvollendetes) Projekt einer characteristica universalis – eine Universalschrift, in der allen bekannten Denk- und Wissensinhalten der Zeit ein System von übergeordneten Symbolen, charactere, zugewiesen werden sollte.88 Diese haben, um Horst Bredekamp zu zitieren, »die Funktion, die Vielfalt der inneren Welt überschaubar zu machen«, wie etwa »mathematische Symbole, Worte, Buchstaben, astronomische Figuren, chinesische Sprachbilder, Hieroglyphen, Noten und geheimschriftliche Zeichen«.89 Laut Yates will Leibniz mit seiner characteristica universalis über die zu jener Zeit weit verbreitete Idee 221 einer Universalsprache noch hinausgehen, sie soll ein aktives Potenzial entwickeln, »universale Kunst oder ein Kalkül zur Lösung aller Probleme« zu sein.90 Leibniz’ Versuche, Wissen systematisch zu ordnen und zu kombinieren, sind nicht allein vor dem Hintergrund der emergenten frühneuzeitlichen Wissenschaft 85. Leibniz: »Dissertatio de arte combinaEnde des 17. Jahrhunderts, ihrem Willen toria« (1990). Als Sekundärliteratur siehe Doucet-Rosenstein: Die Kombinazur Systematik und zur enzyklopädischen torik als Methode der Wissenschaften Wissensvermehrung zu verstehen,91 vielmehr (1981). gehen Aspekte seines Denkens auf die jahr- 86. Leibniz: »Zur allgemeinen Charakterihundertealten Lehren der Gedächtniskunst stik« (1996), S. 18. 87. Kircher: Ars magna sciendi sive combiund des Lullismus zurück – namentlich im natoria (1669). Versuch, bildbasierte Erinnerungstechniken Vgl. Yates: Gedächtnis und Erinnern und symbolbasierte Kombinationstechniken 88. (2001), S. 346. Bei Leibniz siehe »Zur zu verbinden. Yates konstatiert: »Offenallgemeinen Charakteristik« (1996). sichtlich kommt auch der reife Leibniz, der 89. Bredekamp: Die Fenster der Monade (2004), S. 87. überlegene Mathematiker und Logiker, noch 90. Yates: Gedächtnis und Erinnern (2001), direkt von den Renaissance-Bemühungen S. 347. her, die klassische Gedächtniskunst durch 91. Eine kurze Einführung zur Entstehung frühneuzeitlicher Wissenschaft findet die Verwendung von Bildern der klassischen sich bei Felt, Nowotny, Taschwer: WisKunst auf den Lullischen kombinatosenschaftsforschung (1995), S. 33–39. rischen Scheiben mit dem Lullismus zu 92. Yates: Gedächtnis und Erinnern (2001), S. 347. verschmelzen.«92

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Im Anschluss an Leibniz ließen sich zahlreiche weitere Etappen einer Geschichte der Gedächtniskunst und der Kombinatorik und, wenn man so will, einer Vorgeschichte der Kreativitäts- und Ideenfindungstechniken schreiben. Yates zeichnet in ihrer bemerkenswerten Studie eine historische Traditionslinie nach, welche die antike Gedächtniskunst mit Leibniz verbindet und sie als wichtigen Einfluss für wissenschaftliche Methodendiskussionen im 17. Jahrhundert herauspräpariert. Krois führte dieses Anliegen im Anschluss an Yates weiter fort. Er stellt die These auf, dass die Einflüsse der ars memoriae nicht bei Leibniz enden, sondern bis in die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts reichen und dort namentlich in Georg Wilhelm Friedrich Hegels Phänomenologie des Geistes oder in Martin Heideggers Philosophie auffindbar seien.93 Ich möchte diesen höchst unvollständigen Blick auf eine Vorgeschichte der Kreativitätstechniken an dieser Stelle mit dem Gedanken schließen, dass es vor dem Hintergrund einer derart weitreichenden Kultur- und Wissensgeschichte der Gedächtniskunst und Kombinatorik verfehlt wäre, Kreativitätstechniken bloß als genuin künstlerische Verfahren zu betrachten, wie dies in der künstlerischen Forschung bisweilen impliziert wird. Sie sind vielmehr als komplexe Komposite zu verstehen, die sich aus verwickelten diskurshistorischen Bewegungen 222 heraus formiert haben und die in ihrer Komplexität nur schwer zu erfassen sind. Eindeutig aber weisen sie verschiedenste, in heutigen Worten interdisziplinäre epistemologische und ästhetische Merkmale auf. Mit diesem kursorischen historischen Exkurs und unter Vorbehalt gewisser Einschränkungen habe ich zudem zu zeigen versucht, dass Kreativitätstechniken nicht vornehmlich Produkte des 20. Jahrhunderts, sondern Ergebnisse einer kontingenten Entwicklung über Jahrhunderte darstellen. Dennoch wird dem Konzept der Kreativität vor allem im 20. Jahrhundert, namentlich in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg, eine immense Bedeutung beigemessen. Auch dieser historische Schauplatz zeichnet sich dadurch aus, dass sich in den einschlägigen zeithistorischen Debatten über Kreativität intellektuelle und methodische Einflüsse aus den unterschiedlichsten Bereichen vermengen. Erprobt werden, um nur ein Beispiel zu nennen, assoziative psychogrammatische Techniken wie die écriture automatique um die Wende zum 20. Jahrhundert sowohl in der 93. Vgl. Krois: »Ars Memoria, Philosophy and CulPsychophysik und Psychoanalyse als ture« (2002), zu Hegel S. 153–156, zu Heidegger auch in der surrealistischen Literatur S. 160. und Kunst unter den Vorzeichen des94. Zum historischen Kontext von Aufschreibesystemen um 1900 vgl. Kittler: Aufschreibesysteme sen, was Friedrich Kittler »Automati(1995), S. 259–333. Allgemein siehe beispielssierung von Kulturtechniken« nennt.94 weise Breton: »Die automatische Botschaft« (2007). Die écriture automatique wiederum gilt

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als Vorläufer von heute weitaus populäreren, »professionalisierten« Kreativitätstechniken wie dem sogenannten brainwriting. Von diesen Techniken wird im Folgenden die Rede sein.

Kreativitätsforschung und -techniken in der Nachkriegszeit Ein zentrales historisches Moment für die gegenwärtige Betrachtung von Kreativitätstechniken als Wissenstechniken stellen die 1940er bis 1960er Jahre dar, mit ihren politischen, wissenschaftlich-technologischen und wirtschaftlichen Einflüssen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Diese Jahrzehnte sind in den USA und in Westeuropa nicht nur auf gesellschaftlicher und politischer Ebene sehr bewegt – geprägt von Rassenunruhen, Studentenbewegungen und Antikriegsdemonstrationen –, sondern sie werden auch, wie Andrew Pickering schreibt, von einem bemerkenswerten wissenschaftlich-technologischen »experimentalism«95 angeleitet. Die meisten der heute bekannten systematischen Techniken zur Stimulierung, Erfindung und Veranschaulichung von Ideen werden in diesen Jahrzehnten der Krisenhaftigkeit und des Aufbruchs entwickelt beziehungsweise mit Blick auf ältere 223 Verfahren aufgegriffen, mit eingängigen Namen versehen und für die unterschiedlichsten professionellen und kommerziellen Zwecke adaptiert. Zu diesen Techniken zählen beispielsweise Assoziogramme wie Mindmaps,96 semantische Netze und Begriffs-Landkarten wie concept maps,97 brainwriting-Techniken wie collective notebooks,98 Brainstorming-Techniken,99 Verfahren zur Stimulierung des »lateralen Denkens«,100 Szenario-Analysen,101 95. Pickering: »New Ontologies« (2008), S. 13. Ursache-Wirkungs- oder Fischgrät96. Vgl. Buzan: An Encyclopedia of the Brain and Its Use Diagramme,102 Flipchart-Moderati(1971); ders.: Make the Most of Your Mind (1981); 103 ders., Buzan: The Mind Map Book (1993). onen, morphologische Methoden oder mehrstufige Verfahren wie der 97. Vgl. Novak, Cañas: »The Theory Underlying Concept Maps« (2008). russische Erfindungsalgorithmus 98. Vgl. Clark: Brainstorming (1958). TRIZ.104 Die Liste wäre noch lange 99. Vgl. Osborn: Applied Imagination (1957). 105 fortzuführen. 100. Vgl. Bono: New Think (1968); ders.: The Use of LatDas ausgeprägte Interesse an eral Thinking (1970). Techniken zur systematisch ange- 101. Vgl. Kahn, Wiener: The Year 2000 (1967). leiteten Ideenfindung in der Nach- 102. Vgl. Kaoru: Introduction to Quality Control (1990). kriegszeit ist eingebettet in zeit- 103. Vgl. Zwicky: Morphology of Propulsive Power (1962); ders.: Entdecken, Erfinden, Forschen (1971). gleich stattfindende Debatten zur 104. Vgl. Altschuller: Erfinden – (k)ein Problem? (1973). emergenten Kreativitätsforschung 105. Ein Überblick zu Kreativitätstechniken findet sich in den USA. Als wichtiger Anstoß bei Boos: Das große Buch der Kreativitätstechniken (2006), S. 26–28. für die Kreativitätsforschung in der

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Nachkriegszeit gilt 1950 der Vortrag des Psychologen Joy P. Guilford über Kreativität vor der American Psychological Association, in dem er einen Mangel an kreativen Personen in Wissenschaft und Wirtschaft in den USA beklagt und die Erforschung und (kommerzielle) Förderung von Kreativität propagiert.106 Die Anfänge der Kreativitätsforschung sind indes weniger an den Universitäten zu suchen, als dass sie sich in einer interdisziplinären Praxis entwickeln. Gemäß Gisela Ulmann, die in den 1970er Jahren einen fundierten Überblick zur Kreativitätspsychologie herausgibt, entwickelt sich die US-amerikanische Kreativitätsforschung innerhalb von drei zentralen »Wissensräumen«:107 Erstens in militärischen Bereichen, wo Kreativitätstests als Alternative zu bestehenden Intelligenzmessverfahren gefördert werden, etwa als Selektionshilfe bei der Suche nach geeigneten »Erfindern« und Führungskräften. Zweitens floriert sie an regierungs- und wirtschaftsnahen Institutionen wie dem durch die Privatindustrie finanzierten IPAR (Institute of Personality Assessment and Research) in Berkeley oder der RAND-Corporation.108 Drittens wird angewandte Kreativitätsforschung zu industriellen Zwecken betrieben, zum Beispiel im Hinblick auf die professionelle Entwicklung von Produktinnovationen109 oder Werbekampagnen.110 Bekannt ist in der Psychologiegeschichte, dass bereits der Zweite Weltkrieg eine 224 Professionalisierung und damit einhergehend eine Anwendungs- und Nutzenorientheit psychologischer Verfahren vorbereitet hat.111 Prominente Beispiele dafür sind Intelligenz- und später Kreativitätstests wie der Torrance Test of Creative Thinking.112 Analog zur Genese und Ausrichtung der Kreativitätsforschung in der Nachkriegszeit können auch Kreativitäts- und Ideenfindungstechniken durch ihre Nähe zur wirtschaftlichen und industriellen Praxis charakterisiert werden. So geht die interaktive, gruppenbasierte Brainstorming-Technik auf den oben bereits erwähnten Alex F. Osborn (1888–1966) zurück, der als Journalist sowie als Inhaber der Werbeagentur Baten, Barton, Durs106. Guilford: »Creativity« (1950). tine and Osborn in Buffalo tätig ist. 107. Ulmann: »Psychologische Kreativitätsforschung« 1954 gründet er dort die Creative (1973), S. 12 f. Education Foundation sowie 1967 108. Vgl. Hounshell: »The Cold War« (1997). ein Center for Studies in Creativi109. Vgl. Gordon: Synectics (1961); Prince: The Practice ty.113 Osborn entwickelt unter dem of Creativity (1970). Schlagwort einer applied imagination 110. Vgl. Osborn: Applied Imagination (1957). 111. Vgl. für den deutschsprachigen Raum Geuter: Die in diesem teils forschenden, teils Professionalisierung der deutschen Psychologie kommerziellen Kontext eine Anzahl (1988). von praxisorientierten Verfahren, 112. Torrance: Torrance Tests of Creative Thinking (1974). welche die effiziente Generierung 113. Siehe http://www.buffalostate.edu/creativity/ traditions.xml, (Stand: 10.05.2011).. von Ideen gewährleisten sollen.

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Ausgangspunkt der Brainstorming-Technik ist seine Beobachtung, dass Ideenfindungsprozesse oft durch Statusunterschiede innerhalb von Arbeitsgruppen sowie durch ein kritisches, innovationsfeindliches Bewertungsklima behindert würden.114 Entsprechend entwickelt er mit Brainstorming ein regelbasiertes Verfahren, das eine (vermeintlich) vorurteils- und kritikfreie, kollektive Ideenfindung begünstigen soll. Die Regelsätze des Brainstormings geben zusammengefasst vor: 1. kritische oder wertende Äußerungen aus dem Prozess der Ideenfindung auszulagern, 2. die Ideen anderer Teilnehmer aufzugreifen und weiterzuentwickeln, 3. der Fantasie freien Lauf zu lassen und 4. möglichst viele Ideen in kurzer Zeit zu produzieren.115 Theoretische Inspiration findet Osborn in psychologischen Studien der zeitgenössischen Kognitions- und Kreativitätsforschung, in denen eine Vernachlässigung von kreativen Potenzialen angeprangert wird.116 Zudem dienen ihm vermutlich auch »modische« neurobiologische Lateralisierungs- und Hemisphärentheorien als produktive Hinweise darauf, dass schlummernde Teilareale des Gehirns zu (re-)vitalisieren seien.117 Diese Annahme spiegelt sich im Titel seines Buches Wake up Your Mind sowie in einer dort (nach D. K. Winebrenner) zitierten Aussage wider: »We are all partly dead, for we do not use all of our powers. […] The creative individual can be free in a prison cell; but the unimaginative soul is a walking zombie 225 in a great unknown.«118 Schon zu seinen Lebzeiten werden Osborns Veröffentlichungen zur Kreativitätsförderung sowohl von akademischer als auch professioneller Seite kritisiert. Ein Zeitgenosse nennt das Geschäft mit der Kreativität verächtlich »cerebral popcorn«.119 Dessen ungeachtet findet die Brainstorming-Technik Eingang in namhafte Forschungsinstitutionen der Zeit, wie in die regierungsnahe RANDCorporation,120 und diffundiert in zahlreiche weitere wissenschaftliche und professionelle Bereiche. Osborn legt Wert darauf, seine Überlegungen und Methoden einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und die Möglichkeiten, die kreatives Denken zu eröffnen verspricht, über professionelle und industrielle Anwendungskontexte hinaus bekannt zu machen. In dem 114. Vgl. Rickards: »Brainstorming« (1999), S. 220. Taschenbuch Your Creative Power 115. Vgl. Schlicksupp: Ideenfindung (2004), S. 100–104. von 1948 finden interessierte Leser 116. Vgl. Osborn: Wake up Your Mind (1952), S. 13–20. Anregungen, wie kreatives Denken 117. Vgl. Sperry: »Cerebral Organization and Behavior« (1961); MacLean: A Triune Conception of the Brain eine harmonische Partnerschaft, and Behaviour (1974). eine gelungene Kindererziehung 118. Osborn: Wake up Your Mind (1952), S. 20. und Charakterbildung sowie eine 119. Rickards: »Brainstorming« (1999), S. 220. erfolgreiche Karriere unterstützen 120. Vgl. Brandstetter, Pias, Vehlken: »Think-Tank-Denken« kann.121 In dieser Lesart geht (2010), S. 50. die methodische Dimension von 121. Osborn: Your Creative Power (1948).

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Kreativitätstechniken über die systematische Generierung von Ideen weit hinaus und dient der individuellen Persönlichkeits- und Charakterbildung. Entsprechend können sie mit Michel Foucault als »Technologien des Selbst« gedeutet werden, Methoden, mit denen »Menschen in unserer Kultur Wissen über sich selbst erwerben«.122 Obwohl das Brainstorming heute ein populäres und weitverbreitetes Verfahren zur Ideengenerierung darstellt (und mittlerweile auch in elektronischer Form programmiert wird),123 wird selten bedacht, dass der propagierte Nutzen von Kreativitätstechniken für die individuelle Selbst(er)findung der Krisenhaftigkeit der Kriegs- und Nachkriegszeit und den daraus resultierenden kollektiv-gesellschaftlichen Dringlichkeitspostulaten geschuldet ist. In Die Atombombe und die Zukunft des Menschen hält Karl Jaspers 1961 fest: »Vor der Drohung totaler Vernichtung sind wir zur Besinnung auf den Sinn unseres Daseins zurückgewiesen. Die Möglichkeit der totalen Zerstörung fordert unsere ganze innere Wirklichkeit heraus«.124 Mit dieser zugleich individuellen und kollektiven »inneren Herausforderung« ist die Entwicklung von Kreativitätstechniken in der Nachkriegszeit aufs Engste verbunden.125 Beleuchtet man also die Geschichte von Kreativitätstechniken im »kurzen 20. Jahrhundert«126 näher, wird deutlich, dass sie tiefgreifend von den Diskursen ihrer Zeit geprägt ist. Spätestens ab den 1960er Jah226 ren avanciert »Kreativität« zu einem unscharfen, jedoch energetischen fachübergreifenden Signum.127 122. Foucault: »Technologien des Selbst« (1993), S. 26. Vgl. zum Der Kreativitätsbegriff gewinnt Verhältnis von Selbsttechnik und Entwurf Krauthausen: »Vom Nutzen des Notierens« (2010), S. 14. nicht zuletzt dadurch an Bedeu123. Rickards: »Brainstorming« (1999), S. 225 f. tung, dass vor dem Hintergrund 124. Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen der emergenten Künstlichen(1961), S. 24. Intelligenz-Forschung sowie 125. Eine entsprechende Argumentation findet sich etwa bei den aufkommenden ComputerFritz Zwicky, dem »Erfinder« zahlreicher sogenannter morphologischer Methoden. Vgl. Zwicky: Entdecken, technologien ein »alternativer« Erfinden, Forschen (1971), S. 10. und leistungsfähigerer Intelli126. Der Historiker Eric J. Hobsbawm verwendet den Begriff des genzbegriff von Nöten zu sein »kurzen 20. Jahrhunderts«, um damit den Einfluss von Zweitem Weltkrieg, Nachkriegszeit und Kaltem Krieg scheint.128 auf das heutige Verständnis von Kultur, Gesellschaft, BilBlickt man auf die Künste, dung und Wissenschaft zu betonen. Vgl. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme (2009), S. 16–19. so sind in den 1960er Jahren 127. Vgl. Albert, Runco: »History of Research on Creativity« zahlreiche Kunstschaffende aus (2009). Bis heute grundlegend ist der Band von Ulden Bereichen Bildende Kunst, mann, der einen differenzierten, kritischen Einblick in die Kreativitätsdiskurse der Zeit gibt und zu einer Computergrafik, Musik und historisch-gesellschaftlichen Kontextualisierung dieses Literatur vom Aufkommen diDiskurses aufruft. Vgl. Ulmann: »Psychologische Kreativitätsforschung« (1973). gitaler Technologien inspiriert. 128. Zum Status von Kreativät in der Künstlichen-IntelligenzDie theoretischen Fundamente Forschung vgl. Boden: The Creative Mind (2004); zur dieser künstlerischen Bewegung Geschichte vgl. Cordeschi: The Discovery of the Artificial (2002). werden unter anderem durch

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227 Abb. 7: Morphologischer Kasten des Typogramms nach Karl Gerster, 1964

Texte zu einer kybernetischen »Informationsästhetik« von Max Bense oder Abraham A. Moles geliefert.129 Moles fordert für die Gestaltung den konsequenten Einsatz von »Rechenanlagen, automatischen Zeichenmaschinen, kombinatorischen Verfahren, Spieltheorien und Listenverfahren«.130 Im Sinne einer solchen Programmatik erscheint 1964 Karl Gerstners Buch Programme entwerfen. Vorgestellt werden darin methodische Ansätze, mittels derer gestalterische Aufgaben auf eine quasi-algorithmische Weise »gelöst« werden können. Dazu gehört auch ein durch Gerstner adaptierter »morphologischer Kasten des Typogramms«.131 Er enthält »die Kriterien – von oben nach unten die Parameter, die in der Spalte links die Komponenten und rechts die Bestimmungsstücke –, nach denen Wortbilder, Logos aus 129. Vgl. zum Beispiel Bense: »Einführung in die informationstheoretische Ästhetik« (1998); Moles: »Die Krise des Buchstaben zu entwerfen sind« Funktionalismus« (1999). (Abb. 7).132 »Programmieren« 130. Moles: »Die Krise des Funktionalismus« (1999), S. 213. avanciert zum vielverspre- 131. Gerstner: Programme entwerfen (2007), S. 13. chenden Schlüsselwort für 132. Ebd.

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Kunst- und Designschaffende in den 1960er Jahren. Weitere Begriffe, die in diesem zeithistorischen Kontext bedeutsam werden, sind die einer »generativen Ästhetik«133 oder einer »programmierten Kunst«.134 Peter Weibel verwendet den Begriff »algorithmisches Arbeiten« und versteht darunter »eine Entscheidungsprozedur, eine Handlungsanweisung, ein Rezept, ein generelles Verfahren, das aus einer endlichen Menge von Regeln besteht, welche eine Sequenz von Operationen vorgibt, die zur Lösung eines spezifischen Problems führen sollen.«135 Dergestalt aufgefasst, bilden Algorithmen respektive apparativ generierte Visualisierungen eine Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft und werfen Fragen zu ihrer ästhetischen Bewertung und kulturellen Einordnung auf.136 Christoph Klütsch nennt als zentrales Moment solcher Algorithmen »die Einbindung des Zufalls anhand von Pseudozufallsgeneratoren«. Diese besetzten nunmehr »innerhalb eines (kybernetischen) Modells der Kunst die Position der Intuition«.137 Neben einer persistenten Rhetorik des Digitalen durchzieht auch die Idee der Interdisziplinarität die einschlägigen Kreativitätsschriften aus der Nachkriegszeit. Arthur Koestler verortet 1964 in seinem Buch The Act of Creation grundlegende kreative Mechanismen, die sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft 228 anzufinden seien.138 Ohne dies selbst zu erwähnen, schließt er damit an eine zentrale These der etwa zeitgleich auf kommenden Designmethodologie an, die besagt, dass Entwurfsprozesse in unterschiedlichen Disziplinen ein einheitliches Muster aufweisen,139 Sydney Gregory nennt dies »die Entwurfsmethode« (design method).140 Koestler prägt mit Bezug auf die Psychoanalyse und die Gestaltpsychologie den Ausdruck der »Bisozation«, um damit eine kreative Verknüpfung von Begriffen 133. Vgl. dazu Klütsch: Computergrafik (2007), und Bildern aus den unterschiedlichsS. 17. ten Bereichen zu bezeichnen.141 Auch 134. Vgl. Eco: La definizione dell’arte (1968). Rudolf Arnheim bezieht sich Ende der 135. Weibel: »Algorithmus und Kreativität« (2005), S. 22. 1960er Jahre mit seiner Studie zum 136. Vgl. Könches: »Die Apparate entwickeln anschaulichen Denken (visual thinking) ihre Ausdrucksweise« (2005), S. 15. auf gestaltpsychologische Konzepte 137. Klütsch: Computergrafik (2007), S. 16. und bekräftigt seinerseits, dass dieser 138. Koestler: The Act of Creation (1964). Modus des Denkens »in der Phantasie 139. Vgl. Fezer: »A Non-Sentimental Argument« des Künstlers, der Erkenntniswelt des (2009), S. 291. 140. Gregory: »Design and The Design Method« Wissenschaftlers und ganz allgemein (1966), S. 3. überall, wo jemand sich mit Problemen 141. Vgl. Koestler: The Act of Creation (1964), ›im Kopf‹ abgibt«, also fachübergreifend S. 663–666. zu finden sei und zum Tragen kommen 142. Arnheim: Anschauliches Denken (2001), S. 279. könne.142

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Von kultur- und wissenshistorischem Interesse ist also die Beobachtung, dass die Entwicklung von Kreativitätstechniken in der Nachkriegszeit keineswegs »rein« wirtschaftlichen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Bereichen entstammen, sondern dass interdependente Diskurse ihre Entstehung, Anwendungsmodalitäten und Legitimationsdiskurse prägen. Es bietet sich mithin an, sie vor dem zeithistorischen Hintergrund von Kaltem Krieg, atomarer Bedrohung und Sputnik-Schock zu sehen. Dieser Sichtweise entsprechend fungieren sie als sekundierende Techniken eines beschleunigten wirtschaftlichen Auf baus oder einer forcierten Technologisierung. Einen weiteren Einflussbereich stellen Debatten zu Informations-, Wissens- und Expertengesellschaft sowie die einflussreiche Zwei-Kulturen-Debatte anfangs der 1960er Jahre dar.143 Schließlich bildet der US-amerikanische militaryacademic-complex 144 – also das interdisziplinäre Zusammenspiel von Militärwissenschaft, Operations Research, Kybernetik, Informationstechnologie, Spieltheorie, Zukunftsforschung und angewandter Psychologie – einen wichtigen intellektuellen und pragmatischen Nährboden für die Entwicklung von Kreativitätsforschung und -techniken in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Thomas Brandstetter, Claus Pias und Sebastian Vehlken halten fest, dass die bei der 229 RAND-Corporation praktizierten Kreativitätstechniken mit ihren »Prinzipien der aufgeschobenen Evaluation, dem Primat der Quantität, der Präferenz für ausgefallene Ideen und des spontanen Reagierens« genau jene »Barrierefreiheit des Denkens« verspricht, die nötig sei, um in Zeiten des Kalten Krieges »kreativ« über militärische Entwicklungen nachzudenken.145 Es scheint sich hier eine These von Detlef Nothnagel zu bewahrheiten, die besagt, dass »das Nachdenken über Kreativität immer dann Konjunktur hat, wenn in modernen Gesellschaften die Zukunft verstellt scheint«.146 Angesichts der virulent geführten aktuellen Debatten rund um die künstlerische Forschung und ihre ver143. Zur Zwei-Kulturen-Debatte Snow: The Two meintlich neuen kreativen Techniken Cultures (1959) sowie Kreuzer: Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz (1969). und wissenschaftsalternativen PotenziRelevante zeithistorische Beiträge zur Debatale müsste entsprechend dieser These te um Wissens- und Informationsgesellschaft stammen von Bell: The Coming of Post-Indusdie aktuelle Krisenlage bestimmt und trial Society (1973); Ellul: The Technological hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Society (1964); Lane: »The Decline of Politics zeitgenössische Themen und Modi der and Ideology« (1966). Wissensproduktion eingehend befragt 144. Vgl. Leslie: The Cold War and American Science (1993). werden. 145. Brandstetter, Pias, Vehlken: »Think-Tank-Denken« (2010), S. 50. 146. Nothnagel: »Denkmedien und Kreativität« (2007), S. 317.

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Kreativitätstechniken als interdisziplinäre Methodenverbünde Mit Blick auf das Gesagte scheint es angebracht, bei der Bestimmung und Verwendung von Kreativitätstechniken als kreative Methoden, als Wissenstechniken der künstlerischen Forschung keine kategorischen, essenzialistischen oder naturalisierenden Konzepte von »Kreativität«, »Neuheit« oder »Innovation« zu vertreten, sondern diese Topoi ihrerseits historisch zu kontextualisieren und kritisch zu hinterfragen. Sie spiegeln keineswegs »natürliche« Befunde wider, oder um Ludwik Fleck zu zitieren, es gibt »keine Generatio spontanea der Begriffe, sondern sie sind durch ihre Ahnen sozusagen, determiniert«.147 Dies bedeutet mithin, dass Kreativitätstechniken, ja Wissenstechniken und Methoden überhaupt, Bestandteile soziohistorischer Aushandlungsprozesse darstellen. Sie werden durch spezifische Diskurse, Praktiken und Objekte vermittelt und stabilisiert und bestimmen mit, was als »produktives« oder »effizientes« Wissen und Handeln gilt und wo die Grenzverläufe von Wissen abgesteckt werden. Erst ein Verständnis für komplexe kultur- und wissenshistorische Entwicklungen kann dazu beitragen, die oft ahistorischen Debatten rund um die künstlerische Forschung zu 230 differenzieren und ihre vielversprechenden Ansätze zeitgemäß zu fundieren. Der vorliegende Text hat den Versuch unternommen, einen (wenngleich sehr begrenzten) Einblick in die historische Dimension von Kreativitäts- und Methodendiskursen zu geben. Es galt zu zeigen, dass Kreativitätstechniken keineswegs »rein« künstlerischen Kontexten entstammen, sondern dass ihre historische Genese als Ergebnis zahlreicher wechselwirksamer wissenschaftlicher, technischer, künstlerischer und nicht zuletzt auch religiöser und ökonomischer Diskurse zu verstehen ist. Nimmt man diesen Befund ernst, dann können Kreativitätstechniken gleichermaßen als fachübergreifende Kultur- und Wissenstechniken, als Erinnerungs-, Erfindungs- und Entwurfstechniken sowie als »Technologien des Selbst« (Foucault) lesbar gemacht werden.148 In einem derart weit gefassten und vor allem interdisziplinären Technik- und Methodenverständnis werden Methoden als normativ geprägte Methodenverbünde erkennbar. Diese Lesart folgt einem Vorschlag des Wissenschaftshistorikers John Law, der über Methoden schreibt: If it is a set of moralisms, then these are not warranted by a reality that is fixed and given, 147. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenfor method does not ›report‹ on schaftlichen Tatsache (1980), S. 31 [sic!]. something that is already there. 148. Foucault: »Technologien des Selbst« (1993).

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Instead, in one way or another, it makes things more or less different. The issue becomes how to make things different, and what to make.149 Vergleichbar zu dieser Aussage konstatiert der Techniksoziologe Werner Rammert, dass Techniken »Resultate sozialen Handelns« seien, oft »eine Form kreativen Handelns« darstellen und deswegen nicht auf den Aspekt eines instrumentellen Handelns zu reduzieren seien.150 Versteht man Kreativitätstechniken also nicht in einem rein technisch-utilitaristischen oder kommerziellen Sinne, sondern fasst sie mit Law als weitreichende »method assemblages« auf, 151 dann werden sie als generative oder performative Praktiken lesbar, die dazu dienen, differenzierte (akademische, professionelle, populäre, moralische, ästhetische) Handlungs- und Wissensräume herzustellen, auszuhandeln und auf Dauer zu stabilisieren – so auch im Kontext der künstlerischen Forschung. Vereinfacht gesagt, umfasst eine Kreativitätstechnik mehr als das damit bezeichnete technische Verfahren. Sie umfasst den gesamten Kontext, in dem sie zur Anwendung kommt, ihre professionelle, disziplinäre oder institutionelle Verortung, sämtliche daran beteiligten menschlichen und nicht-menschlichen Akteure (Apparate, Maschinen), soziale und mediale Interaktionen sowie 231 explizite und implizite Bewertungsschemata. Je nachdem wo und wie sie zur Anwendung kommt, kann ihr methodischer Status von einem unverbindlichen Inspirationsgeber bis hin zu einem streng angeleiteten Schulungsprogramm variieren. In einer Werbeagentur dürfte eine Technik wie Brainstorming auf andere Weise angewendet und ausgewertet werden als im Rahmen eines ingenieurwissenschaftlichen Studiengangs. Entsprechend zielen Kreativitätstechniken auf methodischer Ebene darauf ab, in bestimmten »Wissenskulturen«152 epistemische Differenzbeziehungen herzustellen. Die Einsicht, dass vermittels Kreativitätstechniken letztlich nur bedingt systematische Innovation erzeugt werden kann, eröffnet zudem Fragen, nach welchen Kriterien die Auswahl »neuer« Ideen oder der »richtige« Weg zu Entwürfen, Neuerungen, Erfindungen in den unterschiedlichen Wissenskulturen zustande kommt und nach welchen sozialen, technischen oder ästhetischen Kriterien dies ausgehandelt wird. Für die künstlerische Forschung ist somit der methodologische Status von kreativen Techniken im Kontext von Forschung und Wissensproduktion von grundlegendem Interesse – und dies 149. Law: After Methods (2004), S. 143. nicht nur in einem instrumentalisti150. Rammert: Technik – Handeln – Wissen (2007), schen Sinne. Es gilt zu bedenken, dass S. 11. Methodendiskussionen nicht auf die 151. Law: After Methods (2004), S. 161. Dimension von epistemischen Zweck- 152. Vgl. Knorr-Cetina: Wissenskulturen (2002).

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Abbildungsnachweise Abb. 1, S. 206: Morphologische Tabelle, in: Ken W. Norris: »The Morphological Approach to Engineering Design«, in: John Christopher Jones, Denis G. Thornley (Hrsg.): Conference on Design Methods. New York 1963, S. 115–140, S. 118 Abb. 2, S. 210-211: Contradiction Matrix, in: Genrich S. Altschuller: The Innovation Algorithm: TRIZ, Systematic Innovation and Technical Creativity. Worcester 2007, S. 268 f Abb. 3, S. 214: Checkliste der Variationsbreite nach Osborne-Kreis Kt9, Bild (B116konZ). Stand: 10.05.2011, http://diglib.ethz.ch/ system/temporary/get_kon.dsp54.de.htm Abb. 4, S. 215: Gedächtnissystem nach Giordano Bruno: De umbris idearum. Paris 1582, in: Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. 6. Aufl., Berlin 2001, S. 368, Tafel 11

Methodische Imagination – Kreativitätstechniken, Geschichte und künstlerische Forschung

Abb. 5, S. 218: Raimunds Lullus: Erste Figur (A-Diagramm), in: Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. 6. Aufl., Berlin 2001, S. 169 Abb. 6, S. 219 : Raimunds Lullus: Vierte Figur (Kombinationsfigur), in: Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. 6. Aufl., Berlin 2001, S. 169 Abb. 7, S. 227: Morphologischer Kasten des Typogramms, 1964, in: Karl Gerstner: Programme entwerfen. Statt Lösungen für Aufgaben Programme für Lösungen. Baden 2007, S. 13

241

Adelheid Mers

Transfer-Diskurse zu

Künstlerpositionen,

Kreativindustrien, Kreativität,

Innovation,

und

Ästhetik Diagrammatik

Unter der Überschrift »Transfer« betrachte ich das folgende Szenarium: ein/e Künstler/in 1. begibt sich in einen ungewohnten sozialen, kulturellen, kognitiven und/oder ökonomischen Zusammenhang unter der Voraussetzung, dazu etwas beizutragen (das ist immer auch eine ideologische Entscheidung), 2. unternimmt es, ein Verständnis für dieses ungewohnte Feld zu entwickeln (wozu analytische und synthetische Fähigkeiten eingebracht werden), 3. ist, inmitten dieses Feldes, bereit, unvorhergesehene Probleme zu entdecken und anzunehmen (was auch als ein Unterschied zwischen künstlerischem oder Designanspruch betrachtet werden kann und den Ton der anstehenden Arbeit möglicherweise bestimmt), 4. grenzt das Problem ein, um es als machbare Aufgabe kontextuell angehen zu können, und bringt dazu spezifische, externe Fähigkeiten ins Spiel (ästhetischer, kognitiver und metakognitiver Art), 5. entwickelt einen kognitiven und/oder materiellen Beitrag (möglicherweise in Zusammenarbeit mit Kollegen der Gastdomäne, bringt also wiederum ästhetische, kognitive oder metakognitive Fähigkeiten ein) und 6. gibt das Ergebnis in die Domäne ein (möglicherweise in eng oder lose angelegter vertraglich festgelegter Form), wo es dann 7. auf der Basis domäneninterner Maßstäbe evaluiert wird, die möglicherweise für oder auch durch den Beitrag modifiziert werden.

Adelheid Mers

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Die Aufgaben, Standards und Vorgehensweisen zu legitimieren, fällt Experten zu, die nach Disziplinen in Gemeinschaften von Verwaltern, Akademikern oder Geschäftsleuten organisiert sind. Multi-, Trans-, Inter-, Anti- oder Nondisziplinarität vorzuschlagen, ist per Definition immer auch ein Angriff auf bestehende Expertisen. Das trifft auch auf den Vorschlag zu, dass ästhetisches Wissen (ein Wissen, das bisher noch ohne Methodologie auskommt, trotz vieler gleichartiger Vorgehensweisen und einer großen Anzahl von am Markt oder akademisch anerkannter Praktizierender) Beiträge hervorbringen kann, zum Beispiel zu den Wissenschaften oder zur öffentlichen Verwaltung. Neue Legitimationen können erstellt werden, indem Nutzen, unter anderem ökonomischer, sozialer oder kognitiver Art, mit quantitativen sowie qualitativen Methoden für bestimmte Zielgruppen ausgewiesen wird. Das ist ein recht komplexes Unterfangen. Ob es funktioniert, hängt davon ab, in welchem Grade es institutionalisiert wird; und dies wiederum hängt davon ab, wie sich verschiedene Diskurse miteinander verflechten. Ich eröffne den folgenden Überblick über einige bestehende Diskurse, indem ich frühe Beispiele spekulativer und experimenteller künstlerischer Positionen vorstelle, die nicht nur disziplinäre, sondern auch Sektorengrenzen1 zu durchbrechen versuchen. Hierbei soll auch der angestrebte, zum Teil realisierte Nutzen, den die Protagonisten angeben, untersucht werden. Der Präsentation von Künstler- oder Kurator-initiierten Grenzüberschreitungen folgt eine Einschätzung der internationalen Kreativindustrien und der verwandten Innovationspolitik, was wiederum zu einem Blick auf prozessorientierte Kreativitätskonzepte in Kunst und Pädagogik führt. Von da ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu einer Betrachtung von Alexander Gottlieb Baumgartens oft missverstandener Aesthetica – ein Text, der sich an einer Methodologie der Kunst versucht und vielleicht wichtiger ist wegen des Versuchs und seiner Fehlrezeption als in seiner Ausführung. Hier wird er als Vorreiter von Überlegungen zu Kunst und Technik in den Kognitionswissenschaften in den Blick genommen. Nach einem kurzen Exkurs zu Walter Benjamin schließe ich dann mit einer persönlich motivierten Darstellung diagrammatischen Verstehens ab, als einer kognitiven Präferenz, die einigen Künstlern zu eigen sein mag und es ihnen verstärkt nahelegt und auch ermöglicht, sich produktiv in ungewohnte Territorien einzubringen.

1. Hier verstanden als Universitäts-, Regierungs- und Geschäftssektoren.

Transfer-Diskurse

Einige relevante historische Künstlerpositionen Die Situationistische Internationale, eine revolutionäre Organisation europäischer Künstler und Intellektueller, entwickelt in den späten 1950er Jahren bis Anfang der 1970er Jahre Vorschläge zur radikalen Non-Disziplinarität. Ihre Vertreter stellen sich vor, die Gesellschaft durch sie durchdringende Kunstformen zu revolutionieren. Davon erhoffen sie sich, dass »den Lebensumgebungen« eine »höhere Qualität der Leidenschaft« zugute käme.2 Im Jahr 1957 fordert Guy Debord daher: Wir müssen eine geordnete Intervention in die komplizierten Faktoren zweier großer, sich ständig gegenseitig beeinflussender Komponenten durchführen: die materielle Szenerie des Lebens und die Verhaltensweisen, die sie hervorbringt und durch die sie erschüttert wird. [...] Die integrale Kunst, von der so viel gesprochen wurde, konnte nur auf der Ebene des Urbanismus verwirklicht werden. Sie konnte allerdings keiner der traditionellen Definitionen der Ästhetik mehr entsprechen.3 1964 veröffentlicht Allan Kaprow den Essay The Artist as a Man of the World.4 Seiner Einschätzung nach suchen Künstler Wege, um in sozialen Zusammenhängen zu arbeiten, teilweise, weil sie in Familien 245 der Mittelklasse aufgewachsen sind und dadurch ihres langjährigen Antagonisten, der Bourgeoisie, verlustig gegangen sind. In einer Zeit, in der sich Stile und Theorien zur Kunst vervielfältigen, ist die Rolle des Künstlers ständig in Bewegung: Intellektueller, Genie, Arbeiter, Beatnik. Kaprow behauptet, dass es die derzeitige Inkarnation des Künstlers sei, »im Geschäft zu sein«.5 Obwohl Künstler keine ausreichende Expertise besitzen, um auf sinnvolle Weise zur Nationalpolitik beizutragen, fühlen sie sich dazu bewogen, durch ihre Arbeit sowohl qualitative als auch moralische Werte zu etablieren. Als Teilnehmer eines professionellen Netzwerks von Kuratoren, Schriftstellern, Lehrern und Kollegen leisten Künstler durch Kunst und Kultur einen besonderen politischen Beitrag. In dieser Situation hat sich die Aufgabe, die Öffentlichkeit weiterzubilden, von Kritikern und Galeristen zu den Künstlern hin verschoben. In dem Maße, in dem Kunstwerke sich 2. Debord: »Rapport über die Konstruktion von Siauf den Alltag beziehen, verlieren sie tuationen« (Stand: 10.05.2011), unpaginiert. an Wert und zeigen das Museum als 3. Ebd. veraltet auf, und dies erfordert neue 4. Kaprow: »The Artist as Man of the World« (1993). Rollenbeschreibungen. S. 47 (Übersetzung AM). Alle folgenden Drei bedeutsame Projekte mit über- 5. Ebd., im Original englischsprachigen Zitate wurden greifenden Ansprüchen werden 1966 ins von der Autorin ins Deutsche übersetzt.

Adelheid Mers

Leben gerufen. In New York gründet der bei Bell Labs angestellte Wissenschaftler und Elektrotechniker Billy Klüver, zusammen mit den Künstlern Robert Rauschenberg und Robert Whitman, ›Experiments in Art and Technology‹ (EAT). »Klüver charakterisierte [EAT] als ein ›Dienstleistungsunternehmen‹, das Künstlern wissenschaftliche Hilfsleistungen anbot« 6. Am Los Angeles County Museum of Art richten die Kuratoren Maurice Tuchman und Jane Livingston das Artand-Technology Programm ein, um einen »Fertigkeitsaustausch« mit der Geschäftswelt zu ermöglichen, der »die unglaublichen Mittel und fortgeschrittenen Technologien der Industrie mit dem gleichermaßen unglaublichen Vorstellungsvermögen und den Talenten der besten heutzutage praktizierenden Künstler« zusammenbringen sollte.7 Es macht durchaus den Eindruck, als sollten Fertigkeiten hauptsächlich in eine Richtung bewegt werden. Das Bedürfnis, die Entwicklungen moderner Industrie und Wissenschaft zu integrieren, drückte sich in einigen Bewegungen der 20. Jahrhunderts aus, dem Kostruktivismus, dem Futurismus und auch dem Bauhaus. Bisher fanden es Künstler, die mit fortgeschrittenen Technologien experimentieren wollten, aber schwierig, ihre Projekte durchzuführen, ohne eine ›operative Beziehung‹ zu Personal und Ausstattung großer Industriebetriebe zu haben. Das Ziel des Art-and-Technology Programms war es, genau diese Beziehung zwischen zeitgenössischen Künstlern und führenden technologischen und industriellen Betrieben herzustellen.8

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Der Partner ist als sponsoring corporation genannt, was die Annahme erlaubt, dass die Firma in philanthropischer Tradition die Rechnung begleicht.9 Wie der Name der in London beheimateten Artist Placement Group anzeigt, werden Künstler, genannt incidental persons (beiläufige Personen), in Institutionen und Organisationen platziert. Nach Peter Eleey »nahm die APG an, dass Künstler die Industrie positiv beeinflussen konnten, sowohl durch die ihnen eigene Kreativität als auch durch ihre relative Unkenntnis bestehender Geschäftskonventionen.10 « Howard Slater schlägt vor, dass die 6. Eleey: »Context is Half the Work« (Stand: 10.05.2011), unpaginiert. 7. Tuchman, zit. n. Oleson: »Art and the Corporate World« (1971), S. 7. 8. Ebd. 9. Vgl. ebd., S.8. 10. Eleey: »Context is Half the Work« (Stand: 10.05.2011), unpaginiert.

Bewegung der APG in Richtung von Platzierungen in Regierungsabteilugen nach 1975 [...] vielleicht darauf hinwies, dass unterhalb der nicht-zielgerichteten Anwendung des transversalen und intuitiven Wissens der beiläufigen Person, nämlich im ›Unterbewussten‹ der

Transfer-Diskurse

Organisation der APG eine Haltung herrscht, die eine Legitimation der künstlerischen Tätigkeit nicht von den Institutionen der Kunst, sondern vom Industrie- und Regierungsbetrieb begehrt.11 Eleey dagegen sieht dies als die Konsequenz eines Tatbestandes, der auch in der auf der Webseite Tate Online veröffentlichen Chronologie zitiert wird, nämlich dass im Jahr 1972 das »Arts Council die Finanzierung einstellt, mit der Begründung, dass die ›APG mehr an sozialer Einflussnahme als an reiner Kunst interessiert sei‹«.12 Zusammengefasst erwägt er, dass der Ansatz der APG offenbart, dass Künstler in den 1960er und -70er Jahren davon besessen waren, sich mit den neuen ›Systemen‹ der Sozialwissenschaften, Kultur und Industrie auseindanderzustezen, sie [APG] aber auch einer der ersten war, die in ihrer Praxis sowohl den Umschwung der Wirtschaft in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft als auch das Aufkommen des intellektuellen Eigentums als Produkt modellierte.13 Die drei sozio-kulturellen Modaliäten, die Künstler in den obigen Beispielen einnehmen, finden sich weiterhin weltweit in Kunstzusammenhängen und können grob als intellektuell-revolutionäres, ausgehaltenes Genie und service-orientierter Bürger charakterisiert werden. Diametral verändert haben sich die Finanzierungsbeweggründe, und zwar aufgrund neu entstandener Bedürfnisse für andersartige Erträge. Während die Industrie philanthropische Ausgaben neu bedenkt, um sie mit den Zielen der unternehmerischen Gesellschaftsverantwortung oder auch des unternehmerischen Gesellschaftseinflusses durch strategisches Spenden in Einklang zu bringen, haben Regierungen verstärkt das neue Mandat angenommen, Innovation zu fördern. Im Rahmen dieser neuen Bedingungen formen sich auch neue Bewertungsmaßstäbe, Durchführungsinstrumente und Verwaltungseinheiten.

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Kultur- und Kreativindustrien 2007 fasst Andrew Ross die Anfänge des Kreativindustriediskurses, der neue Denk- und Verfahrensweisen um 11. Slater: »The Art of Governance« Stadterneuerung und Informationstechnologien (Stand: 10.05.2011), unpaginiert. ermöglicht, wie folgt zusammen: 12. »Artist Placement Group« (Stand: Die Namensänderung – vom eher rostigen Begriff ›Kulturindustrien‹ zum neugeprägten

10.05.2011), unpaginiert. 13. Eleey: »Context is Half the Work« (Stand: 10.05.2011), unpaginiert.

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›Kreativindustrien‹ – wird normalerweise Großbritanniens New Labour Regierung zugeschrieben, die 1997 ans Ruder kam, deren eifrige Modernisierer das Ministerium für Kulturerbe zum Ministerium für Kultur, Medien und Sport (DCMS) umbenannten und als dessen Ressort selbstgesteuerte Innovation im Bereich der Kunst- und Wissenssektoren der Wirtschaft vorschlugen.14 Ross und seine Kollegen liefern darüber hinaus beißende Kritik, doch zurzeit sind die Kreativindustrien fest mit der Innovationspolitik der Regierung Großbritanniens 15 verbunden (und den Einheiten des British Council in Indien und anderen Ländern), sowie mit den Regierungen von Kanada,16 Australien,17 China,18 Singapur 19 und natürlich mit der Europäischen Union. Ein Grünbuch, das die Europäische Kommission ins Netz gestellt hat, stellt klar und knapp vor:

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In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Welt mit höherer Geschwindigkeit gedreht. Für Europa und andere Teile der Welt bedeutet die rasante Ausbreitung neuer Technologien und die zunehmende Globalisierung einen Paradigmenwechsel von der traditionellen Produktion zu Dienstleistungen und Innovation. Fabrikhallen weichen immer mehr Kreativgemeinschaften, deren Rohstoff die Fähigkeit ist, sich etwas vorzustellen, etwas völlig neu zu denken und entstehen zu lassen. […] Wenn die EU in dieser sich ständig verändernden globalisierten Umgebung wettbewerbsfähig bleiben will, muss sie die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, damit Kreativität und Innovation innerhalb einer neuen unternehmerischen Kultur florieren können. 20

14. Ross: »Nice Work if You Can Get It« (2007), S. 19.

15. Vgl. die Webseite des Department for Culture, Media and Sport: http://www.culture.gov.uk, (Stand: 10.05.2011). 16. Vgl. die Webseite des Canadian Heritage: http://www.pch.gc.ca/eng/1266037002102, S(Stand: 10.05.2011). 17. Vgl. »Review of the National Innovation System« (Stand: 10.05.2011). 18. Vgl. die Webseite der China Cultural Industries: http://en.cnci.gov.cn, Stand: 10.05.2011. 19. Vgl. die Webseite des Ministry of Information, Communication and the Arts: http://app.mica. gov.sg, (Stand: 10.05.2011). 20. Europäische Kommission: »GRÜNBUCH« (Stand: 10.05.2011), S. 2. 21. Ebd., S. 22.

Rahmenbedingungen müssen dazu beitragen, den Wissenstransfer zu ermöglichen. »Damit zwischen den [Kulturund Kreativindustrien] und Bereichen wie Bildung, Industrie, Forschung oder Verwaltung funktionierende Verbindungen entstehen können, sollten echte ›Kreativpartnerschaften‹ aufgebaut und wirkungsvolle Mechanismen für den Transfer von Kreativwissen, z. B. Design, in andere Branchen eingerichtet werden.«21 Inmitten dieser Innovationslandschaft gedeihen professionelle Wissenstransfer-Manager,

Transfer-Diskurse

Partnerschaften und Forschungsstipendien, die den Informationsfluss innerhalb und zwischen Gruppierungen unterstützen. 22 Dazu gehört das Beispiel der University of the Arts in London mit einem Projekt, das unter dem Titel »Knowledge Transfer Partnerships – Bringing Creativity to Business« läuft. Wie bei einem Praktikum für Graduierte wird vom KTP associate erwartet, praktische Erfahrungen zu sammeln, während das Gastgeberunternehmen anstreben sollte, seine »Profitibalität zu erhöhen«.23 Da meine eigenen Erfahrungen aus den USA und Kanada stammen, werde ich die sehr unterschiedlichen Kontexte der Kreativindustrien dort weiter erörtern. Das Bedürfnis, Wissenstransfer zu definieren und zu verbessern, beeinflusst die kanadische Kulturfinanzierung, was ich hier am Beispiel des Social Sciences and Humanities Research Council (SSHRC) zeigen werde, »einer staatlichen Einrichtung, die Forschung und Lehre in den Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften in Universitätszuammenhängen fördert« und »Forschung und Talente, die zentral zu Lebensqualität und Innovation positioniert sind«, 24 unterstützt. Als eines unter vielen Angeboten gibt es »ein Pilotprogramm für Forschungs-/Schaffensförderung in Bildender Kunst«, 25 das regelmäßig Künstler und Sozialwissenschaftler zusammenbringt.

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In jüngster Zeit hat sich SSHRC […] auf einen Transformationsprozess eingelassen, der die Institution von einem Förderungsrat in einen Wissensrat überführen soll. Das bedeutet, dass, obwohl SSHRC weiterhin Fördergelder aufgrund von Fachkollegenbeurteilung ausgibt, in Zukunft verstärkt Unterstützung für den Transfer von Forschungswissen an Analytiker und Entscheidungsträger in der Regierung wie auch andere Vermittler und Wissensanwender zur Verfügung stehen wird. Einige SSHRC-Programme 22. Vgl. Institute of Knowledge Transfer, London (http://www.ikt.org.uk); Knowledge Transfer beinhalten bereits solche WissenPartnerships, Swindon (http://www.ktponline.org.uk); Knowledge Transfer Fellowship stransferleistungen. Das Programm Scheme des Arts & Humanities Research Community-University Research Council, Swindon, (http://www.ahrc.ac.uk/ FundingOpportunities/Pages/KTFellowshipAlliances (CURA) ist ein Beispiel, in Scheme.aspx); (alle Stand: 10.05.2011). dem erarbeitetes Wissen mit den loka23. University of the Arts London: »Knowledge len Anwenderbedürfnissen verbunden Transfer Partnerships« (Stand: 10.05.2011), unpaginiert. wird.26 Das CURA-Programm ist seit 1999 in Kraft. Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil ich 2005 als internationales Mitglied einer CURA eingeladen wurde, die zum Thema »Mapping Quality of Life and the

24. Social Sciences and Humanities Research Council: »About SSHRC« (Stand: 10.05.2011), unpaginiert. 25. Dass.: »Research/Creation Grants in Fine Arts« (Stand: 10.05.2011), unpaginiert. 26. Dobuzinskis, Howlett, Laycock: Policy Analysis in Canada (2007), S. 226.

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Culture of Small Cities« forscht und an der Thompson Rivers University in Kamloops, Britisch-Kolumbien beheimatet ist. Diese Einladung führte zu einer Anzahl von Konferenzteilnahmen an der Universität, zu Workshops, Veröffentlichungen, einer Online-Gemeinschaft und einem gemeinsamen Arbeitsaufenthalt am kanadischen Banff Centre for the Arts. Sowohl in Kamloops als auch in Banff kam ich mit lokal ansässigen Bürgern und Mitgliedern der Stadtverwaltung sowie mit kanadischen und internationalen Akademikern und Kulturschaffenden zusammen, und ich nehme weiterhin an den Diskussionen und am Feedback zu Veranstaltungen teil. Auffallend ist dabei, welch großes Gewicht der Erstellung von »Resultaten« beigemessen wird. Das bedeutet, dass durch Ausstellungen oder andere Formen von Ergebnispublikation ein hoher Grad an Reflexion und Selbstbeurteilung von den Teilnehmern erwartet wird, wodurch sich ein ständiges Experimentieren mit Wissensmodalitäten, Beurteilungsmaßstäben und Erfahrungsmodellen ergibt. Ziel meiner Arbeitsgruppe ist es momentan, ein sich weiterentwickelndes Diagramm, das Organisationen und Institutionen der Kunstwelt darstellt und in einem meiner Seminare entstanden ist, auf eigene Zusammenhänge anzuwenden. Interessant an diesem flexiblen Diagramm ist, dass wir es als Deliberations- und Beobach250 tungswerkzeug und Alternative zum wohlbekannten konzentrischen, romantisch-ökonomischen Modell der Kulturindustrie 27 zu entwickeln suchen, das eine nicht weiter charakterisierte »künstlerische« Kreativität als zentralen Motor peripheraler Unternehmen sieht.28 Die Abwesenheit des Transfer-Begriffs im US-amerikanischen Regierungszusammenhang (mit Ausnahme von den Gesundheitsund Verteidigungsministerien) reflektiert die Abwesenheit einer klar umrissenen Kulturpolitik, die im Kontext der weltweit größten Unterhaltungsindustrie ja auch nicht vonnöten zu sein scheint, um Kreativitätsquellen geschäftlich zu erschließen. Zudem haben sich bereits Bildungs-, Militär- und Unterhaltungsindustrien institutionell zusammengeschlossen, wie zum Beispiel in dem Institute for Creative Technologies der University of Southern California. 29 Innovationspolitik hingegen besteht erst 27. Vgl. Throsby: »The Concentric Circles Model« in Ansätzen, was wiederum auf eine (2008). verpasste Verbindung hindeuten könnte, 28. Es ist geplant, im Jahr 2011 Teile dieses Aussollte sich künstlerische Kreativität als tauschs in Buchform zu publizieren und das Faktor in Forschung und Entwicklung Projekt daraufhin ortsspezifisch in Kanada anzuwenden. in weiteren Feldern erweisen. 30 Das 29. Vgl. die Institutswebseite: http://ict.usc.edu, bedeutet nicht, dass andere Sektoren (Stand: 10.05.2011). außerhalb der Regierung keine Materi30. Vgl. The White House: »A Strategy for Amerialien zu diesem Thema hervorbringen. can Innovation« (Stand: 10.05.2011).

Transfer-Diskurse

So deklariert das Institute of Knowledge Transfer beispielsweise: »Ein neues Berufsbild, Wissenstransfer, hat sich entwickelt, um die Prozesse anzugehen, die Technologie, praktisches Wissen, Expertise und Fähigkeiten in innovative, kommerzielle Produkte und Dienstleistungen umwandeln.«31 Die Association of University Technology Managers »lancierte das Better World Project im Jahr 2005, um Verständnis dafür zu schaffen, wie akademische Forschung und Techniktransfer Ihnen, Ihrer Gemeinschaft und Millionen von Menschen weltweit zugute kommen«, 32 auch indem sie 2009 einen 86-seitigen Report in Umlauf setzte, der persönliche Erfahrungen und Geschichten enthält. Die Weltbank wiederum publizierte im Jahr 2003 einen 59-seitigen Literaturüberblick, der mit der Erklärung beginnt, dass »die Bank sich dazu verpflichtet hat, eine globale Bank des Wissens zu werden«, 33 und damit fortfährt, ein geradliniges Sender-EmpfängerWissenstransferschema darzustellen, mit beigefügtem Diagramm. Im Umfeld des Kunstmanagements zitiert das Arts & Business Council der Americans for the Arts als eine seiner Aufgaben »das Teilen von Wissen und von Erfolgsmethoden«.34 Offensichtlich ist künstlerische Kreativität in dieser Mischung unterrepräsentiert. Dennoch bin ich in Chicago an einem Projekt beteiligt, das von meiner Kollegin Frances Whitehead in die Wege 251 geleitet wurde und nun im zweiten Jahr zwischen der Stadtverwaltung und unserer School of the Art Institute of Chicago besteht. Whitehead kooperiert als embedded artist 35 mit dem Department of Environment, während ich bisher mit dem Department of Innovation and Technology und dem Bürgermeisteramt zusammengearbeitet habe. Unser Ziel ist es, individuelle und spezifische künstlerische Kentnisse in bestehende Vorgänge einzubringen. Künstler, Professoren, akademische Verwaltung und Stadtverwaltung, Projektmanager und Stiftungen arbeiten ad hoc, in der Hoffnung, etwas zu erstellen, das im Rahmen von öffentlicher Verwaltung und Stadterneuerung als beispielhaft und förderungswürdig angesehen wird und zur Etablierung von Rahmenbedingungen weiterer Möglichkeiten Institute of Knowledge Transfer: »About IKT« führt. Im Rahmen einer hochkomplexen 31. (Stand: 10.05.2011), unpaginiert. städtischen Initiative, um bessere Netz- 32. Association of University Technology Managers: »About the Better World Project« (Stand: anbindungen für die Stadt zu schaffen, 10.05.2011), unpaginiert. ging es mir als embedded artist darum, 33. Cummings: Knowledge Sharing (2003), S. 1. mithilfe der Erstellung von Diagram34. Americans for the Arts: »Arts & Business Partmen Entscheidungsfindungsprozesse zu nerships« (Stand: 10.05.2011), unpaginiert. reflektieren. Zunächst standen die Be- 35. Der Begriff wird der Methodik Creative Trident entsprechend verwendet. Embedded heißt hier werbungsprozesse, die sowohl Stiftungen, spezifisch, umfassenden Zugang zu InformatioBerateragenturen, Konzerne und Bürgernen und Vorgängen zu haben, was auch eine gruppen sowie fast sämtliche Abteilungen Sicherheitsüberprüfung erforderte.

Adelheid Mers

der Stadtverwaltung in Anspruch nehmen, im Fokus, anschließend ging es darum, Verwendungsdaten bildhaft darzustellen. Wir arbeiten heute in einem anderen Bedeutungszusammenhang als beispielsweise noch die Artist Placement Group. Innovationsdiskurse haben zumindest einige Mitarbeiter der Stadtverwaltung darauf vorbereitet, künstlerische Mitarbeit zu suchen und nicht nur zu dulden, und wir als Künstler haben uns so weit am Diskurs um Art as Research beteiligt, dass wir bereit sind, Gebrauchswerte für unsere Arbeit nicht nur zuzulassen, sondern sogar anzustreben. Wenn die Zusammenarbeit auch unterschiedlich motiviert ist, führt sie doch zu einer produktiven Begegnung. Es muss aber betont werden, dass hier kein Transfer künstlerischen Wissens zu Verwaltungswissen stattfindet, sondern ein Austausch, der potenziell alle beteiligten Partner, Vorgehensweisen und Wissensbereiche beeinflusst. So brachten auch erste, informelle Evaluierungen Beteuerungen gegenseitiger Wertschätzung, vielleicht als Anzeichen einer möglichen Wissenspartnerschaft nach der Überwindung anfänglicher Vorurteile, hervor.

Kreativität/Innovation 252

Der Psychologe E. Paul Torrance beschreibt Kreativität eher bescheiden als den Vorgang, Schwierigkeiten, Probleme, Informationslücken, fehlende Elemente oder Schieflagen wahrzunehmen; zu diesen Missständen zu spekulieren und Hypothesen zu formulieren; Spekulationen und Hypothesen zu evaluieren und zu testen; sie vielleicht zu revidieren und wiederum auszutesten; und schließlich, die Ergebnisse zu kommunizieren. [...] Solch eine Definition platziert Kreativität mitten in das tägliche Leben und reserviert sie nicht für ätherische und selten erreichte Höhen des Erschaffens. 36

Ignacio L. Götz fordert größere Präzision und kritisiert, dass bei Torrance »keine klare und ausreichende Unterscheidung vollzogen wird zwischen (1) Kreativität und Forschungsverfahren; zwischen (2) Kreativität und Einsicht oder Erkenntnis; und zwischen (3) Kreativität und Kommunikation«.37 Er fordert, dass »Krea36. Torrance: »Understanding Creativity« (1993), tivität nicht zugleich Kapazität und Prozess S. 233. sein kann«,38 und zitiert stattdessen die 37. Götz: »On Defining Creativity« (1981), S. 297. folgenden Schritte, die 1937 von Catherine 38. Ebd., S. 298. Patrick isoliert wurden 39 und welche wiede39. Vgl. Patrick: »Creative Thought in Artists« rum Untersuchungen von Graham Wallas (1937). aus dem Jahr 1926 40 weiterführen: 40. Vgl. Wallas: The Art of Thought (1954).

Transfer-Diskurse

(1) Vorbereitung, (2) Inkubation, (3) Einsicht (oder Entdeckung, Erleuchtung), und (4) Verifizierung oder Konkretisierung, die oft zu einem (5) Produkt (im weitesten Sinne des Wortes) führen. Der Erscheinung des Produktes kann (6) ein komplexer Evaluierungsprozess folgen, der Kriterien der Ethik, Brauchbarkeit, wissenschaftlichen Exaktheit, Originalität und der Schönheit beinhaltet.41 Im Folgenden situiert Götz die eigentliche Kreativität im vierten Stadium, der Verifizierung oder Konkretisierung, um sie als »den Prozess oder die Aktivität« zu definieren, »Erkenntnis bewusst zu konkretisieren«.42 In einem Essay, der sehr von Torrance beeinflusst ist, erweitert Don Ambrose den Aktionsradius, indem er aufzuzeigen sucht, dass »kreatives Denken und Agieren von breiten Umwelteinflüssen geformt wird, zum Beispiel vom Zustand akademischer Disziplinen und von nationalen Wertesystemen.«43 Ambrose schlägt vor, Clifford Geertz’ 44 metaphorische Einsicht zum Wert diversifizierter Forschungsmethoden in Betracht zu ziehen. Geertz hatte gefragt, wer einen Fluss (hier als Phänomen, an dem ein Forschungsinteresse besteht) am besten erfasst: Ist es der Hydrologe (ein mechanisch-quantitativer Forscher) oder ein Schwimmer (ein kontextuell-qualitativ teilnehmender Beobachter). Die Antwort hängt davon ab, welches Wissen man für welchen Zweck gerne hätte. Ein umfassenderes Verständnis des Flusses erfordert die Untersuchungen beider Forscher.45

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Ambrose fordert Praktizierende auf, »Wege zu finden, innerhalb und jenseits ihrer Disziplinen kollaborativer zu arbeiten und damit Torrances Betonung der Interdependenz als Bedingung der Erweiterung kreativen Arbeitens Folge zu leisten« .46 Dies ist auch das Konzept, das der kanadischen CURA zugrunde liegt, innerhalb derer sich nationale Werte in Rahmenbedingungen niederschlagen, die akademische Forschung ermöglichen. Dagegen hat das Chicagoer Projekt gerade einmal begonnen, Kollaboration zu implementieren. Marcel Duchamps kurzer Vortrag »The Creative Act«, den er während einer Tagung der American Federation of Arts im April 1957 gehalten hat, malt ein bekanntes und weiterhin äußerst populäres Bild 41. Götz: »On Defining Creativity« (1981), S. 299. künstlerischer Kreativität als Ge- 42. Ebd., S. 300. burtsakt – von der Schwangerschaft, 43. Ambrose: »Large-Scale Contextual Influences on Creativity« (2006), S. 75. dem »Labyrinth«, zur Entbindung 44. Vgl. Geertz: Available Light (2000). unter »Mühen« und »Schmerzen«. 45. Ambrose: »Large-Scale Contextual Influences on Mit Nachdruck negiert Duchamp die Creativity« (2006), S. 82. Möglichkeit bewusster Schöpfung: 46. Ebd., S. 84.

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Creativity as Mysterious Process

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Wenn wir dem Künstler mediale Attribute zuschreiben, müssen wir ihm das Bewusstsein dessen, was er macht, oder warum er es macht, auf der Ebene des Ästhetischen absprechen. Seine gesamten Entscheidungen zur künstlerischen Ausführung des Werkes sind in der reinen Anschauung [pure intuition] beheimatet und können nicht in Selbstanalyse übersetzt werden, weder gesprochen oder geschrieben, nicht einmal gedacht.47 Duchamp sieht im Betrachter denjenigen, der das Werk vollendet, indem er »kritisch« darauf reagiert. Er charakterisiert die wahrnehmende

Transfer-Diskurse

Creativity as Transparent Process

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Abb. 1: Adelheid Mers: Creativity as Mysterious Process – Creativity as Transparent Process, Version 2011

und kognitive Aneignung des Werkes durch den Betrachter in seltsam magischer Weise als »ein Phänomen, das dem Transfer vom Künstler zum Betrachter durch ästhetische Osmose gleichkommt, das sich durch träge Materie, wie Pigment oder Piano oder Marmor, vollzieht.«48 John Dewey schreibt dem Betrachter schon rund 20 Jahre zuvor, im Jahr 1934, eine aktivere Rolle zu. »Um wahrzunehmen, muss der Betrachter seine eigene Erfahrung kreieren. Und seine Kreation muss Verhältnisse beinhalten, die denen vergleichbar sind, die der originäre Produzierende erfahren hat.«49 Dewey stellt klar, warum der Betrachter von Anfang an Teil 47. Duchamp: The Creative Act (Stand: 10.05.2011). des Ganzen ist. Der »grundlegende Fehler ist 48. Ebd. die Verwechslung des physischen Produkts mit 49. Dewey: Art as Experience (1980), dem ästhetischen Objekt«,50 da das ästhetische S. 54. Objekt sowohl vom Künstler wie vom Betrachter 50. Ebd., S. 219.

Adelheid Mers

geschaffen werden muss und beständig fluktuiert. Deweys Verständnis des Erschaffensprozesses eines Kunstwerks ist nicht so eng wie das Duchamps, aber doch verwandt. »Unterbewusste Reifung geht der kreativen Produktion in jedem menschlichen Unternehmen voraus [...], und schließlich wird etwas schon fast trotz des Bewussteins geboren, sicherlich nicht aufgrund gezielter Absicht.«51 Während unbewusste Reifung Teil der ästhetischen Domäne ist, engt Dewey diese wiederum nicht auf die Kunstdomäne ein. »Nur diejenige Psychologie, die annimmt, dass Wissenschaftler und Philosophen denken, während Dichter und Maler ihren Gefühlen folgen, hat Dinge separiert, die in Wirklichkeit zusammengehören.«52 Dewey dagegen lässt Unterschiede nur in den Bereichen der Technik, der Verwaltung und der Implementierung zu. Die folgende Aussage Deweys kann nun Götz’ Bedürfnis beantworten, das Verhältnis von Kapazität und Prozess näher zu definieren: [...] der Verstand ist der Hintergrund, auf den jeder neue Kontakt mit der Umgebung projiziert wird; und doch ist ›Hintergrund‹ ein zu passiver Begriff, wenn wir uns nicht entsinnen, dass er aktiv ist und dass in der Projektion des Neuen auf ihn eine Assimilation und Rekonstruktion des Hintergrundes und dessen, was vereinnahmt und verdaut wird, stattfindet. Dieser aktive und begierige Hintergrund liegt auf der Lauer und befasst sich mit allem, was daherkommt, indem er es in sein eigenes Wesen einnimmt. Verstand als Hintergrund entsteht aus den Modifikationen des Selbst, die in vorherigen Interaktionen mit der Umwelt stattgefunden haben. Er begehrt weitere Interaktionen. Da er im Geschäft mit der Welt Form erhält und auf diese Welt ausgerichtet ist, kann nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein als die Vorstellung, den Verstand als etwas, das in sich begrenzt und in sich eingeschlossen ist, zu behandeln.53

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Was hier as Deweys »ästhetischer Feldtheorie« charakterisiert werden könnte, resoniert auch in Entwicklungen der Kognitionswissenschaften. Zuerst führt sie uns aber hier einen Schritt weit zurück.

Ästhetik William M. Ivins, Jr. schreibt 1929 in einem kurzen Essay für das Museum of Metropolitan Art Bulletin: 51. Ebd., S. 73. 52. Ebd. 53. Ebd., S. 264.

Kürzlich erhielt das Museum als höchst großzügiges Geschenk von Paul Gottschalk aus Berlin ein unleserliches Dokument, unterzeichnet und versehen mit dem Siegel

Transfer-Diskurse

Alexander Gottlieb Baumgartens, der in Frankfurt an der Oder von 1740 bis zu seinem Tod im Jahre 1762 Philosophie lehrte. [...] Er war insbesondere am Thema des ›Geschmacks‹ und seiner Entwicklung interessiert, zu welchem er nicht nur Vorlesungen hielt, sondern auch ein Buch verfasste. Der Blickwinkel, unter dem er die Sache anging, war so neuartig, dass er Schwierigkeiten hatte, im schon geschwollenen deutschen Vokabular einen Namen für sein Thema zu finden, und so musste er einen erfinden. Er wandte sich ans Griechische, wo er das Wort Ǔ໒ۭۭ۟ٗԆߥ [aísthēsis] fand, das Sinneswahrnehmung bedeutet, und auf ihm basierend münzte er den Titel seines unvollendeten Buches zur Analyse und Formation des Geschmacks, die Aesthetica, herausgegeben in Frankfurt, im Jahre 1750.54 Ivins’ kurze Einführung Baumgartens ist ein Beispiel unter vielen falschen (oder nachlässigen) Darstellungen eines Textes, der noch nicht aus dem Lateinischen, in dem er verfasst wurde, ins Englische übersetzt worden war,55 und die seinen Inhalt als vorrangig an Objekten des Geschmacks und ihrer Rezeption sowie an Wertung, nicht an Wahrnehmung interessiert missdeuteten. Es soll hier nicht darum gehen, Ivins zu diskreditieren; interessant an Ivins Beschreibung ist jedoch der Reflex, dem Objekt als einem Kandidaten der Bewertung Vorrang vor einer breiteren Reflexion zu Erfahrungsprozessen zu gewähren – derselbe Reflex nämlich, dem auch Duchamp in seinem Vortrag zum creative act nachzugeben scheint.56 Dem Museumszusammenhang verbunden, entwickelt Ivins dann doch noch ein Bild, das Baumgarten besser entspricht. Er beschreibt das Museum als ein

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psychologisches Labor, und seine Gemälde und Statuen und Stühle und Textilien als wären sie 54. Ivins: »An Early Aesthetician« (1929), S. 227. Reagentien oder Teile wissenschaft- 55. Vgl. Carritt: »Baumgarten’s Reflections on Poetry« (1955). licher Apparate zum Testen und zur Erforschung des menschlichen 56. »Kant, like the theorists of taste and even the writers of Baumgarten’s school such as RieVerstandes. Es ist nicht nur ein Ort del, […] instead of grasping or even guessing the importance for the philosophy of spirit of zur Entdeckung und zum VerständBaumgarten’s idea of a cognitio sensitiva dinis der Vergangenheit, sondern es stinct from cognitio intellectiva and prior to it, bietet auch die Möglichkeit [...] zur and indeed the whole realm of facultates inferiores in Wolff and petites perceptions in Leibniz; Entdeckung und zum Verständnis instead of using these ideas to work out a more der sinnlichen Reaktionen unseres organic and concrete connection between the terms of the old antithesis, theory and practice, eigenen Verstandes und Körpers, or knowing and willing, fell back on postulating welche den eindeutigen intellektua third realm of ›feeling,‹ a mere pigeon-hole for the facts he had failed to understand.« Croellen Prozessen vorausgehen und sie ce: »Introduction to Eighteenth-Century Aesthe57 mit Daten versorgen. tic« (1934), S. 165. 57. Ivins: »An Early Aesthetician« (1929), S. 229.

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Nach Leonard Wessell interessiert sich Baumgarten für das Wissen über dunkle und verwirrte Erfahrungen, das heißt Empfindungen. In der sinnlichen Wahrnehmung werden Empfindungen nicht chaotisch erfahren. Vielmehr sind sie geordnet. Es muss eine Form geben, die diese Ordnung der Wahrnehmung oder sinnlichen Erfahrung bestimmt. Diese Form ist der Gegenstand der Ästhetik. […] Im Psychologica empirica genannten Abschnitt seiner Metaphysica definiert Baumgarten die Ästhetik: ›Die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung ist die Ästhetik, als Logik des unteren Erkenntnisvermögens, als Philosophie der Grazien und der Musen, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens, als Kunst des der Vernunft analogen Denkens‹ (§ 533). Der revolutionäre Charakter Baumgartens kann in seinem Anspruch gesehen werden, die Ästhetik sei eine ars analogi rationis.58 Die Berücksichtigung der Aesthetica ist hier aufgrund zweier Spielzüge besonders relevant: erstens Baumgartens integrierte Ausrichtung auf ästhetisches Tun und Verstehen und zweitens die explixite Absicht, seine ästhetische Wissenschaft als nützlich zu konzipieren. In 258 den Prolegomena zur Aesthetica 59 spaltet er zunächst in Paragraf 2 das »untere Erkenntnisvermögen« in angeborenes Talent und erworbene Fähigkeit, wobei die erworbene Fähigkeit – die Ästhetik als Kunstlehre – in Lehrende und Ausübende eingeteilt werden kann, docentem et utentem. In den Paragrafen 3 und 4 der Prolegomena kann die Kunstlehre den Wissenschaften Material bereitstellen (philologischer Nutzen), helfen, wissenschaftliches Wissen zu vermitteln (hermeneutischer Nutzen), Erkenntnis jenseits des klar Greifbaren verbessern (exegetischer Nutzen), Grundlagen für alle kontemplativen geistigen Aufgaben anbieten (rhetorischer Nutzen) und generell Praktiken des täglichen Lebens (homiletischer Nutzen) und der schönen Künste (poetischer, musikalischer und noch weiterer Nutzen) unterstützen. In ihrer detaillierten Analyse der Aesthetica erklärt es Mary J. Gregor als »philosophisch uninteressant«,60 dass die Aesthetica versucht, eine regelgebundene Wissenschaft zu entwickeln. Dabei macht genau dieser Versuch Baumgartens Schrift so bedeutsam. Interessanterweise erwägt Gregor eine zeitgenössische Lesart im Zusammenhang mit Susanne Langers: 58. Wessell: »Alexander Baumgarten’s Contribution« (1972), S. 337. 59. Baumgarten: Theoretische Aesthetik (1988). 60. Gregor: »Baumgarten’s ›Aesthetica‹« (1983), S. 370.

Zum 200-jährigen Bestehen der Aesthetica mag Baumgartens Projekt einer ›Theorie der Geisteswissenschaften‹ – eine Philosophie der Künste, die fest in einer Theorie

Transfer-Diskurse

des Wissens verankert ist – ebenso als historisches Kuriosum erschienen sein wie seine Beschäftigung mit dem ›Analogon der Vernunft‹. Heutzutage sind kognitive Theorien der Kunst aber wieder respektabel […].61 Baumgartens Aesthetica ist tatsächlich der erste Versuch, die fehlende Methodologie der Künste bereitzustellen, und die Möglichkeit des Transfers bildet eine ihrer Grundlagen. Weder Kunstgeschichte noch -philosophie haben ein ausreichendes Interesse gezeigt, darauf aufzubauen, aber die Kognitionswissenschaften sind vielleicht die natürlichen Verbündeten. Der Psychologe und Kognitions-Neurowissenschaftler Merlin Donald stellt die Frage: »Welche kognitiven Prinzipien bestimmen die Künste? Und wo sollten wir eine kognitive Erforschung der Ursprünge der Kunst beginnen?« 62 Er schlägt einen Rahmen vor, der auf der Prämisse basiert, dass Kunst eine Art kognitiver Technologie darstellt, die hauptsächlich von Selbst-Reflexion und Metakognition gespeist wird. Donald setzt zwei Angelpunkte: einmal den Einfluss der sich entwickelnden Technologien auf verteilte kognitive Systeme – ein Aspekt, von dem er behauptet, er sei bisher vernachlässigt worden; zum anderen die Evolution und weiterhin parallele Existenz der drei kognitiven Bereiche, also des Mimetischen (Mimen, 259 Nachahmung, Gestik und Proben von Fertigkeiten ermöglicht durch einen erweiterten präfrontalen Kortex), des Mythischen (welches das gesprochene Wort und die Narration enthält) und des noch nicht weltweit zum Einsatz kommenden Theoretischen (Symbolbasierten, Logischen, Bürokratischen und von technischem Gerät Abhängigen). In diesem Zusammenhang wird Kultur als massives, verteiltes kognitives Netzwerk angesehen, das aus Menschen und Institutionen besteht. Die Fähigkeit eines Publikums zur symbolischen Kognition hängt von ausgiebiger kultureller Programmierung ab, aber die großräumigen neuronalen Integrationen von künstlerischer Evidenz und persönlicher Erfahrung, die Publikumsmitglieder leisten, werden noch nicht gut verstanden. Künstler greifen auf Kreativitätsquellen zu, die im Persönlichem (dem Nervensystem) und Öffentlichem (dem verteilten System) zu finden sind, und stimmen sich somit auf ihre gegenwärtigen sozial-kognitiven Netzwerke ein, von denen sie Zielsetzungen und Methoden beziehen. Dies macht ihre Rolle plastisch. Etwas unerwartet schreibt Donald dem integrativen Potenzial eines Künstlers eine eher romantische Funktion zu. »Künstler haben vielleicht manchmal den Eindruck, abgesondert und von der Gesellschaft isoliert zu sein. Tatsächlich aber haben 61. Ebd., S. 382. sie schon immer als gesellschaftiches Früh- 62. Donald: »Art and Cognitive Evoluwarngerät gedient: Die besten Künstler haben tion« (2006), S. 3.

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tiefere Verbindungen kultiviert als die meisten anderen.« 63 Donalds Ausführungen werden von einem wegweisenden Text untermauert: Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Benjamin schreibt: Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt.64

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Benjamin zeigt weiterhin, dass sich die Grundlagen der Kunst vom Rituellen zum Politischen hin bewegt haben, dass sich die Zugänglichkeit der Kunst vom statischen, verborgenen Status des rituellen Objekts zum mobilen, exhibitionären Modus gewandelt hat, dass ein Schöpfer nicht mehr alleiniger Autor sein muss, sondern tendenziell auch ein Publikum sein kann, dass das einstmals einzigartige, aber prinzipiell reproduzierbare Objekt nun mit Blick auf die Reproduzierbarkeit hergestellt wird, dass die Kunstrezeption von einem kontemplativen in einen zerstreuten Zustand übergegangen ist und dass in einer Aufführung die Präsenz der Aura des Theaterschauspielers von der Persönlichkeit des Filmschauspielers ersetzt wurde. Dieser Essay wird oft mit Fokus auf das Konzept der Aura des Kunstobjektes gelesen, muss aber sicherlich auch als Aufruf verstanden werden, sich mit dem Ästhetischen als Aktionsvorgabe zu befassen, in einem sowohl Baumgarten als auch Donald nicht unähnlichen Sinne. Darum wäre es falsch, den Kampfwert solcher Thesen zu unterschätzen. Sie setzen eine Anzahl überkommener Begriffe – wie Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis – beiseite – Begriffe, deren unkontrollierte (und augenblicklich schwer kontrollierbare) Anwendung zur Verarbeitung des Tatsachenmaterials in faschistischem Sinne führt. Die im folgenden neu in die Kunsttheorie eingeführten Begriffe unterscheiden sich von geläufigeren dadurch, daß sie für die Zwecke des Faschismus vollkommen unbrauchbar sind. Dagegen sind sie zur Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik brauchbar.65

Damit möchte ich dann auf die Künstlerpositionen zurückkommen: Die Situationistische Internationale entwickelt Vorschläge zur radikalen Non-Disziplinarität; ihre Vertreter 63. Ebd., S. 14. stellen sich vor, die Gesellschaft durch 64. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner sie durchdringende Kunstformen zu technischen Reproduzierbarkeit« (1991), S. 478. revolutionieren. 65. Ebd., S. 473.

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Diagrammatik Aufgrund meiner Beobachtungen, aber auch meines persönlichen Interesses daran, diagrammatisch zu arbeiten und mich auf unbekanntes Terrain einzulassen, möchte ich diese Bemerkungen zum Transfer mit der Frage abschließen, wie sich eine diagrammatische Denk- und Sehweise als nützliche Vorbedingung für beiderseits einträgliche Grenzüberschreitungen darstellen lässt. Ich sehe hier Verbindungen zu Ambroses Anerkennung breiter Umwelteinflüsse, Deweys Bild des Verstandes als aktiver Hintergrund, Donalds Kultur als verteiltes Netzwerk und vor allem Benjamins Thesen als Waffen. Im Laufe der letzten zehn Jahre hat es die jüngere Forschung unternommen, eine Diagrammatik herauszuarbeiten. Genannte Hauptcharakteristika von Diagrammen sind die Fähigkeit, Komplexität zu reduzieren, visuelle Gleichzeitigkeit aufzuzeigen, fiktive und konstruierte Bestandteile in die Darstellung von Fakten einzubauen und in der Spannung dynamischer Auslegungsprozesse zu existieren.66 Diese grobe Skizze zeigt, dass eine diagrammatische Grundhaltung darauf aus ist, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, zu vereinfachen und mitzuteilen, um sie Aktionsformen zugänglich zu machen. Steffen Bogen und Felix Thürlemann bemerken zu dieser Operativität: 261

Die besondere Stärke der genuinen Diagramme beruht dennoch auf dem, was man ihre pragmatische Potenz nennen könnte. Mehr als andere Diskursformen sind Diagramme darauf hin angelegt, Nachfolgehandlungen nach sich zu ziehen. Diese Nachfolgehandlungen umfassen den ganzen Bereich des sozialen Tuns, nicht nur die Diskurse, die ihrer verbalen Explikation dienen. Das Diagramm erscheint wie ein Umschlagplatz des Sinns, wie ein semiotischer Haltepunkt zwischen Produzent und Rezipient. Der Produzent des Diagramms erstrebt eine Synthese von Komponenten, die – bezogen auf einen spezifischen Gegenstandsbereich – die für relevant erklärten Weltverhältnisse überhaupt ausmachen. Diese Synthese zeichnet sich auf formaler Ebene durch eine gewisse Symmetrie und Geschlossenheit aus. Diesem gleichsam idealen Gegenstand tritt der Rezipient als einer gegenüber, der die scheinbar zur Ruhe gekommenen Sinnstrukturen kontrolliert aufbrechen und in Diskursen und praktischen Tätigkeiten ausfalten soll. Die wissenschaftliche Untersuchung der Diagramme wird zur Aufgabe haben, diese beiden gegenläufigen Bewegungen – jene von 66. Vgl. Krämer: »Epistemology of the Line« (Stand: 10.05. 2011). Produktion und Rezeption, die im einzelnen 67. Bogen, Thürlemann: »Jenseits der nicht einfach als symmetrische beschreibbar Opposition von Text und Bild« (2003), S. 22. sind – zu rekonstruieren.67

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Als nützliche Bilder fördern Diagramme (als Werkzeuge oder als Ergebnisse von Arbeitsprozessen) eine Geisteshaltung, die es Künstlern ermöglicht, ihre Arbeit als angewandte Ästhetik zu begreifen. Dies wird auch in Frederik Stjernfelts spannenden Analysen deutlich, die sich wie auch Bogen und Thürlemann auf Charles Sanders Peirces »zentrale Idee [beziehen], dass die Diagramm-Manipulation den Prototyp einer breiteren Klasse von Denkprozessen darstellt, die bisher noch nicht als solche erkannt wurde«. 68 So präsentiert Stjernfelt Diagramme als Repräsentationsformen unter dem Bildzeichen Klassifikation, geht aber noch weiter, indem er diagrammatische Operationen als die zentrale Zeichenfunktion herausarbeitet. Überspitzt behauptet er, dass »alle Bilder, sogar in der normalen kunsthistorischen Bedeutung des Wortes, [...] auch Diagramme« 69 sind, da ihre bewusste Wahrnehmung unweigerlich das Ablesen von Beziehungen beinhaltet. Ein weiterer Blick auf die Beispiele herausragender Projekte, die zu Beginn dieser Übersicht vorgestellt wurden, zeigt, dass Debord, Kaprow und John Latham als Künstler, die am Transfer ihres Wissens zwischen Domänen interessiert sind, allesamt – obgleich sie nur eine kleine Stichprobe darstellen – auch diagrammatisch tätig waren. Meine vorläufige These ist also, dass Künstler, die diagrammatisches 262 Denken ausdrücklich und nicht nur implizit zu ihrem Repertoire zählen, auch diejenigen sind, die von kooperativen und kollaborativen Projekten im Rahmen der sektoren- und disziplinübergreifenden Diskussion um »Kunst als Forschung« angezogen werden. Damit sollte zukünftige Forschung zu Transferphänomenen in der Kunst unbedingt auch die hybriden kognitiven Techniken des diagrammati68. Stjernfelt: Diagrammatology (2007), S. XV. 69. Ebd., S. 278. schen Bereichs einschließen.

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Transfer-Diskurse

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1, S. 254-255: Adelheid Mers: Creativity as Mysterious Process – Creativity as Transparent Process. Diagramm, Version 2011

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Design Fiction: als

Theorie Praxis des Möglichen

Kunst und Forschung: Aktuelle Möglichkeiten »Künstlerische Forschung« ist ein Modebegriff. Er bietet uns die Möglichkeit, unser Denken und Handeln im aktuellen Diskurs mit einem attraktiven, neuen Label zu versehen; er kann auch als Kategorie dienen, um die eigenen Projekte einzuordnen und zu finanzieren, oder als Einladung, über die aktuellen Vorstellungen und Begriffe von Kunst und Forschung zu diskutieren. Zum Einstieg sind einige Beobachtungen zum Thema der künstlerischen Forschung hilfreich. Künstlerische Forschung kann man als eine Möglichkeit von Kunst verstehen: Kunst als Forschung. Künstlerisches Denken und Handeln haben sich immer schon und immer wieder an den Grenzen und im Austausch mit wissenschaftlicher Forschung bewegt, so beispielsweise bei Leonardo da Vinci oder Marcel Duchamp. Peter Brock spricht von seinem Theater als recherches théatrales,1 Hans Ulrich Obrist beschäftigt sich mit Formen des Laboratoriums als Ort von Forschung in der Wissenschaft, in der Architektur, in der Kunst.2 Damit werden spannende Formen und Möglichkeiten des künstlerischen Denkens und Handelns im Zwischenraum von Forschung und Kunst beschreibbar. Zugleich werden Unterscheidungen mit innovativem, kritischem und subversivem Potenzial gegenüber der Wissenschaft und der Brook, Miller, Sachs: »Ein Glas Kunst sichtbar, die der Abgrenzung neuer künstle- 1. Vgl. Wasser tragen« (1998). rischer Positionen dienen. Diese Art der Referenz 2. Vgl. Obrist, Vanderlinden: Laboraauf Forschung in der Kunst lebt davon, dass eine torium (2001).

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künstlerische Position ihre Vorstellung von Forschung mitentwickelt und dass die Dynamik von Kunst als Forschung gerade darin besteht, unterschiedliche, unkonventionelle und vor allem beständig neue Ideen von Forschung, beziehungsweise von Kunst als Forschung, zu entwickeln und zu reflektieren. Künstlerische Forschung kann man als Erweiterung der Kunst verstehen: Forschung als Handlungsraum der Kunst. Forschung bietet einen konkret-räumlichen sowie symbolisch-metaphorischen Kontext und zeigt darin weitere Möglichkeiten, Kunst zu machen. Angefangen bei spezifischen Verfahren und Methoden des Repräsentierens und Messens über Artefakte und Technologien des Experimentierens und Dokumentierens, Formen des Präsentierens und Publizierens, bis zu einem Punkt, an dem im Bereich der Neuen Medien hybride Praktiken und Formate entstehen, durch welche die Zuordnung verwischt. Macht das Media Lab am MIT Forschung oder Kunst, Technologie oder Design? Ist die Ars Electronica ein Festival oder eine Konferenz, eine Ausstellung oder eine Firma? In dieser Perspektive ist die trading zone von Forschung und Kunst ein Handlungsfeld, in dem Kunst selbst verhandelt und erweitert wird. 3 Einen Unterschied dieser Projekte zu dem Konzept von Kunst als Forschung kann man in ihrem expliziten Bezug zu mehr oder weniger etablierten, 268 institutionalisierten Vorstellungen von Forschung und Wissenschaft sehen, welche affirmativ oder subversiv, als Gegenstand der Kritik oder als Legitimation des eigenen Tuns in unterschiedlichen Formen angeeignet, reflektiert, thematisiert und transformiert werden. Künstlerische Forschung kann man als andere Form der Forschung verstehen: Kunst als Handlungsraum der Forschung. Diese Perspektive ist attraktiv, um sich außerhalb der disziplinär und institutionell vordefinierten Kontexte der Kunstforschung oder Kunstgeschichte und ausgehend von unkonventionellen, neuen und innovativen Fragestellungen, theoretischen Perspektiven und methodischen Zugängen mit Kunst auseinanderzusetzen. Hybride Forschungsfelder wie die Bildforschung und neue Ausstellungsformen mit theoretischem Anspruch sind Hinweise, in welche Richtung sich das Feld bewegt.4 Im Bereich der Neuen Medien, des Design und diverser EngineeringDisziplinen wird Kunst als Experimentierfeld betrachtet, in dem die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten neuer Technologien jenseits von Kriterien der Funktionalität, Relevanz und Wirtschaftlichkeit getestet und prototypisch erweitert werden: Kunst leistet hier Grundlagenforschung für Design und Engineering. In der sozialwissenschaftlichen Forschung ist Kunst zudem eine Inspiration für die Entwicklung neuer 3. Vgl. Galison: Image and Logic (1997), S. 781–844. Methoden der Datengenerierung 4. Vgl. Latour, Weibel: Making Things Public (2005).

Design Fiction: Theorie als Praxis des Möglichen

und -inszenierung. Weniger offensichtlich ist jedoch eine Antwort auf die Frage, ob und wie die naturwissenschaftliche Forschung durch die Kunst zu neuen Handlungsräumen kommt.5 Diese wenigen Beobachtungen zeigen, dass die Klärung des Zusammenspiels und der Differenzen von Kunst und Forschung selbst ein wichtiger Gegenstand von künstlerischer Forschung sein kann. Dabei gibt es eine Tendenz, jeweils entweder Kunst oder Forschung als Black Box zu behandeln, das heißt ein Vorverständnis derselben als selbstverständlich vorauszusetzen. In diesem Essay schlagen wir eine andere Perspektive vor: Künstlerische Forschung ist vor allem eine faszinierende Möglichkeit, unhinterfragt Selbstverständliches bezüglich von Kunst und Forschung zu hinterfragen, und damit eine Qualität zu betonen, die Kunst und Forschung eigentlich inhärent ist. Künstlerische Forschung ermöglicht es, sich mit dem »Anderen« von Kunst und Forschung genauer auseinanderzusetzen – nicht mit dem, was ist, sondern mit dem, was sein könnte. Künstlerische Forschung ist besonders dann attraktiv und interessant, wenn sie nicht das Bekannte und Selbstverständliche, sondern Neues und Unrealisiertes fokussiert.

Das »Unternehmerische« in der Kunst: Ein Forschungsprogramm Die Bestimmung sowie die Innovation, Verschiebung, Erweiterung und Kritik von Kunst sind dem künstlerischen Denken und Handeln inhärent. Jede neue künstlerische Position ist immer auch als Behauptung zu verstehen, dass sie Kunst sei, als Definition von Kunst selbst und als Entwurf zu einer Idee, was Kunst jenseits des heute bereits Bestehenden und Selbstverständlichen sonst noch sein kann.6 In der Kunst lassen sich aktuell diverse Grenzen identifizieren, entlang derer sich Verschiebungen, Umwertungen und Re-Interpretationen der Frage, was Kunst ist und was Gegenstand von Kunstforschung oder künstlerischer Forschung sein kann, vollziehen.7 Diese Grenzen der Kunst sind aus geografischer, gesellschaftlicher, politischer und 5. Vgl. Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft (2003). wirtschaftlicher Perspektive immer wieder neu 6. Vgl. Groys, insbesondere Über das auszuhandeln. Das Thema einer GlobalisieNeue (1992), Unter Verdacht (2000) sowie Topologie der Kunst (2003). rung der künstlerischen Kreation, Zirkulation, Inszenierung, Ausstellung und Präsentation 7. Vgl. Ullrich: Was war Kunst? (2006); ders.: Gesucht: Kunst! (2007). sowie deren Folgen für die Zugänglichkeit des 8. Vgl. Belting, Buddensieg: The Global Art World (2009); Han: HyperkultuKunstsystems 8 macht beispielsweise traditionell ralität (2005). 9 europäische Kategorien problematisch: Wo 9. Vgl. Stallabrass: Contemporary Art verläuft heutzutage die Grenze zwischen dem (2004).

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Centre Pompidou und dem Musée du Quai Branly, und was bedeutet dies für die Bewertung von Kunst?10 Das Zusammenspiel kunsthistorischer, kulturtheoretischer, ethnografischer, ästhetischer und wissenschaftlicher Perspektiven, das zugleich immer auch Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit verhandelt,11 wird zu einem Wettbewerb um die Zuständigkeit und Deutungshoheit für künstlerische Phänomene und kulturelle Entwicklungen.12 Die Frage nach der Erweiterung von Kunst ist letztlich ein politischer Prozess, der in hohem Maße von kulturellen Mechanismen und unternehmerischen Strategien mitgestaltet wird. Im Folgenden soll das »Unternehmerische« der Kunst, das heißt ihre Auseinandersetzung mit der Ökonomie und dem globalen Kunstmarkt sowie ihre Institutionalisierung genauer untersucht werden. Dies schließt Fragen zur Figur des Künstlers als Unternehmer und Manager 13 und zum Verhältnis von Kunst und den sogenannten Creative Industries mit ein. Kunst als spezifische Form des innovativen Denkens und Handelns 14 sowie des unternehmerischen Wissens und Agierens wird im Verhältnis zu anderen Wissensformen diskutiert. Neben dem offensichtlichen Interesse an Kunst als Geschäft und Markt, als Form der finanziellen Wertschöpfung und Opportunität für Investitionen werden ökonomische Themen, Mechanismen und Muster der künstlerischen Praxis befragt, untersucht, eingesetzt und 270 weiterentwickelt.15 Die Verschiebung künstlerischer Interventionen von der Kreation zur Selektion hin zum Konsum16 sowie der Versuch, Kunst als Firma im Sinne der Critical Companies zu etablieren,17 sind dabei ebenso aufschlussreich wie die Versteigerung der eigenen Werke als künstlerische Performance bei Damien Hirst, die Organisation von Kunst als Produktionsprozess durch Jeff Koons 18 oder die künstlerischen Umwertungen durch Readymade10. Vgl. Latour: Le dialogue des cultures (2007). Verfahren.19 Letztendlich hat alles 11. Vgl. ders.: Die Hoffnung der Pandora (2002). die Möglichkeit, Kunst – und damit 12. Vgl. Obrist: Interviews (2003, 2010). Alternative Bündelungsversuche entlang von Medien sind dagegen auch Gegenstand künstlerischer genauso anfechtbar und vertretbar wie die BehaupForschung – zu werden. Aber weltungen eines imaginären Museums im Allgemeinen. Vgl. Ursprung: Die Kunst der Gegenwart (2010). che Mechanismen und Strategien 13. Vgl. Kunstforum International (Bde. 200, 201, 2010). bestimmen etwas als Kunst (und 14. Vgl. Florida: The Rise of the Creative Class (2002). künstlerische Forschung), und in 15. Vgl. Wyss: Die Welt als T-Shirt (1997). Bezug auf welche Kriterien sind 16. Vgl. Groys: Topologie der Kunst (2003). beide dann tatsächlich erfolgreich? 17. Vgl. Toma, Barrientos: Les entreprises critiques (2008). Diese Fragen lassen sich als unterCritical Companies sind Initiativen, künstlerische Kreatinehmerische Themen verstehen und onsprozesse als Unternehmen zu organisieren und dabei aus künstlerischer Perspektive die Frage zu adressieren, mit unternehmerischen Strategien was es heißt, beziehungsweise was es heißen könnte, im adressieren. Dabei geht es letztlich Kontext der Kunst eine Firma zu sein. um Wettbewerbsdynamiken und 18. Vgl. Bourriaud: Postproduction (2003). Vergleichsmechanismen, die aus 19. Vgl. Groys: Über das Neue (1992).

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kultureller, gesellschaftlicher, ökonomischer oder technologischer Perspektive ins Spiel gebracht werden können.20 Die aktuelle Debatte zum Unternehmerischen in der Kunst, insbesondere im Zusammenhang mit den Creative Industries, dient diesem Aufsatz als konkreter Bezugspunkt, von dem aus der als selbstverständlich angenommene Zusammenhang von Kunst und Ökonomie sowie die Kritik an ihm hinterfragt und diskutiert werden können.21 Ein Experimentieren mit neuen Bezügen von Kunst und Ökonomie eröffnet ein vielversprechendes Handlungsfeld, um für das Unternehmerische neue, nicht realisierte und vielleicht undenkbare Möglichkeiten zu erschließen. Neuerdings wird dieses Handlungsfeld unter dem Stichwort Critical Companies systematischer beschrieben, diskutiert und verhandelt.22 Wir werden am Ende dieses Essays darauf zurückkommen und mögliche Konsequenzen der hier entwickelten Vorstellungen von künstlerischer Forschung für die wissenschaftliche und künstlerische Beschäftigung mit Critical Companies aufzeigen. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion kommt ein weiteres Thema in den Blick: die Debatte zur Bedeutung von Wissen im Kontext von Kunst. Während die Grenzen von Forschung und Wissenschaft durch die Unterscheidung multipler Wissensformen, ihrer möglichen und unmöglichen Inszenierungen und Repräsentationen sowie durch den Zusammenhang von Wissen, Denkweisen und Technologien bestimmt werden,23 wird stets auf das Eigene künstlerischer Wissensformen verwiesen. Es geht dabei um Intuition und Embodiment, das Situative in den Performances, das Nicht-sprachliche in den Bildern, die Prozesse in der künstlerischen Arbeit oder das Subjektive im Gegensatz zum Objektivierten.24 Aufgrund der Bedeutung dieser Dimensionen in neueren Debatten zur Wissensgesellschaft wird die Schwierigkeit deutlich, einen klaren Unterschied oder spezifische Überschneidungen von künstlerischer Praxis und wissenschaftlicher Forschung herauszuarbeiten.

Forschung in Experimentalsystemen: Die Fabrikation des Möglichen Mit der Diskussion möglicher und attraktiver Wissensformen, ihrer Nutzung und Kommerzialisierung 20. Vgl. beispielsweise Elkana: Anthropologie der Erkenntnis stellt sich die Frage nach dem (1986); Stehr: Knowledge Societies (1994); Callon, Lascoumes, Barthe: Agir dans un monde incertain (2001); Beitrag von wissenschaftlicher Zimmerli: Technologie als »Kultur« (2005). (und künstlerischer) Forschung 21. Vgl. Kunstforum International (Bde. 200, 201, 2010). zur Entwicklung und Etablierung 22. Vgl. Toma, Barrientos: Les entreprises critiques (2008). neuen Wissens und attraktiver 23. Vgl. Seltmann, Lippert: Entry Paradise (2006). Strategien. Zur Debatte steht, 24. Vgl. Obrist: Interviews (2003, 2010), mit ganz unterwie Forschung das Mögliche schiedlichen Positionen zu diesem Thema.

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und Neue in den Blick bekommt und sich für das Unrealisierte und Undenkbare bereit macht, das im Forschungsprozess auftauchen und sich konkretisieren kann. Dabei spielen auch Fragen nach den organisatorischen Voraussetzungen, Führungsprozessen und unternehmerischen Strategien eine wichtige Rolle.25 Die in den letzten Jahrzehnten detailliert untersuchte Arbeit in wissenschaftlichen Laboratorien dient im Folgenden als Beispiel dafür, wie sich Forschung ereignet und organisiert. Seit ihren Anfängen ist der Wissenschaftsforschung die empirische Analyse von Laboratorien wichtig, da sie Orte vielfältiger Prozesse und Praktiken der Kreation, Beschreibung und Kollektivierung wissenschaftlicher Erkenntnisse sind. Außerdem befasst sie sich mit der organisatorischen Struktur, den medialen Möglichkeiten und der technischen Ausstattung von Forschung und der damit verbundenen Wissensentwicklung. 26 Diese Untersuchungen und Vergleiche experimenteller Praktiken machen deutlich, wie stark die spezifischen materiellen und medialen Bedingungen von Laboratorien das Eintreten überraschender Phänomene oder unerwarteter Ereignisse überhaupt erst ermöglichen. 27 Neuere Wissenschaftsforschung setzt sich darüber hinaus mit der Systematik, Organisation und Institutionalisierung von Forschungsprozessen auseinander und betont die Bedeutung epistemischer Anordnungen:28 Als die kleinsten vollständigen Arbeitseinheiten der Forschung sind Experimentalsysteme so eingerichtet, daß sie noch unbekannte Antworten auf Fragen geben, die der Experimentator ebenfalls noch nicht ganz klar zu stellen in der Lage ist. Es sind ›Maschinerie[n] zur Herstellung von Zukunft‹. 29

Es ist offensichtlich, dass in dieser Bestimmung von Experimentalsystemen als Ort, System und Mechanismus von Forschung auch für die Kunst und die künstlerische Forschung ein spannender Bezugspunkt liegt. Wie können die Voraussetzungen für Neues in Kunst und künstlerischer Forschung geschaffen werden, und wie werden Möglichkeiten für unternehmerische Strategien entwickelt 25. Vgl. Grand: »Design Fiction und unternehund durchgesetzt? Die neuste Diskussion merische Strategien« (2009). 26. Vgl. Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Ergeht noch einen Schritt weiter und bringt die kenntnis (2002); Latour, Woolgar: LaboraThemen Kunst, künstlerische Forschung, tory Life (1979); Latour: Science in Action (1987); Pickering: The Mangle of Practice Wissenschaft und das Unternehmerische (1995); Ziman: Real Science (2000). in einen direkten Zusammenhang. Es zeigt 27. Vgl. Obrist, Vanderlinden: Laboratorium (2001). sich, dass wissenschaftliche Forschung 28. Vgl. u. a. Knorr-Cetina: Epistemic Cultures immer häufiger das Laboratorium verlässt: (1999); Rheinberger: Iterationen (2005); ders.: Epistemologie des Konkreten (2006). Es kann von erweiterten Laboratorien oder 29. Rheinberger: Experimentalsysteme und epiauch von kollektiven Experimenten als stemische Dinge (2001), S. 22.

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Orte, Medien und Kontexte von Forschung in der heutigen Zeit gesprochen werden.30 Die Finanz-, Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise der letzten Jahre beispielsweise besitzt so gesehen zentrale Qualitäten eines kollektiven Experiments: Unterschiedliche Akteure operieren mit unterschiedlichen Prämissen, Positionen, Methoden und Vorgehensweisen, und die Zeit wird zeigen, was davon funktioniert und welches Wissen sich bewährt.31 Die aktuellen Kontroversen zu der Frage, inwieweit sich Menschen und Maschinen zu neuen, hybriden Akteuren entwickeln und ob und wie sich diese Möglichkeiten gesellschaftlich, physisch, materiell und technologisch auswirken werden, sind nur durch kollektive Experimente robust zu beantworten.32 Wir sind alle in diesen Experimenten engagiert, ob wir wollen oder nicht, als Forscher und Unternehmer oder, Künstler und Designer. Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen ergeben sich für künstlerische Forschung interessante Perspektiven: Kunst und Forschung, und dementsprechend künstlerische Forschung, sind durch eine Praxis des Möglichen gekennzeichnet. Ihre Grenzen verschieben und konstituieren sich mit jeder neuen künstlerischen Position, jedem Experiment oder Projekt in der künstlerischen Forschung immer wieder neu. Der neuere Vorschlag, zwischen Wissenschaft (Science) als einer Haltung des verbindlichen, objektiven Wissens und Forschung (Research) als 273 einem offenen, unsicheren, kontroversen Prozess der Wissenskreation 33 zu unterscheiden, bietet einen produktiven Ausgangspunkt, um künstlerische Forschung als eigenständige Form zu bestimmen. Vor dem Hintergrund des Interesses am Unternehmerischen in der Kunst, dem sehr großen Interesse an den Critical Companies, den Dynamiken auf dem Kunstmarkt und der Auseinandersetzung um die Beziehungen und Gegensätze zwischen Wirtschaft und Kunst ist das Themenfeld des Unternehmerischen als Untersuchungsgebiet für künst- 30. Vgl. Latour: »Von ›Tatsachen‹ zu ›Sachverhalten‹« (2004). lerische Forschung außerordentlich 31. Zur aktuellen Debatte vgl. Schirrmacher, Strobl: Die attraktiv. Hier werden die WirkZukunft des Kapitalismus (2010) sowie Knorr-Cetina, Preda: The Sociology of Financial Markets (2005) lichkeiten, aber auch Möglich- und und Callon, Millo, Muniesa: Market Devices (2007) Unmöglichkeiten unterschiedlichszu wichtigen theoretischen und methodischen Fragen aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung. ter unternehmerischer Strategien 32. Vgl. Brooks: Menschmaschinen (2002); Sloterdijk: reflektiert und experimentell durch»Regeln für den Menschenpark« (2001); ders.: Du gespielt. Fragen der Schaffung und mußt dein Leben ändern (2009) sowie als klassische Referenz Haraway: Crystals, Fabrics, and Vernichtung ökonomischer und Fields (2004). kultureller Werte, Geschäftsmodelle 33. Vgl. Latour: »Von ›Tatsachen‹ zu ›Sachverhalten‹« und Produktionsformen werden (2004). ebenso verhandelt wie neue und un- 34. Vgl. zusätzlich zu den bereits genannten Referenzen auch Velthuis: Imaginary Economics (2005); konventionelle Zugänge zum Aufbau Guillet de Monthoux: The Art Firm (2004); Linde34 mann: Collecting Contemporary (2006). von Unternehmen und Märkten.

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Das Unternehmerische stellt somit ein Themenfeld für künstlerische Forschung im Zusammenspiel von Kunst und Wirtschaft dar. Die Entwicklung unternehmerischer Strategien in der Kunst ist eine gute Möglichkeit, Fragen nach der ökonomischen und kulturellen Wertschöpfung neu zu stellen und experimentell zu beantworten; der Aufbau von Critical Companies ist eine weitere Möglichkeit, Experimentalsysteme für die künstlerische Forschung in diesem Themenfeld zu etablieren. Zugleich bieten diese Ansätze von künstlerischer Forschung die Möglichkeit, den Bezug von Kunst, Ökonomie und Management neu zu reflektieren. Und schließlich können sie einen eigenständigen Beitrag zu den kollektiven Experimenten leisten, die im Kontext der aktuellen Finanz-, Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise stattfinden.

Künstlerische Forschung: Theorie als Praxis des Möglichen Während Wissenschaft oft von einem geklärten Wissens- und Theoriebegriff ausgeht, konzentriert sich Forschung auf die Kreation, Entwicklung und Veränderung von Wissen und Theorie. Wir können davon ausgehen, dass die Frage, was wir unter Theorie verstehen, kontrovers diskutiert 274 werden muss. Aus Sicht der künstlerischen Forschung sind folgende Fragen zentral: Was leistet Theorie mit Blick auf eine Praxis des Möglichen, also speziell in Bezug auf künstlerisch-forschende Strategien, die sich mit der Schaffung neuer Möglichkeiten auseinandersetzen? Inwieweit lassen sich Theorien als Eröffnung neuer Sichtweisen, Erzählungen, Erklärungen und Beschreibungsformen für die Praxis verstehen? Und inwiefern stellt Theoriebildung selbst eine Praxis des Möglichen dar? In den Sozialwissenschaften, aber auch in der künstlerischen Forschung wird auf das Forschungsprogramm und die Methode des Grounded Theory Building als relevante Forschungspraxis verwiesen. Diese argumentiert, dass es in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung nicht prioritär darum gehe, Theorien zu überprüfen. Vielmehr ziele man auf die Entwicklung neuer Theorien ab, die auf der Verdichtung empirischer Beschreibungen und Beobachtungen basierten und deren Interpretation von vielfältigen theoretischen Perspektiven profitierten. Laut dem Grounded Theory Building sei es grundsätzlich nicht möglich, eine Theorie »anzuwenden«. In jeder neuen Situation und mit Bezug zu jedem konkreten Phänomen sei 35. Vgl. Glaser, Strauss: The Discovery of Grouneine Theorie vielmehr neu zu interpretieren ded Theory (1967); Knorr-Cetina, Cicourel: Advances in Social Theory and Methodolound entsprechend zu kreieren. Theorie gebe gy (1981); Strauss: Qualitative Analysis for es in diesem Sinn nur als kreative Praxis der Social Scientists (1987); Joas: Die Kreativität Theoriebildung.35 des Handelns (1991).

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In anderen Forschungskontexten sind die Vorstellungen von Theorie eng mit Modellen verknüpft, durch die Theorien erst darstellbar und kommunizierbar werden. Ein Denken in Modellen kann dabei auch als Praxis des Möglichen interpretiert werden, wenn man sie nicht als vereinfachte Abbilder der Wirklichkeit versteht, sondern als Simulationen möglicher Welten und Realitäten. Modelle schaffen eine potenzielle Realität durch die Setzung gewisser Prämissen und Annahmen, die gerade nicht realistisch sein wollen, sondern von unrealistischen Vereinfachungen leben. So können neue und überraschende Perspektiven und Zusammenhänge erst sichtbar gemacht werden.36 Künstlerische Forschung und Praxis sind gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Modellen und Simulationen möglicher und unmöglicher Welten. Die Sociology of Translation wiederum fasst diese Aussagen zu Theorie- und Modellbildung in der Vorstellung zusammen, dass eine abstrakte Theorie nichts anderes sei als eine verkürzte Beschreibung eines komplexen, heterogenen und kontroversen Phänomens und Prozesses. Eine Theorie sei dementsprechend eine Generalisierung, die Komplexität, Heterogenität und Vielfalt auf wenige, als gültig akzeptierte Zusammenhänge und abstrakte Abhängigkeiten reduziere. Als Gegenprogramm plädiert die Sociology of Translation für äußerst präzise, detaillierte und heterogene Beschreibungen 275 als alternative und mögliche Formen der Theoriebildung. Es sei die Aufgabe von Forschung, die bestehenden Beschreibungen von Prozessen und Phänomenen durch alternative Beschreibungen zu hinterfragen und zu erweitern. 37 In den Kontexten von Engineering und Design ist immer wieder von Theoriebildung durch Synthese statt durch Analyse die Rede. Dahinter steht die Vorstellung, dass man Theorien und Modelle nicht dann versteht, wenn man sie intellektuell durchdringt, sondern wenn man auf ihrer Grundlage konkret Artefakte bauen kann. Die Cognitive Sciences erforschen beispielsweise intelligente künstliche und natürliche Systeme wie Roboter oder andere Artefakte, die als kreative und robuste Alternativen in der Untersuchung von Prozessen des Denkens, Handelns und Erkennens gesehen werden. In ähnlicher Weise entsteht auch 36. Vgl. Ackerlof: An Economic Theorist’s Book of Tabeim Genetic Engineering durch les (1984); McCloskey: If You’re So Smart (1990); Kreps: Game Theory and Economic Modelling das erfolgreiche Nachvollziehen (1990). biologischer Prozesse ein robustes 37. Beispielsweise in der Form von risky accounts. Vgl. Wissen über einen Bereich, der Latour: Reassembling the Social (2005).. aufgrund seiner systemischen und 38. Vgl. Simon: The Sciences of the Artificial (1996); zu den Cognitive Sciences vgl. Pfeifer, Bongard: How sehr verteilten Qualitäten andernthe Body Shapes the Way We Think (1997); zu Genetic Engineering vgl. Rabinow: Making PCR (1996); falls nur schwer aus der Distanz für die Wissenschaftsforschung auch Gibbons u. a.: 38 beschreibbar wäre. The New Production of Knowledge (1994).

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Theoretische Diskurse warten im Allgemeinen nicht auf Hinterfragung und Bereicherung und auch nicht auf eine experimentelle Erweiterung durch eine Theorie als Praxis des Möglichen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie regulieren, was gesagt werden kann und was nicht. Die Kreation neuer Theorien, das Schaffen theoretischer Möglichkeiten und die Entwicklung alternativer Perspektiven sind mit disziplinierenden und regulierenden Diskursstrukturen konfrontiert, die für die wissenschaftliche und damit auch für die künstlerische Forschung kennzeichnend sind. Wenn Theorie als Praxis des Möglichen erfolgreich sein will, muss sie durch die Kritik des Selbstverständlichen, die Schaffung von Voraussetzungen und die Entwicklung von Sprachen, Bildern, Modellen und Geschichten, die sich an der Grenze zum Undenkbaren und Noch-nicht-Möglichen bewegen, neue Sag- und Denkbarkeiten durchsetzen. 39 Dabei sind Theorien mit einer économie des grandeurs konfrontiert, die über ihre Relevanz und ihren Einfluss entscheidet: Theorien werden dann wichtig, wenn sie von vielen Akteuren referenziert und gebraucht sowie entsprechend aktualisiert und mobilisiert werden. Unbeachtet bleiben sie, wenn sie keine Relevanz, keinen Impact, keine Vernetzung etablieren. Eine erfolgreiche, attraktive Theorie lebt davon, dass sie vielfältige Möglichkeiten der Verknüpfung anbietet und durch 276 Referenzierungen andere Theorien für sich mobilisieren kann. Theorien sind attraktiv, wenn sie zugleich überraschend und selbstverständlich, neu und bekannt, vielfältig und einfach sind.40 Insgesamt machen diese wenigen Hinweise deutlich, dass künstlerische Forschung als Praxis des Möglichen, als Kreation neuer Welten, als Experimentalsystem für die Fabrikation des Neuen und als Verstehen durch Handeln eine Theorie braucht, die dieser Prozesshaftigkeit entspricht. Was in einem bestimmten Moment und im Kontext einer 39. Vgl. Foucault: L’ordre du discours (1971); ders.: Diskurs und Wahrheit (1996); zudem bestimmten Fragestellung eine Theorie die klassische Position von Fleck: Entstehung sein kann, ist dabei selbst auch ein Teil des und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1980) sowie Elkana: AnthropoloProzesses der Theoriebildung. Diese Art gie der Erkenntnis (1986). der Theorie als reflexiver, dynamischer und 40. Vgl. Boltanski, Thévenot: De la justification (1991); Thévenot: L’action au pluriel (2006); offener Prozess nennen wir Prozesstheorie.41 Boltanski: De la critique (2009). Prozesstheorien betonen, dass The41. Diese unterscheidet sich von der sogenannten Kontingenztheorie. Jene ist so struktuorien und Beschreibungen eine zeitliche riert, dass sie aufgrund von Variationen in Dimension haben. Sie beschreiben, wie unabhängigen Variablen die Variationen in einer abhängigen Variable zu erklären sich etwas über die Zeit entwickelt und versucht. entfaltet, verändert und verschiebt sowie 42. Vgl. Latour: Reassembling the Social (2005): risky accounts sind Versuche, einen Prozess stabilisiert und transformiert, typiauf eine unkonventionelle, unerwartete, scherweise als risky accounts.42 Wenn wir neue Art und Weise zu beschreiben, die bestehende Selbstverständlichkeiten in FraTheorie als einen kreativen Prozess für ge stellt und damit bewusst das Risiko eindie Entwicklung neuer Möglichkeiten geht, kontrovers diskutiert zu werden.

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verstehen, ist damit ein Prozessverständnis von Forschung impliziert. Nur Prozesstheorien rechnen systematisch mit der inhärenten Offenheit von Entwicklungen, der Ereignishaftigkeit der Welt und der Unsicherheit von Prozessen.43 Dabei lassen sich drei Dimensionen unterscheiden, die sich zugleich ergänzen und gegenseitig erweitern: Prozesstheorie impliziert erstens die Re-Interpretation und Neu-Gestaltung möglicher Vergangenheiten ex post, zweitens die proaktive Mit-Gestaltung möglicher Gegenwarten in the making und drittens die entwerfende Projektion möglicher Zukünfte ex ante. Das bedeutet für die künstlerische Forschung erstens, dass Prozesstheorie explizit das Zusammenspiel möglicher Zukünfte, Gegenwarten und Vergangenheiten mitreflektiert: Künstlerische Forschung findet in der Zeit statt. Zweitens heißt das, dass Theoriebildung in der künstlerischen Forschung insbesondere an der proaktiven Mitgestaltung von Ereignissen, Situationen und Überraschungen interessiert ist, welche die Selbstverständlichkeiten der Welt hinterfragen. Drittens bedeutet dies, dass künstlerische Forschung immer iterativ, dynamisch, unsicher, kontrovers und offen vorgehen muss. Und viertens folgt daraus, dass Theoriebildung in der künstlerischen Forschung als Praxis verstanden werden muss, die an der Realisierung des Möglichen mitgestaltet, -entwirft und -baut. Dementsprechend lautet eine aktuelle Diagnose der Wissenschaft insgesamt: Die epistemologische Moderne hat sich auf breitester Front dazu durchgerungen, mit den erhabenen Fiktionen der desinteressierten Vernunft zu brechen und die Erkennenden aus ihren künstlichen Mortifikationen zurückzurufen. [...] Vielmehr haben sich [Experten] künftig als Koproduzenten von Kenntnissen zu verstehen, die in den Wissensgesellschaften elaboriert werden und in diversen Parlamenten zirkulieren.44

Design Fiction als Methode für künstlerische Forschung Die Überlegungen der letzten drei Schritte haben die Voraussetzungen für einen konkreten Vorschlag zur Praxis des Möglichen in der künstlerischen Forschung ge43. Vgl. Weick: The Social Psychology of Organizing schaffen. Dabei tritt die Problematik (1979); Langley: »Strategies for Theorizing from Process Data« (1999); dies.: »Process Thinking in einer Unterscheidung von Methode Strategic Organization« (2007); Tsoukas: Complex Knowledge (2005); Czarniawska: A Theory of Orund Theorie hervor: Theorie wird zu ganizing (2008); Hernes: Understanding OrganizaPraxis und Methode, wenn mit Thetion as Process (2008). orie die Praxis und der Prozess der 44. Sloterdijk: Scheintod im Denken (2010), S. 133.

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Theoriebildung gemeint sind, und wenn sich Theoriebildung durch die proaktive Gestaltung möglicher Zukünfte, Gegenwarten und Vergangenheiten kennzeichnet. Wir nennen diese Methode Design Fiction und orientieren uns dabei an einer aktuellen Debatte der Designforschung, die den Begriff des »Design« als Praxis und Prozess des Entwerfens interpretiert.45 Design Fiction steht für die Vorstellung, dass sich künstlerische Forschung nicht für die Welt interessiert, wie sie ist, sondern für die Welt, wie sie sein könnte. Sie spielt begrifflich mit der Unterscheidung von Science und Science-Fiction und nutzt sie für die Distinktion zwischen einer Praxis der wissenschaftlichen Forschung als Beschreibung und Erklärung der Welt, wie sie ist, und einer forschenden oder auch künstlerischen Praxis des Entwerfens und Konkretisierens zukünftiger Welten als möglicher Gegenwart. Dabei impliziert Design Fiction die sprachliche, visuelle und materielle Ausgestaltung einer möglichen Zukunft. Es ist aus dieser Sicht kein Zufall, dass Anregungen aus der Science-Fiction unsere gestalterischkünstlerische Praxis und aktuelle Vorstellungswelt stetig neu prägen, beeinflussen, herausfordern und weiterbringen. Zugleich schwingt darin die Kritik gegenwärtiger Entwicklungen mit, die im Medium der Science-Fiction und der Gegenüberstellung von aktueller und 278 möglicher Welt thematisiert wird. Dabei ermöglicht der Bezug zu Science-Fiction auch eine Reflexion zur ambivalenten Haltung von Kunst gegenüber Wissenschaft (und Wirtschaft): künstlerische Forschung als, oder als Teil von, oder im Gegensatz zu Science. Design Fiction als Methode und Praxis künstlerischer Forschung lässt sich anhand von sechs Dimensionen illustrieren, die sich über die letzten Jahre entwickelt haben und in diversen gestalterischkünstlerischen, unternehmerisch-praktischen und akademischwissenschaftlichen Kontexten diskutiert wurden.46 Sie sind in der sogenannten Design Fiction Method Toolbox zusammengefasst: Design Fiction entwirft 1. mögliche Welten, die in kritischer, subversiver und innovativer Distanz zur Welt stehen, wie sie ist; 2. betont Design Fiction die Bedeutung der Materialisierung und Visualisierung dieser Welten; 3. plädiert sie für die Vielfalt und Heterogenität möglicher Perspektiven im Umgang mit diesen Welten und kritisiert Ideologisierungen etwa in modernen 45. Vgl. Boom: Entwerfen (2000); Dunne: HertAvantgarden; 4. liegt, da sich künstlerizian Tales (2005); Düllo, Liebl: Cultural Hasche Prozesse ergebnisoffen gestalten, cking (2005); Bleecker: »Design Fiction« (Stand: 10.05.2011); Shamiyeh: Creating der Fokus von Design Fiction auf dem Desired Futures (2010); Lukic, Katz: Nonobject (2010). Zusammenspiel möglicher Prozesse und 46. Eine detailliertere Herleitung dieser DimenErgebnisse; 5. profitiert künstlerische sionen wird diskutiert in Grand: »Research Forschung als Design Fiction von Ideen as Design« (2011).

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aus der wissenschaftlichen Forschung: Die Schaffung möglicher Welten braucht Experimentalsysteme; und 6. setzen sich neue Realitäten nur durch, wenn sie attraktiv und spannend sind; Inszenierung und Kommunikation sind fundamental. 1. Der Entwurf möglicher Welten steht immer in einem Bezug zur Welt, wie sie ist. Durch das Sichtbarmachen von Zusammenhängen und Konsequenzen aktueller Technologien und Systeme sowie Selbstverständlichkeiten und Sichtweisen werden mögliche Entwicklungen aufgezeigt. Zugleich wird die Welt, so wie sie heute als selbstverständlich vorausgesetzt wird, kritisiert. Etwa durch die gezielte Formulierung und Bearbeitung unbeantwortbarer Fragen werden neue Perspektiven und Handlungsfelder sichtbar. Der Entwurf möglicher Welten muss sich dabei nicht nur auf die Gegenwart beziehen, sondern kann auch die Vergangenheit neu interpretieren.47 Künstlerische Forschung ist in dieser Perspektive also immer ein gestalterischer Prozess in der Zeit. 2. Design Fiction verweist darauf, dass Design im Sinne von Entwerfen immer auch bedeutet, Möglichkeiten durch Materialisierungen und Visualisierungen konkret zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Das Skizzieren ist dabei ein zentrales Verfahren: Skizzen zeichnen sich durch Andeutungen zwischen dem Bestehenden und Möglichen, dem Realisierbaren und Nicht-realisierten, dem Denkbaren und Undenkbaren aus. So sind Entwurfsskizzen in vielen Kontexten und Disziplinen wichtig und werden in ganz unterschiedlichen Medien realisiert: als Bleistiftskizzen oder Computeranimationen, als Moodboards oder Bildrecherchen, als Papiermodelle oder Prototypen, als Sprachspiele oder Collagen. Viele Skizzen entstehen dabei ohne Absicht; Künstler improvisieren und entwerfen, indem sie Artefakte anders verwenden, als sie gedacht sind, oder indem sie Wörter, beispielsweise in Geschichten und Metaphern, neu kombinieren. Künstlerische Forschung ist in dieser Perspektive in die künstlerisch-gestalterische Praxis eingebettet. 3. Wichtig für die Position von Design Fiction ist weiterhin eine heterogene Perspektive auf mögliche Welten. Geht es primär um den Entwurf einer möglichen Welt oder um eine Vielfalt möglicher Welten? Design Fiction unterstützt vor dem Hintergrund aktueller Kontrover- 47. Mögliche Fragen sähen folgendermaßen aus: Wie re-interpretiert man beispielsweise Luxus vor dem sen und Debatten eine Perspektive, Hintergrund der Krise? Wie baut man ein Zentrum für globale Kultur in der arabischen Welt? Wie erdie das Schaffen unterschiedlicher findet man Autorschaft in einer social community? und heterogener Möglichkeiten Wie steht Kunst zu Heimatthemen?

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ins Zentrum entwerfender Praxis stellt. Hierin liegt beispielsweise auch ein fundamentaler Unterschied zu den modernen Avantgarden und vielen ideologischen Positionen begründet, die nur eine Zukunft im Blick haben. Design Fiction wird zugleich auf zwei Ebenen wichtig: einerseits durch die Entwicklung unterschiedlichster Verfahren, welche die Vielfalt und Heterogenität im Entwurfsprozess sowie den Einsatz von Medien- und Perspektivwechseln fördern, und andererseits durch die Entwicklung unkonventioneller Darstellungsformen und Repräsentationsmethoden für heterogene Perspektiven und kontroverse Situationen, in der jüngsten Diskussion als mapping controversies betitelt.

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4. Es ist dementsprechend kein Zufall, dass in der aktuellen Debatte die Beschäftigung mit kreativen Mechanismen, künstlerischen Prozessen und gestalterischen Verfahren, und damit auch ein Interesse an Prozesstheorie, wichtig wird. In einer Welt, in der heterogene Akteure, Aktionen, Aktivitäten und Artefakte in einem Entwicklungsprozess zusammenwirken, ist es unmöglich, spezifische Resultate, Ergebnisse oder outcomes direkt zu gestalten. Es geht vielmehr darum, mögliche Entwurfs-, Gestaltungs-, Materialisierungs- und Diskussionsprozesse zu organisieren, mit Formen und Medien des Skizzierens, Darstellens und Konkretisierens zu experimentieren und das Zusammenspiel von Prozess und Produkt zum Gegenstand künstlerischer Praxis zu machen. In der Medienkunst beispielsweise können das Zusammenspiel diverser Technologien und die Programmierung von Kreationsprozessen selbst zum Fokus künstlerischer Praxis werden.

5. Aus Sicht der Design Fiction zeichnen sich interessante Positionen und Perspektiven der künstlerischen Praxis dadurch aus, dass sie sich mit der Organisation kontroverser, verteilter, kollektiver, offener und multimedial künstlerischer (Forschungs-)Prozesse befassen. In der Wissenschaftsforschung wird unter dem Begriff des »Experimentalsystems« darüber diskutiert, Forschungsinstitutionen und Laboratorien so zu entwerfen und zu bauen, dass sie neue und noch unbekannte Antworten auf offene Fragen ermöglichen. Eine aktuelle, neuere Entwicklung in der Kunst diskutiert die Frage nach der Organisation von Kreations- und Experimentalprozessen unter dem Stichwort der Critical Companies. Eine sehr pointierte Formulierung von Rei Kawakubo (Comme des Garçons) bringt dies auf den Punkt: »My work takes place, where creating a company as a whole and creating clothes overlap. It 48. Zit. n. Shimizu: Unlimited (2002), unpaginiert. cannot be one or the other.« 48

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6. Entworfene Möglichkeiten werden nicht direkt und automatisch zu neuen Realitäten, sie müssen sich zunächst gegen eine Vielfalt von Faktoren durchsetzen: gegen den Widerstand der (Kunst-) Welt, die sich in vielfältigen Strukturen, Systemen, Lösungen und Konstellationen verankert hat; gegen die Konkurrenz alternativer Möglichkeiten und noch attraktiverer Vorschläge; gegen Schwierigkeiten in der Umsetzung, durch die spannende Entwürfe und faszinierende neue Möglichkeiten unmöglich gemacht oder zum Banalen verändert werden. Design Fiction versteht die Inszenierung möglicher Welten als Teil des künstlerischen Prozesses. Die daraus entstehenden Fragen lauten: Wie wird aus einem Vorschlag eine spannende Story? Wie gewinnt man die Aufmerksamkeit anderer? Wie findet, gewinnt und investiert man finanzielle und nicht-finanzielle Ressourcen für die Durchsetzung einer künstlerischen Behauptung? Denn auch für sich selbst muss künstlerische Forschung diesen Prozess immer wieder leisten. Wenn Theorie eine Praxis des Möglichen ist, kann sie als Serie von Strategien und Verfahren beschrieben und zu einer Methode verdichtet werden. Design Fiction ist in diesem Sinne eine Theorie, oder zumindest die Skizze einer Theorie, die für künstlerische Forschung relevant sein und neue Möglichkeiten eröffnen kann. Dabei ist es wesentlich, dass die sechs Dimensionen der skizzierten Design Fiction Method Toolbox nicht nur potenzielle Themen (im Sinne einer Forschungsagenda) etablieren, sondern zugleich die praktischen Verfahren (Theorie als Praxis) künstlerischer Forschung benennen. Schließlich ist mit Design Fiction stets eine kritisch-entwerfende Auseinandersetzung mit den Selbstverständlichkeiten von Kunst und (wissenschaftlicher) Forschung selbst verbunden.

Abschließende Bemerkungen: Design Fiction und Critical Companies Nimmt man Design Fiction als Methode und Praxis des Möglichen ernst, bedeutet dies Konsequenzen für die künstlerische Praxis, die Diskussion zur Kunst in der heutigen Welt und die künstlerische Forschung und (wissenschaftliche) Forschungspraxis insgesamt. Das aktuelle Phänomen der Critical Companies ist exemplarisch in diesem Kontext:49 Diese werden als eigenständige Organisationsformen künstlerischer Praxis (und künstlerischer 49. Vgl. Toma, Barrientos: Les entreprises critiques (2008). Forschung) diskutiert, denn sie verfolgen die

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Strategie, als Unternehmen im Kontext der Kunst erfolgreich zu sein. Künstler werden zu künstlerischen Unternehmern. Damit wird es möglich, im Kontext der Kunst Selbstverständlichkeiten bezüglich des Verhältnisses von Kunst und Ökonomie sowie der Charakterisierung von Unternehmen und unternehmerischen Prozessen konkret und experimentell zum Thema zu machen.50 Critical Companies zeichnen sich aus der Perspektive von Design Fiction vor allem dadurch aus, dass sie die Selbstverständlichkeiten des Unternehmerischen nicht einfach analytisch hinterfragen und konzeptionell kritisieren, sondern praktisch und experimentell bearbeiten und thematisieren. Für das Unternehmerische werden so ganz neue, nicht realisierte, vielleicht auch undenkbare Möglichkeiten entwickelt. Zugleich wird dabei das Verhältnis von Kunst und Ökonomie, künstlerischer Praxis und unternehmerischer Strategie sowie ökonomischer und künstlerischer Forschung neu gesehen und gelebt. Mit Bezug zu den sechs Dimensionen der oben entwickelten Design Fiction Method Toolbox heißt das konkret:

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. Entwurf möglicher Welten: Critical Companies setzen sich mit gewöhnlichen wirtschaftlichen Themen auseinander und finden unkonventionelle Antworten und Strategien. So hat sich beispielsweise ein Unternehmen wie Ouest-lumière aus dem Stromanbieter EDF entwickelt und auf die Produktion von kultureller Energie spezialisiert. In anderen Unternehmen werden Aktionäre als Manager und Mitarbeiter in künstlerische Projekte und Prozesse eingebunden. Das Familienunternehmen Maywa Denki realisiert wiederum Performances als Produktpräsentationen und etoy hilft bei der Finanzierung von Kunstprojekten. Critical Companies haben meist sehr starke Corporate Identities und ein Management mit eigenen Führungsprozessen. Sie schaffen unterschiedliche kulturelle und ökonomische Werte, verfügen über finanzielle und nicht-finanzielle Ressourcen und beschäftigen sich permanent mit Fragen nach neuen, unkonventionellen und möglichen Unternehmensmodellen der Zukunft.

. Materialisierung möglicher Welten: Critical Companies inszenieren sich entweder als fiktive Unternehmen oder treten – wie beispielsweise etoy – tatsächlich als ökonomische, juristische und finanzielle Unternehmen auf. Außerdem unterscheiden sie sich bezüglich der Frage, ob sie sich primär als Organisationsform für die künstlerische Produktion sehen (wie die Jeff Koons Productions oder die Kaikai Kiki Co von Takashi Murakami), oder ob sie ihr Unternehmertum als Gegenstand künstlerischer Arbeit verstehen (wie Ouest-lumière oder etoy). Drittens gehen sie in Produkt 50. Vgl. Kunstforum International (Bde. 200, 201, 2010). und Leistung auseinander: Während bei

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einer Critical Company beispielsweise die Aktien selbst als Produkt gesehen oder Performances über die Ressourcenallokationsprozesse eines Unternehmens ermöglicht werden, definiert sich das Produktportfolio einer anderen über die Sammlung von Kunstwerken anderer Künstler. Oder es werden neuartige Dienstleistungen wie die Erzeugung von digitaler Unsterblichkeit bei mission eternity angeboten. Zusammengefasst zeichnen sich Critical Companies letztlich dadurch aus, dass sie unternehmerische Fragen mit künstlerischen Entwürfen und kreativen Behauptungen adressieren und beantworten. . Heterogene Perspektiven auf mögliche Welten: Interessante Critical Companies ahmen nicht einfach herkömmliche Unternehmenskulturen nach oder begnügen sich mit der fundamentalen Kritik von Form und Funktion eines Unternehmens. Vielmehr sind Critical Companies in unserem Kontext vielversprechend, weil sie durch die Mobilisierung neuartiger Managementvorstellungen, die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und Finanzierungsformen im Umfeld von Open-Source-Projekten oder durch die Etablierung unkonventioneller Repräsentationen und Selbstdarstellungen und den Verkauf unmöglicher und oft nicht greifbarer Produkte unterschiedliche Sichtweisen auf unternehmerische (und künstlerische) Prozesse eröffnen. Dabei werden die Eigenheiten und Dynamiken des Kunstsystems kommerziell genutzt und künstlerisch thematisiert und zugleich neue unternehmerische Möglichkeiten entworfen und geprüft. . Prozesse zur Produktion möglicher Welten: Es ist offensichtlich, dass sich mit den Critical Companies der zentrale Fokus von den künstlerischen Ergebnissen auf die künstlerischen Prozesse verschiebt. Diverse künstlerische Verfahren und unternehmerische Praktiken sind Gegenstand der gestalterisch-künstlerischen Auseinandersetzung: Angefangen bei der Gestaltung von Führungsprozessen und der Erfindung von Managementqualitäten bei Ouest-lumière über die Dynamik von Geschäftsmodellen bei ingold airlines oder die Etablierung der richtigen juristischen und administrativen Form bei N.E. Thing Co bis zu Innovations- und Investitionsstrategien von Maywa Denki, den verschiedenen Formen und Medien der Zusammenarbeit bei Superflex bis zum Umgang mit Eigentumsund Copyright-Fragen des »Netzkunstgenerators«. Dabei werden kritische und affirmative, subversive und entwerfende sowie innovative und destruktive Verfahren und Strategien in unterschiedlichster Form verknüpft und zugleich als künstlerische, unternehmerische und forschende Methoden eingesetzt. Neue Theorien der Kunst, des Managements und der Ökonomie werden als Praxis des Möglichen in

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unterschiedlichen künstlerischen, unternehmerischen und forschenden Prozessen entwickelt, etabliert und diskutiert. . Experimentalsysteme als »Fabriken« möglicher Welten: Entscheidend ist dabei, dass diese verschiedenen Theorien, Methoden und Praktiken im Kontext der Critical Companies in etwas eingebettet sind, was die Wissenschaftsforschung als Experimentalsysteme diskutiert: Yann Toma, der Gründer und CEO von Ouest-lumière formuliert dies folgendermaßen: Les entreprises critiques s’inscrivent dans la durée, c’est là où réside leur particularité. Elles sont souvent l’entreprise d’une vie. Derrière elles l’individu disparaît volontairement. Elles opèrent comme système globale et come structure installée dans le temps pour interloquer directement les phénomènes du monde.51

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Critical Companies etablieren Strukturen und Prozesse, Mechanismen und Identitäten, die jenseits einzelner Projekte, Initiativen, Aktionen und Interventionen wirken. Sie ermöglichen es, in den Zwischenräumen von Kunst, Kultur, Ökonomie, Unternehmertum, Management und Organisation Serien von Fragen zu stellen und systematisch mögliche Welten zu entwickeln. Es ist diese systemische, organisationale, strukturelle und strategische Qualität von Critical Companies, die sie nicht nur als Gegenstand, sondern als Form künstlerischer und forschender Praxis für die künstlerische Forschung wichtig und produktiv macht.

. Inszenierung möglicher Welten: Über das Mittel der Inszenierung experimentieren Critical Companies mit einem dynamischen Zusammenspiel der unterschiedlichsten Formen, Medien und Repräsentationen von Unternehmen: Critical Companies wie Ouest-lumière oder etoy, aber auch andere künstlerische Initiativen und Positionen, die sich als eigenständige Organisationen positionieren (wie etwa das Watermill Center von Robert Wilson oder das Bouffes du Nord von Peter Brook), zeichnen sich durch einen präzisen Umgang mit den medialen Selbstdarstellungen, zentralen Aussagen und Geschichten oder relevanten Inszenierungen aus. Für die künstlerische Forschung sind dabei besonders die verwendeten gestalterisch-künstlerischen Verfahren und Strategien der Inszenierung interessant. In der Perspektive von Design Fiction ist es zudem wichtig zu verstehen, wie durch Inszenierungen der Raum der visuellen, medialen, technologischen und kommunikativen Möglichkeiten erweitert wird: Wie lassen sich neue Möglichkeiten schaffen und wie werden und als was machen sich 51. Toma, Barrientos: Les entreprises critiques Unternehmen dabei sichtbar? (2008), S. 15 f.

Design Fiction: Theorie als Praxis des Möglichen

Critical Companies eröffnen neue mögliche Welten des Unternehmerischen im Zwischenraum von Kunst und Wirtschaft. Design Fiction eröffnet als Method Toolbox eine spannende Perspektive auf dieses Phänomen und zeigt, wie sich künstlerische Forschung als eigenständige Praxis verstehen kann. Die sechs Dimensionen der Design Fiction Method Toolbox präsentieren dabei spezifische Strategien und Verfahren, wie neue, mögliche Welten in einer gestalterischkünstlerischen und zugleich experimentell-forschenden Praxis entwickelt und etabliert werden können. Der Status von Theorie als Prozesstheorie ist hier essenziell. Prozesstheorie wiederum kann als Praxis des Möglichen verstanden werden. Dass dabei naturwissenschaftlich-technische Forschungsstrategien, wie sie von der Wissenschaftsforschung beschrieben werden, und nicht die Kunst-, Kultur- und Geisteswissenschaften zur Referenz für Theoriebildung in der künstlerischen Forschung werden, ist für die aktuelle Debatte in der künstlerischen Forschung aufschlussreich. Mit der Etablierung von Kunst- und Kulturwissenschaften sind ganz spezifische Vorstellungen von Kunst und Forschung als selbstverständlich eingeführt und etabliert worden. Erst durch die Konfrontation mit alternativen Vorstellungen von Forschung jedoch werden diese schwer thematisierbaren Ideen von künstlerischer Forschung zugänglich. 52 Letztlich ist es eine offene Frage, ob sich das Unternehmerische als Thema der künstlerischen Forschung etablieren und ob das Forschungsverständnis herkömmlicher Wissenschaftsforschung für die künstlerische Forschung zur Referenz werden kann. Es bleibt ferner ungeklärt, ob sich ein Theorieverständnis durchsetzen kann, das von Prozesstheorie als Praxis des Möglichen ausgeht, ob sich Design Fiction und die Design Fiction Method Toolbox als produktive Methoden für die künstlerische Forschung bewähren und ob Critical Companies als lohnendes Forschungsfeld der künstlerischen Forschung (und der Managementforschung) eine Zukunft haben. Möglich ist es.

52. Einige aktuelle Positionen in der Wissenschaftsforschung, die für die künstlerische Forschung besonders vielversprechend sind, sind zusammengestellt in Grand, Jonas: Mapping Design Research (2011).

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Künstlerisches Denken und

Handeln

Gleich vorab: Es geht a priori weder darum, wie wir dieses Terrain des künstlerischen Denkens und Handelns benennen, noch darum, wer es für sich beansprucht. Vielleicht findet sich ein besserer Begriff, der auch diejenigen nicht ausschließt, die keine Künstler sind. Künstlerisches Denken als Kompetenz passiert im Kopf – eines Wissenschaftlers, Künstlers oder Unternehmers –, wenn es zu einem Erfahrungsrepertoire gemacht wurde. Allerdings ist es nicht einfach zu erringen: Das »pure Wissen« darüber nützt nichts, wir befinden uns hier in einem anderen Modus der Erkenntnis, und um diesen soll es hier gehen. Durch die allmähliche Herausdifferenzierung dessen, was Wissenschaft sein und beinhalten sollte, hat sich eine Umwelt gebildet, in der alles vorkommt, was nicht wissenschaftlich verifizierbar, objektivierbar und falsifizierbar ist. Aus dieser, oder besser: im Laufe dieser Grenzziehung entsteht auch das »System der Kunst«. Die Kunst könnte bei dieser Art von Betrachtung auch als ein interessantes Abfallprodukt gesehen werden, das sich in der verordneten Abspaltung von der wissenschaftlichen Methode optimal verdichten kann. Dieses Anderssein ist so eklatant, dass bis heute die Begrifflichkeiten »Kunst« und »Wissenschaft« parallel und offensichtlich unvereinbar im Grundgesetz geführt werden. Das Ziel sollte jedoch sein, eine große Chance wahrzunehmen, die in der parallelen Entwicklung beider Systeme steckt.

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Dies ist schon fast meine These, die ich allerdings noch schärfer formulieren werde, damit Wissenschaftler an dieser Stelle überhaupt weiterlesen. Denn das Formulieren einer These hat nichts mit künstlerischem Denken und Handeln zu tun, im Gegenteil. Künstler wiederum beenden an dieser Stelle wahrscheinlich die Lektüre, da eine These in gewisser Weise keine Offenheit besitzt, zielgerichtet und ergebnisorientiert funktioniert, und es letztlich darum geht, die These zu verifizieren und argumentativ zu begleiten. Im künstlerischen Prozess geht es aber um den zweckfreien Prozess, der ein offenes Ergebnis produziert und sich nicht auf eine bestimmte Art der Lesbarkeit und schon gar nicht auf den Beweis festlegt. Künstlerisch gesehen ist jeder Gedanke, den der Leser für sich aus diesen Gedanken entnehmen kann, genauso richtig und wichtig wie der, den ich verfolge. Hieraus ergibt sich eine Reihe von Thesen, die ich im zweiten Teil meiner »Probierbewegungen«,1 wie Karl R. Popper es so schön formuliert hat, vertiefen möchte.

Thesen: - Wissenschaftliche Forschung hat eine Richtung (weg vom Forschenden). 294

- Künstlerische Forschung hat eine Richtung (hin zum Forschenden). - Die beiden Richtungen sind gegenläufige Setzungen. - Künstlerisches Potenzial ist ein Exzenter für Wissenschaft und letztlich für Wirtschaft. - Künstlerisches Potenzial kann nicht durch wissenschaftliche Methoden herangebildet werden, sondern generiert sich aus non-linearen Prozessen. - Diese sollten im Ausbildungskonzept jedes Studiengangs ebenso selbstverständlich sein wie die Ausbildung wissenschaftlichen Potenzials.

Meine Aufforderung ist also die, mehrfach und probeweise verschiedene Denkrichtungen einzuschlagen, um am Ende einen Blickwinkel einzunehmen der vielleicht eine neue Perspektive erschließt. Die Annäherung erfolgt in drei Punkten: Zunächst möchte ich mich der Grenze von Wissenschaft und Kunst nähern, an die heutige Forschungsfelder im derzeitigen Wandel territorialer Betrachtungen oft stoßen. Alsdann begeben wir uns auf eine Irrfahrt, zwischen Tradition und Wandel, um dann im letzten Kapitel das künstlerische Denken und 1. Vgl. Popper: Alles Leben ist Problemlösen (1996). Handeln zu skizzieren, welches ich zuerst

Künstlerisches Denken und Handeln

innerhalb der Kunst und kunstnaher Felder erforsche, um dann die interessante, aber anspruchsvolle Grenze, nämlich die zu außerkünstlerischen Feldern, zu überschreiten. Mithilfe der ersten zwei Abschnitte und einigen Beispielen aus der Praxis möchte ich zeigen, dass das Gelingen der Kunstforschung mehr mit dem Abbau von Territorien, Grenzen und mentalen Blockaden zu tun hat als mit dem Versuch des Wissensauf baus.

Die heilige Grenze der Wissenschaft zur Kunst Die Vermischung, oder besser: die Überlagerung der Fächer hat noch keine lange Tradition. Wird in den 1980er Jahren noch eine klare Unterscheidung zwischen Physik, Geografie oder beispielsweise Biologie getroffen, gestalten sich diese Grenzen heute fließend: Geophysik, Geobiologie, Biophysik (»We bring your physics back to life!« 2) und Biogeologie verwischen die alten Fachgrenzen und spalten sie in diversen Masterstudiengängen noch multipel auf. Google präsentiert die erstaunlichsten Studienkombinationen. So ergibt beispielsweise die Kombination der Suchbegriffe »Biologie« und »Kunst« Resultate zur sogenannten »Biokunst«, einer Kunstrichtung oder künstlerischen 295 Strategie, die gentechnische oder biotechnologische sowie chirurgische Möglichkeiten aufgreift.3 Sie lässt sich kaum linear definieren, fokussiert jedoch Künstler, die wissenschaftliche Erkenntnisse künstlerisch betrachten und zumeist mit den dazugehörigen Labortechniken arbeiten. Eine der bekanntesten Protagonistinnen für körperliche Gestaltschöpfung oder -veränderung ist die Künstlerin ORLAN aus Frankreich, die sich seit Jahren durch chirurgische Eingriffe das Gesicht verändern lässt.4 Andere Künstler arbeiten mit halblebigen Biomassen. In der performativen Installation Disembodied Cuisine zum Zwecke »opferloser Fleischproduktion« schafft das australische Tissue Culture & Art Project beispielsweise mittels Gewebezucht eine pseudo-positivistische Junkfood-Alternative zur Massentierhaltung: Essbare »halblebendige Skulpturen« werden aus isolierten Froschmuskelzellen auf biodegradablen Polymergerüsten in Bioreaktoren gezüchtet. Sie werden täglich von den Bio-Künstlern 2. Slogan des Instituts für Biophysik, Johann Wolfgang mit Nährlösung »gefüttert«, um nach Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2009. der achtwöchigen Live-Zellkultur im 3. Von Peter Weibel wurde diese Kunstrichtung bereits anlässlich der Ars Electronica 1993 beschrieben, Galerie-Labor im Rahmen eines vgl. Gerbel, Weibel: Genetische Kunst (1993). Nouvelle-Cuisine-Grillabends, in 4. Dieses Projekt der Selbsthybridisierung der KünstleCalvados flambiert, verspeist zu werrin ORLAN trägt den Titel The Re-Inkarnation of St. Orlan (1990–1993). den. Das Polymergerüst biologischer

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Fleischzüchtung stellt sich als zäh und schlecht verdaulich heraus, was ein gewisses, tatsächlich physisches Risiko darstellt. Dem Mahl wohnen vital quakende Frösche in Aquarien bei, um die Verschonung des Lebendigen noch zu verdeutlichen.5 Jeremy Rif kin schildert bereits 2003 sehr deutlich, wie die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst in Bewegung gekommen ist, und benennt eine ganze Palette an Grenzgängerschaften zwischen Labor- und Atelierarbeit:6 Wissenschaftler, wie beispielsweise Craig Venter mit seinem Unternehmen Celera Genomics, nutzen das Credo der künstlerischen Schöpfung als Legitimation für die Manipulation der Natur. Andere haben in den genetischen Code von Tomaten das Anti-Frost-Gen einer Flunder eingesetzt, um sie winterhart zu machen. Oder es werden die Gene von einem Schaf und einer Ziege zu einer neuen Kreatur namens »Geep« zusammengesetzt, also einer Mischung von goat und sheep, die einen Schafskopf und einen Ziegenkörper besitzt.7 Hybride Kreaturen wie diese werden in wissenschaftlichen Labors entwickelt. Auch Künstler haben seit einigen Jahren die DNA als neue Gestaltungsmöglichkeit entdeckt und benutzen biotechnologische Werkzeuge wie ihre Vorgänger den Pinsel. Der amerikanische Künstler Eduardo Kac soll einen Hasen zum Leuchten gebracht haben, indem er 296 in Zusammenarbeit mit einem französischen Labor das für Fluoriszenz verantwortliche Gen einer Qualle in die DNA eines Hasens namens Alba gepflanzt hat. Ist die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst nach einem halben Jahrtausend nun in Auflösung begriffen? Meines Erachtens schauen wir mit dieser Frage in die falsche Richtung. Die künstlerische Expansionslust hat mit biologischen oder biotechnischen Mitteln ein neues Terrain gefunden, das andere und neue technische Möglichkeiten des künstlerischen Exkurses und Dialogs mithilfe interdisziplinärer Kollaborationen bietet. Biokunst mag als begriffliche Verortung für eine sicher erstaunliche Arbeitsweise herhalten; sie ist jedoch nicht der Beweis eines verbesserten Austauschs von Kunst und Wissenschaften. Die Kollaboration mit den neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften ist durch alle Zeiten gegeben, wenn es auch nicht immer so deutlich wird wie bei der Doppelbegabung Leonardo da Vincis. Die Wissenschaft kann der 5. Vgl. Hauser: Bio Kunst (Stand: 10.05.2011). Kunst als Motor, Zuarbeiter oder Ani6. Vgl. Rifkin: »Dazzled by the Science« (Stand: mateur dienen, als Plattform für Rei10.05.2011). 7. Ironisch vorweggenommen hat diese Entwickbungen oder auch als Wundertüte. Die lung Timm Ulrichs mit seiner Arbeit Wolf im Blickrichtung ist heute auf die digitalen Schafspelz – Schaf im Wolfspelz (1995/2010), Möglichkeiten und die Gentechnologie gezeigt im Kunstverein Hannover.

Künstlerisches Denken und Handeln

gerichtet, doch schon morgen wird es etwas anderes sein. Mit Nam Jun Paik beginnt der digitale Einzug in die künstlerische Arbeit und die nächste Generation von Künstlern wird man vielleicht Nanokünstler nennen. Es wird sich die Erkenntnis entwickeln, dass die Perspektive mechanistischen Hantierens mit Genmaterial oder mit Hyperware nicht ausreicht für ein prinzipiell neuronales und ganzheitliches Prinzip zwischen Kunst und Wissenschaft, allenthalben belebt man wieder ein neokartesianisches System. Der neue Künstler vom Typ Wissenschaftskünstler oder Kunstforscher ist solange nicht interessant, als er mit dem Endprodukt wieder in seinem Terrain landet. Welche Grenze sich auch immer am Horizont zeigt, die zeitgenössische Kunst und Wissenschaft werden sie untersuchen und sich genau in diesem Bereich ansiedeln, immer auf dem Weg weiterer Entdeckungen, Exkurse und Erkenntnisse. Ob die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst dabei wirklich nachhaltig überschritten wird, bleibt abzuwarten. Noch sind wir Lichtjahre davon entfernt. Ein fluoreszierender Hase verändert die Grundhaltung des Bildungsalltags noch nicht. Und die Gabe, Grenzen kreativ zu überschreiten, gehört trotz der bekannten Forderung nach »kreativer Zerstörung« des Ökonoms Joseph Alois Schumpeter 8 nicht zur überfachlichen Grundkompetenz jedes Studierenden. Es hat rund 100 Jahre gedauert, bis Pablo Picassos Prinzip der Collage im Bildungssystem angekommen ist und fachübergreifende Ausbildungskonzepte mit hybriden oder multiplen Masterstudiengängen geboren werden. Die Entwicklungen der Experimente im Labor von Kunst und Wissenschaft sind ohne Zweifel bemerkenswert. Solange dies jedoch auf der Ebene von »Leiharbeit« geschieht, indem die gegenseitigen Errungenschaften wieder ins eigene Feld einverleibt werden, kann von einer Annäherung im Sinne eines Kompetenzaustauschs nicht gesprochen werden, sondern eher von einer seismografischen Tendenz an der Oberfläche. Zweifelsohne ist die Grenze der Ort der Entwicklung. Es könnte spannend werden, den Blick weg von den Produkten hin zu den übergeordneten Prozessen zu wenden, Kreativität als Prisoner of Art zu autonomisieren und als künstlerisches Denken und Handeln in das Bildungspotenzial von Wissenschaft zu integrieren. Künstlerische Strategie als Inselkompetenz in den Regelwerken der Wissenschaft zu verankern, bedeutete einen Paradigmenwechsel in der Auffassung von Wissenschaft.

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8. Vgl. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (2005), insbes. Kap. 7: Das Konzept der schöpferischen Zerstörung als Grundmotiv.

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Hin und Weg: Künstlerische Forschung hat eine Richtung

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Die Dramaturgie, die sich bei der Annäherung von Kunst und Wissenschaft im Moment noch zeigt, sei es in Kongressen oder Laboren, spricht Bände. Es herrschen Schwerfälligkeit und Gezwungenheit vor, die das Ende fester Terrains, die Positionierung inmitten sich ständig verändernder Systeme, den Verlust von Sicherheit und folglich die Frage nach Orientierung, verbunden mit der großen Frage der Werte beziehungsweise des Maßstabs der Werte erkennen lassen. Verständlich, dass nicht wenigen die »bodenlose Freiheit« ohne Halt nach allen Seiten hin Angst macht; das Navigieren über die Grenzen der Disziplinen hinaus wird nicht geübt und der Ruf nach festen Regeln ertönt. Die Sehnsucht nach überschaubaren Feldern wächst, so man sie je verlassen hat. Kunst als Prozess in außerkünstlerischen Feldern zu sehen, wird auch an vielen Kunsthochschulen durchaus noch als Verirrung, Verrat oder Übergriff empfunden. Hieran scheint auch Joseph Beuys mit seinen 7.000 Eichen und dem ökologischen Ansatz nichts geändert zu haben.9 Der maßgebliche Grund hierfür, neben verständlichen Ängsten der territorialen Verluste und Sehnsüchten nach einem begrenzten und damit scheinbar verlässlichen oder wenigstens überschaubaren Bezugssystem, scheint mir in der unterschiedlichen Richtung zu liegen, der sich künstlerische und wissenschaftliche Forschung festgeschrieben beziehungsweise verortet haben. Artistic Research oder wie ich es vorzugsweise nenne: Künstlerisches Denken und Handeln sind anders als wissenschaftliches Arbeiten, denn:10 1. Zeitgenössische Forschung geht beim wissenschaftlichen Ar beiten weg von der Person im Bemühen um Objektivierung und einem möglichst zielorientierten Ergebnis. Ausgangslage ist die fachlichanalytische Positionierung im »Spezialwissen«, überwiegend in sprachlicher Form.

9. Vgl. Joseph Beuys: 7.000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung, documenta 7, 19.06.– 28.09.1982. 10. In den letzten zehn Jahren habe ich dieses »Anders« immer wieder beobachtet, beschrieben und künstlerisch bearbeitet. So zum Beispiel in einer konkreten Gegenüberstellung von 21 Statements des wissenschaftlichen beziehungsweise künstlerischen Denkens, als Performance uraufgeführt bei dem Symposium »Artistic Research als Ästhetische Wissenschaft?« in Stuttgart. Siehe Bertram, Preißing: Navigieren im offenen System (2007), S.68–71.

2. Bei der künstlerischen Arbeit ist die Richtung schwerpunktmäßig hin zur Person unter der Prämisse intersubjektiver Positionierung mit dem Merkmal einer Prozessorientierung. Ausgangspunkt ist die persönlich-authentische »Handschrift« mit Wiedererkennungswert, überwiegend in visueller Form.

Künstlerisches Denken und Handeln

Die Andersartigkeit bezieht sich also im Wesentlichen auf eine Richtung, die im einen Fall von der Person wegführt und im anderen Fall zu der Person hinführt. Hieraus entstehen zwangsläufig Konflikte, vor allem wenn diese beiden Praktiken miteinander verwunden werden sollen. Insbesondere in der pädagogischen Praxis hat dies Konsequenzen. Das Gehirn hat keine Richtung, um bei der Metapher zu bleiben, jedenfalls zunächst nicht. Wenn es allerdings lange genug auf bestimmte Vorgänge trainiert wird, verändert es sich entsprechend seiner Benutzung, wie Gerald Hüther in seiner Bedienungsanleitung für ein Gehirn 11 schreibt. Bereits nach 20 Jahren Schulzeit unter dem Primat des wissenschaftlichen Denkens hat das Gehirn reagiert und den Innenausbau entsprechend eingerichtet. Das hat zur Folge, dass wir bei der Benutzung des gebräuchlichen Pfades der Denkvereinbarungen stets die Rückmeldung bekommen, dass wir »richtig« liegen, was dem Hamsterrad einer selffulfilling prophecy gleicht. Wenn vielen ein gleiches Denkschema nahe gebracht wird, hat es zusätzlich zur Folge, dass wir auch von außen, von der Gemeinschaft der Denkenden, Bestätigung erhalten, und sich so ein Denkschema etabliert. Wir kennen alle den großen Vorteil einer funktionierenden gemeinsamen Verständnisbasis und den Nachteil, dass andere Denk- und Hand299 lungsstrukturen als irritierend, unvermögend oder falsch empfunden werden, vor allem von der Person selbst, also ihrem eigenen Gehirn. Dies meldet alsbald, dass man sich auf einem falschen Pfad befindet, und es versucht, seine gewöhnliche oder gewohnte Nutzung vorzuschlagen. Diejenigen, die schon frühzeitig vom Schema wegdenken und keine Autobahnen der rational analytischen und dialektischen Vorgehensweise gebildet haben, werden es schwer haben, wenn eben dieses überprüft wird. Misserfolge oder mäßige Erfolge sind dann die Regel, weil das System sich selbst überprüft. Das hat mit dem Potenzial des Menschen, der da überprüft wird, nur bedingt zu tun. Festlegungen fördern zweifelsohne eine gemeinsame Verständigung, sie wahren die Tradition, hemmen aber gleichzeitig eine alternative Entwicklung oder Wandlung. Unsere gesamte Pädagogik ist auf Denkschemata aufgebaut, bis zur kleinsten Einheit im schulischen Lehrplan. Diese Denkschemata setzen sich im Kopf fest und produzieren bestimmte Weltsichten und Wahrheiten. Wandel kann nur herbeigeführt werden, wenn die Regelwerke im Gehirn es zulassen, andere Wege zu beschreiten, eingefahrene Gedankenpfade Bedienungsanleitung für ein zu verlassen und die Richtung versuchsweise 11. Hüther: menschliches Gehirn (2006). zu verändern. Popper nennt dies »Probierbe- 12. Vgl. Popper: Alles Leben ist Problemlösen (1996), S. 15–45. wegungen«12 und erachtet sie für die gesamte

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evolutionäre Entwicklung als grundlegend. Ich halte die Einübung der Kompetenz von geistiger Beweglichkeit, der Aufdeckung von versteckten Mustern, des probeweisen Verrückens oder Verrücktseins, gepaart mit dem Bestehen auf singulären Standpunkten für überaus wichtig. Nicht zufällig rückt die Kunst in den Mittelpunkt des Interesses als »Innovationsgeber« durch die Option, »Quer-Denken« zu dürfen. Die Frage ist jedoch, wie diese begehrenswerte Kompetenz errungen werden kann. Jede theoretische Untersuchung ist vom Ansatz her wissenschaftlich. Auch diese soeben geführte Herleitung führt möglicherweise zu weiteren Diskursen, Widersprüchen und Überlegungen, aber es führt keinesfalls zu einer Annährung an den originären künstlerischen Prozess. Im Gegenteil entfernen wir uns zunehmend von dessen lebendigem Kern. Immer wieder wird versucht, mit wissenschaftlichen Beschreibungen den künstlerischen Prozess zu entschlüsseln. Wenn der künstlerische Prozess nur ein toter Gegenstand der Betrachtung sein soll und dieser nicht als lebendiger Prozess in das Leben, das Denken und Handeln integriert werden will, lässt sich so vorgehen. Allerdings mutiert er artfremd als reine Theorie und wird somit unter Verlust seiner Eigenheit wissenschaftlich absorbiert. 300 Künstlerische Prozesse lassen sich letztlich theoretisch schwer beschreiben 13 und durch Anwendung von Wissen nicht erlernen. Sie sind nicht wissens-, sondern erfahrungsbasiert. Künstlerische Prozesse kann ich nicht zu meinem Repertoire oder meiner Kompetenz hinzugewinnen, wenn ich sie von außen betrachte. Ich muss praktisch mittendrin sein, probieren, agieren, nachdenken, wegdenken, umsetzen, experimentieren, verwerfen und entdecken, mit Kameras, Performance, Pixeln, Farben, Worten, Aktionen, Konfrontationen, Kooperationen, Projekten. Ich muss diese Richtung zulassen, geradewegs in die Mitte meiner Person, authentisch und individuell positioniert, jenseits von Beliebigkeit. Die erforderliche Schärfe einer solchen Position ist nicht ganz einfach zu lernen. Dem steht die Richtung wissenschaftlichen Arbeitens mit dem Ringen um Objektivität und analytische »Wahrheitstreue«, möglichst weit weg von einer subjektiven »einzigartigen« Verflechtung, entgegen. Nur eine Richtung zu kennen, ist heute zu wenig. Zwei Richtungen zu kennen, ist der Anfang einer Akzeptanz. Zwei Richtungen zu akzeptieren und sich eine davon anzueignen, deutet auf erfolgreiche Teamarbeit hin. Zwei Richtungen zu kennen und verinnerlicht zu haben, könnte die Zukunft sein. Im folgenden Teil werde ich 13. Vgl. Bertram: Innovation (2010); insbes. Luxenburger: »Ohne Titel« (2010). versuchen, anhand einiger Beispiele

Künstlerisches Denken und Handeln

die Natur des künstlerischen Prozesses zu vermitteln, der – wie bereits betont – auf dem Papier (wie auch hier) ein toter Prozess bleibt und sich nur schwerlich theoretisch darstellen lässt; visuelle Abbildungen sind näher am Prozess.

Abb. 1: Werner Preißing: Künstlerischer Prozess

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Abb. 2: Ursula Bertram: Künstlerischer Prozess

Ursula Bertram

Das wissenschaftliche Denken beruht auf einem Konstrukt, einer Vereinbarung. Das Gehirn denkt a priori weder wissenschaftlich noch künstlerisch, sondern es denkt. Von sich aus und ungestört denkt es eher non-linear. Da ich mein Gehirn aber trainieren kann und die wissenschaftlich analytische Methode in der Ausbildung geübt wird, können die meisten Menschen am besten logisch, rational, analytisch, kontrolliert und im besten Fall strukturiert denken. Bei leidenschaftlicher Anwendung bildet sich nach Hüther eine Dominanz aus,14 und es ist anzunehmen, dass diese Dominanz alle Gedanken beflügelt, die in dieses System passen, und andere blockiert. Die Denkrichtung des künstlerischen Prozesses bleibt insofern für die Entwicklung persönlicher Potenziale weitgehend ungenutzt. Es ist daher anzuraten, das künstlerische Denken sehr früh in der Bildung zu verankern und dessen Spezifik möglicherweise besser nicht innerhalb des Kunstunterrichts anzusiedeln, sondern als »Erfinderwerkstätten« zusätzlich und außerhalb des Kunstunterrichts auszuweisen. Das hilft, Missverständnisse auszuschließen und der Musterbildung von »werkeln und dreckeln«, »Kunst produzieren« oder »in die Farbe tauchen« beziehungsweise dem Klischee von Kreativworkshops von vornherein zu entgehen. 302

Künstlerisches Denken und Handeln – wie geht das? Wie Beuys schon sagt, ist künstlerisches Denken kaum zu lehren, da es sich nur in unbelastetem Terrain bildet, unbelastet von Mustern, Rezepten, Vorbildern (zu der Lehrende gehören!) oder Klischees sowie von Angst, Erfolgszwang und Misstrauen. Es entwickelt sich auf einer flüssigen Möglichkeitsmatrix zwischen Begeisterung, Neugierde und der Lust, sich mit der eigenen Person zu beschäftigen. Den größten Erfolg beim »künstlerischen Denken« habe ich immer errungen, wenn die Teilnehmer nicht gemerkt haben, dass sie es tun. Es besteht dann keine Veranlassung, dagegen zu sein oder in bekannte Klischees zu rutschen. Auch »Navigieren im offenen System« oder »Wegdenken« gehört dazu. Unbelastet schaffen es unsere Nachwuchskräfte, großartige Werke zu kreieren, ob als Performance, als Vortrag, Gedanken oder filmische Umsetzung. Ich kann beobachten, wie der zwar wohldurchdachte, aber optimalerweise unsichtbar oder unmerklich vermittelte Input Knoten löst und die non-lineare Zugangsweise zu erstaunlichen Ergebnissen und Erkenntnissen führt. In kürzester Zeit können nachhaltige Veränderungen im persönlichen Umgang mit der Unsicherheit 14. Vgl. Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn (2006). des Neuen erzeugt werden. Der Prozess wird

Künstlerisches Denken und Handeln

nicht bewusst wahrgenommen, sondern unbewusst erfahren. Das hat nicht selten zur Folge, dass die Teilnehmer das Ergebnis auch nicht unbedingt auf den Input zurückführen, sondern für sich feststellen: »Heute war ich aber ungeheuer gut drauf!« Künstlerisches Denken und Handeln werden allenfalls indirekt erlernt. Eine Vorlesung über Grenzen nutzt nichts, eine Vorlesung über Grenzüberschreitungen anhand von Werken bekannter Künstler erweist sich ebenfalls als nutzlos. Das wäre pure Wissensvermittlung, künstlerisches Denken und Handeln hingegen wachsen auf dem Boden von Erfahrung. Die eher praxisbezogene Aufforderung: »Stellen Sie eine Grenze dar!«, bringt dann vollends alle Muster und Klischees an die Oberfläche, die je eine Grenze gebildet hat (Stacheldraht, Kanonen, Mauern etc.). Die Initiierung, über Grenzen nachzudenken und zu recherchieren, hilft auch nichts, und am wenigsten nutzt es, wenn man über seine eigene Erfahrung berichtet, wie man oder andere eine Grenze überschritten haben, denn Erfahrung lässt sich nur selbst machen, nicht vermitteln. Die Vermittlung von Erfahrung ist bekanntermaßen reine Wissensvermittlung. Es kann nur darum gehen, Situationen, Räume und Impulse zu schaffen, die den Erfahrungsprozess fördern und im besten Fall initiieren. Eine komplexe Angelegenheit, die der Lehrende oder Moderator nicht direkt steuern kann, da der künstlerische Denkprozess nur unterstützt wird, wenn dieser Leichtigkeit und Zwanglosigkeit behält. Um dies zu illustrieren, sollen einige Übungen beschrieben werden, die wir an der IDfactory der Technischen Universität Dortmund durchführen. Dabei werden auch die Irrläufer und Klischeebildungen deutlich.

Die Rede Diese Übung findet in der Denkwerkstatt in Le Dreff statt, einer Außenstelle der IDfactory in der Bretagne an der Küste. Ich gebe den Teilnehmern drei Umschläge, die sie sukzessiv öffnen, aber immer erst dann, wenn Sie die Aufgabe im vorherigen Umschlag erfüllt haben: - Umschlag 1: Bereiten Sie eine Rede vor. Vertreten Sie dabei das, was Ihnen am liebsten ist. Vertreten Sie es entschlossen. - Umschlag 2: Ziehen Sie sich zu Ihrem Auftritt besonders gepflegt an. - Umschlag 3: Gehen Sie ins Meer bis zur Hüfte. Halten Sie hier Ihre Rede. Sprechen Sie so laut, dass Sie trotz der Wellengeräusche gehört werden.

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Abb. 3–4: Performance einer Studentin, Le Dreff 2003

Die in der Abbildung zu sehende Teilnehmerin hat sich für »ihre Rede« einen Tisch mitgenommen, den wir einer bretonischen Gastwirtin unter viel Mühen abhandeln mussten. Es sollte dieser sein und kein beliebiger Tisch. Stuhl und Lampe kommen hinzu, ein Blatt Papier und ein Stift. Die Performance beginnt letztlich spontan in den

Künstlerisches Denken und Handeln

just ansteigenden Wellen im Meer gegen Abend. Die Studentin sitzt im getupften Kleid halbwegs im eisigen Wasser auf dem Stuhl am Schreibtisch und beginnt, langsam einen Brief zu schreiben, dessen einzelne Sätze sie immer laut mitspricht. Wir stehen in einiger Entfernung, so dass der Wind ihre Worte bis auf Grundtöne verschlingt. Sie macht Pausen, überlegt, schreibt, während ihr die Wellen in den Rücken platschen. Als der Brief beendet ist, steht sie auf, geht zur Seite weg, während das Wasser den Stuhl umkippt und das Blatt erfasst, das ganz langsam ins Meer hinaustreibt. Keiner sagt etwas, obgleich wir sonst jede Performance mit großem Applaus oder lautstarken Kommentaren bedenken. Es ist eine unergründliche Stille eingekehrt. Der Stuhl und das Blatt Papier tanzen auf den Wellen und wir wissen nicht genau, warum wir so ergriffen sind. Wir können es nicht so recht einordnen. Einen Tag später erzählt mir die Studentin, dass der Brief an ihren Vater gerichtet war, von dem sie sich nie richtig verabschiedet hat, weil er ganz plötzlich aus dem Leben schied, als sie noch ein Kind war. Allein die Authentizität der Situation, nicht die für uns unverständlichen Worte ihres Briefes, hat diese Verdichtung erzeugt. 90 Prozent meiner Ansprechpartner in außerkünstlerischen Feldern glauben nicht, dass es sie in irgendeiner Weise weiterbringt, wenn sie im Meer eine Rede halten. 90 Prozent der Teilnehmer, die sich auf eine solche Situation eingelassen haben, wollen diese Erfahrung nicht mehr missen. Langes Erklären schadet dabei und blockiert die Erfahrung des Ausführenden. Eine weiteres Beispiel:

Die Hölle Als ich mit dem italienischen Regisseur Nullo Facchini im Bereich der Choreografie und des Tanztheaters zusammenarbeitet kann ich ein außergewöhnliches Beispiel non-linearen Zuschnitts erleben. Wir inszenieren im Jahr 1990 Dantes Göttliche Komödie in der von den Amerikanern gerade verlassenen Cruise Missile Station in HahnHasselbach. Die Arbeit findet auf einem gespenstischen Gelände aus Zeiten des Kalten Krieges statt: in den Raketenbunkern, dem Übungsgelände und in den großen Hangars. An einem Morgen sollen erste tänzerische Entwürfe für bestimmte Stationen der Höllen nach Dante entwickelt werden. Facchini schreibt, wie auch Pina Bausch in Wuppertal, seinen Tänzern keine Schrittfolge oder präzise Bewegungen vor, sondern setzt auf die persönliche Körpersprache und Fantasie. Er lässt Ideen stets in Varianten, rekursiv von mehreren Teammitgliedern entwickeln. An dem Morgen gibt er jeweils zwei männlichen Tänzern die Anweisung, so zu tanzen, dass sie immer

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wieder erneut eine einzige Skulptur aus ihren zwei Körpern bilden. Sie sollen sich in Zeitlupe versetzen. Die abendliche Präsentation findet im technisch anmutenden kargen Hangar statt. Alle drei Teams aus je zwei Männern zeigen ihre Choreografie, jeder in einer anderen Raumecke, jemand spielt Geige. Immer wieder gleiten die männlichen Körper langsam aneinander herunter in eine neue Position, in der sie kurz verharren als untrennbares Ganzes. Das Ergebnis ist für das Thema äußerst überzeugend. Was die Tänzer nicht wissen: Es geht um die Hölle der Homosexuellen – bei Dante noch als Missetat angesehen. Die Tänzer arbeiten ausschließlich und unbelastet am Prozess, nicht aber am unmittelbaren Ziel einer visuellen »Übersetzung« oder gar der Illustration von Homosexualität. Der Choreograf Facchini eliminiert so jegliche Muster- und Klischeebildung. Diese Vorgehensweise lässt sich übertragen auf alle Prozesse, die Innovationen erforderlich machen und als eine non-lineare Methode begreifen.

Die Puppe 306

Das nächste Beispiel zeigt den Weg einer Studentin, deren Werkentwicklung linear, durch sämtliche Klischees geradewegs hindurch auf eine sehr schöne Lösung zuläuft, die allerdings ständigen Input und Korrekturen erforderlich macht. Das von mir gegebene Thema ist nicht etwa »Mensch, Figur oder Puppe«, sondern liegt in der Aufforderung, ganz frei etwas mit dem Material »Stoff« zu entwickeln. Als erstes bleibt die Studentin auf bekanntem Terrain: Es entsteht eine niedliche Puppe, da Stoffpuppen zweifelsohne zum geläufigen Repertoire gehören. Durch Gespräche wird dann das Muster ins Straucheln gebracht. (Warum »Puppe«, wenn Stoff? Und die BeuysFrage: Interessiert dich das [die Puppe] wirklich?) Die dann folgenden Zwischenergebnisse sind von großer Willenskraft, aber auch von purer Verzweiflung der eigenen Repertoire- und Haltlosigkeit geprägt. Es folgt eine Hand aus Stoff und Pflanzen, mit Schrauben und Draht bespickt: als Plastik völlig desolat, aber zum Ausbruch offenbar geeignet, wenngleich im gegenüberliegenden Klischee gelandet. Nach weiteren Gesprächen wird die verloren gegangene Dreidimensionalität mit geradezu luftiger Objekthaftigkeit wieder ins Blickfeld gerückt, wobei das Stoffliche keine Eigenart mehr besitzt, sondern oberflächlich benutzt wird: Ein Draht wird mit Faden umwickelt und gebogen. Meine Interventionen sind für die Studentin sicher anstrengend. Es gibt weder formale Vorschläge zu dem Objekt noch zu konkreten materiellen Verbesserungen; es findet eher eine Art der Befreiung und Beseitigung von Gedankenmüll statt.

Künstlerisches Denken und Handeln

Draht mit Wolle und Leder

Abb. 5–7: Prozessentwicklung I einer Studentin zur Themenstellung »Stoff« eine aus Stoff geformte Hand, umhüllt mit Tannenzweigen

Trotz der temporären und geheimen Ungeduld beider Seiten kommt im Anschluss die erstaunliche Wende: Es werden plötzlich Strickhandschuhe und Socken einbezogen und diese auf unbekannte Art zusammengestellt. Von hier aus entwickelt sich sehr schnell die Serie der nun folgenden drei Objekte, deren letztes ein sehr eigenständig positioniertes Werk ist, in einer keinesfalls mehr redundanten oder plakativen Umsetzung, plastisch dreidimensional und außerordentlich spannend. Der abgebildete Prozess umfasst eine Zeitspanne von drei Monaten mit einem wöchentlichen Seminar von zwei Stunden. Beim Vermittlungsprozess geht es weniger darum, etwas aufzubauen, als vielmehr darum, etwas abzubauen, was sich als Standard im Gehirn eingenistet hat. Als das »staubfreie Denken

Abb. 8–10: Prozessentwicklung II einer Studentin zur Themenstellung »Stoff«

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und Handeln« hergestellt ist, erweist sich die weitere Entwicklung als unproblematisch. An dem Beispiel wird deutlich, welche Konnotationen uns mitunter bestimmen; die assoziative Verknüpfung des Materials Stoff mit »Puppe« lässt sich zweifelsohne auf komplexere Zusammenhänge übertragen. Die Generierung von Innovationen macht ein Wegdenken von Konventionen und Standards erforderlich. Das ist oftmals kein leichter Prozess, wie uns Kreativkurse vorgaukeln. Wenn es ein nachhaltiger Prozess sein soll, der nicht nur in Experimenten jenseits des Alltags verschwindet, sondern das Navigieren in offenen Systemen ermöglicht, bedarf es vor allem eines Durchhaltens, wenn die anstrengende Phase einer gewissen Orientierungslosigkeit kommt, die offenen Lösungen vorgeschaltet ist. Und es bedarf einer Vermittlung, die den Gedanken hinter dem Produkt ständig hinterfragt, nicht die Produktoberfläche. Die Distanz vom Produkt führt erst zur Transfermöglichkeit des Prozesses, nicht nur beim künstlerischen Denken und Handeln.

Die Präzisionsfabrik 308

In der Öffentlichkeit einer Wiesbadener Allee stelle ich anlässlich der Aufforderung zu einem temporären Skulpturenpark eine signalrote »Kleinstfabrik« auf einen Elektroverteiler. Sie ist groß genug für einen Stuhl mit Versuchsperson, eine Kamera und einen Controller. Eine aufwändige Stahltreppe führt ins Innere, seitlich hängt ein Kasten mit der Gebrauchsanleitung auf einer Postkarte, auf der zu lesen ist: Lernen Sie nachfolgenden Text auswendig: »Bin ich ein Kunstwerk oder bin ich ein Mensch? Kann ein Mensch ein Kunstwerk sein? Kann ein Kunstwerk sprechen? Ist Kunst sinnlos? Bin ich jetzt sinnlos? Bin ich nicht sinnlos, wenn ich entlohnt werde? Muss ich mich schämen, ein Künstler zu sein?« Sprechen Sie diesen Text auswendig vor laufender Kamera in der Präzisionsfabrik zu nachfolgenden Produktionszeiten: 11. Mai – 6. Juli 2008. Wenn Sie völlig fehlerfrei sprechen, bekommen Sie 5 Euro Lohn,

Künstlerisches Denken und Handeln

bei ausgewiesenem Migrationshintergrund bekommen Sie 6 Euro Lohn. (Ab 16 Jahre, Ausweis erforderlich.) Sie haben 3 Versuche. Den Kameramitschnitt können Sie außerhalb der Produktionszeiten an der Präzisionsfabrik erleben.

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Abb. 11–12: Ursula Bertram: Präzisionsfabrik, 2008

Ursula Bertram

Ein Teilnehmer ruft mich nach einem Jahr an und berichtet, dass er den Text immer noch auswendig aufsagen kann und der Text sich beim Betrachten von zeitgenössischer Kunst immer wieder in seine Gedanken mischt. Ich habe Hunderte von Aufnahmen von Menschen verschiedensten Alters, sozialer Herkunft und Nationalität, die versuchen, diesen Text fehlerfrei aufzusagen. Am erstaunlichsten ist ein achtzigjähriger Chinese, der fehlerfrei in die Kamera spricht. Zunächst halten sich die meisten mit dem Erfolg oder Misserfolg ihres Vorsprechens auf, allmählich kommt dann erst das Nachdenken darüber, was eigentlich passiert ist und ob das denn Kunst sei. Das Nachdenken darüber ist sicherlich ohne Weiteres zugänglich, denn der Text bleibt im Kopf und das Bild der knallroten Kleinstfabrik im Gedächtnis. Da die Teilnehmer die Kernfragen dessen, was sie im Anschluss bewegt haben mag, auswendig gelernt und sich auf den Prozess eingelassen haben, ist die Entkonventionalisierung perfekt. Viele Menschen mögen sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit und nachträglichen Verwunderung als zeitgenössisches Kunstwerk entdecken, da sie durch den indirekten Prozess die Möglichkeit der Ablehnung gar nicht ins Auge gefasst haben. 310

Fazit Das wirkliche Problem beim Erlernen künstlerischen Denkens liegt in der bestehenden Standardisierung des Denkens über Lernen und über Kunst und die damit einhergehende Abwehrhaltung. Was »Sinn« macht, wird uns in der schulischen Ausbildung vermittelt und betrifft sicher nicht die beschriebenen Übungen. Solange aber künstlerisches Denken in der Schublade der Konventionen oder der Wissenschaften gesucht wird, kommt es nicht zum Educational Turn. Vermittlung selbst ist eine indirekte Angelegenheit. Je direkter man Ziele anstrebt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, sie zu verfehlen. Künstlerisches Denken ist ein Prozess, der sich dem klassischen analytischwissenschaftlichen Denken entzieht, wenngleich er diesem in seiner Eigenart nützlich sein kann. Ein großes Missverständnis entsteht bei der Mutmaßung, dass künstlerisches Denken zu Kunst führen muss und im wissenschaftlichen Kontext nicht vorkommt. Künstlerisches Denken und Handeln eignen sich hervorragend als Exzenter im Prozess für wissenschaftliche Erkenntnis: »Creativity is not a prisoner of art«. Künstlerisches Denken subsumiert Forschungen, in denen es auch oder sogar insbesondere um Intuition und Zufall, Loslassen und Wegdenken geht, also nur um schwerlich objektivierbare und personenunabhängige Faktoren. Wie wir wissen, bedingt grundlegender, wissenschaftlicher

Künstlerisches Denken und Handeln

Fortschritt immer das Verlassen gewohnter Denkweisen und beinhaltet das Überschreiten von Grenzen, um daraus eine neue Sichtweise der Zusammenhänge zu gewinnen. Es handelt sich um den Moment einer intuitiven, andersartigen Idee, eines Einfalls, der nicht auf einem wissenschaftlichen Prozess im klassischen Verständnis von Wissenschaft beruht: der Moment, in dem etwas Non-Lineares passiert, das die bisherigen überprüfbaren, falsifizierbaren und objektiven Erkenntnisse auf den Kopf stellt; der Moment des Wegdenkens, über das eigene Wissen hinaus Denkens, Unscharfwerdens und Anderssehens. Dieser Prozess ist nicht mit wissenschaftlichem Denken zu erklären, sondern allein mit künstlerischem Denken, das in guten Momenten in der Kunst, aber ebenso im wissenschaftlichen Kontext stattfinden kann.

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Abb.13: Ursula Bertram: Educational Turn

Abb.14: Werner Preißing: Synergien

Wer denkt künstlerisch? Das könnte man, wenngleich unzureichend, folgendermaßen charakterisieren: Künstlerisch denken alle, - die versuchen, über die gesetzten Grenzen hinaus zu denken, - die Neuland betreten, ohne zu wissen, was auf sie zukommt,

Ursula Bertram

- die einem Gedanken auch dann nachgehen, wenn er sich wissenschaftlich und wirtschaftlich nicht abbilden lässt, - die Konventionen in Frage stellen und über die methodischen und formalen Grenzen ihrer Disziplin hinaus denken, - die zweifeln können und Irritationen aushalten, - die eigene persönliche Erfahrung für genauso wichtig halten wie Wissen, - die in der Lage sind, Wissen und Erfahrung zu verknüpfen, - die den Mut haben, eigene rezeptfreie Positionen zu finden und zu vertreten, - die staubfrei denken und handeln können und Klischees meiden.

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Der Moment des grenzüberschreitenden künstlerischen Denkens ist im wissenschaftlichen Regelwerk bisher nur wenig erfasst und bleibt ungefördert, da er sich naturgemäß im außerwissenschaftlichen Bereich abspielt. Eine kleine Umfrage in der Technischen Universität Dortmund verdeutlicht dies: 90 Prozent der von mir befragten Wissenschaftler stimmen zu, dass kreative Gedanken in ihrer Arbeit eine bedeutende Rolle spielen. 60 Prozent glauben, dass diese Fähigkeit nicht direkt auf die angewandte wissenschaftliche Methode zurückzuführen ist, und nur 10 Prozent trainieren jene Fähigkeit. In meiner kleinen Umfrage verneinen fast alle Wissenschaftler zunächst die Frage, ob sie etwas von künstlerischem Denken verstehen. Die Frage, ob in ihrer Arbeit Kreativität steckt, beantworten die meisten mit einem vehementen Ja. Die Frage, wie sie ihre Kreativität schulen und optimieren, wird meist nicht klar beantwortet, und es folgen Diskussionen darüber, wie so etwas funktionieren kann. Auch führt die Vorstellung, künstlerisches Denken sei erforderlich, nicht selten zu Abwehrhaltungen. Aus diesen Erfahrungen und Überlegungen heraus habe ich die IDfactory gegründet, die künstlerisches Denken in außerkünstlerische Felder bringt, überfachlich, interdisziplinär und non-linear. Ein Experiment mit offenem Ausgang.

Künstlerisches Denken und Handeln

Literatur Bertram, Ursula / Preißing, Werner: Navigieren im offenen System: Kunst – Transfer – Management. Filderstadt 2007 Dies. (Hrsg.): Innovation - Wie geht das? Norderstedt 2010 Gerbel, Karl / Weibel, Peter (Hrsg.): Genetische Kunst – Künstliches Leben. Genetic Art – Artificial Life. Wien 1993 Hauser, Jens: »Bio Kunst – Taxonomie eines Wortmonsters« (2005). Stand: 10.05.2011, http://90.146.8.18/de/archives/festival_ archive/festival_catalogs/festival_artikel.asp?iProjectID=13286 Heid, Klaus / John, Ruediger (Hrsg.): Transfer: Kunst – Wirtschaft – Wissenschaft. Baden-Baden 2003 Hüther, Gerald: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen 2006 Lüber, Heinrich / Mörsch, Carmen: Bedeutung der Gegenwartskunst. Forschungsarbeit für eine neue Gewichtung im Fach Bildnerisches Gestalten (2010). Stand: 10.05.2011, http://www.lueber.net/ texte/123/print Luxenburger, Birgit: »Ohne Titel«, in: Bertram, Ursula (Hrsg.): Innovation - Wie geht das? Norderstedt 2010, S. 151–168 Mahlow, Dietrich (Hrsg): Prinzip Collage. Stuttgart 1981 Popper, Karl R.: Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. 8. Aufl., München 1996 Rifkin, Jeremy: »Dazzled by the Science: Biologists Who Dress Up Hi-Tech Eugenics As a New Art Form Are Dangerously Deluded«, in: The Guardian (14.01.2003). Stand: 10.05.2011, http://www.guardian.co.uk/comment/story/0,3604,874312,00. html Schumpeter, Joseph Alois: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Leipzig 1912 Ders.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. 8. Aufl., Tübingen 2005

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Ursula Bertram

Abbildungsverzeichnis Abb. 1, S. 301: Werner Preißing: Künstlerischer Prozess, in: ders.: Visual Thinking, Probleme lösen mit der Faktorenfeldmethode. München 2008, Preißing Basic No 22/1, S. 125 Abb. 2, S. 301: Ursula Bertram: Künstlerischer Prozess, in: dies., Werner Preißing: Navigieren im offenen System: Kunst – Transfer – Management. Filderstadt 2007 Abb. 3–4, S. 304: Performance einer Studentin, Le Dreff 2003 Abb. 5–10, S. 307: Prozessentwicklungen I und II einer Studentin zur Themenstellung »Stoff« Abb. 11–12, S. 309: Ursula Bertram: Präzisionsfabrik. 2008, Wiesbaden, Foto: Birgit Luxenburger Abb. 13, S. 311: Ursula Bertram: Educational Turn. Grafik Abb. 14, S. 311: Werner Preißing: Synergien in: ders.: Visual Thinking, Probleme lösen mit der Faktorenfeldmethode. München 2008, Grafik Nr. 3.063, S. 201

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des

Körperlichkeit Denkens

sinnlicher

Ästhetik

als

Gernot Böhme

Wissenschaft

Erfahrung

Eine Analogie von Kunst und Wissenschaft ist ebenso wenig selbstverständlich wie die von künstlerischem Schaffen und Forschung. Die Science Studies nähern sich der Forderung nach Artistic Research daher mit einiger Skepsis. Die soziologische Herangehensweise und Beschäftigung mit Wissenschaft zeigt den Wert derselben als höchstes Wissen der Gesellschaft und insbesondere den der Naturwissenschaft. Das Bestreben von Künstlern um die Anerkennung ihrer Tätigkeit als eine wissenschaftliche und forschende steht diesem Verständnis entgegen.1 Dabei hat es einmal eine Auffassung von Ästhetik allgemein und der Theorie der Kunst im Besonderen gegeben, welche Kunst und Ästhetik von vornherein als eine Wissensform definiert. Mit Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica ist 1750 jene spezielle Disziplin entstanden, die wir heute noch als Ästhetik verstehen. Baumgarten führt Ästhetik als etwas Neues ein und gibt eine ausführliche Definition. So heißt es in dem ersten Paragrafen seines Werks: »Die Ästhetik ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« 2 – eine revolutionäre Pointe im kartesianisch geprägten 18. Jahrhundert, in dem Erkenntnis bisher im Verstand, also im Denken angesiedelt 1. Vgl. auch meine früheren Arbeiten zu diesem Thema, die in ihrer Differenz von der oben war. Baumgartens These, dass die menschbeschriebenen Problematik zeugen: Böhme: liche Sinnlichkeit erkenntnisträchtig ist, »Kunst als Wissensform« (1989), S. 141–165 richtet sich gegen diesen Rationalismus (die Publikation basiert auf dem 1980 in München gehaltenen gleichnamigen Vortrag) sound etabliert eine neue Beziehung zur wie »Die Einheit von Kunst und Wissenschaft Kunst, die er als Vollendung der sinnliim Zeitalter der Romantik« (1997), S. 96–120. chen Erkenntnis versteht. So schreibt er 2. Baumgarten: Ästhetik (2009), § 1.

Gernot Böhme

an anderer Stelle: »Das Ziel der Ästhetik ist die Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis als solcher«.3 Damit ist in erster Linie die Schönheit gemeint; faktisch verweist er aber auf das Kunstwerk als Darstellung der sinnlichen Erkenntnis. Der Künstler vervollkommnet demnach seine sinnliche Erkenntnis im Kunstwerk, das zugleich zur Mitteilungsform wird: Über das Kunstwerk teilt der Künstler anderen mit, was er selbst bereits sinnlich erfahren hat, und er lässt so den anderen an seiner sinnlichen Erkenntnis partizipieren. Damit erhält das Kunstwerk wie schon bei Johann Wolfgang von Goethe einen sinnespädagogischen Aspekt. Es sei daran erinnert, dass in Goethes Farbenlehre der Teil, in dem er seine Theorie darstellt, nicht »Theorie«, sondern »Didaktik« heißt und als Hinführung zu verstehen ist. Es geht nicht darum, dem Zuhörer lediglich etwas mitzuteilen, sondern darum, ihn anzuleiten, diese Erfahrung selbst zu machen.4

Ästhetik als Erkenntnisform Aus diesen Überlegungen ist sehr schnell – viel zu schnell – die Ästhetik als »Theorie der schönen Künste« entstanden,5 wodurch die Ästhetik sogleich ihren Ursprung verlassen hat. Sie ist nicht mehr Theorie der Sinnlichkeit, sondern vielmehr zur Theorie der Künste geworden – eine 320 Auffassung, die sich fast bis heute gehalten hat, sagen wir von Georg W. F. Hegel bis Theodor W. Adorno. Dennoch hat das von Baumgarten entworfene Programm einer Entwicklung der sinnlichen Erkenntnis, die in der Kunst kulminiert, eine konkrete Traditionslinie gestiftet, die von Goethe über Alexander von Humboldt zu Gustav Carus oder Ernst Haeckel reicht. Im Folgenden sollen die Ausführungen Humboldts näher beleuchtet werden, bei welchem das Konzept von Ästhetik als Erkenntnisform am deutlichsten wird. Als einer der größten und meist geachteten Naturforscher ist Alexander von Humboldt im Wesentlichen Geograf, der allerdings nicht nur Mittelund Südamerika erforscht, sondern vom Stein bis zur Pflanze oder Tierwelt die gesamte natürliche Umwelt bearbeitet. Vor dem Hintergrund dieser empirischen Forschung entwickelt er schließlich die Idee der Pflanzen- und Landschaftsphysiognomie, da er feststellt, dass die von Goethe entwickelte Grundform aller Pflanzen, die Urpflanze, nicht mehr ausreicht, wenn man die damaligen exotischen Länder in die Überlegung mit einbezieht.6 Zur Lösung schlägt er eine Systematisierung typischer Erscheinungsformen von Pflanzen vor, damals 16 an der Zahl, und fordert Ähnliches bezüglich der Untersuchung von Landschaften. So heißt 3. Ebd., § 14. es in seinem bedeutenden Werk Kosmos: »Was 4. Goethe: »Farbenlehre« (1955). die Kunst noch zu erwarten hat von dem be5. Zum Beispiel durch Georg Friedrich Meilebteren Verkehr mit der Tropenwelt, von der er, einen Schüler von Baumgarten.

Ästhetik als Wissenschaft sinnlicher Erfahrung

Stimmung, die eine großartige, gestaltenreiche Natur dem Schaffenden einhaucht; worauf ich hindeuten muss, um an den alten Grund des Naturwissens mit der Poesie und dem Kunstgefühl zu erinnern.«7 Humboldt ist der Meinung, dass das, was man in den Tropen erfährt, vom Naturwissenschaftler alleine nicht aufgefasst und mitgeteilt werden kann. Deshalb engagiert er Maler, wie beispielsweise den berühmten Anton Koch, um seine eigenen Beobachtungen und Skizzen von Landschaften in Gemälden wiederzugeben. Diesen künstlerischen Übersetzungs- und Vermittlungsprozess versteht er als essenziellen Bestandteil seiner Geografie; er spricht von der »Stimmung, die eine großartige gestaltenreiche Natur dem Schaffenden einhaucht«8. Die Stimmung – die emotionale Qualität des »Totaleindrucks«, wie er später sagt – muss vom Künstler vermittelt werden, er als reiner Naturwissenschaftler kann diesen Teil der Erfahrung nicht mitteilen. Bei der künstlerischen Umsetzung geht es auch um den Anmutungscharakter von Landschaft und die Landschaft im Ganzen. Während der Naturwissenschaftler analytisch arbeitet, kann der Künstler im Dienste der Geografie den Totaleindruck der Landschaft erfassen und kommunizieren. Dabei geht es übrigens auch ihm nicht um das Erkennen des Einzelnen, sondern das Typische, wie im Falle seiner Beschreibungen mittelamerikanischer Landschaften: Was der Künstler mit den Ausdrücken ›Schweizer Natur‹, ›italienischer Himmel‹ bezeichnet, gründet sich auf das dunkle Gefühl eines lokalen Naturcharakters. Himmelsbläue, Wolkengestaltung, Duft, der auf der Ferne ruht, Saftfülle der Kräuter, Glanz des Laubes, Umriss der Gebirge sind die Elemente, welche den Totaleindruck einer Landschaft bestimmen.9 Neben der Beschreibung von Sinneseindrucken geht es Humboldt darum, detailgetreu zu schildern, wie die Atmosphäre einer Landschaft durch bestimmte Elemente zustande kommt. Das Zusammenspiel dieser Elemente ist es, was der Künstler erfassen und darstellen soll. In diesem Gedanken liegt eine Tradition begründet, die in der Geografie schließlich zur 6. Humboldt geht in seinen Untersuchungen zunächst von Goethes Forschungen aus. Zur Anthropogeografie geführt hat, in der näheren Erläuterung vgl. Böhme: »Goethes nicht bloß naturwissenschaftliche Daten Farbenlehre als Paradigma einer Phänomenologie der Natur« (2000); ders.: »Phänomegesammelt werden, sondern die so etwas nologie der Natur. Eine Perspektive« (1998). wie den emotionalen Totaleindruck der 7. Humboldt: Kosmos, hier zit. n. ders.: AnsichLandschaft zu bestimmen und darzustelten der Natur (1986), S. 394. len sucht. Damit wurde eine Tradition der 8. Ebd. künstlerischen Orientierung von Natur- 9. Ders.: Kosmos (1844), S. 66. 10. Vgl. dazu ausführlicher Böhme: Die Natur wissenschaftlern selbst begründet.10 vor uns (2002), insbes. das Kapitel »Was uns Landschaften bedeuten«.

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Abb. 1

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Abb. 2

Die erste Abbildung, Der Chimborazo, vom Plateau von Tapia her gesehen (1810), stammt aus Humboldts Ansichten der Natur. Das zweite Bild zeigt die Aquarellskizze Tjibodas in Java aus dem Jahr 1901 von Ernst Haeckel, der die Kunstformen der Natur vorzugsweise als hochgeometrische Radiolarien darstellt und unter Schönheit und Kunst der Natur eher die mannigfaltigen Symmetrieformen versteht.

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Abb. 3

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Abb. 4

Die dritte Abbildung zeigt das Aquarell Saßnitz von Wilhelm Oswald, der als naher Kollege Haeckels eigentlich als Chemiker bekannt ist. Bei der vierten Abbildung handelt es sich um Die Dreisteine im Riesengebirge aus dem Jahr 1826 von Carl Gustav Carus, jenem Naturwissenschaftler, Arzt und Maler, der die Briefe über Landschaftsmalerei geschrieben hat.11

11. Carus ist in dieser Tradition insofern besonders erwähnenswert, weil er den Gedanken von Humboldt, dass der Gesamteindruck von der Landschaft erfasst werden sollte, auf die Landschaft selbst zurückführt. Der Totaleindruck und die Einheit des Landschaftsbildes gründen nach Carus in der Natur selbst, weswegen er die Landschaftsmalerei auch als »Erdlebensbild« bezeichnet.

Gernot Böhme

Phänomenologische Perspektivierung Unter Phänomenologie soll im Folgenden die philosophische Disziplin verstanden werden, die durch Edmund Husserl begründet wurde. Sie ist ein Typ verwissenschaftlichter Philosophie, die gerade als solche, das heißt wegen ihres methodischen Vorgehens im Prinzip von den großen Philosophen abzulösen ist und zu einem kollektiven Forschungsprogramm gemacht werden kann. Das impliziert auch die Möglichkeit, ihr Gegenstandsfeld gegenüber dem von ihren Begründern ursprünglich anvisierten zu erweitern.12 Beides, nämlich dass es überhaupt einer ausdrücklichen Anstrengung bedarf, um die Phänomenologie zur Natur hin zu öffnen, und dass die Paradigmen außerhalb der phänomenologischen Bewegung gewählt werden müssen, weist auf den merkwürdigen Tatbestand, dass Phänomene der Natur als solche von der Phänomenologie bisher nicht bearbeitet wurden.13 Der Grund dafür, dass eine Phänomenologie der Natur ein Desideratum geblieben ist, dürfte sich für Husserl einigermaßen klar angeben lassen: Einerseits lässt er sich auf Husserls Phänomenbegriff und andererseits auf die Aufgabe oder Funktion, die Husserl der Phänomenologie zugewiesen hat, zurückführen. Phänomene sind für Husserl Gegebenheiten des Bewusstseins.14 Die Phänomenologie wird 324 damit mehr und mehr zu einer internen Bewusstseinsanalyse und erhält zusätzlich die Funktion, Wissenschaft zu begründen, das 12. Der Ausgangspunkt ist dabei aus Gründen, die noch deutlich gemacht werden sollen, nicht die Phänomenologie heißt, sie wird transzendentale Husserls, Jean-Paul Sartres oder Maurice Merleau-Pontys, Phänomenologie.15 Der Bezug sondern die Phänomenologie von Hermann Schmitz. Die Paradigmen, an denen sich eine solche Erweiterung orienzur Natur wird dadurch ein tiert – und das macht die Darstellung schwierig –, sind nicht durchaus vermittelter – die der phänomenologischen Bewegung selbst zu entnehmen, sondern entstammen einer älteren, zum Teil viel älteren Phänomenologie machte der Wissenstradition: Es handelt sich um die Aristotelische Naturwissenschaft ihren GeChemie und die Farbenlehre Goethes. genstand keineswegs streitig, 13. Diese Behauptung mag befremdlich scheinen, ist doch die Phänomenologie bei Husserl mit der Maxime »zu den Sasondern engagierte sich vielchen selbst« aufgebrochen. Man mag sie auch zu erschütmehr in deren Begründung. tern suchen durch den Hinweis auf einzelne Beispiele, wie Bei Hermann Schmitz, etwa die Rolle des berühmten Pflaumenbaumes in Husserls Phänomenologie, oder durch den Hinweis auf Husserls Forum damit zu dem eigentlichen derung nach regionalen Ontologien. Aber solche regionaAntipoden Husserls in der len Ontologien sind nicht zustande gekommen, jedenfalls nicht für die Regionen des natürlich Seienden, etwa des Orphänomenologischen Beweganischen oder des Wetters, sie wurden vielmehr ausgeargung überzugehen, ist das beitet für die Bereiche der Lebenswelt und der Mathematik. durchaus anders. Seine Neue 14. Um sie als solche festzuhalten und sie zu analysieren, setzte er durch die sogenannte Epoché die Generalthese außer Phänomenologie versteht sich Kraft, dass das Gegebene auch existiert. als »Ergänzung der naturwis15. Vgl. Rang: Husserls Phänomenologie der materiellen Natur senschaftlichen Erfahrung« 16, (1990). wenn sie sie nicht gar als 16. Schmitz: Neue Phänomenologie (1980), S. 44.

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gänzlich unphänomenologisch, spekulativen Hypothesen nachjagend links liegen lässt. Nun könnte man demgegenüber sagen, dass die Neue Phänomenologie entgegen ihrem Selbstverständnis wesentlich Phänomenologie der Natur sei, insofern nämlich ihr zentrales Phänomenfeld der menschliche Leib ist und sie bereits typische Naturphänomene, wie etwa den Bereich des Atmosphärischen – die Dämmerung, den Abend –, in ihre Untersuchungen einbezogen hat. Aber es gibt ein Hindernis, Leibphänomenologie schlicht mit Phänomenologie der Natur zu identifizieren: Das, was den Leib zur Natur macht, das Kreatürliche, kommt nämlich in ihr nicht vor.17 Ist für Husserl ein Phänomen das im Bewusstsein Gegebene, so ist es für Schmitz das im leiblichen Spüren Gegebene. Dieser Ausdruck »das im leiblichen Spüren Gegebene« ist allerdings problematisch, denn genau genommen ist das leibliche Spüren und das darin Gegebene nicht zu trennen, weil, was im leiblichen Spüren gespürt wird, dieses Spüren selbst ist. Leibliches Spüren enthält grundsätzlich eine mehr oder weniger implizite Reflexivität: Spüren ist sich spüren. Eine Leibesinsel etwa – ein für die Neue Phänomenologie typisches Phänomen – ist das räumlich regional ausgebreitete Sichspüren selbst.18 Mit dieser Feststellung befinden wir uns auf einem Wege, Natur und 325 Natürlichkeit – jedenfalls für unseren Zusammenhang – definitorisch festzulegen. Von Natur soll geredet werden, wo einem Subjekt etwas in seinem Dasein als unverfügbar gegenübertritt. Das kann auch die eigene Natur qua Leib sein, auch diese tritt dem Subjekt als unverfügbar gegenüber. Sie ist aber gleichwohl die 17. Freilich ist fraglich, ob man sich eine solche Feststellung, was darin Natur heißt, nicht von meine, insofern ich von ihr unausweichder Naturwissenschaft vorgeben lässt. Zwar lich betroffen bin und sogar mich selbst in ließe sich diesem Argument ausweichen, indem man sich nicht auf ein wissenschaftliches, meinem Dasein hier und jetzt als von ihr sondern auf ein lebensweltliches Verständnis abhängig erfahre. Die Natur ist das, »was von Natur beruft, nach dem die Natürlichkeit des Menschen in seinen Lebensvollzügen – mich ausmacht«. Phänomenologie des wie Essen, Schlafen, Sexualität – zu suchen Leibes wäre also genau nur dann zugleich ist und in seiner Abhängigkeit von Wind und Phänomenologie der Natur, wenn sie in Wetter und seiner Angewiesenheit auf Nahrung spürbar wird. Ich werde später an diese einer Situation partieller Distanzierung Argumentationsfigur anknüpfen, um noch eivom Leib, und das heißt auch partieller nen systematischen Grund dafür anzuführen, dass die Leibphänomenologie von Schmitz Vergegenständlichung betrieben wird. Sie nicht eigentlich Phänomenologie der Natur ist müsste also, in schmitzscher Terminolound sein kann. gie gesprochen, eine Phänomenologie des 18. Die Situation ließe sich auch in schmitzscher Terminologie so ausdrücken, dass die Phäno»körperlichen Leibes« sein. Damit zeichmenologie des Leibes methodisch wesentlich net sich schon ab, dass Phänomenologie vor der Emanzipation der Person anzusiedeln ist. Das zeigt sich etwa auch darin, dass der der Natur ein Balanceakt sein könnte und leibliche Raum wesentlich kein Äußeres kennt; vielleicht mit einer »unreinen« Methode die Rede von Natur setzt aber eine solche betrieben werden muss. Emanzipation der Person voraus.

Gernot Böhme

Die Bestimmung des Wissenstyps »Phänomenologie der Natur« muss in einer doppelten Abgrenzung erfolgen.19 Sie muss sich gegenüber der Naturwissenschaft als Phänomenologie profilieren und gegenüber der Phänomenologie klarmachen, dass sie von Natur handelt – beides ist nicht leicht. So hat beispielsweise Rudolf Steiner versucht, Naturwissenschaft und die Morphologie Goethes als Wissenstypen gleichzustellen, und zwar gerade in dem Sinne, dass sie Phänomenologie seien, Erscheinungswissenschaften, entsprechend der goetheschen Maxime: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre«. 20 Die Maxime, sich an die Phänomene zu halten und sich mit ihrer Ordnung zu begnügen, wird in der Tat seit Isaac Newton in der Naturwissenschaft immer wieder vertreten und befolgt. Für Newton ist beispielsweise das Gravitationsgesetz nur eine mathematische Relation, die Beschleunigungsphänomene in Beziehung zu Massenverhältnissen setzte. Er will Gravitation gerade nicht als eine Entität hinter den Phänomenen begreifen, die sie hervorbringt und erklärt. Dabei ist es aber wissenschaftshistorisch nicht unbedingt geblieben, und man könnte sich geradezu zu der Behauptung versteigen, dass es das Wesentliche der Naturwissenschaft sei, Phänomenales durch Nicht-phänomenales zu erklären. In der Zeit, in der Steiner schreibt, herrschen freilich in der Naturwissenschaft wieder einmal 326 ein antimetaphysischer Zug und die Tendenz, sich von allen nichtphänomenalen Entitäten und Modellen zu befreien. Diese Tendenz kippt aller19. Ausführlich habe ich die beiden Paradigmen einer Phänomenologie der Natur, nämlich der dings, bei Ernst Mach etwa, in einen goetheschen Farbenlehre und der aristotelischen Sensualismus, der gerade dem Wesen Elementenlehre, hier dargelegt: Böhme, Schiemann: Phänomenologie der Natur (1997). der Naturwissenschaft nicht entspricht. 20. Steiner: Grundlinien (1961). Geht man davon aus, dass naturwissen21. Vgl. Böhme: Philosophieren mit Kant (1986). schaftliche Daten Symbole an Messge22. Goethe seinerseits bezieht die Phänomene der räten sind, so ist man schon aus diesem Farben auf das Auge. Es wurde schon erwähnt, Grunde von der Phänomenologie entdass Goethe sich nicht um die Physiologie des Auges gekümmert hat. Das könnte natürlich fernt. Umso notwendiger wird es dann auch nur ein historisches Faktum sein, andererallerdings, sowohl für die Naturwissenseits brauchte er sich für seine Theorie auch nicht um die Physiologie kümmern, weil er »Auge« schaft als auch für die Phänomenologie nicht als objektiv untersuchbares Sinnesorgan den Subjektbezug zu bestimmen. Denn meinte, sondern eben als Sinn. Es heißt bei ihm was nach Immanuel Kant für die Naauch genauer, die Farbe sei die gesetzliche Natur in Bezug auf den Sinn des Auges. Nun kann turwissenschaft gilt, nämlich dass sie man allerdings fragen, ob Goethe gut daran tat, die Natur als Erscheinung, und das so etwas wie die Lehre von den fünf Sinnen vorauszusetzen, und gewisse Unzulänglichkeiten heißt natürlich als Erscheinung für ein haben wir ja auch bei seiner Behandlung der Subjekt, bestimmt, gilt natürlich, wenn Synästhesien beobachtet. Aber entscheidend bleibt doch, dass, wenn er von Sinn spricht, er man den auch bei Kant noch impliziernicht von einem Subjekt überhaupt redet, sonten sensualistischen Zug hinter sich dern von einem mit Sinnen begabten Lebewesen oder, genauer gesagt, vom Menschen. gelassen hat, noch vielmehr für eine

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symbolisch repräsentierte Natur. Die subjektive Konstitution von Natur ist in einer durch Messoperationen und symbolischen Repräsentationen verfahrenden Naturwissenschaft noch eindrucksvoller. Heißt das, dass auch die Naturwissenschaft die Natur in der Kategorie des für uns erkennt, die sich schon in der Skizze unserer Prototypen als charakteristisch herausstellte? Wenn man die Frage so stellt, fällt auf, dass mit dem uns etwas anderes gemeint war, als es in der kantischen Erkenntnistheorie der Fall sein kann. In Kants Erkenntnistheorie ist der Subjektpol, ist das für uns bezogen auf das transzendentale Subjekt, das heißt ein Erkenntnissubjekt überhaupt, insofern es sich den Anschauungsformen und den Kategorien entsprechend verhält. Eine moderne Analyse der Anschauungsformen und Kategorien zeigt, dass es sich bei ihnen nicht um Naturgegebenheiten handelt, sondern um soziale Regeln, um Konventionen.21 Sie beziehen sich nicht auf den physischen Menschen, sondern vielmehr auf den gesellschaftlichen. Bei Kant gibt es kein Apriori der Empfindung und von einem Leibapriori kann nicht die Rede sein. Dagegen ist der Subjektpol bei unseren Prototypen einer Phänomenologie der Natur deutlich der Leib, um nicht zu sagen, der ganze Mensch. Das Lebewesensein wird darin aber nicht als Prozess eines beobachtbaren Objektes verstanden, sondern vom Vollzug des Lebens 327 selbst her. Hunger und Durst werden nicht beobachtet, sondern erfahren.22 Es scheint trivial, dass Damit könnte sich auch schon ergeben, warum die Phänman, um etwas wahrzunehmen, 23. omenologie der Natur sich von Phänomenologie überhaupt in eine Präsenzbeziehung zum unterscheidet, indem sie eben Phänomenologie der Natur ist. Aber um die kritischen Argumente zu wiederholen: Sind Wahrgenommenen treten, also nicht Farbphänomene Bewusstseinsinhalte, und ist nicht die leiblich anwesend sein muss. Erfahrung von Durst schlicht ein Beispiel leiblichen Spürens? Hier könnte man sogar Husserl zu Hilfe rufen: Husserl Und doch ist dies in den Wahrwürde sagen, dass durch solche Rede der intentionale oder nehmungstheorien kaum ernsttranszendierende Charakter von Wahrnehmung beziehungsweise Durst abgeschnitten würde. Wahrnehmung sei genommen worden. Gegenüber immer Wahrnehmung von etwas und Durst sei Durst auf der Datengewinnung in der etwas. Wir wollen uns aber nicht auf dieses Argument berufen, sondern vielmehr davon ausgehen, dass in HunNaturwissenschaft enthält dieser ger und Durst, Sich-Ernähren, Wahrnehmen der Mensch Zug der Wahrnehmung aber eine erfährt, dass er selbst Natur ist, und zwar gerade insofern Pointe. Denn erstere kann immer er darin erfährt, dass er abhängig ist von Natur, die er nicht selbst ist. Im Durst, um mit Aristoteles zu sprechen, auch ohne einen Beobachter geerfahre ich das Flüssige und Kalte, und zwar insofern ich wonnen werden, die Daten kann des Flüssigen und Kalten bedürftig bin. Im Sinn des Auges erfahre ich das Licht als etwas, dessen ich bedarf, um als man sich auch übermitteln bezieWahrnehmender wirklich zu sein. Die Sonnenhaftigkeit in hungsweise mitteilen lassen, man Goethes berühmtem Spruch »Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken« kann auch hier braucht nicht selbst hinzusehen. als die Selbsterfahrung des Naturseins ausgelegt werden. Für Goethe, und das zeigt vor Unser Ergebnis lautet also: Die aristotelische Elementenlehre und die Farbenlehre Goethes sind Phänomenologie der allem sein didaktischer Zug, ist Natur, und zwar durchaus im Sinne der äußeren Natur, aber gerade das Selbsthinsehen insofern in ihnen immer zugleich miterfahren wird, dass 23 entscheidend. wir selbst Natur sind.

Gernot Böhme

Perspektiven In der Phänomenologie der Natur wird die Natur in der Perspektive des für uns, insofern wir selbst Natur sind, erkannt. Dabei können Objekt- und Subjektpol allerdings mehr oder weniger auseinandertreten. Niemals aber wird, solange man Phänomenologie treibt, die Natur als reines Objekt dem nackten, leiblosen Erkenntnissubjekt gegenübertreten. Was erkannt wird, könnte vielleicht allgemein mit »Gestalten und Strukturen« bezeichnet werden und somit auch einer Naturwissenschaft, die sich auf quantitative Verhältnisse, dynamische Gesetze und Symmetrien bezieht, entgegengesetzt werden. Entscheidend ist aber – um zunächst die subjektive Seite zu artikulieren –, dass alles, was erkannt wird, bedeutend ist, wie Goethe sagen würde. Für das Subjekt geht es in der Phänomenologie der Natur um einen Bildungsprozess, um Bereicherung der Erfahrung und um Orientierung in einem Phänomenfeld. Da die Phänomenologie aber auf der eigenen Leiblichkeit basiert, ist dieser Bildungsprozess auch dann, wenn er auf Orientierung in der Natur, die wir nicht selbst sind, zielt, zugleich immer eine Entwicklung der Natur, die wir selbst sind. Die Erfahrung der äußeren Natur ist stets zugleich Selbsterfahrung. Insofern kann man sagen, Phänomenologie der Natur sei Naturerkenntnis als Selbsterkenntnis. 328 Die Bedeutung der Phänomenologie nach der 24. Vgl. Böhme: Natürlich Natur (1992). Objektseite ergibt sich 25. Goethe: »Zur Farbenlehre« (1955), S. 324. daraus, dass sie bei der Un26. Die wichtigste Erweiterung, die die Phänomenologie erfahren muss, zielt darauf, dass die Phänomenologie des menschlichen Leibes zur tersuchung jedes einzelnen Phänomenologie der Natur, die wir selbst sind, wird. Der AusgangsPhänomenfeldes immer punkt ist dabei die Phänomenologie von Schmitz, die sogenannte Neue Philosophie, denn für sie ist der menschliche Leib das zentrale zugleich danach fragt, Phänomen und das wesentlichste Untersuchungsfeld. Wenn das was Natur überhaupt ist. gelingt, dann wird ein großer Teil der bereits vorliegenden Leibphänomenologie der Natur, die wir selbst sind, gelesen werden bezieDie Suspendierung dieser hungsweise in diese transformiert werden können. Damit das allerFrage ist für die Naturwisdings gelingt, ist es, wie schon angedeutet, notwendig, zu einer Art Mischmethodologie oder unreinen Phänomenologie überzugehen. senschaft charakteristisch. Der Leib wird als eigene Natur gerade dann erfahren, wenn er uns Zwar ergeben sich, wenn zugleich dringlich und in gewisser Weise fremd gegenübertritt. Von dieser partiellen Entfremdung wird in der gemischten Methodologie man die Naturwissenschaft Gebrauch gemacht, indem der Leib zugleich auch als Körperding summarisch betrachtet, zugänglich wird, das heißt, die eigene Natur wird zur Phänomenoauch für sie teils als Heulogie des körperlichen Leibes. Damit öffnet sich bereits ein riesiges Feld phänomenologischer Arbeit, etwa für eine subjektive Symptoristik, teils als aggregiertes matologie der Krankheiten und allgemeiner der Befindlichkeiten, Resultat gewisse »Chaeine Phänomenologie des Verhaltens (Merleau-Ponty: Le structure du comportement [1942]), der menschlichen Haltung und Beweraktere der Natur«,24 die gung (Buytendijk: Allgemeine Theorie [1948]) usw. Man sieht, wie sie der Natur zuschreibt. hier auch ältere Bestände der phänomenologischen Bewegung, etwa Beiträge Frederik J. J. Buytendijks oder Merleau-Pontys aber Aber innerhalb der Einauch Helmuth Plessners wieder aufgenommen, integriert und fortgezelforschung kommt der setzt werden können. Grundlegend bleibt aber dabei die Erfahrung des Sichspürens als privilegierter Zugang zu den Phänomenen. Terminus oder der Begriff

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»Natur« überhaupt nicht vor. Wenn die Naturwissenschaft seit Newton ihre Tugend darin sieht, nicht nach dem Wesen zu fragen, so kann man für die Phänomenologie der Natur sagen, dass sie jedenfalls nach dem Erscheinungswesen fragt. Die systematische Untersuchung bestimmter Phänomenfelder zielt auf die Beantwortung der Frage, was Farbe ist, was Wachstum ist, was Geruch ist, was Stoff ist, was Bewegung ist. Wenn Goethe diese Fragen mit der Angabe eines Typus oder eines Urphänomens beantwortet, so heißt das, dass er angibt, wie sich die Natur in einem Phänomenfeld charakteristisch zeigt. Der gemeinsame Gedanke der in diesem Aufsatz stark zusammengefassten Bestreben, nämlich dass wir nicht die Natur an sich erforschen oder wie sie sich gegenüber anderen Dingen, also dem Apparat zeigt, sondern wie sie sich uns als lebendigen, sinnlichen Wesen offenbart, schließt an Goethes Farbenlehre an. Wenn Goethe davon spricht, dass die Farbe »die gesetzmäßige Natur in Bezug auf den Sinn des Auges sei«, 25 gesteht er dem Künstler als Forscher eine wichtige Funktion zu, weil er die Natur anders erforscht als der Naturwissenschaftler: die Natur für uns, insofern wir als leibliche Existenzen selbst ein Teil davon sind. 26 329

Literatur Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik [Aesthetica, 1750]. 2 Bde., Hamburg 2007 Böhme, Gernot: Philosophieren mit Kant. Frankfurt am Main 1986 Ders.: »Kunst als Wissensform«, in: ders.: Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt am Main 1989, S. 141–165 Ders.: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 1992 Ders.: »Die Einheit von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Romantik«, in: ders.: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. 3. Aufl., Frankfurt am Main 1997, S. 96–120 Ders. / Schiemann, Gregor (Hrsg.): Phänomenologie der Natur. Frankfurt am Main 1997 Ders.: »Phänomenologie der Natur. Eine Perspektive«, in: Matussek, Peter (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur. München 1998, S. 436–461

Gernot Böhme

Ders.: »Goethes Farbenlehre als Paradigma einer Phänomenologie der Natur«, in: Schmidt, Alfred / Grün, Klaus-Jürgen (Hrsg.): Durchgeistete Natur. Ihre Präsenz in Goethes Dichtung, Wissenschaft und Philosophie. Frankfurt am Main 2000, S. 31–40 Ders.: Die Natur vor uns. Naturphilosophie in pragmatischer Hinsicht. Kusterdingen 2002 Buytendijk, Frederik J. J.: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung. Berlin 1948 Carus, Carl G.: Briefe über Landschaftsmalerei: zuvor ein Brief von Goethe als Einleitung. Faksimiledruck der 2. Ausg. von 1835, Heidelberg 1972 Goethe, Johann Wolfgang von: »Zur Farbenlehre: Didaktischer Teil«, in: ders.: Goethes Werke. Bd. XIII, München 1955, S. 314–535 Haeckel, Ernst: Kunstformen der Natur. Wiesbaden 2004 Humboldt, Alexander von: »Kosmos«, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. II, Stuttgart 1844 Ders.: Ansichten der Natur. Nördlingen 1986 330

Merleau-Ponty, Maurice: Le structure du comportement. Paris 1942 Rang, Bernhard: Husserls Phänomenologie der materiellen Natur. Frankfurt am Main 1990 Schmitz, Hermann: Neue Phänomenologie. Bonn 1980 Steiner, Rudolf: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller. Stuttgart 1961

Abbildungsverzeichnis Abb. 1, S. 322: Der Chimborazo, vom Plateau von Tapia her gesehen. Handkolorierte Druckgrafik, gezeichnet von Jean-Thomas Thibaut auf der Grundlage einer Zeichnung von Alexander von Humboldt, 50,8 x 68,5 cm, 1810, in: Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur. Nördlingen 1986, S. 96, Tafel 25 Abb. 2, S. 322: Ernst Haeckel: Titel. Aquarellskizze, 1901 [evt. Im Urwald von Tjibodas, Angaben folgen vom Ernst Haeckel-Haus Jena]

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Abb. 3, S. 323: Wilhelm Ostwald: Saßnitz, Öl auf Karton, 18 x 27 cm, o. J., in: ders.: Ostseebilder. Rügen, Vilm, Hiddensee. 1886– 1910. Stralsund 1992, S. 31 Abb. 4, S. 323: Carl Gustav Carus: Die Dreisteine im Riesengebirge. Öl auf Leinwand, 64 x 92,5 cm, 1826, Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

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Lydia Schulze Heuling

Mit

und

Kopf Körper – Leiblichkeit klassischen Mechanik

der

in

einer

Zu möglichen

Die Naturwissenschaft der Neuzeit hat sich methodischen Grundsätzen verpflichtet, die sie unparteiisch und selbstlos erscheinen lassen. Damit wird auch der Körper, insbesondere das innere Empfinden durch den Körper als Leib der Forschenden, vom Forschungsprozess ausgeschlossen. Wenn es aber stimmen sollte, dass körperliche Wahrnehmungen ein Hindernis im konstitutiven Akt der Naturerkenntnis darstellen, ist es dann nicht wichtig, sie in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, anstatt sie zu unterdrücken? Als Physikerin und Performancekünstlerin bewege ich mich innerhalb und zwischen diesen beiden Wissenskulturen und sozialen Kollektiven. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Wahrnehmung des eigenen Körpers: Zentral geht es um die Frage, wie sich die Rolle des Körpers in Forschung und Performancekunst unterscheidet. In der Forschung wird der Körper auf seine materielle Funktionalität reduziert. Erschlossen wird er entweder als Untersuchungsobjekt oder aber als stützende und versorgende Prothese des Kopfes als Ort von Denken und Wissen. Für die Performancekunst ist der Körper nicht nur ein in der Darbietung betrachtbares Körperding, sondern gewinnt darüber hinaus leibliche Dimensionen. Die fleischliche, selbstreferenzielle und unmittelbare eigene Natur nimmt direkten Einfluss auf Praktiken und Prozesse. Der Umgang mit dem eigenen Körper in beiden Bereichen folgt dabei einer historischen Zuschreibung.

Lydia Schulze Heuling

Seit dem 17. Jahrhundert ist der Körper in den Wissenschaften infolge der kartesianischen Zweiteilung des Menschen immer wieder mit mechanistischen Modellen schematisiert worden. Bei René Descartes ist es die Hydraulik, die, von der Zirbeldrüse als Sitz des Geistes (res cogitans) kontrolliert, das Blut und die anderen Säfte in der Körpermaschine (res extensa) zirkulieren lässt.1 In dieser Konsequenz schreibt Julien O. de La Mettrie 100 Jahre später über den l’homme machine, den Menschen als Maschine, »die selbst ihre Triebfedern aufzieht«.2 Wenngleich La Mettries radikaler Materialismus als skandalös und frevlerisch zurückgewiesen wird, setzt sich die kartesianische Zweiteilung des Menschen in Körper und Geist in der Mechanisierung des Menschen und des Weltbildes fort. John Locke benennt und hierarchisiert diesen Dualismus in seiner 1690 erschienenen Schrift An Essay Concerning Human(e) Understanding 3 als die primären (mathematischmetrischen) und sekundären (sinnlichen) Qualitäten und unterstreicht damit die Überlegenheit der naturwissenschaftlichen Weltsicht. Der Mensch als privilegiertes, selbstbestimmtes Vernunftwesen ist nicht mehr nur Teil der Natur, sondern dazu berufen, ihr ihre Geheimnisse zu entlocken und über sie zu herrschen. Der Körper des Menschen fügt sich dem objektivierenden Blick der Wissenschaft, indem er als rein materielles Kompositum aus Knochen, Organen, Muskeln und 334 Gewebe den naturwissenschaftlichen Theorien und Modellen eine Projektionsfläche bietet oder diese inkorporiert. »The chief function of the body is to carry the brain around« – dieser Ausspruch wird Thomas Edison zugeschrieben und veranschaulicht eindringlich den Erfolg des dualistischen Selbstbildes, in dem der Körper als empfindender Leib nicht mehr erscheint.4 In ähnlicher Weise lässt sich auch ein tanzender Körper wissenschaftlich vollständig beschreiben: Unter anderem 1. Vgl. Descartes: Über den Menschen (1969). Für bietet die klassische Mechanik dafür einen historischen Blick zur Rolle des Körpers in Modelle wie den Massenpunkt – eine den Naturwissenschaften vgl. Kutschmann: Der Masse ohne räumliche Ausdehnung – Naturwissenschaftler und sein Körper (1986). 2. La Mettrie: L’homme machine (1990), S. 35. oder den Schwerpunkt an.5 Mithilfe 3. Locke: Über den menschlichen Verstand (1968). des biomechanischen Modells wird 4. Vgl. Josephson: Edison (1992), S. 421. die Tanzbewegung mathematisierbar 5. Historisch werden die antike Mechanik des und quantitativ zugänglich; ihren Aristoteles und Archimedes von der klassischen vorläufigen Höhepunkt findet diese (auch newtonischen) und der modernen Mechanik unterschieden, die mit Beginn des 20. Art der Darstellung von Bewegung in Jahrhunderts einsetzt. Im nachfolgenden Text neurophysikalischen Untersuchungen, ist, wenn von Mechanik gesprochen und nichts anderes deutlich gemacht wird, die klassische die selbst Gefühlsempfindungen als Mechanik gemeint. Menge von etwas objektiv Mess- und 6. Vgl. Zeki, Lamb: »The Neurology of Kinetic Art« Vergleichbarem beschreiben. 6 (1994).

Mit Kopf und Körper – Zu einer möglichen Leiblichkeit in der klassischen Mechanik

Dabei wird oft vergessen, dass auch Naturwissenschaftler zahlreiche, in der Regel implizite Körpertechniken erlernen, die für das experimentelle Arbeiten essenziell sind. Beispielsweise darf ein empfindliches Mikroskop nicht erschüttert werden; ein Tollpatsch aber, der sein Körpervolumen nicht kennt und unfähig ist, durch enge Laborräume zu navigieren, gefährdet durch Anrempeln der Apparatur nicht nur die Messung, sondern den gesamten empfindlichen Aufbau. Die Herstellung kleiner Proben neuer Halbleiter in Reinräumen erfordert etwa das Einnehmen probater Körperhaltungen und feinmotorische Fähigkeiten. In den Sicherheitsbelehrungen und Anweisungen zum Arbeitsschutz werden Regeln für korrektes Verhalten aufgestellt, welche jedoch von der körperlichen Aufmerksamkeit als Grundlage handwerklicher Arbeitsabläufe abstrahieren. Das implizite Körperwissen als wesentlicher Bestandteil von Arbeitsabläufen wird kaum thematisiert oder bewusst vermittelt, sondern häufig als mündliche Erfahrung von einer Laborgeneration zur nächsten weitergegeben. Dabei kann es passieren, dass die Gründe für spezifische Handlungsweisen vollständig verloren gehen. Ein Beispiel dafür begegnete mir im Jahr 2005 während einer Labortätigkeit. Ein Kollege brachte mir Arbeitsschritte bei, die ich als umständlich und riskant empfand. In einem Gespräch stellte sich heraus, dass er diese Arbeitsschritte 335 direkt von einer Kollegin übernommen hatte, die im Gegensatz zu ihm Linkshänderin war. Spezielle Techniken, die einem körperlichen Umstand geschuldet waren, wurden hier unreflektiert zum tragenden Bestandteil in einem Forschungsprozess. Da es nicht im Selbstverständnis der Naturwissenschaften liegt, derartige Phänomene zu betrachten, waren es andere akademische Bereiche, die vor etwa 50 Jahren das Labor als soziales Kollektiv und das implizite Körperwissen als Forschungsfeld für sich entdeckten und bis heute untersuchen.7 Es lässt sich bis zu den Anfängen der Aufklärung zurückverfolgen, wie der ordnende, methodologisierende und institutionalisierende Geist der Wissenschaften auf den Tanz als Wissenskultur abfärbt. Bereits im Jahre 1661 wird in Paris die Académie Royale de danse gegründet, die bestimmte Formen des Tanzes institutionalisiert und ihr Wissen kanonisiert. Wichtig dafür ist auch die Entwicklung von Tanzschriften wie die 40 Jahre später erscheinende Tanznotation Raoul-Auger Feuillets.8 Dort und an den bald entstehenden anderen Tanzakademien wird zunächst das klassische Ballett akademisiert. In diesem nun akademischen Tanz werden die Tanzenden durch ihren körperlichen Objektstatus als Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis (1984); formbares und auch zu formen- 7. Vgl. Polanyi: Implizites Wissen (1985); Mauss: »Les techniques des Material zum Instrument der du corps« (1950). Umsetzung ästhetischer Ideale. 8. Feuillet: Chorégraphie (1700).

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Ein direkter Einfluss von Physik und Mathematik auf Tanz und Performance lässt sich in der Folge an bestimmten Tanzstilen und künstlerischen Arbeiten nachweisen: Die Choreografielehre Rudolf von Labans zeigt beispielsweise eine spezielle Verquickung atmosphärischer, qualitativer und systematisierender Sichtweisen. Der Raum ist für ihn einerseits von der den Körper umgebenden Kinesphäre, einer »Raumkugel, deren Peripherie mit locker gestreckten Gliedmaßen erreicht werden kann«, durchdrungen, denn »wir fühlen jeden Standort als Teil von uns«.9 Andererseits entwickelt Laban eine Tanznotation mit einem dazugehörigen geometrischen Gerüst von Punkten und Verbindungen, die in der Kristallografie, einer physikalischen Analysemethode, als sogenannte Kristallgitter bezeichnet werden. Er spricht von der Entfaltung menschlicher Bewegungen als »eine Art dynamischer Kristallografie der menschlichen Bewegung«.10 Während bei Laban eine Verschränkung des kartesianischen und leiblichen Raumes anzutreffen ist, bestimmen bei Oskar Schlemmer Maß und Zahl des Raumes das »Gehaben des Tänzers«. In Schlemmers Triadischem Ballett dienen die Kostümkonstruktionen beispielsweise als »Verlängerung[...] der Bewegungswerkzeuge«, um den Zusammenhang zwischen Körper und Raum plastisch zu veranschaulichen. Durch diese Hilfsmittel kann der »Körper selbst […] 336 seine Mathematik demonstrieren«.11 Sind Kunst respektive Tanz und Forschung nichts anderes als eine Paraphrase des Körper-Seele-Dualismus? Und gibt es dennoch – auch wenn sie scheinbar weit voneinander entfernt liegen – mögliche Schnittmengen? Vor dem Hintergrund dieser historischen Zuschreibungen auf den Körper ist die Frage, was künstlerische Forschung sein kann, interessant, denn Forschung zielt immer auf die planmäßige Entwicklung von Neuem ab. Bedeutung gewinnt hier das Experiment als Teil dieses Prozesses, das unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden und Beobachtungen dem Erkenntnisgewinn dienen soll. Grundsätzlich ist ein Experiment ein Wagnis, neues, unsicheres Land zu beschreiten – unabhängig davon, ob es Teil wissenschaftlicher Unternehmungen ist. Begreifen wir dieses Wagnis als etwas, das nicht gerichtet ist und keiner eindeutigen Funktion bedarf, entfällt die Beweispflicht. Kunst entzieht sich dieser eindeutigen Zuweisbarkeit von Funktionen und untersteht keinerlei Beweispflicht. Das heißt, sie ist in ihrer handwerklichen Praxis zwar systematisch, entzieht sich in ihrem Resultat aber den Objektivierungsversuchen 9. Laban: Choreutik (1991), S. 21 f. der Naturwissenschaft. Dennoch existieren 10. Ebd., S. 106. auch hier Normierungen und Konventionen: 11. Schlemmer: »Tänzerische Mathematik« Die konventionelle Lesart von Tanz als (1926), S. 34.

Mit Kopf und Körper – Zu einer möglichen Leiblichkeit in der klassischen Mechanik

rhythmischer Bewegung und emotionalem Ausdruck, gerne auch zu Musik, ist beispielsweise oft gekoppelt an unsere Vorstellungen vom Tanz als Kunstform. Ein derart enges Verständnis von Tanz greift für die hier gemeinte experimentelle Kunst zu kurz. Meine Untersuchungen bewegen sich entlang der Grenze zwischen einer mechanischen Beschreibungsweise des dynamischen Körpers und einem leiblich-phänomenalen Erfassen mechanischer Wirkungen. In ihnen befrage ich Physiker nach ihrem Körperempfinden und ihrem Körperverstehen mechanischer Phänomene. Umgekehrt interessiert mich das »Physikempfinden« von Tänzern, beispielsweise in der Frage, welche Erfahrungen mit physikalischen Begriffen wie »kraft« oder »Gewicht« verbunden werden. Das heißt, mich interessiert bei der Zusammenführung von Zugehörigen mindestens zweier eklatant unterschiedlicher Wissenskulturen die jeweils andere sinnliche und geistige Perspektive auf das zugewiesene Feld ihrer Expertise. Für Fragestellungen dieses Zusammenhangs bietet die Biomechanik eine Vielzahl traditioneller mechanistischer Herangehensweisen an. Die Kontaktimprovisation als eine Form des Tanzes stellt dagegen einen völlig anderen Ansatz dar, Physik und Körperbewegungen gemeinsam anzusprechen. Letztere sucht im Tanz nicht die 337 Überwindung der Schwerkraft wie das klassische Ballett, sondern die Überwindung überkommener ästhetischer Ideale im Tanz. Die Bewegungsabläufe entstehen im Spiel mit den physikalischen Gesetzen, denen sich der bewegende Körper aussetzt.12 Die im Folgenden beschriebenen Untersuchungen führte ich sowohl mit Elementen aus der Biomechanik als auch der Kontaktimprovisation, teilweise mit und teilweise ohne Repräsentanten aus der Physik sowie Bewegungsgeschulten durch. Nehmen wir als erstes Beispiel die Drehung um die eigene Körperachse (Abb. 1 a). Setzen wir uns in Bewegung, spüren wir zunächst die Trägheit der eigenen Arme, die mit zunehmender Geschwindigkeit in die Höhe schwingen. Es ist die Fliehkraft, die wir spüren, wenn Hände und Arme nach außen gezogen werden. Ziehen wir die Arme gegen einen gespürten Widerstand nach innen, verändert sich unsere Drehgeschwindigkeit. Das Drehmoment hängt vom Beharrungsvermögen oder auch Trägheitsmoment der Masse beziehungsweise des Körpers, der Massenverteilung relativ zum Drehzentrum und dem Radius ab. Ein extrem vereinfachtes Modell zur Berechnung von Fliehkraft und Drehmoment stellt ein Massenpunkt an einem unendlich dünnen Faden dar. die Kontaktimprovisation immer wieder mit der Physik Etwas umständlicher wäre da- 12. Dass in Verbindung gebracht wird, verdankt sie vor allem Steve gegen die Berechnung über die Paxton, einem ihrer Protagonisten.

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Summe der Teildrehmomente.13 Was aber erleben wir im Augenblick des Drehens? Während die Hände und Arme nach außen gezogen werden, arbeiten wir an der Stabilisierung der Drehachse und gegen den Schwindel an. Wir halten einen Ball in der Hand, lassen ihn los, und beobachten Folgendes: Der Ball fliegt nicht senkrecht vom Arm weg, sondern tangential zur äußeren Kreisbahn. Diese tangentiale Komponente der Fliehkraft spüre ich weniger in meinen Händen als eher in meinen Schultern und dem Torso und vollziehe sie beim Nachsetzen meiner Füße. Das Drehgeschwindigkeitsgefühl ändert sich mit der Armposition: Mit ausgestreckten Armen verhält es sich anders als mit eng anliegenden. Jedoch macht es auch einen Unterschied, ob ich meine Arme auf Schulterhöhe halte und entlang der Ellbogen auf Schulterhöhe einklappe oder aber in voller Länge herabsenke und entlang meiner Körperlängsachse orientiere.

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a)

b)

c)

Abb. 1: Schematische Positionen der Beispielübungen, von links nach rechts: a) Drehung um die eigene Körperlängsachse, b) Längsverschiebung eines auf dem Boden liegenden Klotzes, c) Überrollen einer Person in Bankstellung

Einen weiteren Fall veranschaulicht die Abbildung 1 b: Ein Klotz liegt auf dem Boden. Wir wollen ihn mit unseren Füßen vor uns herschieben. Je nachdem, wo wir den Klotz mit der Fußspitze treffen, bewegt sich dieser tatsächlich geradeaus oder dreht sich ein bisschen und gerät etwas von der gedachten Linie ab. In der idealisierten mechanischen Betrachtung wird diese Situation als Ursache-Wirkungsrelation erfasst und mittels der Modelle vektoriell zerlegbarer Kraft, ihrer transversalen und rotatorischen Komponenten sowie des Schwerpunkts beschrieben. Ersetzen wir den starren Klotz durch einen auf dem Boden liegenden Menschen, der sich behutsam über den Fußboden schieben lässt, beobachten wir schnell, dass die liegende Person Muskelkraft aufwenden muss, wenn sie als Ganzes geschoben oder gedreht werden will. Diese Muskelkraft findet in der klassischen Mechanik kein Äquivalent.

Mit Kopf und Körper – Zu einer möglichen Leiblichkeit in der klassischen Mechanik

Ein drittes und letztes Beispiel stellen zwei Menschen dar, von denen sich eine Person in Bankstellung befindet (Abb. 1 c). Die zweite Person steht an einer Seite des Oberkörpers und möchte nun mit ihrem Rücken über den Rücken der unteren Person auf die andere Seite rollen. Versetzen wir uns in die Position der stehenden Person. Bereiten wir uns darauf vor, gleich über den Rücken unseres Partners zu rollen. Wo stelle ich mich hin? Beuge ich erst die Knie oder lehne ich mich erst leicht an die Lende, oder doch eher an die Schulter meines Partners? Wie drücke ich mich auf den Rücken oder stoße mich vom Boden ab? Wir versuchen einfach eine Rolle. Geschafft, auf der anderen Seite angekommen. Aber wie bin ich über den Rücken gerollt? Waren die Knie angezogen? Die Bauchmuskeln angespannt? Was habe ich eigentlich mit meinen Armen gemacht? Auch hier spielen Kraftangriffspunkte und das Drehmoment eine Rolle. Aber wir merken bereits, dass bei einer derartigen Aufgabe ganz andere Herausforderungen auf uns zukommen und uns beschäftigen. Die oben beschriebenen Bewegungsfolgen wurden zunächst von mir angeleitet, danach war Raum zum Nachgehen eigener Fragen. Die Teilnehmenden wurden gebeten, ein Journal zu führen und Beobachtungsprotokolle anzufertigen, in denen sie ihre Innen- und Außensicht beschreiben sollten. Näher eingehen möchte ich auf zwei 339 interessante Beobachtungen: den Prozess der Annäherung an das von mir eröffnete Forschungsfeld sowie die Bildung von und den Umgang mit Untersuchungsfragen. Einige der eingeladenen Studierenden und Kollegen aus der Physik waren befremdet, sich plötzlich als Objekt ihrer eigenen Beobachtung wiederzufinden. Andere zeigten eine überraschende Begeisterung und Bereitschaft, sich der ungewöhnlichen Aufgabe zu stellen. Zurückgeworfen auf den eigenen Körper wurden sowohl Bewegungshemmnisse als auch Verständnislosigkeit gegenüber dem Stellenwert der Innensicht artikuliert. Es bestand Gesprächsbedarf über Sinnhaftigkeit und Fachinteresse meines Anliegens. Zum Ausdruck gekommen ist dieses in Form von vornehmer Zurückhaltung, mangelnder Bereitschaft sich einzulassen oder anhand von Kritik an der Fähigkeit und Relevanz subjektiver Erkenntnis als Methode, um Gesetzmäßigkeiten der Natur offenzulegen. Die Rückmeldungen der bewegungsgeschulten Teilnehmenden beschreiben dagegen als zentrales Problem die anfängliche Einschüchterung durch die Physik und äußern Besorgnis über Relevanz und Richtigkeit des eigenen Erlebens. 13. Die Größe des Radius geht quadratisch in die Berechnung Als aufschlussreiches Mitdes Drehmoments ein: Wird der Radius halbiert, vervierfacht sich die Geschwindigkeit. An der Veränderung der tel erwies sich die akkurate Geschwindigkeit spüren wir die Erhaltung des DrehmoNachahmung von Beispielen aus mentes. Für ein Kontinuum von Massenpunkten erhält man Trägheits- und Drehmoment durch Bildung des Integrals. Biomechaniklehrbüchern. Zwar

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fiel die Hemmung vieler Physiker, sich körperlich einzusetzen, hier geringer aus als bei Übungen aus der Kontaktimprovisation. Die zuvor fachlich-physikalische Anwendung von Begriffen stellte beispielsweise bereits einen Wiedererkennungseffekt her, auch wenn manche physikalische Falschaussage entlarvt wurde. Doch traten beim Ausführen der Anleitungen vermehrt Lücken im Bewegungsfluss auf, die auf das Spannungsverhältnis zwischen Identifikation als ausführendes Subjekt und wissenschaftlicher leiblicher Absenz verweisen. Die Übungen sind nämlich oftmals nur schwer in die Tat umzusetzen und eine Gratwanderung zwischen methodisch vorgeschriebener körperlicher Enthaltsamkeit und zwangsläufiger teilnehmender Präsenz. Die naturwissenschaftliche Sprache ermöglicht kaum ein sympathetisches Nachvollziehen und Miterleben. Die eigentlichen Bewegungsabläufe wurden in ihrer Ganzheit eher von den Bewegungsgeschulten betrachtet, thematisiert, ergänzt und analysiert. Für Übungen der Kontaktimprovisation bildeten einige Physiker spontane Kollaborationen, um sich hinsichtlich einer normativen Abstrahierung abzustimmen. Einigen Teilnehmenden fiel es grundsätzlich schwer, subjektive Empfindungen zu äußern. Insgesamt wurden die Bewegungsformen als zu komplex empfunden, um Ansatzpunkte für differenzierte Betrachtungen herausarbeiten 340 zu können. Und schließlich teilten alle Beteiligten die Meinung, dass die Selbsterkenntnis der gemachten Leiberfahrungen nicht mit den postulierten Erkenntnis- oder Erlebensräumen einer biomechanischen Übung kompatibel ist. Die bisweilen lebensfernen Praxisbeispiele (ein Klotz liegt auf dem Boden; Felix schiebt eine Lore; Felix dreht ein Schöpfrad) erwecken den Eindruck, dass sie weniger dem sympathetischen Erleben als illustrativen Zwecken dienen sollen. Wie sich gezeigt hat, kommt es entscheidend auf die Formulierung der Anleitungen an, weil diese die Wahrnehmung lenken und schnell zum Anpassen der eigenen Beobachtungen verleiten.14 Darüber hinaus bestand Sprachlosigkeit der Physiker bezüglich ihrer Leiberfahrungen. Die Beteiligten beider Gruppen behalfen sich interessanterweise oft und sogar an sehr entscheidenden Stellen mit einem »Du weißt 14. Die Nicht-Separabilität von Beobachter und schon, was ich meine«. beobachtetem System ist ein auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht herausragender ProbDie obigen Ausführungen sollen lemfall in der Physik. Der der Objektivierung einen Einblick in meine Arbeit zwizuzuschreibende Informationsverlust wird in der Quantenphysik methodisch berücksichtigt. schen Performance/Tanz und Physik Dennoch hat dieser methodische Kunstgriff nur geben. Physiker als Naturwisseneingeschränkte Konsequenzen auf das Selbstverständnis des wissenschaftlichen Subjekts, schaftler stehen der Natur gegenüber. weil er sich eben nicht auf das Individuum, Wird aber der eigene Leib, den ich als sondern auf ein abstraktes Beobachtersubjekt zentrale Schnittstelle verstehe, zum bezieht.

Mit Kopf und Körper – Zu einer möglichen Leiblichkeit in der klassischen Mechanik

Untersuchungsgegenstand, besteht die Möglichkeit, in einen Dialog mit der Natur zu treten, die sich unmittelbar im Sich-selbst-Spüren aufdrängt, anstatt ihr inquisitorisch gegenüber zu stehen. Der neue Dialog mit der Natur ist auch ein experimenteller Dialog – allerdings nicht im Sinne einer experimentellen, zielgerichteten Systematik als Teil der Forschung. Es handelt sich vielmehr um eine andere Bedeutung des Wortes Experiment, nämlich dem Experiment als Wagnis. Eine so verstandene Deutung würde eine andere Kultur der Forschung mit sich bringen, nämlich ein tätiges Erkennen im Kontakt mit der Natur. Vor diesem Hintergrund wird sich nicht zuletzt an grenzgängerischen Projekten zeigen, ob es sich bei künstlerischer Forschung um eine weitere Manifestation der Vorherrschaft wissenschaftlicher Forschungsmethoden und Erkenntniskulturen handelt. Oder ob sich in Verbindung mit einem ästhetischen Perspektivwechsel tatsächlich neue Dialogfelder aufspannen lassen, die über sich hinaus auf anderes verweisen.

Literatur Descartes, René: Über den Menschen [1632]. Heidelberg 1969 Feuillet, Raoul-Auger: Chorégraphie, ou L’art de décrire la dance par caractères, figures et signes desmonstratifs, avec lesquels on apprend facilement de soy même toutes sortes de dances. Paris 1700 Josephson, Matthew: Edison: A Biography [1959]. New York 1992 Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft [The Manufacture of Knowledge. An Essay on the Constructivist and Contextual Nature of Science, 1981]. Frankfurt am Main 1984 Kutschmann, Werner: Der Naturwissenschaftler und sein Körper. Frankfurt am Main 1986 La Mettrie, Julien O. de: L’homme machine – Die Maschine Mensch [L’homme machine, 1748]. Hamburg 1990 Laban, Rudolf von: Choreutik. Grundlagen der Raum-Harmonielehre des Tanzes [Choreutics, 1966]. Wilhelmshaven 1991 Locke, John: Über den menschlichen Verstand [An Essay Concerning Human(e) Unterstanding, 1690]. Hamburg 1968 Mauss, Marcel: »Les techniques du corps« [1936], in: ders.: Sociologie et anthropologie. Paris 1950, S. 363–386

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Polanyi, Michael: Implizites Wissen [The Tacit Dimension, 1966]. Frankfurt am Main 1985 Schlemmer, Oskar: »Tänzerische Mathematik«, in: Stefan, Paul (Hrsg.): Tanz in dieser Zeit. Wien 1926, S. 33–36 Zeki, Semir / Lamb, Matthew: »The Neurology of Kinetic Art«, in: Brain, Bd. 117, Nr. 3 (1994), S. 607–636

Abbildungsverzeichnis Abb. 1, S. 338: Frederike Wagner: Schematische Positionen der Beispielübungen. Grafik, Berlin 2011

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Philosophie Performance Zugänge In der Debatte zu künstlerischer Forschung wird das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung häufig als Bindungsverhältnis begriffen und von einem durch »wissenschaftliche« Weltauffassungen geprägten Forschungsmodell bestimmt. In der Konsequenz wird künstlerische Forschung als Zusammenspiel von Wissenschaften und Künsten charakterisiert – wobei besonders solche Projekttypen Aufmerksamkeit erregen, die explizit entweder kunstinspirierte wissenschaftliche Forschung oder aber wissenschaftlich inspirierte künstlerische Praxis betreiben. Doch ist das eigentlich Interessante an künstlerischer Forschung – so die leitende Überzeugung der folgenden Überlegungen – die Möglichkeit eines Forschungsbegriffs, der nicht wissenschaftliche Forschung meint und dennoch den Anspruch von Forschung (und das heißt: Erkenntnissuche) erhebt. Als Konsequenz muss künstlerische Forschung in ihrer Praxis und ihren Suchbewegungen nicht notwendigerweise wissenschaftlich oder an der Wissenschaft orientiert sein.1 Dass der Begriff »Forschung« nicht im Exklusivbesitz der Wissenschaften liegt, ergibt sich schon aus 1. Vgl. zur Illustration der gemeinten Spannbreite auch die sehr unterschiedlich gearteten Beispiele in Domseiner Wortbedeutung: »Erkenntnis subois u. a.: »Historische und gegenwärtige Beispiele chen, erkunden, ergründen, prüfen, unkünstlerischer Forschung« (2009). 2 tersuchen, ausfindig machen«. In seiner 2. Pfeifer u. a.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1995), S. 367. gebräuchlichen Verwendung bleibt der

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Begriff – und damit auch ein Teil der Debatte zur künstlerischen Forschung – allerdings auf methodische Standards empirischer Forschung und auf deren begrifflich-rationale Fassung beschränkt. Dies bewirkt, dass auch Künstler dem Geschäft der künstlerischen Forschung häufig skeptisch gegenüberstehen, befürchten sie doch eine – je nach Perspektive – eher freundliche oder feindliche »Übernahme« der Künste durch die Wissenschaften. Es ist daher wichtig, eine künstlerische Forschung zu profilieren, deren Ziel nicht die Prägung der Künste durch den wissenschaftlichen Habitus ist, sondern deren Bestreben in der Erkenntnissuche und Adressierung alternativer Erkenntnistypen im Sinne von Alexander Gottlieb Baumgartens Ästhetik als Theorie sinnlicher Erkenntnis liegt. 3 Dabei entzieht sich diese Form von Erkenntnis grundsätzlich einer umfänglichen begrifflich-theoretischen Erfassung und stellt dennoch einen unverzichtbaren Modus der Welterschließung dar. Auch wenn diese Debatte bereits im 18. Jahrhundert ansetzt, markiert die gegenwärtige Forderung nach künstlerischer Forschung einen gravierenden Wandel in Hinblick auf die Neubewertung welterschließender Vermögen.4 Sinnliche Erkenntnis erlangt gegenüber begrifflich-kognitiven Erkenntnisweisen komplementären (und eben nicht untergeordneten) Stellenwert. Der Begriff der »Komplementarität« meint sowohl »ergänzend« als auch »eigenständig« 346 beziehungsweise »irreduzibel«; und diese Eigenständigkeit schließt Modus und Form ein. Das Neue der derzeitigen Diskussion liegt also in der expliziten und öffentlichkeitswirksamen Forderung einer den Wissenschaften gleichrangigen Erkenntniskompetenz der Künste, welche lange Zeit auf ihre funktionalen Rollenzuschreibungen – als erbauliche, pädagogische, unterhaltende, politisch-aktionistische, urbanistische oder ökonomische Komponente des gesellschaftlichen Lebens – reduziert wurden.5 Zwar verweist die Komplementaritätsthese durchaus auf eine Beziehung von künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung (denn die beiden stehen in einem Ergänzungsverhältnis), sie setzt jedoch nicht die zwingende Verbindung beider in jedem konkreten Forschungsprojekt voraus. Daher sollte auch die materielle Ermöglichung und innovationspolitische Profilierung künstlerischer Forschung nicht ohne Weiteres mit den Mechanismen einer wissenschaftlichen Forschung organisiert werden. Künstlerische Forschung siedelt sich genau in dem Außen des als legitim befundenen Möglichkeitsraum sinnvoller Forschung an, welcher sich über etablierte Schemata wie wissenschaftliche Projektanträge 6 oder 3. Vgl. dazu Menke: Kraft (2008). eine wissensgesellschaftliche Stand4. Vgl. Bippus: Kunst des Forschens (2009). ortstrategie strukturiert. Künstlerische 5. Vgl. Mersch, Ott: »Tektonische Verschiebungen Forschung dagegen braucht dieses zwischen Wissenschaft und Kunst« (2007).

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Außen um etwas genuin Neues hervorzubringen, das sich den etablierten Erwartungshaltungen der Gesellschaft erwartungstransgressiventgegensetzt und Erfahrungen im pragmatistischen Sinne des Wortes provoziert: als Realisierung des Scheitern gewohnten Begreifens, aus der eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber der Kontingenz der eigenen Deutungsgewohnheiten folgen kann. Ästhetische Welterschließung beziehungsweise ästhetische Praxis dient als Korrektiv einer einseitigen Auffassung von Wissenschaft und Forschung, die eine begrifflich-rationale Welterschließung fordert. Eine solche droht, ihre eigene sinnliche und versuchende Dimension zu verlieren: jene Dimension einer spezifischen Erkundung mit unspezifischer Zielbestimmung, eines essayistischen Selbstverständnisses von Forschung, wie es bereits Friedrich Nietzsche in der fröhlichen Wissenschaft perspektiviert hat.7 Dieser Verlust befördert ein globales (also objektivierendes) Weltbild als letzte Instanz von Erkenntnislegitimation, das einem betrachtenden Forschersubjekt die Welt als Objekt seiner Vermessung zuweist. Dabei gerät aber der mondiale Charakter der Welt aus dem Blick, also der Umstand, dass es sich bei der Welt um einen nicht objektiv begrenzbaren Möglichkeitsraum des Menschseins handelt. Zwar ist die Möglichkeit zur globalen Konzeptualisierung auch für eine ästhetische Wissenschaft 347 von zentraler Bedeutung; 8 sie ist aber geltungsbegrenzt durch ihren je eigenen Potenzialitätscharakter, der immer auch Möglichkeiten des Andersseins einschließt.9 Globale Deutungen der Welt (im eben erläuterten Sinne) sind daher stets das Produkt einer mondialen Dynamik und über ein immer neu ins Werk gesetztes, kultiviertes, kreativ-exploratives Weltverhältnis vermittelt. Dieses Weltverhältnis ist von dem grammatisch eingetragenen Kontingenzbewusstsein geprägt, dass jegliche Formerfassung und jedwedes Weltbegreifen des Objektiven als Globales zwar im Moment des Vollzugs evident sein können, nicht aber per se notwendig sind. Eine Menschheit, die diesen Zusammenhang vergisst und sich gegenüber der Unverfügbarkeit eines verbindlich-globalen Fundaments des Menschseins unaufmerksam zeigt, läuft Gefahr, sich in einem Mythos einzurichten: demjenigen nämlich, dass es so etwas gäbe wie eine objektive Welt, aus 6. Als Beispiel für diese Entwicklung kann das vom Österreichischen Wissenschaftsfond ausgeschriebene Proder im Sinne einer Normativität gramm zur Entwicklung und Erschließung der Künste des Faktischen Deutungs- und Ge(PEEK) angeführt werden, das sich der Form nach an wissenschaftlichen Forschungsanträgen orientiert. staltungsorientierung sich gleicher7. Vgl. Busch: »Philosophischer Essayismus« (2010). maßen unmittelbar ergibt. Es ist 8. Es handelt sich gewissermaßen um die Schaffung jedaher die Aufgabe künstlerischer nes Bezugsrahmens, der in einer jeweiligen GegenForschung, das Imaginäre dieses wart als fundamental gilt. Bunkers aufzuzeigen und eine 9. Vgl. Badura: »Im Echoland« (2009).

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Kultur explorativen Denkens anzuregen. Diese ästhetische Praxis basiert auf dem Zusammenspiel von sinnlicher Erfahrung und einer Poiesis der konzeptuellen Weltgestaltung, aus der ein spezifisches, nicht in Allgemeinbegriffe der Theoria übersetzbares Wissen hervorgeht. Künstlerische Forschung versteht sich demnach als Aufmerksamkeitsagentin der Gegenwart, versucht sich mit künstlerischen Mitteln an einer fortwährenden »[Neu-]Aufteilung des Sinnlichen« 10 und operiert als komplementärer Vektor zur begrifflich rationalen Welterschließung. Sie schafft auf diese Weise Erfahrungsoptionen für multiple Weltzugänge.

Philosophie als Performance Die korrektive Funktion künstlerischer Forschung liegt begründet in der mangelnden ästhetischen Reflexion 11 der »Normal«-Wissenschaften im Allgemeinen und der »verwissenschaftlichten« akademischen Philosophie im Speziellen. Es ist eine Aufgabe (nicht die Aufgabe) künstlerischer Forschung, diesen Mangel zu problematisieren und alternative und engagierte Formate des philosophischen Forschens (aber auch allgemein der wissenschaftlichen Praxis) zu stimulieren beziehungsweise zu retablieren. Dies ist der Ansatzpunkt des 348 Projekts Philosophie als Performance, welches sich der (Wieder-) Erschließung des kreativen Potenzials von Philosophie als explorativer Praxis widmet.12 Ein solches Potenzial gelangt gegenwärtig weder in der akademischen Ausrichtung einer wissenschaftlichen Philosophie noch in den beratenden oder pädagogischen Versionen einer Populärphilosophie nachhaltig zu öffentlichem Ausdruck. Hintergrund des Befundes ist die Annahme, dass »Philosophie die Disziplin ist, die in der Erschaffung der Begriffe besteht«,13 also eine Aktivität des fortwährenden schöpferischen Begreifens von letztlich Unbegreif barem. Ziel des Projekts ist es daher, Rahmenbedingungen zu entwickeln, in denen ein solches exploratives Denken »sich zeigen« kann. Wenn künstlerische Forschung als 10. Vgl. Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen (2008). ästhetische Praxis allerdings den 11. Im Sinne einer explorativen Aufmerksamkeit gegennicht begrifflich-rationalen Aspekt über der Gegenwart und den damit verbundenen experimentellen Arbeits- und Ausdrucksformen. der Welterschließung in den Vor12. Philosophie als Performance ist ein Kunstforschungsdergrund rückt, drängt sich die Fraprojekt, das im Rahmen des Schwerpunkts Wissenge nach ihrem begrifflichen Kontext schaft und Kunst der Universität Salzburg und der Universität Mozarteum in Kooperation mit Partnern auf. Doch Begreifen im philosoaus dem Kunstbetrieb (Theatergruppe ohnetitel, galephischen Sinne ist eine praktische rie5020, Salzburg Experimental Academy of Dance, und poetische Tätigkeit, die nicht GRENZ-film Wien) durchgeführt wird. auf das Resultat – den Begriff oder 13. Deleuze, Guattari: Was ist Philosophie? (1996), S. 9.

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eine begriffsbasierte Theoria – zu beschränken ist. Sie vollzieht sich eher als Ausdruck eines Könnens, einer Aufmerksamkeit und einer Erfahrungsbildung – als Prozess. Dieser ist allen Bemühungen eines Rationalitätsnachweises zum Trotz seinerseits nicht theoretisch und umfänglich erfass- und rekonstruierbar, sondern bedarf eines erfahrenden Mitvollzugs und einer Mitwirkung seiner Akteure. Denken wird somit als Denken erfahrbar und nicht mehr als Rezeption oder Nachvollzug von Gedachtem. Das Projekt geht davon aus, dass eine mit darstellender Kunst verbundene Philosophie als Performance Denkanstöße zu initiieren vermag, die explorativ-experimentelles Denken wirkungsvoll fördern, und Philosophieren als eine begreifende Denktätigkeit in den Blick rückt. Eine präzise Ausdrücklichkeit und gezielte Erschließung dieser performativen Dimension soll durch die Verschränkung von philosophischem Anliegen und theatralischem Ausdruck erreicht werden.14 Die Theatralisierung von Philosophie und die Idee ihrer direkten Erfahrbarmachung sind in der Sache zwar nicht neu – schon die sokratischen Dialoge sind entsprechende Inszenierungen. Doch spätestens seit Nietzsche erhält die Frage nach der Form des Philosophierens und des Verhältnisses zwischen Form und Inhalt eine besondere Bedeutung: Nachdem nicht mehr einfach von einem Wissensbestand der 349 Philosophie ausgegangen werden kann, sondern vielmehr die Kritik der Repräsentation selbst in den Fokus gerät, beginnt auch die Philosophie, sich selbst performativ in Frage zu stellen. So etwa im aphoristischen Schreiben Nietzsches, der »rhizomatischen« Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari 15 oder in den dekonstruktivistischen Analysen Jacques Derridas, um nur einige wenige Zugänge zu nennen. Philosophieren ist in dieser Tradition unabschließbar und jegliches Resultat bloß Passage des fortlaufenden Denkvollzugs. Dieses selbstkritische Denken wird von dem hier beschriebenen Projekt auf die Bühne gebracht und als Spannungsfeld von Begreifen-Können und Unfassbarkeit inszeniert. Die theatralische Form dient dabei aber nicht der Erreichung eines im Vorfeld definierten pädagogischen Zwecks oder der Präsentation eines abgeschlossenen philosophischen Texts, sondern – als Vorbild dient hier das Konzept des »postdramatischen Theaters« 16 im Sinne von Hans-Thies Lehmann – der Katalyse von Suchräumen durch die Problematisierung von Deutungsgewohnheiten. Eine kritische Distanzierung von herkömmlich-selbstverständlichen und weitgehend exklusiven Formaten des philosophischen Ausdrucks 14. Vgl. auch die Perspektive der szenischen (Vortrag, Monografie, Lehrgespräch) und Künste: Klein, Sting: Performance (2005). dem repräsentativen Textverständnis 15. Vgl. Deleuze, Guattari: Rhizom (1977). der traditionellen Philosophie ist daher 16. Lehmann: Postdramatisches Theater (2005).

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unerlässlich. Philosophie muss sich fragen, wie sie als Philosophie im Horizont der aktuellen Aufmerksamkeitsökonomie anschlussfähig wirken kann. Ein Anhaltspunkt könnte der Bedeutungsrückgewinn des realen Erlebnisses sein, der sich etwa in der Rehabilitierung einer Live-Kultur im Musiksektor zeigt: Die Leibhaftigkeit des Akteurs auf der Bühne ermöglicht eine spezifische Form der Authentizitätserfahrung 17 im Sinne eines Gegenwärtigseins und Mit-Erlebens, das auch für die Philosophie fruchtbar gemacht werden sollte.18 Der Fokus des Projekts Philosophie als Performance liegt folglich in der Entwicklung und Analyse von Inszenierungsformaten philosophischen Denkens. Philosophische Performances als Modi zur Katalyse von Denkereignissen sollen zum Mit-Denken und situativen Mitgestalten anregen. Wenn die Performance im Sinne Martin Seels »die öffentliche Herstellung eines vorübergehenden räumlichen Arrangements von Ereignissen« bleibt, »die in ihrer besonderen Gegenwärtigkeit auffällig werden«,19 besteht die Besonderheit der philosophischen Performance darin, die Gegenwärtigkeit von Unbegriffenem erscheinen zu lassen und auf diese Weise Begriffsarbeit zu katalysieren. Anders als die pädagogisch intendierte Irritation oder Verunsicherung von Gewissheiten in der sokratischen Tradition, und anders als ein politisch intendiertes Programm in der Art des epischen Theaters, verfolgt philosophische Performance kein bestimmtes Ergebnis. Stattdessen beschränkt sie sich darauf, über die Markierung und öffentliche Infragestellung etablierter Wissensansprüche 20 Suchräume für begreifende Kreativität zu schaffen.

Doing Das Projekt Philosophie als Performance ist in vier Phasen gegliedert: In der – bereits abgeschlosse17. Vgl. Fischer-Lichte, Pflug: Inszenierung von Authennen – konzeptionellen Phase wurden tizität (2007). Voraussetzungen und Grundbegriffe 18. Beispielsweise werden im englischsprachigen Raum des zugrunde liegenden Philosophieaugenblicklich verschiedene Inszenierungsstrategien beziehungsweise geeignete Formate eines staverständnisses wie auch des Formats ging von Philosophie diskutiert. Vgl. Puchner: The der Philosophischen Performance Drama of Ideas (2010); Rokem: Philosophers and Thespians (2009); Schechner: Perfomance Theory systematisch formuliert, für den in(2009); Böhler, Granzer: Ereignis Denken (2009); terdisziplinären Austausch zwischen Cull: Deleuze and Performance (2009); Krasner, Theoriediskurs und künstlerischer Saltz: Staging Philosophy (2006). Praxis aufbereitet und mit den Pro19. Seel: »Inszenieren als Erscheinenlassen« (2001), S. 55. jektpartnern diskutiert. Ziel war es 20. Im Sinne von Alltagsmythen, wie sie Roland Barnicht, eine eigenständige philosophithes beschreibt. Vgl. Barthes: Mythen des Alltags sche Theorie zu entwickeln, sondern (1964), S. 113.

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bestehende Ansätze und eigene Vorarbeiten in Hinblick auf eine Inszenierung von Philosophie fruchtbar zu machen und zugleich auf die aktuelle Debatte in der darstellenden Kunst einzuwirken. Hierzu wurde ein Konzepttext erarbeitet, der als Orientierungsrahmen des Gesamtprojekts fungiert. In der Produktionsphase sollen in Zusammenarbeit mit der Theatergruppe ohnetitel, dem Salzburger Kunstzentrum galerie5020 und weiteren Partnern drei unterschiedlich konfigurierte philosophische Performance-Typen produziert werden. Der gesamte Produktionsprozess ist eingebunden in die Arbeitsgruppe Performance & Philosophy im Rahmen von PSi Performance Studies international, einer weltweiten Mitgliederorganisation für Performance-Wissenschaftler und Künstler, und wird von einem internationalen wissenschaftlichkünstlerischen Beirat evaluierend betreut. Analog zum Poetry Slam werden in einem der Projekte philosophische Statements zu einer vorgegebenen Fragestellung entworfen und einem Publikum vorgetragen. In einem Zeitraum von maximal sechs Minuten haben die Teilnehmer die Möglichkeit, ein zuvor per Ausschreibung bekannt gegebenes Thema zu diskutieren. Alle Beiträge werden im Anschluss durch das Publikum und eine Jury bewertet und am Ende ein Gewinner ermittelt. Eine erste Veranstaltung fand im Dezember 2010 im Rahmen des Winterfestivals Waldklang in Salzburg statt. Ein weiteres dramaturgisches Format ist die Lecture Performance, bei der die Lesung eines philosophischen Essays mit Elementen theatralischer Inszenierung verknüpft wird. Das Publikum kann beispielsweise durch dialogische Strategien gezielt in Bühnenraumgestaltung, Musik- und Lichteinsatz einbezogen werden. Eine solche Produktion wird in Kooperation mit Arno Böhler und Susanne Granzer im Rahmen des Forschungsprojekts Korporale Performanz im Herbst 2011 durchgeführt werden.21 Zusätzlich soll 2011 in Kooperation mit dem Theaterprojekt ohnetitel, das auf Theater im öffentlichen Raum und Kindertheater spezialisiert ist, die Produktion Es wär’ einmal entwickelt werden, die philosophische Fragestellungen in einer für Kinder und Erwachsene gleichermaßen provozierenden Form inszeniert. Für den Sommer 2011 ist darüber hinaus eine Produktion mit dem Arbeitstitel Lügenspiele in Vorbereitung, die Faszination und Lust am Lügen als Ausgangspunkt für eine philosophische Auseinandersetzung mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit nutzt. Mittelfristig ist eine Reihe weiterer philosophischer Dramen geplant, in denen philosophische Texte in Schauspiel »übersetzt« und Argumentationsverläufe schauspielerisch dargestellt werden, wobei ein besonderer Fokus auf der Frage liegt, wie sich 21. Vgl. dazu http://homepage.univie.ac.at/arno. im Zuge des »Übersetzens« boehler/php/?p=1250, (Stand: 10.05.2011).

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philosophisch-konzeptuelle und szenisch-darstellende Dimension wechselseitig beeinflussen und verändern. Argumente agieren und inszenieren sich selbst als Akteure auf der Bühne und treten so in direkten Kontakt mit dem Publikum. In der Analysephase sollen schließlich anhand von Interviews mit einzelnen Mitwirkenden und Mitgliedern des Publikums und den Eindrücken von Künstlern, Philosophen, Kultur- und Theaterwissenschaftlern sowie -pädagogen, die das Projekt begleiten, folgende Fragen untersucht werden: - Hat die Performance spezifisch philosophische Denkanstöße gegeben, zu neuen Fragen und einem kreativen Umgang mit dem Topos des Begreifens geführt? - Welche waren die Erfolgs- beziehungsweise Misserfolgsfaktoren in diesem Zusammenhang? - Wird die Performance als Ausdruck einer spezifisch philosophischen Perspektive verstanden oder eher als Theateroder Eventformat ohne besondere philosophische Spezifik betrachtet? 352

- Wie werden die Besonderheiten der jeweiligen Performance beschrieben und gegenüber anderen Performance-Formaten abgegrenzt? - Wird das Format als attraktiv empfunden – und warum/ warum nicht? Die letzte Phase der Auswertung dieser Aufzeichnungen verfolgt das Ziel, kulturbetrieblich realisierbare Praxisformate auf Basis der gemachten Erfahrungen zu entwickeln und umzusetzen. Geplant ist, diese Phase im Jahr 2013 mit einem Philosophie-Festival abzuschließen, welches die zugehörigen Produktionen in einem gemeinsamen Rahmen versammelt. Das gesamte Projekt wird von einer ausgiebigen Kommunikationsarbeit begleitet; sowohl Projektarbeit als auch produzierte Veranstaltungen sollen durch Kooperationen mit lokalen Kulturpartnern öffentlich wirksam dokumentiert, beworben und als Teil der örtlichen Kulturarbeit sichtbar werden.

Philosophie als Performance

Literatur Badura, Jens: »Im Echoland. Überlegungen zum konzeptuellen Zugriff auf das Phänomen ›Globalisierung‹«, in: Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch, Nr. 5 (2009), S. 194–204 Barthes, Roland: Mythen des Alltags [Mythologies, 1957]. Frankfurt am Main 1964 Bippus, Elke (Hrsg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich, Berlin 2009 Böhler, Arno / Granzer, Susanne (Hrsg.): Ereignis Denken. TheatRealität – Performanz – Ereignis. Wien 2009 Busch, Kathrin: »Philosophischer Essayismus im Zeitalter künstlerischen Experimentierens«, in: Lenger, Hans-Joachim u. a. (Hrsg.): Virtualität + Kontrolle. Hamburg 2010, S. 152–164 Cull, Laura (Hrsg.): Deleuze and Performance. Edinburgh 2009 Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Rhizom [Rhizome. Introduction, 1976]. Berlin 1977 Dies.: Was ist Philosophie? [Qu’est-ce que la philosophie?, 1991]. Frankfurt am Main 1996 Dombois, Florian u. a.: »Historische und gegenwärtige Beispiele künstlerischer Forschung«, in: dies. (Hrsg.): Neuland – Ein Grundlagenprojekt zur künstlerischen Forschung. Bern 2009, S. 55–158 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004 Dies. / Pflug, Isabel (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität. 2. Aufl., Tübingen, Basel 2007. Klein, Gabriele / Sting, Wolfgang (Hrsg.): Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Bielefeld 2005 Krasner, David / Saltz, David Z. (Hrsg.): Staging Philosophy. Intersections of Theatre, Performance and Philosophy. Ann Arbor 2006 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main 2005 Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt am Main 2008 Mersch, Dieter / Ott, Michaela: »Tektonische Verschiebungen zwischen Wissenschaft und Kunst«, in: dies. (Hrsg.): Kunst und Wissenschaft. München 2007, S. 9–31

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Jens Badura

Pfeifer, Wolfgang u. a. (Hrsg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München 1995 Puchner, Martin: The Drama of Ideas. Platonic Provocations in Theater and Philosophy. New York 2010 Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen [Le partage du sensible, 2000]. 2. Aufl., Berlin 2008 Rokem, Freddie: Philosophers and Thespians: Thinking Performance. Palo Alto 2009 Schechner, Richard: Perfomance Theory. 2. Aufl., London, New York 2009 Seel, Martin: »Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs«, in: Früchtl, Josef / Zimmermann, Jörg (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt am Main 2001, S. 48–62

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Hagen Betzwieser Nach langem Brüten über die aktuelle Debatte – was und wie und wann denn nun Artistic Research sein sollte, oder wie am besten und wann und wie und von wem gemacht wird, und was der Erkenntnisgewinn ist und so weiter –, und nachdem ich jetzt das x-te Buch dazu studiert und fast genauso viele Vorträge dazu gehört habe, ist mir, glaube ich, eine Sache klar geworden.

Biografien

Biografien PD Dr. habil. Jens Badura lehrt Philosophie, Kulturtheorie, Ästhetik und Kulturmanagement an verschiedenen Universitäten und Akademien in der Schweiz und Österreich. Er ist er wissenschaftlicher Koordinator des Labors Towards an Alliiance between the Performing Arts and Sciences (ETH Lausanne/Theaterhochschule La Manufacture), Mitarbeiter am Institute for the Performing Arts und Film der Zürcher Hochschule der Künste und Supervisor am London Consortium. Als freiberuflicher Kulturtheoretiker und -produzent betreibt er zudem die Kulturagentur konzeptarbeit und ist Sprecher der Plattform Künstlerische Forschung in Österreich (PARA).

Prof. Dr. Karen van den Berg ist seit 2003 Inhaberin des Lehrstuhls für Kulturmanagement und inszenatorische Praxis an der Zeppelin University Friedrichshafen und arbeitet seit 1988 als freie Ausstellungskuratorin. Von 1997 bis 2000 war sie als selbständige Verlegerin und von 1993 bis 2003 als Dozentin an der Privaten Universität Witten/Herdecke tätig, wo sie das Programm art in dialog mitbegründete und kokuratierte. Karen van den Berg ist Mitglied im Forschungsteam des Schweizerischen Nationalforschungsprojektes eMotion – mapping museum experience. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Theorie des Inszenierens und Ausstellens, Kunst und Emotionen, Kunst und Öffentlichkeit, Kunstvermittlung und Politik des Zeigens, Rollenmodelle künstlerischen Handelns.

Prof. Ursula Bertram hat seit 1994 eine Professur am Institut für Kunst und Materielle Kultur der Technischen Universität Dortmund im Fachgebiet Plastik und Interdisziplinäres Arbeiten inne. Mit dem dort gegründeten Zentrum für Kunsttransfer/IDfactory beschreitet sie neue Wege beim Transfer künstlerischen Denkens in außerkünstlerische Felder. Gastprofessuren brachten sie an Universitäten in Iowa City, USA (1998) und Mérida, Venezuela (2002). Als Künstlerin war Ursula Bertram in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen vertreten und erhielt verschiedene Preise, darunter den 1. Staatspreis für Bildende Kunst und Architektur des Landes Rheinland-Pfalz.

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Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft

Hagen Betzwieser Nach seinem Studium des Kommunikationsdesigns an der Merz Akademie in Stuttgart und an der University of Portsmouth in Großbritannien gründete Hagen Betzwieser 2001 das Institut für allgemeine Theorie, das sich konzeptuell in der Grauzone zwischen Fiktion und Wissenschaft, Kunst und Labor, Experiment und Spiel bewegt. Neben diversen anderen Stipendienaufenthalten war Hagen Betzwieser zwischen 2005 und 2007 Stipendiat an der Akademie Schloss Solitude. Derzeit forscht er im Promotionsstudiengang Kunst und Design an der Bauhaus Universität Weimar.

Prof. Dr. Elke Bippus lehrt Kunsttheorie und -geschichte an der Zürcher Hochschule der Künste und ist Mitarbeiterin am dortigen Institut für Theorie. Schwerpunktmäßig arbeitet sie zur Forschung in den Künsten und zur Transformation der Theorie. Sie hat unter anderem das Buch Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens (Zürich, Berlin 2009) und gemeinsam mit Jörg Huber und Dorothee Richter »Mit-Sein«: Gemeinschaft – ontologische und politische Perspektivierungen (Zürich, Wien, New York 2010) herausgegeben. 360

Prof. em. Dr. Gernot Böhme war von 1977 bis 2002 Professor für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt und von 1997 bis 2001 Sprecher des dortigen Graduiertenkollegs Technisierung und Gesellschaft. Seit 2005 ist er Vorsitzender und Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e.V. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Ästhetik-, Natur- und Technikphilosophie sowie in der Theorie der technischen Zivilisation. Gernot Böhme hat wichtige Arbeiten zur klassischen Philosophie sowie zur Wissenschafts- und Goetheforschung verfasst. Als für das Thema dieses Buches einschlägige Veröffentlichung sei Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre (München 2001) genannt.

Prof. Henk Borgdorff lehrt seit 2010 Kunstforschung an der Hochschule der Künste, Den Haag und ist Gastprofessor für Ästhetik an der Universität Göteborg. Zuvor war er von 2002 bis 2010 Professor für Kunsttheorie und -forschung an Amsterdams Hochschule der Künste. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der politischen und theoretischen Begründung von Artistic Research. Er ist Projektleiter des Artistic Research Catalogue, Mitherausgeber des Journals

Biografien

for Artistic Research und war 2010 Mitbegründer der Society for Artistic Research. Henk Borgdorff hat zahlreiche Texte und Veröffentlichungen zu diesem Thema geschrieben, unter anderem: Artistic Research within the Fields of Science (Bergen 2009).

Mari Brellochs Als freier Künstler arbeitet Mari Brellochs schwerpunktmäßig zu den Themen Kunst als Organisation und künstlerische Forschung. Er hat die künstlerische Leitung und Konzeption für eine Reihe von Projekten übernommen, unter anderem für die Ausstellung Produkt & Vision. Schnittstellen und Trennlinien in Kunst und Wirtschaft (Kunstfabrik am Flutgraben, 2005), das Projekt Kunst am Bau sowie den GASAG-Kunstpreis (2002–2008), der zur Förderung einer kontextspezifischen Kunstsammlung des Unternehmens ausgeschrieben wurde. Zudem ist Mari Brellochs Teil der Gesellschaft für künstlerische Forschung Berlin, mit der er den Projektzyklus IRRTUMsFORSCHUNG initiiert hat.

Dr. Simon Grand ist Strategiedesigner, Wissensunternehmer und Unternehmerberater. Er ist Senior Researcher am Institut für Design- und Kunstforschung der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Basel, mit einem Fokus auf Design Fiction und Entwurfsforschung, Strategiedesign und Designstrategie sowie Methoden künstlerisch-gestalterischer Forschung. Weiterhin ist er Gründer und Akademischer Direktor von RISE Management Research an der Universität St. Gallen HSG, einem eigenständigen Forschungszentrum für unternehmerisches Executive Management. Schließlich ist er Gründungspartner von TATIN Scoping Complexity, einer Unternehmensgruppe von Spezialisten für die Gestaltung von Veränderung und Innovation.

Prof. Jean-Baptiste Joly ist seit 1989 Vorstand der Stiftung Akademie Schloss Solitude in Stuttgart sowie Gründungsdirektor und künstlerischer Leiter der Akademie. Weiterhin lehrt er als Honorarprofessor im Fachbereich Theorie und Geschichte an der Kunsthochschule Weißensee, Hochschule für Gestaltung, Berlin. Zuvor war er von 1983 bis 1988 Direktor des Institut Français de Stuttgart. Jean-Baptiste Joly engagiert sich als Vorstands-, Kuratoriums- und Stiftungsratmitglied in diversen kulturellen Stiftungen. Außerdem ist er Mitglied des Deutsch-Französischen Kulturrats sowie im Beirat von Transcultural Exchange Boston.

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Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft

Julian Klein ist Komponist und Regisseur und arbeitet als Direktor des Instituts für künstlerische Forschung am Radialsystem V Berlin insbesondere zu Themen der künstlerischen Wissensbildung. Derzeit lehrt er Regie an der Universität der Künste Berlin sowie Performance und interdisziplinäre Projektentwicklung an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Zudem ist er Gastwissenschaftler im Exzellenzcluster Languages of Emotion am Institut für Verhaltens- und Neurobiologie der Freien Universität Berlin sowie Mitglied und künstlerischer Leiter des Musik- und Theaterensembles a rose is.

Thorsten Klooster

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leitet als Architekt gemeinsam mit Heike Klussmann die interdisziplinäre Forschungsgruppe BlingCrete an der Universität Kassel. Zuvor hat er am Fraunhofer Institut IPK in Berlin geforscht und an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus Entwerfen und Baukonstruktion gelehrt. In Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte kuratierte er im Jahr 2010 die Ausstellung Membranes, Surfaces, Boundaries – Creating Interstices und hat 2009 das Buch Smart Surfaces – und ihre Anwendung in Architektur und Design herausgegeben.

Prof. Heike Klussmann lehrt derzeit als Professorin für Bildende Kunst an der Universität Kassel und hat zuvor an verschiedenen Institutionen gelehrt, insbesondere am Art Center College of Design Pasadena, USA. Ihre Arbeiten sind zahlreich ausgestellt worden, unter anderem in der Akademie der Künste Berlin, im Architekturforum Aedes oder in der China Art Objects Gallery Los Angeles. Seit 2009 leitet sie gemeinsam mit Thorsten Klooster die Forschungsgruppe BlingCrete an der Universität Kassel, die sich der experimentellen Entwicklung neuer Materialkonzepte widmet.

Prof. em. Dr. Wolfgang Krohn wurde 2006 als Professor für sozialwissenschaftliche Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Bielefeld emeritiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, transdisziplinäre Forschung und Realexperimente sowie die Ästhetik in Wissenschaft und Technologie. Seine neuesten Veröffentlichungen zu diesem Thema

Biografien

sind die Monografie Francis Bacon (München 2006) und der Herausgeberband Ästhetik in der Wissenschaft (Hamburg, 2006).

PD Dr. habil. Maren Lehmann ist Assistentin am Lehrstuhl für Kulturtheorie der Zeppelin University Friedrichshafen und Privatdozentin für Soziologie an der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/Herdecke. Sie hat unter anderem an den Universitäten in Halle-Wittenberg, Leipzig, Weimar und Wien gelehrt und 2010 die Professur für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der Universität Erfurt vertreten. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Soziologischen Systemtheorie, der Individualitätstheorie und in der Organisations- und Netzwerktheorie. Ihre jüngste Publikation heißt Theorie in Skizzen (Berlin 2011).

Dr. Claudia Mareis ist Design- und Kulturwissenschaftlerin. Zwischen 2006 und 2011 war sie als Forschungsdozentin für Designtheorie an der Hochschule der Künste in Bern tätig. Seit 2011 verfolgt sie als Senior Researcher ein Habilitationsprojekt zur Geschichte und Praxis von Kreativitäts- und Ideenfindungstechniken am Nationale Forschungsschwerpunkt Bildkritik eikones an der Universität Basel. Claudia Mareis ist außerdem Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung. Zuletzt erschien ihre Monografie Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960 (Bielefeld 2011).

Prof. Adelheid Mers lehrt im Fachbereich Arts Administration and Policy der School of the Art Institute of Chicago. Ihre Forschungsinteressen schließen Überschneidungen zwischen den Themenbereichen Kulturmanagement und Kunstforschung sowie die Epistemologie des Kunstschaffens und dessen Einfluss auf pädagogische Konzeptionen ein. Ihre künstlerische Arbeit umfasst situationsspezifische diagrammatische Darstellungen von Diskursen und Organisationen, die als Performance Lecture, großformatige Druckgrafik, Flugblatt oder Zeichnung auftreten können. Sie ist für das Ressort Museum Studies and Arts Administration von caa.reviews zuständig und hat als Redaktionsmitglied von WhiteWalls das Buch Useful Pictures (Chicago 2008) herausgegeben.

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Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft

Prof. Sibylle Omlin ist seit 2009 Direktorin an der Ecole cantonale d’art du Valais und war von 2001 bis 2009 Professorin am Institut Kunst der HGK Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel. Zudem hat sie als redaktionelle Mitarbeiterin und Kunstkritikerin bei der Neuen Zürcher Zeitung gearbeitet (1996–2001). Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Bereiche Neue Medien, Performance, politisch orientierte Kunst und die Schnittstellen zwischen Kunst und Forschung. Zusammen mit Dora Imhof hat Sibylle Omlin zuletzt den Sammelband Interviews. Oral History in Kunstwissenschaft und Kunst (München 2010) herausgegeben. Sie ist Mitglied im Forschungsteam des Schweizerischen Nationalforschungsprojektes eMotion – mapping museum experience.

Prof. Hannes Rickli

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lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste und ist Leiter des Forschungsprojekts Überschuss. Videogramme des Experimentierens am dortigen Institut für Gegenwartskunst. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der künstlerischen und theoretischen Untersuchung instrumenteller Medien- und Raumkonstellationen. Im Anschluss an seine letzte Einzelausstellung Videogramme im Helmhaus Zürich (2009) erschien der von ihm herausgegebene Sammelband Videogramme. Die Bildwelten biologischer Experimentalsysteme als Kunst- und Theorieobjekt (Zürich 2011).

Lydia Schulze Heuling studierte Physik und Performance Studies und war Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung sowie des DAAD. Nach Forschungsstationen an Max-Planck-Instituten und der Universität Potsdam lehrt sie heute an deutschen Universitäten und international. Lydia Schulze Heuling zeigt eigene Performances; sie war unter anderem artist in residence des idansFestivals. 2007 wurde sie für ihre Rotationsperformance mit dem Performing Science Preis der JLU Gießen ausgezeichnet. Seit 2011 forscht sie am Promotionskolleg Pro|Math|Nat der Universität Freiburg.

Junior-Prof. Dr. Martin Tröndle lehrt seit 2009 Kulturbetriebslehre und Kunstforschung an der Zeppelin University Friedrichshafen und ist Senior Researcher am Institut für Design- und Kunstforschung der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel. Weiterhin leitet er das

Biografien

Schweizerische Nationalforschungsprojekt eMotion – mapping museum experience und ist seit 2002 ständiger Lehrbeauftragter der Universität Basel. Martin Tröndle war 2008 Stipendiat im Programm art, science & business an der Akademie Schloss Solitude, Stuttgart und ist seit dem gleichen Jahr Fellow der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Fachverbandes Kulturmanagement, Gründungmitglied der Society for Artistic Research und Mitglied der International Association of Empirical Aesthetics.

Julia Warmers leitet seit 2005 das Programm art, science & business an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart und zeichnet für zahlreiche interdisziplinäre Veranstaltungen, Publikationen und das Stipendienprogramm für Wissenschaftler und Manager verantwortlich. Weiterhin lehrt sie im Fachbereich Kunstwissenschaft der Fakultät Studium Generale an der Hochschule München. Zuvor war sie im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen tätig sowie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt The Post-Communist Condition am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe.

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Dank

Unser herzlicher Dank gilt zunächst den Autoren für die intensive Arbeit an den Beiträgen und ihre Bereitschaft, sich auf diese Themenstellung einzulassen. Der Wüstenrot Stiftung danken wir für die finanzielle Unterstützung sowohl des Workshops im September 2010 wie der Publikation, die damit beide Vorhaben überhaupt erst ermöglichte. Nikolaus G. Schneider vermochte es, den englischen Beitrag von Henk Borgdorff treffend ins Deutsche zu übersetzen. Eva Schauerte möchten wir für ihr umsichtiges Lektorat und insbesondere Karoline Weber für ihre redaktionelle Unterstützung danken. Die Gestaltung von Design und Satz ist Patricia Reed zu verdanken. Schließlich gebührt unser Dank dem Verlag transcript für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Martin Tröndle und Julia Warmers

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien April 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Mai 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.) Möbel als Medien Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge Juni 2011, 316 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1477-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juni 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Oliver Leistert, Theo Röhle (Hg.) Generation Facebook Über das Leben im Social Net Oktober 2011, 288 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1859-4

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Zum Verstehen digitaler Kunst Februar 2012, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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